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German Pages [344] Year 2013
Rebekka Habermas, Richard Hölzl (Hg.)
Mission global Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Postkarte von der Kameruner Dorfstraße in der Reiseausstellung der Basler Mission (Anonym, Kameruner Dorfstraße, o. A., Bildarchiv der Basler Mission, bmpix.org, QS-30.100.0048.) © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth GmbH, Erftstadt Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22203-1
Inhaltsverzeichnis Mission global – Religiöse Akteure und globale Verflechtung seit dem 19. Jahrhundert. Einleitung .................
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Rebekka Habermas/Richard Hölzl
Begegnungen – Mission vor Ort „Ein Sauerteig christlichen Lebens in der Masse afrikanischen Heidentums.“ Westindische Konvertiten an der Goldküste (1843–1850) .....................................................
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Katholische Mission, Sklaverei und Emanzipation in der frankophonen Karibik ...................................................................
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Der Streit um Englisch als Unterrichtsfach in lutherischen Missionsschulen Südafrikas (ca. 1895–1910). Impulse für eine Geschichte der Resonanzen .........................................................
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Katja Füllberg-Stolberg
Ulrike Schmieder
Kirsten Rüther
„… denn die ganze Sorge der Schwestern war darauf gerichtet, die Lage des weiblichen Geschlechts zu verbessern.“ Geschlecht, Religion und Differenz in der Missionspraxis deutscher Ordensfrauen im kolonialen Togo (1896–1918) ..................................................................................... 111 Katharina Stornig
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Inhaltsverzeichnis
Übersetzungen – Mission als Kultur- und Wissenstransfer Mind the Gap! Raum, Geschlecht und die Zirkulation von Wissen in der Mission am Beispiel der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut ................................................................... 137 Julia Hauser
Von Gewährsleuten zu Gehilfen und Gelehrigen. Der Beitrag afrikanischer Mitarbeiter zur Entstehung einer verschriftlichten Kultur in Deutsch-Togo ................................... 159
Gilbert Dotsé Yigbe
Ewe-Christen zwischen Württemberg und westafrikanischen Missionsstationen (1884–1939) ................. 177 Kokou Azamede
Über das Gesehene und das Erlebte berichten. Heinrich Norden als Träger des Wissens- und Kulturtransfers zwischen dem kamerunischen Küstenhinterland und Deutschland ................................................................................... 199
Albert Gouaffo
Resonanzen – Mission, Medien und europäische Selbstverständnisse Die Heimat oder Europa. Perspektiven englisch- und deutschsprachiger Missionare aus den 1830er-Jahren ............ 215
Judith Becker
„Die Zauberei spielt in Kamerun eine böse Rolle!“ Die ethnografischen Ausstellungen der Basler Mission (1908–1912) ..................................................................................... 241
Linda Ratschiller
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„Mitleid“ über große Distanz. Zur Fabrikation globaler Gefühle in Medien der katholischen Mission (1890–1940) .... 265
Richard Hölzl
Transformationen – Neue Mission jenseits Europas Aus Töchtern werden Schwestern. Afrikanische katholische Ordensfrauen in kolonialen und postkolonialen Zeiten ......... 297 Kathrin Langewiesche
Gibt es eine „islamische“ Mission? Die „Muslim Bible Preachers“ in Tansania im 20. Jahrhundert ............................... 327
Roman Loimeier
Autorinnen und Autoren .............................................................. 343
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Mission global – Religiöse Akteure und globale Verflechtung seit dem 19. Jahrhundert Einleitung Rebekka Habermas/Richard Hölzl
Die Antwort des Zimmermanns verwunderte den kaum 30-jährigen August Schynse schon ein wenig. Der katholische Missionar hatte den Handwerker um mehr Vorsicht beim Klettern auf dem Dachfirst des Missionshauses gebeten, den er gerade zusammenzimmerte. Er solle sich nicht zu Tode stürzen: „iambo ti, was liegt daran, dann gehe ich nach mputu (Europa) und werde Weißer (mundele)“, war die Reaktion. Was Schynse über die Idee der Wiedergeburt bei den Bayansi am unteren Kongo-Lauf sinnieren ließ, dürfte der Zimmermann als sanfte Botschaft an die Adresse des Missionars gemeint haben, sich nicht in Angelegenheiten zu mischen, von denen er, der Theologe, keine Ahnung hatte. Schynse war von seinem Orden – der Mission d’Afrique, besser bekannt als Weiße Väter – 1886 an den Kongo geschickt worden, um an dessen Ufern nordöstlich von Kinshasa/Brazzaville eine Missionsstation zu gründen.1 Schon bald entwickelte sich der Ort zum Umschlagplatz für Waren, Wissensbestände und wechselseitige Imaginationen über das Leben in Westafrika und in Europa. Es entstand ein Mikro-Raum, in dem die 1 Vgl. August Wilhelm Schynse, Zwei Jahre am Congo. Erlebnisse und Schilderungen, Köln 1889, S. 67. Der Band geht auf eine von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und dem Lichtenberg Kolleg der Universität Göttingen geförderte Tagung zurück: „Missionarinnen und Missionare als Akteure der Transformation und des Transfers: Außereuropäische Kontaktzonen und ihre europäischen Resonanzräume (1860–1940)“, initiiert von Rebekka Habermas, Richard Hölzl, Shalini Randeria, die im Herbst 2011 in Göttingen stattfand. Für wertvolle Hinweise und Diskussionen danken wir Rainer Alsheimer, Bettina Brockmeyer, Patrick Harries, Heike Liebau, Michael Sievernich, Martin Tamcke, Siegfried Weichlein und Reinhard Wendt. Wir danken der Fritz Thyssen Stiftung auch für die Finanzierung der Drucklegung und dem Lichtenberg Kolleg, Göttingen. Ebenfalls danken wir Lisa Schneider für die umsichtige Betreuung des Bandes.
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Bayansi und die Weißen Väter eine gemeinsame Kultur des bedingten Verstehens, aber auch des Konflikts entwickelten. Die mehrsprachigen, im Umgang und Handel mit anderen Ethnien geübten Bayansi dürften sich dabei leichter getan haben als der Europäer Schynse und seine Begleiter, die mit klarem Auftrag und gerichteter Perspektive gekommen waren. Innerhalb kurzer Zeit entstand ein neuer Raum, der in seiner spezifischen Art und Weise nur hier zu erfahren war und der dennoch globale Bedeutung hatte: Zum einen, weil er für einen globalen Prozess der kulturellen Begegnung stand, der im 19. Jahrhundert einen enormen Schub erhielt. Zum anderen, weil die Missionare eine Reihe von Botschaften mit an den Kongo brachten – religiöse, politische und ökonomische –, die das Leben der Menschen vor Ort verändern sollten. Zum dritten, weil Missionare wie Schynse Botschaften an eine breite, keineswegs nur bürgerliche europäische Öffentlichkeit versendeten, die vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte detaillierte Vorstellungen von Afrika, Asien, den Amerikas und Ozeanien entwickelte.
Mission als Feld der Globalgeschichte – oder wer darf eigentlich Missionarin sein? Missionarinnen und Missionare vereinig(t)en die Widersprüche des Globalisierungsprozesses – den emanzipatorischen Impetus von Zivilisierungsmissionen und deren disziplinierende Gewalt. Sie stehen für eurozentrische Homogenisierungsversuche wie auch deren Gegenbewegungen und Hybriditäten. Sie komponierten zahlreiche Narrationen und Bilderwelten des Außereuropäischen für ein europäisches Publikum und wirkten an der Produktion neuer globaler Räume und Kontaktzonen mit. Durch ihren religiös-missionarischen Impetus, spezifische Netzwerkbildungen innerhalb eines religiösen Feldes über lange Dauer und große Distanz hinweg sowie durch besondere Strategien des Kontaktes beziehungsweise des kulturellen Transfers waren sie wichtige Akteure im Prozess der Globalisierung. Die deutsche wie auch die internationale historische Forschung hat die beschleunigte Verdichtung persönlicher Kontakte in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur auf globaler Ebene seit dem frühen 19. Jahrhundert bisher vor allem mithilfe von Prozessbegriffen (Globalisierung, Kolonisierung, Amerikanisierung, aber auch als Geburt bzw. Verwandlung) und anhand von historischen Kategorien jenseits der Akteursebene untersucht (Transfers,
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Netzwerke, Übersetzungen, Zirkulationen, global cultural flows2).3 Speziell in der deutschen Forschung wurden diese Prozesse überdies – sofern sie nicht die Frühe Neuzeit betrafen – in der Regel als säkulare Phänomene betrachtet. Dieses Buch will eine Erweiterung dieser Zugänge vorschlagen, indem sie das historische Handeln von religiösen Akteuren an konkreten Orten des Kontakts untersucht und damit die Mikroräume der Globalisierung fokussiert.4 Ziel dieses Buches ist es, Mission als Teil einer entangled history sichtbar zu machen.5 Die zentralen Fragestellungen lauten: Welche Rolle spielte Religion bei der Herstellung von Räumen des Kontakts und der Abgrenzung im Prozess der Globalisierung? Welchen Einfluss hatten religiöse Akteure, wie Missionarinnen und Missionare, für die Ausbildung europäischer Resonanzräume des Cultural Encounter? In welchen transnationalen und -regionalen Netzwerken agierten Missionare und Missionarinnen und wie funktionierten diese? Welche Formen des kulturellen (ökonomischen und politischen) Transfers etablierten sie? Dahinter steht die These, dass die Geschichte des kulturellen Kontakts im 19. und 20. Jahrhundert neu bewertet werden muss, wenn man erstens die Rolle der christlichen Mission mit einbezieht und zweitens die Ebene der Akteure und Akteurinnen wie der konkreten Orte kultureller Begegnung fokussiert. Der Antwort auf die Frage, wer als Missionar gelten darf, kommt eine, wenn nicht die zentrale Rolle für eine Verflechtungsgeschichte der Mission zu. Sie kann sich nicht an den Definitionen orientieren, die Missionsorden und -gesellschaften gaben. Diese verliefen häufig entlang klassenbezogener,
2 Vgl. Arjun Appadurai, Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996. 3 Vgl. den Überblick von Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen. Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: dies./Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–49 4 Vgl. Rebekka Habermas, Der Kolonialskandal Atakpame – eine Mikrogeschichte des Globalen, in: Historische Anthropologie 17 (2009) 2, S. 295–319. Natalie Zemon Davis, Decentering History, Local Stories and Cultural Crossings in a Global World, in: History and Theory 50 (2011) 2, S. 188–202 [dt. in: Historische Anthropologie, 19 (2011) 1, S. 144–154]. 5 Vgl. Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002; Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.
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geschlechterspezifischer und ethnischer Grenzlinien.6 Ordensschwestern, Diakonissen und Missionsehefrauen waren ebenso zentrale Akteure des missionarischen Unternehmens wie Übersetzer, Katecheten, Lehrer und Schüler, Fahrer oder Träger, Karawanenführer, Arbeiterinnen und Arbeiter aus den jeweiligen Missionsgebieten.7 Die Frage nach den kategorialen Intersektionen von race, gender und class sind für das Feld der Mission ebenso zentral wie für die Globalgeschichte insgesamt.8 Als Missionare und damit Träger des kulturellen Transfers anerkannt waren weibliche und nicht-europäische Akteure zeitgenössisch häufig nicht. Dennoch konstituierten sie die neuen sozio-kulturell verflochtenen Lebensräume mit, im Konkreten auf den Missionsstation und im Abstrakten, in den Wissens- und Imaginationsräumen, die die Mission aufspannte. Es ist das Ziel dieses Buches, nicht bei dem Postulat stehen zu bleiben, dass sich diese Räume zu entwickeln begannen, sondern sie in ihren Details zu vermessen. Das bedeutet den Prozess und die soziale Praxis ihrer Formierung zu rekonstruieren, die Beziehungsgefüge, die in ihnen gelebt wurden, und deren Machtasymmetrien sichtbar zu machen.
6 Vgl. Richard Hölzl, Rassismus, Ethnogenese und Kultur. Afrikaner im Blickwinkel der deutschen katholischen Mission im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte 59 (2012), S. 7–34. 7 Zu intermediares in der Kolonialgeschichte: Emily Lawrence/Lynn Osborn/Richard L. Roberts (Hg.), Intermediaries, Interpreters, and Clerks. African Employees in the Making of Colonial Africa, Madison 2006; Marc Häberlein/Alexander Keese (Hg.): Sprachgrenzen – Sprachkontakte – kultureller Vermittler. Kommunikation zwischen Europäer und Außereuropäern (16.–20. Jahrhundert), Stuttgart 2010. Ohne den Blick auf kulturelle Vermittlungsprozesse können Transkulturationskonzepte ihre eurozentrische Ausrichtung nicht abschütteln, siehe etwa Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, Neuaufl. London 2010, S. 7–9. 8 Vgl. z. B. die Sammelbände von Frederick Cooper/Ann Laura Stoler (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997; und Catherine Hall (Hg.), Cultures of Empire. Colonizers in Britain and the Empire in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Manchester 2000. Vgl. für eine geschlechtergeschichtliche Perspektive auf die deutsche Kolonialgeschichte: Marianne Bechhaus-Gerst/Mechthild Leutner (Hg.), Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009. Vgl. auch die Überlegungen zu Gender und Globalisierung in Shalini Randeria, Globalisierung und Geschlechterfrage. Zur Einführung, in: dies./Ruth Klingebiel (Hg.), Globalisierung aus Frauensicht. Bilanzen und Visionen, Berlin 1998, S. 16–33.
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Eurozentrismus, Modernität, Säkularisierung: Standortbestimmungen und Forschungslagen Eine Verflechtungsgeschichte der Mission hat zuerst eine kritische Sichtung der Forschung vorzunehmen. Da ist zum einen die säkulare Forschung. Hier werden Missionare und Missionarinnen beispielsweise zu Agenten von Kulturimperialismus,9 Zivilisierungsmission10 oder des westlichen Neokolonialismus11. Aus der religiösen Perspektive wird umgekehrt die Verbreitung der „Heilsbotschaft“ in den Mittelpunkt gerückt – die Arbeit am soziokulturellen und ökonomischen Wandel tritt damit zur Bekehrung in eine Mittel-Zweck-Relation. Persönliche Motive und Beziehungen, jenseits von Berufung, Heilserwartung und Bekehrung, genauso wie politische und andere Machtkonstellationen, treten in den Hintergrund.12 Die Mission des 19. und 20. Jahrhunderts wurde erst in jüngeren und jüngsten Studien als wichtiges Feld transnationaler, verflochtener Geschichten entdeckt.13 Dies hat verschiedene Gründe, die eng mit den Forschungstradi9 Vgl. etwa Wolfgang Reinhard, Christliche Mission und die Dialektik des Kolonialismus, in: Historisches Jahrbuch 109 (1989), S. 353–370 und Horst Gründer, Christliche Heilsbotschaft und weltliche Macht. Studien zum Verhältnis von Mission und Kolonialismus. Gesammelte Aufsätze, Münster 2004. 10 Jürgen Osterhammel etwa versucht mit dem Begriff „Zivilisierungsmission“ den Zusammenhang zwischen kolonialer Fortschrittsideologie und dem Christianisierungsanspruch der Kirchen auf einen Punkt zu bringen. „Kolonialbeamte, Missionare und Entwicklungshelfer“ sind dabei Agenten ein und derselben ‚Mission‘. Vgl. „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: ders./Boris Barth (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425. 11 Vgl. Arjun Appadurai, Fear of Small Numbers. An Essay on the Geography of Anger, Durham u.a. 2006. 12 Die klassische Missionsgeschichtsschreibung entstand im katholischen wie protestantischen Bereich als Teil der Missionswissenschaft und hatte damit den Auftrag, die Mission auf wissenschaftlicher Basis zu unterstützten und ihre Methoden zu verbessern. Die Antwort auf die Frage, inwieweit sie die wissenschaftlichen Kriterien des Historismus rezipierte oder sich vielmehr am theologischen Wissenschaftsbegriff orientierte, bleibt ein Desiderat. Vgl. Heinz Rzepkowski, Missionsgeschichte im Wandel der Motivationen und Perspektiven, in: Karl Müller/Werner Ustorf (Hg.), Einleitung in die Missionsgeschichte. Tradition, Situation und Dynamik des Christentums, Stuttgart 1995, S. 258–286. 13 Vgl. Ausführlich zur Missionsgeschichtsschreibung: Rebekka Habermas, Mission im 19. Jahrhundert. Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 56 (2008), S. 629–679.
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tionen von Geschichtswissenschaft und Kirchengeschichte zusammenhängen. Erstens ist die Geschichtswissenschaft lange – im Licht der Modernisierungstheorie – davon ausgegangen, dass sich im 19. Jahrhundert voneinander getrennt agierende gesellschaftliche Subsysteme differenzierten, Religion zu den weniger bedeutenden dieser Subsysteme zählte und sich eine spezialisierte Kirchengeschichte damit zu befassen habe. Insbesondere die angelsächsische Forschung hat diese Grundannahme mittlerweile erschüttert und überzeugend gezeigt, dass man statt von Säkularisierung von einer Revitalisierung bzw. einer Neuordnung des Religiösen und des Säkularen für das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert sprechen muss.14 Zweitens galt es – mit der Ausnahme Großbritanniens, das in Form der Imperial History aus offensichtlich geopolitischen Gründen einen globalen Zweig ausbildete – lange Zeit als selbstverständlich, dass die Geschichte des 19. und des längsten Teils des 20. Jahrhunderts unter dem Paradigma und in den Grenzen der Nationalstaaten geschrieben werden müsse. Diese Begrenzung wurde im vergangenen Jahrzehnt verstärkt kritisiert, sodass nunmehr das 19. Jahrhundert als Schwelle zu einer vernetzten Welt verstanden wird.15 An beiden Neuordnungen, der Revitalisierung des Religiösen und der globalen Vernetzung, hatte die Mission – so eine Ausgangsüberlegung dieses Bandes – maßgeblichen Anteil.16 14 Vgl. z. B. David Blackbourn, „Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei.“ Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek bei Hamburg 1997; Helmut Walser Smith, German Nationalism and Religious Conflict. Culture, Ideology, Politics, 1870–1914, Princeton 1995; Christopher Clark/Wolfram Kaiser (Hg.), Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003; Emmet Larkin, The Devotional Revolution in Ireland, 1850–1875, in: American Historical Review 77 (1972), S. 625–652. Jüngst auch aus der deutschsprachigen Forschung: Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010; Siegfried Weichlein, Konfession und Region. Katholische Milieubildung am Beispiel Fuldas, in: Olaf Blascke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 193–232. Vgl. zusammenfassend Habermas, Piety, Power, and Powerlessness. Religion and Religious Groups in Germany, 1870–1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.),The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford/New York 2011, S. 453–480. 15 Vgl. die Überblicke von Bayly und Osterhammel, die alleine schon durch die Fülle der Belege die Erzählung vom 19. Jahrhundert als Zeitalter der Nationalstaaten infrage stellen. Vgl. Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte, Frankfurt a. M. 2006 und Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 16 Mission galt demnach bislang als doppelt randständig, indem sie aus dem säkularen und dem nationalen Raster fiel. Vgl. Richard Hölzl, Aus der Zeit gefallen? Katholi-
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Dabei war die Rolle der Mission in einigen Feldern globaler Begegnung wohl größer als in anderen. Während sie beim Aufbau internationaler politischer Beziehungen weniger hervortrat, kann ihre Rolle bei der Globalisierung der „Sozialen Frage“ zur „Humanitären Frage“ und „Entwicklungshilfe“ kaum überschätzt werden.17 Selbst innerhalb des neuen Trends zur Globalgeschichte wurde Mission allerdings lange als randständig angesehen, was daran lag, dass Globalisierung häufig als Erweiterung eines eurozentrisch konzipierten Modernisierungsprozesses verstanden wurde, zu dessen zentralen Eigenschaften eine umfassende Säkularisierung (des sozialen Lebens) zählte. Christliche Missionare kamen daher als Agenten einer globalen Transformation hin zur Moderne kaum in Betracht. Allenfalls wertete man sie als kaum von anderen Akteuren zu unterscheidenden Teil des westlichen Kulturimperialismus oder einer umfassenden Zivilisierungsmission mit primär säkularen Zielsetzungen und Wirkungen. Ein dritter Grund für die weitgehende Vernachlässigung des Themas Mission liegt in der Konzentration auf Fragen nach Herrschaft. Missionare legten aus dieser Perspektive vor allem die Grundlagen für eine Kolonisierung außereuropäischer Gebiete. Spezifische Charakteristika und eigenständige Zwecke und Mittel der Mission und deren Rolle im Globalisierungsprozess blieben, sieht man von den Pionierarbeiten der Comaroffs18 ab, außerhalb des Forschungsinteresses.19
sche Mission zwischen Modernitätsanspruch und Zivilisationskritik, in: Christoph Bultmann/Jörg Rüpke/Sabine Schmolinsky (Hg.), Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der Europäischen Religionsgeschichte, Münster 2012, S. 143–164. 17 Vgl. Richard Hölzl, Editorial „Soziale Missionen“, in: WerkstattGeschichte 57 (2011) 1, S. 3–7. 18 Vgl. John und Jean Comaroff, Of Revelation and Revolution, Bd. 1: Christianity, Colonialism and Consciousness in South Africa, Chicago 1991; dies., Of Revelation and Revolution, Bd. 2: The Dialectics of Modernity on a South African Frontier, Chicago 1997. Porter betonte den religiösen Impetus der Missionare innerhalb des britischen Empires: Andrew N. Porter, Religion versus Empire? British Protestant Missions and Overseas Expansion 1700–1914, Manchester 2004. Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination, 1830–1867, Chicago 2002; Kirsten Rüther, The Power Beyond. Mission Strategies, African Conversion, and the Development of a Christian Culture in the Transvaal, Münster 2002. 19 Eine wichtige Ausnahme stellt die zu Schweizer Missionaren vorgelegte Arbeit von Harries dar: Patrick Harries, Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford u. a. 2007.
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Die Kirchengeschichte hat ihrerseits durchaus zahlreiche Einzelstudien zu Missionsgesellschaften vorgelegt – freilich häufig ohne diese in anderen kirchengeschichtlichen, geschweige denn allgemeingeschichtlichen Kontexten zu situieren. Lange Zeit sollte die Missionsgeschichte traditionsbildende und missionswissenschaftliche Zwecke erfüllen – einerseits sollten historische Erfolge und Heroen bzw. Märtyrer das Gemeinschaftsgefühl und den Glauben an die Macht Gottes und die Kirche stärken, andererseits durch systematische Erforschung der Vergangenheit die Methoden der Glaubensverbreitung effizienter machen. So hilfreich diese Studien sind, teilweise verstellen sie mehr den Blick auf die Rolle der Mission im globalen Kontext, als dass sie diese erhellen: Erschwerend wirkte, dass wahlweise entweder ausschließlich protestantische oder ausschließlich katholische Missionen untersucht wurden. So fehlen Vergleiche ebenso wie eine gemeinsame Betrachtung, die Vernetzungen, Konflikten und Dynamiken zwischen den Missionen nachginge. Darüber hinaus führt eine solche Isolierung dazu, dass Mission auch in der neueren Kolonialgeschichte in der Regel nicht im Kontext anderer kolonialer Akteure als Teil einer komplexen Interaktion zwischen europäischen und lokalen Akteuren und Akteurinnen beschrieben wird.20 Missionare und Missionarinnen sind also Teil einer globalen Verflechtungsgeschichte, die damit selbst ihr Gesicht insofern verändert, als sie nun auch die Bedeutung von Religion ernst nimmt.21 Freilich werden kulturelle Kontakte zwischen europäischen und außereuropäischen Bevölkerungen 20 Jüngere Arbeiten der katholischen Kirchengeschichte beziehen sich allerdings durchaus auf kulturwissenschaftliche Ansätze. Vgl. Michael Sievernich, Die christliche Mission. Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2009; sowie Joachim Schmiedl, Orden als transnationale Netzwerke der katholischen Kirche, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 29.03.2011, http://www.ieg-ego.eu/schmiedlj-2011-de (letzter Zugriff: 01.11.2012). 21 Religion begreifen wir als Produkt von vielschichtigen Aushandlungsprozessen, in dessen Verlauf sich das Säkulare genauso verändert wie das Religiöse, und zwar in globaler Verflechtung. Vgl. Talal Assad, Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003; Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago u. a. 2007; Hans Gerhard Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997; Ulrike Brunotte, Religion und Kolonialismus, in: Hans G. Kippenberg/Jörg Rüpke/Kocku von Stuchrad (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Konzepte, Entwicklungspfade, Vermittlungsformen, Göttingen 2009, S. 339–370; Peter van der Veer, Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton u. a. 2001;
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nicht durch die Mission monopolisiert, wie dies noch für die Frühe Neuzeit gelegentlich postuliert wird.22 Vielmehr müssen Missionare und Missionarinnen in ein Konzert von keineswegs nur europäischen cultural brokers eingeordnet werden. Dennoch sind sie – so die Ausgangsüberlegung dieses Buches – auch im 19. und 20. Jahrhundert zentrale Akteure in Kontakträumen.23 Die Missionsgeschichte ist somit nicht nur für spezialisierte Forschungsbereiche wie die Religions- und Kirchengeschichte von Bedeutung, sondern zentraler Bestandteil einer Geschichte des transnationalen Kulturkontaktes und der Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Mikroräume des Globalen: Akteure und Akteurinnen im Kontakt Missionare und Missionarinnen – so eine These dieses Bandes – sind zentrale Akteure in kulturellen Kontaktzonen. Um die Rolle spezifischer Akteursgruppen und -konstellationen untersuchen zu können, ist eine „dichte Beschreibung“ (Geertz) lokaler Beziehungsnetze notwendig. Das erste Kapitel rekonstruiert vier solcher Mikroräume der Globalisierung, die auf unterschiedliche Art von europäischen, karibischen und westafrikanischen Akteuren hervorgebracht wurden. Die vier Beiträge zeigen, welche sehr unterschiedlich dichten Begegnungsräume – zuweilen auch „dritten Räume“ – je nach lokalem Kontext entstanden. Sie alle sind gekennzeichnet durch plurale Akteurskonstellationen, transregionale Netzwerke, kulturelle wie religiöse Differenz und nicht selten auch durch offene oder versteckte Konflikte. Dieser Zugang ermöglicht es, Kontaktzonen oder auch jene vielbesprochenen „dritten Räume“ an konkreten Fällen erheblich genauer zu vermessen, als dies in der Forschung bisher überwiegend der Fall war.24 Zu einem gewissen Grad ist Unschärfe Teil von Homi K. Bhabhas theoretischer Konzeption von „Hybridität“, die ja gerade in der Ambivalenz und Fluidität der Grenzen nationaler Kulturen, dem „inMarkus Dressler/Arvind-Pal S. Mandair (Hg.), Secularism and Religion-Making. Reflection and Theory in the Study of Religion, Oxford 2011. 22 Vgl. etwa Bernd Hausberger, Mission. Kontinuität und Grenzen eines universalen Anspruchs, in: ders. (Hg.), Im Zeichen des Kreuzes. Mission, Markt und Kulturtransfer seit dem Mittelalter, Wien 2004, S. 9–25. 23 Vgl. zur contact zone Pratt, Imperial Eyes, S. 7. 24 Vgl. etwa die Kritik von Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg ²2007, S. 202.
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between“ die Chancen auf Aushandlung einer „transnational culture“ sieht. Gleichzeit betont Bhabha die Existenz politischer Antagonismen und neuer, unvorhersehbarer Kräfte politischer Repräsentation, die sich in hybriden Räumen bilden können.25 Um die Potenziale dieses Ansatzes tatsächlich sichtbar zu machen, muss die Analyse von Sprache und Diskurs durch die historischanthropologische Analyse von Interaktionsräumen und -formen erweitert werden. Katharina Stornig zeigt in ihrer Untersuchung der Steyler Schwestern, die in Deutsch-Togo um 1900 mehrere Niederlassungen eröffneten, dass die Intentionen des Ordensgründers genauso wenig wie die der Ordensfrauen vor Ort realisiert werden konnten, und doch in der Zusammenarbeit zwischen Togolesinnen und Missionarinnen Neues entstand. Wollten die Schwestern vor allem „gute christliche Ehefrauen“ heranziehen, so nutzen einige der Missionsschülerinnen ihr neu erworbenes Wissen, um sich den Wunsch nach einem zölibatären Leben im Einsatz für Schulbildung und Krankenpflege zu erfüllen. Damit aber beanspruchten sie für sich eine mit höchster Dignität ausgestattete Lebensform, die der Katholizismus in seinen feinen rassistischen Unterscheidungen nur für Europäerinnen vorgesehen hatte. Stornig legt den liminalen Charakter der jeweiligen Begegnungen offen und verweist auf die Machtasymmetrien und die Grenzen von race und gender, die auch hybride Räume durchzogen.26 Katja Füllberg-Stolberg beschäftigt sich mit einer zwar nicht weit von Togo entfernten jedoch ganz anders gestalteten Kontaktzone: Hier sollten die von der Basler Mission Mitte des 19. Jahrhunderts aus Jamaika nach dem heutigen Ghana geschickten christianisierten und eben erst befreiten Sklaven die Missionierung unter der lokalen Bevölkerung vorantreiben. Mag dieses Projekt in den Augen der Basler Mission auch als gescheitert gegolten haben, es blieb keineswegs folgenlos: Die ehemaligen Jamaikaner, die nicht vor den harten Lebensbedingungen in Afrika zurückschreckten, schufen über das Einheiraten in die lokale Elite genauso wie durch ihre gefragte Expertise in 25 Homi K. Bhabha, Introduction. Narrating the Nation, in: ders. (Hg.), Nation and Narration, London/New York 1990, S. 1–7. 26 Vgl. zu den Widersprüchen und Konflikten kultureller Transfers Homi K. Bhabhas Beschreibung des kolonisierten Subjekts als „reformed but recognizable other“, das zum europäischen Subjekt in einer Beziehung des „almost the same but not quite“ und „almost the same but not white“ stehe. Homi Bhabha, Of Mimikry and Man. The Ambivalence of the Colonial Discourse, in: Cooper/Stoler, Tensions of Empire, S. 153, 156.
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Fragen des Kaffeeanbaus und durch den Aufbau einer der ersten einheimischen Kirchen neue Existenzformen. Kirsten Rüther wiederum zeigt die eigenwilligen Verwandlungen, die die über die Hermannsburger und Berliner Mission nach Südafrika transportierten Vorstellungen von nationaler Sprache und Identität vor Ort erfuhren. In den Missionsschulen war man weit weniger an der deutschen Sprache und den damit verbundenen Vorstellungen deutscher Identität interessiert als an der englischen Sprache, die für den lokalen und globalen Handel unerlässlich war und immer noch ist. Gleichzeitig ist Rüthers Beitrag ein Plädoyer für eine engere Zusammenarbeit von Globalgeschichte und Area Studies. Nur wenn – so ihr Argument – Expertise in beispielweise afrikanischer Geschichte mit profunden Kenntnissen der deutschen Geschichte verbunden wird, können die Grenzen kultureller Transfers wie die Anverwandlungen vor Ort aufgezeigt werden. Eben dies macht sie, indem sie den Mäandern nachgeht, die nationale europäische Sprachkonzepte an den untersuchten Orten ausbildeten. Ulrike Schmieder untersucht Kontaktzonen in der Karibik, wo im 19. Jahrhundert verschiedene katholische Frauen- und Männerorden durchaus unterschiedliche Vorstellungen und Praktiken entwickelten, insbesondere was das zentrale Thema der Sklaverei anbelangt – je nach den sozialen, kulturellen und politischen Konstellationen vor Ort. Sie zeigt, dass abhängig von der Form der jeweiligen lokalen Kontaktzonen die Orden unterschiedliche Positionen zur Abschaffung der Sklaverei bezogen. Hier geht es also weniger darum, die teilweise überraschenden Dynamiken auszuloten, die in Kontaktzonen entstanden, als die grundsätzliche Bedeutung derselben en detail zu analysieren.
Kultur- und Wissentranfers: Missionarinnen und Missionare als cultural brokers Missionare und Missionarinnen – so eine zweite These dieses Bandes – zählten nicht zuletzt aufgrund ihrer dichten und langfristigen Vernetzung in diesen Kontaktzonen zu den zentralen Brokern in der Errichtung und Transformation globaler Imaginations- und Wissensregime. Damit trugen sie maßgeblich zur Neuformulierung einer eurozentrischen Welterfahrung im 19. und 20. Jahrhundert bei, halfen die durch die Verdichtung und Ausweitung kultureller Kontakte sich vervielfachenden Informationen über Lebens-
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weisen, Gesellschaften, politische Systeme und nicht zuletzt über verschiedene Formen religiöser Sinnstiftung zu sammeln, zu klassifizieren und zu ordnen.27 Letztlich – so wird im zweiten Kapitel deutlich – blieb es nicht bei Materialsammlungen und Einordnungen. Missionare und Missionarinnen formulierten Narrationen, verfertigten Bilder über das europäische Wirken in der Welt und schrieben sie in den Diskurs um eine europäische Moderne mit ein – umso mehr, weil sie selbst in den europäischen Metropolen Objekte von Modernitätsdiskursen waren und am Maßstab des „sozialen Fortschritts“ gemessen wurden.28 Umgekehrt machten Missionarinnen und Missionare in den Kontaktzonen nicht nur Modernisierungsangebote, sondern schrieben sich selbst in einen globalen Diskurs um Modernität ein.29 Die vier Beiträge dieses Kapitels untersuchen unterschiedliche Formen des missionarischen Kultur- und Wissenstransfers. Dabei folgt das Kapitel den Ansätzen der neueren Wissensgeschichte, betrachtet Wissen damit als Produkt sozialer und kultureller Praktiken und zeigt sich auch für nichtwissenschaftliches Alltagswissen offen.30 Letzeres macht beispielsweise das Wissen von Frauen sichtbar, die die zeitgenössische und missionstypische Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts von den Wissenschaften und oft auch von der Publizistik ausschloss. Dies zeigt Julia Hauser am Beispiel deutscher Diakonissen, die im Beirut des 19. Jahrhunderts ein Waisenhaus und eine Mädchenschule betrieben. Im Zentrum stehen Wahrnehmungen des Islam und Umgangsweisen dieser Akteurinnen mit der konkurrierenden Religion sowie mit muslimischen Schülern und Schülerinnen. Ihre Erfah27 Vgl. Rebekka Habermas, Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 257– 284; Richard Hölzl, Der Körper des Heiden als moderne Heterotopie. Deutsche Missionsärzte und -ärztinnen in der Zwischenkriegszeit, in: Historische Anthropologie 19 (2011) 1, S. 54–81; Harries, Butterflies and Barbarians; Patrick Harries/ David Maxwell (Hg.) The Spiritual in the Secular: Missionaries and Knowledge about Africa, Grand Rapids/Cambridge 2012. 28 Hölzl, Aus der Zeit gefallen. 29 Frederick Cooper bezeichnet die „language of modernity“ als ein „claim-making device“, also als Werkzeug zur Durchsetzung von Ansprüchen. Dies gilt für die Begriffe der Gewerkschaftsbewegung genauso wie die Konversions- und Zivilisierungsterminologie der Missionsbewegung. Vgl. Cooper, Colonialism in Question, S. 146f. 30 Vgl. noch immer grundlegend Bernard S. Cohn, Colonialism and Its Forms of Knowledge. The British in India, Princeton 1996; sowie Sujit Sivasundaram, Sciences and the Global. On Methods, Questions, and Theory, in: Isis 101 (2010) 1, S. 146–158.
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rungen, die sie in der Interaktion mit Schülerinnen, Eltern und auf Hausbesuchen sammelten, waren von den offiziellen Wegen des Wissenstransfers ausgeschlossen. Die Entstehung „dritter Räume“ ist eng mit der Übersetzung von Sprache, von Texten und im erweiterten Sinn von kulturellen Eigenheiten und Wissensbeständen verbunden. „Übersetzung“ im kulturwissenschaftlichen Verständnis – das muss kaum mehr wiederholt werden – meint keine einfache, exakte Übertragung von Inhalten aus einer Sprache in die andere, kein bloßes Vertauschen des Wortschatzes, sondern einen komplexen Prozess der Aushandlung und Transformation von Bedeutungen. Zu Recht wird hervorgehoben, das Übersetzen eine soziale und kulturelle Praxis ist,31 kulturwissenschaftliche Übersetzungsforschung also nicht nur nach den inhaltlichen Veränderungen fragen kann, sondern auch: Wer tut das und auf welche Weise? Mission war und ist im Kern eine Frage kultureller wie im engeren Sinne sprachlicher Übersetzung: Für die Weitergabe der christlichen Heilsbotschaft mussten Missionare eine Sprache finden, die von den Adressaten verstanden wurde. Dabei genügte es keineswegs fremde Sprachen zu entschlüsseln und zu erlernen, ihren Wortschatz zu sammeln und eine Grammatik zu erstellen. Um religiöse Inhalte und Texte zu vermitteln, mussten semantisch korrekte Begriffe gefunden werden – ein Prozess, der sich – noch mehr bei Protestanten als bei Katholiken – in der Übersetzung der Bibel in die Sprache der Missionsadressaten verdichtete. Das Suchen und Finden der „rechten“ Begriffe setzte eine langfristige, sehr persönliche Interaktion zwischen Theologen, Übersetzern, Katecheten und Gläubigen voraus, die die Bibelübersetzung zum Untersuchungsfeld par excellence für einen Ansatz macht, der Übersetzung als soziale und transkulturelle Praxis begreift. Gilbert Dotsé Yigbes „dichte Beschreibung“ einer Bibelübersetzung und der Konflikte, in die ein westafrikanischer Übersetzer im Württemberg des 19. Jahrhunderts geriet, macht dies deutlich. Albert Gouaffo fokussiert einen weiteren zentralen Aspekt missionarischen Kulturtransfers. Sein Beitrag untersucht eine Novelle des Missionars Heinrich Norden, die in Kamerun situiert ist, unter dem Aspekt des Wissenstransfers. Der literarische Erzähler wird von Gouaffo als kultureller Vermittler von „Wissen“ über Kamerun gedeutet, der an der Schwelle zwischen westafrikanischer und europäischer Kultur zu stehen scheint. Indem Gouaffo die Erzählerfigur und nicht den Autor ins Zentrum der Analyse stellt, macht 31 Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 251–254.
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er auf die changierende Qualität missionarischen Erzählens aufmerksam. Der Autor und die von ihm kreierte Erzählerfigur stehen an der Grenze zu einer anderen Kultur, fühlen sich aber auch ihren deutschen Rezipienten verpflichtet – Ergebnis ist eine kompetente, aber gleichzeitig eurozentrische, einseitige und rassistische Vermittlung von Wissen. Kokou Azamede geht den vielschichtigen Dynamiken nach, die jene Afrikaner auslösten, die in den 1880er- und 1890er-Jahren von der Norddeutschen Mission nach Württemberg zur Missionarsausbildung geschickt wurden. Nach ihrer Rückkehr entwickelten sie in der deutschen Kolonie Togo eine eigene Form der Ewe-Kultur aber auch des Christentums. Die in Togo wie auch Württemberg durch die Mission erschaffenen Kontaktzonen führten zu regelrechten religiösen und kulturellen Transformationen der EweGesellschaft, die durch den Weggang der Norddeutschen Mission aus Togo, das nach dem Ersten Weltkrieg französisches Mandatsgebiet geworden war, keineswegs endeten. Vielmehr läuteten die „Ewe-Württemberger“ eine Phase der kulturellen Hybridität – so Azamede – ein.
Europäische Resonanzräume: Widerhall, Brechung und Reflexion missionarischen Handels Die Neustrukturierung und Ausweitung kultureller Kontakträume fand ihre Resonanz in den jeweiligen Metropolen – durch den wechselseitigen Transfer von Wissen und die mediale Repräsentation von Kontakterfahrung. Dies ist die dritte These, die dieser Band verfolgt. Die Resonanz betraf nicht nur das Feld politischer Herrschaft, sondern brachte neue Wissensfelder hervor, schuf global ausgerichtete Emotionslagen und veränderte die Selbstverständnisse der Menschen in den europäischen Metropolen. Im dritten Kapitel fragen wir daher nach den europäischen Resonanzräumen missionarischen Handelns. Der eigentlich aus der Physik, genauer der Akustik, stammende Begriff der Resonanz bezeichnet die Verstärkung von Schallwellen im Zusammenspiel von Räumen und Medien.32 Je nach Konstellation kann jedoch auch eine Bre32 In der Akustik bezeichnet Resonanz den Sonderfall, dass die Frequenz des Schallerregers mit der Eigenfrequenz des aufnehmenden Körpers übereinstimmt.Der Effekt ist eine Verstärkung der Schallwellen. Daneben kennt die Akustik eine Reihe weiterer Effekte, etwa die Interferenz (Überlagerung zweier Wellen mit unterschiedlicher Frequenz), die Brechung oder Ablenkung der Wellen an einem Hindernis, bis zur Totalreflexion – Schallwellen werden dabei buchstäblich zurückgewiesen.
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chung, eine Beugung oder eine völlige Absorption – ein Verstummen – der betreffenden Schallwellen erfolgen. Mit dieser Metapher möchten wir auf die Botschaften hinweisen, die Missionare und Missionarinnen in Europa versendeten, auf die Medien, die sie nutzten, und auf die diskursiven Prozesse, die Metropole und Peripherie verbanden oder auch trennten.33 Wir fragen, welche Rolle Missionare und Missionarinnen für die Formierung europäischer Resonanzräume des kulturellen Kontakts einnahmen. Inwieweit waren sie an der Ausbildung neuer religiöser, regionaler, nationaler oder europäischer Selbstverständnisse beteiligt? Judith Becker untersucht zunächst, wie sich englische und deutsche protestantische Missionare im 19. Jahrhundert zwischen Afrika und Europa verorteten, wie sie sich als „Europäer“, „Deutsche“, „Schweizer“ oder Christen selbst thematisierten und wie sie vor allem Afrika als „neue Heimat“ in der Kommunikation mit den Missionszentralen verbalisierten. Richard Hölzl untersucht katholische Kinderbücher und -zeitschriften, Theaterstücke, Bild- und Werbematerial aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem emotionengeschichtlichen Ansatz. Er geht der Frage nach, inwiefern diese spezifisch für Kinder konzipierten Formen missionarischer Publizistik zur Herstellung neuer, transnational wirksamer emotionaler Bindungen, sprich zur Entstehung von Mitgefühl über große räumliche und kulturelle Distanz beitrugen. Gerade letzteres Beispiel macht auf die Medien aufmerksam, die die Missionare für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Beziehungen über große Distanz hinweg nutzten. Zu den klassischen Varianten des Briefwechsels und der Missionszeitschrift kamen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer stärker Bildmedien, Objekte, Broschüren, literarische Erzählungen, Theaterstücke und vieles mehr. So befassen sich in diesem Band mehrere BeiIn der Bautechnik werden Effekte der Verstärkung (Resonanz) und Abschwächung (Absorption) gezielt und in Kombination genutzt, um die akustische Qualität von Räumen zu erhöhen. Vgl. Klaus Lüders/Robert Otto Pohl (Hg.), Pohls Einführung in die Physik, Bd. 1: Mechanik, Akustik und Wärmelehre, 20. Aufl. Berlin/ Heidelberg 2009, S. 174–262 und Max J. Selzer, Schall, in: Institut für Bauphysik und Materialwissenschaften, Universität Duisburg-Essen, http://www.uni-due.de/ ibpm/BauPhy/Schall/indexschall.htm (letzter Zugriff: 3.11.2012). Vgl. zum Terminus Resonanz auch den Beitrag von Kirsten Rüther in diesem Band. 33 Robert N. Proctor/Londa L. Schiebinger (Hg.), Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford 2008; Rebekka Habermas, Lost in Translation? The Scandal of Atakpame in German Wilhelmine Empire, in: The Journal of Modern History 85 (2013), (in Vorbereitung).
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träge mit der Medialität und den europäischen Resonanzräumen von Mission: Albert Gouaffo untersucht eine literarische Erzählung als Medium des Wissenstransfer zwischen Kamerun und Deutschland. Linda Ratschiller fragt nach der Präsentation von exotischen Objekten in den Ausstellungen der Basler Mission und rückt die wechselseitige Beziehung von Mission und der neuen Humanwissenschaft Anthropologie in den Blickpunkt. Wie ihr Beitrag zeigt, stand missionarischer Wissenstransfer zwischen Populärkultur und systematischen Wissenschaften, wie der Anthropologie und der Ethnologie. Missionare und Missionarinnen bewegten sich auf beiden Seiten dieser scheinbar starren Grenze. Ethnografische und landeskundliche Forschungen mögen der Professionalisierung der Missionsarbeit vor Ort gedient haben und für die Ausbildung angehender Missionare eingesetzt worden sein. Die Vermittlung von Wissen in den Heimatöffentlichkeiten sollte jedoch breite Bevölkerungsschichten ansprechen und für die Mission werben. Die Basler Mission versuchte in der Gestaltung ihrer missionarisch-ethnografischen Ausstellungen, die Popularität exotischer Zurschaustellung von Menschen und Lebensweisen im fin de siècle zu nutzen und gleichzeitig wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen.
Missionen der Gegenwart: Multipolarität, religiöser Pluralismus und horizontale Vernetzung? Das vierte Kapitel beleuchtet die Beziehungsnetze, in die Missionare und Missionarinnen stets eingebunden waren und die sich ihrerseits auch veränderten. Gerade in der jüngsten Geschichte der Missionen, die hier im Vordergrund stehen soll, entwickelten sich diese Netzwerke auf zuweilen überraschende Art und Weise. Bereits im 19. Jahrhundert hatten Missionsgesellschaften und Orden, wie auch einzelne Missionare Netzwerke geknüpft, die sich nur zum Teil mit denen anderer imperialer Akteure deckten und sich nicht nur innerhalb der kolonialen Achse von Metropole und Peripherie34 bewegten. Zwar nutzten sie koloniale Räume, bezogen sich darüber hinaus aber auch auf nationale, ethnische oder rassistische Formen der Vergemeinschaftung. Generiert und verbreitet wurden diese transnationalen religiösen Netzwerke überdies über den 34 Vgl. Ann Laura Stoler/Frederick Cooper, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies., Tensions of Empire, S. 1–58.
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„alltäglichen Umgang mit religiösen Heilsgütern“ verstanden als „religiöses Symbolkapital […] wie handlungsorientierende Normen, Werte, Ideologien und Weltanschauungen“.35 Es lassen sich verschiedene Ebenen der Vernetzung im Feld der Mission unterscheiden. Missionen konnten, aber mussten keineswegs zwangsläufig vernetzt sein mit kolonialen Herrschaftsstrukturen. Versuche der Glaubensverbreitung gab es in (partiell) unabhängigen Gebieten, etwa in China, Japan, dem Osmanischen Reich und den Staaten Südamerikas und sie setzten sich nach der Dekolonisierung fort, wie in den zwei Beiträgen dieses Kapitels gezeigt wird. Ob nun im kolonialen Umfeld oder nicht, immer waren die Netzwerke um die politisch Mächtigen zentral – mit eigenen Ressourcen allein und aus eigener Machtvollkommenheit heraus konnte eine Mission nirgends bestehen. Die meisten Regierungen achteten penibel darauf, welche Form der Mission auf ihrem Herrschaftsgebiet ausgeübt wurde. Die Verteilungen der Konfessionen und Nationalitäten des Missionspersonals, die Inhalte des Unterrichts in den Missionsschulen (insbesondere die Sprachenpolitik), der Kontakt zu wichtigen kulturellen und religiösen Strömungen in der Kolonialbevölkerung (etwa dem Islam), all dies versuchte man staatlicherseits zu kontrollieren. In unabhängigen, dekolonisierten und demokratischen Staaten, so zeigt etwa der Beitrag Roman Loimeiers in diesem Kapitel, entfaltete sich ein konfliktreicher Wettbewerb zwischen dem Islam und christlichen Missionen. Daneben waren auch die Netzwerke innerhalb und zwischen den jeweiligen Missionsgesellschaften, zwischen den Niederlassungen in der Peripherie und den 35 Sebastian Schüler, Die Transnationalisierung globaler Heilsgüter am Beispiel der Pfingstbewegung, in: Berthold Unfried/Jürgen Mittag/Marcel van der Linden (Hg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Wien 2008, S. 145–169. Soziologische Netzwerktheorien sehen in sozialen Netzwerken eine Art der Vergemeinschaftung, die meist weniger formell ist als institutionalisierte und verrechtlichte Organisationsformen wie Orden, Vereine, Staatsorgane oder NGOs. Netzwerke sind auf Vertrauensbasis gegründet und werden zum Ausgleich von Markt- oder Institutionenversagen geknüpft. Hingewiesen wird zudem auf die Latenz von sozialen Netzwerken. Sie können einschlafen, erweitert oder eingeschränkt und im Problemfall ad hoc reaktiviert werden. Vgl. zum Netzwerkbegriff Christoph Boyer, Netzwerke und Geschichte. Netzwerktheorien und Geschichtswissenschaften, in: Unfried, Transnationale Netzwerke, S. 47–58. Wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, fungieren auch Netzwerke nicht nur auf einer strukturellen Ebene, sondern sind Ergebnisse, wie auch Bedingung sozialer Praxis – sie werden gemacht, verhandelt und genutzt.
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europäischen Stammsitzen, die sich bemühten soweit möglich ein detailliertes Berichtswesen aufrechtzuerhalten und Glaubensinhalte, wie auch die Missionspraxis der ausgesandten Missionare weitgehend zu kontrollieren (Kurie, Weltmissionskonferenz). Auf dieser Ebene lassen sich ebenso die Unterstützerkreise, die sich um Missionsgesellschaften aber auch um einzelne Missionare bildeten, einordnen – sie bildeten eine wichtige Säule der Missionsarbeit, die materielle Basis aus Sach- und Geldspenden, ohne die kaum eine Mission bestehen hätte können. Freilich waren missionarische Beziehungsnetze keineswegs immer konfliktfrei. Das zeigt Katrin Langewiesche eindrücklich am Beispiel katholischer Frauenorden in Burkina Faso. Hier konnten und können die Netze zwischen älteren europäischen und neugegründeten afrikanischen Frauenmissionsorden Freiräume der Emanzipation schaffen. Sie werden von afrikanischen Schwestern dazu genutzt, durch Ausbildung, Absicherung und Positionierung innerhalb eines Netzwerks aus europäischen und afrikanischen Frauenorden ihre sozialen Chancen entscheidend zu verbessern. Während afrikanische Ordensgemeinschaften innerhalb der katholischen Kirche Einfluss gewinnen und ihre europäischen Pendants aufgrund massiven Mitgliederschwundes an Bedeutung verlieren, stehen die Frauenorden in Burkina Faso weiterhin in einer zumindest diskursiven „Mutter-Kind“-Beziehung zu den europäischen Ordensgemeinschaften. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden neue Netze jenseits der bekannten Achse Peripherie-Metropole. Ein Beispiel für diese neue Geografie der Mission beschreibt der Beitrag Roman Loimeiers. Er untersucht die missionarischen Dynamiken die religiöser Wettbewerb in Ostafrika seit den 1990er-Jahren auslöste. Am Beispiel der Muslim Bible Preachers in Dar es Salaam zeigt er, wie neue muslimische Missionsvereinigungen seit den 1990erJahren auf die Missionserfolge christlicher Pfingstkirchen in Ostafrika reagierten. Die muslimischen Missionare kombinieren dabei Formen der muslimischen Predigt mit lange Zeit verpönten heterodoxen, aber in der Bevölkerung populären islamischen Heilungszeremonien und den Praktiken der Pfingstler, um der wahrgenommenen Bedrohung durch die christlichen Missionare entgegenzuwirken. Eine wichtige Rolle in diesen konfliktgeladenen muslimischchristlichen Kulturtransfers spielten die frühen Erfahrungen, die Muslime in Südafrika mit Pfingstkirchen seit den 1970er-Jahren gemacht hatten.
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Fazit: Neue Missionsgeschichte, Verflechtungsgeschichte der Mission, Globalgeschichte des Religiösen Der eingangs erwähnte katholische Missionar August Schynse blieb nicht lange am Kongo. Rom teilte das Missionsgebiet einem anderen Orden zu. Er selbst starb wenige Jahre später am Viktoriasee. Seinen Wissensstand schätzte Schynse selbst kritisch ein. Er schrieb an einen Freund in Deutschland: „Wenn ich heute lese, was ich vor 18 Monaten in mein Tagebuch schrieb, da muss ich selber mich oft bemitleiden über die Naivität meiner Ideen“.36 Schynse und die Mission hinterließen dennoch Spuren: Langfristig integrierten viele Bayansi die Idee eines Hochgottes in ihre religiösen Vorstellungen. Einer ihrer Götter, Ndsakumba, fand über Schynses Berichte Eingang in Leo Frobenius’ Theorie über kulturellen Transfer.37 Ohne Schynse und andere Missionare, Diakonissen, Ordensfrauen, aber auch ohne die Übersetzer, Katecheten, Lehrer und Lehrerinnen der Missionsschulen, ohne die Fahrer, Träger und Angestellten der Missionsstationen und schließlich die Bevölkerungen in den jeweiligen Missionsgebieten und in den Herkunftsländern der Missionen hätte – und nicht mehr, aber auch nicht weniger möchte dieser Band verdeutlichen – unsere Geschichte anders ausgesehen und sähe auch die Gegenwart anders aus. Gerade die Beziehungsnetze der Mission, die in der jüngsten und allerjüngsten Vergangenheit gesponnen wurden und immer noch werden, zeigen vielleicht am deutlichsten wie wichtig es ist, Mission als zentralen Akteur im Feld von Globalisierungsprozessen ernst zu nehmen.38 Konfessionell gebundene, aber auch Freikirchen und Metis-Glaubensgemeinschaften lieferten in Afrika, Asien und auch anderen Teilen der Welt die Sprache für anti36 Schynse, Zwei Jahre am Congo, S. 92. 37 Vgl. Richard Hölzl, P. August Schynse (1857–1891). Prediger, Wissensvermittler und Symbolfigur, in: Rebekka Habermas/Alexandra Przyrembel (Hg.), Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013. 38 Im Laufe des 20. Jahrhunderts traten im Zuge einer zunehmenden sogenannten Indigenisierung der Kirchen außerhalb Europas stärker christliche afrikanische, asiatische oder amerikanische Akteure auf, die auch in einem engeren kirchlichen Verständnis als Missionare gelten. Vgl. etwa Valentin Y. Mudimbes Darstellung dieses Übergangs zu einer „African theology“, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge, Oxford/Bloomington 1988, S. 44–64. Früh und äußerst konfliktreich setzte dieser Prozess etwa in Südafrika ein. Vgl. George Sombe Mukuka, The Other Side of the Story. The Silent Experience of the Black Clergy in the Catholic Church of South Africa (1898–1976), Pietermaritzburg 2008.
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koloniale Protestbewegungen, prägten die Aspirationen der Ausgeschlossenen mit und halfen, Ansprüche auf Partizipation zu formulieren.39 Seit einigen Jahrzehnten wird Europa selbst zum Missionsfeld, in dem sich nicht nur protestantische US-amerikanische Glaubensgemeinschaften betätigen, sondern verstärkt auch Pfingstkirchen aus dem afrikanischen, karibischen oder südamerikanischen Raum. Hinzukommen die asiatischen Religionen, Buddhismus, Hinduismus etc. sowie die Präsenz islamischer Reformbewegungen in vielen Teilen der Welt. Um Missionsgeschichte tatsächlich „jenseits des Eurozentrismus“ zu betrachten, muss gefragt werden, welche Auswirkungen dieser neue nicht primär auf die europäischen Metropolen bezogene Pluralismus missionarischen Handelns hatte bzw. inwieweit christlich-europäische Mission an der Entstehung und Ausformung eines pluralen religiösen Feldes beteiligt war. In manchen Regionen, etwa in Südostasien, erweist sich das Christentum jedenfalls lediglich als weiterer Faktor in einem ohnehin dynamischen und pluralen religiösen Feld.40 Um auf diese und ähnliche Fragen eine Antwort zu erhalten, müssen globale Prozesse als Verflechtungen verstanden werden, in denen Säkulares und Religiöses – in manchmal unterschiedlicher Gewichtung – gleichermaßen von Bedeutung ist und sich auch gleichermaßen wandelt. Überdies darf nicht vergessen werden, dass hier nicht nur Prozesse, sondern auch Akteure und Akteurinnen am Werk sind, die sich selbst ebenso wie die sozialen Prozesse und Strukturen ihrer Zeit, mitgestalteten.
39 Vgl. Jean Comaroff, Missionaries and Mechanical Clocks. An Essay on Religion and History in South Africa, in: The Journal of Religion 71 (1991), S. 1–17; Appadurai, Modernity at Large und Cooper, Colonialism in Question, S. 131ff. 40 Vgl. Thoralf Klein, Außenansicht: Religionspluralismus in Asien, in: Bultmann/ Rüpke/Schmolinsky, Religionen in Nachbarschaft, S. 15–28.
„Ein Sauerteig christlichen Lebens in der Masse afrikanischen Heidentums“ Westindische Konvertiten an der Goldküste (1843–1850) Katja Füllberg-Stolberg
Am 8. Februar 1843 landete eine Gruppe Westinder1 – Männer, Frauen und Kinder – in Begleitung von drei Missionaren an der westafrikanischen Goldküste, heutiges Ghana, um dort die Basler Missionsgesellschaft zu unterstützen. Die Mitglieder der Gruppe, die überwiegend aus Jamaika stammten,2 sollten als christliche schwarze Musterfamilien Vorbild für die afrikanische Bevölkerung sein und deutlich machen, „daß das Evangelium nicht bloß die Religion der Weißen, wie sie es nennen, sondern die Religion der Sünder sey, und was es aus einem Neger machen könne, sammt welche Vortheile für Seele und Leib es bringe.“3 Das Projekt zählt zu einer Reihe von christlichen Siedlungsinitiativen, die von protestantischen Missionskirchen gemeinsam mit der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts initiiert wurden. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Vorgeschichte dieses Missionssiedlungsprojektes und dem Wirken der insgesamt 24 Personen umfassenden Gruppe in den 1840er- und 1850er-Jahren4 Welchen Einfluss hatten sie als Nachkommen afrikanischer Sklaven und Sklavinnen in der Diaspora auf die Christianisierung und die Abolition an der Goldküste? War dieses Unter1 Als Westinder werden die Bewohner der Inseln in der Karibik (westindische Inseln) bezeichnet. In der englischsprachigen Forschung hat sich seit langem der Begriff West Indian durchgesetzt. Die Bewohner der ehemals englischen Kolonien in der Karibik bezeichnen sich selbst als West Indians. Im folgenden Text werden die Begriffe westindisch und karibisch synonym verwendet. Allerdings wird nur von Westindern und nicht von Kariben gesprochen, da hiermit vor allem die ursprüngliche Bevölkerung der Region gemeint ist. 2 Nur einer von ihnen, ein junger Mann, stammte von der Insel Antigua. 3 Missions-Blatt aus der Brüdergemeine, Herrnhut, 6 (1842), 20, S. 159. 4 Der Beitrag stammt aus dem Forschungsprojekt „Afroamerikanische Missionare und Siedler in Westafrika.“ Es ist Teil des interdisziplinären Forschungsprojektes „Nach der Sklaverei. Die Karibik und Afrika im Vergleich“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird.
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nehmen – wie viele zeitgenössische Missionare glaubten – gescheitert oder hatte es nicht intendierte Folgen, die man als Erfolg bezeichnen kann?
„The civilizers of Africa must be African“5 – Zur Vorgeschichte des Siedlungsprojektes Seit dem Ende des transatlantischen Sklavenhandels (1807) und der Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien in der Karibik (1838) richtete sich der Fokus der Abolitionisten auf Afrika, und der innerafrikanischen Sklaverei wurde der Kampf angesagt. Federführend waren hierbei die britischen Abolitionisten und insbesondere Thomas Fowell Buxton, der in seiner Abhandlung The African Slave Trade and its Remedy eine neue Afrikapolitik propagierte, eine zivilisatorische Unternehmung (civilizing enterprise), die auf Zivilisation, Christentum und Handel basierte.6 Christianisierte Afroamerikaner, häufig ehemalige Sklaven und Sklavinnen, wurden im Auftrag von Missionsgesellschaften „zurück“ nach Afrika geschickt, um als cultural brokers zu christianisieren und zu zivilisieren. Sie wurden als besonders geeignet für diese Aufgabe angesehen aufgrund ihrer sozialen und kulturellen Affinität zu Afrika, ihrer angeblich größeren Resistenz gegenüber tropischen Krankheiten und ihren Erfahrungen mit der Emanzipation. Als „native agents“7 sollten sie christliche Mustergemeinden gründen und ihren Brüdern und Schwestern auf dem Heimatkontinent Hilfestellung leisten, bis diese selbst in der Lage seien, Missionstätigkeit zu übernehmen.
5 Baptist Missionary Society (BMS), Annual Report 1843, S. 36, zitiert in: Bela Vassady Jr., Transplanting Prejudices: The Failure of the Baptist Experiment Using Jamaican „Native Agents“ in Fernando Po and Cameroons, 1841–1850, in: Caribbean Quarterly 25 (1979) 1–2, S. 15–39, hier S. 18. 6 Thomas Fowell Buxton, The African Slave Trade and its Remedy, London 1840. In der englischsprachigen Literatur ist von den drei Cs die Rede: Civilization, Christianity and Commerce. 7 Thomas Fowell Buxton und andere britische Abolitionisten verwendeten diese Formulierung. Vgl. Vassady, Transplanting Prejudices, S. 15.
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„While Europeans are prevented from entering Africa by the unhealthy climate and their suspected colour, […] thousands and millions of Africans have been permitted to be carried into countries where Europeans can not only reach them with safety, but where they are surrounded with the arts and knowledge of Europe.These Africans may be trained with great facility to be the improvers of their country.“8
Anfangs war die britische Kronkolonie Sierra Leone Hauptzielort der westindischen Konvertiten.9 Dort wurden befreite Sklaven, sogenannte recaptives,10 unter der gemeinsamen Schirmherrschaft der britischen Regierung und der Church Missionary Society (CMS) in christlichen Gemeinden angesiedelt. Unterstützt von afroamerikanischen Missionaren aus der Karibik begannen sie auch mit der Verbreitung des Christentums entlang der westafrikanischen Küste.11 Die unter britischer Herrschaft stehenden karibischen Inseln entwickelten sich schon bald zum wichtigsten Rekrutierungsgebiet von christianisierten ehemaligen Sklaven und Sklavinnen für die civilizing mission in Westafrika insgesamt. Der einflussreiche britische Abolitionist Thomas Fowell Buxton war überzeugt, die 1838 emanzipierten Sklaven seien besonders geeignet für diese Aufgabe. Buxton erklärte:
8 BMS, Annual Report 1843, S. 36, zitiert in: Vassady, Transplanting Prejudices, S. 18. 9 Sierra Leone ging aus einem philanthropischen Emigrationsprojekt britischer Abolitionisten hervor und wurde 1807 Kolonie. Vgl. Christopher Fyfe, A History of Sierra Leone, Aldershot 1993. 10 Bei den recaptives handelte es sich um ca. 6 000 befreite Sklaven und Sklavinnen, die nach 1807 durch die britische Marine (anti-slavery squad) vor der westafrikanischen Küste von Sklavenschiffen befreit und in Sierra Leone angesiedelt wurden. 11 Vgl. Nemata Amelia Blyden, West Indians in West Africa, 1808–1880. The African Diaspora in Reverse, Rochester 2000. Das bekannteste Beispiel eines erfolgreichen recaptive war der Yoruba Samuel Ajayi Crowther, der 1857 im Auftrag der CMS die Niger Mission im heutigen Nigeria gründete und sieben Jahre später zum ersten schwarzen Bischof der CMS ernannt wurde. Vgl. u. a. Lamin Sanneh, The CMS and the African Transformation: Samuel Ajayi Crowther and the Opening of Nigeria, in: Kenneth Ward/Brian Stanley (Hg.),The Church Mission Society and World Christianity, 1799–1999, Grand Rapids 2000.
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„I have a great satisfaction in finding, that among the liberated Africans in our West Indian colonies, we are likely to be furnished with a number of persons in whom are united the desirable qualifications of fitness for the climate, competency to act as teachers, and willingness to enter upon the work.“12
Seit den späten 1830er-Jahren setzten immer mehr protestantische Missionsgesellschaften Afroamerikaner aus der Karibik als christliche Agenten in Afrika ein. Die Mehrheit von ihnen stammte aus Jamaika, wo zahlreiche christliche Gemeinden entstanden waren, deren Mitglieder häufig über eine Schulbildung bzw. Erfahrung in praktischen Berufen verfügten. Die Bedeutung dieses Transfers von christianisierten ehemaligen Sklaven aus der Karibik nach Afrika ist lange Zeit von der Missionsforschung übersehen bzw. als zu unbedeutend eingeschätzt worden. Erst in den letzten Jahren hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden, der den Beitrag der afrikanischen Diaspora für die christliche Missionierung Afrikas stärker hervorhebt.13 In den christlichen Gemeinden Jamaikas wurde im Zuge der Sklavenemanzipation die Frage der „Rückkehr“ nach Afrika intensiv diskutiert. Es ging nicht nur um die Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei, um christliche Missionierung und die damit verbundene Vermittlung westlicher Bildung, sondern auch um den Aufbau von Handelsbeziehungen. Die Baptist Missionary Society (BMS) gründete spezielle Einrichtungen zur Ausbildung schwarzer Missionare für Afrika wie z. B. das Calabar Theological Institute in Jamaika.14 Die erste Afrikamission von jamaikanischen Baptisten datiert aus dem Jahr 1843, als eine Gruppe von 36 Personen nach Fernando Po vor der Westküste Afrikas aufbrach. „Creolised Africans, born anew as Christians, could now return to their benighted country and rescue it from ‚savagery‘“, stellt Catherine Hall fest.15 Die Mission auf Fernando Po scheiterte jedoch, und nach weniger als drei Jahren kehrte fast die gesamte Gruppe nach Jamaika zurück. Sie berichteten
12 Buxton, African Slave Trade, S. 492. 13 Vgl. hierzu u. a. Horace O. Russell, The Missionary Outreach of the West Indian Church. Jamaican Baptist Missions to West Africa in the Nineteenth Century, New York 2000 und Blyden, West Indians. 14 Gründer der Einrichtung war der Missionar William Knibb. 15 Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830–1867, Chicago/London 2002, S. 147.
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von rassistischen Übergriffen und schlechter Behandlung durch die Schiffsbesatzung und die begleitenden weißen Missionare.16 Auch ein weiterer Versuch einer kleineren Gruppe von Jamaikanern, sich gemeinsam mit britischen Baptisten 1844 auf dem afrikanischen Festland in Kamerun niederzulassen, war nicht erfolgreich. Die Idee der „African redemption by Jamaicans“17 schien damit für die Baptisten vorerst gescheitert. Zeitgleich nahm die Herrnhuter Brüdergemeine in Jamaika den Gedanken der Erlösung Afrikas mithilfe westindischer Konvertiten auf und rekrutierte – in Kooperation mit der Basler Missionsgesellschaft – eine Gruppe von „Rückkehrern“ nach Westafrika.18 Während die BMS schwarze Missionare mit dem Auftrag nach Westafrika schickte, eigenständig Missionsstationen zu errichten, ging es der Basler Missionsgesellschaft insbesondere darum, Handwerker- und Bauernfamilien zur Unterstützung der eigenen Missionare vor Ort anzuwerben. Die Basler Missionsgesellschaft hatte erstmals 1828 Missionare an die Goldküste, die unter dänischer Herrschaft stand, entsandt. Allerdings gab es zahlreiche Tote zu beklagen. Von den sieben Missionaren, die in zwei Gruppen einreisten, überlebte nur Andreas Riis die ersten drei Jahre. Er arbeitete nach seiner Ankunft 1832 an der dänischen Schule in Osu und vertrat im Krankheitsfall den Kaplan im Fort Christiansborg, dem Sitz des Gouverneurs.19 Riis Missionierungsbestrebungen waren von keinerlei Erfolg gekrönt, und er beschloss, weiter im Landesinneren in den Akuapem Bergen, zirka 35 Kilometer von der Küste entfernt, einen neuen Versuch zu wagen. Mit
16 Vgl. Vassady, Transplanting Prejudices, S. 15–39, siehe auch Russell, Missionary Outreach. 17 Hall, Civilising Subjects, S. 147. 18 Im Gegensatz z. B. zu den Baptisten leistete die Herrnhuter Brüdergemeine keinen substanziellen Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei in der Karibik. Zum Verhältnis der Herrnhuter zur Sklaverei vgl. Claus Füllberg-Stolberg, Die Herrnhuter Mission, Sklaverei und Sklavenemanzipation in der Karibik, in: Elisabeth Herrmann-Otto (Hg.), Sklaverei und Zwangsarbeit. Zwischen Akzeptanz und Widerstand, Hildesheim 2011, S. 254–280. 19 Zu den Anfängen der Basler Mission an der Goldküste vgl. Wilhelm Schlatter, Die Geschichte der Basler Mission in Afrika, 1815–1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen. Teil III, Basel 1916, und Hans-Werner Debrunner, Anfänge evangelischer Missionsarbeit auf der Goldküste bis 1828, in: Evangelisches Missions-Magazin, Basel, 98, ( Januar/März 1954) 1 und 2, S. 18–26, S. 49–56.
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Zustimmung des dänischen Gouverneurs gründete er im März 1835 am Rande des Ortes Akropong eine Missionsstation.20 Nana Addo Dankwa, der lokale Herrscher, nahm Riis freundlich auf und stellte ihm Land zur Verfügung. Aber die Bevölkerung zeigte nur sehr geringes Interesse am Evangelium. Riis war in einer politisch sehr unruhigen Zeit nach Akropong gekommen. Der kleine Staat Akuapem mit dem Zentrum Akropong war eine politisch und sozial sehr heterogene Region. Während in Akropong Twi sprechende und matrilinear organisierte Akan siedelten, überwog in den Nachbarorten eine Guan sprechende Bevölkerung, die patrilineare Erbfolge praktizierte.21 Dynastische Auseinandersetzungen sorgten darüber hinaus für interne Spannungen. Gleichzeitig bedrohte der mächtige Nachbar, das Asante-Reich, die politische Unabhängigkeit Akuapems. Akuapem war auch Schauplatz der wachsenden Rivalitäten zwischen den Dänen, die in den 1660er-Jahren ihr erstes Fort in Christiansborg errichtet hatten, und den Briten, die durch die Royal Africa Company seit den 1670erJahren an der Goldküste präsent waren und von Cape Coast Castle aus operierten. Beide Mächte konzentrierten sich nach dem Verbot des transatlantischen Sklavenhandels auf den Handel mit agrarischen Produkten – insbesondere Palmöl, aber auch Kaffee – und versuchen, ihren wirtschaftlichen und politischen Einfluss auszubauen. Der dänische Gouverneur Moerck, der 1834 sein Amt antrat, verfolgte eine aggressive Politik zur Verteidigung angeblicher dänischer Territorialrechte. Dies provozierte die Briten, die ihren Palmölhandel bedroht sahen.22 Die Dänen mischten sich auch in interne lokale Angelegenheiten ein. Sie nutzten die wachsende Opposition gegen Addo Dankwa, um ihn Mitte 1836 zu entmachten und Anfang 1837 den neuen Herrscher Adum zu installieren. Nach seiner Ankunft in Akropong hatte Riis zügig begonnen, unterstützt von den Einwohnern, Wohnhäuser für sich und zukünftige Missionare und 20 Zur Situation in Akropong vgl. Ulrike Sill, Encounters in Quest of Christian Womanhood. The Basel Mission in Pre- and Early Colonial Ghana, Leiden 2010. 21 Akuapem war in den 1730er-Jahren von Akan gegründete worden, die ihre Herrschaft über die einheimischen Guan in den Folgejahren ausbauten. Zur Geschichte Akuapems vgl. Michael A. Kwamena-Poh, Government and Politics in the Akuapem State, 1730–1850, London 1973; John Middleton, „One Hundred and Fifty Years of Christianity in a Ghanaian Town“, in: Africa 53 (1983), S. 2–17, und Michelle Gilbert, „No Condition is Permanent“: Ethnic Construction and the Use of History in Akuapem, in: Africa 67 (1997) 4, S. 501–533. 22 Per Hernaes, Slaves, Danes, and African Coast Society, Trondheim 1995. 1850 übernahm Großbritannien die dänischen Besitzungen an der Goldküste.
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ein Schulgebäude zu errichten. Diese ersten Steinhäuser in der Region beeindruckten die Bevölkerung und brachten Riis den Titel Baumeister (Osiadan) ein.23 Riis machte sich mit der neuen Umgebung vertraut und besuchte die umliegenden Ortschaften. Er erlernte Twi mithilfe von Addo Dankwas Neffen, Owusu Akeym. 1836 erhielt Riis Unterstützung durch die Ankunft seiner zukünftigen Frau Anna Wolter und zweier Missionare, die aber beide innerhalb kurzer Zeit verstarben.24 Trotz großer Bemühungen konnte Riis in den folgenden Jahren keinen einzigen afrikanischen Konvertiten vorweisen. Im Sommer 1840 beorderte das Missionskomitee Riis zurück nach Basel. Es ging nicht nur um den Fortbestand der Station Akropong, sondern um die grundsätzliche Frage, ob die Basler Missionsgesellschaft sich weiterhin in diesem Teil Afrikas engagieren sollte. Auf der Rückreise machte Riis in London Station und besuchte die Conference on Africa, die von britischen Anti-Sklaverei Gesellschaften25 und der CMS organisierte wurde. Im Mittelpunkt der Diskussion stand der Einsatz von ehemaligen Sklaven von den westindischen Inseln zur Unterstützung der europäischen Mission in Afrika. Hintergrund waren die hohen menschlichen Verluste, die nicht nur die Arbeit der Basler Mission, sondern auch die anderer Missionsgesellschaften beeinträchtigten. Das Komitee in Basel nahm die in London diskutierte Idee der ‚Wiederansiedlung‘ freigelassener Sklaven und Sklavinnen auf und beschloss am 17. Februar 1841 ihre Mission an der Goldküste auszubauen durch die Ansiedlung einer kleinen „Anzahl von Negerfamilien […], welche die Willigkeit hätten, um des Herrn und ihrer africanischen Brüder willen die neue Heimath im Westen zu verlassen und, theils als Ackerbauer, theils als Handwerker, einige wo möglich auch als Schullehrer sich an die Mission in Guinea anzuschließen.“26
23 Addo Dankwa hatte Riis versprochen, ein Haus für ihn bauen zu lassen. Als der Bau auf sich warten ließ, ignorierte Riis dieses besondere Entgegenkommen des Herrschers und begann selbst Häuser zu errichten. Vgl. Paul Jenkins, The Scandal of Continuing Intercultural Blindness in Mission Historiography. The Case of Andreas Riis in Akwapim, in: International Review of Mission 87 (1998), S. 67–76, und A. A. Opoku, Riis, the Builder, Legon 1978. 24 Kofi Nkansa-Kyeremateng, The Presbyterian Church of Ghana (P. C. G.). History and Impact, Accra 2003, S. 42. 25 Die Anti Slavery Society und die African Civilization and Development Society. 26 Jahresbericht der Missionsgesellschaft zu Basel 1842, 2. Quartalsheft, S. 135.
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Diese Gruppe sollte unter Anleitung von europäischen Missionaren den Erhalt der Mission in Akropong sichern. Welche Rolle Andreas Riis, der seine Arbeit an der Goldküste unbedingt fortsetzen wollte, bei der Entscheidung des Komitees gespielt hat, ist nicht eindeutig auszumachen. Verwiesen wird in der Literatur immer auf ein Gespräch mit dem Herrscher von Akropong. Addu Dankwa hatte Riis angeblich erklärt, wenn er ihm einen bekehrten Schwarzen vorweisen könne, wäre er bereit, ihn in seiner Mission aktiv zu unterstützen. „When God created the world, he created the book for the Whiteman and fetish ore juju for the Blackman, but if you could show us some Blackman who could read the Whiteman’s book, then we would surely follow you“, soll er Riis gesagt haben.27 Diese Äußerung des Afrikaners Addo Dankwa findet sich in der zeitgenössischen Missionsliteratur ebenso wie in neueren Arbeiten zur Basler Missionsgesellschaft, und sie ist auch Bestandteil der oralen Tradition in Akuapem.28 Die Abschaffung der Sklaverei in Westafrika war nicht ausschlaggebend für die Entscheidung des Komitees in Basel. In den 1840er-Jahren spielte die Abolitionsfrage für die Basler Missionsgesellschaft nur eine untergeordnete Rolle. Erst die Einrichtung der Sklaven-Emancipationscommission 1868, vor allem auf Druck der britischen Administration, setzte eine intensive Diskussion über Sklaverei und den Umgang mit lokalen Sklavenhändlern in Gang.29 Einfluss auf die Entscheidung der Basler hatte jedoch die wachsende Präsenz der britischen Wesleyan Methodist Society, die 1835 ihre Missionierung an der Goldküste begonnen hatte und seit 1838 durch den schwarzen Missionar Thomas Birch Freeman dort vertreten war.30 27 Zitiert in: Centenary Report re the West Indians assistant founders of the erstwhile Basel Mission Church which is known by the name Gold Coast Presbyterian Church, 1843–1943, Archiv der Basler Missionsgesellschaft (ABM), D. 76, S. 8. 28 Zur oralen Tradition vgl. Kwamena-Poh, Government, S. 115, Anmerkung 2. 29 Vgl. hierzu Peter Haenger, Sklaverei und Sklavenemanzipation an der Goldküste. Ein Beitrag zum Verständnis von sozialen Abhängigkeitsbeziehungen in Westafrika, Basel 1997. Großbritannien schaffte 1874 offiziell die Sklaverei an der Goldküste ab. 30 Freemans Mutter war Engländerin, sein Vater war wahrscheinlich ein Sklave, der auf einer Plantage auf St. Vincent aufwuchs und dann nach England gelangte. Freeman erhielt 1845 Unterstützung durch Henry Wharton. Wharton war der Sohn einer freien Schwarzen aus Grenada und einem schottischen Schiffskapitän. Er erhielt eine Ausbildung in Schottland, und war dann als Lehrer und Katechet auf St. Vincent tätig. Wharton war der erste Westinder, den die Wesleyans ordinierten. Zu Freeman und Wharton siehe Ray Jenkins, „West Indian“ and „Brazilian Influences“ in the Gold Coast-Ghana, c. 1807–1914. A Review and Reappraisal of
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Die Rekrutierung von Westindern als „native agents“ für Afrika Wilhelm Hoffmann, der neue, energiegeladene Inspektor in Basel, machte sich für die Anwerbung von westindischem Missionspersonal stark und nahm damit wahrscheinlich einen Vorschlag von Rev. H. M. Waddell von der Scottish Presbyterian Mission auf.31 Die Anwerbung von christianisierten, ehemaligen Sklaven aus Sierra Leone war kurz überlegt, dann aber verworfen worden. Sie wurden als sittlich und moralisch nicht gereift genug angesehen. Der Hauptgrund war jedoch, dass man in Basel befürchtete, die CMS würde nicht ihre fähigsten Kandidaten zur Verfügung stellen. Zur Anwerbung von Westindern wandten sich die Basler an die Unitäts-Ältesten-Konferenz der Herrnhuter Brüdergemeine in Berthelsdorf, die positiv auf das Ansinnen der Basler Brüder reagierte. „Der Blick richtete sich auf die blühenden Stationen der ehrwürdigen und ihr innig verbundenen Brüdergemeinde in Westindien, weil sie dieselben für die erprobtesten halten musste.“ So war im Jahresbericht der Basler Missionsgesellschaft von 1842 zu lesen. 32 Die Herrnhuter hatten ihre Missionstätigkeit in der Karibik 1732 in der dänischen Kolonie St. Thomas begonnen und waren Mitte des 18. Jahrhunderts auf zahlreichen westindischen Inseln vertreten.33 Insbesondere die Herrnhuter Brüdergemeine in Jamaika bot ihre Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Siedlern für Westafrika an. Im Sommer 1842 machten sich Andreas Riis, seine Frau Anna und die Missionare Georg Widmann und George Thompson34 in die Karibik auf. Ihr Auftrag lautete: „Im Einverständnis und nach dem Rath der dortigen Missi-
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Continuities in the Post-Abolition links between West Africa and the Caribbean and Brazil. Paper Presented to the Twelfth Annual Conference of the Society for Caribbean Studies 12–14 July, 1988, Hoddesdon, Hertfordshire. J. Noel Smith,The History of the Presbyterian Church in Ghana, 1835–1960, Accra 1966, S. 35, und Schlatter, Geschichte, S. 32. Jahresbericht der Missionsgesellschaft zu Basel 1842, 2. Quartalsheft, S. 135. Die Brüdergemeine unterhielt Missionsstationen in Jamaika (seit 1758), in Antigua, Nevis/St. Kitts, Barbados, Tobago und nach der Sklavenemanzipation auch in Trinidad und British Guyana. Thompson stammte aus Liberia und war von dem deutschen Missionar J. F. Sessing nach Schließung der dortigen Mission in den 1820er-Jahren im Alter von zehn Jahren nach Deutschland gebracht und dann in Basel ausgebildet worden. 1837 schloss er sich der Basler Mission an.
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onarien die Auswahl der dortigen Neger zu treffen und sich mit ihnen und ihrer bisherigen geistlichen Leitung vertraut zu machen.“35 Nach einem ersten Stopp in Antigua und einem Abstecher auf die damals dänischen Inseln St. Thomas und St. John – auf ausdrücklichen Wunsch des dänischen Königs – reiste die Gruppe mit nur einem geeigneten Kandidaten weiter nach Jamaika. Die Missionare waren unzufrieden mit den potenziellen Siedlern, die nicht ihren Erwartungen entsprachen. „Die Mehrheit der Freineger gehört nicht zur besten Klasse“, äußerte sich Riis abschätzig über die Bevölkerung von ehemaligen Sklaven in St. Thomas.36 In Jamaika hatte inzwischen die Ältestenkonferenz der Moravian Mission37 ihren Leiter Jakob Zorn beauftragt, Freiwillige für den Dienst in Afrika zu rekrutieren. Zorn war ein großer Befürworter der Idee der „Wiederansiedlung“, und seit der Sklavenemanzipation in Jamaika 1838 sprach er immer wieder von seinem Traum der Christianisierung Afrikas durch schwarze Missionare: „It seems clear, that the regeneration of Africa depends mainly on the blacks; let us be up and doing, and not be backward in training these soldiers of the Cross, to attempt the conquest of a country, already fertilized by the sweat and ashes of a number of our white brethren in the last century.“38
Die Herrnhuter in Jamaika waren anfangs skeptisch, innerhalb ihrer Gemeinden geeignete Kandidaten zu finden, und hatten die Basler gebeten, Andreas Riis zu entsenden, sodass er sich persönlich an der Auswahl der Siedler beteiligen konnte. Unumgänglich war die Zustimmung der britischen Verwaltung auf den westindischen Inseln zu dem Projekt. Nach der Sklavenemanzipation gab es auf einigen Inseln Arbeitskräftemangel, und viele Plantagenbesitzer
35 Jahresbericht der Missionsgesellschaft zu Basel 1842, 2. Quartalsheft, S. 137. 36 Riis, St. Thomas, 23.9.42, in: Die Übersiedlung der Neger betreffend, 1842/1843, ABM, D-1,2 37 Im englischen Sprachgebrauch heißen die Herrnhuter Moravians nach dem Ursprung der Missionsgesellschaft in Mähren. 38 Jacob Zorn an Peter LaTrobe, 19.05.1842, abgedruckt in: Periodical Accounts to the Missions of the Church of the United Brethren, established among the Heathen (PA), Archiv der Herrnhuter Brüdergemeine, Herrnhut (AH), A 16.18. Zur Geschichte der Herrnhuter in Jamaika siehe Heinrich Buchner, The Moravians in Jamaica. History of the Mission of the United Brethren’s Church to the Negroes in the Island of Jamaica, From the Year 1754 to 1854, London 1854.
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lehnten die Abwanderung von ehemaligen Sklaven im arbeitsfähigen Alter ab. „Es ist bekannt und wurde auch von den würdigen Brüdern in Westindien darauf hingewiesen, daß auf den britisch westindischen Eilanden seit der Aufhebung der Sklaverei die Zahl der schwarzen Arbeiter für das Bedürfnis viel zu gering ist. Daher rührt es, daß von den dortigen Pflanzern und Beamten die Auswanderung von Negern sehr ungerne gesehen und die Herbeiführung derselben fast dem Sklavenhandel gleich geachtet wird.“39
Der Sekretär der Moravian Church in London, Peter Latrobe, wandte sich deshalb direkt an den britischen Kolonialminister Lord Stanley, und dieser stellte Empfehlungsschreiben an alle Gouverneure aus. Die Zustimmung der zunächst zögerlichen dänischen Regierung zum Siedlungsprojekt erreichte Thomas Fowell Buxton durch persönliche Intervention. Die Herrnhuter forderten von der dänischen Verwaltung an der Goldküste, die Sicherheit der Westinder zu gewährleisten. Man befürchtete, die Emigranten könnten gekidnappt und als Sklaven verkauft werden. Nach ihrer Ankunft in Jamaika im Oktober 1842 besuchten Riis und seine Kollegen die Herrnhuter Missionsstationen und erläuterten ihr Projekt. Da die „Rückkehrer“ als Vorbilder für die Afrikaner wirken sollten, waren die Auswahlkriterien streng: Die zukünftigen Siedler mussten vertrauenswürdig, stark im Glauben und von tiefer Religiosität sein. Darüber hinaus sollten sie möglichst über eine praktische Ausbildung verfügen. Alle diejenigen, die als Grund für ihre Ausreise Familienprobleme oder Unzufriedenheit mit der beruflichen und/oder sozialen Situation angaben, fanden keine Berücksichtigung. Auch der Wunsch, auf den Kontinent der Vorfahren zurückzukehren, reichte allein nicht aus. Gemeinsam mit den Herrnhuter Brüdern führten Riis, Widmann und Thompson Auswahlgespräche mit Ausreisewilligen. An den Gesprächen beteiligten sich auch Rev. J. F. Sessing von der CMS40 und Rev. J. Miller, der Vertreter der African Civilization Society.41
39 Jahresbericht der Missionsgesellschaft zu Basel 1842, 2. Quartalsheft, S. 136–137. 40 Der Evangelische Heidenbote (1843), 4, S. 26. 41 Smith, History, S. 37. Die African Civilization Society war eine Organisation der britischen Abolitionisten.
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Riis hatte eine Wunschliste an Berufen erstellt, die er für Akropong als notwendig erachtete. Es ging um je zwei Tischler und Schmiede, einen Zimmermann und einen Maurer, vier Feldarbeiter und zwei Schullehrer. Die Gruppe der Übersiedler bestand schließlich aus sechs Ehepaaren und ihren acht Kindern, drei jungen Männern sowie der Schwester eines der Familienväter. Unter ihnen befanden sich drei Landarbeiter (farmhands), eine Haushaltshilfe (domestic servant), ein Böttcher, ein Rumdestillateur (rum destiller), ein Zimmermann und zwei Lehrer.42 Die Entscheidung, nach Westafrika auszuwandern, war nicht allen leichtgefallen. Familienmitglieder hatten vor einem gefahrvollen Leben auf dem „dunklen“ Kontinent gewarnt und prophezeit, „entweder würden sie getötet, oder zu sclaven gemacht, oder von wilden Thieren gefressen.“43 Vorherrschend war das Afrikabild eines „uncivilized continent inhabited by wild beasts and cannibals.“44 Riis berichtete von einem jungen Mann, der während einer Zusammenkunft aufstand „und sich anbot nach Afrika zu gehen, wenn es seine Verwandten erlauben. Sein Vater aber, ein alter Africaner, hat dem jungen, sehr empfohlenen Mann, Africa so schwarz gemacht als möglich und ihm aufs strengste verboten zu gehen.“45 Edward Walker aus der Gemeinde Nazareth fühlte sich für den Dienst in Afrika berufen. Auf einer Versammlung schilderte er voller Begeisterung seine Beweggründe: „[I]ch gehe gern, wenn ich daran denke was der Heiland für mich gethan hat. Wenn Augenblicke kamen, da dachte ich: du sollst lieber nicht gehen, man könnte dich zu einem Sclaven machen oder todt schlagen, so hatte ich keine Ruhe in meinem Herzen; wenn ich aber denke: ich will gehen, weil mich mein Heiland dazu berufen hat, so fühle ich mich zufrieden. Ich will mich daher auch nicht abhalten lassen; meine Verwandten haben sehr viel gegen mich
42 Die „Rückkehrer“ waren John und Mary Hall mit Sohn, John und Mary Rochester mit zwei Kindern, Ann Rochester, die Schwester von John, Joseph und Catherine Miller mit drei Kindern, James G. und Margarethe Mullings mit Tochter, John Edward und Sarah Walker, James und Catherine Green, Catherine MulgraveThompson und die drei Junggesellen David Robertson, Alexander Worthy Clerk und Jonas Hosford (aus Antigua). Namensverzeichniß der von Jamaica nach der Goldküste ausgewanderten Negergeschwister 1843, ABM, D-1,2 I. Nr. 15. 43 Jahresbericht der Missionsgesellschaft zu Basel 1843, 4. Quartalsheft, S. 238. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 241.
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gesprochen […] ich will gerne etwas Gutes thun mit meinem Händen, wenn mir der Herr dazu helfen will, um diesen armen Leuten in jenem Lande ein gutes Beispiel zu geben. Wenn ich gehe, so gehe ich nicht weg von meinem Land, denn das Land Africa ist unser Land; unsere Väter oder Vorväter sind als Fremdlinge hieher gebracht worden und wir sind auch Fremde hier, aber in Africa sind wir in unserem eigenen Land.“46
Die klare Identifikation Walkers mit Afrika stellte eher die Ausnahme dar und war für die Mehrheit die Westinder nicht der Hauptgrund für den „Colonisationsdienst“.47 Der Wunsch, den Brüdern und Schwestern in Afrika das Christentum und damit die „Zivilisation“ zu bringen, klang bei vielen Ausreisewilligen an. Ob damit auch die Hoffnung verbunden war, durch einen Beitrag zur Erlösung des afrikanischen Kontinents die eigene soziale Stellung innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft zu verbessern, lässt sich nicht belegen, ist jedoch sehr wahrscheinlich. Auch Bela Vassady verweist am Beispiel der Mission der BMS in Fernando Po auf diesen Aspekt: „The hopes of economic and social advancement which caused so many Jamaicans to join the BMS churches in the late 1830’s may also explain why some joined the African Mission at this time.“48 Die Aussicht auf den gesellschaftlichen Aufstieg durch die Bewährung in Afrika spielte zumindest für die afroamerikanischen Missionierungsbestrebungen im späteren 19. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Rolle.49 Eine Ausnahmeerscheinung unter den Emigranten war Catherine Mulgrave. Sie stammte aus Angola, wurde 1833 als Kind von einem vor der Küste Jamaikas gestrandeten Sklavenschiff gerettet und gelangte in die Obhut des britischen Gouverneurs, dem Earl of Mulgrave, und seiner Frau. Als der Gouverneur ein Jahr später nach England zurückkehrte, kümmerten sich die Missionare der Herrnhuter Brüdergemeine in Fairfield um das inzwischen circa 12-jährige Mädchen. Sie erhielt später eine Ausbildung zur Lehre-
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Ebd., S. 242. Ebd. Vassady, Transplanting Prejudices, S. 20. Katja Füllberg-Stolberg, Amerika in Afrika. Die Rolle der Afroamerikaner in den Beziehungen zwischen den USA und Afrika, 1880–1910, Berlin 2002, S. 166–169. Vgl. auch Waibinte E. Wariboko, Ruined by „Race“. Afro-Caribbean Missionaries and the Evangelization of Southern Nigeria, 1895–1925, Trenton, 2007.
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rin und unterrichtete am Mico College in der Hauptstadt Kingston.50 1843 heiratete sie noch in Jamaika den aus Liberia stammenden George Thompson. Hauptgrund für die schnelle Eheschließung war die Devise der Herrnhuter und Basler Missionare, keine alleinstehenden Frauen an die Goldküste zu entsenden. Als Ehefrau eines Missionars genoss Catherine MulgraveThompson einen höheren sozialen Status im Vergleich zu den übrigen Emigranten.51 Die Westinder schlossen mit den Basler Missionaren einen Vertrag, der die Rechte und Pflichten beider Seiten regeln sollte. Unter anderem war festgelegt, dass die Basler Missionsgesellschaft während der ersten beiden Jahre für alle Ausgaben der Siedler aufkam. Im Gegenzug verpflichteten sich die Westinder für die Mission zu arbeiten. Land, Gärten und Häuser sollten sofort nach der Ankunft zur Verfügung gestellt werden und mindestens einen Tag pro Woche hatten die Neuankömmlinge zur freien Verfügung. Nach Ablauf von zwei Jahren konnten die Siedler selbst entscheiden, für wen sie arbeiten wollten. Aber Lohnarbeit für die Mission sollte Vorrang haben. Nach fünf Jahren (1848) war es den Jamaican Brethren and Sisters freigestellt, in die Karibik zurückzukehren. Die Mission hatte die Rückreise zu finanzieren, vorausgesetzt, sie hatten sich „keines unsittlichen Betragens schuldig gemacht.“52 Überall in den Herrnhuter Gemeinden in Jamaika fanden berührende Abschiedszeremonien für die „christlichen Kolonisten“ statt.
50 Das genaue Geburtsjahr von Catherine Mulgrave lässt sich nicht feststellen. Maureen Warner-Lewis geht davon aus, dass sie um 1822 geboren wurde. Maureen Warner-Lewis, Catherine Mulgraves’s Unusual Transatlantic Odyssey, in: Jamaica Journal 31 (2008) 1–2, S. 32. 51 Zu Catherine Mulgrave siehe u. a. Sill, Encounters, S. 109–132, Warner-Lewis, Mulgrave, und Christel Adick, Die afrikanische Lehrerin Catherine Mulgrave (1827–1891). Interkulturelle Sozialisation im Gefolge des „Dreieckhandels“ zwischen Europa, Afrika und Amerika, in: Andreas Hoffmann-Ocon/Katja Koch/ Adrian Schmidtke (Hg.), Dimensionen der Erziehung und Bildung, Göttingen 2005, S. 49–62. 52 Vertrag zwischen der Basler Missionsgesellschaft und den Christian Brethren & Sisters, welche im Begriff sind mit den Brüdern Riis, Widmann und Thompson von Jamaica nach West Afrika zu gehen, 4.1 1843, ABM, Ansiedlung der Westinder in Akropong, 1841–45, D-10.3,4. Der Vertrag wurde sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache abgefasst.
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„They wept; and there was scarcely a dry eye in the assembly. The services were, indeed, highly interesting and encouraging. The quiet determination depicted on their countenances, the solemn devotedness of their whole bearing, the simple reliance and childlike in our blessed Redeemer they exhibited, with their wives and little ones, were truly edifying.“53
Alle Ausreisewilligen waren wirtschaftlich gut gestellt, wie Jakob Zorn in seinem Bericht über die Abschiedsveranstaltungen anmerkte: „Most of them, yes, I can say all, have left houses, lands, fathers, mothers, brothers and sisters. By their diligence they have attained a degree of prosperity and are outwardly in good circumstances, but they have denied themselves all with pleasure.“54
Die „Rückkehr“ nach Akropong Die Ankunft in Akropong im April 1843 nach einer beschwerlichen Reise war ernüchternd. Die Station war teilweise zerstört und die meisten Häuser in einem unbewohnbaren Zustand. Für die Westinder begann eine schwierige, entbehrungsreiche Zeit. Sie mussten nicht nur ihre eigenen Unterkünfte errichten, sondern wurden auch für den Bau der übrigen Einrichtungen eingesetzt. Die Landschaft um Akropong in den Akwapem Bergen weckte Erinnerungen an Jamaika und war den Neuankömmlingen deshalb nicht völlig fremd.55 Mehrere Familien konzentrierten sich auf den Anbau von landwirtschaftlichen Produkten. Sie hatten vielfältiges Saatgut und Pflanzen, u. a. Mangos, Coco-Yams und Kaffee, aber auch Werkzeuge und landwirtschaftliche Geräte nach Akropong transportiert. Auch einige Pferde und Esel, die die Strapazen der Reise überlebt hatten, erreichten Akropong. Als eigenständige, selbstverantwortliche Bauern wollten die Siedler nicht nur ihren Beitrag zur Versorgung der Mission leisten, sondern insbesondere die lokale Bevölkerung mit neuem bzw. verbessertem Saatgut und innovativen Agrartechniken ver53 Brief von Jacob Zorn, 5.1.1843, abgedruckt in: Periodical Accounts Relating to the Missions of the Church of the United Brethren, established among the Heathen (PA), 16 (1841–1844), S. 345. 54 Ebd. 55 Je ein Elternteil von John Hall, John Rochester und Mary Miller stammte angeblich aus der Region Akuapem.
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traut machen. „Cocoyam, which has saved many from want of food throughout the year, mango and pear trees which have beome invaluable trees all over the country were brought by the West Indians. These have been a blessing to the people“, schreibt Peter Hall, Sohn von John Hall, in seinen Lebenserinnerungen, die nicht ganz frei von Paternalismus und einem Überlegenheitsgefühl gegenüber den Afrikanern sind.56 „For the Jamaican volunteers, the journey from Fairfield‚ on the Manchester mountains’ to Akropong on the Akuapem ridge seems to have represented an extension of the idea or ideal of the self-reliant rural community of free families of farmers and artisans.“57 Doch die Vorstellungen von einem freien, selbstbestimmten Leben in Afrika auf Augenhöhe mit den Missionaren erfüllten sich für die Mehrheit der Emigranten nicht. Die starke Arbeitsbelastung durch den Wiederaufbau der Station, die Errichtung von Plantagen und – das galt für die Frauen – die Beschäftigung als Hilfen in den Missionarshaushalten, ließen wenig Raum für eigene Initiativen. Das Verhältnis zwischen den Westindern und den Missionaren verschlechterte sich zusehends. Insbesondere über Andreas Riis, der als Ältester der Missionare die Leitung der Station übernommen hatte, beschwerten sich die Westinder voller Bitterkeit. Sie berichteten über sein brutales Verhalten ihnen wie auch der lokalen Bevölkerung gegenüber. Riis betrog sie bei der Vergabe der ihnen laut Vertrag zu stehenden Güter wie Decken, Kleidung, Möbel und Werkzeuge, züchtigte einige von ihnen öffentlich und erinnerte sie an die Aufseher auf den Plantagen während der Sklaverei. Es gab auch zunehmend Beschwerden von Missionarskollegen über Riis. „He became abusive and contemptuous of blacks and complained. […] At all costs, he insisted, one must avoid treating Africans like Europeans.“58 Es war von Tauschhandel mit Flinten und Pulver die Rede. Die Vorwürfe mehrten sich, Riis beschäftige auf missionseigenen Plantagen Sklaven.
56 Peter Hall, Autobiography of Rev. Peter Hall, Accra o.J. 57 Jenkins, „West Indian“, S. 6. 58 Jon Miller, Missionary and Institutional Control. Organizational Contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast, 1828–1917, London 2003, S. 132.
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„Andreas Riis Verfahren gegen die Migranten schadet der Mission. Er ist stolz und hochtrabend gegen sie. Er liess einen Fehlbaren im Hof schlagen und drohte ihm mit Abführung ins Fort. Es fehlt ihnen an Küchengerätschaften und Kleidern; sie gehen zerlumpt wie die Heiden…. Mit den Brüdern steht Andr. Riis auch nicht gut. … Er hat in Ussu ein grosses, steinernes Haus gekauft, besitzt Sclaven u. hat über 20 Leute, die ihn als ihren Meister betrachten.“59
Außerdem begann Riis, sich zunehmend in die Kolonial- wie auch in die Lokalpolitik einzumischen. Eine Strafexpedition (1845) gegen Nachbarn von Akropong ohne Unterrichtung des dänischen Gouverneurs Edward Carstensen, der im August 1842 die Amtsgeschäfte übernommen hatte, sorgte für Spannungen. Carstensen forderte Riis Abberufung.60 Riis, dessen Verdienste als Pionier der Mission außer Frage standen, war untragbar für die Mission geworden. 1845 wurde er seines Postens enthoben und musste die Goldküste verlassen.61 Das schwierige Verhältnis zwischen Missionaren und Westindern war aber nicht nur Riis anzulasten. Auch die übrigen Missionare und Missionarinnen äußerten sich negativ über die „westindischen Negergeschwister“, die den hohen Erwartungen, die in sie gesetzt worden waren, nur mit Einschränkungen entsprachen. Die Missionarinnen und Missionare betrachteten die Westinder als zu fordernd, undankbar und nicht fähig, sich der neuen Situation anzupassen. Offensichtlich hatten die Westinder einige Anfangsschwierigkeiten zu bewältigen. Sie sprachen anfangs nur Englisch und wurden nicht selten von Heimweh geplagt. Insgesamt aber schien zumindest anfänglich die Mehrheit von ihnen zuversichtlich, zumal sie von schweren Krankheiten verschont blieben und die Akklimatisierung relativ problemlos vonstatten ging.62 Dennoch nahmen die Klagen über die Westinder, die die Missionare vor Ort dem Komitee bzw. dem Inspektor in Basel vorbrachten, zu. Schriftliches Material von den Westindern ist nur spärlich vorhanden. Sie kommen nur
59 Ernst Sebald, 16.5.1845, in: Akropong und Ussu (1842–1848), ABM, D-1, 2. Vgl. auch Miller, Missionary, S. 132–134. 60 Edward Carstensen, Closing the Books. Governor Edward Carstensen on Danish Guinea 1842–1850.. Accra 2010, S. 256. 61 Miller, Missionary, S. 134 f. 62 In den ersten Jahren gab es nur einen Todesfall unter den Westindern. Es handelte sich um David Robertson, der kurz nach seiner Ankunft in Akropong verstarb.
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selten zu Wort bzw. es sind nur wenige Briefe von ihnen überliefert.63 Diese enthalten nach und nach immer mehr Beschwerden über die große Arbeitsbelastung und die niedrige Entlohnung.64 Ein Zusatzvertrag 1845 spezifizierte daher die Arbeitsstunden und versprach einen Anstieg der Löhne und zusätzliche Rationen von Kleidungsstücken und Hausrat.65 Die Mehrheit der westindischen Männer war als Arbeiter für die Mission beschäftigt, wobei die Art der Bezahlung variierte. James Green, der Zimmermann, erhielt einen Tageslohn, der z. T. in Kaurimuscheln, der einheimischen Währung, ausgezahlt wurde, während John Miller als Aufseher der missionseigenen Plantage ein monatliches Salär erhielt. Trotz des neuen Vertrages verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Mission und Westindern schnell. Es dauerte nicht lange, und alle bis auf zwei Familien wollten zurückkehren.66 Die Rückreisemodalitäten waren genau geregelt.67 Die Basler Missionsgesellschaft, die dringend auf die Arbeitskraft der Westinder angewiesen war, zumal eine weitere Station in Aburi gegründet werde sollte, versuchte mit allen Mitteln, die zur Rückkehr Entschlossenen umzustimmen. In einem weiteren Vertrag versprach die Mission den Bau von Steinhäusern mit mehreren Zimmern und ordentlichen Dächern. Außerdem wurden eine höhere Arbeitsvergütung, Unterstützung im Alter und für die Ausbildung der Kinder sowie die Vererbbarkeit der Grundstücke vereinbart.68 63 Auch im Archiv der Herrnhuter Brüdergemeine in Herrnhut konnte keine weitere Korrespondenz erschlossen werden. Wichtige Quellen sind die autobiografischen Arbeiten der Nachfahren der Westinder, die in Accra veröffentlicht wurden. Ein geplanter Forschungsaufenthalt in Jamaika soll helfen, diese Quellenlücke zu schließen. 64 Personalakte Riis, Brüderverzeichnis 124, Auszug aus dem Komitee-Protokoll 18. Sitzung, 14. 5.1845, ABM. 65 „Bestimmung für das künftige Verhältnis der Westinder“, 28.5. und 2.6.1845, ABM, D-10.3,4. 66 Es handelte sich um John und Mary Hall mit ihren Kindern, die bis auf den Sohn Andrew alle in Westafrika geboren worden waren, und Alexander Worthy Clerk, der inzwischen eine Familie gegründet hatte. 67 Bis zum 1. Juli 1847 mussten die Familien Mitteilung über ihren Verbleib in Westafrika bzw. ihre Rückkehr machen. Diese Verordnung wurde erst am 4. Juni 1847 veröffentlicht. Für eine Rückreise vor dem 16. April 1848 wurden keine Kosten übernommen. Ab dem 1. Juli 1848 sollte dann die Rückreise auf verschiedenen Schiffen organisiert werden. 68 „Allgemeine Bestimmungen für die Westindischen Brüder“, 4.6.1847, ABM, D-1,2.
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1848 erklärten schließlich fünf Familien ihren Verbleib an der Goldküste.69 Diese nur unter beträchtlichem Druck zustande gekommene Bereitschaft verstärkte bei den Missionaren die Einschätzung, dass die Westinder den an sie gestellten Forderungen nicht gewachsen seien. Es hieß, sie seien nicht stark genug im Glauben, um den Versuchungen der sie umgebenden „heidnischen“ Welt zu widerstehen. Georg Widmann hatte bereits in Jamaika Zweifel an der Eignung der Westinder geäußert: „It is clear that we shall have much worry in Africa with a small community (of West Indian Christians) and I cannot dismiss the thought […] that it might have been as good or even better to have taken Christians from Sierra Leone or quite simply and quietly to have begun where brother Riis had left off.“70
Erfolg oder Misserfolg? In der Folgezeit setzte sich innerhalb der Baseler Mission immer mehr die Meinung durch, das Ansiedlungsprojekt sei ein Misserfolg. „Der Sauerteig christlichen Lebens in der Masse afrikanischen Heidentums“ war nicht aufgegangen. Der Evangelische Heidenbote, das zentrale Organ der Mission, in der über die Missionsaktivitäten weltweit berichtet wurde, schrieb 1856, das Projekt habe nicht den Erwartungen entsprochen: „Vor mehr als einem Jahrzehnt hat die Committee der Basler Missionsgesellschaft eine Anzahl christlicher Negerfamilien aus Westindien nach unseren Missionsstationen in Westafrika verpflanzt in der Absicht, dadurch den Sauerteig christlichen Lebens mitten in die Masse des dortigen Heidentums zu bringen, und dadurch das gottselige Exempel, das diese Familien ihren schwarzen Landsleuten geben würden, dem mündlichen Wort der Predigt der Missionare mehr Nachdruck und Kraft zu verleihen. Der Plan war vortrefflich, und zwar um so mehr als die fortwährende Einwendung der heidnischen Neger, daß ‚das Christentum für den weißen Mann, der Fetisch aber für den Neger sei‘, durch 69 James Green kehrte 1850 wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau nach Jamaika zurück. 1852 lebte er als Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeine in Maidstone, siehe Missionsblatt aus der Brüdergemeine (1852), 6, S. 103–104. Jonas Hosford verließ ebenfalls die Goldküste. Er starb beim Untergang des Schiffes auf der Überfahrt nach Antigua. 70 Widmann zitiert in Smith, History, S. 37.
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die lebendige Anschauung einer wahrhaft christlichen Negergemeinde mit Einem Mal beseitigt zu sein schien. Der Erfolg aber hat den schönen Erwartungen nicht entsprochen. Einige der eingewanderten Negerfamilien wurden von Heimweh nach Westindien verzehrt […]; andere besaßen nicht die Kraft, den lähmenden und finsteren Einflüssen der sie umgebenden Heidenwelt den Schild des Glaubens und der Gottseligkeit ausharrend entgegenzuhalten, und brachten der Mission eher Schande als Ehre, eher Eintrag als Förderung. Nur ganz wenige blieben und ihr Wirken war gesegnet.“71
Und in der Tat scheint einiges dafür zu sprechen, das ganze Unternehmen als gescheitert zu bezeichnen: Für die Anliegen der Missionsgesellschaft genauso wie für die Westinder selbst. Ein besonders tragischer Fall war Edward Walker, dessen Abschiedsrede in Jamaika die Missionare tief beeindruckt hatte. Walker war bereits kurz nach der Ankunft in Akropong unzufrieden über die Lebensbedingungen vor Ort und äußerte als erster den Wunsch, nach Jamaika zurückzukehren. 1847, ein Jahr vor dem möglichen Rückreisetermin, überredete der Missionar Friedrich Meischel Walker, ihm bei der Errichtung der neuen Station in Aburi behilflich zu sein und über das Ausreisedatum hinaus bis 1849 zu bleiben. Walker fühlte sich unter Druck gesetzt und stimmte schließlich der Bitte zu. Das war eine folgenreiche Entscheidung, da gemäß der Vereinbarung, die Mission nach 1849 nicht mehr für die Rückreisekosten aufkam. Drei Briefe Walkers dokumentieren seine Probleme, mit der Situation umzugehen und seine Interessen klar zu formulieren. Die Briefe zählen zu dem kleinen Bestand an schriftlichen Dokumenten der Westinder im Archiv der Basler Mission. Im ersten Brief an Meischel vom 10. November 1848 teilte Walker mit, dass er beabsichtige, die Station vorzeitig zum 1. Januar 1849 zu verlassen.72 Dies war gegen die Vereinbarung und Meischel lehnte ab. Kurz darauf wurde Walker kleinerer Unterschlagungen bezichtigt und Meischel entschied, im Einverständnis mit der Missionsleitung, sich von Walker zu trennen und ihn der Station zu verweisen. Die überraschende fristlose Entlassung kam für Walker einer Katastrophe gleich. Seine durch die Mission finanzierte Rückreise nach Jamaika war nicht mehr möglich, da der Termin überschritten war. 71 Der Evangelische Heidenbote, Mai 1856, Nr. 5, S. 37. 72 Edward Walker, 10.11.1848, in: Ansiedlung der Westindier in Akropong 1841– 1845, ABM, D-10.3, 4.
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Die Missionare erwiesen sich als hart und unerbittlich und verweigerten Walker jegliche weitere Unterstützung. Völlig mittellos und krank bat Walker verzweifelt, in Aburi bleiben zu dürfen: „I beg you and all the other Christians forgiveness for the offence which I have offered them. I will never do the like anymore. Sir, please to remember the Prodigal Son. So I beg you and all others. Let me get some thing to eat and not die. I left all in your hands.“73 Edward Walker verließ die Mission 1849. Danach verliert sich seine Spur, und es bleibt unklar, ob er nach Jamaika zurückkehrte oder in Westafrika blieb. Für die Mission demonstrierte das Verhalten Edward Walkers nur zu gut die moralische Labilität der Westinder und ihre fehlende Festigkeit im Glauben, ja in dieser Figur scheint sich das Scheitern des ganzen Unternehmens zu zeigen. Und doch kann keineswegs von einem grundsätzlichen Misserfolg gesprochen werden, zumindest steht dieser negativen Beurteilung des Siedlungsprojekts in der zeitgenössischen Missionsliteratur eine deutlich positivere Einschätzung in der neueren Literatur, vor allem in den Arbeiten ghanaischer Historiker und Theologen, gegenüber.74 Betrachtet man die Phase von 1843 bis zur Mitte der 1850er-Jahre näher, dann erscheint diese positive Bewertung nicht vollkommen ungerechtfertigt. Mehr noch, in dieser Periode – so zumindest Noel Smith, der dieses Unternehmen als „the second attempt“ bezeichnet hat –,75 wurde die Basis für den langfristigen Erfolg der Basler Mission in Ghana gelegt, an dem die Nachkommen der westindischen Siedler einen beträchtlichen Anteil hatten. Seiner Einschätzung nach begann die Mission vielmehr zu expandieren:76 Zusätzlich zur 1843 eingerichteten Boys School kam 1848 eine Girls School hinzu, um die Kinder der westindischen Siedler zu unterrichten. Auch die lokale Bevölkerung zeigte zunehmend Interesse an einer Schulausbildung. Es waren nicht länger nur die afrikanischen Händler und die Euroafrikaner an der Küste, sondern auch die lokale Bevölkerung weiter im Inland, die ihre 73 Ansiedlung der Westindier in Akropong 1841–45, Edward Walker, 21.1.1848, ABM, D-10.3, 4. 74 Bemerkenswert ist,dass der Fall Walker in der offiziellen Darstellung zur Geschichte der Basler Mission und auch in den gedruckten Jahresberichten und im Evangelischen Heidenboten keinerlei Erwähnung fand. 75 Smith, History, S. 35–44, vgl. Kwamena-Poh, Government, S. 115. 76 Neue Stationen wurden eingerichtet u. a.in Aburi (1847),Larteh/Late (1853),Mamfe (1859), und außerhalb Akuapems in Odumase, Krobo (1857), in Kyebi, Hauptstadt von Akyem Abuakwa (1861) und in Kukurantumi (1862). Vgl. Kwamena-Poh, Government, S. 118.
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Kinder in die Missionsschulen schickten, auch um sie in englischer Sprache unterrichten zu lassen. Die Verbreitung des Englischen hing mit dem wachsenden britischen Einfluss zusammen und wurde in Akropong verstärkt durch die Präsenz der Westinder, deren Muttersprache Englisch war. 1848 öffnete das Lehrer- und Predigerseminar (Teacher Training Institute). Unter den Absolventen waren neben den Söhnen der Siedler auch afrikanische Konvertiten der Gemeinde. Hierzu zählten William Oforiba, Theophilus Opoku und David Asante, einer der ersten Afrikaner, der von den Baslern ordiniert wurde. 77 Bei diesen frühen Konvertiten handelte es sich oft um die Söhne von lokalen Autoritäten, die innerhalb des matrilinearen Erbfolgesystems nicht selbst herrschen konnten.78 Die gemeinsame Ausbildung schuf überdies engere Verbindungen vor allem zwischen den Westindern der zweiten Generation und Teilen der lokalen Bevölkerung. Die Heiratspolitik der Westinder, deren Kinder insbesondere in euro-afrikanische Händlerfamilien einheirateten, trug wiederum zur Verbreitung des Christentums bei und vertiefte auch die Wirtschaftsbeziehungen. Der positive Einfluss der Siedler auf die Wirtschaft der Region lässt sich insbesondere für den Agrarbereich gut belegen. Mit Saatgut und Pflanzen aus der Karibik, die bis dahin an der Goldküste unbekannt bzw. nicht in größerem Ausmaß kultiviert worden waren, wurde experimentiert und unterschiedliche Anbaumethoden erprobt. Hierbei leisteten John Rochester und John Hall als engagierte Farmer einen wichtigen Beitrag: „The missionaries made frantic efforts to find a suitable cash crop for our soil and climate. To this end, on the arrival of the West Indian Christians they brought with them coffee, tobacco, cocoyam, mango, avocado pear, and bread fruit.“79 John Rochester führte eine spezielle Machete ein, die in den Tagen der Sklaverei auf den Zuckerplantagen in Jamaika verwendet worden war. Sie setzte sich schnell in der Landwirtschaft in Akuapem durch.
77 Asante war der Sohn von Owusu Akeym, ein Neffe Addo Dankwas, der Riis bei dem Erlernen der Twi Sprache unterstützt hatte. Zu Asante siehe Sonia AbunNasr, Afrikaner und Missionar: die Lebensgeschichte von David Asante, Basel 2003. 78 Zu den sozialen Gruppen in Akuapem, aus denen die ersten Konvertiten stammten, siehe Middleton, Christianity, S. 4–5. 79 Anthony A. Beeko,The Trail Blazers. Fruits of 175 Years of the Presbyterian Church of Ghana (1828–2003), Accra 2004.
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„He (Rochester, KFS) introduced a new type of farming machete or cutlass. This was a longer iron tool, with a strong wooden handle at the top used during the sugar plantation days by the Chattel Slave Labourers. It was longer, stronger, superior to the local machetes produced by local blacksmiths, which was shorter by weaker handles.“80
Als Erfolgsprodukt erwies sich Kaffee, der in Jamaika seit langem angebaut wurde. Ziel war es, die Produktion von cash crops zu intensivieren, um damit Arbeitsplätze für die afrikanischen Konvertiten zu schaffen und den finanziellen Etat der Mission aufzustocken. 1854 errichtete die Basler Mission ihr erste Handelsstation in Christiansborg, in der Kaffee aus Akropong für den Export verkauft wurde. Im selben Jahr traf Missionar Hermann Rottmann als Buchhalter und leitender Direktor der Basler Missionshandelsgesellschaft an der Goldküste ein.81
Alexander Worthy Clerk – Eine westindische Karriere in Westafrika Ein gutes Beispiel dafür, dass das Siedlungsprojekt durchaus als Erfolg gewertet werden kann, ist die Biografie von Alexander Worthy Clerk. Er war in Jamaika als Lehrer tätig gewesen, kam als junger Mann nach Akropong und leitete schon bald die Boys School.82 Der Junggeselle Clerk galt als gute Partie und sollte nach dem Willen von John Miller mit dessen Tochter Rose Ann verheiratet werden. Miller steht stellvertretend für die Familienväter, die ihre Töchter standesgemäß, das hieß möglichst mit einem Westinder oder einem Europäer, verheiraten wollten.83 Das große Vorbild vieler junger Frauen war Catherine Mulgrave, die als Lehrerin und Leiterin der Mädchenschule in Osu (bei Christiansborg) eine beeindruckende Karriere in der Goldküste gemacht 80 Fred Agyemang, Our Presbyterian Heritage, Accra 2005, S. 38. 81 Giorgio Miescher, Hermann Ludwig Rottman. Zu den Anfängen der Basler Missionshandelsgesellschaft in Christiansborg, Ghana, in: Lilo Roost Vischer/Ann Mayor/Dag Henrichsen (Hg.), Brücken und Grenzen: Werkschau Afrikastudien 2, Münster 1999, S. 345–362. 82 Neben Catherine Mulgrave und George Thompson war Clerk der einzige ausgebildete Lehrer der Mission in dieser Zeit. 83 Miller hatte damit gedroht, nach Jamaika zurückzukehren, falls er keinen geeigneten Ehemann für seine Tochter finden könne.
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und nach ihrer Scheidung von George Thompson den deutschen Missionar Johannes Zimmermann geheiratet hatte.84 Clerk lehnte eine Heirat mit Rose Ann Miller ab85 und entschied sich stattdessen für Pauline Hesse, die aus einer dänisch-afrikanischen Familie von der Küste stammte.86 Clerks Biografie weist aber einen dunklen Flecken auf: Vor seiner Eheschließung hatte er eine Affäre mit Ann Rochester, der unverheirateten Schwester von John Rochester. Ann war im Haushalt von Georg und Rosine Widmann beschäftigt, als sie schwanger wurde, aber den Vater des ungeborenen Kindes nicht nennen wollte. Die Missionarsfrau Rosine Widmann setzte sie unter Druck und schließlich nannte sie Clerk als Kindsvater. Ann Rochester starb bei der Geburt und auch das Kind überlebte nicht.87 Clerk bekannte sich schuldig und bat um Vergebung. Die Mission suspendierte Clerk nicht, sondern mahnte ihn nur ab. Der Erfolg versprechende Alexander Clerk wurde trotz seiner schwerwiegenden Verfehlung nicht verstoßen, sondern – im Gegensatz zu Edward Walker – nur diszipliniert. Clerk war später noch als Katechet tätig und wurde 1872 ordiniert. Auch der ältere Bruder von Clerks Ehefrau Pauline, Rev. Augustus Hesse, setzte die Heiratsbeziehungen zur westindischen Gemeinde fort, als er Rose Thompson, die Tochter von George Thompson und Catherine Mulgrave, ehelichte. 88 Pauline Hesse Clerk, die Catherine Mulgraves Schule in Osu besucht hatte, verfügte durch ihre Familie über enge lokale Handelskontakte und war auch nach ihrer Eheschließung als Händlerin tätig, obwohl die Mission ab 1860 jegliche Handelsgeschäfte für Katecheten und ihre Familien offizi-
84 Zimmermanns Ehe mit einer Afrikanerin war für die Basler Mission problematisch. Vgl. hierzu Miller, Missionary Zeal, S. 145–147. 85 Angeblich wollte Clerk unter keinen Umständen John Miller, der als schwierig galt, zum Schwiegervater. 86 Die Familie Hesse ging zurück auf die Verbindung eines dänischen Schiffarztes und einer Afrikanerin. 87 Diary of Rosine Widmann, née Binder 1845–1849, covering her journey from Korntal to Akropong and her first years in Akropong. Typewritten copy, 133 S., ABM, D-10.4,9. 88 Agyemang, Presbyterian Heritage, S. 93–98. Die Lehrerin Regina Hesse, eine Schwester von Pauline, heiratete Hermann Rottmann, den Direktor der Missionshandelsgesellschaft.
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ell verbot.89 Gleichwohl bestand großes Interesse an einer Intensivierung der Handelsbeziehungen zwischen Mission und afrikanischen Händlern, wie die Einsetzung eines Direktors der Missionshandelsgesellschaft verdeutlicht. Pauline und Alexander Clerk hatten 13 Kinder.90 Die älteste Tochter Caroline arbeitete als erste afrikanische Krankenschwester im europäischen Hospital in Accra. Sie ehelichte James aus der Siedlerfamilie Hall. Einer der Söhne, Nicholas Timothy Clerk, heiratete 1891 die Anglo-Afrikanerin Anna Alice Meyer aus Christiansborg.91 Nicholas Clerk zählte zu den Mitbegründern der Presbyterian Church of Ghana, die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Basler Mission hervorging.92 Er verstarb 1961 im Alter von 99 Jahren als ein hochangesehenes Gemeindemitglied in Accra. In zahlreichen Büchern und Broschüren, u. a. zum 175. Jahrestag der Gründung der Presbyterian Church of Ghana 2003, wird an den Afrikaner Nicholas erinnert, während sein Vater, der Westinder Alexander Clerk heute in Vergessenheit geraten ist. Dies gilt auch für John Hall, dessen Sohn Peter als erster Präsident der Presbyterian Church of Ghana und hochgeschätzter afrikanischer Pastor bis heute verehrt wird.93 Sein Vater, ein erfolgreicher Farmer, ist hingegen gleichfalls in Vergessenheit geraten. Nach Nicolas Clerk und Peter Hall sind Straßen in Accra benannt. Das Haus der Familie Clerk in Accra ist heute im Besitz der presbyterianischen Kirche. Während die Familien Clerk und Hall recht gut dokumentiert sind, sind die Informationen zu den übrigen Westindern großenteils nur bruchstückhaft oder gar nicht überliefert. Einige von ihnen verließen die Mission und versuchten, sich eine eigene Existenz außerhalb der strengen Kontrolle durch die 89 General Conference, Aburi 13.3.–16.3.1860, ABM, D-1,11 I. Nr. 1. Vgl. auch Sill, Encounters, S. 174–175. 90 Die älteste Tochter Caroline heiratete James Hall, den Sohn des Westinders John Hall. 91 Anna Meyer hatte die Schule der Basler Mission in Abokobi besucht. Zu Nicholas Clerk vgl. Hans W. Debrunner, Owura Nico. The Rev. Nicholas Clerk, 1862–1961, Accra 1965. 92 Während des Ersten Weltkriegs verwies die britische Verwaltung die Missionare der Basler Mission des Landes, da viele von ihnen aus Deutschland stammten. Die presbyterianische Scottish Missionary Society, die im Nachbarland Togo aktiv war, übernahm – im Einverständnis mit den Baslern – die Stationen. Aus der Basel Mission wurde 1918 die Scottish Mission, dann 1926 die unabhängige Presbyterian Church of the Gold Coast, später Ghana. Im Juli 1925 gestattete das britische Kolonialministerium den Missionaren die Rückkehr an die Goldküste. 93 Zu John Hall siehe Beeko, Trail Blazers.
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Mission aufzubauen. Rose Ann Miller z. B. arbeitete zunächst als Lehrerin in Akropong und trennte sich schließlich 1874 im Alter von 37 Jahren von der Basler Missionsgesellschaft. Sie fand wieder eine Anstellung als Lehrerin bei den Wesleyan Methodists in Christiansborg. 94 In Akropong lebten die Christen – europäische Missionare, Westinder und afrikanische Konvertiten – getrennt vom Gros der Bevölkerung in einem eigenen Bezirk, Salem genannt.95 Es handelte sich um das Gebiet, das Addo Dankwa einst Andreas Riis zur Verfügung gestellt hatte. Die strikte Separierung war wohlüberlegte Missionspolitik, um, wie es hieß, die Christen von der unmoralischen „heidnischen“ Bevölkerung abzuschotten. Faktisch erschwerte die klare räumliche Trennung von Nicht-Christen und Christen die Kommunikation und trug zu einer Spaltung innerhalb der lokalen Gesellschaft bei, wie W. E. F. Ward feststellt: „The Basel Mission […] adopted a policy of separating their converts entirely from the old life for fear lest the social and artistic attraction of the old life should lead them to forget their new religion: a policy which may have been inevitable from the point of view of the Christian evangelist, but which led to a most unfortunate cleavage in the life of the community.“96
Den Westindern, insbesondere ihren Nachkommen, gelang es zu einem gewissen Grad, diese Separierung zu überwinden, indem sie gemeinsam mit Afrikanern und Afrikanerinnen die Schule besuchten und dann als Lehrer und Lehrerinnen und Pastoren tätig waren. Dadurch trugen sie zu einer Verbreitung des christlichen Glaubens über die Gemeinde von Akropong und über Akwapem hinaus bei und gaben wichtige Impulse für die Missionierung an der Goldküste insgesamt. Dies gilt insbesondere für die zweite Generation, die Kinder der Pioniere, die die Grundlagen für die heutige Presbyterian Church of Ghana legten. Gleichwohl muss darauf hingewiesen werden, dass, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Mehrheit der westindischen „Rückkehrer“ keine einflussreichen Positionen innerhalb der Mission einnahmen. Dementsprechend sind auch Behauptungen, die Jamaikaner hätten zwischen 1845 und 1852 117 Afrikaner getauft und 1848 das Teacher Training Insti94 Der Lehrer und Journalist Fred Agyemang behauptet, Rose Miller habe einen Mr. Bruce oder Mr. Maclean geheiratet. Agyemang, Presbyterian Heritage, S. 104. 95 Salem war durch eine Orangenallee mit dem Ort Akropong verbunden. 96 W. E. F. Ward, A History of Ghana, London 1958, S. 205–206, zitiert in: Smith, History, S. 50.
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tute gegründet, nicht zu belegen.97 Hingegen ist der Einfluss der Westinder auf die wirtschaftliche Entwicklung der Region Akuapem und darüber hinaus unbestritten. Der Auf- und Ausbau einer agrarischen Exportwirtschaft (z. B. Kaffee, später Kakao) ging zu einem beträchtlichen Teil auf westindische Initiativen zurück. Das Missionssiedlungsprojekt, das in Kooperation zwischen Herrnhuter Brüdergemeine, Basler Missionsgesellschaft und der britischen Abolitionsbewegung ins Leben gerufen wurde, kann also als eine der wenigen erfolgreichen Unternehmungen angesehen werden, die mit Unterstützung westindischer native agents in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die christliche Erlösung und die „Zivilisierung“ des „dunklen“ Kontinents anstrebten. Dieser Erfolg bezieht sich freilich weniger auf die Anzahl der getauften Christen als auf den wirtschaftlichen und Wissenstransfer, der durch diese Siedlungsprojekte ausgelöst wurde. Auch rührt der Erfolg weniger von den Basler oder Herrnhuter Missionaren als von den Westindern her. Sie nämlich nahmen über den engen Bereich der Missionsstation hinaus am Leben der vielschichtigen lokalen afrikanischen Gesellschaft der Goldküste und ihren Problemen Anteil und trugen so zu einem kulturellen Transfer bei, wenngleich sie als Repräsentanten einer bereits von der Sklaverei emanzipierten Gesellschaft nicht frei waren von Paternalismus und Geringschätzigkeit gegenüber den Afrikanern. Durch wirtschaftliche Kooperationen und Heiratspolitik gelang es ihnen, ihrer Aufgabe als cultural brokers im Sinne der Missionsgesellschaften und der Abolitionsbewegung gerecht zu werden. Das Siedlungsprojekt dokumentiert auch die globale Verflechtung von Missionsgesellschaften und Missionskirchen und die enge Verknüpfung mit den Kirchen außerhalb der europäischen Metropolen. Diese Kooperation muss aber auch vor dem Hintergrund der wachsenden Konkurrenz zwischen den europäischen (und zunehmend den amerikanischen) Missionsgesellschaften und ihren Kampf um die Erschließung neuer Missionierungszonen im century of missions98 gesehen werden.
97 Zu der Behauptung siehe David Jenkins, Black Zion: Africa, Imagined and Real, As Seen by Today’s Blacks, New York 1975, S. 151, zitiert in: Wariboko, Ruined, S. 3. 98 Der Ausdruck geht zurück auf Kenneth Latourette, der das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Mission bezeichnet hat. Kenneth S. Latourette’s, A History of the Expansion of Christianity, 7 Bde., New York 1937–1945.
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Katholische Mission, Sklaverei und Emanzipation in der frankophonen Karibik1 Ulrike Schmieder
In diesem Beitrag soll an einem Beispiel, nämlich der französischen Karibikinsel Martinique, gezeigt werden, wie sich die katholische Mission zur Sklavenbefreiung und zu den kolonialen, von Zwangsarbeit und Repression geprägten Verhältnissen in der Postemanzipationsperiode verhielt. Der historische Ort, die Politik der französischen Kolonialmacht, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Akteure und Akteurinnen – die Angehörigen der Bildungsorden, die Pflanzer, die Sklavinnen und Sklaven und ihre Nachfahren, die afrikanisch-europäische Mittelklasse – bewirkten, dass die katholische Mission auf der Insel eine ganz spezifischen Prägung erfuhr. Die These ist, dass die katholischen Bildungsorden im Gegensatz zu einigen – nicht allen! – protestantischen Kirchen und Missionaren wie die katholische Kirche als Institution insgesamt nicht abolitionistisch eingestellt waren und sich mit der Kolonialmacht arrangierten – wobei es aber Unterschiede zwischen den Orden und einzelnen Mitgliedern gab. Die Mission hatte dennoch ein emanzipatorisches Potenzial für Menschen, die juristisch während der Sklaverei als verkäufliches Eigentum gegolten hatten und nach der Sklaverei Interesse am Erwerb von Bildung hatten, die die Ordensschulen anboten. Da die afromartiniquianische Bevölkerung in der Regel nach eigenen Interessen, religiösen und kulturellen Überzeugungen und oft konträr zu dem, was die Orden lehrten, handelte, sollte der Einfluss der Missionare auf die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen jedoch nicht überschätzt werden.
1 Die hier präsentierten Forschungen gehören zum DFG-Projekt „Handlungsstrategien ehemaliger Sklaven und Sklavinnen in Kuba und Martinique nach der Abschaffung der Sklaverei“, ein Teil des Gemeinschaftsprojekts „Nach der Sklaverei – Die Karibik und Afrika im Vergleich“. Mein Schwerpunkt ist dabei nicht die Geschichte der Mission, sondern eine vergleichende Untersuchung der Postemanzipationsgesellschaften in Martinique und Kuba in einer akteurszentrierten, vor allem auf die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen bezogenen Perspektive.
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Sklaven, Sklavinnen, nouveaux libres und der historische Kontext der Sklavenmission Zunächst aber muss kurz etwas zur Sklaverei auf Martinique und dem historischen Kontext der Mission gesagt werden. Martinique war seit 1635 in französischem Besitz und wurde in den 1640er-Jahren von der Zuckerrevolution erfasst. Die wichtigste französische Zuckerinsel war allerdings SaintDomingue, heute Haiti, wo die Sklavenrevolution von 1791–1804 der Sklaverei ein Ende setzte. Die Abolition des revolutionären Konvents von 1794 wurde 1802 von Napoleon Bonaparte für die übrigen Territorien der französischen Karibik zurückgenommen. In Martinique war diese erste Abolition jedoch wegen der englischen Besatzung der Insel in den Kriegsjahren nicht in Kraft getreten. Die meisten der 217 000 Sklaven und Sklavinnen, zu zwei Dritteln Männer, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert nach Martinique2 gebracht wurden, kamen aus der Bucht von Benin, der Bucht von Biafra und West-Zentralafrika, zu einem geringeren Teil aus Senegambien und von der Goldküste.3 1847 lebten ca. 73 000 Sklaven auf der Insel.4 Sie mussten auf martiniquianischen Plantagen wie überall in der Zuckerwirtschaft der Karibik von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern arbeiten. In der Erntezeit folgte auf die ganztägige Feldarbeit noch eine Nachtschicht in der Zuckermühle. Der Arbeitstag betrug dann 18 Stunden. Da Männern die qualifizierten Handwerksberufe auf den Plantagen zugewiesen wurden, arbeiteten Frauen im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Sklavenbevölkerung überdurchschnittlich oft als Feldarbeiterinnen.5 Die Mehrheit der Sklaven auf Martinique
2 Laut der Trans-Atlantic Slave Trade Database (History Department, Emory University, Atlanta) waren es 216 911 Sklaven. Vgl. http://www.slavevoyages.org/tast/ assessment/estimates.faces (letzter Zugriff: 9.5.2011). 3 Vgl. David Eltis/Stephen D. Behrend/David Richardson/Herbert S. Klein, The Atlantic Slave Trade. A Database on CD-ROM, Cambridge 1999. 4 Vgl. Dale Tomich, Slavery in the Circuit of Sugar. Martinique and the World Economy, 1830–1848, Baltimore 1990, S. 83, Vgl. dort auch S. 85: 51,8 % der ländlichen Sklavenbevölkerung waren Frauen. 5 Vgl. Bernard Moitt, Women and Slavery in the French Antilles 1635–1848, Bloomington 2001, S. 36–56.
Sklaverei und Emanzipation in der frankophonen Karibik |
musste sich in ihren Küchengärten selbst mit Lebensmitteln versorgen und verfügte daher über bäuerliche Fähigkeiten.6 Obwohl nach dem Code Noir (1685) Sklavenehen erlaubt waren, gab es davon wenige.7 Die Ehe gab den Sklaven weder die exklusive Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft und noch die sexuellen Dienste ihrer Frauen. Für Sklavinnen bedeutete die Ehe statt Schutz und Versorgung allein, dass sie einem weiteren Herrn dienen mussten. Sklaveneltern hatten keine Rechte über ihre Kinder.8 Das hieß aber nicht, dass Sklaven auf Familien verzichteten, sondern nur, dass sie diese nicht legalisierten und es vorzogen, diese nach eigenen Regeln zu gestalten. Unter dem Einfluss der Revolutionen in Frankreich und Saint-Domingue erhoben sich in Martinique 1789, 1800, 1811, 1822 und 1831 Sklaven und Sklavinnen gegen ihre Besitzer und die Kolonialmacht.9 Das französische Restaurationsregime hatte 1818 den transatlantischen Sklavenhandel in die französischen Kolonien verboten, das Verbot aber nicht durchgesetzt. Durch die Juli-Revolution kamen 1830 die Liberalen, z. T. gemäßigte Abolitionisten, an die Macht. 1834 wurde in Paris die Société Française pour l´abolition de l´esclavage gegründet. Ein Gesetzentwurf von 1838, nach dem die neugeborenen Kinder von Sklavinnen für frei erklärt werden sollten, setzte sich im französischen Abgeordnetenhaus jedoch nicht durch.10 Die französische Juli-Monarchie beendete den transatlantischen Sklavenhandel und bereitete eine graduelle Abolition vor, durch die die Interessen der Plantagenbesitzer und die Steuereinnah6 Vgl. Dale Tomich, The Other Face of Slave Labor: Provision Grounds and Internal Marketing in Martinique, in: Hilary Beckles/Verene Shepherd (Hg.), Caribbean Slave Society and Economy. A Student Reader, London 1991, S. 304–318. 7 Vgl. Henry Rey, Étude sur la colonie de Martinique. Topographie, Météorologie, Pathologie, Anthropologie, Démographie, Paris 1881, S. 61–62: Von 1 000 weißen Frauen in heiratsfähigen Alter heirateten im Jahr 21, von 1 000 freien farbigen Frauen 12–13, von 1 000 Sklavinnen zwei (1834–1847). 8 Vgl. Moitt, Women and Slavery, S. 80–86. 9 Vgl. David Geggus, Esclaves et gens de couleur libres de la Martinique pendant l´époque révolutionnaire et napoléonienne: trois instants de résistance, in: Revue historique 295 (1996) 1, S. 105–132 ; Françoise Thésée, La révolte des esclaves du Carbet à la Martinique (1822), in: Revue française d´outre-mer 80 (1993) 301, S. 551–584; Armand Nicolas, Histoire de la Martinique. Des Arawaks à 1848, Paris 1996, Bd. 1, S. 343–348. 10 Vgl. Nelly Schmidt, Abolitionnistes de l´esclavage et réformateurs des colonies: 1820–1851, analyse et documents, Paris 2000, S. 84–91; Lawrence Jennings, French Anti-Slavery Movement for the Abolition of Slavery in France 1802– 1848, Cambridge 2000, S. 56–58, S. 106–109.
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men aus den Kolonien nicht beeinträchtigt werden sollten. Freilassungen und Freikäufe von Sklaven und Sklavinnen wurden erleichtert, Körperstrafen eingeschränkt.11 Eheschließungen von Sklaven und Sklavinnen, verstanden als deren „Moralisierung“,12 wurden gefördert, ohne an dem grundsätzlichen Problem, der sexuellen Verfügungsgewalt der Herren über die Sklavinnen, etwas zu ändern. Erst die Revolutionsregierung von 1848 verkündete am 27. April 1848 die Abschaffung der Sklaverei, die zwei Monate nach Verkündung des Dekretes in der jeweiligen Kolonie in Kraft treten sollte. Die Besitzer sollten entschädigt werden. Die (männlichen) Sklaven wurden zu Bürgern der französischen Republik mit Wahlrecht.13 Am 22. Mai 1848 zwangen die Sklaven und Sklavinnen mit einem inselweiten Aufstand den Gouverneur, die Abolition mit sofortiger Wirkung (am 23. Mai) zu verkünden: Nach der Ankündigung der bevorstehenden Emanzipation zwischen dem 26. März und 5. April 1848 hatten sie keinen Geduld mehr, auf das offizielle Dekret und seine Inkraftsetzung zu warten.14 1848 beschloss die französische Regierung zwar die Abschaffung der Sklaverei, aber das hieß für sie mitnichten, dass auf die Arbeitskraft der befreiten Sklaven und Sklavinnen und die Einnahmen aus einer prosperierenden Zuckerwirtschaft verzichtet und den nouveaux libres eine Existenz als Kleinbauern auf eigenem Land zugestanden werden sollte. Bei der Ankündigung der Abolition verkündete der Directeur de l´Intérieur Husson den Sklaven und Sklavinnen, Freiheit bedeute, zu arbeiten und zu heiraten.15 In einem Satz hatte er damit ausgesagt, was die „Zivilisierungsmission“ europäischer Kolonialmächte gegenüber der Bevölkerung in den Kolonien erreichen wollte. Diese sollte kapitalistische Arbeitsethik und europäische Geschlechternormen übernehmen. Verschwiegen wurde dabei, dass diese wirtschaftliche 11 Vgl. ebd., S. 29, S. 35–36; Moitt, Women and Slavery, S. 167, S. 103. 12 Vgl. Myriam Cottias, De la moralisation des esclaves a la citoyenneté dans les Antilles Françaises (Martinique, Guadeloupe), in: Susana Menéndez/Barbara Potthast (Hg.), Mujer y Familia en América Latina, siglos XVIII–XX, Málaga 1996, S. 135–152. 13 Vgl. Myriam Cottias, Le Partage du nom. Logiques et usages chez les nouveaux affranchis des Antilles après 1848, in: Cahiers du Brésil contemporain 53/54 (2003), S. 163–174. 14 Vgl. Gilbert Pago, 1848. Chronique de l´abolition de l´esclavage en Martinique, Fort-de-France 2006; Edouard Lépine, Dix semaines que ébranlèrent la Martinique: 25 mars–4 juin 1848, Paris 1999. 15 Vgl. Myriam Cottias, D’une abolition, à l’autre. Anthologie raisonnée de textes consacrés à la seconde abolition de l’esclavage dans les colonies françaises, Marseille 1998, S. 180–183.
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und gesellschaftliche Ordnung den Interessen der Plantagenbesitzer und der Kolonialmacht entsprach und nicht den Interessen der ehemaligen Sklaven und Sklavinnen und, dass das bürgerliche Familienmodell mit dem Mann als Familienoberhaupt und Ernährer und der Frau als abhängiger Hausfrau und Mutter von umsorgten Kindern, dort nicht funktionieren konnte, wo man den Männern kein Land gab und keinen Familienlohn zahlte, die Frauen zwang, ganztags Feldarbeit zu leisten, und die Familie auf die Mitarbeit der Kinder angewiesen war. Der Commissaire de la République, Perrinon, propagierte, dass die Plantagenarbeit durch sogenannte contrats de association zwischen dem Grundbesitzer und der Gemeinschaft seiner ehemaligen Sklaven und Sklavinnen geregelt werden sollte. Nach einem solchen Vertrag konnten ehemalige Sklaven und Sklavinnen Häuser und Gärten auf Plantagenland nur weiter nutzen, wenn sie für einen Anteil an der Zuckerrohrernte weiter für die Landeigentümer arbeiteten. Im Wesentlichen wurden mit diesen Verträgen Verhältnisse der Sklaverei fortgeschrieben, wobei die Körperstrafen durch Geldstrafen und Verweise von der Plantage ersetzt wurden.16 Die republikanische Regierung verordnete eine Arbeitspflicht für die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen. Sogenannte Vagabunden und Bettler sollten Zwangsarbeit bei öffentlichen Arbeiten leisten.17 Nach der Abolition kombinierten die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen die erzwungene Plantagenarbeit mit Fischerei, der Produktion von Lebensmitteln im eigenen Garten oder Töpferei.18 Trotz der Repression zogen immer mehr von ihnen in die Städte, vor allem nach der Fort-de-France und nach 16 Vgl. Dale Tomich, Contested Terrains. Houses, Provision Grounds and the Reconstitution of Labour in Post-Emancipation Martinique, in: Mary Turner (Hg.), From Chattel Slaves to Wages Slaves. The Dynamics of Labor Bargaining in the Americas, Bloomington 1995, S. 241–257; Centre des Archives d´OutreMer (CAOM) in Aix-en-Provence, Fonds Ministériels (FM), Série Géographique (SG), Martinique (MAR), 56, 464, Projet d´association formulé sous l´approbation du Commissaire Général pour l´exploitation des usines à sucre de la colonie soit au tiers brut, soit à la moitié nette. Die tatsächlich geschlossenen Verträge (zu finden in Notariatsakten, CAOM, Dépôt des Papiers Publics (DPPC), Notariat (NOT), MAR) wichen mal zugunsten, mal zulasten der Arbeiter vom Muster ab, aber immer enthielten sie Vorschriften, die die Herrschaft des Besitzers über das Ökonomische hinaus festschrieben, so durften die Arbeiter z. B. nur mit Erlaubnis der Plantagenbesitzers Personen in ihren Häusern aufnehmen oder wurden der Plantage verwiesen, wenn sie ihm oder einem Familienmitglied nicht genügend Respekt erwiesen. 17 Vgl. Schmidt, Abolitionnistes de l´esclavage, S. 987. 18 Vgl. Tomich, Contested Terrains.
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St. Pierre. Ehemalige Sklaven und Sklavinnen siedelten sich auch auf verlassenen Pflanzungen und auf den Hügeln um die Städte an, wo sie Lebensmittel für sich selbst und lokale Märkte anbauten.19 Im Kaiserreich wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer aufgehoben und erst 1870 wieder eingeführt.20 Außerdem wurde der Arbeitszwang verschärft, u. a. durch Gesetze gegen „Vagabundentum“ und ein ausgeklügeltes System von Kopfsteuern und Arbeitsbüchern, mit denen die Arbeiter und Arbeiterinnen eine Anstellung nachweisen mussten, wollten sie nicht ihre „Freiheit“ verlieren.21 Immer mehr Afromartiniquianer und -martiniquianerinnen wurden wegen Verstößen gegen die Regelungen zu Geld- und Haftstrafen bzw. Zwangsarbeit verurteilt.22 Nach Martinique wurden bis 1888 ca. 10 000 Afrikaner und Afrikanerinnen und ca. 25 000 Inder und Inderinnen als billige Kontraktarbeiter eingeführt,23 wodurch die afromartiniquianischen Landarbeiterlöhne dauerhaft niedrig gehalten werden konnten. Infolge dieser Politik waren gewaltsame Proteste gegen Arbeitszwang und Rassendiskriminierung, Plünderungen und Brandstiftungen24 an der 19 Vgl. Rosamunde Renard, Labour Relations, in Martinique and Guadeloupe, 1848–1870, in: Hilary Beckles/Verene Shepherd (Hg.), Caribbean Freedom. Economy and Society from Emancipation to the Present. A Student Reader, Kingston, London 1993, S. 80–92, hier S. 81; Christine Chivallon, Récompositions sociales à l´abolition de l´esclavage: l´expérience des mornes à la Martinique, in: Marcel Dorigny (Hg.), Esclavage, résistances et abolitions, Paris 1999, S. 417–431. 20 Vgl. Armand Nicolas, Histoire de la Martinique, Paris 1996, II, S. 34, S. 127–128. 21 Vgl. Dekrete vom 9.10.1852, 9.2.1853 und 16.5.1854, Archives Départementales de Martinique, Fort-de-France (ADM), Bulletin Officiel de la Martinique (BOM), 1852, 53, 54. S. 352–359; Renard, Labour Relations, S. 84. 22 Vgl. Nicolas, Histoire de la Martinique, II, S. 48; CAOM, FM, Série Géneralités (GEN) 145, Police du Travail 1850–1876, Dossier 1227 zu Martinique, Verurteilungen nach dem Dekret vom 13.2.1852 zu Geldstrafen, die bei Zahlungsunfähigkeit in Zwangsarbeitstage umgewandelt wurden, Trimester April 1853: 191 Personen, Trimester Juli 1856: 1 514 Personen. Dazu kamen Verurteilungen, die von vornherein sechs Monate Zwangsarbeit vorsahen (CAOM, DPPC, Greffes de la Cour d´Appel 1872 ff.). 23 Vgl. Raymond Massé, La fin des plantations? Evolution des formes de soumission du travail dans deux sociétés néocoloniales: Martinique et Guadeloupe, Ste. Marie 1980, S. 27–28. 24 Vgl. die Prozessakten zu Widerstandsaktionen: CAOM, DPPC, Greffes, Cour d´Assises, St. Pierre, 924, 22.09.1849: Verfahren gegen Alexandre Alligal, Landarbeiter, geboren in Afrika, und sieben männliche sowie eine weibliche Mitangeklagte (Zelie, Wäscherin, geboren in Afrika) wegen Anstiftung zur Rebellion und Aufstachelung zum Hass gegen die Weißen am 4.05.1849 in Bourg de Trinité; sowie Dokumente zu einer Serie von Brandstiftungen auf Plantagen 1859–1860:
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Tagesordnung und kulminierten aufgrund eines rassistischen Gerichtsurteils im September 1870 in einem Aufstand. Der Aufstand im Süden der Insel wurde brutal niedergeschlagen, zahlreiche Teilnehmer hingerichtet oder nach Guayana verbannt – auch aufständische Frauen.25
Die katholische Kirche und ihre Haltung gegenüber der Sklaverei Der Papst hatte erst 1839 den Sklavenhandel aus Afrika und die Misshandlung von Sklaven und Sklavinnen verurteilt, nicht aber die Abschaffung der Sklaverei gefordert.26 Letztes tat erst Leo XVIII am 5. Mai 1888 in der Enzyklika „In Plurimis“, mit der er die geplante Abschaffung der Sklaverei in Brasilien, dem letzten sklavenhaltenden Land der westlichen Hemisphäre, unterstützte (diese erfolgt am 13. Mai 1888).27 Danach waren durch die Verurteilung der Sklaverei keine westlich-christlichen Kolonialmächte mehr betroffen, sondern die Enzyklika konnte benutzt werden, um das Vordringen europäischer Staaten in Afrika unter dem Vorwand, dort die afrikanische und arabische Sklaverei abschaffen zu wollen, zu rechtfertigen. Mit Vorwand CAOM, FM, SG, MAR, 12, 119; zur Ablehnung von Begnadigungsanträgen von Brandstiftern (ehemaligen Sklaven und Sklavinnen, indischen und afrikanischen Einwanderer und Einwanderinnen), die aus Rache an Besitzer und Verwalter Plantageneinrichtungen angezündet hatten, 1864–71: CAOM, FM, SG, MAR, 147. 25 Vgl. Armand Nicolas, L´insurrection du Sud à la Martinique (septembre 1870), Fort-de-France 1971; Gilbert Pago, Lumina Sophie dite „Surprise“, 1848–1879. Insurgée et bagnarde, Femme-flamme de l´insurrection du Sud 1870 en Martinique, Matoury 2008; ders., L‘insurrection Martinique, 1870-1871, Paris 2011. 26 Vgl. Apostolischer Brief, In Supremo, Papst Gregorius VI. vom 3.12.1839, in: Schmidt, Abolitionnistes de l´esclavage, S. 816–818; John F. Quinn, „Three Cheers for the Abolitionist Pope!“: American Reaction to Gregory XVI condemnation of the Slave Trade, 1840–1860, in: The Catholic Historical Review 90/91 (2004), S. 67–93; Patricia Gravatt, L´Église et l´esclavage, Paris 2003, S. 107–108; Alphonse Quenum, Les Églises chrétiennes et la traite atlantique du XVe au XIXe siècle, Paris 1993, S. 238–239. 27 Vgl. Gravatt, L´Église et l´esclavage, S. 109–110; Quenum, Les Églises chrétiennes et la traite atlantique, S. 240–241; Katharina Bosl, Die Sklavenbefreiung in Brasilien, eine soziale Frage für die Kirche? Die katholische Kirche und das Ende der Sklaverei in der Kaffeeprovinz São Paulo, Stuttgart 1999, S. 309–312; sowie die Online-Dokumentensammlung des Vatikan: http://www.vatican.va/ holy_father/leo_xiii/encyclicals/documents/hf_l-xiii_enc_05051888_in-plurimis_en.html (letzter Zugriff: 18.08.2012).
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meine ich nicht, dass nicht-europäische Formen von Sklaverei28 harmlos gewesen seien, sondern, dass zu bezweifeln ist, dass die Abolition das Primärziel des europäischen Kolonialismus war. Schließlich schafften England und Frankreich die Sklaverei in ihren Kolonien nur langsam ab – Deutschland nie – und setzten das Verbot nicht durchgehend durch.29 Alle europäischen Mächte führten neue Formen von Zwangsarbeit ein, um ihre Kolonien wirtschaftlich in Wert zu setzen.30 In der Periode, von der hier die Rede ist, verstieß man also noch nicht gegen Grundregeln der katholischen Kirche, wenn man Sklaven hielt oder die Sklaverei beibehalten wollte. Die Angehörigen des französischen Klerus in den Kolonien hielten daher Sklaven und Sklavinnen und arrangierten sich mit der Sklavenhaltergesellschaft. Einige einheimische Priester verweigerten den Afromartiniquianern die Teilnahme an Kommunion und Beichte,31
28 Zu Debatten um die Sklaverei in Afrika: Jan-Georg Deutsch, Sklaverei als historischer Prozeß, in: ders./Albert Wirz (Hg.), Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 53–74. 29 Vgl. Paul Lovejoy, Transformations in Slavery. A History of Slavery in Africa, Cambridge 1983; Paul Lovejoy/Jan S. Hogendorn, Slow Death for Slavery: the Course of Abolition in Northern Nigeria, 1897–1936, Cambridge 1993; Trevor R. Getz, Slavery and Reform in West Africa. Toward Emancipation in NineteenthCentury Senegal and the Gold Coast, Athens, Oxford 2004; Marie Rodet, Die Abschaffung der Sklaverei und die Geschlechterverhältnisse in der Region Kayes, Französisch-Sudan (1890–1920, in: Periplus 20 (2010), S. 263–27; Jan-Georg Deutsch, Emancipation without Abolition in German East Africa, ca. 1884– 1914, Oxford 2006, S. 102–130. 30 Vgl. Kay Saunders (Hg.), Indentured Labour in the British Empire 1834–1920, London 1984; Jacques Marseille, Empire colonial et capitalisme français: histoire d’un divorce, Paris 1986, S. 37–119. Laurence Marfaing, L’évolution du commerce au Sénégal, 1820–1930, Paris 1991; M. H. Y. Kaniki, The Colonial Economy: the former British Zones, in: A. Abu Boahen (Hg.) General History of Africa, VII, Africa under Colonial Domination 1880–1935, UNESCO 1985, S. 382–419; Leonhard Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, S. 34–65; Centro de Estudos Africanos da Universidade do Porto (Hg.), Trabalho forçado africano. Experiências coloniais comparadas, Porto 2006, S. 229–468. 31 Vgl. Philippe Delisle, Histoire religieuse des Antilles et de la Guyane françaises. Des chrétientés sous les tropiques? 1815–1911, Paris 2000, S. 110–111, hier S. 115. Correspondance Générale, De Jean-Marie De La Mennais.Textes réunis et annotés par Frère Philippe Friot, http://www.ficplm.org/ressources/doc_fondateurs. html (Letzter Zugriff: 8.7.2008), Livre IV, 2741. Abbé de La Mennais an den Minister für Marine und Kolonien, 29.4.1840.
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andere beschimpften Angehörige der farbigen Bevölkerung von der Kanzel herab und zogen Versuche, Afromartiniquianer auszubilden, ins Lächerliche.32 Trotzdem gab es seit dem Abbé Henri Grégoire und seiner 1788 gegründeten Gesellschaft der Amis des Noirs einige französische Kleriker, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten. Die abolitionistische Bewegung in Frankreich insgesamt wurde allerdings eher von Protestanten und antiklerikal gesinnten Liberalen bestimmt. In der französischen Karibik forderten Pfarrer Édouard Goubert und Abbé Dugoujon die Abschaffung der Sklaverei. Dies waren aber Ausnahmen. Typisch war die Haltung des Abbé Castelli, der die Sklaven und Sklavinnen mit religiöser Unterweisung auf die Emanzipation vorbereiten wollte, aber gegen eine sofortige Abolition ohne vorherige „Erziehung“ der Betroffenen war.33 Nach der Abschaffung der Sklaverei verteidigte er als Apostolischer Präfekt von Martinique aber die Sklavenemanzipation, auch gegen anders gesinnte Priester.34 Im Jahr 1848 reichte das Spektrum der Verhaltensweisen im Klerus vom Engagement für Republik, Abolition und Gleichstellung der freien farbigen Bevölkerung (Pierre Butez, Pfarrer von Robert, Abbé Bardy, Pfarrer von Marin, Abbé Jean Etienne Féron, Vikar von Basse-Pointe, Fabien Marie und Jean Germain Marchesi, jeweils Pfarrer von Sainte Luce und Rivière Pilote) und Massenkommunionen für ehemalige Sklaven und Sklavinnen und freie Farbige aus Anlass der Emanzipation (Étienne Deletrée, Vikar von Lamentin) bis hin zur Beleidigung der affranchis und altfreien farbige Bevölkerung von der Kanzel herab (Louis Peyrol, Pfarrer von Vauclin) und der bewaffneten Verteidigung der Pflanzerelite gegen die Aufständischen (Abbé Jean Michel Jacquier, apostolischer Präfekt vor Castelli, der auch schon mit der Waffe in der Hand gegen die Rebellion der freien Farbigen in Grande Anse im Dezember 1834 gekämpft hatte).35 32 Vgl. Gouvernement de la Guadeloupe et dépendances, Lettres inédits à Victor Schœlcher (1848–1851), 1935, S. 159–162, Brief des apostolischen Präfekten von Martinique, Mgr. Castelli, an Victor Schœlcher, Abgeordneter Martiniques in der französischen Nationalversammlung, ca. August 1848. 33 Schmidt, Abolitionnistes de l´esclavage, S. 167–174, S. 354–358 ; De l’Esclavage en général et de l’émancipation des noirs, avec un projet de réorganisation de l’action religieuse, considérée comme le premier élément et le plus efficace pour préparer et mener à bonne fin l’œuvre sainte de l’émancipation des esclaves dans les colonies françaises, par M. Castelli, Paris 1844. http://gallica.bnf.fr (Letzter Zugriff: 28.08.2012). 34 Lettres inédits à Victor Schœlcher, S. 151–164. 35 Pago, 1848. Chronique de l´abolition, S. 108–110, S. 134. Bernhard David, Dictionnaire biographique de la Martinique (1635–1848), III, Le Clergé, (1790–1848),
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Der Abbé Dugoujon, der vor der Abolition Guadeloupe wegen seiner Anti-Sklaverei-Haltung verlassen musste, kehrte während der ersten Revolutionsregierung als Apostolischer Präfekt auf die Insel zurück. Nach wenigen Monaten erreichten die Pflanzer und konservative Kleriker, empört über seine „schwarzenfreundliche“ Position und darüber, dass er Messen, kirchliche Zeremonien und Katechese nicht nur am Wochenende stattfinden lassen wollte und ihnen damit Arbeitskräfte entzog, seine Abberufung (im Januar 1849). Die Auseinandersetzung um die katholische Mission war also auch eine innerkatholische, wobei die demokratisch gesinnten Priester immer eine kleine Minderheit bildeten, die nur in historischen Ausnahmesituationen wie der Französischen Revolution von 1848 und dort, wo der Staat die Kirchenämter besetzte, in Machtpositionen gelangten.36
Die katholischen Orden auf Martinique Es gab zwei katholische Bildungsorden auf Martinique, die Frères de l´Instruction chrétienne, auch Frères de Ploërmel genannt und den Frauenorden Sœurs de St. Joseph de Cluny. Die Frères de l´Instruction chrétienne, gegründet 1819 von Jean de La Mennais, betrieben Grundschulen für arme Jungen in der Bretagne und hatten zunächst nichts mit den Kolonien zu tun. 1836 bat sie Premierminister François Guizot in der Karibik (Martinique, Guadeloupe und Französisch-Guayana), auf Saint Pierre et Miquelon vor Kanada und in Senegal Schulen für die arme weiße und farbige Bevölkerung einzurichten, die vom Ministerium für Marine und Kolonien finanziell unterstützt werden sollten. Ein explizites Ziel dieser Bildungsoffensive sollte die Überwindung der Konflikte zwischen den freien Weißen und den Farbigen sein. Der Abbé de La Mennais erklärte seine Zustimmung.37 Auf Martinique wurde 1839 in Fort Royal die erste Schule der Brüder eröffnet, 1846 gab es bereits fünf Fort-de-France 1984, S. 35–40, S. 82–83, S. 117–120, S. 151–155. Lettres inédites à Victor Schœlcher, S. 159–162 ; Enry Lony, La commune de Sainte-Luce à travers ses élus. 1848 à 1998, 150 ans d´histoire, Fort-de-France 2000, S. 10. 36 Vgl. Lettres inédits à Victor Schœlcher, Vorwort und S. 14–128. 37 Vgl. Correspondance générale, Livre III, 2144, Abbé de La Mennais an Minister Guizot, 15.10.1836 (Antwort auf eine mündliche Anfrage, übermittelt durch den Präfekten von Morbihan); Dok. 398: „Note sur le projet d’établir des écoles dirigées par les frères de l’instruction chrétienne à la Martinique et à la Guadeloupe“ (4.11.1836); Dok. 399: Minister Guizot an den Abbé de La Mennais, 8.11.1836.
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Schulen. Sie waren bald mit affranchis, Freigelassenen, überfüllt, nicht nur mit Kindern, sondern auch mit Erwachsenen in Abendklassen.38 Die weiße Bevölkerung war gegen die Einrichtung der Ordensschulen und schickte ihre Kinder nicht in diese, weil sie die Koedukation von weißen und farbigen Kindern als Bedrohung für eine soziale Ordnung, die sich auf Großgrundbesitz, Sklavenhaltung und rassistische Exklusion gründete, ablehnte. Im Zuge der oben beschriebenen Reformpolitik und der Vorbereitung einer graduellen Abolition ordnete ein Dekret der Französischen Regierung vom 5. Januar 1840 die religiöse Unterweisung von Sklaven und Sklavinnen und ihren Kindern an und erlaubte Sklavenkindern, kostenlose Grundschulen zu besuchen.39 Dies war die rechtliche Grundlage der Missionierung der Sklaven und Sklavinnen, die bis dahin zwar getauft wurden, wie es der Code Noir vorschrieb, aber fast nie eine religiöse Unterweisung erhalten hatten. Nach einer Ordonnanz vom 18. Mai 1846 sollten Sklavenkinder zwischen acht und vierzehn Jahren zur Schule und alle Sklaven und Sklavinnen sonntags zur Messe gehen und auf den Plantagen religiösen Unterricht erhalten.40 Die meisten Besitzer von Zuckerplantagen und Sklavenhalter lehnten die Missionierung ihrer Sklaven und Sklavinnen ab,41 weil sie fürchteten, dass größeres Wissen zu mehr Widerstand führen würde und – zu Recht – annahmen, dass die Missionierung der Auftakt zur Abolition sein sollte, die sie so lange wie möglich hinauszögern wollten. Eine Ausnahme stellte der Plantagenbesitzer und Reformer August Pécoul dar, der als erster die Sklavenkatechese erlaubte.42 38 Correspondance générale, Livre V, 3309, Abbé Jean de La Mennais an den Minister für Marine und Kolonien, 8.09.1843, in die Schule von St. Pierre gingen 500 Schüler, vgl. Delisle, Histoire religieuse, S. 104–105. 39 Vgl. Exposé général des résultats du patronage des esclaves dans les colonies françaises, Paris 1845, S. 3–5. 40 Vgl. Archives des Sœurs de St. Joseph de Cluny, Paris (ASJC), H 1 Ordonnance Royale concernant l´Instruction religieuse et élémentaire dans les Colonies des esclaves. 41 Vgl. Exposé général, S. 24–47. Evelyne Camara/ Isabelle Dion/ Jacques Dion, Esclaves. Regards des Blancs 1672–1913, Marseille 2008, S. 212: Brief von G. Giraud, Verwalter der habitation Reiset (Lamentin), vom 2.6.1840: „Les colons disent qu´ils ont acheté des nègres pour planter des cannes et non pas pour faire des savants et théologiens. Que si la métropole veut changer l´ordre des choses qui existe, elle doit commencer à indemniser, à acheter, à payer les esclaves, alors elle fera d´eux ce qu´elle voudra.“ 42 Vgl. Archives des Frères de l´Instruction Chrétienne, Rom (AFIC), 172-04-052, Frère Arthur an den Abbé de la Mennais, St. Pierre, 2.5.1845.
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Die Sœurs de St. Joseph de Cluny wurden 1806 von Anne-Marie Javouhey und ihren Schwestern43 als „Familienbetrieb“ und karitativer Orden gegründet. Er widmete sich der religiös orientierten Bildung von armen Mädchen und Waisen sowie der Krankenpflege. Die Verteidigung des Katholizismus gegen republikanisch-laizistische Tendenzen im nachrevolutionären Frankreich war das zentrale Anliegen. Der Orden wirkte zunächst in Frankreich, bald aber auch in Übersee, im 19. Jahrhundert unter anderem in Senegal, Sierra Leone, Gambia und Angola, in Französisch-Guayana, Martinique, Guadeloupe, Trinidad, Ste. Lucie, St. Vincent, St. Pierre et Miquelon, Peru sowie Indien.44 In der französischen Karibik waren die Sœurs de St. Joseph de Cluny seit 1822 in der Krankenpflege und Mädchenbildung tätig und die Ordensgründerin betrieb in Französisch-Guayana ein Projekt zur schrittweisen Sklavenemanzipation. In Martinique unterhielten die Schwestern seit 1824 eine höhere Töchterschule mit Internat (Pensionnat) nur für europäische Schülerinnen in St. Pierre in Martinique.45 1839 wurden sie wie die Frères de Ploërmel aufgefordert, in der französischen Karibik mit Unterstützung der Regierung kostenlose Grundschulen für die farbige Bevölkerung einschließlich der Sklaven zu betreiben. 1840 reisten die ersten sechs Schwestern zu diesem Zweck nach Martinique.46 Die ersten Grundschulen für farbige Mädchen unter Leitung der Schwestern von St. Joseph wurden 1840 in Guadeloupe und 1842 Martinique eröffnet. Zum Zeitpunkt der Abolition unterhielten die Schwestern sieben kostenlose Grundschulen, 1855 waren es 18.47 Zu Beginn der 1850er-Jahre unterrichteten in jeder Schule zwei Schwestern, nur in den Schulen von St. Pierre waren es jeweils vier und in Fort-de-France und 43 Vgl. Annales Historiques de la Congrégation de Saint-Joseph de Cluny, par une Religieuse de la même Congrégation, Solesmes 1890, Genealogische Tafel: An der Spitze des Ordens standen die Schwestern S. Anne-Marie Javouhey (Anne), S. Marie-Thérèse Javouhey (Pierette), S. Marie-Joseph Javouhey (Marie), S. Rosalie Javouhey (Claudine) sowie ihre Cousine S. Amélia Javouhey (Clotilde). 44 Vgl. Geneviève Lecuir-Nemo, Anne-Marie Javouhey, Fondatrice de la congrégation des sœurs de Saint-Joseph de Cluny (1779–1851), Paris 2001, Karte o. S. 45 Lecuir-Nemo, Anne-Marie Javouhey, S. 157. 46 Vgl. AJSC, 5 A a 2.4, Nr. 1a, 26.4.1839, Minister Bon Cuprinier an „Madame Assistante de la Supérieure Générale des Sœurs de St. Joseph à Paris“. Antwort: Nr. 1, 29.4.1839. Nr. 2, 20.09.1839, Minister Duperré an „Madame Assistante“. 47 Vgl. Philippe Delisle, Renouveau missionaire et société esclavagiste. La Martinique: 1815–1848, Paris 1997, S. 224, S. 227; Eröffnung der ersten Schulen in Mouillage St. Pierre 1.1.1842 und Fort-Royal 1.1.1842, ASJC E.C. 6 c) Übersicht über die Schulen auf Martinique mit Gründungsdatum.
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Lamentin jeweils drei.48 Die Schulen konkurrierten stärker als die Jungenschulen mit privaten, von Laien-Lehrerinnen betriebenen Schulen.49
Begegnungen und Interaktionen während der Sklaverei Seit 1840 gingen die Frères de Ploërmel auf Plantagen, um die Sklaven und Sklavinnen zu christianisieren. Auf 30 000 freie Farbige und 76 000 Sklaven und Sklavinnen kamen jedoch nur 44 Pfarrer und Vikare, 17 Frères de Ploërmel und 7 Soeurs de St. Joseph. Die Anzahl der Personen, die an KatecheseKursen teilnahmen, wuchs von 3200 1839 auf 6 030 1843, davon waren allerdings nur etwa ein Drittel Sklaven und Sklavinnen (ca. 2/3 der Beteiligten waren Frauen). 1843 erhielten insgesamt nicht mehr als 60 bis 70 Sklaven und Sklavinnen die erste Kommunion.50 Bruder Arthur in Fort-Royal berichtete 1847: „Ich habe heute 35 Plantagen, auf denen ich die Sklaven einmal in der Woche missionieren muss, […]. Der Katechismus wird manchmal (auf einigen Pflanzungen) in der Halle oder in der Galerie des Herrn, ein anderes Mal am Ende des Feldes, wo sie arbeiten, ein andermal auf dem Hof unter Bäumen, usw. unterrichtet. […] Ich fange gewöhnlich mit dem Zeichen des Heiligen Kreuzes an und den Gebeten, kommt Heiliger Geist usw., sei gegrüßt Maria usw. Mein Vater, ich lasse den Katechismus aufmerksam anhören und dann setzen sich die Sklaven auf die Erde und ich […] stelle ihnen Fragen über den kleinen Katechismus und ich lasse sie 2 oder 3 mal alle zusammen die Antwort sagen, wenn sie sie nicht wissen und ich gebe ihnen kurze Erläuterungen, so klar, so einfach wie möglich, am besten für diese guten Leute: die Katechismusübungen dauern 20 Minuten, eine halbe Stunde bis eine ¾ Stunde auf jeder Plantage. Ich besuche gewöhnlich 4 bis 5 Plantagen am Tag.“51
48 Vgl. Centre Historique des Archives Nationales, Paris (CHAN), F/ 6211, 1. Bündel, ohne Datum, vermutlich 1853: Personal der Sœurs de St. Joseph und der Frères de Ploërmel. 49 Vgl. Exposé général, S. 504–505. Demoiselle Garnerin unterrichtete 154 Schülerinnen in Religion und Grundschulwissen, die Schwestern von St. Joseph hatten nur 50 Schülerinnen. 50 Vgl. Exposé général, S.480–482, S. 498–499. 51 AFIC, 173-01-060, Frère Arthur an den Abbé de La Mennais, Fort-Royal, August 1847.
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Als Ergebnisse seiner Missionsarbeit gab er an, dass die Sklaven und Sklavinnen mehr Respekt gegenüber ihren Besitzern und Eltern zeigten, weniger stritten, besser arbeiteten und Fehler eingestanden und bereuten. In einem Fall hatte er einem geflohenen und wieder eingefangenen Haussklaven vor der Gemeinschaft der Sklaven und dem Besitzerpaar eine Strafpredigt gehalten. Der Flüchtige sei wie die übrigen Sklaven und Sklavinnen und seine Herrin in Tränen ausgebrochen, habe seine Flucht bereut und Vergebung erlangt. Diese „Erfolge“ brachten auch andere Sklavenhalter und Sklavenhalterinnen dazu, ihre Sklaven zu Bruder Arthur zur Beichte zu schicken. Der Geistliche scheint kein Problem darin gesehen zu haben, die Sklavenhalterherrschaft gestärkt zu haben: Nach seiner Ansicht verlangte das vierte Gebot, dass die Sklaven und Sklavinnen gehorchten, und dies predigte er.52 Erst die Ablehnung der Reformen durch viele Sklavenhalter bewirkte beim Abbé de La Mennais und einigen Brüdern eine abolitionistische Haltung.53 Das Handeln der Brüder war auf den Erhalt der bestehenden politischen und sozialen Ordnung der Sklavereigesellschaft ausgerichtet. Unabhängig davon enthielt die Sklavenkatechese insofern ein emanzipatorisches Potenzial, als sie grundsätzlich davon ausging, dass Sklaven und Sklavinnen Menschen seien – und das in einer Gesellschaft, in der sie offiziell den Status von käuflichen Waren hatten und als Arbeitstiere (und Objekte des Vergnügens an Folter und Vergewaltigung) behandelt wurden.54 Frère Marcellin schrieb: „Wenn ich die Sklaven unterweise, bringe ich sie meist zum Zuhören, aber indem ich mich mit ihnen auf eine Stufe stelle, […], indem ich sie mit großer Sanftheit behandle, indem ich sie meine Brüder, meine Freunde nenne, indem ich ihnen sage, dass sie für den Himmel gemacht sind, dass sie Freunde Gottes sind, die Gliedmaßen von Jesus Christus, dass die Heilige Jungfrau ihre Mutter ist, in dem ich ihnen die Hand gebe (der übliche Brauch in diesem Land ist, sich zum Gruß die Hand zu geben, das ist ein Zeichen großen Vertrauens, tiefen Respekts und gefühlvoller Freundschaft) […]; dann sind sie beglückt, betrachten mich mit zärtlichem Blick, und ein Lächeln der Freundschaft 52 Vgl. AFIC, 173-02-005, Frère Arthur an den Abbé de La Mennais, Fort Royal, 17.01.1848. 53 Vgl. AFIC, 173-02-024, Frère Marcellin Marie an den Abbé de La Mennais, Marin. 9.5.1848 ; Correspondance générale, Livre V, 3248, Abbé de La Mennais an Frère Ambroise Haiget, St. Servan, 5.4.1843; Deslisle, Histoire religieuse, S. 126–130. 54 Vgl. Moitt, Women and Slavery, S. 99–124.
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erscheint bei Ihnen, ein heiteres und ruhiges Gesicht zeigt, dass die Süße des göttlichen Wortes in ihre Herzen dringt.“55
Solche Begegnungen mögen manche Sklaven und Sklavinnen bewogen haben, das Angebot der Christianisierung anzunehmen, obwohl es nur spirituelle Befreiung versprach. Die Brüder versuchten nicht, kulturelle und religiöse Praktiken afrikanischen Ursprungs zu verstehen und ihr missionarisches Handeln darauf zu beziehen. Derselbe Bruder Marcellin meinte dazu: „Die Schwarzen sind im Allgemeinen voller Aberglauben, Zierereien. Sie tragen, wenn sie sich welche verschaffen können, Amulette bei sich. Sie glauben, dass ihnen dann mit den gefährlichen Fuhrwerken nichts Schlimmes passieren kann, dass sie überall hingehen können, dass sie auf Schlangen treten können, ohne verletzt zu werden etc. […] etc. Es bedarf mutiger und vorsichtiger Arbeiter, um dieses Unkraut herauszureißen […]“.56
Die Missionierten verbanden die christlichen Vorstellungen offenbar selektiv und synkretistisch mit eigenen religiösen Vorstellungen. Sie waren nicht überzeugt, dass ihnen der Christengott auch im Alltag half. Die tief sitzenden Vorurteile gegenüber den afrikanischen Kulturen müssen eine deutliche Distanz zwischen den Brüdern und ihren Schülern geschaffen haben. Es gab keinen Dialog über Religion, sondern eine oberflächliche Vermittlung katholischer Riten und ein vermutlich abgrundtiefes gegenseitiges Unverständnis. Die Bemerkungen der Brüder über die Aufgeschlossenheit der afromartiniquianischen Bevölkerung für die katholische Religion müssen daher mit Vorsicht betrachtet werden. Bruder Marcellin selbst berichtete, dass nur 30 bis 60 von 300 Sklaven und Sklavinnen zu seinem Katechismusunterricht am Sonntagabend kamen.57 Obwohl mehr Frauen als Männer an der Erstkommunion teilnahmen,58 ge55 AFIC 172-04-013, Frère Marcellin an den Abbé de La Mennais, Fort-Royal, 21.1.1844. 56 AFIC, 172-04-013, Frère Marcellin an den Abbé de La Mennais, Fort-Royal, 21.1.1844. 57 Vgl. AFIC, 172-04-013, Frère Marcellin an den Abbé de La Mennais, Fort-Royal, 21.1.1844. 58 Vgl. AFIC, 172-04-052 Frère Arthur an den Abbé de La Mennais, St. Pierre, 2.5.1845. An der ersten Kommunion, die er durch seine katechetische Arbeit vorbereitet hatte, nahmen zehn Frauen und Mädchen und ein Mann der Plantage Pécoul teil.
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lang es den Brüdern selten, Sklavinnen von einer Heirat zu überzeugen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Heiratsquoten nur unmerklich anstiegen.59 Die Sœurs de St. Joseph unterrichteten an den Grundschulen der Ortschaften freie farbige und Sklavenmädchen, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten.60 Ihre Oberin Onésime Lefevre lehnte es ab, dass die Schwestern auf den Plantagen Sklaven und Sklavinnen katechisierten.61 Das war in ihren Augen nicht schicklich und würde die sehr jungen Schwestern moralischen Gefahren aussetzen. Sie stimmte lediglich zu, dass zwei Schwestern auf der habitation Pécoul einen Kindergarten betrieben, und berichtete an das Mutterhaus, dass eine junge Schwester glücklich im Kreise der Sklavenkinder sei, bei denen sie mehr guten Willen fände als erwartet.62 Heftigen Streit gab es dagegen um die vom Ministerium 1846 verlangte Zulassung von farbigen Schülerinnen zum Pensionnat in St. Pierre. In den staatlich unterstützten Schulen sollte den Vorurteilen der weißen Pflanzer entgegengetreten werden.63 Mère Onésime auf Martinique wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Es ging dabei wohl nicht nur um die Finanzen (die Internatsschulen in Übersee finanzierten den Mutterorden64), sondern auch um rassistische Vorurteile: „[…] in der Internatsschule auch farbige Kinder zuzulassen; das bedeutet nichts anderes als uns zu sagen, dass wir das Haus schließen sollen, weil die weißen Familien niemals erlauben werden, dass ihre Kinder mit so lasterhaften Kindern in Kontakt kommen, wie es die farbigen sind; eben, weil sie diesen Kontakt verhindern wollen, geben sie sie ins Internat […].“65 59 Vgl. Delisle, Histoire religieuse, S. 132; Cottias, De la moralisation, S. 142. 60 Vgl. AJSC, Martinique, 2 A h 5, Mère Onésime Lefevre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief, 70, St. Pierre, 23.9.1846 61 Vgl. AJSC, Martinique, 2 A h 5, Mère Onésime Lefevre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief, 70, St. Pierre, 23.9.1846. Brief 82, St. Pierre, 25.2.1847. 62 Vgl. AJSC, Martinique: 2 A h 5, Mère Onésime Lefevre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief 92, 3.2.1848, Brief 93, 1.3.1848; 5 A Mar 1, Nr. 39+41, Minister Baron de Mackau an Anne-Marie Javouhey, 11.8.1846 und 15.7.1847. 63 Vgl. AJSC, 5 A a 2.4, Nr. 15, 5.02.1846, Minister Baron Mackau an die Supérieure Générale der Sœurs de St. Joseph. 64 Vgl. Deslisle, Histoire religieuse, S. 52. 65 AJSC,Martinique: 2 A h 5,Mère Onésime Lefèvre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief 64, 9.7.1846. Weitere Korrespondenz zum Thema: Dies. an dies., Brief 68, 20.08.1846, Brief 69, 25.8.1846, Brief 71, 19.10.1846, Brief 72, 27.10.1846, Brief
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Mère Onésime gab ihren Widerstand erst im April 1848 auf.66 Da sie aber nur ehelich geborene farbige Mädchen in der Internatsschule zuließ, schloss sie weiterhin die überwiegende Mehrheit möglicher Schülerinnen aus.67
Begegnungen und Interaktionen nach der Emanzipation Beim Sklavenaufstand vom Mai 1848 wurden die Brüder und Schwestern und ihre Gebäude nicht nur nicht attackiert, sondern von den Aufständischen sogar beschützt.68 Frère Arthur, der große Achtung unter den Sklaven und Sklavinnen genoss, gelang es bei mehreren Anlässen, Aufständische zu beruhigen und Übergriffe auf Weiße zu verhindern.69 Mit den Brüdern von Ploërmel feierten die nouveaux libres ihre Befreiung in St. Pierre und Marin,70 mit den Schwestern jedoch nicht, zumindest berichteten diese nichts davon. Das zeigt Achtung vor den Ordensmitgliedern und das Interesse daran, die Schulen nicht zu gefährden, aber auch ein engeres Verhältnis zum männlichen Orden. Die Distanz zu den Schwestern beweist wiederum das gute Urteilsvermögen
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76, 3.1.1847, Brief 78, 26.1.1847. (Siehe auch: Philippe Delisle, Catholicisme, esclavage et acculturation dans le Caraïbe francophone et en Guyane au XIXe siècle, Matoury 2006, S. 27, 77). Für die Übernahme solcher Vorurteile spricht auch Folgendes: Schœlcher berichtete z. B. von einem Vorfall von 1846, bei dem Mère Onésime einer schwarzen Ordensschwester verboten hatte, ihre Familie in Fort-de-France zu besuchen. Die Schwester wurde während ihres Aufenthalts in Martinique vor der Öffentlichkeit versteckt (Gilbert Pago, Les femmes et la liquidation du système esclavagiste à la Martinique 1848–1852, Guadeloupe, Guyane, Martinique 1998, S. 201–202). Vgl. ASJC, Martinique: 2 A h 5, Mère Onésime Lefevre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief 95bis, 19.4.1848. Vgl. ASJC, Martinique, 2 A h 5, Mère Onésime Lefevre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief 95bis, 19.4.1848. 2 A h 6 Briefe 1840–1885, Victor Schœlcher an Anne-Marie Javouhey, 20.4.1849: Protest gegen den Ausschluss unehelich geborener Mädchen. Vgl. AFIC, Correspondance Antilles, Frère Ambroise Le Haiguet an den Abbé de La Mennais, 26.5.1848, ASJC, Martinique, 2 A h 6, Nr. 13, 10.7.1848, Sr. Julia Sr. Theótime Calz an Mère Rosalie. Vgl. Le Frère Arthur à Fort-de-France, in: Léo Elisabeth, L´abolition de l´esclavage à la Martinique, Mémoires de la Société d´histoire de la Martinique, Annales des Antilles 5 (1983), S. 135–136. Vgl. AFIC, Correspondance Antilles, Frère Ambroise Le Haiguet an den Abbé de La Mennais, 26.5.1848, 173-02-032, Frère Marcellin an den Abbé Jean de La Mennais, Marin, 06.06.1848, und Anhang.
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der Befreiten: In ihrer internen Korrespondenz stellen sich die Schwestern auf die Seite der Pflanzer und hießen den folgenden Arbeitszwang gut.71 Allerdings hatten etliche Brüder und ganz besonders ihr Oberhaupt, Frère Ambroise, eine widersprüchliche Einstellung zur unmittelbaren Abschaffung der Sklaverei und durchaus auch rassistische Vorurteile: „Das Land ist in einem ziemlich traurigen Zustand, man hat die Absicht sich zu verbrüdern, […] der Schwarze hatte die Oberhand, weil man nicht auf ihn schießen wollte, er ist verwegen und sehr unverschämt geworden und droht wieder zur Last zu werden, wenn die Dekrete zur Arbeit und ihre zukünftige Position ihnen nicht zusagen […] ich bin überzeugt, dass eine gut organisierte und aktive religiöse Unterweisung […] allein die Kolonien retten kann. Der Schwarze ist immer ein grobes Wesen und gilt weniger als Vieh. Sie, unser Vater, verstehen, wozu ein solches Wesen fähig ist, es ist schlimmer als ein Tier, weil es sogar einen Verstand zum Denken hat, aber woran?“72
Die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen ihrerseits waren mehr als an der Rache, die Frère Ambroise befürchtete, an Bildung für sich und ihre Kinder interessiert. Schon während des Wartens auf die Emanzipation hatten sie den Brüdern angekündigt, ihre Kinder in deren Schulen zu schicken, sobald die Freiheit dies erlaube.73 71 ASJC Martinique, 2 A h 6, Nr. 12, 24.5.1848, Mère Léontine an Mère AnneMarie Javouhey, 2 A h 5, Brief 97, Mère Onésime an Mère Anne-Marie Javouhey, 10.6.1848 ; 2 A h 5 Brief 102, dies. an dies., 31.7.1848. 72 „[…] daran, seine Leidenschaften und Rachegedanken zu befriedigen und fähig zu sein, alle Arten von Übel anzurichten ohne eine Idee vom Guten zu haben, weil man alles getan hat, um ihn von den Mitteln zu entfernen, die ihm Wissen und Furcht vor Gott einflößen könnten und ihn glauben zu lassen, ein Mensch wie die anderen zu sein. Man hat versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er vom Teufel abstammt […], dass er von der Rasse der Affen abstammt und dass er folglich nicht auf den Himmel hoffen kann. Dieser wilde Mensch ist heute frei, materiellen Interessen zu folgen und in der Lage, seinen Leidenschaften zu frönen, weil es keine Peitsche und keine Strafe mehr gibt, die ihn davon abhalten. Sicher werden nicht Drohungen ihn zur Vernunft bringen, es werden ihn weder mechanische Fähigkeiten und noch militärische Truppen zivilisieren, es werden auch nicht die Wissenschaften und industriellen Erfindungen sein, die aus ihm einen vernünftigen Mann und ein guten Familienvater machen, es wird vielmehr die Religion sein.“ AFIC, Correspondance Antilles, Frère Ambroise an den Abbé Jean de La Mennais, 6.6.1848. 73 Vgl. AFIC, 173-02-023, Frère Marcellin an den Abbé de La Mennais, Marin, 9.5.1848.
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Die 1848er-Revolutionsregierung hatte mit der Sklavenemanzipation in den Kolonien die Schulpflicht für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren eingeführt und angeordnet, dass in jeder Gemeinde je eine kostenlose Grundschule für Jungen und für Mädchen eingerichtet bzw. unterhalten werden sollte.74 Dazu war sie auf die Mitarbeit der Orden angewiesen. Der Vizestaatsekretär des Ministeriums für Marine und Kolonien, Victor Schœlcher, bat, paternalistisch und nicht antiklerikal wie im Mutterland, den Abbé de La Mennais, die „moralische Erziehung der Schwarzen“ unter der republikanischen Regierung fortzusetzen.75 Der Abbé de La Mennais stimmte zu und begrüßte die sofortige Emanzipation.76 Zu Beginn des Jahres 1849 gingen 3 700 Schüler in die Schulen der Frères de Ploërmel,77 sodass diese sich um mehr Räume und Lehrer bemühen mussten.78 Bruder Ambroise korrigierte 1850 seine pessimistische Einschätzung: „Seit ich in Martinique bin, habe ich niemals so viel Zuckerrohr angebaut, soviel Berge und Höhen gerodet gesehen. 50 Schwarze leisten heute mehr als 100 in der Zeit der Sklaverei. Der freie Mensch, der die Früchte seiner Arbeit genießt, empfindet eine besondere Vorliebe oder vielmehr Begeisterung dafür, sich zu bilden, seine materielle Lage zu verbessern, sich zu verheiraten, zur Erstkommunion zu gehen und seine Kinder zu unterrichten. Aber der colon ist ungläubig und sieht zähneknirschend, dass der Schwarze einen deutlichen Hang zur Religion und zur Veränderung der Gesellschaft hat.“79
74 Vgl. CAOM, FM, GEN, 153, 1278: Auszüge aus dem Moniteur Universel, Dekrete zur Abolition, Dekret zu Grundschulen und Schulpflicht vom 27.4.1848, S. 6–8. 75 AFIC, 155-02-006, Victor Schœlcher, Sous-Sécretaire d´État de la Marine, an den Abbé Jean de la Mennais, Paris, 20.3.1848. 76 Vgl. Correspondance Générale, Livre VI, Nr. 4244, Brief des Abbé Jean de La Mennais an den Minister für Marine und Kolonien, Ploërmel, 24.3.1848. 77 Vgl. Correspondance générale, Livre VI, 4389, Abbé de la Mennais an Félicité, 18.2.1849. 78 Vgl. AFIC, 151-03-009, Rapport sur l´état actuel des établissements des écoles des frères de Ploërmel, à la Martinique, Fort Royal, 1849. 79 „Der colon will Zuckerrohr und die Gewissheit, dass seine Stellung so vorteilhaft bleibt, wie sie vor der Freiheit war, das ist unmöglich, zumindest, ohne dass die Sklaverei wieder eingeführt wird, was Gott nicht gefallen würde. Dieser Mensch beginnt zu verstehen, dass er ein Mensch ist, dass er eine Seele hat, […] und dass er kein Tier und kein Affe ist, wie man ihn wirklich glauben machen wollte.“AFIC, Correspondance Antilles, Frère Ambroise an den Abbé de la Mennais, 9.10.1850.
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Die Schwestern beurteilten die Situation anders. Für sie stellte die zweite Französische Republik vor allem eine Gefahr dar, sie befürchteten eine Abschaffung des Ordens durch die Revolutionsregierung und wurden von dieser auch unter Druck gesetzt, unter anderem, indem die erste Revolutionsregierung von ihnen das Gebäude der Internatsschule für eine laizistische höhere Mädchenschule reklamierte.80 Anne-Marie Javouhey hoffte, dass die Schulen der Sœurs für die farbige Bevölkerung in den Kolonien die Rettung des Ordens seien.81 Die gewaltsamen Proteste der Sklaven und Sklavinnen und affranchis machten den Schwestern Angst. Sie sahen in der sofortigen Abolition eine Bedrohung der sozialen Ordnung und ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen, da die ruinierten Pflanzer die Schulgebühren nicht mehr aufbringen und ihnen nicht mehr ihre Töchter schicken konnten.82 Der Sklavenaufstand vom 22. Mai 1848 in Martinique war in den Augen der Schwestern von St. Joseph eine Revolte, in der sich aufgestauter Wut und Hass der Sklaven und Sklavinnen entluden, angezettelt von „mauvaises têtes“, denen eine Revolution ohne Terror missfiel.83 Die ehemaligen Sklaven ihrerseits schickten ihre Töchter in die Schulen der Schwestern und viele erwachsene Frauen nahmen an Abendkursen teil.84 Der Kindergarten der Schwestern auf der Pflanzung Pécoul ging ein, die Eltern brachten ihre Kinder lieber in die Schulen der Ortschaften, um sie von der Feldarbeit fernzuhalten.85 Gouverneur Gueydon, der aggressiv die konservative Politik des Kaiserreichs durchsetzte, belegte den Besuch der öffentlichen Schulen 1853 mit
80 Vgl. CAOM, FM, SG, MAR, 97, 860. Der konservative Gouverneur Bruat gab den Plan seines Vorgängers, des republikanischen Kommissars Perrinon, dann auf. 81 Vgl. Anne-Marie Javouhey, Correspondance, 1798–1833, Paris 1994, Band 3, 790, 791, 792, Mère Anne-Marie Javouhey an Mère Onésime Lefèvre, 12.3.1848, 14.3.1848, Mitte März 1848. 82 Vgl. ASJC, Martinique, 2 A h 5, Brief 97, 10.6.1848, Brief 99, 1.7.1848. (Mère Onésime an Mère Anne-Marie Javouhey aus St. Pierre), ASJC, Guadeloupe, 2 A g 4, Briefe vom 9.4 und 10.6.1848 (Mère Léonce Tristant an Mère Anne-Marie Javouhey aus Basse-Terre). 83 Vgl. ASJC, Martinique, 2 A h 6, Nr. 12, St. Pierre 24.5.1848, Mère Léontine an Mère Anne-Marie Javouhey. 84 Vgl. AFIC, 190-01-026, 31.7.1864 Rapport: Instruction Primaire. Questions particulières. Frères de l´Instruction Chrétienne; 190-01-027, 31.7.1864 Rapport: Instruction Primaire. Questions particulières, Sœurs St. Joseph de Cluny. 85 Vgl. AJSC, Martinique, 2 A h 5, Mère Onésime Lefèvre an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief 109, 10.10.1849, Brief 113, St. Pierre, 30.1.1850.
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einer hohen Einschreibegebühr.86 Nur wer die Schulgebühren zahlen konnte und mit der Kopfsteuer nicht im Rückstand war, durfte seine Kinder zur Schule schicken. Das Ergebnis dieser Politik war, dass die Zahl der Kinder von Landarbeitern in den Ordensschulen um fast zwei Drittel zurückging, was die Kolonialverwaltung als Erfolg betrachtete.87 Erst 1865 wurden die Schulgebühren reduziert, aber nicht vollständig abgeschafft.88 Dies führte zu einem neuen Anstieg der Schülerzahlen.89 Die Julimonarchie hatte während der letzten acht Jahre ihrer Existenz in Martinique acht, die zweite Republik in vier Jahren neun und das Kaiserreich in siebzehn Jahren drei Mädchenschulen neu gegründet.90 Wie oben beschrieben, beschränkten die Maßnahmen des bonapartistischen Regimes in Frankreich den Zugang zu Bildung. Nach Verkündung des Dekrets über die Schulgebühren wurden überall kleine private „Untergrundgrundschulen“ gegründet, in die die Landarbeiter und Landarbeiterinnen ihre Kinder schickten und über die leider nur spärliche Informationen in den Akten vorliegen. Die Kolonialadministration reagierte mit Gegenmaßnahmen, konnte aber den illegalen Schulbesuch nicht vollständig unterbinden.91 Das große Interesse der afromartiniquianischen Bevölkerung an jeder Form von Schule für ihre Kinder deutet daraufhin, dass die Eltern ihren Kindern andere berufliche Perspektiven durch Bildung eröffnen wollten, und die religiöse Unterweisung in den Ordensschulen nicht das Primärziel des Schulbesuchs darstellte. 86 Vgl. AFIC, 155-06-024, Arrêté sur le régime des écoles publiques, 21.11.1853. 87 Vgl. Nicolas, Histoire de la Martinique, II, S. 46. AFIC, 189-02-058, Brief des Directeur de l´Intérieur an den Gouverneur von Martinique, 9.2.1855; 1853: 5.806, 1854: 2.375 Schüler/innen in den Ordensschulen. 88 Vgl. AFIC, 189-02-129, Der Gouverneur von Martinique an den Minister für Marine und Kolonien, 26.10.1865. 89 Vgl. AFIC, 190-01-018, Der Gouverneur von Martinique an den Minister für Marine und Kolonien, 27.2.1857. 2. Semester 1856: Die Frères de Ploërmel und die Sœurs de St. Joseph haben 1 509 Schüler bzw. 1 186 Schülerinnen in ihren Schulen, zusammen 2.695; 190-01-041, ders. an dens., 28.01.1868, 2. Semester 1867: Die Frères de Ploërmel und die Sœurs de St. Joseph haben 2 415 Schüler bzw. 1 720 Schülerinnen in ihren Schulen, zusammen 4 135. 90 Vgl. Pago, Lumina Sophie dite „Surprise“, S. 43. 91 Vgl. AFIC, 189-01-027, Arrêté sur la police des Ecoles privées des Gouverneur Gueydon, 20.3.1854: Das Dekret untersagt jeden Schulbetrieb ohne behördliche Erlaubnis, „salles d’asyle“ (Kindergärten) dürfen nur Kinder bis 6 Jahren aufnehmen, wo es eine Schule gibt, und bis 8, wo es keine gibt. 189-02-031 Brief des Gouverneurs an den Minister für Marine und Kolonien, Fort-de-France 27.03.1854.
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Nach der Sklaverei stieg die Heiratsquote, viele nouveaux libres legalisierten ihre Lebensgemeinschaften.92 Dass die Eheschließungsrate aber wenige Jahre später wieder deutlich sank93 (und Lebensgemeinschaften und matrifokale Familien dominierten), kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die ursprüngliche Zunahme nicht auf der Übernahme katholischer Moralvorstellungen beruhte, sondern auf dem Wunsch, den sozialen Status als Freie auch durch eine legitime Ehe und eine geschützte Familie zu bekräftigen. Dann aber zerbrachen die Hoffnungen der Emanzipation, und es stellt sich die Frage, warum Männer heiraten sollten, die kein Land bekamen, auf dem sie mit einer Familie siedeln konnten, keine Arbeit, von der sie Frau und Kinder ernähren konnten, und die sowieso nichts zu vererben hatten. Stattdessen mussten sie von Plantage zu Plantage wandern, um bessere Arbeitsbedingungen zu finden. Und warum sollten Frauen heiraten, die weiter auf den Plantagen arbeiten und ihre Kinder selbst ernähren mussten? Eine Ehe bedeutete, mit jemandem zusammen zu sein, der Gehorsam verlangte, diesen vielleicht mit Gewalt durchsetzte und Zugriff auf die Einnahmen aus Nebenerwerbslandwirtschaft und Kleinhandel hatte. Das christlichen Familienmodell, das nicht ihrer Lebensrealität entsprach, nahmen viele Afromartiniquianer und -martiniquianerinnen nicht an, ohne dass wir wissen, ob und welche der genannten möglichen Motive die Gründe dafür waren. Genauso wenig akzeptierten sie christlichen Gehorsam und die Idee von Gerechtigkeit erst in einem anderen Leben, wie an den permanenten Unruhen nach der Abolition und dem 1870er-Aufstand zu sehen ist. Über diesen schrieben die Schwestern: „Unser Leben war seit dem 22. September gestört. Die Proklamation der Republik war Anlass für einen gewaltsamen Aufstand der Farbigen gegen die Weißen. Am Tag nach der Proklamation, brachen Revolte und Plünderungen aus, in Rivière-Pilote, in Marin, in Sainte-Anne, in Vauclin, dort haben unsere Schwestern sehr traurige Tage inmitten von Piken, Macheten und Gewehren verbracht, dank dieser wurden die Orte jedoch verschont, d. h. dass sie
92 Vgl. AFIC, 173-02-082, Frère Libère an den Abbé Jean de La Mennais, 26.8.1849. 93 Vgl. Cottias, Mariage et citoyenneté, S. 332. Die Heiratsquote lag 1845–1854 bei 10,6 von 1 000, 1855–1866 bei 4,9 von 1 000 und 1877–1881 bei 3,4 von 1 000.
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den Bränden entrannen […]. Ich beeile mich, ihnen zu sagen, dass die Kirchen, die Priester und die Nonnen respektiert wurden, aber was für Gefühle und andauernde Angst hat das ausgelöst!“94
Von den Ursachen des Aufstands – der repressiven Arbeitsgesetzgebung, der Blockade des Zugangs zu Land, der Parteilichkeit einer rassistischen Justiz – war nirgendwo die Rede. Die Schwestern scheinen von den Menschen, die sie unterrichteten, nur wenig verstanden zu haben. In der Dritten Französischen Republik von 1870 mussten die Frères de Ploërmel im Zuge der antiklerikalen Politik 1882 ihre Schulen aufgeben (die Sœurs de St. Joseph 1883–1884).95 Der französische Antiklerikalismus wurde von der farbigen Mittelschicht Martiniques positiv aufgenommen und mit einer zusätzlichen Argumentationslinie versehen: Der katholischen Kirche wurde vorgeworfen, die Sklaverei nicht zu bekämpfen bzw. nicht bekämpft zu haben. Den Missionsbrüdern, vor allem aber den Schwestern vor Ort wurde vorgehalten, farbige Schüler und Schülerinnen in ihren Bildungseinrichtungen zu benachteiligen.96 Gleichzeitig gab es auch Proteste von Frauen und Kindern aus den schwarzen Unterschichten, die sich für den Verbleib der Frères de Ploërmel und deren Schulen in der Kolonie einsetzten.97
94 „Der Gouverneur rief die jungen Leute in Saint-Pierre und Fort-de-France zusammen, die städtische Miliz organisierte sich zur Sicherung der beiden Städte. […] Die jungen Leute meldeten sich alle zu den Waffen, verfolgten tapfer die zahlreichen Aufständischen. Mehrere dieser Unglücklichen sollen in Fort-deFrance hingerichtet werden, viele wurden an Ort und Stelle getötet und 403 sind im Gefängnis, in den Banden waren es mehr 1 000, der Anführer, ein alter Mulatte mit vielen Kindern, ist gestern in St. Esprit verhaftet worden. […] Es gibt nur ein Opfer unter den Freiwilligen, aber ein ausgewähltes Opfer, ein junger Mann von 23 Jahren, aus guter Familie und von engelsgleicher Frömmigkeit. Als er erfuhr, dass sein Mörder gefasst wurde, hat er verlangt, dass man diesem Elenden sage, dass er ihm vergebe“. ASJC, Martinique, 2 A h 9.8, Evênements de la Martinique du 22 de Septembre au 2 Octobre 1870. 95 Vgl. Delisle, Histoire religieuse, S. 274–278. 96 Vgl. Philippe Delisle, L´anticléricalisme dans le Caraïbe francophone. Un „article importé“?, 1870–1911, Paris 2005, besonders S. 79–80. 97 Vgl. CAOM, FM SG MAR, 149, 1342, „Affaires politiques. Incidents survenus au Macouba et à Fort-de-France. Frères de Ploërmel. Rébellion contre la gendarmerie“; Delisle, L´anticléricalisme, S. 61–65.
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Frères de Ploërmel und Sœurs de St. Joseph: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Wie aus den vorherigen Abschnitten deutlich wird, verhielten sich Männerund Frauenorden nicht gleich, obwohl es Gemeinsamkeiten gab. Das Bildungsangebot beider Orden enthielt unabhängig von den Intentionen ihrer Mitglieder ein emanzipatorisches Potenzial, das von den (ehemaligen) Sklaven und Sklavinnen für sich und ihre Kinder strategisch genutzt wurde – zur Selbstbehauptung während der Sklaverei und zur Verbesserung ihrer sozialen Lage danach –, ohne dass sich die Protagonisten in ihrer Lebensführung den katholischen Idealen unterwarfen oder kulturelle und religiöse Praktiken afrikanischen Ursprungs aufgaben. Beide Orden betrachteten Letztere aber als auszumerzenden Aberglauben. Es ging ihnen um Kulturtransfer in eine Richtung: von Europa nach Afrika und in die Karibik. Die Orden waren keine cultural broker im Sinne einer Vermittlung zwischen den Kulturen aufgrund der Kenntnis beider Seiten. Sie interpretierten die Verweigerung der Unterwerfung unter europäisch-christliche Arbeitsethik und Sexualmoral durch die afromartiniquianische Bevölkerung nicht als rationales Handeln, sondern als Faulheit, Festhalten am Aberglauben und Hang zur Promiskuität. Unterschiedlich dagegen war das Verhältnis der Ordensmitglieder zur Kolonialmacht. Die Abolition wurden von den Brüdern – wenn auch individuell in sehr unterschiedlichem Maße – begrüßt, von den Schwestern eher nicht. Allerdings lehnten letztere weniger die Abschaffung der Sklaverei ab als die republikanische Regierung, die diese vornahm und vor deren Maßnahmen sie sich, nicht ganz zu Unrecht, fürchteten. Die Frères de Ploërmel kritisierten, z. T. sehr deutlich, die Einschränkungen des Schulbesuchs für die Kinder ehemaliger Sklaven und Sklavinnen schon, als Gouverneur Bruat 1849 Jugendliche von mehr als 14 Jahren aus den öffentlichen Schulen ausschloss.98 Der Abbé de La Mennais protestierte gegen noch weiter gehende Pläne in Guadeloupe, sogar Kinder über 11 Jahren vom Schulbesuch auszuschließen. Warum habe die Kolonialverwaltung Sklavenkinder in die Schule geschickt, um eine Ausbildung zu bekommen, die sie ihnen als Freie jetzt verweigere? Diese Maßnahme werde eine Revolte der schwarzen Bevölkerung auslösen.99 98 AFIC, 155-03-006, 5.5.1849: Arrêté fixant l´âge des enfants admis dans les écoles publiques gratuites. AFIC, 173-03-009, Frère Colombini an den Abbé de La Mennais, Lamentin, 15.3.1850. 99 Correspondance générale, Livre VI, 4672. Abbé de La Mennais an den Minister für Marine und Kolonien, 30.11.1850.
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Frère Ambroise kritisierte, dass man die ehemaligen Sklaven an die Plantagen binden und ihnen verbieten wolle, Land zu kaufen und zu pachten und sich damit eine eigene Existenz zu schaffen. Außerdem verurteilte er die Haltung der colons, die ihren Arbeitern sogar religiöse Erziehung vorenthalten wollten, und auch die Kolonialverwaltung, die oft den Wünschen der Pflanzer nachgebe.100 Von den Schwestern von St. Joseph ist keine Kritik an den Maßnahmen der Kolonialverwaltung zur Reduzierung der Schülerzahlen überliefert. Sie fühlten sich durch die große Nachfrage eher überlastet. Zwangsarbeit lehnten die Schwestern nicht ab. Die Plantagenwirtschaft sollte unbedingt funktionieren, um die Emigration der weißen Familien aufzuhalten.101 Dadurch, dass die Schwestern von St. Joseph kaum auf den Plantagen missionierten und eine Internatsschule für die Töchter der Oberschicht unterhielten, die einerseits für die Finanzierung der gesamten Ordensaktivitäten wichtig war, andererseits zu persönlichen Bindungen der Schwestern an die soziale Elite der Insel führte, war ihr Verhältnis zu den Sklaven und Sklavinnen wesentlich distanzierter. Aber auch innerhalb des Frauenordens gab es – etwa zwischen den Niederlassungen in Französisch-Guayana102 und Martinique – unterschiedliche Positionen. Das Siedlungsprojekt der Ordensgründerin Anne-Marie Javouhey in Französisch-Guayana, dessen Bewertung – handelte es sich um die Verwirklichung einer sozialen Utopie mit emanzipatorischen Charakter oder um eine autoritäre, hierarchische vormoderne Herrschaft – umstritten ist,103 prägt das heutige Selbstbild der Schwestern als Abolitionistinnen. Ab 1827 hatten sie versucht, eine Region im Nordosten Französisch-Guayanas am Fluss Mana zu kolonisieren, nachdem der transatlantische Sklavenhandel verbo100 AFIC, Correspondance Antilles, Frère Ambroise an den Abbé Jean de La Mennais, 9.10.1850. 101 ASJC Martinique, 2 A h 5, Mère Onésime an Mère Anne-Marie Javouhey, Brief 97, 10.6.1848. Brief 102, 31.7.1848. Brief 104, 25.9.1848, Brief 107, 11.7.1849. Brief 108, 3.9.1849. 2 A h 6, Nr. 13, Fort-de-France, 10.7.1848, Sr. Julia und Sr. Theótime Calz an Mère Rosalie. 102 Dieser Abschnitt stützt sich auf: Deslisle, Histoire religieuse, S. 54–73. 103 Den emanzipatorischen Charakter betont Pascale Cornuel, in: Anne-Marie Javouhey et les sœurs de Saint-Joseph de Cluny à Mana, Guyane française (1836– 1846). Une mission maternaliste? in: Jean Pirotte (Hg.), Les conditions matérielles de la mission. Constraintes, dépassements et imaginaires (XVIIe–XXe siècles), Paris 2005, S. 187–207. Einen kritischen Blick bietet: Deslisle, Histoire religieuse, S. 54–73.
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ten worden war. Der Ordensgründerin schwebte eine von der korrupten und libertären Kolonialgesellschaft abgeschottete katholische Mustersiedlung vor. Nachdem die Mehrheit ihrer aus Europa mitgebrachten Arbeiter ihre Siedlung verlassen hatte, kaufte Anne-Marie Javouhey Sklaven und Sklavinnen. Nach einer Vereinbarung von 1835 mit der französischen Regierung beschäftigte sie bis 1837 nach Mana verbrachte engagés, 227 Männer und 250 Frauen, die im illegalen Sklavenhandel aufgegriffen, aber nicht sofort freigelassen worden waren, sondern zunächst sieben Jahre Dienst bei öffentlichen Arbeiten leisten mussten. Währenddessen sollten sie christianisiert und auf die Freiheit vorbereitet werden. Die ihr persönlich gehörenden Sklaven und Sklavinnen ließ Anne-Marie Javouhey 1838 frei, unter der Bedingung, dass sie noch weitere sieben Jahre in Mana arbeiteten. Betrieben wurde auf den Parzellen, die den Sklaven und Sklavinnen und engagés zunächst zur Selbstversorgung zugewiesen wurden und mit ihrer Freilassung in ihr Eigentum übergingen, vor allem Landwirtschaft zur Selbstversorgung. Sklaven und Sklavinnen und engagés mussten fünf Stunden am Tag auf den Feldern der Schwestern arbeiten, dann durften sie ihre eigenen bestellen. Die nouveaux libres arbeiteten zwei Tage pro Woche auf den Feldern der Schwestern gegen Entgelt, während ihre Frauen auf dem eigenen Land tätig waren – damit aber im Gegensatz zu ihren Männern nicht über Geld verfügten und von diesen abhängig wurden. Die 85 Ehen, die der Gouverneur von Guyana in seinem Bericht von 1838 vermeldete, wurden vor allem unter den nouveaux libres, den endgültig Befreiten, geschlossen,104 ein Indiz dafür, dass die Heirat für sie etwas anderes als die Erfüllung der katholischen Moralvorstellungen bedeutete, nämlich die Bekräftigung ihres neuen Status. Dass wenige Exportprodukte angebaut wurden, war ein wesentlicher Kritikpunkt der Pflanzer, der dazu führte, dass dem Orden auch bald die Unterstützung des Staates entzogen wurde. Dazu kamen Differenzen mit der Kirchenhierarchie, weil der Orden zu selbstständig agierte. Nachdem die Arbeitspflichten beider Gruppen abgelaufen waren, entzogen sich die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen und engagés der Kontrolle der Schwestern von St. Joseph, besonders nach Anne-Marie Javouheys Abreise 1843. 1846 wurde der Sonderstatus der Siedlung aufgehoben. Die Schwestern begriffen das Projekt Mana mit der schrittweisen, vorbereiteten Abolition sicher als emanzipatorisches Projekt im religiösen und weltlichen Sinn – laut Anne-Marie Javouhey bewiesen sie damit, dass „ihre Rasse, ihre 104 Vgl. Annales Historiques, S. 780–781, Rapport du M. Ducamper, Gouverneur de la Guyane française sur l´établissement de Mana.
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Farbe nicht ganz nicht ganz von den Qualitäten entblößt ist, die den Mensch der Gesellschaft ausmachen“.105 Es darf aber bezweifelt werden, dass alle Afrikaner und Afrikanerinnen die Zwangsarbeit, Körperstrafen und totale Kontrolle in der Siedlung als befreiend empfanden. Einige Konvertierte scheinen überzeugte Katholiken geworden zu sein und Anne-Marie Javouhey dankbar als ihre Ersatzmutter betrachtet zu haben.106 Aber die Auflösung der von den Schwestern oktroyierten sozialen Ordnung nach dem Ende der Kontrakte deutet darauf hin, dass es sich dabei um eine Minderheit handelte. Die anti-abolitionistische Haltung der Schwestern in Martinique stand im Widerspruch zum Projekt in Mana, das, wenn es sich auch von der republikanischen Sklavenemanzipation unterschied, doch auf die absehbare Abschaffung der Sklaverei zielte. Die Alternative einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft der nouveaux libres auf eigenem Land zur Plantagenwirtschaft auf weißem Großgrundbesitz wurde hier nicht erwogen. Neben Unterschieden in der persönlichen Auffassung von Anne-Marie Javouhey und Onésime Lefebvre spielte offenbar eine Anpassung an die lokalen Bedingungen und das soziale Umfeld eine wichtige Rolle, ähnlich wie sie Claus Stolberg für das unterschiedliche Agieren der Herrnhuter Missionare in der britischen und dänischen Karibik nachgewiesen hat. Diese hielten Sklaven und Sklavinnen und arrangierten sich in Britisch-Westindien ebenso mit der Abolition wie in Dänisch-Westindien mit der Beibehaltung der Sklaverei, stützten aber immer die Kolonialmacht.107
105 Anne-Marie Javouhey, Correspondance, Band 2, 429, 25.7.1840 an den Admiral Rosamel (Minister für Marine), S. 336. 106 Vgl. AJSC, H 10 Correspondance d´anciens esclaves: Briefe von Jean Zéphir, von Mère Javouhey 1836 freigelassener Peuhl, an Mère Javouhey (7.11.1844, 24.4.1845); Briefe von Marie Souffrance, „petite esclave noire de Mana“, an Mère Javouhey, 9.1.1845. 107 Claus Füllberg-Stolberg, Britisch- und Dänisch-Westindien nach der Sklaverei, in: Ulrike Schmieder (Hg.) Postemanzipation und Gender: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 17 (2007) 1, S. 38–78; Claus Füllberg-Stolberg, The Moravian Mission and the Emancipation of Slaves in the Caribbean, in: Ulrike Schmieder/Katja Füllberg-Stolberg/ Michael Zeuske (Hg.), The End of Slavery in Africa and the Americas. A Comparative Approach, Berlin 2011, S. 81–102.
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Katholische und protestantische Mission: Unterschiede und Gemeinsamkeiten Während die Rolle der protestantischen Missionare, der Baptisten und Methodisten, auf den britischen Antillen und der Herrnhuter in der britischen und dänischen Karibik gut erforscht ist,108 so steht die Erforschung der katholischen Mission in der französischen Karibik noch am Anfang. Die Arbeiten von Latimer und Peabody beziehen sich auf die frühe jesuitische Mission.109 Umfassend, aber nur begrenzt kritisch hat sich nur Philipp Delisle110 mit der Geschichte von Kirche, Mission und Bildungsorden in der französischen Karibik befasst. Daneben gibt es vor allem hagiografische ordensgeschichtliche Arbeiten.111 Wie die Herrnhuter und im Gegensatz zu Quakern, Baptisten, Methodisten und Presbyterianern oder einzelnen, oben erwähnten abolitionistischen französischen Klerikern, waren die Angehörigen der katholischen Bildungsorden keine radikalen Gegner der Sklaverei. Der Unterschied zwischen protestantischen und katholischen Missionaren bestand also nicht darin, dass die einen Abolitionisten waren und die anderen nicht (wobei die Anglikanische Staatskirche mit Ausnahme einzelner Mitglieder das Sklavereisystem sogar unterstützte und verteidigte und bis 1838 Sklaven bzw. apprentices besaß)112. Unterschiede bestanden auf zwei getrennten Ebenen: Während die meisten protestantischen Missionare auf eigene Initiative (einzelner Mitglieder oder Orden) in die Karibik kamen, um die Sklaven und Sklavinnen zu evangelisieren, unterrichteten die katholischen Bildungsorden auf Martinique Skla108 Zum Forschungsstand: ebd. Siehe auch: Mary Turner, Slaves and Missionaries. The Disintegration of Jamaican Slave Society, 1787–1834, Kingston 1998; Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination, 1830–1867, Chicago 2002. 109 Vgl. James Latimer, The Foundations of Religious Education in the French West Indies, in: The Journal of Negro Education 40 (1971) 1, S. 91–98; Sue Peabody, „A Dangerous Zeal“: Catholic Missions to Slaves in the French Antilles, 1635–1800, in: French Historical Studies 25 (2002) 1, S. 53–90. 110 Vgl. Delisle, Renouveau missionaire; ders., Histoire religieuse. Sonst nur: Nelly Schmidt, Suppression de l´esclavage, système scolaire et réorganisation sociale aux Antilles: Les Frères de l´instruction chrétienne, témoins et acteurs, instituteurs des nouveaux libres, in: Revue d´Histoire moderne et contemporaine 31 (1984) 4, S. 203–244. 111 Vgl. Annales Historiques. Lecuir-Nemo, Anne-Marie Javouhey. 112 Vgl. Travis Glasson, Mastering Christianity. Missionary Anglicanism and Slavery in the Atlantic World, Oxford 2012, besonders S. 199–232.
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ven und Sklavinnen und Farbige auf Bitten der französischen Regierung, mit deren finanzieller Unterstützung und unter ihrer Aufsicht. Zugleich waren sie den Vorgaben aus Rom unterworfen, und der Papst hatte in dem Zeitraum, der hier untersucht wurde, zwar den Sklavenhandel, nicht aber die Sklaverei verurteilt. Allerdings zeigt das Projekt Anne-Marie Javouheys in FranzösischGuayana, dass der Handlungsspielraum des/der Einzelnen in weit entfernten und staatlich wie kirchlich wenig kontrollierten Gebieten doch recht groß sein konnte. Der andere Unterschied betrifft die Art der Missionierung. Die katholische Missionierung durch gemeinsames Beten, Singen, Auswendiglernen des Katechismus und Teilnahme an der Messe sowie anderen katholischen Riten war weit weniger intensiv als die protestantische. Sie war auch nicht mit so engmaschiger sozialer Kontrolle und ständiger öffentlicher Gewissenerforschung – mit der Folge des Ausschlusses aus der Gemeinde bei Verstößen gegen den Verhaltenskodex – verbunden wie die protestantische, z. B. der Herrnhuter.113 Die katholische Mission kam ohne die Alphabetisierung der Missionierten aus, während Protestanten die Bibel lesen können mussten. Obwohl die Frères de Ploërmel Religion und Grundschulbildung lieber zusammen vermitteln wollten, ließen sie sich schließlich auf eine oberflächliche Katechese der ländlichen Bevölkerung ohne Vermittlung von Bildung ein.114 Es wäre freilich zu einfach, vom Beispiel Martiniques auf die katholische Mission in der gesamten Karibik zu schließen, dazu waren die Bedingungen in den verschiedenen Kolonialreichen, zu denen die Inseln gehörten, zu unterschiedlich. Das zeigt schon ein Blick nach Kuba: Im katholischen Kuba wurden wie in der französischen Karibik Sklaven und Sklavinnen getauft und durften – nach Gesetzen, die in der Praxis oft nicht eingehalten wurden – heiraten. Der Priester Nicolás Duque de Estrada verfasste sogar einen – in der Praxis selten 113 Vgl. Wolf Behnsen, Die „Zivilisierungsmission“ der Herrnhuter Kirche in Antigua im 19. Jahrhundert. Soziologische und historische Aspekte der Post-Emanzipationszeit, Magisterarbeit, Leibniz Universität Hannover 2010; Jirka Bethke, Die Emanzipationsrebellion der Sklaven 1831/32 in Jamaika, Magisterarbeit, Leibniz Universität Hannover 2010. 114 Vgl. CAOM, FM SG MAR, 172, 1570, Brief von Frère Arthur, an den Minister für Marine, Algerien und Kolonien vom 14.1.1871, Brief des Gouverneurs von Martinique an denselben Minister, 25.1.1871. Danach nahmen 2.938 Jungen, 2.126 Mädchen am Unterricht in den Ordensschulen teil, 30.297 Erwachsene beiderlei Geschlechts erhielten religiöse Unterweisung – aber eben keine Schulbildung – auf den Pflanzungen.
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benutzten – Katechismus zur religiösen Unterweisung der Sklaven. Darin bestraft Gottvater beim Jüngsten Gericht wie der Sklavenaufseher am Ende des Tages diejenigen, die ihre Pflichten nicht erfüllt hatten. Sklaven sollten arbeiten, gehorchen und die Strafen des Aufsehers klaglos hinnehmen.115 Das klingt sehr nach dem, was gerade über die Praxis der katholischen Sklavenmission in Martinique gesagt wurde. Es gab aber keine Missionsorden auf Kuba, die aus eigenem Antrieb oder im staatlichen Auftrag die Sklavenemanzipation durch eine Christianisierung vorbereiten sollten. Nur unter Antonio María Claret y Clará (1808–1870, Erzbischof von Santiago de Cuba 1850–1857) gab es Mitte des 19. Jahrhunderts intensivere Christianisierungsbemühungen in Bezug auf die weiße und afrokubanische Bevölkerung, zu denen auch die Legalisierung von 9 000 Paarbeziehungen innerhalb und zwischen den interethnischen Gruppen gehörte. Die Verheiratung von interethnischen Paaren traf auf heftigen Widerstand der weißen Bevölkerung, die auf der Rassentrennung beharrte, die in einem Attentatsversuch auf Claret 1856 gipfelte. Der einheimische Klerus lehnte die Moralisierungspolitik Clarets und seiner Mitstreiter ab, 116 zumal sich diese auch gegen die Konkubinate der Priester richtete.117 Dass Claret kein Gegner der Sklaverei war und nichts im Hinblick auf deren Abolition unternahm, nutzte ihm bei der weißen Bevölkerung Kubas wenig. Diese wusste sehr wohl, dass das Herrschaftssystem Sklaverei, vor allem die kubanische Massensklaverei, nur funktionierte, wenn die Versklavten und ihre Nachkommen rechtlos blieben, durch eine Ehe aber erwerben Frau und Kinder Rechte. Die Abschaffung der Sklaverei auf Kuba 1886 ging nur teilweise auf die Tätigkeit von Abolitionisten im Mutterland zurück. Diese waren wie die französischen und brasilianischen stärker antiklerikal-liberal orientiert als die zutiefst religiösen Abolitionisten in den protestantischen USA und Großbri115 Vgl. Javier Laviña (Hg.), Doctrina para negros. Nicolás Duque de Estrada, Explicación de la doctrina cristiana acomadada a la capacidad de los negros bozales, Barcelona 1989, S. 50–52, S. 69. (Text des Katechismus: S. 63–120). 116 Vgl. Lázaro Iriarte (Hg.), Adoáin, Esteban, Memorias. Cuarenta años de campañas misioneras en Venezuela, Cuba, Guatemala, El Salvador, Francia y España 1842–1880, Caracas 2000. 117 Vgl. Rafael E. Tarragó, All Humankind is One: Archbishop Claret and Racism in Nineteenth-Century Cuba, in: Mark L. Grover (Hg.), Religion and Latin America in the Twenty-First Century: Libraries Reacting to Social Change, Austin1999, S. 45–57; Archivo Histórico Nacional Madrid (AHN), Ultramar, Cuba Gobierno, legajo Leg. 1662, caja 1, exp. 7. Beschwerden über den Erzbischof und seine Missionare und ihre Förderung „ungleicher Ehen“, 1852–1856.
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tannien, was natürlich auch in der akzeptierenden Position der katholischen Kirche gegenüber der Sklaverei begründet war.118 Die spanischen Abolitionisten erreichten während des Sexenio Democrático, des „demokratischen Jahrsechst“ (1868–1874), zwar die Verabschiedung eines „Gesetzes des freien Bauchs“ für Kuba (1870, die Ley Moret, die Kinder von Sklavinnen wurden für frei erklärt) und setzten die Abolition der Sklaverei auf Puerto Rico 1873 durch.119 Damit aber die mächtige spanisch-kubanische Sklavenhalterlobby nachgab, musste noch mehr passieren. Der Zehnjährige Krieg (1868–1878) der Kubaner um ihre Unabhängigkeit hatte die Zuckerplantagenwirtschaft, vor allem im Osten der Insel, ruiniert. Die unabhängige kubanische Republik hatte auf ihrem Gebiet die Sklaven freigelassen und für ihre Truppen rekrutiert. Die spanische Regierung musste im Frieden von Zanjón deren Freiheit akzeptieren und ließ auch auf spanischer Seite kämpfende Sklaven-Soldaten frei.120 Damit war das Sklavereisystem nicht mehr haltbar. Die spanischen Sklavenhändler, Sklavenhalter und Plantagenbesitzer transferierten ihr Geld in die Metropole121, und die Regierung verkündete 1880 die Abolition mit einer Übergangszeit zwischen Sklaverei und Freiheit, dem patronato, der bis 1888 geplant und bereits 1886 beendet wurde. Damit wollte die spanische Regierung wohl auch den Anhängern der Unabhängigkeit schaden (womit sollten diese jetzt noch die afrokubanische Bevölkerung für sich gewinnen?) und sich die Unterstützung der ehemaligen Sklaven und Sklavinnen sichern. Darauf lassen jedenfalls die Antidiskriminierungsmaßnahmen der 1890er-
118 Zum Vergleich von Abolitionismen siehe auch: Seymour Drescher, British Way, French Way: Opinion Building and Revolution in the Second French Slave Emancipation, in: The American Historical Review 96 (1991) 3, S. 709–734; Celia Azevedo, Abolitionism in the United States and Brazil. A Comparative Perspective, New York/London 1995. 119 Vgl. Christopher Schmidt-Nowara, Empire and Antislavery: Spain, Cuba and Puerto Rico, 1833–1874, Pittsburgh 1999, S. 100–160. 120 Vgl. Rebecca J. Scott, Slave Emancipation in Cuba. The Transition to Free Labor 1860–1899, Princeton 1985, S. 114–115. 121 Vgl. Angel Bahamonde/José Cayuela, Hacer las Américas. Las élites españolas en el siglo XIX, Madrid 1992; Martín Rodrigo y Alharilla,Trasvase de capitales antillanos: azúcar y tranformación urbana en Barcelona en el siglo XIX, in: Antonio Santamaría García/Consuelo Naranjo Orovio (Hg.), Más allá del azúcar. Política, diversificación y prácticas económicas en Cuba, 1878–1930, Aranjuez (Madrid) 2009, S. 127–158; Michael Zeuske/Orlando García Martínez, La Amistad de Cuba. Ramón Ferrer, contrabando de esclavos, captividad y modernidad atlántica, in: Caribbean Studies 37 (2009), 1, S. 97–170.
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Jahre schließen.122 Die Rechnung ging nicht auf, Afrokubaner stellten einen großen Teil der Truppen im Unabhängigkeitskrieg 1895–1898.123 Während des Patronats sollten die Besitzer (!) zwar für die (religiöse) Erziehung der Kinder der patrocinados sorgen. Eine Missionsinitiative gab es nicht, obwohl die christliche Erziehung der Sklaven in der Reformkommission für Übersee 1866 erwogen worden war.124 Die Missionierung durch den katholischen Klerus hätte auch kaum Chancen gehabt, da dessen deutliche Parteinahme für die spanische Kolonialmacht und die Sklaverei sowie der vorherige Verzicht auf die Sklavenmissionierung ihn den Kubanern, besonders den Afrokubanern, stark entfremdet hatte.125 Die gemeinsame anti-abolitionistische und paternalistische Haltung des französischen Klerus auf Martinique und des spanischen Klerus auf Kuba hatte also in unterschiedlichen politischen Konstellationen – der staatlichen Missions- und Bildungspolitik Frankreichs, zu der es in Spanien kein Pendant gab, ebenso wie der Verknüpfung von Unabhängigkeitskampf und Abschaffung der Sklaverei in Kuba, die auf Martinique nicht existierte, – unterschiedliche Auswirkungen.
122 Vgl. Rafael M.de Labra, La raza de color de Cuba, Madrid 1894, S. 33–35. 123 Vgl. Ada Ferrer, Insurgent Cuba, Race, Nation and Revolution, 1868–1898, Chapel Hill, London 1999; Michael Zeuske, Die diskrete Macht der Sklaven. Zur politischen Partizipation von Afrokubanern während des kubanischen Unabhängigkeitskrieges und der ersten Jahre der Republik (1895–1908) – eine regionale Perspektive, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Sozialforschung 7 (1997) 1, S. 32–98. 124 Vgl. Manuel Maza Miquel, Esclavos, patriotas y poetas a la sombra de la cruz, Cinco ensayos sobre catolicismo e historia cubana. Santo Domingo 1999, S. 107; AHN, Ultramar, Cuba, Gobierno, legajo 288, exp. 16, Junta Informativa de Ultramar, Extracto de las contestaciones dadas al interrogatorio sobre la manera de reglementar el trabajo de la población de color y asiática, y los medios de facilitar la inmigración que sea más conveniente en las mismas provincias, Madrid 1869. 125 Vgl. Alberto Segreo Ricardo, Iglesia y nación en Cuba (1868–1898), Santiago de Cuba 2010.
Der Streit um Englisch als Unterrichtsfach in lutherischen Missionsschulen Südafrikas (1895–1910) Impulse für eine Geschichte der Resonanzen Kirsten Rüther
Es existieren zahlreiche Ansätze, um nationale Geschichtsbetrachtung zu entgrenzen und in neuen Konturen zu fassen. Dass es sinnvoll ist, Kolonie und Metropole aufeinander zu beziehen, ist heute weitgehend akzeptiert.1 Ebenso ist eindrücklich demonstriert worden, dass Entwicklungen in den deutschen Kolonien und Diskurse über sie prä- und postkolonial auf Preußen und das Deutsche Reich zurückwirkten.2 Nicht zuletzt wird mit solchen Ansätzen den aktuellen Herausforderungen globalisierter Sichtweisen Rechnung getragen. Und doch wirken auch in diesen erweiterten Geschichtsbetrachtungen nationalgeschichtliche Paradigmen immer noch nach. Gerade die Geschichte der Christianisierung, oft auf eine Geschichte der Missionierung reduziert, wird meist zu stark in europäischen Bezügen gesehen – und das, obwohl gerade sie nicht in nationalstaatlich abgrenzbaren Geschichten oder kulturell hermetisch abgeschlossenen Räumen stattfand, sondern sich als religiöse Interaktion in globalem Rahmen entfaltete.3 Im Folgenden möchte ich beispielhaft eine solche religiöse Interaktion untersuchen – und zwar zwischen zwei Generationen deutscher Missionare, die, zum einen aus dem ländlichen Hermannsburg und zum anderen aus Berlin kommend, jeweils auf eigene Art mit der lokalen Bevölkerung im süd1 Vgl. Ann Laura Stoler/Frederick Cooper, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, S. 1–56. 2 Vgl. George Steinmetz, The Devil’s Handwriting. Precoloniality and the German Colonial State in Qingdao, Samoa, and Southwest Africa, Chicago 2007. In der Geschichtsschreibung zum kolonialen Großbritannien werden noch deutlicher wechselseitige Wirkungen und auslösende Momente in den Kolonien betont. 3 Vgl. Kirsten Rüther, Christianisierung, in: Friedrich Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 2005, S. 741–757.
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lichen Transvaal in einen Austausch traten. Genauer soll es um einen Streit gehen, der sich an der Frage entzündete, ob in Misisonsschulen das Fach Englisch unterrichtet werden soll. Ich möchte diesen Beitrag aber nicht nur nutzen, um den Streit um Englisch als Unterrichtsfach an Schulen der Hermannsburger und Berliner Missionen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu analysieren, gleichzeitig soll auch nach globalen Verflechtungen und – spezieller noch – nach Resonanzen in der europäischen Geschichte gefragt werden.4 Als Afrikawissenschaftlerin mit einem Forschungsschwerpunkt im Bereich Christianisierung und kolonialer Expansion verstehe ich es auch als meine Aufgabe, Impulse für eine die Perspektiven erweiterende, sie womöglich wendende, thematisch fokussierende Geschichte der Resonanzen zu geben, die allerdings nur bedingt aus einer Hand „geflochten“ werden kann. Um im Bild zu bleiben: Zwei Hände flechten besser als eine – auch wenn dazu nicht alle zehn Finger benötigt werden. Als durchaus produktiv erweist sich in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf den Begriff der Resonanzen. Denn während die globalen Verflechtungen ein Terminus der allgemeinen Beschreibung sind, fasst der Begriff der Resonanzen eine ausgewählte Form innerhalb solcher allgemein geltenden globalen Verflechtungen. Spezifischerweise verweisen die Resonanzen auf einen Widerhall, der entweder verstärkt oder aber abgeschwächt wird, die Frequenz des Impulses aufnimmt, nicht aber dessen Intensität wiedergibt. Die Ebenmäßigkeit, die das Bild der Verflechtungen implizieren mag, wird dadurch hinterfragt, auch wenn der Eindruck des Wohlklanges weiterhin mit den Resonanzen einhergeht. Zudem impliziert der Begriff der Resonanz eine gewisse zeitliche Verzögerung, mit der das Echo erst näher zu bestimmen ist. Während Verflechtungen gemeinhin einen kontrollierten Akt des Verwebens voraussetzen und zu einem be-greifbaren Produkt führen, kommt es beim Auslösen eines Echos häufig auch zu einem Wechsel der Ebenen: Das Echo und der Hall liegen über den empirisch erfassbaren historischen Dynamiken. Dass in diesem Band das Handeln, das Wirken und die Spielräume religiöser Akteure im Mittelpunkt stehen, lenkt den Blick auf weitere Verflechtungen. Am Streit um Englisch als Unterrichtsfach beteiligten sich gleich mehrere religiöse Akteure und Gruppen – mehrheitlich Männer – deren Aktionen sich in sich wandelnden Machtgefügen wechselseitig bedingten und die in der 4 Basierend auf Kirsten Rüther, The Power Beyond. Mission Strategies, African Conversion and the Development of a Christian Culture in the Transvaal, Münster 2001, insb. Kap. 10.
Der Streit um Englisch als Unterrichtsfach
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medialen Vermittlung hierarchisiert, unterschiedlich autonom und verschiedenartig verflochten zur Darstellung gelangten. Dass sich in der missionarischen Berichterstattung die Sichtweise afrikanischer Akteure und Akteurinnen nicht dominant durchsetzte, liegt auf der Hand. Gleichzeitig wäre die Annahme überzogen, die Missionare hätten den Diskurs derart dominiert, dass afrikanische Sichtweisen und Forderungen automatisch kolonisiert und zum Verstummen gebracht worden wären. Den Thesen zur Kolonialisierung des Bewusstseins, auf die gleich mehrere der jüngeren globalgeschichtlichen Darstellungen zurückgreifen, ohne dabei allerdings auf die Debatten und ihre kritische Rezeption einzugehen, stehe ich, wie viele Regionalwissenschaftler vor mir, kritisch gegenüber.5 Tatsächlich brachten sich afrikanische Christen mit ihren Anliegen gestaltend in die durch Missionsgesellschaften überlieferte Berichterstattung ein. Wie das aussah, soll im Verlauf des Beitrages geklärt werden. Nach einer Einführung in den historischen Kontext des südafrikanischen Transvaal soll in einem weiteren Schritt das Archiv näher betrachtet werden, dessen Material dieser Untersuchung zugrunde liegt. Gerade in Verflechtungsgeschichten gehören Archive auf den Prüfstand, nicht zuletzt, um deren Machart zu klären. Daran anschließend richtet sich der Fokus auf das hier mikroperspektivisch darzulegende Thema, den Streit um Englisch als Unterrichtsfach, wie er sich im Zuge der Industrialisierung am Witwatersrand und insbesondere nach dem Ende des Südafrikanischen Krieges in den Jahren von 1902 bis 1910 zwischen jenen Parteien zuspitzte, denen sich die religiösen Akteure zurechneten. Dieses Konfliktfeld soll auf seine europäischen, aus globaler Verflechtung resultierenden Resonanzräume hin ausgelotet werden. Über Resonanzräume nachzudenken, beinhaltet das Spiel mit Optionen. Schließlich impliziert jede Geschichte der Verflechtungen, also auch die der Resonanzen, fasst man sie als Geschichte der Interaktionen auf, eine gewisse Multiperspektivität, die dazu auffordert, mehrere Echos zu vermessen.
5 Vgl. John und Jean Comaroff, The Colonization of Consciousness in South Africa, in: Economy and Society 18 (1989) 3, S. 267–296, vgl. auch die spätere Monografie dies., Of Revelation and Revolution, 2 Bde., London 1991–1997.
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Interaktion der Generationen im südafrikanischen Transvaal Im südafrikanischen Transvaal waren zwischen 1890 und 1910 Missionare aus zwei recht unterschiedlichen Generationen tätig. In ihren Handlungen und Werten – und nicht zuletzt in den Schwerpunkten ihrer Berichterstattung – griffen diese Generationen auf unterschiedliche Sozialisationserfahrungen und Missionsstrategien zurück. Vor dem Hintergrund einer anhaltenden Auseinandersetzung mit britischen und burischen Formen kolonialer Herrschaft, aber auch mit den Grundzügen von Herrschaftsdynamiken, die in verschiedenen afrikanischen Gesellschaften verankert waren, stritten sich mit ihnen Konvertiten jeweils unterschiedlich über den Zugang zur Ressource „Englisch“. Die erste Generation deutscher Missionare war in den Jahren der Agrarreformen sozialisiert worden und sah den Folgen der Ereignisse von 1848 mit Schrecken entgegen. Sie war in den südafrikanischen Transvaal gekommen, als die Konsolidierung politischer Gemeinwesen auf dem Hochfeld, die dem Prozess der Nationalstaatsbildung in Deutschland nicht ganz unähnlich war, gerade unterbrochen worden war.6 Diese Missionare waren durch die Modernisierungsprozesse in ihrer Heimat verunsichert und marginalisiert worden und entwarfen bereits „zu Hause“ Bilder einer alten Ordnung, die sie und ihre im Vergleich zu ihnen sozial meist privilegierten Vorgesetzten in der Ferne rehabilitieren wollten.7 Für die Hermannsburger Missionare, die aus der ländlichen Umgebung eines Dorfes im Königreich Hannover stammten, das 1866 von Preußen annektiert worden war, kam die Erfahrung eines expandierenden preußischen Staates hinzu, was in ihrem welfisch-ländlichen Hermannsburg nicht selten herrschafts- und kolonialkritische Töne hervorbrachte. Berliner Missionare, die kulturnationalen Tendenzen gegenüber aufgeschlossen waren, trugen dagegen preußisch prononcierte Vorstellungen von Staat und Volk im Gepäck.8 Im Transvaal kam es deshalb zwischen den Missionsgesellschaften zum Streit. So schimpfte ein Hermannsburger, dass die 1866 einmarschierten 6 Vgl. Carolyn Hamilton (Hg.), The Mfecane Aftermath. Reconstructive Debates in Southern African History, Johannesburg 1995. 7 Für das Beispiel der Basler Mission vgl. Jon Miller, The Social Control of Religious Zeal. A Study of Organizational Contradictions, New Brunswick/NJ 1994. 8 Vgl. Kirsten Rüther,Through the Eyes of Missionaries and the Archives They Created.The Interwoven Histories of Power and Authority in the Nineteenth-Century Transvaal, in: Journal of Southern African Studies 38 (2012) 2, S. 369–384.
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Preußen sofort aus Hannover vertrieben werden sollten. Die Berliner Kollegen wiederum verwahrten sich mit Nachdruck gegen jedwede Schmähung und Verunglimpfung des preußischen Königs. Hermannsburger etikettierten fortan manchen Berliner Missionar als „non-plus-ultra Preuße(n)“.9 Dass die hitzigen Auseinandersetzungen um regionale und nationale Herkunft unmittelbar relevant für die Interaktionen mit Sotho, Tswana und anderen geworden wären, bleibt jedoch zu bezweifeln. Auf die Frage nach ihrer Herkunft jedenfalls hatten Berliner Missionare wenige Jahre zuvor wissbegierigen Konvertiten antworten müssen: „Wir kommen von Deutschland, noch weit hinter England her!“10 Diese Gesprächssequenz ist nur eines von vielen Indizien dafür, dass „Region“ aus Sicht der religiösen Akteure im Transvaal anders als in Hannover und Preußen konnotiert wurde. Konvertiten, die während ihrer Arbeitsmigration in die Kapkolonie oder nach Natal mit „England“ in Berührung gekommen waren, maßen die Herkunft der Missionare an deren Verhältnis zu den beiden in Südafrika vordringenden Expansionsmächten. Die Bezugsgröße „England“ war zudem wichtig, weil England im Gegensatz zur Mehrheit burischer Siedler einer Christianisierung afrikanischer Gemeinschaften nicht feindlich gegenüber stand. Die Buren hingegen erlaubten in ihren Republiken keine britischen Missionen, sondern ließen nur noch „Deutsche“ zu.11 Als wichtiger als die regionale Verortung sollten sich deshalb thematische Auseinandersetzungen zwischen Missionaren und Konvertiten erweisen – ein Befund, der in der Erörterung der Resonanzen aufgegriffen wird. „Regionale“ Zuschreibungen verschwammen in noch weiterer Hinsicht aufgrund der Interaktionen im Transvaal. Die Berliner hatten auf ihrer Modellstation Botshabelo 1867 ein Fort Wilhelm zur Verteidigung gebaut. Das Material war in der Bauweise der Bevölkerungsgruppe der Pedi geschichtet, und gleichzeitig erinnerte der Bau an eine mittelalterliche Befestigung. Ursprünglich war sogar die preußische Flagge auf diesem Turm gehisst. Später wurde Fort Wilhelm in Fort Merensky umbenannt und erhielt damit den Namen des führenden deutschen Missionars in der Region. Herrschaftsan9 Tshuaneng, Missionar Sachse 26.07.1871, Archiv des Berliner Missionswerkes (BMW), III/4 Nr. 11, Bd. 1. 10 Hermann Theodor Wangemann, Lebensbilder aus Südafrika. Ein Beitrag zur Kirchen- und Culturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 31876, S. 7–8. 11 Vgl. Rüther, Power; Andrew Manson, The Hurutshe and the Formation of the Transvaal State, 1835–1875, in: International Journal of African Historical Studies 25 (1992) 1, S. 85–98.
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sprüche und gegenseitige Abhängigkeiten waren aufgrund der Annäherung über personale Beziehungen geprägt. Dass sich dabei die Arten und Weisen der Pedi und der Preußen vermischten, war für die Akteure weniger bemerkenswert. Vielmehr suchten viele Christen unter den Sotho, zu denen die Pedi zählten, und Tswana, die von ihren nicht-christlichen Nachbarn geringschätzig auch madiake genannt wurden, die Verbindung mit den Missionaren, weil sie hier eine Chance sahen, an der (kolonialen) Moderne zu partizipieren. Die zweite Generation, ab 1870 nach Südafrika gekommen, blieb weiterhin von ihrer Herkunft her spezifisch „hermannsburgisch“ oder „berlinisch“ geprägt, war aber auch in den Prozess der deutschen Nationalstaatsbildung hineingewachsen. Damit war sie in ihrer Jugend grundsätzlich auch einem Denken ausgesetzt, in dem die angeblich unterbewertete deutsche Stellung in der Welt als Problem galt.12 Ausschlagebend war zudem, dass sie in eine Welt der Kolonialreiche hinein sozialisiert wurden. Sie lernten, dass ihnen, obschon sie selbst eher aus Orten kamen, die Modernisierungsverlierer waren, eine Welt jenseits Europas zur Eroberung offenstand.13 Gemeinsam mit oder in Abgrenzung zu religiösen Akteuren anderer europäischer Kolonialmetropolen glaubten sie sich dort in Übersee ordnend und hierarchisierend betätigen zu können. Und doch blieb der Duktus dieser zweiten Generation aus Berlin und Hermannsburg in Südafrika in erster Linie missionarisch und hatte kaum einen – wie sehr viel ausgeprägter in den deutschen Kolonien – nationalen Anstrich. Dies bedeutete natürlich nicht, dass die Missionare den nationalen Diskurs nicht aus der Distanz miterlebten und sich zu ihm auch positionierten. Für die Interaktion mit der lokalen Bevölkerung war aber vor allem wichtig, dass diese zweite Generation auf die Arbeit der Pioniergeneration aufbauen konnte. Denn die Missionare der ersten Generation und die chiefs, mit denen sie zu tun hatten, hatten bereits Pakte ausgehandelt, in denen Seniorität hoch bewertet und der Zugang zu Land geregelt worden war. Dabei waren im Transvaal die Hermannsburger als Treuhänder, die Berliner als Feudalherren aufgetreten.14 Die neue Generation beäugte die Politik „ihrer 12 Vgl. Hans Fenske, Ungeduldige Zuschauer. Die Deutschen und die europäische Expansion 1815–1880, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Imperialistisiche Kontinuität und nationale Ungeduld im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991, S. 87–123. 13 Vgl. Jane Burbank/Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010, S. 331–368. 14 Vgl. Fritz Hasselhorn, Bauernmission in Südafrika. Die Hermannsburger Mission im Spannungsfeld der Kolonialpolitik 1880–1939, Erlangen 1988; Rüther, Power;
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Väter“ teilweise kritisch, schon um sich selbst zu positionieren, aber auch, weil in Südafrika neue Formen des Rassismus und der Segregation zu modernen kolonialen Ordnungspolitiken avancierten, zu denen sie einen eigenen Beitrag leisten wollten. Parallel dazu hatte sich unter den Konvertiten eine neue Elite herausgebildet, die für sich ein besonderes Verhältnis zur Mission in Deutschland beanspruchte. Selbstbewusst rief sie ihren Pendants in Berlin zu: „Ihr von der Residenz! Kinder Friedrichs des sehr großen Königs, Kinder unseres Kaisers Wilhelm! Ich sage: Ein Löwe hat mich gebissen (ich bin vom Christentum ganz erfasst).“15 Bei anderer Gelegenheit hieß es: „Ihr Kinder der Hauptstadt Berlin, Kinder des großen Königs Fortirischa (Friedrich des Großen), des alten, des Urgroßvaters, des Dieners Gottes!“16 In dem Bestreben, Anerkennung von jenen zu erlangen, denen sie sich loyal verbunden sahen, schrieben sich diese Männer, meist Christen der ersten Stunde, in die Genealogie jener Christen ein, die sie in Berlin wussten, und distanzierten sich insbesondere in Konfliktlagen von den Missionaren, die sie in Südafrika „verbauern“ sahen. Ein anderer Teil der Christen, mehrheitlich eine nachwachsende, bereits christlich sozialisierte Generation, die sich dann im Konflikt um den Englischunterricht artikulierte, stellte weitere Forderungen. Gerade diese Jungen, die die Herausforderungen und Chancen annahmen, die die Arbeitsmigration in die Städte und Minen an sie stellte, erlebten die Spannungen zwischen so genannter Tradition und Moderne intensiver als ihre Vorfahren. Gleichzeitig entwickelten sie aber auch neu auszutarierende Emanzipationswünsche gegen „die Alten“, seien sie Missionare, elders oder chiefs. In dieser Gemengelage von Interessen wünschten die Missionare zwar die Konversion der Jungen, wollten grundsätzlich aber auch die Autorität der alten Männer stützen. Das Christentum barg ein ambivalentes Versprechen: Es verkörperte den Aufbruch in das, was die Menschen als modern empfanden, betonte aber zugleich den
Andrea Schultze, „In Gottes Namen Hütten bauen“. Kirchlicher Landbesitz in Südafrika – die Berliner Mission und die Evangelisch-Lutherische Kirche Südafrikas zwischen 1834 und 2005, München 2005. 15 Synodalakten Süd-Transvaal, 1881, BMW, IV/1.4, Bd. 2. 16 Synodalakten Süd-Transvaal, 1885, BMW, IV/1.4, Bd. 3. Zum Zusammenhang mit unabhängigen Kirchengründungen vgl. auch Kirsten Rüther, „Sekukuni, Listen!, Banna!, and to the Children of Frederick the Great and Our Kaiser Wilhelm“. Documents in the Social and Religious History of the Transvaal, 1860–1890, in: Journal of Religion in Africa 34 (2004) 3, S. 207–234.
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Wert der Tradition, die die jungen Männer und Frauen in Loyalität auf die alten Männer verpflichtete. Vor dem Hintergrund dieser Strukturen, in die die Interaktionen der Generationen differenzierend hineinwirkten, kam es zum Streit um Englisch als Unterrichtsfach – er soll in diesem Beitrag insbesondere hinsichtlich der Resonanzen, die hier erzeugt wurden, betrachtet werden.
Struktur und Differenz im Archiv Die Machart des Archivs zu begreifen, hilft die in der Überlieferung enthaltenen Machtstrukturen einzuschätzen. Gerade die global- und verflechtungsorientierte Geschichte von Resonanzen muss sich diesem Problem stellen. Denn wenn sich der Rahmen historischer Betrachtungen verschiebt, wird die Spannung zwischen einerseits der Gesellschaft und ihrem Wandel und andererseits deren sprachlicher Verarbeitung besonders virulent. Generell vorauszuschicken ist, dass offensichtlich in Berlin und Hermannsburg weit weniger stark in die für den Druck bestimmten Texte eingegriffen wurde als das für britische Missionsgesellschaften der Fall war.17 Hermannsburger erlegten sich allerdings eine Selbstzensur auf, um bei den Buren nicht anzustoßen.18 Das Archiv auf einen „fremden Blick“ auf das Afrikanische zu reduzieren, würde dem Material nur bedingt gerecht. Denn das Archiv ist Ergebnis sozialer Praxis, die wiederum auf konflikthaften Aushandlungsprozessen beruht. Wechselseitige Auseinandersetzungen um Berichtsformen und -inhalte sowie der Abgrenzungswunsch gegen vermeintliche Konkurrenten, den besonders die ältere Generation zum Ausdruck brachte, prägen das für die historische Analyse vorliegende Material.
17 Zur britischen Veröffentlichungspraxis und textuellen Bearbeitung siehe Gareth Griffiths, „Trained to Tell the Truth“. Missionaries, Converts, and Narration, in: Norman Etherington (Hg.), Missions and Empire, Oxford 2005, S. 153–173. 18 Vgl. Kirsten Rüther, Afrikaberichterstattung im Hermannsburger Missionsblatt, in: Holger Böning/Peter Albrecht (Hg.), Historische Presse und ihre Leser. Studien zu Zeitungen und Zeitschriften, Intelligenzblättern und Kalendern in Nordwestdeutschland, Bremen 2004, S. 309–336; dies., Begegnungen, Berichte, Statistiken. Identität einer bäuerlich-religiösen Bewegung durch Schriftlichkeit im 19. Jahrhundert, in: Martin Rheinheimer (Hg.), Schriftlichkeit und Identität in der Neuzeit, Neumünster 2004, S. 147–175.
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Vor allem eine Konkurrenz vor Ort führte zur Anpassung von Berichtstilen: „Liest man die Berichte der Berliner Missionare, so findet man da Mittheilungen einer Menge alltäglicher Vorfälle. So anziehend sie für Menschen daheim sein mögen, [...] Solche alltägliche[n Erlebnisse] den Vorgesetzten und event. der Missionsgemeinde aufzutischen, erscheint mir doch bedenklich, da sie oft in den Augen der Schreiber eine Größe und Wichtigkeit gewinnen, die sie gar nicht haben; – da sie oft, wenn auch wider Willen, dienen müssen, das eigene Ich und die subjective Frömmigkeit hervor zu heben, und die deshalb gewiß von Vielen – und mit Recht – mit der größten Vorsicht aufgenommen werden.“19
Berichtsformen und -inhalte, die Auseinandersetzung mit einem Lesergeschmack in der Ferne und Konkurrenz trugen der Ansicht dieses Missionars zufolge zur (De)-Formierung und Veränderung des Selbst bei. Sowohl das, was Afrikanerinnen und Afrikaner im Alltag machten, wie auch die beliebten und marktgängigen Erzählungen der publikationsfreudigen Berliner Kollegen flossen in die textlichen Produkte der Hermannsburger ein, die sich ihrerseits wiederum abgrenzen wollten. Während die Missionare sogenannte Alltagssituationen offenbar narrativ zu bewältigen und zu begrenzen wussten, beklagten sie, dass sie mit „interessanten, fesselnden Berichten“ konkurrieren mussten, die von einem Publikum rezipiert wurden, das nicht durch „Wissen … bereichert, sondern [seine] Phantasie […] erregt sehen“ wollte.20 Mit der Zeit definierte sich mancher Missionsberichterstatter, vielleicht auch resignierend, in einer gewandelten Rolle: „Es soll aber nach dem Wunsch vieler Missionsblattleser etwas Neues und zugleich Interessantes berichtet werden […], was auch zugleich unterhält. Die trockenen Erzählungen sind wenig beliebt, sie sollen gewürzt und gespickt sein mit vielen Eigenschaftswörtern, adjectiva genannt. Man soll die Erzählungen ausschmücken, damit selbige dann der Missionare anderer Missionsgesellschaften an Geschmack – dies Wort hier gebraucht werden darf – gleich kommen. – Es geht mit den Berichten aus der Mission wie mit der Weltgeschichte. Trägt der Lehrer der Weltgeschichte die trockenen Thatsachen vor, 19 Rustenburg, Missionar Zimmermann, 9.01.1879, Archiv Hermannsburger Mission (HM), A: S. A. 42–34a. 20 Hermannsburger Missionsblatt 45 (1898), S. 19–20.
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dann werden die Schüler bald müde, versteht der Vorzutragende dagegen seine Rede auszuschmücken und in schöne Worte zu kleiden, […] dann kann man stundenlang zuhören ohne zu ermüden.“21
Insbesondere ältere Missionare äußerten sich ähnlich, nicht zuletzt, um ihren Deutungsanspruch zu verteidigen. Die Jungen meldeten sich diesbezüglich weniger zu Wort. Dennoch flossen diese Haltungen und diese Erfahrungen in die textlichen Produktionen der jungen Missionarsgeneration zumindest im Hintergrund mit ein. Gespeist aus sozialen und intergenerationellen Interaktionen konstituierte sich hinsichtlich des Schreibens die Akteurschaft der Missionare damit auf dieser Ebene bereits aus mehreren Facetten. Der aufgrund seiner Fülle so trügerisch geschlossen wirkende Missionsdiskurs war intern durch Konkurrenz, Anpassungsdruck und den Wunsch zur Selbstdarstellung differenziert. Daneben aber fällt die Beteiligung afrikanischer Akteure und Akteurinnen sowohl strukturell wie insbesondere bei der Vermittlung strittiger Themen auf. Denn vor Ort waren Missionare in unterschiedliche Genres und Kommunikationsformen des Mündlichen und Performativen eingebunden, die sie in Bezug auf die Auswahl der Geschichten und Erzählperspektiven beeinflussten – und in deren Hintergrund die kulturellen Ausdrucksformen afrikanischer Konvertiten standen.22 Während die Berliner in ihrer Missionsordnung festgeschrieben hatten, den Menschen in Afrika ihre Sprache und Gewohnheiten „abzulauschen“, damit explizit ethnografisch vorgehen wollten, um zur Wissensmehrung in Deutschland beizutragen, machten Hermannsburger Missionare deutlich, dass um dieses Ablauschen vielfach hart gekämpft werden musste. Manche Quellen wurden äußerst mühsam produziert, wenn auch der Schreiber immer im Vorteil blieb, zu entscheiden, was und wie er berichtete. Doch die Einbindung in lokale Formen des Berichtens und Erzählens war zentral, wie ein Missionar der ersten Generation freimütig gestand: „So war es mir meistens nicht möglich, den Sinn des Erzählten gleich richtig zu erfassen. Ein Kaffer […] bringt viele Umstände mit hinein, welche kaum noch mit der eigentlichen Sache in Berührung stehen. Für einen, der die Sprache gut 21 Cuane/Mosetla, Missionar H. Lüneburg, Halbjahresbericht Juli-Dezember 1893, HM, A.: S. A. 42–26a. 22 Zur Verbindung der Formen und Veränderung von Erzählsituationen bei den Nordsotho siehe Isabel Hofmeyr, „We Spend Our Years As A Tale That Is Told“. Oral Historical Narrative in a South African Chiefdom, London 1994.
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kennt und Wort für Wort versteht, mögen solche Nebenumstände vielleicht wohl zur Erläuterung dienen, für mich dienen sie aber gewöhnlich nur dazu, um die eigentliche Sache zu verdunkeln. Dann blieb mir nichts anderes übrig als zu sagen: ich habe es noch nicht gut verstanden, erzähle noch einmal. Und ich hörte dasselbe in zweiter verkürzter und darum mir besser verständlichen Auflage. Dann noch etwa zum guten Verständnis Fehlendes mußte ich durch Fragen, auch wohl mit Zuhülfenahme der holländischen Sprache, herauszubringen versuchen.“23
Einerseits trifft es zu, dass afrikanische Stimmen zum Verstummen gebracht wurden, wie häufig konstatiert wurde. Andererseits liegen genau diese Stimmen jedem textlichen Endprodukt der Missionare zugrunde und fordern Historikerinnen und Historiker auf, Diskurse und Stoffe nicht als stehende Dominanz, sondern als anhaltende Konflikte in der Interpretation zu berücksichtigen. Dies fächert die Akteurschaft von Missionaren weiter auf, auch wenn noch keine neue afrikanische Elite in eigenen Texten zurückschrieb.24 Die autoritative Erzählung musste oft erst mühsam hergestellt werden. Die Besonderheit des hier zugrunde liegenden Archivs liegt also darin, dass jede Quelle bereits konflikthaft verstrickt und unentwirrbar verwoben ist. Aus ihnen lassen sich weder „afrikanische“ noch „europäische“, nicht einmal „missionarische“ oder „konvertitenspezifische“ Positionen herausfiltern. Vielmehr lässt sich aus ihnen der Umgang verschiedener religiöser Akteure miteinander rekonstruieren, der sich in konfliktträchtigen Momenten besonders virulent darstellte.
Verhinderter sozialer Aufstieg 1902–1910: Streit um Englisch als Unterrichtsfach Der Streit um Englisch als Unterrichtsfach begann in den 1890er-Jahren und spitzte sich nach 1902 zu, als nach dem Ende des Südafrikanischen Krieges die Zukunft für Afrikanerinnen und Afrikaner zunächst „englischer“ denn je aussah. Hoffnungen und Erwartungen standen im Raum. Afrikaner und Afrikanerinnen wollten dem Los entkommen, als Schwarze ausschließlich Farm23 Phalane, Missionar Meyerhoff, Jahresbericht 1907, HM, A.: S. A. 42–29a. 24 Vgl. Leon de Kock, Civilising Barbarians. Missionary Narrative and African Textual Response in Nineteenth-Century South Africa, Johannesburg 1996.
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arbeit leisten zu dürfen. Besonders die Jungen wollten die Verhältnisse paternalistischer Abhängigkeit beenden. Im Vertrauen auf die britische Betonung von Zivilisation sahen sie die Zeit für rechtliche Anerkennung gekommen. „Englisch“ verkörperte den sozialen Aufstieg und die politische Ermächtigung. Das Recht darauf hatten Afrikaner sich auf dem Schlachtfeld an der Seite der Briten gegen die Buren erkämpft. Gerade die Berliner Missionare trafen auf eine Konvertitenschaft, die deutlich zum Ausdruck brachte, wie sehr sie wünschte, dass mit den Buren die weißen Missionare gleich mitverschwänden. Sie wollten englische Lehrer. Auf diese Forderung reagierten die Missionare angesichts zahlreicher durch den Krieg zerstörter Stationen ziemlich aufgebracht: „Denn je weniger sie verstehen, desto lieber ist es ihnen. Eine Anzahl von ihnen hat gemeint, wir Missionare sowohl wie die Bauern würden niemals wiederkehren und haben sich denn auch betragen, als ob sie hier wie auf den Farmen der Bauern Herren wären.“25 Die lutherischen Missionare fürchteten eine Umkehr alter Hierarchien. Sie erkannten die Kultur afrikanischer Menschen an, wehrten sich aber gegen deren „Fortschritt“ im Sinne britischer Zivilisierungsrhetorik, denn Konvertiten sollten keine „schwarzen Europäer“, sondern „verbesserte Bantu“ mit „eigenen“ Idealen und „eigener“ Kultur werden. Mancher hielt die Christen „vom wilden Freiheitstaumel“ erfasst.26 Diese Hoffnung wurde aber spätestens 1910 mit der Gründung der Südafrikanischen Union enttäuscht, als die Briten auf die Weißen burischer Herkunft zugingen und die Aufstiegsambitionen und Loyalitätsbereitschaft von Afrikanern schwer enttäuschten. Längst hatten sie die Idee zu den Akten gelegt, Afrikaner könnten in der unmittelbaren Zukunft zur Selbtregierung gelangen. Die neue Politik hieß Segregation. Sie vermied offenen Rassismus, beruhte aber auf der Wissenschaft rassischer Unterschiede.27 Der zeitweilig dominierende britische Kolonialismus brachte Kapitaldurchdringung und Urbanisierung mit sich. Lebensstile unterschieden sich von denen der Siedlergesellschaft. Vor diesem Hintergrund wollten Afrikaner 25 Berliner Missionsberichte 1902, S. 326–327. 26 Berliner Missionsberichte 1903, S. 221. 27 Vgl. Saul Dubow, Race, Civilisation and Culture. The Elaboration of Segregationist Discourse in the Inter-War Years, in: Shula Marks/Stanley Trapido (Hg.), The Politics of Race, Class and Nationalism in Twentieth-Century South Africa, London 1987, S. 71–94. Zum in globalen Dimensionen verfolgbaren Schulterschluss zwischen Weißen unterschiedlicher Herkunft gegen sogenannte Nicht-Weiße siehe auch Marilyn Lake/Henry Reynolds, Drawing the Global Colour Line. White Men’s Countries and the International Challenge of Racial Equality, Cambridge 2008.
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und Afrikanerinnen Englisch lernen. In den deutschen Missionsschulen provozierte das Skepsis und Widerstand. Vor dem Krieg hatte sich ein Wandel bereits angedeutet, der sich aber noch innerhalb der akzeptierten Grenzen der Autorität der Mission zu bewegen schien. Chiefs zeigten sich loyal gegenüber den mittlerweile lang ansässigen deutschen Missionen und ihrem Religionsverständnis, wünschten aber Englisch als Aufstiegsressource insbesondere für die jungen Männer. So hatte beispielsweise Chief Mathibe schon 1893 dem bei ihm tätigen Missionar aus zweiter Generation verdeutlicht, dass der Lehrer der anglikanischen Mission seinen Sohn unterrichten solle, er aber weiterhin dem deutschen Missionar die Treue halte.28 Dass er wie zahlreiche andere Konvertiten Bildung als von der Religion entkoppelte Ressource für den sozialen Aufstieg verstand, rief den Unwillen insbesondere der Hermannsburger Missionare hervor: „Also gar englischer Unterricht, das ist wieder was ganz Neues! Die lieben Leute sind ja einfach närrisch geworden. Die Taufe ist vielen Nebensache; aber Englisch lernen, das ist die große Hauptsache. Dadurch werden sie aber nicht zu demütigen Kindern Gottes, sondern zu hochmütigen Toren.“29
Hier ging es um den Erhalt der religiös-moralischen Integrität christlicher Schule. Im selben Duktus hieß es im Missionsblatt: „Wenn man den Leuten zuhört, könnte man denken, dass das Englischkönnen aller Weisheit Anfang sei, und nicht die Furcht Gottes“.30 Eine höchst komplexe südafrikanische Problemlage wurde hier für religiös-motivierte Unterstützter der Mission arg verkürzt. Vor Ort spürten die Missionare das Verlangen der Konvertiten und ihrer Familien, den Zweck des Missionsschulunterrichtes mitzubestimmen. Mancher der sich ereifernden jungen Missionare bemühte reagierend das Argument der eigenständigen Kultur: „Dass sie aber, wenn sie ihre eigene Sprache so vernachlässigen, aufhören werden, ein Volk zu sein, leuchtet ihnen noch nicht ein.“31 Hier handelt es sich um eine spannende Bemerkung nicht nur vor dem Hintergrund genereller lutherischer Dispositionen, Kultur und Nationswerdung verschränkt zu lesen. Sie bemerkten dies nämlich vor dem Hintergrund einsetzender Ethnisierungsprozesse der Buren. Seit 1905 gab 28 29 30 31
Vgl. Salem/Potoane, Missionar Misselhorn, 8. Jan. 1894, HM, A.: S. A. 42–35a. Ebd., Joh. Niebuhr, Erster Halbjahresbericht 1905. Hermannsburger Missionsblatt 53 (1906), S. 171. Ebd.
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es Versuche, Afrikaans zu verschriftlichen und es als Sprache für alle Buren zu etablieren. Die burische middle class bevorzugte nämlich das Englische, um sich von den verarmten Weißen abzugrenzen. Diese Sprache wurde nun abgewertet und die durchzusetzende Sprache Afrikaans als ein Mittel verstanden, soziale Unterschiede mit einem gemeinsamen ethnisch-kulturellen Bewusstsein zuzudecken.32 Für eine deutsche Leserschaft bedeutete die Feststellung der Missionare wiederum etwas anderes als für jene, denen genau das warnend vorgehalten wurde. In Deutschland nämlich entschied die Sprache über die Zugehörigkeit zur Nation. Mit der Betonung des Sprechens sogenannter „eigener“ Sprachen in Südafrika wies man afrikanischen Christen also automatisch den Ort einer kulturellen Nation innerhalb der politisch dominierenden Nation zu und schottete sie von modernen Entwicklungen ab, die aber die Zukunft des Landes bestimmen würden. Zudem war der Rückverweis auf angeblich „eigene“ afrikanische Sprachen hochproblematisch. Durch die Verschriftlichung ausgewählter gesprochener Sprachen und durch deren Privilegierung im Zuge der flächendeckenden Verteilung von Druckerzeugnissen aus der Missionspresse war die Vielfalt zahlreicher mündlicher Tradition zerstört worden. An ihre Stelle traten wenige Zentralsprachen, von denen eine „literarische Patronage“ ausging.33 Welche „eigene“ Sprache und warum gerade diese „sie“ als Volk verbinden sollte, dazu ließen sich die Missionare nicht aus.34 Mehrere junge und wahrscheinlich ambitionierte Missionare wurden politisch. Sie äußerten sich abwertend gegenüber gebildeten und selbstbewussten Afrikanern: „Es ist meist von Übel, wenn solche ‚Herrlein‘ auf die hohe Schule kommen. Was wohl die Herren in Lovedale und andern ‚Hohen Schulen‘ sagen würden, wenn sie viele ihrer einstigen Schüler [in der Beschneidung] wiedersähen!“35 Die Missionare, die selbst keine höhere Schule besucht hatten, erachteten eine höhere Bildung für Afrikaner als unangebracht. „Herrlein“ erschienen ihnen in mehrfacher Hinsicht als Inbegriff der Unvollkom32 Vgl. Isabel Hofmeyr, Building a Nation From Words. Afrikaans Language, Literature and Ethnic Identity, 1902–1924, in: Marks/Trapido (Hg.), Politics of Race, S. 95–123. 33 De Kock, Barbarians, S. 29–63. 34 Im heutigen Mosambik argumentierten Schweizer Missionare dies stärker, dazu Patrick Harries, Exclusion, Classification and Internal Colonialism.The Emergence of Ethnicity Among the Tsonga-Speakers of South Africa, in: Leroy Vail (Hg.),The Creation of Tribalism in Southern Africa, London 1989, S. 82–117. 35 Polonia, Missionar H. Behrens, Jahresbericht 1909, HM, A: S. A. 42–31a.
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menheit. Sie maßten sich Autorität in einer Ordnung an, in der sie untergeben sein sollten; und sie taten dies als Junge in einer Gesellschaft, in der – wie in der Mission – Seniorität den Status definieren sollte. Außerdem gehörten für die Missionare Afrikaner nicht in die Städte, in denen sie neuen wissenschaftlichen Thesen zufolge ohnehin nur degenerierten. Ein frisch eingetroffener Missionar konstatierte voll Abscheu: „Es ist mir ein Ekel, wenn ich zur Eisenbahnstation ‚Marico‘ komme und werde dort von dem in Dienst stehenden Kaffer, einem darauf sehr eingebildeten Subject mit englisch angeredet… Selbst die Engländer bekennen, wenn ein Kaffer englisch spricht, ‚he is finished‘. […] Zur Landwirtschaft für einen Bauer ist ein solcher Kaffer unbrauchbar.“36
Diese heftigen Stellungnahmen sind nicht allein mit einer spezifischen Verbohrtheit noch mit dem besonderen antimodernen Habitus der Hermannsburger Missionare zu erklären. Sie sind auch ein Produkt der Interaktion mit der afrikanischen Bevölkerung, eine Reaktion auf die Vehemenz, mit der afrikanische religiöse Akteure ihr Recht auf Englisch einforderten. Die Berliner reagierten anders, sie veränderten aufgrund der afrikanischen Forderungen ihren Kurs. Sie machten Zugeständnisse im Seminar für die Ausbildung einheimischer Evangelisten: „Unsere Seminaristen müssen, um nicht von englischen teachers in den Hintergrund gedrängt zu werden, die englische Sprache wirklich erlernen und in manchen Unterrichtsfächern gründlicher ausgebildet werden.“37 Viele Missionare wussten sich insbesondere angesichts der Möglichkeit staatlicher Förderung mit den Vorzügen der englischen Sprache als Unterrichtsfach anzufreunden: „Es fällt ihnen das abstrakte Denken sowie das Begreifen von großen Gesichtspunkten schwer […], [weil] im Sotho natürlich die Ausdrücke für abstrakte Begriffe fehlen. Da leistet nun das gelernte Englisch, soweit es reicht, gute Dienste. Nicht nur konnte man die englischen Worte zu Hilfe nehmen, sondern noch wichtiger war es, dass sie eben durch die Erlernung des Englischen sich an abstrakte Begriffe als solches schon etwas gewöhnt hatten.“38 36 Missionar Schindler, 22.05.1911, UNISA Archives/Hesse Collection Pretoria, SA acc. 76.9. 37 Berliner Missionsberichte, 80. Jahresbericht 1903, Berlin 1904, S. 48. 38 Botshabelo, Missionar Kuhn, Bericht Okt. 1909-Juli 1910, BMW, III/4 Nr. 6, Bd. 2.
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Alle Schulen im Nordtransvaal wurden staatlich registriert.39 In Berlin wurde daraufhin auch die Ausbildung der Missionare überdacht. Sie sollten fortan eine sechsjährige wissenschaftliche Ausbildung erhalten, die jenseits der berufsvoraussetzenden Frömmigkeit ihrem Status und ihrem gesellschaftlichen Auftrag in Südafrika gerechter würde.40 Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Streit um Englisch als Unterrichtsfach, politischer Anspruch, Lebensstil und soziales Aufstiegsmedium waren ein Thema der zweiten Generation. Missionare ärgerten sich über die jungen Männer, die Ansprüche geltend machten, nicht über die Alten, die ihre Schulen auch besuchten und längst nicht immer zur Zufriedenheit der Missionare „lernten“. Die Heftigkeit der Hermannsburger Abwertung sowie die Bereitschaft zum Umlenken in Berlin verweist auf die Hartnäckigkeit der Forderungen, mit der junge afrikanische Christen ihren Anspruch auf Teilhabe an der neu entstehenden Gesellschaft ins Wort setzten, auch wenn ihre Worte nicht übermittelt wurden. Eine dritte Generation sollte sich im Streit um dieses Themenkonglomerat, das sich noch weiter verdichtete, wiederum ausgehend von der Position ihrer Väter, erneut anders positionieren.41
Auslotung europäischer Resonanzräume im Sinne einer globalen Verflechtungsgeschichte Die Auseinandersetzung um Englisch als Unterrichtsfach um 1900 zeigt, wie Schule zum Streitobjekt um Mobilisierung und Verortung in bestehenden oder auch wünschenswerten Ordnungen einer sich wandelnden Gesellschaft werden konnte. Gleichzeitig zeigte sich im Transvaal beispielhaft eine jener Verdichtungen, an denen globale Verflechtungsprozesse deutlich werden.42 Wie lassen sich, von dieser südafrikanischen Situation ausgehend, europäische 39 Vgl. Berliner Missionsberichte 1906, S. 433–439. 40 Vgl. Berliner Missionsberichte 1908, S. 95–103. 41 Zahlreiche Nachfahren der Berliner Mission engagierten sich im Schul- und Erziehungswesen. Der Missionsarssohn Georg Kuschke wurde 1935 Director of Education in der Provinz Transvaal, siehe Caroline Jeannerat/Eric Morier-Genoud/ Didier Péclard, Embroiled. Swiss Churches, South Africa and Apartheid, Berlin 2001, S. 30–35. Am bekanntesten als Architekt der Apartheid ist wohl Werner Eiselen, der Schulen rigoros der Missionsleitung entzog, dazu Cynthia Kros, The Seeds of Separate Development. Origins of Bantu Education, Pretoria 2010. 42 Vgl. Frederick Cooper, What is the Concept of Globalization Good For? An African Historian’s Perspective, in: African Affairs 100 (2001), S. 189–213.
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Resonanzräume im Sinne einer globalen Verflechtungsgeschichte identifizieren? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten, von denen ich einige kurz skizzieren möchte. Zunächst einmal gäbe es ohne weiteres die Möglichkeit, innerhalb des Spannungsfeldes von missionierendem Zentrum und missioniertem Feld – praktisch analog zum Analysefeld Kolonie-Metropole – den Analysegegenstand aufzubauen. Hier müsste es darum gehen, insbesondere jene Schulen in den Blick zu nehmen, die in Preußen als ländliches Residuum oder nur sehr allmählich zu modernisierende Institutionen erscheinen.43 Die meisten Missionare entsprangen schulisch diesem Szenario. Das verbindende Element fände sich dann in der Sozialisationserfahrung der Missionare und in der Rezeption von Missionserzählungen in der Klasse derjenigen, die Schulen und Kirchen in Preußen leiteten und dabei von Missionsstoffen Gebrauch machten.44 Die Akteurschaft von Schülern und Eltern ließe sich freilich nur bedingt beleuchten, da diese in den einschlägigen Untersuchungen zum preußischen Schulwesen wenig thematisiert werden. Die im südafrikanischen Kontext so eklatante Machtfrage ließe sich nach dem derzeitigen Stand der Forschung also nicht rückprojizieren. Überdies bliebe eine solche immerhin mögliche Verflechtungsgeschichte letztlich auch begrenzt im nationalgeschichtlichen Rahmen. In einer zweiten Variante ließen sich europäische Resonanzräume dadurch ausloten, dass man repressive Schulformen in den Blick nimmt. Um 1900 etablierten sich zahlreiche Initiativen, Arbeiterinnen und Arbeiter zu erziehen und Schule als Immobilisierungsinstrument einzusetzen. Das Thema ist bereits im Kontext der Erziehung sogenannter „Mischlinge“ in kolonialen Herrschaftssituationen aufgegriffen worden.45 Auch für deutsche koloniale Versuche, mithilfe von Wissen und Arbeitsstrukturen aus dem Süden der Vereinigten Staaten einige Baumwollprojekte in Togo zu etablieren, gibt es anre43 Vgl. dazu z. B. Dirk Mellies, Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, Göttingen 2012, insb. S. 35–137. Obwohl der Autor in seiner Einleitung zur Eingrenzung des 19. Jahrhunderts einige globalgeschichtliche Publikationen bemüht, kommt er in der Analyse zur „Hebung des Schulwesens“ ganz ohne Fokussierung auf soziale Mobilität oder Wanderungsbewegungen aus. Auch in der Behandlung des Pressewesens, S. 237– 261, erfolgt keine Bezugnahme auf kolonial inspirierte Lesestoffe. 44 Mellies nennt einige Personen, die in der Missionsgeschichte als assoziiert mit Erweckungsbewegung und Mission galten, siehe S. 35–137. 45 Vgl. Ann Laura Stoler, Tense and Tender Ties. The Politics of Comparison in (Post) Colonial Studies, in: Itinerario 27 (2003) 3–4, S. 263–284.
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gende Untersuchungen.46 In dieses Muster könnte auch die Erfahrung der jungen afrikanischen Christen auf lutherischen Missionsschulen im Transvaal erweiternd eingeordnet werden. Resonanzen würden hier im Sinne einer dezentralisierenden Geschichtsschreibung die Verflechtung von Ideen und Entwicklungen beschreiben, die relativ zeitgleich an verschiedenen Orten der Welt zu beobachten sind. Allerdings müßte auch hier aufgrund des derzeitigem Forschungsstands der Fokus der Untersuchung auf Lehrer und Leiter von Schulen und Schulverwaltung liegen. Resonanzen in der Sicht der Schüler und deren erwachsenem Umfeld müssten weitgehend außen vor bleiben. Wenn man die vermittelte Perspektive streitender Schulbesucher, von deren Eltern und Verwandten im Blick behalten will, müsste man sich eventuell einer dritten Option zuwenden: In früheren Forschungen bin ich auf die Vorbehalte von Eltern gestoßen, die sich im Fürstentum Schaumburg vehement gegen die Erteilung von Sportunterricht artikulierten. Sie verstanden diesen als einen Unterrichtsgegenstand, der an dörflichen Schulen fehlplatziert sei, da er die junge (männliche) Generation moralisch, physisch, regional und sozial mobilisiere, indem er sie zu „Seiltänzern und Luftspringern“ mache und sie der landwirtschaftlichen Arbeit entfremde.47 Wie im südafrikanischen Fall wandte sich hier eine ländliche Bevölkerung gegen die umfassende Mobilisierung der jüngeren Generation. Aufgrund der Herrschaftsstruktur im Fürstentum wandten sich die Eltern unvermittelt in selbstverfassten oder bei Schreibern in Auftrag gegebenen Briefen und Petitionen an die Schulbehörden und an „ihren“ Fürsten, sodass ihre Perspektiven – anders als im südafrikanischen Fall – direkt, häufig auch in recht „mündlichem“ Stil, überliefert sind. Ohne dass ich hier in die Details gehen möchte, resoniert diese Fallstudie doch mit der in diesem Beitrag näher dargelegten: Hier wie dort werden Perspektiven auf ländliche Mentalitäten und deren Weiterformierung freigelegt. Unter Umständen standen afrikanische Christen im Transvaal in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts „modernen“ Tendenzen in der Gesellschaft aufgeschlossener gegenüber als die hier exemplarisch ins Feld 46 Andrew Zimmerman, A German Alabama in Africa. The Tuskegee Expedition to German Togo and the Transnational Origins of West African Cotton Growers, in: American Historical Review 110 (2005) 5, S. 1362–1398. Siehe jetzt auch die Monografie von Andrew Zimmermann, Alabama in Africa. Booker T. Washington, the German Empire, and the Globalization of the New South, Princeton 2010. 47 Kirsten Rüther, „... uns doch die Freyheit zu über lassen unsern Kindern die Arbeit uns so lernen zu lassen wie es sich für uns paßt“. Alltag in Dorfschulen des 19. Jahrhunderts (unveröff. Manuskript, Hannover 1996).
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geführten Eltern von Schülern in Schaumburg. Südafrikanische Entwicklungen würden dann thematisch mit Entwicklungen ländlicher Gesellschaft in Teilen Deutschlands (und Europas?) resonieren, und dies weniger unter dem Paradigma des ländlichen Residuums, als vielmehr unter dem Fokus, wie sich Eltern und Schüler im Modernisierungsprozess von Schulbildung in verschiedenen gesellschaftlichen Settings artikulierten. Grundätzlich möchte ich an dieser Stelle für eine Kooperation zwischen Historikerinnen und Historikern verschiedener Fachexpertisen plädieren. Während mir die Interaktionen in Südafrika besonders zugänglich sind, zögere ich, eine differenzierte Reinterpretation der Verhältnisse in der Metropole unmittelbar anzubieten, für deren Geschichte ich nicht einschlägig ausgewiesen bin. Ich möchte Fragen stellen und mich auf die Suche nach Akteurskonstellationen in europäischen Resonanzräumen begeben. Doch halte ich es hinsichtlich der Auslotung solcher Räume für gewinnbringend, von der Fachkenntnis jener zu profitieren, die sich ausgehend von ihren regionalen und thematischen Interessen auf meine Forschungen zubewegen möchten. Denn das Wechselspiel zwischen Interaktionsräumen und deren Resonanzen lässt sich meines Erachtens nur von verschiedenen Enden – sprich: Expertisen – her und in verschiedene Enden – sprich: Expertisen – hinein begreifen.
Schluss Über europäische Resonanzräume im Rahmen einer globalen Verflechtungsgeschichte nachzudenken, ist äußerst voraussetzungsreich. In Bezug auf religiöse Akteure kann es bedeuten, Handlungsfelder erst einmal zu eruieren, die im Anschluss verbunden miteinander zu interpretieren sind. Wenn sich in Südafrika ein Streit über Englisch als Unterrichtsfach entzündete, heißt das nicht, dass genau dieser Streit in anderen gesellschaftlichen Settings resoniert. Verbindende Themen müssen mikrohistorisch ausgelotet, verkettet und schließlich in der Verkettung erneut ausgelotet werden. Nur dann entstehen nicht nur groß integrierte, sondern paradigmatisch wendende historische Erzählungen, in denen „das Lokale neu positionier(t)“ werden kann.48 48 Zu mikroperspektivischen Verflechtungsgeschichten siehe auch Bernd Hausberger (Hg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen,Wien 2006 oder das Plädoyer von Margareth Lanzinger, Das Lokale neu positio-
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Als Afrikahistorikerin interessieren mich insbesondere die Möglichkeiten, von afrikanischen Gesellschaftsdynamiken aus zu denken und im Sinne einer dezentrierenden Geschichtsschreibung Interaktionen und Resonanzen in Nord-Süd ebenso wie in Süd-Süd-Richtungen auszuloten.49 Dafür sehe ich zahlreiche Möglichkeiten. In diesem Fall würde Geschichtsschreibung nicht nur „erweitert“, sondern perspektivisch umzuformieren sein, was Historikerinnen und Historiker dazu auffordern würde, ihre konzeptionellen Grundlagen und ihre einschlägig definierten Begriffe zur Debatte zu stellen – ein großes, langfristig aber produktives Projekt.
nieren im actor-network-Raum – globalgeschichtliche Herausforderungen und illyrische Steuerpolitiken, in: H-Soz-u-Kult 21.06.2012, URL: http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/forum/type=diskussionen&id=1810 (letzter Zugriff: 21.06.2012). 49 Siehe die Beiträge von Katrin Langewiesche und Roman Loimeier in diesem Band.
„… denn die ganze Sorge der Schwestern war darauf gerichtet, die Lage des weiblichen Geschlechts zu verbessern“ Geschlecht, Religion und Differenz in der Missionspraxis deutscher Ordensfrauen im kolonialen Togo (1896–1918)* Katharina Stornig
Im August 1895 erreichte ein Brief aus dem damaligen Deutsch-Togo Steyl, einen kleinen Ort an der niederländisch-deutschen Grenze. Steyl war zu diesem Zeitpunkt bereits als Zentrum der katholischen Missionsbewegung im deutschsprachigen Raum bekannt. Dies hing mit den beiden Institutionen zusammen, die der deutsche Priester Arnold Janssen (1837–1909) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hier gegründet hatte und welche bis heute als Steyler Mission bezeichnet werden. Während die Gründung deutscher katholischer Institutionen im niederländischen Grenzgebiet zuzeiten des Kulturkampfs keine Seltenheit war, stellte die Steyler Mission aus einem anderen Grund eine Besonderheit dar: Sie umfasste sowohl einen männlichen, als auch einen weiblichen Zweig, welche zunächst beide unter einheitlicher Leitung standen.1 1875 etablierte Janssen die Gesellschaft des Göttlichen Wortes (SVD), eine der ersten großen * Dieser Beitrag entstand im Rahmen der vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Nachwuchsforschergruppe „Transfer und Transformation der Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen, 1700–1970“, in welcher die Autorin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz, tätig ist. Die Autorin bedankt sich bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Workshops „Missionarinnen und Missionare als Akteure der Transformation und des Transfers“ (Göttingen) für die anregenden Diskussionen sowie bei der Herausgeberin und dem Herausgeber dieses Bandes für ihre hilfreichen Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Beitrags. 1 Rom setzte 1901 ein Verbot solcher Doppelgründungen in Kraft, weil diese in der Praxis meist die Abhängigkeit der Frauenkongregationen von den Männerorden bedeuteten und somit die kirchenrechtlich geforderte Selbstverwaltung der ersteren nicht erfüllt war. Vgl. s. v. Nuns, Kevin Knight (Hg.), The Catholic Encyclopedia, URL: http://www.newadvent.org/cathen/11164a.htm (letzter Zugriff: 20.6.2012).
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deutschen Missionsgesellschaften für katholische Priester und Brüder. 1889 stellte er dieser eine Missionskongregation von Ordensfrauen zur Seite. „Hauptzweck“ der sogenannten Dienerinnen des Heiligen Geistes (SSpS) war es, so der erste Entwurf ihrer Konstitutionen, das „Wirken der Priester der Gesellschaft des Göttlichen Wortes zu unterstützen, besonders in den Missionen durch jene Arbeiten zum besten dieses Geschlechtes, welche naturgemäß besser den Frauen als den Männern anstehen“.2 Der von Janssen kodifizierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der beiden Institutionen lagen erstens die Vorstellung von biologisch determinierten Eigenschaften (bzw. eines „Wesens“3) der Geschlechter und zweitens ein hierarchisches Ordnungsprinzip zugrunde: Neben dem Gebet kodifizierte der Gründer die Hauptaufgaben der Missionarinnen mit der „Verrichtung jener Arbeiten, womit sie das Wirken der Gesellschaft des Göttlichen Wortes […] auf die für ihr Geschlecht passende Weise unterstützen“.4 Zu diesen „unterstützenden“ Arbeitsbereichen zählten die Haus- und Gartenarbeit, Wäscherei, Kirchenpflege, Handarbeit, Krankenpflege sowie die Lehr- und Erziehungstätigkeit in Mädchenschulen. Die Existenz der Frauenkongregation bezeichnete Janssen 1891 als „eine Notwendigkeit für die Missionare“.5 Die Überzeugung von der Notwendigkeit den Missionaren in Togo auch Missionsschwestern zur Seite zu stellen, wird auch in dem eingangs erwähnten Brief aus dem Jahr 1895 deutlich. Da wiederholte Pater Hermann Bücking, Leiter der Steyler Togomission, seine bereits vorgebrachte Aufforderung, auch Missionsschwestern in die Kolonie zu entsenden.6 Der Erfolg der Evangelisierung Togos, so der Kern seines Arguments, hinge in entscheidendem Maß von der Bekehrung seiner weiblichen Bevölkerung ab, da es 2 Salesiana Soete, Geschichte der Missionsgenossenschaft der Dienerinnen des Heiligen Geistes, Wien 1953, S. 19. 3 Zu Vorstellungen von polaren „Geschlechtscharakteren“ im 19. Jahrhundert vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393. 4 Vgl. Soete, Geschichte, S. 19. 5 Ebd., S. 19. 6 Hermann Bücking, zitiert nach: Ortrud Stegmaier, Die alte Togomission der Steyler Schwestern 1897–1918, in: Kurt Piskaty/Horst Rzepkowski (Hg), Verbi Praecones. Festschrift für P. Karl Müller zum 75. Geburtstag, Steyl 1993, S. 220–244, hier S. 221 f. Über die Verhandlungen bezüglich des Einsatzes von Missionsschwestern zwischen Togo und Steyl: Karl Müller, Die Geschichte der katholischen Kirche in Togo, Kaldenkirchen 1958, S. 63f.
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ohne konvertierte Frauen keine christlichen Familien und ohne diese keine zukünftige christliche Gesellschaft gäbe. Der Ruf nach Missionsschwestern erfolgte, weil es den Priestern und Brüdern seit Beginn ihrer Tätigkeit in Togo 1892 nur in sehr begrenztem Ausmaß gelungen war, auch Frauen für Kirche und Unterricht zu gewinnen. Gleichzeitig konkretisierte Bücking bereits vorab das von ihm gewünschte Profil der entsprechenden Kandidatinnen: Um in Togo erfolgreich zu sein, müssten die Missionsschwestern erstens die englische Sprache, welche an der Küste als Verkehrs- und Wirtschaftssprache von großer Bedeutung war, beherrschen sowie zweitens in der Lage sein, das ähnlich wichtige Ewe7 zu erlernen. Außerdem sollten geeignete Kandidatinnen über ausreichende Kenntnisse verfügen, um die Mädchen und Frauen Togos in „guten Sitten und feinem Benehmen“, „Strick-, Näh- und Stickarbeit“ sowie in Religion und den Elementarfächern zu unterrichten. Vor allem jedoch müssten die zukünftigen Missionsschwestern in Togo „tüchtig“ sein, denn, so Bücking, „schwarze Frauen, die mehrere Sprachen sprechen, recht schöne Strick- und Stickarbeit machen, gibt es auch hier“.8 Bückings Ruf wurde in Steyl gehört. Ende Oktober 1896 reisten zwei Dienerinnen des Heiligen Geistes nach Manchester, wo sie für einige Monate im Kloster einer englischen Frauenkongregation lebten, um die gewünschten Englischkenntnisse zu erlangen.9 Im Januar bestiegen sie schließlich gemeinsam mit zwei weiteren Missionsschwestern aus Steyl das Dampfschiff nach Togo.10 Am 7. März 1897 eröffneten sie in der am 6. März neu ernannten kolonialen Haupt- und Hafenstadt Lomé das erste katholische Frauenkloster in der Kolonie.11 Bis zum Ende ihrer Tätigkeit in Togo Anfang des Jahres 1918 etablierten die Steyler Missionsschwestern vier weitere Klöster mit angegliederten Mädchenschulen und Kindergärten in Aného (1901), Kpalime und Atakpamé (1905) sowie Kpandu (1912). Neben dem Unter-
7 Der Begriff Ewe bezeichnet seit der Kolonialzeit eine ethnische Gruppe und ihre Sprache im Gebiet zwischen Voltafluss und Yorubaland, in welchem die wichtigsten Stationen der Steyler Mission angesiedelt waren. Vgl. Kokou Azamede, Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen Deutschland und Westafrika, 1884–1939, Stuttgart 2012, S. 22f. 8 Hermann Bücking, zitiert nach: Stegmaier, Die alte Togomission, S. 222. 9 Archivio Generalis SSpS (AG SSpS) 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896– 1917, Sr. Bernarda Althoff, 26.10.1896; 22.11.1896; 28.11.1896 und 13.12.1896. 10 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896–1917, Sr. Bernarda Althoff, 27.01.1897. 11 AG SSpS 034 Tg 6302, Chronicles, 1897–1918, Lomé, S. 1.
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richt zählten die Krankenpflege, die Haus-, Hand- und Gartenarbeit, die Inszenierung kirchlicher Feiern sowie die täglichen Besuche in den Siedlungen zu den Hauptaufgaben der Missionsschwestern. Trotz ihrer quantitativen Bedeutung innerhalb der katholischen Mission,12 ihrer Verteilung sowie regelmäßigen Interaktion mit der lokalen Bevölkerung fanden die Erfahrungen und Praktiken der Dienerinnen des Heiligen Geistes bislang kaum Beachtung in der Geschichtsschreibung zum kolonialen Togo.13 Während Studien zu Frauenmissionsorden generell fehlen, sind auch die Aktivitäten der protestantischen Missionarsfrauen bis dato nur wenig erforscht.14 Dies erscheint umso überraschender, wenn man bedenkt, dass die kolonialgeschichtliche Forschung den Blick zunehmend auf die Heterogenität und Vielstimmigkeit kolonialer und missionarischer Bewegungen lenkt15 und die Missionsschwestern ein ertragreiches Archiv hinterlassen haben.
12 In absoluten Zahlen bestand das europäische Personal der Steyler Mission in Togo (1892–1918) aus 76 Priestern, 33 Brüdern und 51 Schwestern. Vgl. Müller, Geschichte, S. 503–519. 13 Die meisten der folgenden Beiträge beschäftigten sich zwar mit der katholischen Mission, erwähnten jedoch die Missionsschwestern – wenn überhaupt – nur am Rande oder in Fußnoten. Vgl. Ralph Erbar, Ein ‚Platz an der Sonne‘? Die Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonie Togo 1884–1914, Stuttgart 1991, S. 235–302; Arthur J. Knoll, Togo under Imperial Germany 1884–1914, Stanford 1978, S. 94–123; Peter Sebald, Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen, Berlin 1988, S. 469–505. Des Weiteren konzeptionalisierten sie die koloniale Gesellschaft primär als eine Gesellschaft von Männern: Trutz von Trotha, Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994; Bettina Zurstrassen, „Ein Stück deutscher Erde schaffen“. Koloniale Beamte in Togo, Frankfurt a. M./New York 2008. 14 Ein neuerer historiografischer Überblick kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Vgl. Andreas Eckl, Grundzüge einer feministischen Missionsgeschichtsschreibung. Missionarsgattinnen, Diakonissen und Missionsschwestern in der deutschen kolonialen Frauenmission, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Mechthild Leutner (Hg.), Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009, S. 132–145. Weitgehend auf eine Darstellung der Lebensläufe beschränkt sich: Ilse Theil, Reise in das Land des Todesschattens. Lebensläufe von Frauen der Missionare der Norddeutschen Mission in Togo/Westafrika (von 1849 bis 1899) – eine Analyse als Beitrag zur pädagogischen Erinnerungsarbeit, Berlin 2008. 15 Frederick Cooper/Ann Laura Stoler (Hg.),Tensions of Empire.Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997; Hilde Nielssen/Inger Marie Okkenhaug/Karina Hestad Skeie (Hg.), Protestant Missions and Local Encounters in the Nineteenth and the Twentieth Centuries, Leiden/Boston 2011.
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Im Folgenden sollen nach einer einführenden Charakterisierung der Quellen zunächst die Vorstellungen von einer Ordnung von gender und sex untersucht werden, welche die Missionsschwestern nach Togo brachten. Anschließend fragt der Beitrag nach den Modifikationen dieser katholischen Ordnungsvorstellungen im Rahmen des Transfers. Eine entscheidende Modifikation wird dabei unmittelbar deutlich: Während die Kirche im katholischen Europa des späten 19. Jahrhunderts den Zölibat als die höchste Lebensform ansah und der Virginität einen herausgehobenen Status gegenüber Ehe und Witwenstand einräumte,16 spielte die Option eines christlichen Lebens außerhalb der Ehe in Togo zunächst keine Rolle. Die von der katholischen Mission in Togo propagierte Geschlechterordnung basierte auf der Einführung der monogamen und unauflöslichen Ehe. Wie der Beitrag zweitens zeigen möchte, kam es jedoch nach 1900 teilweise zu einer weiteren Modifikation dieser katholischen Geschlechterordnung durch konvertierte Frauen in Togo, welche zwar den katholischen Bildungskanon absolviert hatten, aber die von den Missionaren und Missionarinnen für sie vorgesehenen Rollen als Ehefrauen und Mütter nicht übernahmen. Stattdessen war es genau dieses Leben im weiblich dominierten Raum des Klosters, jenseits von Ehe und Mutterschaft, welches für einige Frauen aus unterschiedlichen Gründen attraktiv war. Abschließend diskutiert der Beitrag die Bedeutung dieser erneuten Modifikation für die Konzepte von „Rasse“ und „Geschlecht“ in der Mission.
Missionarische Schriftkultur im Kontext von Geschlecht und Religion Die im historischen Archiv der Dienerinnen des Heiligen Geistes vorhandenen Quellen können grob in zwei Kategorien eingeteilt werden. Zum einen umfassen sie Dokumente, deren Entstehung in einer missionarischen Schriftkultur und Organisationsstruktur verankert ist. Zu diesem Quellenkorpus zählen die Korrespondenz mit Europa und die regelmäßig nach Steyl gesendeten Berichte, die denen der Missionare durchaus ähnlich sind. In diesen beraten sich Missionsschwestern in Togo und Europa über die Missionsarbeit sowie über sämtliche Aspekte des religiösen Gemeinschaftslebens in der 16 Vgl. Relinde Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 222; Anke Bernau, Virgins. A Cultural History, London 2007, S. 40–44.
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Kolonie. An dieser Stelle muss betont werden, dass die besagten Dokumente von historischen Akteurinnen stammen, die am unteren Ende der katholischen Hierarchie standen und sowohl von kirchlicher als auch von staatlicher Seite als Assistentinnen der von Priestern geleiteten Mission betrachtet wurden. Trotz dieser relativen Machtlosigkeit gegenüber europäischen Männern setzten die Missionsschwestern aber ihre Zugehörigkeit zu einer privilegierten „weißen“ Minderheit in der kolonialen Situation asymmetrischer Machtstrukturen als gegeben voraus. In ihren Berichten produzierten sie soziale Kategorien und vertrauten unhinterfragt auf die eigene Kompetenz, die Bevölkerung Togos zu repräsentieren. Das Archiv der Steyler Missionsschwestern spiegelt die kolonialen Machtstrukturen und Prozesse der Exklusion wider, unter welchen die Dokumente produziert und archiviert wurden. Während es zwar einerseits die in kirchlichen und kolonialen Archiven kaum vorhandenen Stimmen von Frauenmissionarinnen konserviert, enthält es fast keine Dokumente von Afrikanerinnen. Die Aufzeichnungen der Missionsschwestern beinhalten dennoch – zumindest bis zu einem gewissen Grad – die Möglichkeit, die Interaktionen der lokalen Bevölkerung mit der Mission zu rekonstruieren bzw. zu verstehen, wann und in welchen Situationen Mädchen und Frauen die Präsenz der Missionsschwestern zu nutzen suchten.17 Von besonderer Signifikanz dafür ist vor allem der zweite Quellentyp, dessen Produktion nicht unmittelbar mit einer missionarischen Organisationsstruktur in Verbindung steht, sondern einer geschlechtsspezifischen monastischen Kultur zuzuordnen ist. Dazu zählt erstens die „private“ Korrespondenz der Missionsschwestern mit dem Steyler Mutterhaus, welche aus den für Frauenkongregationen charakteristischen Grundprinzipien der Einheitlichkeit und zentralen Leitung resultierte.18 Durch den Austausch von Briefen teilten die Missionarinnen in der Migration ihre Erfahrungen mit ihren Vorgesetzten und Mitschwestern in Europa und bestätigten religiöse Bande und Einheit über kontinentale Grenzen.19 Zweitens führten die Missionsschwes17 Für eine ähnliche Lesart missionarischer Dokumente vgl. Wendy Urban-Mead, Dynastic Daughters. Three Royal Kwena Women and E. L. Price of the London Missionary Society, 1853–1881, in: Jean Allman/Susan Geiger/Nakanyike Musisi (Hg.), Women in African Colonial Histories, Bloomington 2002, S. 48–70, v. a. S. 50. 18 Meiwes, Arbeiterinnen, S. 63–67. 19 Zu Ordensfrauen, Migration und Transnationalismus vgl. auch: Gertrud Hüwelmeier, ‚Nach Amerika!‘ Schwestern ohne Grenzen,in: L’Homme.Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 16 (2005) 2, S. 97–115; Gertrud Hüwelmeier,
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tern in allen Klöstern Chroniken, von denen jedoch nur noch die vom Regionalhaus in Lomé vollständig erhalten ist. Die Chronik, das „offizielle Gedächtnis“ eines „geistlichen Hauses“,20 beinhaltet idealerweise Aufzeichnungen über sämtliche Ereignisse, die ein Kloster in seiner Gesamtheit betrafen. Die Chronik von Lomé beginnt mit der Ankunft der ersten deutschen Missionsschwestern 1897 und liefert wesentliche Informationen über den Klosteralltag in der Hauptstadt des kolonialen Togo. Sie enthält Einträge über Besucher und Besucherinnen, lokale Ereignisse und die Aufnahme bzw. Entlassung von internen Schülerinnen oder „Hausmädchen“. Die Auswertung der Chronik ermöglicht ein besseres Verständnis des gesellschaftlichen Umfelds der Steyler Missionsschwestern in Togo und Rückschlüsse auf die Rollen des Klosters in der religiösen und sozialen Öffentlichkeit Lomés. Sie gibt Einblicke in das Zusammenleben von Missionsschwestern mit den einheimischen Mädchen und Frauen, welche entweder als Schülerinnen oder als Hausmädchen in den Klöstern lebten. Die Chronik enthält also wichtige Aufzeichnungen über (die Handlungen von) Menschen, von denen selbst keine schriftlichen Dokumente überliefert sind.
Geschlecht und Mission Im Zentrum der Tätigkeiten der Dienerinnen des Heiligen Geistes in Togo stand die Einführung einer westlich orientierten Mädchenbildung bzw. -erziehung.21 Ihrer Einschätzung nach stellte eine spezifische Form der Internatserziehung das vielversprechendste Mittel zur Bekehrung dar: In allen fünf Klöstern der Kolonie hatten einheimische Mädchen und Frauen die Möglichkeit, die angegliederten Mädchenschulen zu besuchen und für einen vertraglich geregelten Zeitraum dort zu leben. Aus Sicht der Mission waren Zweck und Ziel dieser Einrichtung fest an Evangelisierungsstrategien gebunden und somit klar definiert: Während die Taufe und Erstkommunion der Schülerinnen Meilensteine darstellten, sollte die katholische Eheschließung der Absol-
Ordensfrauen unterwegs. Transnationalismus, Gender und Religion, in: Historische Anthropologie 13 (2005) 1, S. 91–110. 20 Christine Schneider, Kloster als Lebensform. Der Wiener Ursulinenkonvent in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1740–1790), Wien/Köln/Weimar 2005, S. 11. 21 Zur Rolle der Schule für die Steyler Mission in Togo vgl. Johannes Thauren, Die Mission in der ehemaligen deutschen Kolonie Togo, Steyl 1931, S. 22–26.
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ventinnen den erfolgreichen Abschluss bilden.22 Die Missionare und Missionarinnen sahen im (langfristigen) Zusammenleben von Missionsschwestern mit einheimischen Mädchen und Frauen vor allem die Chance, diese dem zu entziehen, was sie als den „heidnischen Einfluss“ der Umgebung verstanden, womit sie das familiäre und soziale Umfeld der Schülerinnen meinten.23 In der Abgeschiedenheit des Klosters könne man die Mädchen Togos, so eine Dienerin des Heiligen Geistes 1914, „viel leichter zu einem christlichen Leben und wahrer Gesittung“ führen.24 Das was die Autorin unter einem „christlichen Leben“ und „wahrer Gesittung“ verstand, war untrennbar mit spezifischen Konstruktionen von Geschlecht verknüpft. Das von der Mission vertretene Ideal katholischer Weiblichkeit war von einer christlich-europäischen Perspektive auf Moral, Achtbarkeit und Frömmigkeit durchzogen und dominierte nicht nur den geschlechtsspezifisch differenzierten Bildungskanon in den Missionsschulen, sondern auch sämtliche Bereiche der Lebens- und Arbeitswelt im Klosterpensionat. Etwas vereinfacht ausgedrückt, lässt sich die von der Mission angestrebte Transformation der Frauen, welche die Konversion gleichzeitig begleiten und bewirken sollte, auf drei Ebenen beschreiben. Die erste Ebene betrifft die äußere Erscheinung und die Adaption von dem, was als „angemessene Kleidung“ und gebotene Reinlichkeit betrachtet wurde. Dabei ging es nicht um eine „Verwestlichung“ der äußeren Erscheinung afrikanischer Christen und Christinnen, sondern um die Verhüllung des (Frauen-)Körpers und seiner Geschlechtsmerkmale sowie um den sichtbaren Ausdruck von Demut durch die Einfachheit der Kleidung.25 Zweitens war die Adaption bestimmter Praktiken Teil der missionarischen Bildungsziele. Sowie auch die Arbeitsteilung unter den Ordensmitgliedern entlang der Geschlechtergrenzen differenziert war und mit der Naturalisierung sozialer Geschlechterrollen in Deutschland legitimiert wurde, formulierten die Missionsschulen unterschiedliche Lerninhalte für Mädchen und Knaben. Drittens sollten die Christen und Christinnen die spezifischen moralischer Dispositionen übernehmen bzw. internalisieren, deren Gültigkeit vom Orden als universell verstanden und propagiert wurde. Faktisch entsprachen diese den europäisch22 Ebd., S. 25. 23 Eine christliche Hausfrau im Heidenlande, in: Missionsgrüße der Steyler Missionsschwestern Dienerinnen des Heiligen Geistes (1923) 3, S. 38–44, hier S. 40; vgl. auch Thauren, Die Mission, S. 25. 24 Perboyre Neuß, Die Steyler Missionsschwestern Dienerinnen des Heiligen Geistes. Ein schlichter Kranz zu ihrem silbernen Jubelfest, Steyl 1914, S. 106. 25 Aileen Ribeiro, Dress and Morality, Oxford 22003, S. 12f.
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bürgerlichen Normen bezüglich des Zusammenlebens der Geschlechter (v. a. in Bezug auf Sexualität bzw. die sakramentale, d. h. unauflösliche, monogame Ehe) und wurden in einer Gesellschaft, in der Polygamie und Wiederverheiratung praktiziert wurden, auch abgelehnt. Einen Schwerpunkt in der katholischen Mädchenbildung bildeten neben der Elementarbildung die Hand- und Hausarbeit. Damit standen die Steyler Missionsschwestern in Togo in einer für die christliche Missionsbewegung charakteristischen Tradition, welche körperliche Arbeit zu einem – mit Blick auf die Knabenschulen – zentralen Merkmal christlicher Weiblichkeit machte.26 Dies entsprach den geschlechtsspezifisch formulierten Bildungszielen: Während die Knabenschulen Erwerbstätigkeit zum Ziel hatten und ihre Absolventen zu Lehrern, Beamten oder Handwerkern ausbildeten, sollten die Mädchen auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet werden, als welche sie planmäßig Schlüsselfunktionen in der Reproduktion der katholischen Bevölkerung einnehmen würden. Neben dem Unterricht in Religion und den Elementarfächern hatten die Internatsschülerinnen in Lomé, in den Worten der langjährigen Provinzialoberin der Missionsschwestern in Togo: „[…] den Schwestern jeden Montag bei der Wäsche zu helfen, ebenso an einem Tage in der Woche beim Bügeln. (Es war dies auch auf dem Stundenplan eigens verzeichnet), denn die ganze Sorge der Schwestern war darauf gerichtet, die Lage des weiblichen Geschlechts zu verbessern und es nicht nur ihnen, sondern auch den Männern begreiflich zu machen, dass die Frau nicht nur wie vor etwa 50 Jahren dasteht, um Sklavin des Mannes zu sein, sondern dass auch sie ihm ebenbürtig an die Seite gestellt zu werden verdient. Und unsere Bemühungen blieben, dem Herrn sei Dank, nicht ohne Erfolg. Waren doch gerade unsere Hauskinder die gesuchtesten Bräute der schon in der Bildung vorangeschrittenen schwarzen Herren. Denn allbekannt und weitverbreitet war es, dass die bei den Schwestern erzogenen Mädchen eine gründliche Ausbildung genossen hatten; konnten sie doch lesen, schreiben, rechnen, waschen, bügeln, kochen, singen, sticken, nähen, stopfen, flicken usw.“27
26 Vgl. Ulrike Sill, Encounters in Quest of Christian Womanhood. The Basel Mission in Pre- and Early Colonial Ghana, Leiden 2009, S. 289. 27 Sr. Georgia Josepha van Oopen, Bericht über die Togomission, in: AG SSpS 100, General Chapter 2, 1922, 1000 Durchführung (Berichte der Territorialoberinnen), S. 2f.
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Schwester Georgia van Oopen lässt hier einheimische Konzepte männlich-weiblicher Beziehungen vollständig außen vor und argumentiert in Anlehnung an einen zu der Zeit verbreiteten säkularen Diskurs kultureller Differenz, in dem die objektivierte Rolle der Frau als zentrales Merkmal für die Beurteilung des zivilisatorischen Status einer Gesellschaft herangezogen wurde.28 Ihre Worte machen zwar einerseits die durchaus emanzipatorischen Absichten der Missionsschwestern deutlich, zeigen jedoch gleichzeitig, was diese unter einer dem Mann „ebenbürtig an die Seite“ gestellten Frau verstanden: Als Maßstab für die Stellung der Frau galten das europäisch-christliche Ideal einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft sowie die konkreten Vorstellungen der Missionsschwestern davon, wie Ehe, Sexualität und Familie gelebt werden sollten. In diesem Sinne ähnelte das katholische Missionsprogramm nicht nur der bürgerlichen Geschlechterordnung in Deutschland, sondern lässt sich auch von dem von den protestantischen Missionen verbreiteten Ideal einer Ordnung der Geschlechter und Sexualität kaum unterscheiden, welches ausschließlich auf der monogamen Ehe als Kern der christlichen Gesellschaft basierte.29 Die Geschlechterpolitik der Steyler Missionsschwestern in Togo beinhaltete also bereits eine gewisse Modifikation der katholischen Geschlechterordnung in Europa, in welcher der Zölibat nicht nur eine (religiös bevorzugte) Alternative zur Ehe darstellte, sondern auch eine soziale und demografische Besonderheit bildete. In Togo hingegen spielte der Zölibat als Lebensform, Heilserwartung oder konfessionelles Unterscheidungsmerkmal zunächst keine Rolle. Diese Modifikation spiegelte sich auch in den unterschiedlichen Tätigkeiten der Dienerinnen des Heiligen Geistes in Deutschland und Togo wider: Während die Werbung für Ordensberufe (z. B. in Zeitschrif28 Lora Wildenthal, German Women for Empire. 1884–1945, Michigan 2001, S. 1. 29 Für Togo vgl. Rainer Alsheimer, Zwischen Sklaverei und christlicher Ethnogenese. Die vorkoloniale Missionierung der Ewe in Westafrika (1847–ca. 1890), Münster 2007, S. 65–93. Des Weiteren für Afrika vgl. Simone Prodolliet, „Wider die Schamlosigkeit und das Elend der heidnischen Weiber“. Die Basler Frauenmission und der Export des europäischen Frauenideals in die Kolonien, Zürich 1987; Dagmar Konrad, Missionsbräute. Pietistinnen des 19. Jahrhunderts in der Basler Mission, Münster 2001; Catherine Hall, Civilizing Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination, 1830–1867, Cambridge 2002; John L. Comaroff/Jean Comaroff, Hausgemachte Hegemonie, in: Sebastian Conrad/ Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 247–282; Sill, Encounters.
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ten) und die Ausbildung interessierter junger Frauen zu Ordensfrauen und Missionsschwestern im Zentrum der Aktivitäten der Steyler Missionsschwestern in Europa standen, wurde die Einrichtung eines Noviziats in Togo nicht thematisiert. Praktisch ergab sich durch die im Transfer modifizierte Vorstellung einer katholischen Ordnung von Geschlecht und Sexualität die paradoxe Situation, dass Missionsschwestern, also Frauen, die sich selbst gegen Ehe und Familie entschieden hatten, Bildungseinrichtungen betrieben, in welchen sie ihre Schülerinnen ausschließlich auf Ehe und Mutterschaft vorbereiten wollten.
Frauenleben im kolonialen Missionskloster So eindeutig dieses Programm formuliert wurde, so ambivalent war seine praktische Ausgestaltung. Dies lag – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – vor allem daran, dass die Bevölkerung Togos ihre eigenen Erwartungen und Ansprüche an die Missionsinstitutionen stellte. Ein vergleichender Blick auf die fünf Klöster der Dienerinnen des Heiligen Geistes in Togo zeigt zunächst vor allem die starke lokale Ausprägung der Missionspraxis, welche direkt aus der Inanspruchnahme des katholischen Angebots resultierte. Während die Missionarinnen im Landesinneren konstant über das mangelnde Interesse an ihren Bildungseinrichtungen klagten, jedoch gleichzeitig die Krankenpflege (und die stets damit verbundene Hoffnung auf die Spendung von Nottaufen30) als ein ertragreiches Tätigkeitsfeld darstellten, berichteten ihre Kolleginnen an der Küste über Erfolge in der Bildungsarbeit im Allgemeinen und der Internatserziehung im Besonderen.31 Einem Bericht zufolge lebten beständig etwa 40 einheimische Mädchen und junge Frauen im Kloster von Lomé. Das Internat in Aného verzeichnete durchschnittlich zwischen 25 und 30 Pensionärinnen.32 Im Folgenden werden die Missionsklöster als kulturelle Kontaktzonen im Sinne Mary Louise Pratts diskutiert; also als weiblich 30 Für die zentrale Rolle des Taufens in der Missionspraxis und die Erfahrung katholischer Ordensfrauen vgl. Katharina Stornig, „All for the greater Glory of Jesus and the Salvation of the immortal Souls!“ German Missionary Nuns in Colonial Togo and New Guinea, 1897–1960, phil. Diss., European University Institute 2010, S. 201–245. 31 Für eine Zusammenschau der Arbeit der Dienerinnen des Heiligen Geistes in Togo vgl. Sr. Georgia Josepha van Oopen, Bericht über die Togomission. 32 Ebd., S. 1 und S. 4.
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dominierte Räume, in denen soziale Beziehungen geknüpft wurden, deren Ausgestaltung jedoch wesentlich durch Zwang, Ungleichheit und andauernden Konflikt geprägt waren.33 Und obwohl die Quellen häufig über die zahlreichen Konflikte berichten (welche auch unautorisiertes Entfernen oder Entlassungen aus disziplinären Gründen miteinschlossen), belegen vor allem die Dokumente aus Lomé, dass die Bevölkerung durchaus Interesse für eine Internatserziehung im Kloster entwickelte. Bereits fünf Tage nach ihrer Ankunft im März 1897 berichtete Schwester Bernarda Althoff, die erste Vorsteherin der Steyler Missionsschwestern in Lomé, dass „fast den ganzen Tag“ über „schwarze Frauen“ zu den Schwestern kamen und mit diesen sprechen wollten.34 Gleichzeitig verzeichnete die Chronistin die Aufnahme der ersten vier togoischen Mädchen als Pensionärinnen, nämlich Akuele Josepha Qusu, Maria Ankrah sowie Laura und Eulalia Olympio, denen bald weitere folgten.35 Ein signifikanter Teil dieser „Haus-“ bzw. „Missionsmädchen“, wie die Missionsschwestern die im Kloster wohnenden Mädchen und Frauen bezeichneten, stammte aus den prominenten afrikanischen Händlerfamilien (z. B. Olympio, Garber, de Freitas, Souza, Byll, Quist) an der togoischen Küste, welche oft ein wohlwollendes Verhältnis mit der Mission pflegten bzw. auch selbst die Gründung von Missionsschulen initiierten.36 Die Chronik von Lomé belegt, dass es zunächst vor allem Väter waren, die ihre Töchter im Kloster erziehen und ausbilden lassen wollten. Neben Eltern oder Steyler Priestern37 nutzten einheimische katholische Lehrer die Möglichkeit, ihre zukünftigen Bräute für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren als Pensionärinnen anzumelden. Diese Männer, welche selbst die Missionsschule absolviert hatten und nunmehr im Dienst der 33 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 2 1993, S. 6. 34 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896–1917, Sr. Bernarda Althoff, 11.03.1897. 35 AG SSpS 034 Tg 6302, Chronicles, 1897–1918, Lomé, S. 1. 36 So war es laut dem SVD Ordenshistoriker Karl Müller der einheimische Händler und prominente Bewohner Lomés Octaviano Olympio, der als erster die Gründung einer katholischen Schule vor Ort forderte. Vgl. Müller, Geschichte, S. 49. 37 Obwohl die Quellen in Bezug auf diese Fälle oft unklar bleiben, so deutet sich doch an, dass die Priester die Möglichkeit der Internatserziehung auch zu nutzen versuchten, um katholische Mädchen aus einer von den Priestern als moralisch und/ oder religiös „gefährlich“ empfundenen Umgebung zu holen. Allerdings war zum Verbleib im Kloster die Zustimmung der Eltern notwendig. Vgl. z.B. AG SSpS 034 Tg 6302, Chronicles, 1897–1918, Lomé, S. 48.
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Mission standen, wünschten sich offensichtlich getaufte Ehefrauen, die nach europäisch-christlichen Standards über religiöse und säkulare Elementarbildung verfügten.38 Obwohl die Missionsschwestern grundsätzlich stets mit der so bezeichneten „Hebung“ der einheimischen Frau und ihrer Gleichstellung gegenüber dem Mann argumentierten, hinterfragten sie die Verfügungsgewalt dieser Männer über ihre zukünftigen Ehefrauen nicht. Stattdessen agierten sie als deren Komplizinnen und taten ihr Bestes, um diese Frauen auf die Rollen als christliche Mütter, Haus- und Ehefrauen vorzubereiten.39 Vereinzelt verzeichnet die Chronik auch Fälle von Mädchen, die auf eigenen Wunsch hin um Aufnahme ins Klosterpensionat baten.40 Diese relative Nachfrage nach einem Wohnsitz im Frauenkloster muss in den breiteren Zusammenhang des colonial encounter, der Modernisierung und der Offenheit der togolesischen Bevölkerung gegenüber den Veränderungen, gestellt werden. Die Dienerinnen des Heiligen Geistes waren zu einem Zeitpunkt nach Südtogo gekommen, an dem die „lange Unterredung“, um den von den Comaroffs geprägten Begriff für die Dialektik von Entfremdung und Aneignung zwischen der lokalen Bevölkerung und europäischen Missionaren und Missionarinnen zu verwenden, bereits Jahrzehnte andauerte.41 Protestantische Missionsgesellschaften waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Küste aktiv und die Steyler Missionare hatten die Bevölkerung seit 1892 auf die Ankunft ihrer weiblichen Kolleginnen vorbereitet. Europäische und einheimische Händler, aus Brasilien rückgewanderte ehemalige Sklaven42 sowie Kolonialbeamte hatten ebenfalls westliche Kultur nach Togo gebracht, wo sich diese zunehmend materiell manifestierte. Der Kolonialismus war zu einer durchdringenden Kraft an der Küste geworden und die Kolonialwirtschaft sowie veränderte Produktionsverhältnisse hatten eine neue
38 Vgl. auch Anm. 27. 39 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz, 1896–1917, Sr. Georgia van Oopen, 20.11.1897. 40 AG SSpS 034 Tg 6302, Chronicles, 1897–1918, Lomé, S. 30. 41 Jean Comaroff/John L. Comaroff, Of Revelation and Revolution. Christianity, Colonialism and Consciousness in South Africa, Bd. 1, Chicago/London 1991, S. 11f.; vgl. auch Birgit Meyer, Translating the Devil. Religion and Modernity Among the Ewe in Ghana, Edinburgh 1999. 42 Zu den Rollen dieser Familien im kolonialen Togo vgl. Sebald, Togo, S. 28 und Alcione M. Amos, Afro-Brazilians in Togo. The Case of the Olympio Family, 1882–1945, in: Cahiers d’Études Africaines 162 (2001), S. 293–314 sowie zahlreiche Studien von Silke Strickrodt.
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soziale Differenzierung der Gesellschaft ausgelöst.43 Die von der Forschung immer wieder betonte große Nachfrage nach westlich orientierter Bildung in Togo44 lässt nicht nur auf die generelle Offenheit der lokalen Bevölkerung gegenüber dieser Dynamik schließen, sondern macht auch deutlich, dass diese nicht vom neu entstandenen Nexus der Zivilisierung und Modernisierung getrennt werden kann.45 Westliche Bildung, Architektur, Kleidung, Lohnarbeit sowie auch christliche Vornamen wurden zu wichtigen Symbolen dieser entstehenden afrikanischen Moderne, welche über die Missionen vermittelt wurde. Und obwohl die Chancen für Frauen auf dem kolonialen Arbeitsmarkt gering waren, wird aus ihrer Einbindung in die Mission doch deutlich, dass sie deren Einrichtungen (Internate, Schulen, Kindergärten) bzw. ein freundschaftliches Verhältnis mit den Schwestern durchaus zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen zu nutzen wussten. Diese Interessen deckten sich freilich nicht immer mit denen der Mission und führten deshalb immer wieder zu Konflikten. Ein Bereich, in dem dies sichtbar wurde, ist der Bereich der Kleidung, der für alle Beteiligten ein wichtiges Thema war. Während die Missionsschwestern die Handarbeit als ein genuin weibliches Betätigungsfeld sahen und von den Katholiken und Katholikinnen „angemessene“ Kleidung als ein äußerliches Zeichen von Moral und Demut forderten,46 wurde importierte Kleidung bzw. Kleidung aus importierten Textilien im kolonialen Togo zu einem „Symbol der neuen Zeit“.47 Die Missionsschwestern waren sich dessen durchaus bewusst und versuchten von Beginn an die Attraktivität von Importgütern (v. a. Stoffe und Kleider) zu nutzen, indem sie diese als Belohnung für den
43 Ansa Asamoa, On German Colonial Rule in Togo, in: Peter Heine/Ulrich Van der Heyden (Hg.), Studien zur Geschichte des deutschen Kolonialismus, Pfaffenweiler 1995, S. 114–125, hier S. 120; Birgit Meyer, Christian Mind and Worldly Matters. Religion and Materiality in Nineteenth-century Gold Coast, in: Journal of Material Culture 2 (1997) 3, S. 311–337. 44 Christel Adick, Bildung und Kolonialismus in Togo. Eine Studie zu den Entstehungszusammenhängen eines europäisch geprägten Bildungswesens in Afrika am Bespiel Togos (1850–1914), Weinheim/Basel 1988. 45 Meyer, Christian Mind, S. 315 und 329–331. 46 Für Kleidung im Missionskontext: Robert Ross, Clothing. A Global History. Or, The Imperialists’ New Clothes, Cambridge 2008, S. 83–102; sowie allgemeiner: Linda B. Arthur, Dress and the Social Control of the Body, in: Dies. (Hg.), Religion, Dress and the Body, Oxford/New York 1999, S. 1–8. 47 Meyer, Christian Mind, S. 324.
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regelmäßigen Schulbesuch verteilten.48 Seit 1900 klagten sie jedoch gleichzeitig über die zunehmende Attraktivität westlicher Mode. „Größere Fortschritte als in der Schule macht unsere schwarze Jugend leider in der Putzsucht. Sie möchten am liebsten alle europäische Kleider tragen nach der neusten Parisermode“, beschwerte sich eine Schwester im August 1900.49 Während die Missionare und Missionarinnen das Interesse an Mode aus ideologischen Gründen ablehnten und sich über die Zunahme importierter Accessoires (v. a. Damenhüte) unter den Katholikinnen beschwerten, erhöhte der Handel und die steigende Immigration jener deutscher Frauen, die weder den protestantischen Missionsgesellschaften noch den katholischen Missionsorden angehörten, das Angebot.50 Im kolonialen Togo bildete Kleidung für einheimische Frauen eine Sphäre von sozialer, religiöser und wirtschaftlicher Relevanz. Im Kontext von Kolonialismus, Modernisierung und Mission funktionierte sie nicht nur als Ausdruck von Religionszugehörigkeit, sondern auch als Marker von sozialem Status und einem modernen Selbst.51 Außerdem bildeten die Produktion von und der Handel mit Textilien wichtige weibliche Arbeitsbereiche. So gesehen erscheint es wenig überraschend, dass genau die Unterrichtsgegenstände, welche mit der Produktion von Textilien in Verbindung standen (v. a. Nähen und feine Handarbeit), von den Schülerinnen nicht nur angenommen wurden, sondern sich so großer Beliebtheit erfreuten, sodass sich die Missionsschwestern gezwungen sahen darauf zu reagieren. Die Nachfrage nach neuen Herausforderungen in der Stickerei überstieg wiederholt das Unterrichtsangebot in den Mädchenschulen. Um den Unterricht weiterhin attraktiv zu halten, baten die Missionsschwestern regelmäßig in Europa um neue Muster und Vorlagen.52 Zur Betonung der Dringlichkeit ihrer Anfragen verwiesen sie dabei auf die Konkurrenz der protestantischen Mission. Mit der Eröffnung einer Mädchenschule in Lomé durch die Diakonissen der Bremer Mission 1902 hatte die konfessionelle Konkurrenz vor Ort deutlich an Dynamik gewonnen. Erstmals existierte eine Wahlmöglichkeit in der westlich orientierten Mädchenbildung in Lomé und die Missionsschwestern sahen sich folglich gezwungen, ihr Bildungsangebot entsprechend den 48 So verteilten die Missionsschwestern zum Beispiel jährlich Kleider und Stoffe an ihre fleißigsten Schülerinnen. 49 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896–1917, Sr. Georgia van Oopen, 6.8.1900. 50 Stegmaier, Die alte Togomission, S. 228. 51 Vgl. Sill, Encounters, 19f.; Meyer, Christian Mind, S. 323. 52 Vgl. Stegmaier, Die alte Togomission, S. 228.
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Wünschen ihrer Schülerinnen (kostenlos) zu erweitern.53 „Wir müssen alles aufbieten, was in unseren schwachen Kräften steht, daß uns die Schulmädchen nicht davon laufen“, schreibt eine Missionsschwester 1904 in Rechtfertigung ihrer wiederholten Bitte um neues Unterrichtsmaterial.54 Die Nachfrage der einheimischen Bevölkerung nach (westlicher) Bildung gestaltete also das Unterrichtsangebot wesentlich mit. Vereinzelt dokumentierte Klagen von Eltern belegen zudem, dass sich diese durchaus zur Wehr setzten, wenn die Mission ihren Ansprüchen einer säkularen Ausbildung ihrer Kinder nicht gerecht wurde.55 Um diese Ansprüche zu erfüllen, benötigte die Mission ausgebildete Lehrerinnen, welche nicht zu jeder Zeit in Togo vorhanden waren. 1903 richtete der Apostolische Präfekt Hermann Bücking einen eindringlichen Brief an die Generaloberin der Missionsschwestern in Steyl, in welchem er eine vertiefte Ausbildung der für Togo bestimmten Schwestern verlangte. Nur umfassend (in Lesen, Rechnen, Handarbeit, Musik, etc.) ausgebildete Schwestern, so Bücking, würden auch die Achtung der Bevölkerung in Lomé und Aného (damals „Klein Popo“) genießen und in der Lage sein, den durchaus hohen Erwartungen zu entsprechen: „Überhaupt kann man sagen, die Schwestern, die hierher kommen, können nie zuviel. Es ist hier Afrika, das ist wahr, aber die Lebensanforderungen, die hier in Lome und Popo an einen gestellt werden, sind viel höher in mancher Beziehung wie in der Heimat in vielen Dörfern und selbst manchen mittelgroßen Städten. Trotz mancher unzivilisierter Seiten wird doch fast großstädtisches Wesen, Können, Auftreten und Leben gefordert.“56
Bücking machte deutlich, dass die Fähigkeiten der Missionare und Missionarinnen das Ansehen der Mission in den Augen der Bevölkerung wesentlich mitbestimmten und plädierte deshalb für eine umfassendere und ver53 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896–1917, Sr. Georgia van Oopen, 21.7.1902. 54 Ebd., Sr. Georgia van Oopen, 6.7.1902. 55 So wandte sich 1911 John Byll an die Kolonialbehörden und forderte die Auflösung des Erziehungsvertrags seiner Tochter mit der Begründung, dass diese „is learning nothing at the mission but beggin[g] money from her uncles, because is not getting good feedings in the mission“. Bundesarchiv (BArch), R 150F/FA 1/511, Bl. 309– 312, hier Bl. 310. 56 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896–1917, P. Hermann Bücking, 23.01.1903.
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tiefende Ausbildung der Schwestern. Er warnte explizit davor, fehlende Kenntnisse in einem Schnellverfahren vor der Abreise nachzuholen: „In den letzten Monaten auf schnell acht oder 10 Tage in jedes Geschäft hinein. Das ist nichts, damit blamiert man sich hier nur.“57 Bückings Brief zeigt, dass die Erwartungen der einheimischen Bevölkerung an die Mission sogar die Ausbildung in Steyl beeinflussen konnte; so enthält derselbe auch eine Notiz Janssens, in welcher er die Leitung der Kongregation und ihre Ausbildnerinnen dazu auffordert, diesen zur Kenntnis zu nehmen.
Aneignung und Transformationen Aber nicht nur Eltern, sondern auch die Schülerinnen oder „Missionsmädchen“ selbst verbanden mit der (Internats-)Schule konkrete Erwartungen bzw. nutzten das Kloster zur Umsetzung ihrer eigenen Interessen. Das lässt sich exemplarisch am Leben von Maria Ga de Souza zeigen, die insgesamt sechzehn Jahre mit den Schwestern in Lomé lebte. Maria Ga de Souza58 wurde 1878 in der britischen Gold Coast Colony als Tochter von Ayawo de Souza geboren. 1892 ging sie mit ihrer Familie nach Deutsch-Togo, wo sie fortan bei ihren Verwandten, einer wohlhabenden und einflussreichen Familie, in der Nähe von Lomé lebte und 1894 getauft wurde.59 Ein Chronikeintrag vom 28. Juli 1902 belegt ihre Aufnahme als Pensionärin ins Schwesternhaus in Lomé.60 Maria Ga de Souza, die zu dem Zeitpunkt bereits 24 Jahre alt war und ihren Umzug trotz des anfänglichen Widerstands ihrer Mutter und Geschwister durchsetzte,61 machte das Kloster aus eigenem Antrieb zum Mittelpunkt ihres Lebens. Ihre Stellung in der Klostergemeinschaft war ambivalent: Während die Missionsschwestern sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters durchweg paternalistisch als eines „ihrer Hauskinder“ bezeichneten, äußerten sie stets auch offen ihre Wertschätzung 57 Ebd. 58 „Maria Ga“ bedeutet so viel wie die „große“ oder „älteste“ Maria. Während aus den Quellen nicht hervorgeht, wann bzw. von wem dieser Beiname gegeben wurde, kann festgestellt werden, dass die Missionsschwestern diese Anrede konsequent beibehielten. 59 Anonym?, Eine „schwarze Missionarin“, in: Missionsgrüße der Steyler Missionsschwestern Dienerinnen des Heiligen Geistes (1922) 6, S. 85–88. 60 AG SSpS 034 Tg 6302, Chronicles, 1897–1918, Lomé, S. 8. 61 Eine „schwarze Missionarin“, S. 86.
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für ihre Arbeit. Die Schwestern in Lomé betonten die zentrale Bedeutung ihrer Unterstützung, sowohl für das Funktionieren der Klostergemeinschaft, als auch für die Missionsarbeit vor Ort. So übernahm Maria Ga de Souza zum Beispiel im Jahr 1908 über sieben Wochen die Nachtpflege einer an Tuberkulose erkrankten und unter den Frauen Togos sehr beliebten Missionsschwester, wofür sie bis nach Europa gelobt wurde: „Sie konnte mit der Kranken so gut fertig werden wie eine Schwester“, hieß es zum Beispiel in einem Brief nach Steyl.62 Zudem engagierte sich Maria aktiv in der Missionstätigkeit. Sie beteiligte sich an der Erziehung der jüngeren „Missionsmädchen“ und assistierte in Schule und Kindergarten bereits vor der offiziellen Einstellung der ersten einheimischen Lehrerinnen ab 1908. Maria Ga war nicht nur bei den Kindern Lomés beliebt (die sie auch als „Mutter“ bezeichneten63), sondern verzeichnete auch bei der Werbung für den Unterricht bemerkenswerte Erfolge, weil sie aufgrund ihres familiären Hintergrunds „viel Ansehen bei den Leuten“ hatte.64 Das Ansehen und Vertrauen, welches Maria Ga de Souza sowohl seitens der Mission als auch der Bevölkerung Lomés genoss, ermöglichte ihr zudem die Übernahme der Taufpatenschaften von Neuchristen und Neuchristinnen, welche sowohl in religiöser als auch sozialer Hinsicht bedeutsam waren. Aufgrund der Wichtigkeit, welche der Orden diesem Amt beimaß, übernahmen die Schwestern dieses in den Anfangsjahren oft selbst. Später setzten sie sich dafür ein, dass die ältesten Christen und Christinnen Lomés als Paten bzw. Patinnnen agierten.65 1909 hatte Maria Ga de Souza nach Schätzung einer Missionsschwester „wohl mehr als hundert Patenkinder“, für deren religiöse Erziehung und schulische Ausbildung sie sich verantwortlich fühlte.66 Insgesamt betrachtet legen die Quellen nahe, dass das Verhältnis zwischen Maria Ga de Souza und den Missionsschwestern zwar durch eine grundlegende koloniale, das Zusammenleben im Kloster dominierende Ungleichheit bestimmt,67 aber dennoch auch von Zuneigung und Vertrauen geprägt 62 AG SSpS 034 Tg 02, Briefe der Schwestern 1908-1914, Sr. Thaddäa Brands, 25.07.1908. 63 Eine „schwarze Missionarin“, S. 87. 64 AG SSpS 034 Tg 02, Briefe der Schwestern 1900-1907, Sr. Norberta Vaßen, 04.09.1904. 65 Thauren, Die Mission, S. 32. 66 Eine „schwarze Missionarin“, S. 87. 67 Während die Missionsschwestern zum Beispiel über eigene Zellen und ein Refektorium verfügten, lebte, aß und schlief Maria Ga gemeinsam mit den restlichen „Missionsmädchen“ unter einfachsten Bedingungen.
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war. Maria Ga de Souza, die mit ihrer Familie stets in gutem Kontakt blieb und zwischenzeitlich auch nach Hause zurückkehrte, um ihre kranke Mutter zu pflegen, hatte das Klosterleben selbst gewählt. Die Hochschätzung der Missionsschwestern wird trotz deren Paternalismus immer wieder deutlich. Einem von den Steyler Missionarinnen 1922 in Deutschland veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Eine ‚schwarze Missionarin‘“ zufolge, lebte Maria Ga de Souza über die Jahre „so fromm wie eine Schwester“ und wurde auch von den Bewohnern Lomés als solche bezeichnet.68 Koloniale Machtverschiebungen infolge des Ersten Weltkriegs vergrößerten zudem ihre Möglichkeiten in der Mission, weil die neue britische Kolonialregierung die Aktivitäten des deutschen Ordens zunehmend einschränkte. Als die Regierung schließlich Anfang des Jahres 1918 alle Deutschen aus Togo auswies, übernahm Maria Ga de Souza mit zwei weiteren „Missionsmädchen“ die Verantwortung für das Kloster69 und blieb dort wohnen bis dasselbe im März 1918 von den französischen Schwestern Notre Dame des Apôtres übernommen wurde. Kurz darauf übersiedelte sie aufgrund einer Erkrankung in das Haus ihrer Schwester, wo sie im Oktober 1918 verstarb. In der Zusammenschau machen die erhaltenen Quellen einen wesentlichen Punkt deutlich: Maria Ga de Souza nutzte die Existenz der weiblich dominierten Räume und Strukturen in der katholischen Mission zur Realisierung ihrer eigenen Pläne. Während Schwester Georgia van Oopen in der oben zitierten Passage auf verbesserte Heiratschancen für die Absolventinnen des Mädchenpensionats verwies und dieses als ein Vehikel für weibliche soziale Mobilität durch Heirat beschrieb, ließ sie andere Aspekte des Klosterlebens, wie es sich für die Frauen Lomés darstellte und offensichtlich für einige auch attraktiv war, außer Acht. Ob beabsichtigt oder nicht, die Missionsschwestern hatten nicht nur das von ihnen propagierte Ideal katholischer Weiblichkeit in Ehe und Mutterschaft sondern noch ein weiteres Lebensmodell nach Togo gebracht. In ihren (teilweise imposanten) Klöstern in den europäisch dominierten Stadtteilen an der Küste lebend,70 scheinbar unabhängig von Männern und unbelastet von Mutterpflichten, bildeten sie zölibatäre Gemeinschaften, die auf gegenseitige Unterstützung bauten und dank regelmäßig eintreffender Schiffslieferungen aus Europa bestens mit den ersehnten Importgütern 68 Eine „schwarze Missionarin“, S. 87. 69 AG SSpS 034 Tg 03/3, Kriegserlebnisse/Ausweisung, Sr. Redempta Philips, S. 10f. 70 Wie Sebald zeigte, manifestierte sich der koloniale Herrschaftsanspruch auch in der Stadtarchitektur Lomés. Vgl. Sebald, Togo, S. 402.
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versorgt waren. Mit ihrem Engagement in der Mädchenbildung und in der Krankenpflege trugen sie die Verantwortung über einen öffentlichen Bereich von zunehmender Relevanz in der Kolonie. Maria Ga de Souza war kein Einzelfall. Im frühen 20. Jahrhundert hatte sich in Lomé eine kleine, aber konstante Gruppe von Frauen gebildet, deren Mitglieder das katholische Bildungssystem durchlaufen hatten und sich im katholischen Leben der Kolonie engagierten, ohne (gleich) die von der Mission für sie angestrebten Rollen der Ehefrauen und Mütter zu übernehmen. Stattdessen blieben sie im Kloster wohnen und übernahmen Aufgaben in den entstehenden Gemeinden und neuen Institutionen (v. a. Schulen und Kindergärten). Mit der offiziellen Einstellung von Lina Quist 1908 als Hilfslehrerin an der Mädchenschule in Lomé fand auch die erste einheimische Katholikin beruflich Eingang in eine kirchliche Einrichtung.71 Ein Jahr später berichtet die Chronik von der offiziellen Aufnahme der beiden „Missionsmädchen“ Julia und Maria de Freitas in den Schuldienst.72 Die Erweiterung des Tätigkeitsbereichs einheimischer Katholikinnen geht auf deren Eigeninitiative zurück, da die Missionsschwestern diese zunächst nicht unterstützten. Obwohl afrikanische Lehrer und Katechisten bereits seit langem in den katholischen Missionsschulen tätig waren,73 führten die Anstellungen einheimischer Lehrerinnen durch den Apostolischen Präfekten 1910 zu Konflikten mit den Missionsschwestern, welche sich zunehmend negativ über die „Indigenisierung“ des Unterrichts in den Mädchenschulen äußerten. Dabei zogen sie die Eignung ihrer ehemaligen Schülerinnen als Lehrerinnen offen in Zweifel: Obwohl „im eigentlichen Sinne nichts“ gegen die Anstellung „einheimischer Mädchen“ einzuwenden sei, so die Provinzialoberin der Dienerinnen des Heiligen Geistes in Togo, und diese in der Schule „ja wohl eifrig“ wären, so kümmerten sie sich „außerhalb der Schule“ nicht ausreichend um die Schülerinnen.74 Des Weiteren machten die Missionsschwestern deutlich, worin ihrer Meinung nach die Qualifizierungsdefizite einheimischer Lehrerinnen bestanden: „Zudem sind es immer, wenn sie [die „Missionsmädchen“ im Schuldienst, K. S.] auch manches gelernt, noch unerfahrene Mädchen, die noch manchmal selbst der Aufsicht bedürfen […].“ Deshalb, so das Fazit der 71 AG SSpS 034 Tg 6302, Chronicles, 1897–1918, Lomé, S. 27. 72 Ebd., S. 31. 73 Ein Seminar zur Heranbildung von Lehrern und Katechisten wurde bereits 1895 eingerichtet. Vgl. Thauren, Die Mission, S. 26. 74 AG SSpS 034 Tg 01, Offizielle Korrespondenz 1896–1917, Sr. Georgia van Oopen, 11.08.1910.
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Provinzialoberin, sollten einheimische Frauen nur als Assistentinnen und nur unter Aufsicht der Schwestern im Schuldienst tätig sein.75 Der Apostolische Präfekt Schöning hingegen, welcher einheimische Arbeitskräfte zunächst vor allem aus Kostengründen bevorzugte, sah den Grund ihres Widerstands in Verdrängungsängsten der Schwestern. Er konterte ihren Bedenken mit Verweis auf die – im Vergleich zu manchen Lehrschwestern, welche das Ewe nicht ausreichend beherrschten – sogar besseren Unterrichtsergebnisse einheimischer Lehrerinnen. Außerdem betonte er die Erfolge der protestantischen Schularbeit, welche überhaupt nur zwei deutsche Diakonissen in der Leitung beschäftigte und sonst vollständig von einheimischem Personal durchgeführt wurde.76 Insgesamt wird in dieser Auseinandersetzung die charakteristische Ambivalenz zwischen der Betonung gemeinsamer Mensch- bzw. Weiblichkeit und radikaler Differenz deutlich, welche das Verhältnis der deutschen Ordensfrauen zu den einheimischen Frauen noch bis zum Ende ihrer Tätigkeit in Togo prägen sollte.
Limits: Geschlecht, Religion und Differenz Am deutlichsten wurde diese Ambivalenz, als die ersten Frauen um Aufnahme in die Kongregation nachsuchten, wie sich anhand der Biografie von Magdalena Gbikpi zeigen lässt. Aufgewachsen mit dem Namen Afiavi, kam dieselbe bereits im Kindesalter ins Kloster nach Aného, wo sie auf den Namen Magdalena getauft wurde und die Schule absolvierte. Wie Maria Ga de Souza blieb auch Magdalena nach ihrem Abschluss auf eigenen Wunsch im Kloster wohnen, wo sie den Schwestern in Unterricht und Krankenpflege assistierte.77 In ihrer Zeit als „Missionsmädchen“ erwarb sich Magdalena die Anerkennung der Schwestern, welche sie als „ein sehr braves gutes Mädchen“78 und „immer eines der bravsten Kinder“ lobten.79 Ihr Wirken, so die Vorsteherin von Magdalenas „Heimatkloster“, war von „wahrhaft christlichem Geiste durchdrungen“.80 Als jedoch ein von der Mission angestellter katholischer 75 76 77 78
Ebd. Nikolaus Schönig, in: Stegmaier, Die alte Togomission, S. 237. Eine christliche Hausfrau, S. 39. AG SSpS 034 Tg 02, Briefe der Schwestern 1900–1907, Sr. Immaculata Göcke, 10.12.1905. 79 Eine christliche Hausfrau, S. 39. 80 Ebd., S. 38.
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Lehrer mit Unterstützung des Ordens um ihre Hand anhielt, lehnte Magdalena zur Überraschung der Beteiligten ab. Schwester Immaculata Göcke, die langjährige Vorsteherin des Klosters in Aného und Autorin der 1923 veröffentlichten Biografie Magdalenas, erklärte deren Entscheidung wie folgt: „Die fromme Jungfrau, die täglich das Beispiel der gottgeweihten Ordensfrauen vor Augen hatte und für die hehre Schönheit des Ordenslebens ein empfängliches Herz besaß, fühlte sich zum jungfräulichen Leben hingezogen. Wohl ist die Lilie der Jungfräulichkeit eine seltene Blüte des heidnischen Landes; doch Magdalenas längst gefasste Neigung schien echt und tief. Ihr schwebte das hohe Ziel vor, Ordensschwester, Braut Christi zu werden. Sie drang in die Schwestern, ihr zur Erreichung desselben zu verhelfen […]“.81
Obwohl die Missionsschwestern offensichtlich an die Festigkeit ihres Entschlusses glaubten und über ihre zunehmende Verzweiflung berichteten,82 unterstützten sie Magdalena nicht, woraufhin diese sich brieflich an den Ordensgründer Janssen persönlich wandte. Der gewünschte Erfolg blieb jedoch aus. Angeblich schickte Janssen Magdalena in Antwort lediglich ein Buch zum Thema Jungfräulichkeit.83 Und als der genannte Lehrer, Georg Gbikpi, seinen Heiratsantrag schließlich wiederholte, suchte Magdalena den Rat des damaligen Leiters der katholischen Mission. Der Rat des deutschen Priesters an Magdalena ist bemerkenswert, denn dieser antwortete ihr auf ihren – in der Darstellung Schwester Immaculatas – tief empfundenen Wunsch, Gelübde abzulegen, wie folgt: „Magdalena, wenn du eine christliche Ehe eingehst, verspreche ich dir im Namen Gottes den Himmel; wenn du aber unverheiratet bleiben willst, kann ich dir unter den Gefahren des Heidentums den Himmel nicht so sicher versprechen.“84
81 Ebd., S. 39f. 82 So schrieb eine Missionsschwester 1905 über ein „Hausmädchen“ in Aného, das unbedingt nach Steyl gehen wollte: „Ja, sie ist ganz voll von Steyl und wenn von hier mal eine Schwester hinreist und [sie] kommt nicht mit, dann wird sie bald halb verzagt.“ AG SSpS 034 Tg 02, Briefe der Schwestern 1900-1907, Sr. Rosalia Falkner, 24.09.1905. 83 Eine christliche Hausfrau, S. 40. 84 Ebd., S. 40.
Missionspraxis deutscher Ordensfrauen im kolonialen Togo
Daraufhin willigte Magdalena in die Ehe ein. Den Missionsschwestern zufolge, mit welchen sie auch nach deren Ausweisung aus Togo in Briefkontakt blieb, führte Magdalena seitdem ein vorbildliches Leben als Ehefrau und Mutter. Ihre Geschichte bzw. die Art und Weise, wie sie erzählt und 1923 in Deutschland publiziert wurde, macht jedoch deutlich, wie diskursive Konstruktionen von Geschlecht und Ethnizität im Missionskontext in eine paradoxe Politik der Exklusion mündeten, welche Frauen zwar als den Schlüssel religiöser, moralischer und „zivilisatorischer“ Transformation sah, ihnen jedoch gleichzeitig die Integration in kirchliche Institutionen verwehrte. Obwohl der Katholizismus grundsätzlich Virginität als den hervorgehobenen Weg zu Gott anerkannte und niemandem, weder Priestern noch Angehörigen, das Recht einräumte, die individuelle Entscheidung einer Frau für das zölibatäre Leben zu missachten,85 blieb Magdalena ein Leben außerhalb der Ehe ohne Erklärung und nur mit dem impliziten Verweis auf ihre ethnische Herkunft versagt. Magdalenas Fall verweist auf zwei relevante Aspekte dieser modifizierten katholischen Ordnung in Togo. Erstens spiegelte der exklusive Fokus auf die Gründung von katholischen Familien die Männerbzw. die Priesterzentriertheit der Kirche wider. Die Schaffung katholischer Familien und die damit einhergehende Beschränkung der Frauenrolle auf die Reproduktion nahm eine Schlüsselrolle in den Missionsstrategien ein, weil man letztlich einheimische Priester haben wollte und gleichzeitig davon überzeugt war, dass „nur aus kernchristlichen Familien, zumal im Heidenland, zuverlässige Priesterberufe hervorgehen können“.86 Der Verweis auf die „Gefahren des Heidentums“ in der Absage an Magdalena verweist auch auf die Frage nach dem Konzept von „Rasse“ in der Mission. Während die Steyler Mission ab 1912 den ersten einheimischen Kandidaten auf das Priesterstudium in Togo vorbereitete, hatte sie Magdalenas Ansuchen um Aufnahme mit dem Verweis auf die Gefährdung ihrer Heilserwartung durch den Zölibat zurückgewiesen. Da jedoch deutsche Missionsschwestern zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahrzehnt in Togo lebten ohne ihr Keuschheitsgelübde in irgendeiner Weise gefährdet zu haben, ist dieser Aussage die Annahme implizit, dass die thematisierte „Gefahr“ in einer wahrgenommen Differenz der Antragstellerin begründet liegt. Dies wiederum lässt sich mit Blick auf Körperkonstruktionen entlang ethnischer und 85 Diese Entscheidung wurde als der Wille Gottes aufgefasst. Vgl. Meiwes, Arbeiterinnen, S. 220–222. 86 Thauren, Die Mission, S. 28.
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geschlechtlicher Marker erklären. Während Virginität und sexuelle „Reinheit“ seit dem Tridentinum – auch im Vergleich mit Priester und Brüdern, welche stets auch ihre Fehlbarkeit einräumten und sich stärker über andere Werte, wie zum Beispiel Gehorsam, definierten – eine immer zentralere Bedeutung für die Identität katholischer Ordensfrauen angenommen hatten,87 bewirkten die neuzeitlichen Diskurse der Differenz die Sexualisierung des „schwarzen“ Körpers im Allgemeinen und des Frauenkörpers im Besonderen.88 In diesem Sinne sahen die Missionare und Missionarinnen die christliche Ehe als den einzig legitimen Ort, an dem die Sexualität katholischer Afrikanerinnen kontrolliert und gelebt werden konnte. Magdalena Gbikpis Geschichte zeigt, wie soziale und diskursive Strukturen im kolonialen Missionsfeld zusammenwirkten und eine Politik der Exklusion begründeten, welche es afrikanischen Frauen nicht erlaubte, die Gelübde abzulegen. Anscheinend war die Vorstellung, Afrikanerinnen könnten auf Sexualität verzichten und in der Virginität ein Leben in Reinheit führen, undenkbar. D. h. dass das, was für Afrikaner vorstellbar war – der Verzicht auf Sexualität – für Afrikanerinnen ausgeschlossen blieb.89 In dieser kolonialen Vorstellungswelt der Mission gingen „Rasse“ und „Geschlecht“ eine ganz eigene Verbindung ein. Gleichzeitig zeigt die Biografie Magdalena Gbikpis, dass konvertierte einheimische Frauen die von der Mission propagierten Ordnungsvorstellungen von „Geschlecht“ und „Rasse“ auch modifizieren konnten, indem sie die von der Mission für sie vorgesehenen Rollen als Ehefrauen und Mütter (zumindest für einige Zeit) ablehnten und in Keuschheit lebten. Sie blieben im Kloster wohnen und engagierten sich auf genau die gleiche Art und Weise in den neuen weiblichen Arbeitsbereichen wie die Ordensfrauen aus Europa, die diese (auch) nach Togo gebracht hatten.
87 Vgl. Jo Ann Kay McNamara, Sisters in Arms. Catholic Nuns Through Two Millennia, Cambridge/London 1996, S. 2–4. 88 Zum Körper als Ort geschlechtlicher und rassischer Einschreibungen vgl. Brigitte Kossek, Die Politik des Visuellen. Zur Sexuierung und Rassisierung von Körpern bzw. Identitäten, in: Johanna Gehmacher/Maria Mesner (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte Positionen/Perspektiven, Innsbruck/Wien/München/Bozen 2003, S. 109–126. 89 Der erste einheimische Priester, Anastasius O. Dogli, wurde zwar erst 1922 geweiht, hatte jedoch sein Studium bereits unter den Steyler Missionaren begonnen. Für eine ausführliche Diskussion der geschlechtsspezifischen Aspekte der katholischen Politik der Exklusion im Kontext von Mission vgl. Stornig, „All for the greater Glory“, S. 309–347.
Mind the Gap! Raum, Geschlecht und die Zirkulation von Wissen in der Mission am Beispiel der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut Julia Hauser
Seit der Frühen Neuzeit gehörten Missionarinnen und Missionare in Europa zu den wichtigsten Vermittlern von Wissen über das religiös und kulturell Andere. Wie in diesem Beitrag zum einen gezeigt werden soll, verlief die Produktion solchen Wissens durchaus geschlechtsspezifisch. Während das von männlichen Missionaren gesammelte Wissen gerade im 19. Jahrhundert oft in die sich ausdifferenzierenden Wissenschaften, insbesondere die Ethnologie, einfloss,1 lässt sich das von weiblichem Missionspersonal generierte Wissen eher als Alltags- oder Erfahrungswissen fassen, das aus verschiedenen Gründen seltener die „Metropole“ erreichte. Am Beispiel dieser anderen Art der Wissensproduktion wird daher zum anderen argumentiert, dass Mission nicht allein im Spannungsfeld von „Peripherie“ und „Metropole“ begriffen werden kann.2 Vielmehr stockte unter bestimmten Bedingungen die Kom-
1 Alexandra Przyrembel, „Wissen auf Wanderschaft“. Britische Missionare, ethnologisches Wissen und die Thematisierung religiöser Selbstgefühle um 1830, in: Historische Anthropologie 19 (2011) 1, S. 31–53. 2 Der von Stoler und Cooper entwickelte Ansatz „[to] treat metropole and colony in a single analytic field“ (Ann Laura Stoler/Frederick Cooper, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Tensions of Empire, Berkeley 1997, S. 1–56, hier S. 1) ist für viele neuere Untersuchungen zur Mission wegweisend geworden. Vgl. etwa Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830–1867, Chicago 2002. In meiner derzeit in Vorbereitung für den Druck befindlichen Dissertation zeige ich, dass dieser Ansatz in mehrfacher Hinsicht einer Erweiterung bedarf: Julia Hauser, An Island Washed by the Crashing Waves of the Ocean? The Kaiserswerth Deaconesses’ Contríbution to Female Education in Late Ottoman Beirut, Göttingen, Univ., Diss. 2012. Vgl. dazu außerdem Julia Hauser, Metropolizing the periphery. A proposal for a new concept of space in global history, in: dies./Christine Lindner/Esther Möller (Hg.), Entangled Education. Education in Lebanon during the Nineteenth and Twentieth Centuries [in Vorbereitung].
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munikation zwischen Metropole und Peripherie – mit weitreichenden Folgen für die Diskurse über das kulturell Andere, die daheim geführt wurden. Nach Berger und Luckmann richtet sich die Produktion von Alltagswissen, jenem Wissen, „welches das Verhalten in der Alltagswelt reguliert“,3 nach der Relevanz des Gegenstandes für die unmittelbare, alltägliche Umgebung des Individuums.4 Es entsteht oft intersubjektiv und ist nur solange gültig, wie es nicht durch das Gegenüber in der Interaktion infrage gestellt wird.5 Wenn überhaupt explizit ausgedrückt, wird es selten verschriftlicht. Selbst wenn dies im Fall der Diakonissen anders war, da sie durch ihre Hausordnung dazu verpflichtet waren, dem Vorstand in regelmäßigen Abständen über ihren Arbeitsalltag zu berichten, fand dieses Wissen jedoch nicht immer Resonanz in der Metropole, dem Kaiserswerther Mutterhaus und den Unterstützerkreise der Organisation. Hier wurden vielmehr weiterhin die dominanten Narrative über das kulturell Andere fortgeschrieben, auch wenn das Erfahrungswissen weiblicher Akteure in der Mission zu diesen teilweise im Widerspruch stand. Männliche Missionare waren häufig mit dem expliziten Auftrag versehen, Wissen über das religiös Andere zu sammeln. Dieses sollte nicht nur dem Publikum daheim vermittelt werden, sondern ihnen zuallererst als wichtiges Werkzeug für Predigt, theologische Kontroverse und sonstige praktische Arbeit vor Ort dienen. Weiblichem Missionspersonal wurde nur selten ein solcher Auftrag erteilt. Zumindest nominell war ihr Aktionsradius aufgrund der zeitgenössischen Geschlechterordnung auf das Heim, die Anstalt, bestenfalls das Heim des religiös Anderen, etwa den „Harem“, festgelegt. Zweifellos produzierten auch Frauen in der Mission Wissen, jedoch zumeist mit anderen Techniken des Wissensgewinns und der Darstellung und sprachen damit andere Adressaten an. Die Produktion missionarischen Wissens hing auch, so die These dieses Beitrags, von Geschlecht und Handlungsräumen der missionarischen Akteure und Akteurinnen, seine Rezeption in der Metropole hingegen von den vermeintlichen Erfordernissen der heimischen PR-Arbeit, also der Repräsentation von Mission gegenüber ihren Unterstützerkreisen, ab. Im Folgenden werden diese Zusammenhänge am Beispiel der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut und ihrer Begegnung mit dem Islam erläutert. 3 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 242010, S. 21. 4 Ebd., S. 21−26. 5 Ebd., S. 45.
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In einem ersten Schritt wird es darum gehen, vor welche Herausforderungen der Islam im 19. Jahrhundert die Missionen im Osmanischen Reich stellte und welches Wissen darüber speziell in den Publikationen Kaiserswerths vermittelt wurde. Anschließend wird im zweiten und dritten Teil am Beispiel der beiden Erziehungsanstalten – Waisenhaus und Pensionat – in Beirut untersucht, wie sich vor diesem Hintergrund die Interaktion der Diakonissen mit Muslimen gestaltete. Abschließend wird noch einmal die Frage aufgeworfen, auf welche Weise das aus diesen Interaktionen gewonnene Wissen über die Begegnung dem heimatlichen Publikum vermittelt wurde.
Mission als chemische Reaktion, oder: Strategien der Ohnmacht Inwiefern lässt sich überhaupt von einer Begegnung zwischen Diakonissen und Muslimen sprechen? In der neueren Forschung, in der die Tätigkeit der Diakonissen im Osmanischen Reich lediglich als „Innere Mission im Ausland“ ohne Ambitionen auf Mission von Nichtchristen charakterisiert wird, spielt dieser Aspekt eine untergeordnete Rolle.6 Auch Studien zu anderen 6 Uwe Kaminsky, German „Home Mission“ Abroad: The „Orientarbeit“ of the Deaconess Institution Kaiserswerth in the Ottoman Empire, in: Heleen Murre van den Berg (Hg.), New Faith in Ancient Lands. Western Missions in the Middle East in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Leiden u.a. 2006, S. 191−209; ders., Die innere Mission Kaiserswerths im Ausland. Von der Evangelisation zum Bemühen um die Dritte Welt, in: Nobert Friedrich/Traugott Jähnichen (Hg.), Sozialer Protestantismus im Kaiserreich. Problemkonstellationen – Lösungsperspektiven – Handlungsperspektive, Münster 2005, S. 355−385; ders., Innere Mission im Ausland. Der Aufbau religiöser und sozialer Infrastruktur am Beispiel der Kaiserswerther Diakonie (1851–1975), Stuttgart 2010, S. 25f. Kaminskys Perspektive beruht letztlich auf einem Konsens innerhalb der Forschung zur Tätigkeit der Kaiserswerther Diakonie im Osmanischen Reich, die bislang deren religiösen Bias zugunsten einer Würdigung ihrer vermeintlich überkonfessionellen sozialen Aspekte weitgehend ausgeblendet hat. Vgl. Martin Gerhardt, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild, Bd. 2, Kaiserswerth 1937, S. 639. Auch Ruth Felgentreff betont v. a. die angeblich säkularen Aspekte der Tätigkeit der Diakonissen im Osmanischen Reich. Vgl. dies., Das Diakoniewerk Kaiserswerth 1836–1998. Von der Diakonissenanstalt zum Diakoniewerk – ein Überblick, Kaiserswerth 1998, S. 36; dies., Die Folgen einer ungewöhnlichen Begegnung. Kaiserswerther Diakonissen in Jerusalem und anderswo im Morgenland, in: Karl-Heinz Ronecker (Hg.), Dem Erlöser der Welt zur Ehre. Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Einweihung der evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem, Leipzig 1998, S. 72–80. Thorsten
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christlichen Organisationen im Osmanischen Reich blenden die Begegnung mit dem Islam häufig aus, ja sprechen von einer angeblichen „Selbstsäkularisierung“ der Institutionen angesichts des mangelnden Interesses der Klientel an ihrem religiösen Angebot.7 Diese Charakterisierung blendet jedoch die Intention missionarischer Akteure aus, zu denen in diesem Beitrag aufgrund ihrer Zielsetzungen auch die Diakonissen gerechnet werden. Denn eindeutig gehörten Muslime, als Theodor Fliedner 1851 erstmals Diakonissen ins Osmanische Reich aussandte, zu den angestrebten Zielgruppen im Rahmen einer Tätigkeit, die dem heimischen Publikum als eine Neuauflage der Kreuzzüge präsentiert wurde. Indem sich die Diakonissen Angehörigen aller Glaubensgemeinschaften zuwandten, sollte das „Heilige Land“ für das wahre, das protestantische Christentum zurückerobert werden, jedoch mit vermeintlich friedlichen Mitteln. Als Hoffnungsträger fungierten in den Darstellungen Kaiserswerths dabei gebildete Muslime mit Sympathien für die
Neubert-Preine verweist immerhin nachdrücklich auf Fliedners „Hassgefühle gegen fast alles Nichtprotestantische“ und sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Vgl. ders., Fliedners Engagement in Jerusalem. Kaiserswerther Diakonie im Kontext der Orientmission, in: Andreas Feldtkeller/Almut Nothnagle (Hg.), Mission im Konfliktfeld von Islam, Judentum und Christentum. Eine Bestandsaufnahme zum 150-jährigen Jubiläum des Jerusalemsvereins, Frankfurt a. M. 2003, S. 57–70, hier S. 68. 7 Carolyn McCue Goffman, Masking the Mission. Cultural Conversion at the American College for Girls, in: Eleanor H. Teijiran/Reeva Spector Simon (Hg.), Altruism and Imperialism. Western Cultural and Religious Missions in the Middle East, New York 2002, S. 89–119; dies., More than the Conversion of Souls. Rhetoric and Ideology at the American College for Girls in Istanbul, 1871–1923, Ball State University, Muncie, Diss., 2002; Roland Löffler, Die langsame Metamorphose einer Missions- und Bildungseinrichtung zu einem sozialen Dienstleistungsbetrieb. Zur Geschichte des Syrischen Waisenhauses der Familie Schneller in Jerusalem, 1860– 1945, in: Dominique Trimbur (Hg.), Europäer in der Levante. Zwischen Politik, Wissenschaft und Religion (19. –20. Jahrhundert), München 2004, S. 77–106; ders., The Metamorphosis of a Pietistic Missionary and Educational Institutiton. The Case of the Syrian Orphanage (1860–1945), in: Murre-van den Berg (Hg.), New Faith, S. 151–174. Ellen E. Fleischmann, Evangelization or Education. American Protestant Missionaries, the American Board, and the Girls and Women of Syria (1830–1910), in: ebd., S. 263–280; Chantal Verdeil, Les écoles d’Orient: le réseau scolaire congréganiste en Syrie (1880–1914), in: Bernard Delpal/Bernard Hours (Hg.), France – Levant. De la fin du XVIIe siècle à la première guerre mondiale, Paris 2005, S. 145–166; dies., La classe „sous le chêne“ et le pensionnat: Les écoles missionnaires en Syrie (1860–1914) entre impérialisme et désir d’éducation, in: Outre-mers 95 (2007), 354–355, S. 197–221.
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Bibel,8 als bedrohlicher Gegenspieler hingegen der vielbeschworene „muhammedanische Fanatismus“.9 Um diesen nicht offen herauszufordern, sollten die Diakonissen lediglich indirekt Nichtprotestanten für ihren Glauben gewinnen, ein Gedanke, der freilich auch viel mit geschlechtsspezifischen Erwartungen zu tun hatte, wurde doch weibliche Missionstätigkeit im Sinne des deutschsprachigen Protestantismus jener Zeit mit Verweis auf das paulinische Dictum „Mulier taceat in ecclesia“ (1. Kor. 14, 34) mehrheitlich abgelehnt.10 Anders als manch männliche Missionare,11 denen derartiges Wissen in Predigt und theologischer Kontroverse zugutekommen sollte, waren die Diakonissen im Rahmen dieses scheinbar passiven Auftrags nicht dazu aufgerufen, sich mit den religiösen Praktiken vor Ort auseinanderzusetzen. Indirekt waren aber nicht nur die Mittel, sondern auch die Strategie, die Fliedner im Anschluss an die Erfahrungen anderer protestantischer Missionen propagierte. Denn das endgültige Ziel, die Bekehrung der Muslime, konnte aus seiner Sicht nur erreicht werden, wenn die einheimischen Christen, deren Religion ihm als ein bloßes „Namenchristentum“ erschien, zum Protestantismus geführt wurden und die so Bekehrten, wie schon die Diakonissen selbst, durch ihr eigenes Vorbild auf ihre Umgebung einwirkten12 – 8 Theodor Fliedner, Reisen in das heilige Land, nach Smyrna, Beirut, Constantinopel, Alexandrien und Cairo, etc., Kaiserswerth 1858, S. 199. 9 Elfter Bericht über die Diakonissen-Stationen im Morgenlande [im Folgenden: BM] (1874), S. 1, BM 12 (1874), S. 1, BM 16 (1884), S. 1, S. 11, BM 23 (1899), S. 2. 10 Dass sich die Aufgaben von Frauen in der Mission von denen der Männer grundlegend zu unterscheiden hatten (sie also nicht etwa predigen sollten), wurde in der zeitgenössischen protestantischen Debatte in expliziter Absetzung von der vermeintlichen Praxis britischer und amerikanischer Missionen nahezu obsessiv betont. Vgl. Für und wider die Frauenmission, in: Evangelisches Missions-Magazin 28 (1884), S. 177–197, hier S. 190; Reinhold Grundemann, Missionsrundschau. Asien (China), in: Allgemeine Missionszeitschrift 25 (1893), S. 475 f.; August Wilhelm Schreiber, Die Arbeit an den heidnischen Frauen und Mädchen, in: Allgemeine Missionszeitschrift 25 (1891), S. 285; Gustav Warneck, Die Arbeit an den heidnischen Frauen und Mädchen, in: Allgemeine Missionszeitschrift 20 (1893), S. 465; Julius Richter, Die Organisation der Frauenmissionsarbeit. Referat von Dr. Schreiber auf der Bremer Missionskonferenz, in: Allgemeine Missionszeitschrift 24 (1897), S. 421 f. Vgl. auch Eulenhöfer-Mann, Frauen, S. 110, S. 123, S. 171. 11 Vgl. dazu etwa Przyrembel, Wissen auf Wanderschaft. 12 Theodor Fliedner, Vorschlag zur Gründung einer deutsch-evangelischen MissionsGesellschaft für das Morgenland, Kaiserswerth 1857, S. 1. In dieser Hinsicht folgte Fliedner der Argumentation sowohl deutscher protestantischer Reisender wie Friedrich Adolph Strauß, mit dem Fliedner persönlich bekannt war (ders., Sinai und Golgotha. Reise in das Morgenland, Berlin 31865, S. IIIf.), als auch der ameri-
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als ein „Salz“ oder ein „Sauerteig“,13 wie Fliedner dies plastisch mit biblischer Metaphorik umschrieb: ein Euphemismus, der den Kern des Problems traf. Denn selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein Übertritt zum Christentum für Muslime noch mit so schwerwiegenden Folgen verbunden, dass Heather Sharkey in diesem Zusammenhang von einem „social death“ spricht.14 Obwohl Apostasie, also der Abfall vom Islam, aufgrund der zunehmenden Intervention europäischer Staaten in die Belange des Osmanischen Reichs nicht mehr so streng geahndet wurde, wie es nach islamischem Recht möglich gewesen wäre – nämlich mit der Todesstrafe –,15 drohten Konvertiten noch zu dieser Zeit erhebliche rechtliche Folgen: die Annullierung ihrer Ehe, der Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder und die Enterbung. Ebenso drastisch konnten potenzielle außergerichtliche Sanktionen ausfallen: Verlust von Wohnung und Arbeitsplatz, ja des gesamten sozialen Netzwerks.16 Zudem gehörten sie als Christen einer von der muslimischen Mehrheitsgesellschaft wenig angesehenen sozialen Gruppe an. All diese Faktoren mach-
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kanischer Missionare, v. a. Eli Smiths, den er auf seiner zweiten Reise ins Osmanische Reich kennenlernte und dessen Schriften auszugsweise schon in den 1830erJahren einem deutschsprachigen Publikum bekannt waren. Drei seiner Vorträge, die diese Thematik behandelten, wurden abgedruckt im Magazin für die neueste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaft. Erstes Quartalsheft: Betrachtungen über den gegenwärtigen sittlich-religiösen und kirchlichen Zustand der orientalischen Christengemeinden, und die Mittel ihrer Wiederbelebung, Basel 1836, v. a. S. 66 f., S. 93. Zur Strategie amerikanischer Missionare im Osmanischen Reich vgl. auch Peter Kawerau, Amerika und die orientalischen Kirchen. Ursprung und Anfang der Amerikanischen Mission unter den Nationalkirchen Westasiens, Berlin 1958, S. 305–310. Thomas S. Kidd, American Christians and Islam. Evangelical Culture and Muslims from the Colonial Period to the Age of Terrorism, Princeton 2009, S. 46 f. Fliedner, Vorschlag, S. 1; ders., Reisen, S. 2. Diese Metaphorik, die auch amerikanische Missionare verwendeten und deren Implikationen in diesem Zusammenhang von Samir Khalaf untersucht wurden, ist der Bibel entlehnt: Mt. 5,13, Mk. 9.50, Lk 14,34. Samir Khalaf, Leavening the Levant. New England Puritanism as a Cultural Transplant, in: ders., Cultural Resistance. Global and Local Encounters in the Middle East, London 2001, S. 105–201. Heather Sharkey, American Evangelicals in Egypt. Missionary Encounters in an Age of Empire, Princeton 2008, S. 66 f. Vgl. Selim Derengil, There is no Compulsion in Religion. On Conversion and Apostasy in the Late Ottoman Empire, 1839−1856, in: Comparative Studies in Society and History 42 (2000), S. 547−575; Frank Griffel, Apostasy, in: Encyclopaedia of Islam, 3. Aufl. Leiden 2011, in: http://www.brillonline.nl/subscriber/ entry?entry=ei3_SIM-0044 (letzter Zugriff: 5.7.2012). Sharkey, Evangelicals, S. 66 f.
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ten eine Konversion zum Christentum wenig attraktiv. Muslime wahrten den Missionen gegenüber deshalb tendenziell eher Distanz.
„… Drusen sind ja halbe Türken“:17 Dilemmata einer geschlossenen Anstalt Als die Kaiserswerther Diakonie 1860 in Beirut infolge bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen auf dem Libanon und in Damaskus, die in Europa als Religionskrieg zwischen Christen und Muslimen bzw. Drusen gedeutet wurden,18 ihre nunmehr vierte Niederlassung im Osmanischen Reich eröffnete, galten ihre Bemühungen zunächst den in der westlichen Öffentlichkeit emphatisch viktimisierten Christen.19 Mädchen, die in dem Konflikt ihre Eltern verloren hatten, fanden unentgeltlich im Waisenhaus Zoar der Diakonissen Aufnahme. Die Anstalt basierte auf einem Kontraktsystem, demzufolge Kinder mindestens fünf Jahre dort verbleiben mussten, und auf deren gezielte Trennung von eventuell lebenden Verwandten, wodurch man sich einen intensiveren missionarischen Einfluss auf sie erhoffte.20 In Zoar suchten die Diakonissen trotz des Eigensinns ihrer „Zöglinge“21 ein Primat des Protestantismus durch17 Luise von Trotha an Caroline Fliedner, Beirut, 24.1.1867, Archiv der FliednerKulturstiftung Kaiserswerth (im Folgenden: AFKSK), AKD 242, o. S. 18 Vgl. Leila Fawaz, An Occasion for War. Civil Conflict in Lebanon and Damascus in 1860, London 1994. Die neuere Forschung hat jedoch gezeigt, dass die Ursachen des Konflikts weitaus komplexer waren und sich die christliche Bevölkerung keineswegs in einer eindeutigen Opferrolle befand. Ussama Makdisi, The Culture of Sectarianism. Community, History, and Violence in Nineteenth-Century Ottoman Lebanon, Berkeley 2000. 19 Vgl. Theodor Fliedner, Neueste Nachrichten über die syrischen Christen, und Bitte um fernere Hülfe, Kaiserswerth 1860; ders., Von Syrien, in: Neue Preußische Zeitung Nr. 283, 1.12.1860; ders., Aufruf zur Versorgung christlicher Waisenkinder vom Libanon in den Diakonissen-Häusern zu Jerusalem, Smyrna, Kaiserswerth und im Waisenhause zu Altdorf, Kaiserswerth 1860; ders., Weitere Nachricht über die syrischen Christen und ihre Waisen, Kaiserswerth 1860. 20 Vgl. Julius Disselhoff an Theodor Fliedner, Beirut, 21.12.1860, AFKSK, AKD 238, o. S. Bericht des Waisenhauses Zoar 1860–1862, ebd., AKD 242, o. S. 21 Nur ein geringer Prozentsatz der meist griechisch-orthodoxen Mädchen trat zum Protestantismus über. Rites de passage wie Heiraten oder Begräbnisse wurden von ihren Familien häufig gemäß den Bräuchen der Ursprungskonfession arrangiert. Zum Teil kam es deshalb zwischen Verwandten und Diakonissen zu regelrechten
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zusetzen. Nicht nur war der gesamte Alltag durch protestantische Frömmigkeitspraxis strukturiert. Auch wurde den „Zöglingen“ die vermeintliche Minderwertigkeit nicht-protestantischen Glaubens nahegebracht. Zunächst blieben nicht-protestantische Christen die einzigen religiös Anderen, über welche die Diakonissen berichten konnten oder auch sollten. Neben der geringen Frequentierung des Hauses durch Juden oder Muslime lag dies auch an der Zusammensetzung des „Heimatfeldes.“ Obwohl zu den Unterstützerkreisen des Beiruter Hauses zahlreiche Missionsvereine gehörten, die auf „Heidenkonversionen“ hofften, gab es auch „Freunde“ des Hauses, welche die Arbeit mit Nichtchristen mehr als kritisch sahen.22 Doch lange Zeit gab es in dieser Hinsicht ohnehin wenig zu befürchten. Erst seit 1880 verfügte das Haus über einige wenige sunnitische Zöglinge, die in den Berichten an die Unterstützerkreise jedoch kaum eine Rolle spielten.23 Geringer waren die Berührungsängste gegenüber den Diakonissen bei Angehörigen heterodoxer muslimischer Gruppierungen, vor allem der primär im Libanon ansässigen Drusen. Zwar standen christliche Missionen diesen durchaus ambivalent gegenüber, wurden sie doch im Westen als Hauptverantwortliche der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Libanon 1860 gesehen.24 Dennoch erschienen sie zumindest protestantischen Organisationen als vielversprechende Klientel. Sie beschrieben die Religion der Drusen als einen aus dem schiitischen Islam hervorgegangenen Geheimkult, dessen Angehörige sich nach außen an die religiösen Praktiken der Umgebung anpassten.25 Missionare sahen also die Religion der Drusen als hybrid und deshalb potenziell
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Kämpfen um religiöse Deutungshoheit. Vgl. etwa Luise von Trotha an Julius Disselhoff und Caroline Fliedner, Ludenburg, 6.12.1874, AFKSK, AKD 243, o. S. Die syrischen Christen, in: Neue Evangelische Kirchenzeitung 3 (1861), Nr. 2 (12.1.1861), S. 21−24. Vgl. Margarethe Kaltenschnee an Julius Disselhoff und Caroline Fliedner, Beirut, 4.1.1880, AFKSK, AKD 243, o. S. Zweifellos war die vermeintliche Offenheit der Drusen gegenüber dem Protestantismus auch dadurch bedingt, dass sie seit dem 19. Jahrhundert die Protektion Großbritanniens genossen. Kamal Salibi,The Modern History of Lebanon, London 1965, S. 57–60; Caesar E. Farah, The Politics of Interventionism in Ottoman Lebanon, 1830–1861, London/New York 2000, S. 59 f.; Kais Firro, A History of the Druzes, Leiden 1992, S. 84–89. Vgl. Fliedner, Reisen, S. 312. Anders als es viele Missionare darstellten, war jedoch die religiöse Praxis der Drusen weitaus stärker von muslimischen Einflüssen geprägt. Vgl. „Durūz“ in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Leiden 2012, URL: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/duruz-COM_0198 (letzter Zugriff 27.12.2012).
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dem Christentum zugänglich an26 – eine Wahrnehmung, der die Diakonissen tendenziell folgten, wenn sie bei Aufenthalten im Libanon auf Drusen trafen. Meist wurden sie jedoch bei solchen Begegnungen von Missionaren begleitet, die ihnen ebenfalls ihr Wissen über die Drusen zur Verfügung stellten. Unter Berufung auf amerikanische Missionare berichtete eine Diakonisse von einem Ferienaufenthalt über die Drusen: „[I]hre Religion [ist] ein trauriges Gemisch von Unglauben und Aberglauben, denn da sie keinen Gott kennen, erschreckt sie alles um sie her. Einige christliche und muhammedanische Begriffe haben sie sich nur noch angeeignet. Zum Beispiel erzählten sie, daß ihre Heiligen ins Beth-Allah (Haus Gottes) nach ihrem Tode versetzt wurden, dann glauben sie fest an die Seelenwanderung. […] Traurig ist es zu sehen, wie wenig die Ehe bei ihnen gilt. Mann und Frau kommen zusammen und bleiben bei einander, bis der Mann sich eine andere Frau wünscht, oder mit ihr irgendwie unzufrieden ist. In letztem Falle hat er das Recht, sie augenblicklich mit den Kindern zu verstoßen. […] Ist Euch das nicht schwer, so verstoßen zu werden, frugen wir eine Drusin. O nein, erwiderte sie, wir heirathen sehr bald wieder. Wir fühlten inniges Mitleiden mit einem Volke, das in so tiefem sittlichem Verderben steckt. O, möchte auch ihnen bald das rechte Licht des Evangeliums leuchten, und alle Finsterniß des Aberglaubens und Unglaubens verscheuchen!“27
Mit besonderem Appell an die „gläubigen Frauen und Jungfrauen, sich ihrer armen Schwestern im Oriente anzunehmen, damit diese auf die Stelle erhoben werden, welche dem Weibe nach biblischen Grundsätzen zum Heile der Familie gebührt,“28 erschien dieser Bericht einer Diakonisse abgedruckt in den Berichten für die „Missionsfreunde“ daheim. So hatten diese bereits ein Bild von den Drusen, als Zoar 1867 den ersten drusischen Schützling aufnahm. Endlich konnte man den „Missionsfreunden“ daheim Muslime – oder besser gesagt: ‚Ersatzmuslime‘– präsentieren, denn „Drusen sind ja halbe Türken“, wie Luise von Trotha ihrem Vorstand in Kaiserswerth erklärte.29 Hier wie an anderer Stelle wurde demnach der Islam von den Diakonissen 26 Vgl. Ussama Makdisi, Artillery of Heaven. American Missionaries and the Failed Conversion of the Middle East, Ithaca/London 2008, S. 161. 27 Pauline Schmidt an Julius Disselhoff, Beirut, 5.8.1865, AFKSK, AKD 242, o. S. 28 Berichte über die Diakonissen-Stationen am Libanon, namentlich über das Waisenhaus Zoar (im Folgenden: BB) 2 (1865), S.16 f. 29 Luise von Trotha an Caroline Fliedner, Beirut, 24.1.1867, AFKSK, AKD 242, o. S.
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als monolithischer Block wahrgenommen, weshalb er sich als ein plausibles Feindbild umso besser eignete. Der Gewinn von Wissen über drusische religiöse Praxis jedoch war für die Schwestern angesichts ihres Ziels, allen „Zöglingen“ den Protestantismus nahezubringen, von untergeordneter Bedeutung. In ihren Briefen jedenfalls finden sich dazu keine einschlägigen Passagen. Auch daheim waren nichtchristliche Zöglinge primär unter dem Aspekt ihrer erhofften Konversion, der für die Unterstützerkreise spannungsreich inszeniert werden konnte, interessant. - ammad30 Dass die erste Drusin im Waisenhaus ausgerechnet Malika Muh hieß, also den Namen des – aus missionarisch-christlicher Sicht – „falschen“ Propheten trug, musste ihre Attraktivität für die Unterstützer noch steigern. In der Tat fand sich bald ein Pate für sie, der wohlhabende Unternehmer Simonis aus Bonn, der zeitweilig auch das Rauhe Haus in Hamburg mit Spenden unterstützte.31 Durch Pflegepatenschaften konnten „Missionsfreunde“ (nicht zuletzt zum Wohle ihres eigenen Seelenheils) direkt am Werk der Konversion teilhaben, und es liegt nahe, dass sie den Briefkontakt mit den Kindern in diesem Sinne nutzten. Doch auch die Mitzöglinge fühlten sich im konfessionell aufgeladenen Klima des Waisenhauses dazu berufen, Mädchen wie Malika auf ihre religiöse Differenz aufmerksam zu machen. „Die Kinder können sie nicht mehr kränken, als wenn sie Drusin zu ihr sagen“,32 berichtete Schwester Bertha Polnick noch fünf Jahre nach Malikas Aufnahme im Waisenhaus. Tatsächlich ließ sie sich im Alter von etwa fünfzehn Jahren taufen.33 Wenige Wochen später wurde sie konfirmiert.34 Der Bericht über den „Tag, […] an dem unsere Mallecke Mohammed den Namen des falschen Propheten ablegen und den Namen ihres Friedensfürsten annehmen durfte“,35 nahm in den Berichten der Anstalt ganze vier Seiten ein und wurde als „eine süße Freude und Ursach tiefen Dankes
30 „Malleke Mohammed“ in den Briefen der Diakonissen: Bertha Polnick an Julius Disselhoff und Caroline Fliedner, Beirut, 12.5.1872, AFKSK, AKD 243, o. S. 31 Luise von Trotha an Julius Disselhoff und Caroline Fliedner, Beirut, 12.10.1867, AFKSK, AKD 242, o. S.; Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg 20 (1863), S. 190. 32 Bertha Polnick an Julius Disselhoff und Caroline Fliedner, Beirut, 12.5.1872, AFKSK, AKD 243, o. S. 33 Vgl. Taufregister, Nr. 62, Deutsche Evangelische Gemeinde Beirut. 34 Vgl. Konfirmandenbuch, No. 21, Deutsche Evangelische Gemeinde Beirut, Evangelisches Zentralarchiv Berlin (im Folgenden: EZAB). 35 BB 8 (1875), S.10.
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gegen den Herrn“,36 wenn nicht gar als ein Vorzeichen für weitere Übertritte beschrieben.37 Doch während im Waisenhaus im Jahr durchschnittlich zwei griechisch-orthodoxe Kinder zum Protestantismus übertraten,38 blieb der Fall Malikas der einzige der Konversion einer Nichtchristin. Von Muslimen wurde die geschlossene Anstalt der Diakonissen aus gutem Grund auch weiterhin kategorisch gemieden. Bis auf einige wenige Fälle wie die Aufnahme zweier muslimischer Schwestern 1880, deren Vater ihnen, „als er sie in die Schule brachte, mit großem Ernst eingeschärft [hatte], doch ja keine Christen zu werden,“39 blieben Begegnungen der Diakonissen mit Muslimen in Zoar rar bzw. wurden von ihnen nicht in ihren Briefen thematisiert. Um mit Berger und Luckmann zu sprechen, (re)produzierten die Diakonissen offenbar deshalb kaum Alltagswissen über den Islam, weil es für ihren vom Primat des Protestantismus bestimmten Alltag in der Anstalt kaum Relevanz besaß: Zu einem religiösen Dialog auf Augenhöhe mit Muslimen war ihre Bereitschaft gering. In der Metropole hätte ein solches Wissen ohnehin nur eingeschränkt Gehör bzw. Eingang in offizielle Publikationen gefunden. Die Notwendigkeit, zwischen den Erwartungen eines missions36 BB 8 (1875), S. 11. 37 BB 8 (1785), S. 11. 38 Von 116 Konfirmanden in Zoar von 1860 bis 1919 waren 54 ursprünglich nichtprotestantische Christen. Konfirmationsregister, Deutsche Evangelische Gemeinde Beirut, EZAB (statistische Auswertung). 39 Margarethe Kaltenschnee an Julius Disselhoff und Caroline Fliedner, Beirut, 4.1.1880, AFKSK, AKD 243, o. S. Einiges deutet darauf hin, dass auch im Fall der beiden muslimischen Geschwister die Konversion zum Protestantismus das erklärte Ziel der Diakonissen blieb. Möglicherweise handelt es sich bei einem der beiden Mädchen um Mabrūka Ibrahīm, die 1897 in Zoar konfirmiert wurde. Vgl. Bertha Pollnick an Julius Disselhoff, Beirut, 4.3.1881, AFKSK, AKD 243, o. S.; Jahresbericht von Zoar 1897, ebd., o. S. Ihre Schwester Nabīha, bislang nicht konvertiert, wurde 1900 von ihrem Vater aus Zoar fortgenommen, wobei der Übertritt ihrer Schwester zum Protestantismus eine Rolle gespielt haben mag. Vgl. Martha Dörnen an Georg Fliedner, Beirut, 7.1.1900, AFKSK, AKD 244, o. S. In den offiziellen Berichten wurde Mabrūkas Konversion nicht erwähnt. Eine wesentliche Rolle dabei dürfte gespielt haben, dass die Beiruter Anstalten seit 1891 vom Auslandsschulfonds des Auswärtigen Amtes unterstützt wurden. Vgl. Reichskanzler v. Caprivi an Julius Disselhoff, Berlin, 5.7.1891, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 901.39658, o. S. Dieser aber stand religiöser Einflussnahme generell kritisch gegenüber, was sich in der Zeit der deutsch-türkischen Freundschaft noch verstärkt haben dürfte. Vgl. Hauser, Island, S. 280; Malte Fuhrmann, Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851–1918, Frankfurt a. M., S. 144–145.
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freundlichen und eines missionskritischen Publikums zu navigieren, sowie das Programm der Kaiserswerther Diakonie, das die Tätigkeit der Schwestern in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang einordnete, in dem der Islam letztlich von der Bühne treten musste, führten dazu, dass Wissen über den Islam außerhalb des heilsgeschichtlichen Rahmens in den offiziellen Berichten an das heimatliche Publikum kaum vermittelt wurde. Während er in den editorials der offiziellen Berichte als machtvoller Akteur im eschatologischen Geschehen Spannung zu erzeugen half, war er in den Briefen der Schwestern in der Regel nur ex negativo präsent.
Mission oder Klientelpolitik? Gratwanderungen einer Höheren Töchterschule Neben dem Waisenhaus betrieben die Diakonissen seit 1862 in Beirut auch eine kostenpflichtige Höhere Töchterschule mit Pensionat, die zunächst auf Nachfrage europäischer und vor allem deutschsprachiger Protestanten vor Ort gegründet worden war.40 Gegen ein beträchtliches Schulgeld vermittelte sie ihren Schülerinnen eine standes- und geschlechtsspezifische Bildung, deren Schwerpunkt auf musischen Fächern, Sprachen und Religion lag. Unterrichtssprache war und blieb aufgrund des wirtschaftlichen und kulturellen Einflusses Frankreichs in der Region trotz gegenteiliger Bestrebungen aus Kaiserswerth und Berlin das Französische.41 Da in der lokalen Gesellschaft westliche Bildung zunehmend als Quelle kulturellen Kapitals geschätzt wurde, äußerten bald auch Angehörige der lokalen Bevölkerung Interesse am Bildungsangebot der Diakonissen. So wurde die Höhere Töchterschule nicht nur zu einer der sozial exklusivsten Schulen der Stadt, sondern auch zum Interaktionsraum für eine kosmopolitische Elite. Insbesondere war hier der Anteil der Muslime bald signifikant höher, zumal in einer Anstalt, die auch als Tagesschule genutzt werden konnte, weniger religiöse Einwirkung zu befürchten war als in der geschlossenen Anstalt eines Waisenhauses.42 40 Vgl. BM 4 (1859), S. 39. 41 Vgl. Lehr- und Erziehungshaus für Töchter aus höheren Ständen zu Beirut in Syrien, AFKSK, AKD 245, o. S.; BB 13 (1885), S. 24. 42 Erreichte ihr Anteil zunächst keine 2 %, so stieg er nach 1879 rapide bis auf über 15 % Ende der 1880er-Jahre an, womit das absolute Maximum erreicht war. Für die Statistiken vgl. die 1863−1899 jährlich erscheinenden Berichte über die Diakonissen-Stationen in Beirut am Libanon (BB).
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Für osmanische Beamte, aber auch für lokale muslimische Notabeln war dies ein gewichtiges Argument. Zwar zeichnete sich das soziale Leben der Oberschicht in Beirut insgesamt durch ein bemerkenswert hohes Maß an Transkulturalität aus.43 Muslime frequentierten gemeinsam mit Europäern und einheimischen Christen Freimaurerlogen, literarische und wissenschaftliche Gesellschaften44 – und eben mitunter auch Missionsschulen, die sie als Vermittler modernen Wissens wie europäische Fremdsprachen und Naturwissenschaften schätzten. Gleichzeitig sahen sie mit wachsendem Unbehagen, dass solche Anstalten bei ihren Schülern alternative Loyalitäten kultivierten.45 Weil aber westliche Umgangsformen und Kontakte zu westlichen 43 Vgl. Fruma Zachs, The Making of a Syrian Identity. Intellectuals and Merchants in Nineteenth-Century Syria, Leiden 2005, S. 66. 44 Vgl. George Antonius, The Arab Awakening, Beirut 1937, S. 53 f.; Dagmar Glass, Der Muqtat-af und seine Öffentlichkeit. Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitschriftenkommunikation, Würzburg 2004, Bd. 1, S. 128–129; Sarah Marie Schmitz, Beirut als Beispiel für das Wirken von Freimaurerei im spätosmanischen Kontext. Debatten und Dokumente, Institut für Orientalistik, Halle, Magisterarbeit 2008, S. 80. 45 Mit dieser Begründung riefen 1878 muslimische Notabeln Beiruts eine muslimische Wohltätigkeitsgesellschaft, die Jam’īyyat al-maqāsid al-khayrīyya al-islāmīyya, ins Leben, deren erste Amtshandlung in der Gründung zweier Mädchenschulen bestand. Eine Jungenschule entstand bald darauf. Vgl. Linda Schatkowski Schilcher, The Islamic Maqased of Beirut. A Case Study of Modernization in Lebanon, Beirut, American University, Diss., 1969, S. 28–52; Donald Cioeta, Islamic Benevolent Societies and Public Education in Ottoman Syria, 1875–1882, in: Islamic Quarterly 26 (1982), S. 40–55; Martin Strohmeier, Muslim Education in the Vilayet of Beirut, 1880–1918, in: Casar E. Farah, Decision Making and Change in the Ottoman Empire, Missouri 1993, S. 215–242; ’Isām Muhammad Shibāro, Jam’īyyat al-maqāsid al-khayrīyya al-islāmīyya fī bayrūt (1295−1421 h / 1878−2000 m), Beirut 2000, S. 22. Dabei lehnten die Gründer der Gesellschaft jedoch keineswegs westliche Schulen ab, die sie insbesondere aufgrund der zentralen Bedeutung europäischer Fremdsprachen und der Naturwissenschaften schätzten. Auch standen sie dem Protestantismus und Begegnungen zwischen Christen und Muslimen zwar kritisch, doch keineswegs vollkommen ablehnend gegenüber. Vgl. Jan Slomp, Christianity and Lutheranism from the Perspective of Modern Islam, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, S. 277–295. Vor diesem Hintergrund ging es ihnen primär darum, Konzepte moderner westlicher Bildung, wie sie an Missionsschulen umgesetzt wurden, im Sinne einer islamischen Moderne fruchtbar zu machen, wie dies zeitgleich Vertreter der entstehenden islamischen Reformbewegung wie - ammad Abduh oder sein Schüler Rashīd Ridā (ersterer durchaus im Dialog Muh mit Missionaren) forderten. Vgl. Abdullatif Tibawi, Islamic Education. Its Tradition and Modernization into the Arab National Systems, London 1972, S. 69–72;
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Funktionsträgern am ehesten in transkulturellen Interaktionsräumen wie der Diakonissenschule erworben werden konnten, schickten sie trotz aller Bedenken ihre Kinder dorthin. Seit Ende der 1870er-Jahre erkannten die Diakonissen die Wichtigkeit dieser Klientel und begannen durch Hausbesuche bei muslimischen Familien, offensiv Werbung für ihre Schule zu machen. Obwohl die meisten Schwestern nicht der Sprache des Landes mächtig und daher auf Übersetzer wie zum Beispiel einheimische Lehrkräfte angewiesen waren, dienten ihnen genau solche Gelegenheiten zum Wissensgewinn – zwar nicht über „den Islam“, wohl aber über einzelne muslimische Schüler und deren häusliche Verhältnisse. Nicht um religiöse Praxis ging es in diesen Berichten, sondern um Familienleben, Erziehung und um die Geschlechterordnung; kurz: um Alltagswissen, das den Diakonissen direkt in ihrer Arbeit mit den Kindern zugutekam. So berichtete Schwester Olga Nolting über - mad Mukhtar Bayhum, Sohn einer einen Besuch bei ihrem neuen Schüler Ah reichen Kaufmanns- und Notabelnfamilie in Beirut: „Seit Ostern habe ich […] 2 neue Türkenkinder, [darunter] einen kleinen, schläfrigen Jungen, Vetter von meinem anderen Türkensohn. Er heißt Achmed, sein Vater ist tot und soll ein sehr kluger Mann gewesen sein,46 der Stolz seiner Familie; bis jetzt macht sein Sohn leider keine Anstalten, den Vater hierin nachzuahmen. Rührend ist aber seine Bewunderung für mich, sobald er in meine Nähe kommt, sucht er meine Hand zu fassen und streichelt sie oder mein Kleid, bringt mir die schönsten Rosen etc. Neulich besuchte ich ihn mit unserer arabischen Lehrerin, denn er war einige Tage krank. Natürlich waren
Emad Eldin Shahin, Muhammad Rashid Rida’s Perspectives on the West as reflected in Al-Manar, in: The Muslim World 79 (1989), S. 113–132; Mahmoud Haddad, Syrian Muslim Attitudes Toward Foreign Missionaries in the Late Nineteenth and Late Twentieth Centuries, in: Simon/Teijran, Altruism, S. 253–274, hier S. 257– 264; Mark J. Sedgwick, Muhammad Abduh, Oxford 2010, S. 30, 61 f., 92. - mads Vater Hasan Bayhum, 46 Dabei entging es offensichtlich den Schwestern, dass Ah selbst in Kontakt mit prominenten syrischen Christen aus dem Umkreis der Missionen, zu den Gründern der Jam’īyyat al-maqāsid al-khayrīyya al-islāmīyya gehörte. Vgl. Michael Johnson, Class and Client in Sunni Beirut. The Sunni Muslim Community and the Lebanese State, 1840–1895, London 1986, S. 15; Jens Hanssen,The Birth of an Education Quarter. Zokak el-Blat as a Cradle of Cultural Revival in the Arab World, in: Hans Gebhardt/Dorothee Sack/Ralph Bodenstein (Hg.), History, Space and Social Conflict in Beirut. The Quarter of Zokak el-Blat, Würzburg 2005 (Beiruter Texte und Studien 97), S. 143–174, hier S. 170.
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eine Menge Frauen da, auch die alte Großmutter mit feuerrot gefärbtem Haar, das Haus war wundervoll, die Halle glich einem schönen Conzertsaal in Deutschland. Wir wurden natürlich mit Höflichkeitsbezeugungen und Liebeserklärungen überhäuft. Achmed saß da mit verklärtem, selig lächelndem Angesicht und schwieg. Dann erzählte uns die Mutter von seiner großen Liebe zu mir und was er von mir berichtet, nämlich daß ich so sehr schön sei, daß ich ganz glattes Haar habe und jeden Tag eine so schöne, ganz reine weiße Mütze aufhätte. An diesem Sohn ist also nicht viel mehr auszusetzen, als daß er ein Schäfchen ist und lieber schläft als lernt und schreibt.“47
Nachdem Schwester Olga die Familie ihres Schülers nicht ganz ohne Stolz in der Oberschicht Beiruts verortet hat, verweilt ihr Blick an den opulenten Details der Einrichtung im Haus der Familie Bayhum, die sie dem Betrachter durch einen Vergleich mit den heimischen Weihestätten der Kultur – Konzertsälen – nahezubringen sucht. Dementsprechend erscheinen die Bayhums nicht nur als wohlhabend, sondern auch als äußerst kultiviert. Dann werden scheinbar en passant einige gängige Stereotype des orientalistischen Diskurses widerlegt. Zwar wundert sich Nolting keineswegs, „natürlich […] eine Menge Frauen“ vorzufinden. Obwohl Polygamie im Osmanischen Reich auf gehobenen Schichten der urbanen Gesellschaft beschränkt war und im Verlauf des 19. Jahrhunderts selbst dort stark zurückging,48 assoziierten westliche Beobachter islamischen Privatraum auch weiterhin mit dem „Harem“, jenem Bereich des Hauses, in dem der vermeintlich stets polygam lebende muslimische Mann ihrer Vorstellung zufolge seine diversen Frauen verwahrte. Seit der Frühen Neuzeit war dieser Raum ein Faszinosum für Europäer, spätestens seit den Persischen Briefen Montesquieus auch Symbol der Unterdrückung von Frauen.49 Doch ähnlich wie manch weibliche Reisende50 zeichnet Nolting 47 Olga Nolting an Julius Disselhoff, Beirut, 27.5.1883, AFKSK, AKD 243, o. S. 48 Vgl. Leila Ahmed, Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate, New Haven 1992, S. 104–107; Cem Behar/Alan Duben, Istanbul Households. Marriage, Family and Fertility, 1880–1940, Cambridge 1991, S. 148–158; Nazik Saba Yared, Secularism and the Arab World, 1850–1939, London 2002, S. 92f. 49 Zu europäischen Blicken auf den Harem vgl. die bislang umfangreichste Untersuchung von Ruth Bernhard Yeazell, Harems of the Mind. Passages of Western Art and Literature, New Haven 2000. 50 Zu denken ist hier vor allem an Lady Mary Wortley Montagu, Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel und Verfasserin des wohl ersten Augenzeugenberichts einer europäischen Reisenden im Harem, in dem sie explizit Vorurteile
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ein anderes Bild. Einerseits erscheinen in ihrem Bericht Frauen keineswegs als Gefangene des Harems – sondern vielmehr als diejenigen, die im Haus - mad in Schwester die Macht inne haben. Andererseits ist das „Schäfchen“ Ah Olgas ironischer Beschreibung mit seinem offenkundigen Respekt für seine Mutter und seiner Verehrung Schwester Olgas kaum in Einklang mit dem zu üblichen Haremsszenen gehörigen „orientalischen Tyrannen“ zu bringen. In späteren Briefen berichteten andere Schwestern zunehmend von Fleiß - mads, seiner Brüder und Cousins, die bald nicht mehr nur und Lerneifer Ah die Tagesschule besuchten, sondern von ihren Familien sogar für das Pensionat der Diakonissen angemeldet wurden.51 Schnell wurde dieses Interesse an Bildung als Empfänglichkeit für das Christentum gedeutet. So schrieb - ammad, „sein Herz“ sei „sehr dem die Schulleiterin über A-hmads Bruder Muh 52 Christenthume zugewandt.“ Kindern aus solchen Familien „Herzensbildung […] auf evangelischer Grundlage“53 und damit auch den Protestantismus nahezubringen (wie es das Programm der Anstalt formulierte), war ihnen ein besonderes Anliegen, weshalb auch Muslime zum Besuch der allmorgendlichen Andachten und des Religionsunterrichts ermutigt wurden. Doch letztlich setzten die Diakonissen mit dieser Regelung die Beziehungen zu ihrer muslimischen Klientel und auch zur Familie Bayhum aufs Spiel. Ohnehin standen Missionsschulen seit dem Regierungsantritt Sultan Abdülhamids II. weitaus stärker im Visier osmanischer Autoritäten.54 Als 1888 Beirut Hauptstadt einer eigenen Provinz (vilayet) wurde, geschah dies möglicherweise sogar deshalb, um die dort besonders dicht konzentrierten Missionsanstalten
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männlicher Autoren, aufgrund ihres Geschlechts von diesen Bereichen des Hauses ausgeschlossen, widerlegte. Vgl. Billie Melman, Women’s Orients. English Women and the Middle East, 1718–1918. Sexuality, Religion and Work, Basingstoke u.a. 1992, S. 78–97. Vgl. Louise Kayser an Julius Disselhoff und Minna Fliedner, Beirut, 1.9.1886, AFKSK, AKD 245, o. S. Louise Kayser an Julius Disselhoff, Beirut, 12.1.1887, ebd. Wilhelmina Brück an Minna Fliedner, Areya, 30.07.1888, ebd. Louise Kayser to Julius Disselhoff and Minna Fliedner, Beirut, 25.01.1887, AFKSK, AKD 245. BB 13 (1878), S. 27. Vgl. Selim Deringil, The Well-Protected Domains. Ideology and the Legitimation of Power in the Ottoman Empire 1876–1909, London 1998, S. 112–134. Benjamin C. Fortna, Imperial Classroom. Islam, the State, and Education in the Late Ottoman Empire, Oxford 2002, S. 47–85.
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besser überwachen zu können.55 In jedem Fall wurden lokale Gouverneure den Missionen gegenüber immer wachsamer.56 Als Ende der 1880er-Jahre der Unmut über die obligatorische Teilnahme an Gottesdienst, Andachten und Religionsunterricht bei jüdischen und katholischen Eltern wuchs, schlossen sich, wie die Schulleiterin Louise Kayser nach Kaiserswerth berichtete, die Muslime den Protesten an, ja drohten sogar, die Angelegenheit in die Zeitung zu bringen, „damit kein Muhammedaner uns seine Kinder mehr bringen könne.“57 Während die Anstaltsleiterin vor Ort angesichts solcher Drohungen offenbar zu Konzessionen bereit war, erhielt sie aus Deutschland eindeutige Anweisungen: „Unser Grundsatz ist und muß bleiben, daß alle Kinder ohne Ausnahme am Religionsunterricht theilnehmen müssen und wenn die muhammedanischen Eltern das nicht wollen, so können wir nicht helfen.“58 Dank des Interesses der lokalen Bevölkerung gelang es den Diakonissen der Höheren Töchterschule zwar, Muslimen näherzutreten als es das Prinzip der „doppelt indirekten Mission“ implizierte. So überwanden sie in ihren Berichten ansatzweise die binären Oppositionen, in welchen die Beziehungen zwischen Christentum und Islam in den Rahmenerzählungen der offiziellen Berichte dargestellt wurden, jedoch nur, indem sie den geschilderten Personen eine kulturelle Identität jenseits der Affinität zum Westen absprachen. Doch blieben solche Berichte episodisch – und nicht nur aufgrund der prekären Balance, die zur Aufrechterhaltung der Beziehungen zwischen Muslimen und Diakonissen gewahrt werden musste, aber letztlich nicht gewahrt werden konnte. Als ausschlaggebend erwies sich auch, dass der Kaiserswerther Vorstand die Erwartungen eines Publikums bedienen zu müssen meinte, das sich aus Missionskritikern wie -freunden zusammensetzte, wobei für letztere der Islam zum furchteinflößenden Gegenspieler des Christentums und Unterdrücker des weiblichen Geschlechts stilisiert wurde. Für das abseits dieses Bil55 Vgl. Abdullatif Tibawi, A Modern History of Syria, Including Lebanon and Palestine, London 1969, S. 181. 56 Vgl. Fortna, Imperial Classroom, S. 55. 57 Louise Kayser an Julius Disselhoff,Beirut,10.10.1890,AFKSK,AKD 245,o. S. Ggf. hat die verstärkte Reaktion nicht-christlicher Familien in Beirut auf das missionarische Regiment der Diakonissen gerade zu dieser Zeit auch mit einem infolge der Erhebung Beiruts zur Provinzhauptstadt gesteigerten lokalen Selbstbewusstsein zu tun. Vgl. Jens Hanssen, Fin de Siècle Beirut. The Making of an Ottoman Provincial Capital, Oxford 2005, S. 25–83. 58 Julius Disselhoff an Louise Kayser, Kaiserswerth, 28.10.1890, AFKSK, AKD 245.
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des gewonnene Alltagswissen der Diakonissen war deshalb in den offiziellen Berichten der Organisation kaum Platz.
Zusammenfassung Obwohl die Diakonissen Muslime trotz der Hindernisse für Mission im Osmanischen Reich als Zielgruppe nicht aus den Augen verloren – und zwar, anders als in den programmatischen Entwürfen ihrer Organisation suggeriert, nicht allein auf dem Weg der doppelt indirekten Mission –, trugen sie zur Produktion von kohärentem Wissen über „den Islam“ kaum bei. Ihre Wissensvermittlung blieb sporadisch, episodisch und auf den Einzelfall beschränkt. Dies ist nicht nur auf die relative Zurückhaltung der Muslime gegenüber missionarischen Einrichtungen zurückzuführen, sondern mag auch Aufschluss darüber geben, wie die Diakonissen das ihnen zugewiesene Feld und ihre Aufgabe darin wahrnahmen. Wie unter anderem Mary Louise Pratt gezeigt hat, ist die Darstellung des außereuropäischen Raumes als leer und somit für Kolonisation verfügbar eine charakteristische Strategie kolonialer Reiseberichte.59 Auf die Berichte der Diakonissen lässt sich diese These plausibel übertragen: durch die weitgehende Ausblendung des Islam fehlte der wichtigste Widersacher missionarischer Tätigkeit, war der „Kreuzzug“ um das „Heilige Land“ fast schon gewonnen. Sehr viel eher aber noch verweist die Art des Wissens, das die Diakonissen über den Islam produzierten, auf die geschlechtsspezifische Dimension ihres Schreibens. Als Frauen war ihnen nach bürgerlichen Rollenvorstellungen – auch wenn sie dafür zunächst eine weite Reise hatten auf sich nehmen müssen – das Heim, oder in diesem Fall die Anstalt, als Wirkungsstätte zugewiesen. Begegnungen mit Islam und Muslimen bzw. ihrer Schilderung waren so enge Grenzen gesteckt. Nur die Diakonissen der Höheren Töchterschule berichteten eingehender über Muslime, präsentierten diese jedoch weniger als religiös und kulturell Andere denn als christlichem und europäischem Einfluss zugänglich. Insgesamt blieben ihre Beobachtungen auf den Einzelfall beschränkt. Auch dies lässt sich auf geschlechtsspezifische Konventionen zurückführen. Ein panoramischer Blick, ein autoritativer Gestus, Objektivität und 59 Vgl. Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992, S. 60.
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Sachlichkeit waren weder mit bürgerlichen Vorstellungen von Weiblichkeit im Allgemeinen60 noch mit dem von Demut bestimmten Ethos des Diakonats61 im Besonderen vereinbar. Wissensproduktion über das kulturell Andere im Sinne männlicher Missionare findet sich in den Briefen der Diakonissen kaum. So stammten denn auch die ausführlichsten Berichte der Diakonissen über den Islam bzw. islamische Sekten aus solchen Quellen, wie etwa die oben zitierte Passage über die Drusen. Eigenständig solches Wissen zu sammeln war den Diakonissen schon aus sprachlichen Gründen selten möglich. Es war aber auch vonseiten ihrer Vorgesetzten offenkundig nicht erwünscht. Als eine Diakonisse der Höheren Töchterschule, Wilhelmina Brück, 1888 zum Gebrauch im Unterricht eine Petite Géographie de la Syrie et de la Palestine verfasste (in der übrigens der Islam kaum auftaucht) und sie – wohlgemerkt anonym! – in Genf drucken ließ,62 handelte sie sich dafür einen scharfen Verweis ihres Vorgesetzten ein.63 Dennoch sollte der Wissensgewinn der Diakonissen nicht als defizitär verstanden werden. Vielmehr war das von ihnen gesammelte Wissen ein für ihre Arbeit unmittelbar Dienliches. Wenn es nur episodisch in den offiziel60 Vgl. Ute Frevert, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48, hier S. 30. 61 Vgl. Silke Köser, Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein. Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen, 1836–1914, Leipzig 2006; Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006, S. 183–214; dies., Friederike Fliedner und die Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert, in: Martin Friedrich/Norbert Friedrich/ Traugott Jähnichen (Hg.), Sozialer Protestantismus im Vormärz, Münster 2001, S. 123–132; dies., „Frauen entdecken ihren Auftrag!“ Neue Erträge diakonischer Frauenforschung. Vom evangelischen Märtyrerinnenmodell und patriarchaler Familiengemeinschaft zur demokratischen Lebens-, Arbeits- und Dienstgemeinschaft, in: Tradition – Realität – Vision. Dokumentation der Fachtagung zur diakonischen Frauenforschung vom 24. bis 25. November 2000 im Mutterhaus der Kaiserswerther Diakonie, Bonn 2000, S. 6–15; Catherine M. Prelinger, Die deutsche Frauendiakonie im 19. Jahrhundert. Die Anziehungskraft des Familienmodells, in: Ruth Ellen B. Joeres/Annette Kuhn (Hg.), Frauen in der Geschichte, Bd. IV, Düsseldorf 1985, S. 268–285. 62 Vgl. [Wilhelmina Brück], Petite Géographie de la Syrie et de la Palestine, Genf 1888. 63 Lediglich Brücks Entschuldigung für ihr vermeintliches Vergehen ist erhalten: Vgl. Wilhelmina Brück an Julius Disselhoff, Beirut, 10.02.1890, AFKSK, AKD 245, o. S.
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len Berichten der Organisation auftaucht, so lassen sich zwei Gründe dafür ausmachen. Einerseits ist davon auszugehen, dass es oft nicht verschriftlicht wurde. Während muslimische Schüler in den publizierten Berichten vor allem die Neugier der Unterstützerkreise auf das Exotische befriedigen sollten, wurden sie für die Diakonissen im Laufe der Zeit Teil ihres Alltags, sodass sie möglicherweise nicht jede Begegnung einer detaillierten Schilderung wert erachteten. Andererseits musste Kaiserswerth mit Berichten über Interaktionen mit muslimischen Schülern vorsichtig umgehen. Handelte es sich nicht um „Heiden“, also Angehörige polytheistischer Religionen,64 so war Mission in der damaligen protestantischen Öffentlichkeit keineswegs unumstritten und lief der Darstellung der Diakonissen als passive Agentinnen des Christentums zuwider. Wissensvermittlung über „den Islam“ im Allgemeinen fiel in den Berichten der Anstalt daher vor allem den Vorstehern zu und wurde hier ausschließlich im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Erzählung, präsentiert von einem auktorialen und eindeutig männlichen Erzähler aus großer räumlicher Distanz, praktiziert. Wurde der Islam nicht vollends ignoriert, so erschien er als dämonischer, doch letztlich zur Niederlage verdammter Gegner im neuen „Kreuzzug“, in den die Diakonissen der offiziellen Darstellung zufolge allein mit den Waffen der Liebe zogen – eine Bildlichkeit, die ebenso wie jene der doppelt indirekten Mission missionsfreundliche und missionskritische Unterstützerkreise gleichermaßen ansprechen sollte. Dass die Tätigkeit der Diakonissen möglicherweise aggressiverer Natur war und auch auf sehr realen Widerstand traf, wurde beiden zuliebe ebenso verschwiegen wie die unnachgiebige Haltung der Anstaltsleitung in solchen Konflikten. Waren die Diakonissen vor Ort konzilianter? Hierfür gibt es nur wenige Hinweise. Doch spricht etwa der Umstand, dass eine langjährige Lehrerin der Schule nach deren Schließung 1919 Gouvernante bei einer wohlhabenden muslimischen Familie in Beirut wurde,65 dafür, dass in der Praxis die Frontlinien in mancher Hinsicht weniger hart verliefen. Von solch direkten, eine 64 Heiden (Ethnici, Pagani), in: Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig/Wien 1885– 1892, 8. Band: Hainleite – Iriartea, S. 289. 65 Hierbei handelte es sich um die am Seminar von Montmirail ausgebildete Schweizerin Lea Steiner, die über 25 Jahre lang an der Höheren Töchterschule der Diakonissen als weltliche Lehrerin tätig war und nach Ende des Ersten Weltkrieges als Hauslehrerin zur muslimischen Familie Ghandour wechselte. Vgl. Paroisse Evangélique Française de Beyrouth, Liste des membres, ca. 1925, Archive de la Paroisse Evangélique Française de Beyrouth, o. S.
Kaiserswerther Diakonissen in Beirut
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binäre Opposition zwischen „Islam“ und „Christentum“ infrage stellenden Begegnungen und dem daraus gewonnenen Alltagswissen der Diakonissen erfuhr das heimatliche Publikum allerdings kaum etwas. So ist in den Kaiserswerther Berichten die Darstellung von Islam und Muslimen letztlich ein Beispiel dafür, wie wenig Mission zur Modifizierung europäischer Alteritätskonstrukte beitrug.66
66 So auch Michael Marten, Communicating home. Scottish Missionary Publications in the 19th and Early 20th Centuries, in: Ders./Martin Tamcke (Hg.), Christian Witness Between Continuity and New Beginnings. Modern Historical Missions in the Middle East, Hamburg 2006, S. 97; Ussama Makdisi, Faith Misplaced. The Broken Promise of US-Arab Relations 1820–2001, New York 2010, S. 109.
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Von Gewährsleuten zu Gehilfen und Gelehrigen Der Beitrag afrikanischer Mitarbeiter zur Entstehung einer verschrifteten Kultur in Deutsch-Togo Gilbert Dotsé Yigbe
Der Diskussion über die Rolle der afrikanischen Mitarbeiter bei der Verschriftung der westafrikanischen Ewe-Sprache liegen meistens zwei diametral entgegengesetzte Positionen zugrunde: Die afrikanischen Mitarbeiter, die sogenannten Sprachgehilfen, werden von den einen nur als im Schatten der europäischen Missionare stehende Handlanger betrachtet, deren Beitrag zur Verschriftung ihrer eigenen Sprache und Kultur nicht genug gewürdigt wurde.1 Für die anderen waren die afrikanischen Mitarbeiter selbstbewusste Akteure der mit der Missionierung einhergehenden sozialen Umwandlungen der afrikanischen Gesellschaft.2 Im vorliegenden Beitrag will ich die Rolle der afrikanischen Mitarbeiter in einem entscheidenden Moment des Verschriftungsprozesses, nämlich bei der Übersetzung der Bibel ins Ewe, untersuchen. Entscheidend war dieser Moment deshalb, weil die ganze missionarische Tätigkeit auf die Bibelübersetzung abzielte, die jedoch die Schriftlichkeit der
1 Siehe hierzu u. a. Kuassi Ametowoyona Akakpo, A l’ombre des africanistes allemands. Les ‚Sprachgehilfen‘Boniface Foli, Ludwig Adzaklo et Viktor Tozo, in: Adjai Paulin Oloukpona-Yinnon/János Riesz (Hg.), Plumes allemandes, biographies et autobiographies africaines, Lomé 2003, S. 239–252, wobei der afrikanische Gehilfe im vorliegenden Text nicht nur der Sprachgehilfe ist, wie Akakpo dies in seinem Artikel behauptet. Der Gehilfe bezeichnet hier alle des Lesens und Schreibens kundigen afrikanischen Mitarbeiter der Missionare. 2 Vgl. Peter Sebald, Auf dem Weg zur afrikanischen Kirche. Afrikanische Missionare in den europäischen Missionsgesellschaften in Togo bis 1918, in: János Riesz/ Simon Agbeko Amegbleame (Hg.), Histoire, littérature et société au Togo, Frankfurt a. M. 1997, S. 199–220, und Adjai Paulin Oloukpona-Yinnon, Vom „Gehilfen“ zum „osofo“. Der Wandel im Status der afrikanischen Mitarbeiter der Norddeutschen Mission in Togo, in: Ulrich van der Heyden/Holger Stoecker (Hg.), Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945, Stuttgart 2005, S. 149–158.
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Ewe-Sprache voraussetzte. Damit wurde der erste Baustein zur Verschriftlichung der Ewe-Kultur gelegt.3 Die Luther’sche Übersetzung hatte die Bibel zum Volksbuch gemacht und die Grundlage für die Volksbildung gelegt – so zumindest sahen das die protestantischen Missionsgesellschaften, allen voran die Norddeutsche Mission, die im südlichen Teil des heutigen Togo und Ghana seit Mitte des 19. Jahrhunderts erste Missionsstationen eröffnete, um das Christentum nach Afrika zu bringen. Die Lutherübersetzung galt in der europäischen Heimat der Missionare als eine Erfolgsgeschichte, die man nun in Afrika wiederholen wollte. Dabei kam der afrikanischen Ewe-Sprache eine besondere Bedeutung zu, weil viele Afrikaner und Afrikanerinnen im Missionsgebiet der Norddeutschen Mission Ewe sprachen und die Bibel deshalb in diese Sprache übersetzt werden sollte. Aber die Übersetzung der Bibel in die schriftlose Ewe-Sprache erwies sich als viel schwieriger als die reformatorische Übersetzung. Luther übersetzte die Bibel in seine Muttersprache, und das deutsche Volk war seit dem 6. Jahrhundert mit biblischen Gedanken vertraut. Die deutschen Missionare in Togo übersetzten die Bibel ins Ewe, also in eine Sprache, in der christliche Gedanken bis dahin noch nicht gedacht oder geschrieben, geschweige denn ausgesprochen worden waren. Außerdem war Ewe für die Missionare eine Fremdsprache, und so mussten sie in wenigen Jahren die Ewe-Sprache so gut meistern wie ihre Muttersprache, um die Frohe Botschaft richtig zu übermitteln. Dabei waren sie auf die tatkräftige Unterstützung der afrikanischen Mitarbeiter, der sogenannten Gehilfen, angewiesen. Die missionarische Übersetzung ist durch hybride situative Zusammenhänge gekennzeichnet, die durch den Kontakt zwischen der christlichen biblischen Schriftkultur und der afrikanischen oralen Kultur zustande kommen. Diese Hybridität führt den Missionar und seinen afrikanischen Sprachgehilfen in eine Kommunikationssituation, in der beide die Doppelfunktion des Übersetzers und des Dolmetschers übernehmen. Ziel dieses Beitrags ist es, am Beispiel der Bibel-Übersetzung zu zeigen, wie sich diese Interaktion zwischen dem Missionar der Norddeutschen Mission Jakob Spieth und dem togolesischen Sprachgehilfen Ludwig Adzaklo zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestaltete und worin die Aufgabe der afrikanischen Mitarbeiter als 3 Die Ewe-Sprache wird vom Ewe-Volk gesprochen, das an der westafrikanischen Küste zwischen dem Volta-Fluss im Westen und dem Mono-Fluss im Osten sesshaft ist. In den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts kamen die ersten Gesandten der Norddeutschen Mission in diesem Gebiet an und begannen mit der Missionierung des Ewe-Volkes.
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Mittler bestand. Spieth hatte sich durch seine Auseinandersetzung mit der Ewe-Sprache und -kultur4 ein umfassendes Wissen über dieses Volk angeeignet und eine gewisse Kompetenz in Übersetzungsfragen erworben. Er war sowohl an der Revision der Übersetzung des Neuen Testaments von 1877 im Jahr 1898 als auch an der Herstellung des vollständigen biblischen Texts in der Ewe-Sprache 1913 beteiligt. Unter den afrikanischen Gehilfen, die bei der in Togo begonnenen Übersetzungsarbeit mitgewirkt hatten, wurde Ludwig Adzaklo ausgewählt und nach Deutschland geschickt, wo er sich von 1904 bis 1909 aufhielt. In Tübingen unterstützte er Spieth bei der Bibelübersetzung.
Situative Faktoren des Dolmetschens bei der missionarischen Übersetzung Das missionarische Übersetzen ist kein ausschließliches Sprach- oder Textübersetzen. Zwar liegt dem Missionar die Bibel als Ausgangstext vor, dessen Übersetzung notwendig aus den Grundsprachen (u. a. Hebräisch, Griechisch und Latein) hervorgehen muss, und wie bei jeder Übersetzung geht es zuerst um die Gewinnung eines gründlichen Textverständnisses, wozu alle schriftlichen Hilfsmittel, Wörterbuch und Grammatik, exegetische Handbücher und archäologische Wörterbücher, Dienste leisten müssen. Im vorliegenden Fall stand der Missionar jedoch als Vertreter der christlichen Schriftkultur der „heidnischen“ oralen Ewe-Kultur gegenüber, mit der er bei der Bibelübersetzung kommunizieren musste. Andreas Jakob Spieth, der als „der Bibelübersetzer des Ewevolkes“5 gilt, erkannte in einem Bericht über seine Übersetzung der Bibel ins Ewe, dass die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Sprache eines literaturlosen Volkes weder die Arbeit eines kurzen Zeitraumes noch das Werk eines einzigen Mannes sein könne, dass sie vielmehr viel Zeit und Vorarbeiten voraus-
4 Siehe u. a. Jakob Spieth, Das Sühnebedürfnis der Heiden im Ewe-Lande (Bremer Missions-Schriften Nr. 13), Bremen 1903, [Neudruck 1914]; ders., Die EweStämme. Material zur Kunde des Ewe-Volkes in Deutsch-Togo, Berlin 1906; sowie ders., Die Religion der Eweer in Süd-Togo, Leipzig 1911. 5 Vgl. Emil Ohly, Andreas Jakob Spieth, der Bibelübersetzer des Ewevolkes, Bremen 1920.
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setze, die für die Übersetzung selbst unerlässlich seien.6 Als erste Vorarbeit erwähnte Spieth das Studium der Ewe-Sprache, die im Gegensatz zur gängigen Meinung eine verhältnismäßig reiche Sprache sei. Der Bibelübersetzer müsse dazu nicht nur die einzelnen Wortbegriffe, sondern auch die Hintergründe aufs Genaueste untersuchen, die für das Verständnis des Wortes wichtig seien, denn „die einzelnen Wortbegriffe sind […] nur die organischen Glieder eines je in sich geschlossenen Ideenkreises, und jedes einzelne Wort senkt seine Wurzeln tief hinab in den Boden der ganzen Volksanschauung.“7 Das gerade angeführte Studium der Sprache zeigt, dass sich der Missionar nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit der oralen Kultur auseinandersetzte, d. h. er war insofern gleichzeitig Dolmetscher, als er auch alle äußeren Bedingungen und außersprachlichen Mittel der Kommunikation beachten musste. Die zweite Vorarbeit bestand in der Christianisierung der Sprache,8 die sich durch die praktische Missionstätigkeit des Missionars in der Schule, auf der Kanzel und durch die Predigt des Evangeliums unter den „Heiden“ vollzog. Den wichtigsten Anteil daran hat die Übersetzung der christlichen Literatur in die afrikanische Sprache, und dazu gehörte etwa der Katechismus, die Liturgie, sowie Spruch- und Gesangbuch. Dadurch kamen die spezifisch christlichen Begriffe unter Schülern und Gemeindegliedern in Umlauf und bekamen ein klares und festes Gepräge.9 Sowohl beim Studium der Sprache als auch bei der Christianisierung derselben war der Missionar auf die Zusammenarbeit mit dem afrikanischen Gehilfen angewiesen. Beim Studium der Sprache war der Sprachgehilfe derjenige, der den Missionar über die sittlichen und religiösen Anschauungen seines Volkes informierte, und der Missionar entschied dann, ob ein Ausdruck den Sinn des zu übersetzenden biblischen Textes richtig wiedergab, ohne dass dies zu Missverständnissen bei den afrikanischen Proselyten führte. Bei der Christianisierung der afrikanischen Sprache trug der einheimische Gehilfe zur Verbreitung christlicher Begriffe in der entstehenden christlichen Gemeinde bei. 6 Vgl. Jakob Spieth, Die Übersetzung der Bibel in die Sprache eines westafrikanischen Naturvolkes, in: Flugschriften der Hanseatisch-Oldenburgischen MissionsKonferenz Nr. 8, Bremen 1907, S. 1–2. 7 Ebd., S. 3. 8 Einen umfassenden Aufschluss gibt hierzu Carl Meinhof, Die Christianisierung der Sprachen Afrikas (Basler Missions-Studien 28), Basel 1905, S. 17–55. 9 Vgl. Spieth, Die Übersetzung der Bibel, S. 5.
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Die Wünsche und Forderungen des Missionars und die damit einhergehenden Schwierigkeiten Bei der eigentlichen Bibelübersetzung kam es zu einer Synthese der beiden Kommunikationsprozesse, und Paul Wiegräbe schreibt zu Recht, dass der afrikanische Gehilfe „Mund und Ohr des Missionars“10 war, das Ohr, das Informationen zu sittlichen und religiösen Anschauungen der Afrikaner wahrnahm, und der Mund, der die christliche Lehre verkündete. Somit kam dem Gehilfen beim missionarischen Übersetzen die Doppelfunktion des Senders und des Empfängers zu. Das missionarische Übersetzen wird zu einem translatorischen Handeln mit verschiedenen Ko-Aktanten,11 und die zu übersetzende biblische Botschaft stand im Mittelpunkt einer langen Beratung der Beteiligten, wobei dem ganzen Prozess der Übersetzung eine Verhandlung zwischen der christlichen Ausgangskultur und der „heidnischen“ afrikanischen Zielkultur zugrundelag. Bei diesem Prozess spielte der Missionar nicht nur die Rolle des Übersetzers, sondern ihm kam auch die Funktion des Auftraggebers zu. Er war derjenige, der die Ausgangssprache und -kultur am besten kannte. Zugleich hatte er Wünsche und Forderungen, die in der von ihm nicht gut beherrschten Zielsprache und -kultur beachtet werden mussten. Die ersten vom Missionar getroffenen Vorkehrungen bei der kirchlichen Übersetzung bezogen sich daher auf die Sprache. Wenn der Missionar sich schon die Mühe machte, die Bibel in eine afrikanische Sprache zu übersetzen, dann betrachtete er dabei den Gebrauch von
10 Vgl. Paul Wiegräbe, Gott spricht auch Ewe. Geschichte einer Bibelübersetzung. Bremen 1968, S. 18–25. 11 Vgl. Justa Holz-Mänttäri, Translatorisches Handeln. Theorie und Methode (Annales Academiae Scientiarum Fennicae B 226), Helsinki 1984. Die von Holz-Mänttäri geprägte Theorie vom „translatorischen Handeln“ ist als kommunikations-, handlungs- und systemtheoretische Soziotranslatologie konzipiert, bei der die verschiedenen Beteiligten nicht als Sender/Adressant und Empfänger/Adressat, sondern als Ko-Aktanten bezeichnet werden. Die Soziotranslatologie setzt nicht nur eine interkulturelle Kooperation voraus, sondern sie basiert auch auf der Erkenntnis, dass wir heute in einer arbeitsteiligen Gesellschaft leben, in der Tätigkeiten des Übersetzens und Dolmetschens Translatoren als Experten anvertraut werden sollten. In der vorliegenden Untersuchung wird das translatorische Handeln vor allem als eine kommunikative Handlung und soziales Handeln betrachtet und das ihm zugrunde liegende subtile Machtverhältnis freigelegt.
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Fremdwörtern in der Zielsprache nur als letzten Notbehelf,12 denn die Übersetzung musste verständlich sein. Ein einfacher Mensch, der die Übersetzung nicht auswendig kannte und auch keine Auslegung dazu gehört hatte, sollte verstehen, wovon die Rede war. Eine brauchbare Übersetzung musste daher die Denk- und Vorstellungsweisen der Leser und Leserinnen berücksichtigen. Diese aber waren in hohem Maße beeinflusst von ihrer Umgebung, sowie von ihren Lebensverhältnissen. In dem Maße, in dem diese Verhältnisse sich von denen der Hebräer oder der Deutschen unterschieden, musste auch ihre Vorstellungsweise eine andere sein. Der Übersetzer hatte deshalb auch die Aufgabe, die Sprachbilder der Hebräer in diejenigen der Afrikaner zu übertragen, d. h. seine Übersetzung musste eine allgemein verständliche und zu Herzen gehende sein. Wusste der übersetzende Missionar gründlich in Laut- und Formenlehre der Zielsprache Bescheid, war es in manchen Fällen ratsam, anstelle eines Fremdwortes ein neues Wort im Geist der Zielsprache zu bilden und verständigen christlichen Einheimischen zur Begutachtung vorzulegen. So wirkte die Berührung mit dem neuen Gedankenkreis des Christentums durch das missionarische Übersetzen gegebenenfalls auch sprachbildend. Spieth gibt eine Reihe von Beispielen für Sprachbildung. Bei seinem Einzug im Eweland fanden die christlichen Missionare viele Plätze und kleine Hütten vor, die dem sogenannten Götzendienst dienten und deswegen Götzenplatz, auch Götzenhaus genannt wurden. Im Gegensatz zu ihnen wurden die Kirchen Gotteshäuser (Mawuxo) und Gebetshäuser (gbedoxo) genannt. Auch Gemeinden fand das Christentum vor, und zwar in Sinne einer Vereinigung von Menschen, welche sich durch gleiche Interessen geleitet zu bestimmten Zeiten zusammenfanden. Das traf z. B. bei der Trommelgemeinde (wuha) zu, die sich zur Aufführung von Spielen um eine bestimmte Trommel scharte. Die Christen wurden daher Kristoha (Christusgemeinde) genannt. Damit brachte man deutlich zum Ausdruck, dass sie sich alle um Christus, ihren Heiland, scharen, durch dessen Evangelium sie zusammengeführt würden.13 Außerdem sollte die Übersetzung nicht in gewöhnlicher, sondern in einer besonderen, einer „reinen“, aber nüchternen Sprache gehalten sein,14 denn 12 Aus diesem Grund zog man meistens auch die Bibel in den Grundsprachen heran. Paul Wiegräbe, Gott spricht auch Ewe, S. 35, bestätigt, dass Jakob Spieth bei der Bibelübersetzung ins Ewe meistens auch den hebräischen Bibeltext gelesen hatte. 13 Vgl. Jakob Spieth, Die Übersetzung der Bibel, S. 6. 14 Hierin liegt anscheinend die Ambivalenz des missionarischen Übersetzens, denn eine der Forderungen des Missionars bestand darin, dass die Bibelübersetzung in
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Anstand bzw. Anständigkeit war ein Schlüsselbegriff in der christlichen Erziehung der Missionare. Die Kenntnis der gewöhnlichen Sprache war für den Übersetzer notwendig, um sie zu vermeiden. Für die Bibelübersetzung sollte er die Sprache benutzen, die vor Gericht, vor dem sogenannten Häuptling und in der Volksversammlung benutzt wurde. Dabei kam es nicht darauf an, was nach dem Geschmack des Missionars besonders und rein war, sondern darauf, was von den Einheimischen so empfunden wurde. Und bei dieser zielkulturorientierten Übersetzung sollten missverständliche Wörter und Wendungen vermieden werde. Jakob Spieth gibt ein weiteres Beispiel: das Ewe-Wort kolo, das eine breite flache Schüssel bezeichnet. Das Wort hat am Schluss einen Mittelhochton, der jedoch im Schriftlichen nicht immer durch die entsprechenden Zeichen kenntlich gemacht wird. Infolgedessen kann der Ton von Unkundigen häufig auf das erste o verlegt werden, und dadurch bekommt das Wort eine ganz andere, sittlich anstößige Bedeutung. Solche Wörter müssten im Voraus vom biblischen Gebrauch ausgeschlossen werden.15 Wie vor der gemeinen, sittlich anstößigen Sprache sollte sich der Übersetzer auch vor Ausdrücken hüten, die ausschließlich dem „heidnischen“ religiösen Ideenkreis angehörten. Das war besonders dann nötig, wenn die Wörter nur die den „Heiden“ eigenartige religiöse Bedeutung beibehalten hatten. Da jedoch, wo der heidnisch-religiöse Sinn in den Hintergrund getreten ist und das Wort auf alltägliche Verhältnisse angewandt wurde, konnte es ohne Bedenken in der Schrift gebraucht werden. Spieth berichtet:
einer auch für den gemeinen Mann verständlichen Sprache erfolge. Nach Carl Meinhof war die zu vermeidende gemeine Sprache die Sprache der ersten afrikanischen Vermittler (die meistens keine Mittler waren), „die schon etwas in der Welt herumgekommen sind und Brocken anderer Dialekte aufgelesen haben, die auch gelernt haben ihre Sprache so zu radebrechen, dass ein Europäer sie versteht. Es liegt auf der Hand, dass solche Redeweise für Predigt und Bibel nicht geeignet ist.“ Meinhof, Christianisierung der Sprachen Afrikas, S. 51. 15 In dieser Hinsicht kam Spieth bei der Übersetzung von Leviticus (III. Mose) zu der selbstkritischen Reflexion, „ob es wohl richtig sei, dass man die Sünden der Urbevölkerung Kanaans übersetze. Es werden auf diese Weise Vorstellungen und Sünden in das Ewevolk hineingetragen, die sie bisher nicht gekannt haben.“ Wiegräbe, Gott spricht auch Ewe, S. 36. Und der Missionar tröstete sich selbst mit der Einsicht, dass die Heiligkeit Gottes gerade über dem dunklen Grunde am hellsten leuchte.
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„Als unsere ersten Missionare ihren einheimischen Gehilfen den Begriff des biblischen Wunders erklärten, fanden diese eine Ähnlichkeit darin mit dem, was die Eweer zidui oder ziduiwowo nennen. Mit diesem Wort wurde deshalb auch der Begriff des biblischen Wunders wiedergegeben und in den ältesten Büchern gedruckt. Später aber entdeckte man, dass das Wort zidui bei den Lesern eine Vorstellung erweckte, die mit dem biblischen Wunder schlechterdings nichts zu tun hat. Das Volk braucht nämlich den Ausdruck nur für die vorgeblichen Künste, mit welchen die Zauberer selbst verschwinden oder sich unsichtbar machen können. Die Wunder Jesu mussten im Zusammenhang mit diesem Wort also auf zauberische Kräfte zurückgeführt und er selbst als Zauberkünstler angesehen werden. Dadurch erhielt die Zauberei in den Augen der Afrikaner eine biblische Sanktion.“16
Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der Verschiedenheit der natürlichen geografischen Verhältnisse. Im Mittelmeerraum, dem Schauplatz der meisten Bibelgeschichten, gab es Gewächse und Tiere, die in Togo nicht zu finden waren. Zu diesen Tieren gehörten z. B. Hirsch und Reh, die als levitisch rein gelten und deswegen gegessen werden durften. Der übersetzende Missionar musste deshalb in der togolesischen Tierwelt Ausschau halten, um zu erfahren, welche Tiere am meisten Ähnlichkeit mit Hirsch und Reh haben. Für die Auswahl kamen Antilopenarten in Betracht, da das Tier nicht nur eine äußere, sondern auch eine physiologische Ähnlichkeit mit dem Hirsch haben musste. Es reichte also nicht, dass es wiederkäute, es musste auch gespaltene Hufe haben.17 Die Übersetzung der Pflanzennamen war nicht leichter: „Bei der ,Lilie des Feldes‘ z. B. ließ man sich eine Anzahl Zwiebelgewächse mit den dazu gehörigen Blumen sammeln, und eine Frau war es, welche […] den richtigen Namen sagen konnte. Die Bauern und Handwerker wurden über ihre Technik gefragt, und selbst Priester und Zauberer vertrauten uns allerlei Ausdrücke, besonders auch solche von Pflanzennamen an.“18
Hier wird nochmals klar, dass der übersetzende Missionar ohne die Vermittlung der Einheimischen nicht zurechtkommen konnte. 16 Jakob Spieth, Die Übersetzung der Bibel, S. 3. 17 Ebd., S. 7 18 Ebd., S. 6.
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Die Rolle des einheimischen Gehilfen als Mittler – der Gehilfe als gbesela Im Idealfall sollte dem Missionar der einheimische Sprachgehilfe als Vertreter der Zielkultur zur Seite stehen, aber der Gehilfe allein beherrschte nicht alle Wissensbestände der Zielkultur, deshalb war der Gehilfe Gesprächspartner und Mittler zwischen dem Missionar und der Zielgesellschaft, was Wiegräbe dazu veranlasst, das bereits erwähnte Bild mit den beiden Sinnesorganen ‚Mund‘ und ‚Ohr‘ heranzuziehen. Dieser Erkenntnis drückt Diedrich Westermann durch den Titel seines Englisch-Ewe-Wörterbuchs Gbesela19 aus. Was bedeutet Gbesela? Gbesela hat drei Bedeutungsebenen. Bereits das Grundwort gbe hat mehrere Bedeutungen. Gbe ist die Stimme, bedeutet aber auch die Sprache oder die Rede, die Meinung, das Wort bzw. die Stellungnahme einer Person. Das Wort se bedeutet „hören bzw. verstehen“, und la kommt die Funktion des bestimmten Artikels zu: es ist derjenige/diejenige, der/die etwas tut. Gbesela ist eine Person, die eine Fremdsprache bzw. Fremdsprachen versteht und deshalb als Dolmetscher dienen kann.20 Diese Bedeutung des Wortes ist diejenige, die für jedermann verständlich ist, und sie bezieht sich sowohl auf den Missionar, als auch auf den Sprachgehilfen als Akteure beim missionarischen translatorischen Handeln. Gbesela hat aber eine zweite Bedeutung, die für die Übersetzung als soziales Handeln auch von Belang ist: Es ist die Bedeutung des Mittlers bei einer Unterredung. Bevor ich auf diese zweite Bedeutung zurückkomme, möchte ich gleich die dritte vorab erläutern, weil diese dritte im missionarischen Kontext auch eine Rolle spielt: Gbesela ist der Folgsame, Gehorsame21, Gelehrige (ich hoffe, der Zusammenhang zum Titel meines Beitrags ist nunmehr deutlich). 19 Diedrich Westermann, Gbesela Yeye or English-Ewe Dictionary, Berlin ³1930. Im Vorwort (S. III) zu dieser dritten Auflage gibt Westermann die Bedeutung des Wortes gbesela an. Westermann war von 1901 bis 1903 als Missionar der Norddeutschen Mission in Togo tätig, wo er sich durch sein intensives Studium der Landessprache auszeichnete. Nach seinem Aufenthalt in Togo veröffentlichte er u. a. das Wörterbuch der Ewe-Sprache (2 Bde., Berlin 1905/06) und die Grammatik der EweSprache (Berlin 1907). Ab 1905 wurde er zunächst als Sprachlehrer, dann als Dozent und Professor an das Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin berufen. 20 Vgl. Diedrich Westermann, Wörterbuch der Ewe-Sprache, Berlin 1954, S. 267. 21 Ebd.
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Ich komme zur zweiten Bedeutung zurück. Gbesela als Mittler bei einer Unterredung ist das Synonym von tsiame/tsiami, dem Sprecher des Königs bei einer Volksversammlung oder vor Gericht, denn bei diesen Angelegenheiten darf keiner außer dem gbesela den König direkt ansprechen. Bei sonstigen Unterredungen setzt man einen gbesela ein, damit die Diskussion diszipliniert abläuft und keiner dem anderen ins Wort fällt. Der gbesela begnügt sich nicht mit der Rolle eines Diskussionsleiters, der Wortmeldungen registriert und gegebenenfalls das Wort verteilt. Er wirkt darüber hinaus bei einem ernsten Dialog als Mittler, damit es zu keiner chaotischen Auseinandersetzung kommt. Die Gesprächspartner bzw. die streitenden Parteien sprechen einander nicht direkt an. Derjenige, der das Wort ergreift, beginnt seine Rede/Aussage immer mit: „gbesela, se ne woa se be …“ bzw “gbesela, se ne woade egbo be…“ wörtlich „gbesela, höre, damit er/sie hört, dass …“, und man schließt seine Aussage mit „gbe nye dje anyi“ wörtlich: „somit fällt meine Stimme um“, in der Umgangssprache „das war es“. Der gbesela übermittelt dann die Aussage, indem er sagt „ X, ese gbea?“ „X, hast du /haben Sie seine Aussage gehört/verstanden?“, und der gbesela kann notfalls die Aussage wiederholen oder wiederholen lassen. Wenn es nicht gerade der Sprecher des Königs ist, wird bei normalen Versammlungen oder Zusammenkünften vorzugsweise der jüngste Teilnehmer zum gbesela eingesetzt. Er darf aber kein Kind sein, sondern jemand, der die sprachlichen Konventionen bei einer solchen Angelegenheit kennt und die Sprichwörter und Anspielungen verstehen kann. Bei der Bibelübersetzung ging es aus der Perspektive des evangelischen Missionars um eine äußerst ernste Angelegenheit. Man musste Haltung bewahren, brauchte viel Ruhe und Disziplin, um die Aussagen der Zielgesellschaft richtig wahrzunehmen. Die Jagd auf „heidnische“ Vorstellungen erfolgte erst später in der Übersetzerstube bzw. im Arbeitszimmer des Missionars. Die Rolle des Sprachgehilfen bei diesem Kontakt mit der Zielgesellschaft war entscheidend.
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Ein Zweckbündnis auf Gedeih und Verderb Über seine Sprachforschungsarbeiten sagte Luther: „So lieb uns das Evangelium ist, so hart lasset uns über den Sprachen halten. Und lasset uns das gesagt sein, dass wir das Evangelium nicht wohl werden erhalten ohne die Sprachen. Die Sprachen sind die Scheide, darinnen dies Messer des Geistes steckt.“22
Die Beziehung zwischen dem Missionar und dem Sprachgehilfen veranschaulicht dieses Luthersche Zitat in doppelter Hinsicht. Der Sprachgehilfe war für den übersetzenden Missionar sehr wichtig, weil er die Zielsprache verkörperte, ohne die die Bibelübersetzung unvorstellbar ist. In der Übersetzerstube folgte der nächste Schritt. Hier versetzte sich der Missionar in die Lage des Baumeisters, und der Sprachgehilfe übernahm die Rolle des Handlangers, der auf der Baustelle nach Bausteinen sucht, die er dem Baumeister reicht. Wenn die Bausteine nicht in die Mauer passen, muss der Handlanger weitersuchen, ansonsten freut er sich mit dem Baumeister über jeden kleinen gemeinsamen Fortschritt. Bei den zielbewussten Bemühungen um die Bibelübersetzung bildeten der Missionar und sein Sprachgehilfe ein Zweckbündnis, das durch ein geistiges Sich-Entfernen von der gewohnten Umgebung und einer ebenso geistigen Vereinigung mit dem BauPartner gekennzeichnet war. Damit komme ich zurück zu dem Luther’schen Diktum und möchte versuchen, anhand der Beziehung zwischen dem Missionar Jakob Spieth und dem Sprachgehilfen Ludwig Adzaklo zu zeigen, wie Adzaklo als Verkörperung der Zielsprache die Rolle der Scheide übernimmt, und Spieth die Funktion des Messers des christlichen Geistes zukommt. Voranzuschicken ist, dass Jakob Spieth nicht der einzige deutsche Missionar ist, der die Bibel ins Ewe übersetzt hat. Er selber erkannte in seinem bereits angeführten Bericht, dass die Übersetzung der Heiligen Schrift in die Ewe-Sprache weder die Arbeit eines kurzen Zeitraumes noch das Werk eines einzigen Mannes sei. Vor Spieth haben Missionare wie Schlegel, Weyhe, Binder, Merz, Knüsli und Däuble entscheidende Bausteine zur Bibelübersetzung gelegt, die keinesfalls zu unterschätzen sind. Und doch war es Spieth, 22 Zitiert nach: Karl Gottlieb Bretschneider, Casualpredigten und Reden bei besonderen Vorfällen und Veranlassungen in der Kirche und im Staate, während einer siebenundzwanzigjährigen Amtsführung, Gotha 1834, S. 208.
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der hauptsächlich in Zusammenarbeit mit Ludwig Adzaklo und im Auftrag der Britischen Bibelgesellschaft die abschließende Arbeit der Bibelübersetzung geleistet hat. In Ludwig Adzaklo fand die Mission den geeigneten Mann, der Spieth in Tübingen für die Bibelübersetzung beistehen sollte. „Seiner sprachlichen Gewandtheit zollte Spieth hohes Lob. Doch war seine Aufgabe nicht leicht. Die ungewohnten Verhältnisse des fremden Landes, das spartanische Leben, das er führen musste, die Einspannung in das Spiethsche Arbeitstempo und anderes müssen den jungen Menschen oft bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten beansprucht haben. Umso mehr verdient er es, als wichtigster Mitarbeiter Spieths genannt zu werden. Ohne ihn wäre die Ewebibel nicht das geworden, was sie heute ist.“23
Das Einspannen in das Spieth’sche Arbeitstempo deutet an, dass beide Akteure sehr eng miteinander verbunden waren und Spieth selber womöglich kaum Zeit zum Ausspannen blieb. Mehr noch: Sie mussten bei der Übersetzung auf Gedeih und Verderb zusammenhalten. Spieth war sich bewusst, dass er auf Adzaklo angewiesen war: Als dieser beispielsweise wegen einer Operation ein paar Tage in einer Klinik verbringen musste, hatte er Angst, das Zimmer mit anderen Patienten zu teilen. Nach Absprache mit Spieth durfte er ein Einzelzimmer nehmen, und Spieth musste täglich 5 Mark zahlen,24 was 1907 noch eine beträchtliche Summe war. Ansonsten war Spieth während Adzaklos Aufenthalt in der Klinik sehr zuvorkommend, kümmerte sich um das Wohlergehen des Kranken und schickte einen regelmäßigen Bericht an den Vorstand der Norddeutschen Mission. Umso zügiger ging die Arbeit voran, als es Adzaklo wieder besser ging. Am 18. August 1907 schickte Spieth einen Brief an den Vorstand der Norddeutschen Mission, in dem er schrieb: „I. Könige fertig […] Ludwig ist außerordentlich tüchtig.“ Und einige Tage später, am 5. September, fügte er hinzu: „II. Könige fertig […] etwa die Hälfte des Stoffes ist erledigt, 181 Kapitel […] Denke ich an die Fülle von Arbeit, die in diesen 181 Kapiteln steckt, dann muss ich Gott danken für seine wunderbare Durchhilfe […] Eine Ursache des Dankes ist es mir, dass Ludwig bis heute Mut zur Weiterarbeit 23 Wiegräbe, Gott spricht auch Ewe, S. 35. 24 Staatsarchiv Bremen, 7,1025-29/9.
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behalten hat und, wenn auch zuweilen unter offenbaren inneren Kämpfen, geblieben ist […]. Bleibt er, dann bekommen wir eine Bibel aus einem Guss, und ich glaube, das Volk wird sagen: Das ist Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein! Wenigstens, soweit die Sprache in Betracht kommt.“25
Offenbar verlief die Interaktion zwischen dem Missionar und dem Sprachgehilfen nicht ohne Schwierigkeiten, und die inneren Kämpfe, die der Gehilfe überwinden musste, betrachtete der Missionar nicht nur als notwendige Wehen vor der Geburt – das Erzeugnis der gemeinsamen Bemühungen als „Fleisch von meinem Fleisch“, „Bein von meinem Bein“ –, sondern auch als eine Gott gewollte Bewährungsprobe, die dem Missionar selber nicht erspart blieb. In verschiedenen Briefen berichtete Spieth über die Fortschritte bei der Bibelübersetzung, die merkwürdigerweise mit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes seiner Frau einhergingen, und der ganze Sachverhalt rief gemischte Gefühle beim Missionar hervor: „Bei meiner lieben Frau geht’s nicht besser. […] Zuweilen will sich bei mir der Vorgeschmack der Freude über die vollendete Arbeit schon jetzt in die Arbeit mischen. Sehe ich aber meine liebe Frau an, so verwandelt sich die Freude in stille Tränen des Schmerzes.“26
Und einige Wochen später notierte er: „Heute Vormittag, 20 Minuten vor 10 Uhr übersetzten wir den letzten Vers des Maleachi. Das hat zu bedeuten, dass die Übersetzung des Alten Testamentes als fertige Arbeit vor uns liegt. Der Herr hat durch all die Jahre der Arbeit und Sorge gnädig hindurchgeholfen, Ihm allein gebührt der Dank! […] So ist denn für Ludwig und für uns der große Augenblick gekommen, in dem er seine Heimreise antreten durfte […]. Meine liebe Frau wird schwächer und stiller […]. Wir durchleben ein tägliches Sterben. Wie froh bin ich, dass wir mit der Bibel fertig sind. Es wäre mir augenblicklich körperlich und seelisch unmöglich, an der Übersetzung zu arbeiten. Es ist wunderbar, wie Gott alles zu seiner Zeit tut.“27 25 Paul Wiegräbe, Gott spricht auch Ewe, S. 37. 26 Ebd., S. 38. 27 Ebd., S. 39.
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Und die Heimreise seines Sprachgehilfen nach der erledigten Übersetzungsarbeit fiel zeitlich fast zusammen mit dem Heimgang seiner Frau, die wenige Tage nach der Abreise von Adzaklo verstarb.
Das Aufkommen eines „neuen Christenmenschen“ als Folge des missionarischen Übersetzens Angesichts der oben angeführten Vorarbeiten und der situativen Faktoren der Interaktion zwischen dem Missionar und dem Sprachgehilfen bedeutete das missionarische Übersetzen mehr als eine bloße sprachliche Kommunikation. Die intensive Zusammenarbeit zwischen Spieth und Adzaklo und der ganze Übersetzungsprozess sind mit dem Überqueren (Über-setzen) eines unruhigen Gewässers gleichzusetzen, bei dem die Beteiligten nicht vollständig unverletzt das andere Ufer erreichen. Hier möchte ich auf die Nachwirkungen beim Sprachgehilfen eingehen, die stellvertretend für die Situation des zu missionierenden Volkes angesehen werden können. Dabei komme ich auf die oben erwähnte zweite Bedeutung des Begriffs gbesela zurück: Folgsamer, Gehorsamer, Gelehriger. Am Anfang des Prozesses war der afrikanische Mitarbeiter ein Gewährsmann, ein Informant des Missionars. Dann wurde er durch die subtile Machtausübung, die auf der vom Missionar verkündeten erhabenen Frohen Botschaft beruhte, allmählich domestiziert (man denke an seine Situation in der Übersetzerstube, aber auch an andere unzählige junge Leute, die damals als Dienstboten o. ä. der Missionare arbeiteten). Im Falle Adzaklo, der sich im fremden Heimatland des Missionars aufhielt, musste diese Macht noch weit stärker wirken. Zur Domestizierung gehörte auch die Einschulung des Gehilfen.28 Adzaklo musste in Tübingen nebenbei viermal wöchentlich einen Deutschkurs besu-
28 Vgl. hierzu Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976, insbesondere Kapitel III zur Disziplin, S. 197–292. Die Domestizierung und Einschulung gehören zu den Disziplinar- und Überwachungsmechanismen, die die Herrschaftsbeziehungen zwischen dem Missionar und dem Gehilfen kennzeichnen. Gegenstand dieser Herrschaft bildet symptomatisch der Körper des Gehilfen, der sich nicht nur durch ein bestimmtes Aussehen (Kleidung usw.) auszeichnet, sondern auch einer strengen Disziplin unterzogen wird, mit der eine gesteigerte Unterwerfung und eine höhere Tauglichkeit beim missionarischen Wirken erzielt werden sollte.
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chen und lernte auch Stenografie und Musik, nämlich Posaune und Klavier.29 Die Domestizierung des Gehilfen ging einher mit einer Klausur, bei der alle Kontakte mit der Außenwelt genau reglementiert wurden, und am geschlossenen Ort konnte der junge Afrikaner durch Disziplin zu einem folgsamen und gelehrigen Menschen erzogen werden. Die Domestizierung führte aber auch dazu, dass der Gehilfe als Individuum wahrgenommen wurde – im Gegensatz zur „heidnischen“ Masse. Jedem Gehilfen wurde ein Platz, eine bestimmte Funktion und ein Rang30 zugewiesen. Im Missionsgebiet hatte jeder Gehilfe nach der Schulausbildung einen bestimmten Posten an einem bestimmten Ort, und man unterschied nach Foucaults Prinzip der evolutiven Individualität,31 je nach dem Verdienst zwischen Evangelisten,32 Lehrern erster und zweiter Klasse und Pastoren, den sogenannten Osofo33. Mechanismen zur Kontrolle der anderen und zur Selbstüberwachung waren die Lehrerkonferenzen, die Pastorenkonferenzen, die regelmäßigen Berichte über die eigene Tätigkeit sowie die Briefe an den Vorstand der Mission. Ein Paradebeispiel für die Kontrolle bildeten die schriftlichen Arbeiten, die dem Gehilfen aufgegeben wurden, in denen der Missionar nicht nur den Bildungsstand des Gehilfen feststellen, sondern auch herausfinden wollte, wie weit christliches Gedankengut in den afrikanischen Gemeinden verbreitet war. So beauftragte Missionsinspektor Martin Schlunk bei einer seiner Reisen durch Togo im März 1911 alle einheimischen Gehilfen, schriftliche Arbeiten anzufertigen, an denen: 29 Siehe Brief an den Inspektor der Norddeutschen Mission im November 1906, Staatsarchiv Bremen 7, 1025-29/5. 30 Foucault, Überwachen und Strafen, verwendet auch jeweils die Begriffe „Parzellierung“ (S. 183) und „Funktionsstellen“ (S. 184). 31 Ebd., S. 201–209. 32 Siehe Zusammensetzung der Anforderungen an die Gehilfen unserer Mission, Staatsarchiv Bremen 7, 1025-29/1. 33 Siehe hierzu Dienstanweisung für Osofo, Staatsarchiv Bremen 7, 1025-29/2. Zu dem Begriff osofo siehe auch A. P. Oloukpona-Yinnon. Im Gegensatz zu Oloukponas These sind „osofo“ und „Missionar“ wenigstens aus der Perspektive der deutschen Missionare keine synonymen Begriffe, deshalb korrigiert Missionar Westermann die Aussage des Evangelisten Stefano Hiob Kwadzo, indem er Wilhelm Däuble nicht als „osofo Däuble“, sondern als „Missionar Däuble“ bezeichnet (siehe Oloukpona-Yinnon, Vom „Gehilfen“ zum „osofo“. Der Wandel im Status der afrikanischen Mitarbeiter der Norddeutschen Mission in Togo, S. 156). Der osofo steht zwar im Rang höher als der Evangelist, aber er ist kein Missionar, sondern er gehört zur großen Gruppe der afrikanischen Mitarbeiter der Missionare, also zur großen Gruppe der Gehilfen.
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„ich [Schlunk] den Bildungsgrad, den Anschauungskreis, die Denkfähigkeit und den Fleiß unserer Lehrer etwas kennen lernen wollte. Die Themata waren von mir im Allgemeinen bestimmt und von den Missionaren je nach Veranlagung den Lehrern zugeteilt. […] Der Wert [dieser] Arbeiten liegt, abgesehen von dem Urteil, das sie über unsere Lehrerschaft erlauben, vor allem im Stoff. Es ist für die Predigt und die Seelsorge in den jungen Christengemeinden von Wichtigkeit, zu wissen, wie breit und wie tief die heidnische Unterströmung im Denken der Zuhörer immer noch ist, damit zur rechten Zeit und in der rechten Weise dagegen gearbeitet werden kann, und es gibt kaum einen praktischeren Weg, diese Unterströmung kennen zu lernen, als indem man die Lehrer zur Beobachtung und Darstellung des Erfahrenen aufruft.“34
Lesen und Schreiben waren die Grundlagen für die individuelle Entwicklung. Um Hausbesuche zu machen und „Heidenpredigten“ zu halten und sich überhaupt mit der biblischen Schrift auseinanderzusetzen, war es mehr als wünschenswert, dass der Gehilfe wenigstens lesen konnte, denn die Heilige Schrift lag ja der ganzen evangelischen Missionstätigkeit zugrunde. Das Schreiben war auch notwendig, um einen brieflichen Verkehr mit der Mission zu ermöglichen.
Fazit Der Missionar trug zur Bibelübersetzung das technische Know-how der Schrift bei und er übernahm die Aufsicht über und die Sorge um den christlichen Gehalt des in die afrikanische Sprache übersetzten Textes. Der afrikanische Gehilfe seinerseits trug insofern zur Bibelübersetzung bei, als der Sprachkundiger und Fürsprecher seiner einheimischen Kultur war. Das missionarische Übersetzen war eine kultursensitive, kommunikative Translation – wie die Zusammenarbeit von Jakob Spieth und Ludwig Adzaklo beispielhaft zeigen sollte.35 Die Beziehung zwischen Spieth und 34 Martin Schlunk, Reste heidnischer Anschauungen in den Christengemeinden Togos (Bremer Missions-Schriften 30), 1911, S. 1–2. 35 Andere afrikanische Mitarbeiter wie etwa Andreas Aku haben durch die Übersetzung christlicher Literatur versucht, zur Christianisierung der Ewe-Sprache beizutragen. Das symbolträchtigste Beispiel bildet die Übersetzung von John Bunyans The Pilgrims Progress, dessen intertextuelle Spuren in der Ewe-Literatur wahrnehmbar sind. Siehe hierzu Dotsé Yigbe, „Die Anfänge der afrikanischen
Von Gewährsleuten zu Gehilfen und Gelehrigen
Adzaklo veranschaulicht den Zweck des missionarischen Übersetzens: Es gilt, die biblische Botschaft in eine „anständige“, für jedermann verständliche afrikanische Sprache zu übermitteln und die „heidnischen“ Begriffe sorgfältig zu beseitigen. Gleichzeitig ging mit dieser Christianisierung der afrikanischen Sprache das Aufkommen eines „neuen afrikanischen Christenmenschen“ einher, der schreib- und lesefertig war und sich selbst direkt mit der Heiligen Schrift auseinandersetzen konnte unter der unauffälligen Kontrolle des Missionars. In der Vorstellung der Missionare glich der werdende afrikanische Christenmensch einem Kriechtier, das beim Sich-Enthäuten das alte „heidnische“ Kleid ablegen soll.
Literatur in afrikanischer Sprache: Sam Obianim trifft John Bunyan im deutschen Missionsgebiet Togo“, in: Annales de l’Université de Lomé (Série Lettres et Sciences Humaines) 30 (2010) 2, S. 321–330.
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Ewe-Christen zwischen Württemberg und westafrikanischen Missionsstationen (1884–1939) Kokou Azamede
Die Missionstätigkeiten der Norddeutschen Mission in Westafrika im 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beschränkten sich nicht auf die Verkündung des Evangeliums. Sie lösten auch kulturelle und soziale Interaktionen zwischen Missionaren und Missionierten aus. Hierbei spielten – so soll im Folgenden gezeigt werden – die Ewe-Württemberger, eine Gruppe von getauften Togolesen, die in Württemberg in den 1880er-Jahren ausgebildet worden waren, eine zentrale Rolle. Diese 20 sogenannten Ewe-Christen wurden nach ihrer Rückkehr aus Württemberg im westafrikanischen Ewe-Land, dem heutigen südlichen Togo und östlichen Ghana, und damaligen DeutschTogo, in den Dienst der Norddeutschen Missionsgesellschaft (NMG) gestellt. Sie verpflichteten sich, ihren Landsleuten das Christentum zu verkünden.1 Dabei – so die These dieses Beitrags – verwandelten sie die an der Küste zwischen Ghana und Togo herrschenden, sehr unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen, indem sie christlich-europäische und afrikanische Denk- und Lebensweisen auf eine ganz neue Art verbanden. Während ihrer Tätigkeit in den Missionsstationen, dieser komplexen kulturellen Kontaktzone, traten die Ewe-Christen in einen Prozess des kulturellen Aushandelns ein, indem sie sich einerseits mit ihrem Christentum und mit den eigenen Gewohnheiten auseinandersetzten und andererseits in Spannung mit der Missionsleitung lebten. Sie schufen dadurch einen neuen, einen „Dritten Raum“ (H. K. Bhabha), der eine christliche Lebensweise mit ihrer Mentalität verband.
1 Um diese in Württemberg ausgebildeten Ewe-Christen von ihren anderen christlichen Kollegen und Landsleuten zu unterscheiden, bezeichne ich sie als „EweWürttemberger“.
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Religiöse Vorstellungen der Ewe und die pietistische Denkweise der Norddeutschen Mission In der Ewe-Gesellschaft herrschten im 19. Jahrhundert unterschiedliche Glaubensformen. Gemeinsam war diesen unterschiedlichen Glaubensformen eine religiöse Lebenspraxis, die sich auf das höchste geistliche Wesen Mawu, d. h. Gott den Allmächtigen, der „von Niemand und Nichts zu Übertreffende“, bezog. Mawu, der Allmächtige, unterhielt Beziehungen zu anderen kleinen geistlichen Wesen, die ihm untergeordnet waren. Sie bezeichneten sich als Erdengötter und hießen Trɔ˜. Jeder Stamm, jede Stadt oder jede Familie hatte die Möglichkeit, einen oder mehrere von diesen zu besitzen und zu verehren. Sie wurden aus Naturgegenständen gestaltet und verehrt. 1847 kamen die ersten Missionare der Norddeutschen Missionsgesellschaft an die afrikanische Westküste, wo die Ewe-Volksgruppen lebten. Diese Missionare entstammten der protestantischen Erweckungsbewegung Bremens. Sie gründeten ihr Christentum auf eine Frömmigkeit, die gemeinhin als Pietismus bezeichnet wurde, ihre Gemeindemitglieder wurden Pietisten genannt.2 Im Pietismus spielt die Volksmission, die Diakonie, die Heidenmission, die Männer-, Frauen- und Jugendarbeit eine besondere Rolle. Die Pietisten hielten sich für Mitglieder eines Erneuerungskreises mit einer spezifischen Gruppenkultur und einem elitären Bewusstsein. Sie waren stolz auf ihre sozialen Aktivitäten: Buchpublikationen und Verlagsaktivitäten, Briefwechsel und Besuchsreisen, finanzielle Unterstützung und andere Hilfsaktion, Sozialarbeit und Schulgründungen, wirtschaftliche Unternehmungen und Missionstätigkeit.3 20 Ewe-Christen, d. h. getaufte Bewohner des südlichen Teils der deutschen Kolonie Togo, erhielten eine Missionsausbildung in Württemberg, einem weiteren Schwerpunktgebiet des Pietismus in Deutschland. 19 von ihnen wurden zwischen 1884 und 1900 nach einem systematisch erstellten Erziehungsplan unterrichtet, und der zwanzigste wurde schon 1871 in einem informellen Rahmen in Württemberg ausgebildet.4 Die Analyse ihrer jeweili2 Martin Scharfe, Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus, Gütersloh 1980, S. 48. 3 Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 77. 4 Christian Alipodzi Sedode wurde 1871/1872 durch Pfarrer Johann Conrad Binder nach Württemberg gebracht, besuchte anschließend die Waisen- und Volksschule von Wilhelmsdorf. Zuhause erhielt er eine Missionsausbildung durch Missionar
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gen Lebenswege zeigt, wie sie sich zwischen Kulturen bewegten und beständig in einem transkulturellen Prozess lebten.
Prozesse des Kultur- und Wissenstransfers: die „Ewe-württembergische“ Missionsschule in Deutschland Für die Missionstätigkeit in Westafrika war es in den Augen der Missionsleitung notwendig, dass die Afrikaner, die in Togo für die Mission tätig waren, Weiterbildungen erhielten, um größere Verantwortung in der Missionsarbeit zu übernehmen. Der Missionsinspektor Franz Michael Zahn ergriff im Einvernehmen mit Pfarrer Johannes Conrad Binder5 Anfang der 1880er-Jahre die Initiative, Ewe-Studenten unter der Leitung Binders eine Missionsausbildung in Württemberg zu erteilen. Nach etwa dreißig Jahren Missionstätigkeit in Westafrika sah sich die Missionsleitung mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert. Die Missionsleitung musste feststellten, dass sie viele ihrer Schüler auf Stationen an andere Schulen in englischsprachigen Ländern, z. B. der ehemaligen Goldküste, Nigeria und Sierra-Leone, verloren hatte, wo Studenten eine höhere Bildung erhielten und damit bessere Berufsperspektiven an der Küste hatten. Die afrikanischen Missionsschüler verlangten also höhere Bildung auch in den Stationen der Norddeutschen Mission. Zudem wurde aufgrund von klimatischen, kulturellen und sozialen Schwierigkeiten die Anzahl des deutschen Missionspersonals auf den Stationen immer geringer. Laut Werner Ustorf richtete sich diese Ausbildungsinitiative der Norddeutschen Mission auch gegen den Hamburger Kaufmann und Kolonialbefürworter Wilhelm Hübbe-Schleiden, der sich durch kolonialpropagandistische und rassistische Stellungnahmen hervorgetan hatte. Die Mission wollte „die Bildungsfähigkeit der Afrikaner bzw. ‚Eweer‘ vor der Welt“ demonstrieren.6 Zahn wählte lieber Europa als Afrika für die Ausbildung wegen des
Binder selbst. Vgl. Kokou Azamede, Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen Deutschland und Westafrika, 1884–1939, Stuttgart 2010, S. 42–52. 5 Johannes Conrad Binder war vom Mai 1867 bis August 1871 Missionar in Anyako/ Eweland. Vgl. August Wilhelm Schreiber, Bausteine zur Geschichte der Norddeutschen Missionsgesellschaft, Bremen 1936, S. 233. 6 Werner Ustorf, Die Missionsmethode Franz Michael Zahns und der Aufbau kirchlicher Strukturen in Westafrika, Erlangen 1989, S. 262.
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Einflusses der christlichen Umgebung auf die Persönlichkeitsbildung afrikanischer Mitarbeiter. Ebenso rechnete er auch damit, qualifiziertes afrikanisches Personal sicherer an die NMG binden zu können: „Die Entfernung von Seminaristen aus ihrer afrikanischen Umwelt, vor allem aus den als störend erachteten Einflüssen afrikanischen Küstenlebens mit seinen Vergnügungen und Karrieremöglichkeiten, war dabei als notwendig vorausgesetzt.“7
So wurde die „Ewe-württembergische“ Missionsschule im August 1884 in Württemberg im Haus des Pfarrers Johann Conrad Binder eröffnet. Unter der Leitung Binders bekamen hier zwischen 1884 bis 1900 neunzehn junge EweStudenten eine Missionsausbildung. Die drei ersten Studenten8 wurden in Ochsenbach ausgebildet, bis die Schule 1887 nach Westheim verlegt wurde. In Deutschland erlebten sie das Christentum und die Deutschen, und lernten darüber hinaus die deutsche Kultur kennen. Die meisten der neunzehn EweChristen waren zwischen 14 und 16 Jahre alt, als sie ihre Heimat verließen. Die Prägung durch die christlich-europäische Kultur wurde intensiviert und brachte die Ewe-Christen dazu, sich ständig mit der Kirchenordnung auseinanderzusetzen. Aufgrund ihres Alters und ihrer geschlossenen christlichen Umgebung passten sie sich an die christlich-europäische Realität an. Die Mission zielte darauf, die Ewe-Schüler zu vorbildlichen Christen in der EweGesellschaft zu erziehen. Dies war den Schülern nicht nur bewusst, sondern auch sie strebten danach, durch die Missionsarbeit ihren sozialen Stand in der heimatlichen Gesellschaft zu verbessern und zu deren Entwicklung beizutragen. Das Missionsfeld der NMG im Ewe-Gebiet war nicht nur ein Experimentierfeld des christlichen Glaubens, sondern auch ein Ort der christlich europäischen Lebensweisen. Während der Missionsausbildung in Deutschland verbanden die Ewe, die in die Schule in Württemberg gingen, das Christentum mit jener christlicheuropäischen Gedankenwelt, wie sie in den Kreisen der Pietisten herrschte – als eine Gruppenkultur, die über das Religiöse hinausging. Die Lebenswege zeigen, dass die afrikanischen Mitarbeiter der NMG christlich-europäische Regeln in ihre Lebensanschauung aufnahmen. Auf den Missionstationen, wo sie im Dienst der Mission standen, wirkten sie zur vollsten Zufriedenheit 7 Ebd., S. 265. 8 Andreas Aku, Hermann Yoyo und Reinhold Kowu.
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der deutschen Missionare mit. Missionar Jacob Spieth zum Beispiel berichtete über die Lehrkompetenz der Ewe-Württemberger, als 1897 eine polemische Kontroverse über die Notwendigkeit der Ausbildung der „Afrikaner“ in Deutschland im Dienst der NMG ausbrach, wie folgt: „Wenn man über die Bildungsfähigkeit der Evheer vom Jahre 1847 bis zum Jahre 1883 oder 84 im Unklaren war, so sind sämtliche Ausgaben für unsere in Deutschland ergangenen Evheer mehr als gerechtfertigt, wenn durch sie die Bildungsfähigkeit der Evheer endlich erwiesen wurde. […] Die Frage, ob das in Deutschland Gelernte die Leute tüchtiger gemacht hat zur Erfüllung ihres Christen- und Missionsberufes, beantworte ich ohne weiteres mit ,Ja‘, das thue ich trotz der scheinbaren Misserfolge.“9
Die Ewe-Württemberger galten sogar als Maß zur Bewertung der anderen Ewe-Christen, auch wenn sie in mancherlei Hinsicht kritisiert wurden. Der Missionar Carl Spieß berichtete über das Auftreten, das Benehmen und den Charakter der Ewe-Christen, indem er die Ewe-Württemberger mit den nicht in Deutschland ausgebildeten Ewe-Christen verglich: „[Adolf ] Lawoe in seinem ganzen Auftreten (Bescheidenheit, Zuvorkommenheit) stelle ich Andreas Aku entschieden hierin gleich. Benehmen: Männer, wie Gustav Yawo; Mallet, vor allen Dingen [Friedrich] Baru und [Christian] Senaɣe, Peter Kwist, Aaron Mexatseko, John Te, Joshua Böhm können sich ebenso gut benehmen, wie unsere Deutsch-Evheer. […] Charaktere: würden die Deutsch-Evheer, was christlicher Charakter heißt, doch noch mehr von ihren Landsleuten lernen, die zu unseren Gemeinden gehören. Viele sind doch da, die auf diese unsere Lehrer einwirken konnten.“10
Dennoch erlebte jeder Ewe-Württemberger den Prozess des kulturellen und Wissenstransfers anders, je nachdem, aus welcher Familie er stammte. Manche gehörten der höheren sozialen Schicht der traditionellen Gesellschaft an. Andere entstammten bäuerlichen Familien und wieder andere aus Familien, deren Vorfahren von der Mission freigekauft worden oder fremder Herkunft 9 Spieth an Inspektor Zahn, Gutachten über die Ausbildung der Eυeer in Deutschland, Schorndorf, den 10. September 1897, Staatsarchiv Bremen (StAB) 7,1025 29/6. 10 Carl Spieß an Zahn, Die Ausbildung der Evheer in Deutschland; Gründe gegen dieselbe, Bremen, den 22.2. 1897, StAB 7,1025 29/6.
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waren. Kofi Ametowobla gab in seiner Abschiedsrede an die Missionsleitung anlässlich des Missionsfestes in Westheim folgende Angaben zu seiner Herkunft und der seiner Kameraden: „Wir stammen aus einem Lande, aber aus verschiedenen, weit von einander liegenden Stämmen. Der [Robert Baeta] stammt aus dem Anglo-Stamm an der Küste, wir beide stammen aus dem Innern, der [Timotheo Mallet] aus dem Peki-Stamm und ich [Tim. Ametowobla] aus dem Aʋatime-Stamm.“11
Umsetzung des kulturellen und Wissenstransfers: Tätigkeiten der Ewe-Württemberger in den Missionsstationen Als die Ewe-Württemberger nach der Missionsausbildung nach Westafrika zurückkehrten, waren sie zwischen 17 und 20 Jahre alt. Dort verpflichteten sie sich, die lokale Religion zu bekämpfen und ihre Landsleute zum Christentum zu bekehren. Diese Verpflichtung bedeutete, das in Europa erworbene Wissen in den Missionstationen und unter den Landsleuten zu vermitteln. Sie wurden unter anderem Lehrer, Katechisten oder Pastoren und vertraten die Interessen der Mission. Während des Missionsdienstes verhielten die Ewe-Württemberger sich gemäß ihrer christlichen Erziehung. Sie waren im Missionsdienst „fleißig“, „tüchtig“ und „treu“. Diese Attribute bezeichneten die kulturellen Haltungen, mit denen sie beständig umgingen. Diese kulturellen Haltungen und die Kirchenordnung standen weder mit ihrer traditionellen Religion noch mit den Sitten und Bräuchen des Ewe-Missionsgebiets in Übereinstimmung. Die Ewe-Christen blieben oft der Mission treu, wenn sie sich mit eigenen traditionellen Gewohnheiten auseinandersetzten. Auf den Missionstationen verbot die evangelische Gemeindeordnung Paragraf 120, Abschn. III eine Heirat zwischen Katholiken und Protestanten. Da mit der Zeit solche Heiraten vermehrt vorkamen und bei den großen Gemeinden nicht verhindert werden konnten, gaben die Katholiken eine Anordnung heraus, die für die Protestanten sehr nachteilig war, solange die letzteren bei
11 Rede von Timotheo Kofi Ametowobla, Bericht über die Evhe-Schule und das letzte Neger-Missionsfest in Westheim, Bremen 1900, StAB 7,1025 29/6.
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der alten Anordnung verblieben:12 Wenn ein evangelischer Mann ein katholisches Mädchen gegen den Willen der evangelischen Pastoren heiraten wollte, so musste der Protestant sich mit dem katholischen Mädchen in der katholischen Kirche trauen lassen und einen Vertrag unterschreiben, der vorsah, dass er die katholische Frau nicht an der Ausübung ihrer religiösen Pflichten hindern dürfe und überdies alle Kinder aus dieser Ehe katholisch taufen und erziehen lassen müsse. Dadurch bekam die katholische Kirche einen entscheidenden Einfluss auf diese Familien. Dies verwirrte aber die Ewe-Württemberger, weil sie einerseits Verständnis für das traditionelle Heiratsverfahren hatten und andererseits den immer größeren Verlust von protestantischen Christen in der Gemeinde befürchteten. Pastor Robert Baeta, der von 1897 bis 1900 in Westheim ausgebildet worden war, drückte seine Ratlosigkeit über die Mischehe in einem Brief an den Missionsinspektor folgendermaßen aus: „Will aber ein katholischer Mann ein evangelisches Mädchen heiraten, so verbietet dies unsere Gemeindeordnung einfach. Auch wenn der Katholik bereit ist, sich mit dem evangelischen Mädchen in der evangelischen Kirche trauen zu lassen und den gleichen Vertrag, wie oben erwähnt, zu unterschreiben […], lässt unsere Gemeinde-Ordnung eine solche Mischtrauung nicht zu. Was ist dann die Folge in allen Fällen. Die Betreffenden heiraten einfach unkirchlich oder kommen zu Fall und erledigen die Sache so ohne uns. Da das Mädchen dann zur Strafe von uns aus der Gemeinde ausgeschlossen wird, so ist es ihr auch ziemlich einerlei, wo ihre Kinder getauft werden. Dadurch zieht der Katholik den Vorteil, indem er die Kinder katholisch taufen und erziehen lässt. Bei solchen, denen die kirchliche Trauung ein Ernst ist, wird das evangelische Mädchen in der katholischen Kirche getraut und wird katholisch, nur weil wir eine Mischtrauung in unserer Kirche nicht dulden. Dadurch haben wir der katholischen Kirche viel in die Hände gearbeitet, und dies geschieht leider heute noch.“13
Weiter heißt es bei Baeta über einen konkreten Fall: „Gegenwärtig sind wieder vier Fälle in unserer Gemeinde vorhanden. […] Von den erwähnten Verlobten hat das eine Mädchen (Augustine Miller) die Gemeindemütter gebeten, sie möchten ihr helfen und uns bitten, die Trauung 12 Vgl. Pastor R. Baeta an Missionsinspektor, Lomé, den 28. Juni 1922, StAB 7,1025 24/6. 13 Robert Baeta an Missionsinspektor, Lomé, den 28. Juni 1922, StAB 7,1025 24/6.
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zu gestatten. […] Gestern kam dasselbe Mädchen zum zweiten Mal zu mir und schüttete ihr [Anliegen] ganz vor mir aus. U. a. sagte sie: ‚Ich bin bereits 28 Jahre alt, das einzige Kind meiner Eltern, die mir immer sagen: Ich muss heiraten. Ich werde zuweilen kränklich; wenn ich zum europäischen Arzt gehe, so untersucht er mich, gibt mir aber keine Arznei mehr, sondern sagt nur: ‚Ich habe Dir schon oft gesagt, du musst heiraten, das ist nur der Grund deines Unwohlseins.‘ Daher gehe ich nicht mehr hin. Bisher hat kein evangelischer Mann nach mir gefragt, es kommen nur Katholiken. Die drei ersten habe ich zurückgewiesen; nun kommt der vierte, der auch etwas mit mir verwandt ist. Meine ganze Familie hat eingewilligt, die meisten von ihnen sind keine Christen und ihnen ist es einerlei, ob der Mann evangelisch oder katholisch ist. Ich habe oft mit meinem Bräutigam gesprochen, er muss in unsere Kirche übertreten, bevor er mich christlich heiraten darf. Er hat mir aber immer gesagt, das könne er nur aus innerlicher Überzeugung und nicht wegen Heirat tun, es soll später meine Aufgabe sein, ihn zu überreden. Es ist schon über anderthalb Jahre her, als er das Brautgeschenk gemacht hat. Ich kann auch nicht näher mit ihm verkehren um ihn zu beeinflussen, evangelisch zu werden, ohne selber Gefahr zu laufen. Ich muss mich in Acht nehmen. Erst wenn wir getraut sind, kann ich am besten auf ihn wirken. Meine Eltern sind kirchlich getraut, und es ist mir viel daran gelegen, auch kirchlich getraut zu werden. Nun ist es eben mein Schicksal, einen Katholiken als Bräutigam zu haben; einen Evangelischen kann ich mir doch nicht wählen. So ist meine Sache traurig. Bitte seht meine schwierige Lage an und erbarmet Euch meiner.‘“14
Angesichts der Schwierigkeiten, vor die sie die Umsetzung der protestantischen Kirchenordnung stellten, blieb ihnen nichts anders übrig als in einen Prozess des kulturellen Aushandelns mit der christlichen Lebensweise zu treten. Robert Baeta argumentierte wie folgt: „Wir verlieren also stets und die katholische Kirche jubiliert über unsere Gemeinde-Ordnung, die ihnen so gut passt. Ich persönlich kann nicht länger darüber schweigen. Bruder [Andreas] Aku ist die Sache ebenso peinlich wie mir, aber die Gemeinde-Ordnung muss befolgt werden. Daher haben wir ausgemacht, Sie zu fragen, ob es nicht ratsam wäre, auch in unserer Kirche in Zukunft solche Mischtrauungen zu erlauben. Man könnte die Sache so annehmen, als ob ein ungläubiger Christ eine gläubige christliche Frau heira14 Ebd.
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ten würde. Sollte man der armen ernstlich christlichen Frau die Trauung in der Kirche verweigern, weil der Mann, sei er evangelisch oder katholisch, ungläubig oder gleichgültig ist? Ich meine, das treue Glied unserer Kirche sollte zu seinem Recht kommen, sonst wäre es ungerecht behandelt. Wenn Frauen von katholischen Polygamisten in unserer Kirche getauft und als Abendmahl berechtigt anerkannt werden, warum darf ein evangelisches Mädchen mit einem katholischen Mann in unserer Kirche nicht getraut werden, wenn der Mann bereit ist alle unsere Bedingungen anzunehmen.“15
Die Missionsleitung konnte diesem Druck nicht lange widerstehen. Missionsinspektor Martin Schlunk blieb in seinem ersten Brief an seinen EweKollegen Robert Baeta bezüglich der Einhaltung der Kirchenordnung fest und dachte, dass die christlichen Regeln unantastbar seien. Er argumentierte wie folgt: „Die Frage der Mischehen zwischen Katholiken und Protestanten ist sehr schwierig. Sie ist mir in ihrer Schwierigkeit schon aus deutschen Verhältnissen bekannt. Die evangelischen Kirchen Deutschlands stellen es in die Entscheidung der einzelnen Pastoren, ob sie eine Mischehe kirchlich einsegnen wollen. Wir verzichten dabei darauf von dem evangelischen Teil das Versprechen zu fordern, dass die Kinder evangelisch erzogen werden müssten, weil es uns unrecht erscheint das Gewissen eines Menschen durch ein solches Versprechen auf Jahrzehnte hinaus zu binden. Wir wissen sehr, dass wir dadurch der katholischen Kirche gegenüber in Nachteil kommen, aber wir haben bisher keinen Ausweg gefunden. “16
Die Ewe-Württemberger konnten sich aber dieser „christlichen Regel“ in einer kulturell nicht daran adaptierten Umgebung nicht stets unterordnen, 15 Ebd. 16 Weiter heißt es: „Da ein ausdrückliches Verbot unserer Gemeindeordnung vorliegt, bin ich nicht berechtigt, Ihnen die Genehmigung zu erteilen diese Ordnung allgemein aufzuheben […]. Die Bedeutung unserer Gemeindeordnung besteht ja nicht darin, dass sie ein neues Gesetz auflegen will, sondern dass sie zeigen will, wie die Ordnung in einer Christengemeinde sein sollte. Treiben Sie also Ihr Gewissen hier im Einzelfalle über die Gemeindeordnung hinaus zu gehen, so müssen Sie die Einwilligung der anderen Osɔfos [d.h. Pastoren] für Ihr Handeln zu erwirken suchen; aber bedenken Sie dabei, wie gefährlich es ist von guter Ordnung abzuweichen.“ Inspektor Schlunk an Osɔfo Baeta, Hamburg, den 23. August 1922, StAB 7,1025 24/6.
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denn sie liefen auch Gefahr, nicht nur Kirchenmitglieder zu verlieren, sondern auch in unendlich viele soziale Konflikte mit ihren Landsleuten zu geraten. Auf die erneut gestellte Anfrage vom Pastor Andreas Aku, selbst Präses der Ewe-Kirche, gab die Mission dem Wunsch der lokalen Kirchenleitung nach. Der Missionsvorstand nahm stillschweigend das Anliegen an und willigte in die Mischheirat der Ewe-Württemberger auf den Missionsstationen ein. Statt selbst auf Andreas Akus Korrespondenz zu erwidern, ließ Inspektor Martin Schlunk einen Vertreter den positiven Bescheid geben: „Um das evangelische Gewissen unserer Ewe-Gemeinde zu stärken, soll § 120 unserer Gemeinde-Ordnung zwar aufrecht erhalten bleiben, aber um der gegenwärtigen Not willen ist der geehrte Vorstand damit einverstanden, dass in besonderen Fällen davon Abstand genommen wird. Tritt ein solcher Fall ein, so hat der betreffende Osɔfo mit seinem Nachbar-Osɔfo und den Gemeindeältesten in Verbindung zu setzen, um die Sache ernstlich zu besprechen. Gelangt der Gemeindevorsteher dann zu der Überzeugung, dass es im Interesse des evangelischen Teiles ist, den Wünschen der Verlobten entgegenzukommen, so dürfen sie evangelisch getraut werden.“17
So passte sich die NMG an die lokalen Gegebenheiten des Ewe-Gebiets an. Das christlich-europäische Christentum wurde stillschweigend durch den beharrlichen Druck der Ewe-Württemberger „afrikanisiert“, d. h. seine Übersetzung berücksichtigte die lokale kulturelle Lebensweise der Ewe-Christen. In manch anderen Fällen machte die Umsetzung der Mischheirat Schule. Deutsche Missionare selbst gestanden, Frauen von Polygamisten getauft zu haben. So schreibt der Missionar Diehl: „Die Mitteilung von Pastor Robert Baeta in Lome, nach welcher mehrere Frauen eines Christen in unserer Arbeitszeit getauft worden seien, entspricht der Wahrheit. Ich selbst habe einige getauft. […] M.E. sollte eine Frau, welche 17 Weiter heißt es: „Es ist natürlich wünschenswert, dass der katholische Teil das Versprechen ablegt, dem anderen Teil in der Ausübung seines Glaubenslebens und einer evangelischen Kindererziehung keine Hindernisse zu bereiten. Wir können uns allerdings auch so nicht der Furcht verschließen, dass es der katholischen Mission gelingen wird, die Leute zu sich herüber zu ziehen. Es sollte daher immer wieder ernstlich vor einer Heirat mit einem Katholiken gewarnt werden.“ Ein Beauftragter von Inspektor Schlunk an Präses Aku, Bremen, den 7. Oktober 1922, StAB 7,1025 24/6.
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nach Landessitte rechtmäßig geheiratet wurde, nicht zwangsmäßig der Taufe wegen von ihrem Manne getrennt werden. Haben wir das Recht, einer Frau, die rechtmäßig nach Landessitte geheiratet hatte, die Taufe zu verweigern? Kann hier nicht 1. Kor. 7, 10–2418 geltend gemacht werden? – Sodann sagte ich mir, sind die Frauen bei einem Manne wie Malm in guter Obhut. Er war ein treuer Gottesdienstbesucher, hielt täglich selbst Andacht mit den Seinen, sein Lebenswandel war für Christen und Heiden vorbildlich. Wie es geworden wäre, wenn man der Frau die Taufe verweigert hätte? Wie wenn die Frau sich von Malm getrennt hätte, nachher aber der Versuchung erlegen und einen anderen Polygamisten geheiratet hätte!“19
Viele religiöse und kulturelle Gewohnheiten wurden mit den lokalen Sitten verknüpft. Die Jahreszeit, die Zählung der Tage, die Geburt, der Handel, die Begrüßungsrituale, die Familienstruktur bezüglich der Ehe, des Essens, der Kleidung, wie auch der Erziehung bestimmten die Sitten und Bräuche. Die traditionellen Sitten im Ewe-Land galten den Ewe als selbstverständlich und niemand traute sich dagegen aufzutreten. Kein Ewe, der im Ewe-Gebiet geboren wurde und aufgewachsen war, wich von dieser Regel ab. Unter diesen Umständen gerieten die Ewe-Württemberger in ein besonderes Spannungsverhältnis zu den Sitten ihrer Gesellschaft. Sie schienen am Rand der Tradition zu stehen und trafen ständig auf Widerspruch, wobei sie sich immer wieder zwischen christlich erworbenen Lebensweisen und traditionellen Gewohnheiten bewegten. Die widersprüchlichen kulturellen Anschauungen brachten die Ewe-Württemberger in ständige Spannungen mit sich selbst, mit ihren Missionsvorstehern und mit ihren Landsleuten. Sie erlebten kulturelle Interaktionen im Missionsgebiet und erwiesen sich als Akteure der kulturellen Transformation und des kulturellen Transfers im Ewe-Gebiet. Nachdem die Ewe-Württemberger sich auf ihren schnell wechselnden Arbeitsplätzen hatten bewähren müssen, fanden sie im Laufe der Tätigkeit häufig eigene Wege zur Bewältigung der Spannung. Sie machten sich sowohl von der strengen Missionsordnung als auch von den traditionellen Sitten frei. Sie traten in die Phase der Selbstbehauptung, die sie in Konflikt mit den Missionsherren und mit den Vertretern der traditionellen Kultur brachte. Während die18 1. Kor. 7, 10: „Den Ehelichen gebiete aber nicht ich, sondern der Herr, dass die Frau sich nicht scheide von dem Manne“, in: Bibel online. ULU – 1545 Unrevidierte Luther Bibel (letzter Zugriff: 14.01.2013). 19 Heinrich Diehl, Bericht vom 9. Oktober 1931, StAB 7,1025 43/5.
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ser Lebens- und Arbeitsphase vieler Ewe-Württemberger kamen das Traditionelle und das Neue zusammen. Sie reflektierten ihre Haltungen in der für sie entscheidenden Zeit, indem sie nach einer selbstständigen Kirche strebten und gleichzeitig ein „nationales“ Bewusstsein artikulierten.
Ewe-Württemberger als Träger einer hybriden Kultur in der modernen Ewe-Gesellschaft Die Ewe-Württemberger gehörten unterschiedlichen sozialen Gruppen in der Ewe-Gesellschaft an. Sie stammten aber auch aus anderen Teilen Westafrikas. Manche Ewe-Württemberger waren Nachkommen ausländischer Vorfahren sowohl aus Afrika als auch aus Europa und Amerika. Manche waren Nachkommen der von der Mission freigekauften und christianisierten Sklavenkinder und andere wiederum stammten aus den Minoritätsvolksgruppen im Ewe-Land. Das zeigt die kulturelle Vielfalt und zugleich die Komplexität der Gesellschaft des Ewe-Landes.20 Der Ewe-Württemberger Albert Wilhelm Binder scheint seinem Namen nach deutscher Abstammung zu sein. Aber er war in der Ewe-Ortschaft Peki geboren worden und hieß tatsächlich Komla-Kuma, d. h. der am Dienstag geborene „jüngere“ Sohn, obwohl er an einem Samstag geboren wurde. Er erzählte in seiner Autobiografie die Geschichte seiner Namensgebung wie folgt: „Ich bin am Samstag geboren, und nach der Sitte heiße ich Kwami, weil jeder am Samstag geborene Junge Kwami heißen muss; und wenn es um ein Mädchen geht, so muss es [Ama] heißen nach der Zählung der Tage in der AsanteKultur. Aber da der ältere Bruder meines Vaters Kwami heißt und mein Vater selber denselben Namen trägt, wird der Name meines Vaters zu Kwami-Kuma,
20 Der Name wies in der Ewe-Gesellschaft nicht nur die kulturelle Identität seines Trägers aus, sondern er bestimmte auch vielfach seine Geschichte, die mit der Zeit vor der Geburt des Kindes, mit den Umständen seiner Geburt und der Zeit nach seiner Geburt verbunden waren. Der Name vermittelte insofern den kulturellen und sozialen Hintergrund seines Trägers. Derjenige, der seinen Namen aufgab, gab auch gleichzeitig seine Identität auf. Bei den Ewe-Württembergern stellt man an ihren Namen fest, dass nicht alle von ihnen von Ewe-Herkunft waren, und dass sie andererseits aus unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft stammten.
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d. h. jüngerer Kwami verändert. Auch der erste Sohn meiner Mutter heißt Kwami, so wie der erste Sohn meiner verstorbenen Tante mütterlicherseits. Dieser lebt auch bei meiner Mutter und wird statt Kwami, Kwami-Vivie, d. h. kleiner Kwami genannt. Welchen Namen sollte ich jetzt bekommen? Obwohl ich als Kwami geboren bin, ist mein Name zu Komla-Kuma verändert [d. h. jüngerer Komla].“21
Er trug weitere Namen, je nachdem, wie er in seiner Babyzeit betrachtet wurde oder wie sein Vater ihn schätzte. Er hieß unter anderem Abotsi, d. h. „mein Freund“, erhielt den prophetischen Namen Tieonyamedie, d. h. „gehorche Gott“, von seinem Vater, der ein angesehener Anhänger der traditionellen Religion war.22 Komla-Kuma alias Albert Binder übernahm seinen deutschen Namen erst während seiner Schulzeit. In der Küstenstadt Keta besuchte er 1869–1870 die Missionsschule unter dem Namen Komla-Kuma, bis er sich langsam von dem familiären Umkreis trennte und den deutschen Namen „Binder“ annahm. Hierbei berichtet er: „An dem Tag, an dem Herr Binder und seine Familie reisen sollten, war das Meer sehr stürmisch. Dennoch mussten sie auf das Schiff kommen, weil die Zeit zur Abfahrt gekommen war. Wir Schüler trugen ihre Sachen zum Strand, und seine weißen Kollegen begleiteten ihn, wie es die ‚Osɔfos‘ gewöhnlich bei einer Rückfahrt in die Heimat zu tun pflegten […]. Sie stiegen in das Boot, aber wenn das Boot nach vorne geschoben wurde, warfen die Wellen es wieder an den Strand zurück. Dies passierte mehrmals. Wir hatten alle Angst und dachten, dass er besser nicht abreisen könnte. Aber er war ganz ruhig in dem Boot, beugte den Kopf nieder, ohne ein Wort zu sagen. Was machte er? Er betete zu seinem Gott. Langsam überwand das Boot die Welle und erreichte das Schiff. Sie stiegen an Bord. Darüber freuten wir uns alle sehr. Auf dem Rückweg fragte einer von uns, welchen von diesen Pastoren jeder am liebsten hätte. Ich, meinerseits, antwortete, dass ich Herrn Johannes Binder wegen seines Glaubens am liebsten hatte, und ich ihm nachstreben wollte. Niemand antwortete mehr auf diese Frage, sondern die meisten erwiderten auf meine Antwort wie folgt: ‚Du heißt Binder, du heißt Binder!‘ Von diesem Tag an
21 Autobiografie Pastor Binder, StAB 7,1025 30/1, S. 1. 22 Azamede, Transkulturationen, S. 157.
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machten sie sich über mich lustig und nannten mich Binder. Ich ärgerte mich nicht darüber, sondern jedes Mal erinnerte es mich an den Träger des Namens. Schließlich wurde es auch mein Name.“23
In der Kriegszeit zwischen den Anlo, der Küstenvolksgruppe, und den Ewe floh Komla-Kuma „Binder“ 1870 von Keta nach Akropong an der GoldKüste, wo er bis 1875 seine Schule bei der Basler Mission fortsetzte.24 Dort wurde er auf den Namen Albert Wilhelm getauft. Er hieß nun Albert Wilhelm Binder. Der traditionelle Name Komla-Kuma wurde langsam durch den christlich-europäischen ersetzt. Wahrscheinlich übernahm Albert Binder so schnell und so leicht einen deutschen Namen, weil er die meiste Zeit seiner Jugend außerhalb seines Heimatdorfs Peki verbracht hatte. Darüber hinaus kaschierte er vorsichtshalber in einer feindseligen Umgebung den Ewe gegenüber seinen Identitätsnamen, um Drohungen von jeglichem Kriegsfeind der Ewe vorzubeugen. Robert Domingo Baëtas Name deutet nicht auf seine Ewe-Herkunft hin. Er wurde am 7. Juli 1883 in Vodza bei Keta geboren, bei seinen Vorfahren mütterlicherseits.25 Er wurde schon im Jahr 1885 auf den Namen Robert Domingo getauft. Sein Vater John Baëta hatte die Schule in Lagos in Nigeria besucht, wo ihn die wesleyanische Mission getauft hatte.26 Robert Baëta und seine Geschwister wuchsen in einer christlichen Familie auf. Hinsichtlich seiner Taufnamen bezeichnete der Name Robert die Zugehörigkeit zum Christentum und Domingo die brasilianische Herkunft. Robert Domingo wuchs im Ewe-Land bzw. in Keta auf. Er trug keinen Ewe-Namen und seine Eltern hatten keine Verbindung mit der traditionellen Religion im Ewe-Land, das Robert Baëta später für sein „Vaterland“ hielt. Sein Schulbesuch diente bei ihm nicht dazu, wie bei manchen seiner Ewe-Schulkameraden, in Kontakt mit dem Christentum zu kommen, sondern darauf, sowohl fachliche Kenntnisse zu erhalten und den christlichen Glauben zu stärken.27 Da er sich seiner 23 Albert Binder 1929, Autobiografie, StAB 7,1025 30/1. 24 Jacob Spieth, Notizen über die nach Europa zu sendenden Ewe-Jünglinge, StAB 7,1025 29/6. 25 Seine Mutter kam aus Kedzi, einer Ortschaft in der Nähe von Vodza. Beide Küstenortschaften waren Stadtteile von Keta. 26 Thorsten Altena, „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918, Münster 2003, S. 67. 27 Azamede, Transkulturationen, S. 213.
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portugiesischen Herkunft bewusst war, versuchte er, auch bei seinen Kindern diese Identität zu bewahren. Seine Kinder trugen auch portugiesische Vornamen, etwa sein ältester Sohn Christian Goncalves Kwami. Die Familie Baëta wurde sehr früh christlich und pflegte diese Tradition. Robert Baëta war nicht nur ein treuer Christ, sondern auch ein eifriger Vertreter der Ewe-Identität. Als er Lehrer und Prediger für die NMG in Lomé war, war er neben seiner Missionstätigkeit auch politisch engagiert. Während des Besuchs des deutschen Gouverneurs Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg (1912–14) bewies er seinen Patriotismus gegenüber seinen Landsleuten und seine „Liebe zu Deutschland“. Auf Anweisung der deutschen Administration brachte er am Samstag seine Schüler, die normalerweise frei hatten, an den Strand, um den deutschen Verwaltungschef zu begrüßen. Dabei ließ Baëta die Schüler folgendes patriotisches Lied in Deutsch singen: „Ich bin ein Togoknabe, Hab meine Heimat gern, wo tags die Sonne strahlet, das Kreuz im Nachtgestirn, Die Palme in die Lüfte ragt, der Pardel durch die Wälder jagt. Ich bin ein Togoknabe usw. Hali, hale, hali, halo.“28
Robert Baetas Sozialisation in der Norddeutschen Mission sowie sein intensiver Ausbildungsaufenthalt in Deutschland brachten ihn in eine besondere Nähe zu Deutschland. Er hoffte auf die zukünftige Stärkung der politischen Beziehungen zwischen seiner „Heimat“ Togo und Deutschland: „Es ist doch wirklich erhebend, dass auch deutsche Fürsten sich so sehr für unsere Heimat interessieren, und die langen Reisen nicht scheuen, zu uns hierüber zu kommen. Gerade an dem Tage, wo der Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg hier in Lome landete, war es ein Jahr, als der Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin und der Erbgroßherzog von Mecklenburg-Strelitz hier waren. Wenn das so weitergeht, so dürfen wir uns schon der Hoffnung hingeben, dass nicht nur die äußeren, sondern auch die 28 Robert Baëta, Besuch Seiner Hoheit des Herzogs Adolf-Friedrich von Mecklenburg, Lomé, 10. August 1908, StAB 7,1025 21/1.
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inneren Verhältnisse unserer Heimat sich desto schneller entwickeln werden. Daher rufen wir heute noch: ,Die in Afrika gewesenen Hoheiten leben hoch! Und der nächste hohe Gast sei herzlich willkommen!‘“29
Robert Baeta komponierte im Ewe-Gesangbuch der Ewe-Kirche 40 Kirchenlieder, davon waren 10 mit anderen Kollegen zusammen komponiert. Unter seinen Liedern war eines besonders nationalistisch, nämlich das 19. Kirchenlied im Ewe-Gesangbuch der Ewe-Kirche, das 1915 erschien. In diesem Lied appellierte er an die kulturelle und politische Einheit der Ewe und den Segen Gottes auf „sein“ Ewe-Land: “Oo mia Mawu lɔlɔ˜ tɔ yɔ mi tso viviti me ke Be Eυe-dukɔ hã nava Dzi ha le dziƒo bena : Yubilate, yubilate ! Yubilate ! Amen Se mÍaƒe gbe, mÍeɖe kuku, Mawu fofo lɔlɔ˜ tɔ ! Yubilate, yubilate ! Yubilate, Amen!“30
In den 1920er-Jahren engagierte sich Robert Baeta in der Politik und stand sogar laut eines Briefs an den Inspektor Schlunk in der Gunst des französischen Gouverneurs Bonnecarrère. Er wurde sowohl in den Rat der Honoratioren als auch in den Justizrat aufgenommen: „[Der jetzige Gouverneur] stellt sich sehr freundlich zu uns und hat mich inzwischen in die von ihm ins Leben gerufene Räte ,Conseil des Notables‘ und ,Conseil de Justice‘ berufen. Auf dem am 6. und 7. des Monates stattgefundenen Regierungsfest in Anecho, hat er mich sogar als Zeugen seines Bestrebens,
29 Ebd. 30 Oo, unser lieber Gott / errette uns aus der tiefen Finsternis, / dass das Ewe-Volk auch / im Himmel Loblieder singt: / Jubilate, Jubilate / Amen, amen / Erhör bitte unser Gebet / Lieber Herr Gott / Jubilate, Jubilate / Jubilate, Amen (Übersetzung aus dem Ewe ins Deutsche von Kokou Azamede).
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seine Arbeit stets den Wünschen des Volkes entsprechend zu führen, genannt und vorgestellt. Aus diesem Grunde war ich auch genötigt, ein kurzes Wort über ihn zu sagen. Anbei eine Abschrift der schriftlichen Wiedergabe des Gesagten zur gefl. Kenntnisnahme.“31
Robert Stephan Kwami, ein anderer Ewe-Württemberger, der von 1894 bis 1897 in Westheim ausgebildet worden war, scheint seinem Namen nach aus einer Ewe-Familie zu stammen. Aber sein Vater Stefano Kwami war ein Sklavenkind aus dem Land Krutsch im Norden Ghanas. Er war als Sklave eines Sklavenhändlers ins Ewe-Land bzw. an die Küste gebracht worden, wo er von der Mission freigekauft und auf den Namen Stefano getauft wurde. Später übernahm er den Ewe-Namen Kwami, um sich Sebald zufolge der Ewe-Kultur anzupassen.32 Nach Sebald liegt das Zustandekommen seines Ewe-Namens daran, dass der Sklavenhändler dem „stillen“ illegalen Handel nachging, da der Sklavenhandel seit 1807 von der britischen Kolonialmacht verboten war. Somit gab der Sklavenhändler dem Jungen den neuen Vornamen Kwami, um das Risiko einer britischen Kontrolle zu vermeiden. Die Mission fühlte sich ihrerseits wahrscheinlich in ihrem „Frei“-Kauf-Motiv bestärkt, wenn sie einen Sklaven übernahm, der bereits durch den Namen Stefano christianisiert wurde.33 Somit trug sein Nachkomme Robert Stephan unter anderem den Nachnamen Kwami. Robert Kwamis Großvater Batuel und seine Großmutter Hudapia lebten in Grussi, am Oberlauf des Volta-Flusses an der Nordgrenze des heutigen Ghanas. Aufgrund der langen Missionstätigkeit der Familie Kwami in Ho und Amedzope hat sich die Familie Kwami heute teilweise in Amedzope etabliert. Robert Kwami erwies sich in seiner ganzen Lebensphase als Vertreter der Ewe-Identität einerseits und Vertreter des christlichen Glaubens andererseits. Weitere Elemente der kulturellen Übersetzung der christlichen Lebensweise durch die Ewe-Württemberger in den westafrikanischen Norddeutschen Missionsstationen waren in den neuen Vorstellungen von Musik und
31 Robert Baeta an Inspektor Schlunk, Lomé, den 15. Mai 1922, StAB 7,1025 24/6. 32 Vgl. Peter Sebald, Familie Kwami. Gestalter afrikanischer Geschichte in anderthalb Jahrhunderten, (unpubliziert) 1987, S. 2. 33 Vgl. ebd., S. 3.
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Tanz,34 von Gebeten und Wundern,35 sowie Träumen zwischen Kulturen36 zu erkennen. Christian Alipodzi Sedode und sein Bruder Theodor Martin Bebli Sedode37 waren die einzigen gebürtigen Ewe, die sicher ihre traditionellen vollständigen Namen behalten haben. Das war ihnen gelungen, nachdem sie den Missionsvorstand um eine Namensänderung gebeten hatten, damit sie beide als Brüder anerkannt wurden. Sie trugen den Namen ihres Vaters Sedode. Dieser war der Eigenname für Anhänger des Gottes „Se“ und bedeutet „Gott schickte ihn her in die Welt“.38 Alipodzi heißt nur jemand, der unterwegs oder am Rand der Straße geboren ist. Dieser Name bestimmte seine Identität, bis er an die Norddeutsche Mission verkauft wurde und die Missionare ihn auf den Namen Christian tauften. Bebli bedeutet auf Ewe „mit Mühe“, das heißt, die Mutter hat das Kind mit Mühe zur Welt gebracht oder während der Geburt des Kindes hat es Schwierigkeiten gegeben. Die Namen der Ewe-Württemberger zeigen also, dass nicht alle gebürtige Ewe waren, sondern dass einige Nachkommen von Menschen waren, die unter verschiedenen historischen Umständen ins Ewe-Land gekommen waren und sich die Kulturformen in der Ewe-Gesellschaft angeeignet hatten.
Ewe-Württemberger als elitäre Gruppe in der Ewe-Gesellschaft Nach ihrer Rückkehr aus Deutschland verpflichteten sich die Ewe-Württemberger nicht nur, ihren Landsleuten das Christentum zu verkünden. Sie hielten sich auch für Aufklärer mit dem Ziel der Einigung und Entwicklung der Ewe-Gesellschaft. Im Januar 1907 organisierten die in „Deutschland ausgebildeten Lehrer“ in Kpalime die erste Lehrerkonferenz ohne Beteiligung von Bremer Missionsvertretern. Hier gründeten die Teilnehmer – nur Ewe-Würt34 Vgl. Azamede, Transkulturationen, S. 243–246. 35 Kokou Azamede, Gebete und Wunder als transkulturelle Vorstellungen im Gebiet der Norddeutschen Mission in Westafrika 1847–1939, in: Ulrich van der Heyden/ Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 41–54. 36 Azamede, Transkulturationen, S. 237–241. 37 Sie wurden 1892–1896 in Westheim ausgebildet, vgl. ebd., S.53–68. 38 Diedrich Westermann, Wörterbuch der Ewe-Sprache, Berlin 1954, S. 592.
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temberger – den ersten Lehrerverein. Laut dem Bericht des gewählten Vorsitzenden der Lehrervereins Andreas Aku zielte die Konferenz grundsätzlich darauf, eine „wirkliche Einigkeit“ zwischen Ewe-Württembergern zu schaffen. Sie bezeichneten sich selbst als „Christi Nachfolger und Diener“. Diese Einigkeit war ihnen wichtig, wussten sie doch, dass ihre unterschiedliche Abstammung durch das Christentum überwunden werden sollte. So ermahnt Andreas Aku seine Kollegen: „Die wir alle uns hier zusammengefunden haben, sind aus verschiedenen Stämmen. Nun hat die Gnade Gottes uns durch den Glauben in Christo Jesu eins gemacht. Der Herr hat uns erwählet und gerufen zu einem gemeinschaftlichen Amt und uns zu Evangelisten, Lehrern und Hirten gesetzt. Und da wir Christi Nachfolger und Diener sind, muss auch eine wirkliche Einigkeit zwischen uns sein […]. Und diese Einigkeit muss nicht nur geistlich, sondern auch äußerlich sein und sich durch Tat beweisen. Eine wirkliche äußerliche Einigkeit zwischen uns allen kann nur durch Rundbrief und Zusammenkunft erhalten werden.“39
Auf der Konferenz wurden verschiedene Themen unter den Ewe-Württembergern debattiert. Im Mittelpunkt standen dabei die kulturellen Widersprüche und Schwierigkeiten, die bei der Durchsetzung der von der Mission erstellten evangelischen Gemeindeordnung aufgetreten waren. Genau um diese Probleme zu besprechen, war schließlich der Lehrerverein ins Leben gerufen werden. Der Verein sollte besonders den in Deutschland ausgebildeten Lehrern eine regelmäßige „Zusammenkunft“ erleichtern, die „zwischen uns nähere Bekanntschaft und Einigkeit bringen könnte und wir könnten voneinander Kenntnisse, Rat und Stärkung für unsere gemeinschaftliche Lehrerarbeit erhalten.“40 Nach der Gründung des Vereins fassten die Konferenzteilnehmer zehn Beschlüsse. So wurde entschieden, dass die Zusammenkunft alle zwei Jahre stattfinden sollte, und dass der Verein nach und nach ein allgemeiner Verein für die ganze Lehrerschaft werden sollte. Der Vorstand des Lehrervereins bestand aus Andreas Aku (Vorsitzender), Samuel Quist41 (stellvertretender Vorsitzender), Theodor Bebli Sedode (Kassier), Robert Kwami und Robert 39 Andreas Aku, an den Missionsvorstand, Bericht über die [erste] Konferenz der in Deutschland ausgebildeten Lehrer, Lomé, den 10. Mai 1907, StAB 7,1025 19/1. 40 Ebd. 41 Auch er wurde 1890–1894 in Westheim ausgebildet, vgl. Azamede, Transkulturationen, S. 200–212.
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Baeta (Schriftführer). Darüber hinaus vermerkte der Bericht, dass die Konferenz „natürlich in der Landessprache (Ewe) gehalten und von dem Unterzeichneten ins Deutsch übertragen wurde.“42 Die zweite Konferenz der EweWürttemberger fand wie geplant vom 21. bis 22. Juli 1909 in Kpalime statt und schlug für die dritte Konferenz elf neue Teilnehmer vor, von denen neun Lehrer, Pastoren und Katechisten niemals in Deutschland gewesen waren.43 Eine dritte Konferenz fand niemals statt, weil der Missionsvorstand wahrscheinlich fürchtete, dass der Einfluss des Lehrervereins ein größeres Ausmaß annehmen würde, sodass er keine Kontrolle mehr über seine Beschlüsse hatte. Auf mehrmalige Bitten von Andreas Aku um Erlaubnis für eine dritte Zusammenkunft des Vereins reagierte der Missionsvorstand nicht. Akus Planung einer dritten Konferenz im Januar 1914, im Fall, dass der Missionsvorstand sein Einverständnis gab, sah folgendermaßen aus: „Heute möchte ich Ihnen nur die Bitte vorlegen, ob wir unsere Konferenz wieder halten dürfen. Wie Sie wissen haben wir […] mit Ihrer Genehmigung eingeführt, alle zwei Jahre unter uns eine Konferenz zu halten. Zweimal haben wir schon eine solche Konferenz gehalten, aber seit drei Jahren kamen wir nicht mehr zusammen. Nun haben wir vorgenommen, ‚so Gott will‘ im Januar 1914 eine solche Zusammenkunft wieder zu halten, und zwar diesmal von jedem Bezirk 2 oder 3 andere Kollegen auch einzuladen[…]. Bitte sehr, wollen Sie so gut sein mir zu schreiben, ob es geht oder nicht, damit ich meinen Kollegen rechtzeitig Bescheid geben kann!“44
Der Erste Weltkrieg setzte dieser lokalen selbstständigen Initiative der EweWürttemberger ein Ende. Auf den vergangenen Initiativen des Lehrervereins fußend und aufgrund der Tatsache, dass die deutsche Kolonialverwaltung das Schutzgebiet Togo nach dem Weltkrieg verlor und dass sowohl die deutschen Kolonialbeamten als auch die Missionare der NMG demzufolge von den britischen und französischen Kolonialmächten ausgewiesen worden waren, traf dieselbe Gruppe der Ewe-Württemberger die neue Initiative, eine selbststän42 Andreas Aku, an den Missionsvorstand, Bericht über die [erste] Konferenz der in Deutschland ausgebildeten Lehrer, Lomé, den 10. Mai 1907, StAB 7,1025 19/1. 43 Andreas Aku, Bericht über die zweite Konferenz der in Deutschland ausgebildeten Lehrer in Kpalime, 21. bis 22. Juli 1909, (Zusammengestellt und ins Deutsch übertragen von A. Aku, Lomé), StAB 7,1025 19/1. 44 Andreas Aku an Direktor Schreiber, Lomé, den 26. August 1913, StAB 7,1025 22/1.
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dige Ewe-Kirche unter der Leitung der einheimischen Pastoren zu gründen. Sie beriefen 1922 eine Synode in Kpalime ein, an der 166 Teilnehmer aus allen sozialen Schichten der Ewe-Gesellschaft teilnahmen. Missionsinspektor Martin Schlunk berichtet über das eindrucksvolle Ereignis wie folgt: „Die Synode in Kpalime, von allen Pastoren und Katechisten, vielen Ältesten und Abgeordneten, im ganzen von 166 amtlichen Teilnehmern besucht, war eine machtvolle Kundgebung der Einheit der Ewekirche und ihres Willens, treu an der deutschen Art und der deutschen Mutterkirche festzuhalten, dazu ein Beweis der Selbständigkeit und Tatkraft von beschämender Größe und Deutlichkeit, in Aufbau und Durchführung eine Glanzleistung, im Ganzen ein Markstein in der Geschichte unserer Arbeit.“45
Die Ewe-Württemberger beschrieben bei der Synode die schwierige Lage der Ewe-Kirche seit dem Weggang der Missionare. Sie bemerkten, dass die Einheit der Ewe-Kirche seit Anfang 1918 nach der endgültigen Teilung des Deutsch-Togos durch die französischen und britischen Kolonialmächte sehr beeinträchtigt worden sei. Zur Beseitigung dieses Missstands beriefen sie eine Synode sämtlicher Ewe-Gemeinden, in der Hoffnung, „die Einheit der EweKirche so weit wie möglich zu erneuern und zu befestigen“. Die Synode fand vom 18. bis 22. Mai in Kpalime statt und fasste 10 wichtige Beschlüsse. Der erste Beschluss lautete: „die Ewe-Kirche will und muss eins bleiben“.46 Auf diese Art prägten die Ewe-Württemberger die kulturelle und religiöse Dynamik der Ewe-Gesellschaft und beeinflussten mithilfe ihrer in Deutschland erworbenen Kenntnisse das soziale Leben im Ewe-Land.
Schluss Die Veränderungen auf den Missionsstationen der Norddeutschen Mission resultierten zum großen Teil aus dem transkulturellen Leben der einzelnen Ewe-Württemberger. Das Missionsgebiet der NMG unter verschiedenen Volksgruppen an der westafrikanischen Küste wurde zur Kontaktzone, in der 45 Missionsinspektor D. Martin Schlunk, Jahresbericht der NMG für das Jahr 1922, Monats-Blatt der NMG. Bremen, Juli/August 1923, S. 33. Siehe auch StAB 7,1025 30/2. 46 Präses Aku und Osɔfo Baeta an Missionsinspektor M. Schlunk, Lome, den 16. Juni 1922, StAB 7,1025 24/6.
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sich die Identität der Ewe-Christen nach der Begegnung mit dem Christentum neu konstituierte. Diese religiöse und kulturelle Transformation der EweGesellschaft ist auf die Ewe-Württemberger zurückzuführen, mit deren Hilfe sie politisch und ideologisch beeinflusst wurde und faktisch von der Mission „Ewe-Land“ genannt wurde. Damit stoppte aber die kulturelle Dynamik nicht, vielmehr zeigte sich, dass damit nur eine von vielen Phasen der kulturellen Hybridität eingeläutet wurde. Die Geschichte der Ewe-Gesellschaft, verbunden mit der Missionstätigkeit im Ewe-Land, wurde maßgeblich von transkulturellen Lebensprozessen einzelner Ewe-Württemberger mitbestimmt, die jeder in seiner Weise auf die ganze Gesellschaft gewirkt haben.
Über das Gesehene und das Erlebte berichten Heinrich Norden als Träger des Wissens- und Kulturtransfers zwischen dem kamerunischen Küstenhinterland und Deutschland Albert Gouaffo
Heinrich Norden alias Nikolaus Heinrich Wöll aus Hessen zählt zu den Missionaren, die sich während der deutschen Kolonialzeit in Afrika erfolgreich literarisch betätigt haben. Er wirkte als Missionar und Arzt der evangelischen Missionsgesellschaft zu Basel vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Deido (1906–1911) und später in Nyassoso (1926–1928). Als Träger des Wissensund Kulturtransfers hatte es sich der Basler Missionar zur Aufgabe gemacht, in dem Kontaktraum Kamerun die Rolle des Wissens- und Kulturvermittlers zu spielen. Er informierte und belehrte nicht nur die deutsche Leserschaft wie ein Journalist über die Flora und die Fauna des Küstenhinterlandes von Kamerun, sondern er berichtete über und dokumentierte ausführlich die Erfolge seiner Missionstätigkeit bei den kamerunischen Einheimischen. Indem er dies tat, verband er Welten. Er fungierte auch als Bewusstseinsaufklärer vor allem beim deutschen christlichen Publikum, welches das importierte Wissen aus dem bisher bei Deutschen relativ unbekannten Regenwald für bare Münze nahm, weil es Wissen aus erster Hand war. In Anlehnung an die Transfertheorie, wie sie von Michel Espagne und Michael Werner formuliert wurde, analysiert mein Beitrag eine der erfolgreichsten Erzählungen1 des Autors Heinrich Norden. Ich konzentriere mich (1) auf die Akteure des Kultur- und Wissenstransfers, die er im Text inszeniert, und deren Modi der Wissensselektion, (2) deren Formen der Bearbeitung des selektierten Wissens sowie (3) die Vermittlung an die eigenen
1 Aus den mehr als einem Dutzend publizierten Schriften des Autors ist die erwähnte Erzählung diejenige, die über die Kolonialzeit hinaus bis in den Zweiten Weltkrieg hinein zehn Auflagen erlebt hat. Vgl. Albert Gouaffo, Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext. Das Beispiel Kamerun – Deutschland, (1884–1919), Würzburg 2007, S. 29.
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Landsleute zu Hause als unmittelbare textualisierte Rezipienten. Die Erfolgserzählung ist Der Neffe des Zauberers von 1913.
Kulturtransfertheorie und Literatur: Versuch einer Adaptation für die Interpretation literarischer Texte Die Kulturtransfertheorie entstand in den 1980er-Jahren des letzten Jahrhunderts in der französischen Germanistik. Der Franzose Michel Espagne und der Deutsche Michael Werner fragten nach dem Ursprung bestimmter deutscher Archiv- und Bibliotheksbestände in Frankreich. Die Theorie geht davon aus, dass Kulturen sich genauso wie die Technologie und das Kapital in Zeit und Raum bewegen. Die Theorie untersucht die Bewegung von Personen, von Völkern, Objekten, Ideen oder Konzepten zwischen zwei oder mehreren Kulturräumen (Staaten, Nationen, ethnischen Gruppen, Sprachräumen) und hinterfragt die Logik der Interaktionen, durch die die Transfers zustande kommen. Die Kulturtransfertheorie zielt nicht darauf ab, nach Einflüssen zu suchen, d. h. herauszustellen, welche Kultur die andere dominiert bzw. beeinflusst hat, wie dies die klassische Imagologie seit Jean-Marie Carré2 gemacht hat, sondern sie analysiert die Bewegung kultureller Artefakte von einer Herkunftskultur A zu einer Aufnahme- bzw. Zielkultur B. Objekte einer solchen Untersuchung sind Nachrichtenmedien (Printmedien und audiovisuelle Medien), visuelle Medien (Kunstausstellung, Völkerschauen, Weltausstellungen), aber auch Personen als Kulturträger und -vermittler (Übersetzer, Vortragende, Reisende, Verleger). Die Kulturtransfertheorie fragt nach Interaktionsformen zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmekultur und konzentriert sich vor allem auf die Aneignungsformen des transferierten Kulturguts in der Aufnahmekultur. Hier erleben die importierten Kulturgüter eine tiefgreifende Transformation, die vom Erwartungshorizont der Rezeptionskultur diktiert wird. Dieser Erwartungshorizont der Rezipienten beeinflusst den Vermittler oder die Vermittlerin bei der Wahrnehmung der fremden Kultur. Die spezifischen Bedürfnisse dieser Aufnahmekultur präfigurieren also die Selektionsmuster der fremden Kultur. Fremdkulturelle Elemente, die diesem Erwartungshorizont der Aufnahmekultur nicht entsprechen, werden solange verdrängt, bis sich eine günstige Konjunktur für ihre Aufnahme in 2 Vgl. Jean-Marie Carré, Les écrivains Français et le mirage allemand 1800–1940, Paris 1947.
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der Gastkultur bietet. In dieser Hinsicht wird die nationale Kultur nicht mehr als eine homogene, sondern als eine heterogene Einheit aufgefasst, denn jede Kultur lernt von der anderen. Das Fremde und das Eigene bedingen sich und sind keine autonomen Einheiten.3 Die Kulturtransfertheorie operiert prozessartig auf drei Ebenen: (1) auf der Ebene der Wissensproduktion bzw. -selektion aus der Fremde, (2) auf der Ebene der Wissensvermittlung, (3) auf der Ebene der Wissensrezeption bzw. Aneignung in der Gastkultur. Auch wenn die Kulturtransfertheorie von Anfang an philosophisch und mentalitätsgeschichtlich, also transdisziplinär, orientiert war und sich nicht auf literarische Textkorpora begrenzen ließ, kann sie durchaus allein für die Analyse literarischer Texte verwendet werden. Die drei prozessartigen Ebenen, d. h. die Ebene der Wissensproduktion, -vermittlung und -rezeption, werden als geschlossene Kette im Literarischen semantisiert. Die Literatur als „vertextete“ Gesellschaft4 beinhaltet die drei Ebenen des Transfers, die vom Autor kodiert und vom Erzähler in der Narration realisiert werden. Mithilfe von sprachlichen Zeichen generiert und inszeniert der literarische Text als Printmedium eine Kultur, die von einem Erzähler-Mittler den impliziten Lesern als Rezipienten vermittelt wird. Diese impliziten Leser haben einen Erwartungshorizont, den der Erzähler-Mittler berücksichtigen sollte, damit die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der erzählten Kultur und denen der rezipierten Kultur stattfindet. Kolonialtexte sind solche Texte par excellence, in denen sich Interkulturalität als Transferprozess abspielt. Kolonialliteratur und besonders die Missionsliteratur transferieren, indem sie über das Erlebte berichten, die fremde Kultur an die eigene Leserschaft zu Hause in der Heimat. Der Kultur- und Wissensvermittler in diesem Kontext ist der Erzähler, der zwischen zwei Erfah3 Michel Espagne/Michael Werner, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999, S. 1–33 ; vgl. auch Béatrice Joyeux-Prunel, „Les transferts culturels“. Un discours de la méthode, in: Hypothèses 1 (2002), S. 149–162. 4 „Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die – über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus – auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind. Solche Ausdrucksformen sind höchst aufschlussreich, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren. Ziel ist es, im Horizont der Metapher von Kultur als Text Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft zu gewinnen“. Doris Bachmann-Medick, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1996, S. 7–64, hier S. 10.
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rungshorizonten bzw. Verhaltensweisen pendelt: dem der eigenen deutschen Kultur und dem Erfahrungshorizont, der während des längeren Aufenthalts in der Fremde gewonnen wird. Für seine Leser selektiert er in der Fremde Wissen, das er als erster Interpret bzw. als Übersetzer fremder Lebenswelten5 in verständlichen Begriffen für seine unmittelbaren Leser über-setzt. Es bleibt bei ihm unbewusst ein kontrapunktischer Erfahrungshorizont bestehen, der seiner zu starken Orientierung an den Rezipienten gegensteuert und eine adäquate Darstellung der Fremde begünstigt. Je mehr der Vermittler mit der fremden Kultur vertraut ist, desto mehr optimiert sich seine Kompetenz zur Dekodierung der fremden Kultur. Zwischen diesen beiden Polen oszilliert der Akteur des Wissens- und Kulturtransfers in der Erzählung von Heinrich Nordens Der Neffe des Zauberers.
Der auktoriale Erzähler als Akteur des Wissens- und Kulturtransfers: Christentum, Zivilisation und bürgerliche Ordnung als Wahrnehmungsfilter der kamerunischen Fremde Vorab wird die Erzählung präsentiert. Es ist die Lebensgeschichte des Protagonisten Nsia, eines zwölfjährigen Knaben aus dem Küstenhinterland Kameruns. Nsia hat seinen Vater bei einer „Giftprobe“6 verloren. Dieser ist beschuldigt worden, die Seele eines Kindes „gegessen“ zu haben. Seine Frau stirbt bald vor Kummer, aber vor ihrem Tod hat sie Missionare kennen gelernt und ihrem Sohn Nsia geraten, zur Mission zu gehen. Sein Onkel Ekoki, angese5 Übersetzung bedeutet mehr als nur die Übertragung aus einer Sprache in eine andere. Doris Bachmann-Medick meint, dass – und ich stimme mit ihr überein – Übersetzung auch als anthropologische Vermittlung von Wissen über fremde Kulturen verstanden werden kann. Sie besteht nicht in der Abbildung kultureller Authentizität, sondern sie ist eher ein Konstrukt, das auf der jeweiligen Darstellungsautorität gründet, auf den damit verbundenen Konventionen der Darstellung, sowie auf dem Einsatz rhetorischer Erzählstrategien. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Einleitung. Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, in: dies. (Hg.), Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Berlin 1997, S. 1–18, hier S. 6. 6 In Afrika wird der Tod nicht als etwas Normales angesehen. Der Tod hat immer eine Ursache. Einer der Wege zur Ermittlung der Mordursache ist das Ritual der Giftprobe. Derjenige oder diejenige, der/die diese nicht übersteht, ist der Mörder des Verstorbenen.
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hener Bürger und Medizinmann im Dorf, aber kinderlos, will ihn nach Landessitte zum Nachfolger machen. Hier prallen die beiden Welten aufeinander: die Welt der Christen auf der einen und die der „Heiden“ auf der anderen Seite. Am Ende der Konfrontation gewinnt das Christentum, bei dem Nsia Unterstützung findet, und dank dieser Unterstützung rettet er seinen Bruder Ekanjie, der als Sklave verkauft worden war, und seine Schwester Elela, die mit einem älteren Polygamisten zwangsverheiratet werden sollte. Alle drei Waisenkinder bekennen sich schließlich zum Christentum.7 Hinter dieser Kulisse gestaltet der auktoriale Erzähler einen Wissensund Kulturtransfer aus dem kamerunischen Küstenhinterland für eine deutsche Leserschaft als seine unmittelbaren Rezipienten. Der eigene Habitus der impliziten Leser steht im Mittelpunkt der Wissens- und Kulturselektion. Wie in einer Werbekommunikation nimmt der Erzähler und Mittler des Transfers die Bedürfnisse seiner Leser hinsichtlich der fremden Kultur vorweg, die er als lückenhaft auffasst und durch Kulturwissen zu schließen versucht. Dieser Erzähler schließt somit mit seinem Leser einen Pakt, indem er sich als Wissensproduzent selbst bildet und den Leser als Wissenskonsumenten ansetzt. Der Vertrag zwischen den beiden beruht auf Vertrauen. Der Erzähler-Berater informiert seinen ignoranten Leser, der eigene Erlebnisse in der Fremde nicht machen kann und zwingt ihm dabei seine eigenen Erlebnisse auf.8 Nach diesem Schema läuft der Kulturtransfer in der Erzählung Der Neffe des Zauberers ab. Alles fängt beim Titel an. Der implizite Leser könnte sich fragen, was ein Zauberer ist und was mit seinem Neffen sein kann. Hier ist der Leser mitten im Fahrwasser des europäischen Kolonialdiskurses, wonach Christentum, Zivilisation und bürgerliche Ordnung für die Beteiligten, d. h. Erzähler und Leser, synonym sind. Der Wissens- und Kulturtransfer konzentriert sich in dieser Hinsicht auf die Dokumentation des erlebten Heidentums in der Fremde, das sich durch Aspekte wie Polygamie – Ekoki hat drei Frauen in ‚sklavischer’ Abhängigkeit (S. 42) –, Heidentum und Aberglaube, Fetischismus und Zauberei deklinieren lässt. Im Kontrast dieser Wahrnehmung kristallisiert sich die eigene Kultur des Vermittlers wie Monogamie und Freiheit der Frau, Christentum als universale und einzig wahre Religion, europäische 7 Vgl. Heinrich Norden, Der Neffe des Zauberers. Eine Erzählung aus Kamerun, Basel 1913. Die Quellenangaben erfolgen mit der Seitenangabe im Zitat selbst. Hervorhebungen durch Unterstreichungen sind von mir vorgenommen worden. 8 Jean-Benoît Tsofack, Enonciation polémique et scénographies dans la publicité au Cameroun. Quels enjeux pour la langue française?, in: Le français en Afrique, Revue des observatoires du français en Afrique 21 (2006), S. 351–368, hier S. 354–356.
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Schule und Medizin als Alternative zu Aberglauben und Zauberei heraus. Der Kultur- und Wissenstransfer entpuppt sich als Projektion eigener Wünsche auf die Fremde oder als Dokumentation der eigenen Erfolgsgeschichte der Missionarsarbeit in der Fremde, die sich an der Zahl der gegründeten Missionsstationen, der Zahl der Missionsschüler und der getauften Einheimischen bemessen lässt.9 Die narrativen und argumentativen Strategien sind sehr gut angelegt. Während die Figur Nsia durch die Verleumdung seiner Kultur hochgeschätzt wird, wird sein Onkel Ekoki durch Verunglimpfungen des europäischen auktorialen Erzählers lächerlich gemacht: „Welcher Sorte von Leuten aber sein Oheim angehörte, darüber sollte der Knabe nicht lange im Unklaren bleiben. Nachdem er mit Ekoki dessen Gehöft erreicht hatte, erschrak er nicht wenig, als er im Hofraum sowie an den Hütten allerlei Gegenstände erblickte, die darauf schließen ließen, daß sein Oheim ein Zauberer sein müsse. Durch diese Wahrnehmung wurde seine Abneigung gegen ihn noch größer und es schauderte ihn, wenn er dran dachte, daß er von nun an mit dem unheimlichen Manne unter einem Dache wohnen und aus einer Schüssel essen müsse, ja daß er als sein Neffe später sein finsteres Gewerbe treiben müsse. Er wußte nur zu gut, welch eine Schreckensherrschaft solch ein Zauberer über seine Mitmenschen ausübte, wie er das ganze öffentliche Leben beherrschte und von jedermann mit Recht gefürchtet wurde“ (S. 31–32, m. Herv., A.G.).
Die auf Konfrontation basierende Haltung des kamerunischen Knaben gegenüber dem Bruder seiner Mutter ist charakteristisch für seine volle Akkulturation. Nsia wohnt in Kamerun, aber er ist geistig völlig de-lokalisiert. Er denkt in europäischen Kategorien und wird somit zum kulturellen Überläufer. Er schreckt nicht nur vor „allerlei Gegenständen“ zurück, die er im Gehöft seines Onkels erblickt, sondern er münzt diese jetzt fremd gewordenen Beobachtungen in Praxisformen wie „Schreckensherrschaft“ um. Mehr noch: Er verhält sich, als ob das „finstere Gewerbe“ seines Onkels durch Essen in einer gemeinsamen Schüssel übertragbar wäre. Die Autorität des 9 Der französische Philosoph und Historiker Laburthe-Tolra beschreibt ausführlich diese Erfolgsgeschichte der Mission am Beispiel der Nachfolgemission der deutschen Pallottiner, nämlich der „Congrégation du Saint Esprit“ im Jahre 1916 bei den Beti in Süd-Kamerun. Vgl. Philippe Laburthe-Tolra, Vers la Lumière? Ou le Désir D’Ariel. A propos des Beti du Cameroun. Sociologie d’une conversion, Paris 1999, S. 18–20.
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Onkels Ekoki als angesehener Medizinmann wird auf diese Weise zerstört, er wird zum Schreckgespenst seiner Umwelt. Der Erzähler suggeriert, dass die Dorfjugend hinter dem jungen Nsia die aufgebrochene Umwälzung im Urwald symbolisieren würde, denn diese Gesellschaftsschicht sei von der Sache Gottes überzeugt und mache bei der Evangelisierungsarbeit aktiv mit. Nsia erfüllt somit den Wunsch seiner Mutter, die unter der traditionellen Ordnung als Frau nur gelitten hat. Jetzt ist die erwünschte christliche Lebensordnung da. Das ganze Dorf spricht davon, auch die älteren Leute: „Nsia, der wie gewöhnlich still in einer Ecke hockte, hatte schweigend zugehört. Am liebsten hätte er von Anfang an gegen die unwahren Behauptungen und Übertreibungen der Erzähler protestiert. Jedoch die Scheu vor den zum Teil ergrauten Häuptern schloß ihm den Mund. Als aber behauptet wurde, die „Gottesmänner“ seien ganz gefährliche Menschen, vor denen man sich nicht genug in Acht nehmen könne, weil sie starke Zaubermittel besäßen und schon viele Seelen der Menschen gegessen (verzaubert) und manche Knaben weggefangen hätten. Er mußte die Leute eines Besseren belehren. Daß er selber ein Freund und Anhänger der neuen Lehre sei und die Schule der Gottesmänner besucht habe, war ihnen nicht bekannt, denn er hatte dies bisher noch keinem Menschen verraten, da er nicht wusste, wie es die abergläubischen Talbewohner auffassen würden. Diesmal aber konnte er nicht schweigen“ (S. 139–140, hier wie im Folgenden m. Herv., A.G.).
Wissens- und Kulturtransfer fungiert hier als Antizipation des christlichen Lesergeschmacks. Dieser Leser wird darüber informiert, was im kamerunischen Küstenhinterland abläuft. Die Information ist umso befriedigender, als es die Kameruner selbst sind, die sich als Multiplikatoren für die Gottessache einsetzen. Nsia als Zögling der neuen Lehre missachtet als erst zwölfjähriger Junge bewusst den Respekt vor dem Alter in seiner Gesellschaft und fällt den „ergrauten Häuptern“ ins Wort. Er erlaubt sich sogar, sie zu „belehren“, was in der Norm dieser Gesellschaft quasi unvorstellbar ist. Die einheimische kritische Wahrnehmung der christlichen Religion wird unterminiert. Dass deutsche „Gottesmänner“ auch wie der gefürchtete Ekoki „starke Zaubermittel“ besäßen, dass sie auch mit ihrer Medizin nicht immer erfolgreich sind und die Leute sterben lassen (die Seele der Kranken essen), wird negiert, und das gerade von einem einheimischen Zögling.
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Die Erzählung von Heinrich Norden ist aber um einiges vielschichtiger und lässt noch andere Perspektiven der Fremddarstellung zu.
Wissens- und Kulturtransfer jenseits des Normalitätsdiskurses bzw. des kolonialen Missionsdiskurses Jenseits des christlichen Duktus wird der auktoriale Erzähler zum Geografen und Kenner des Urwaldes, zum Ornithologen, sogar zum Ethnografen, der seine Umwelt bei näherer Beobachtung kennt und dies niederschreibt. Mit Buchstaben malt er Landschaften, schildert er Sitten und Gebräuche, topografiert und kartografiert Landkarten. Die erlebte und beobachtete Realität wird zur Fiktion und umgekehrt.
Der Erzähler als Geograf und Kartograf In der Erzählung Der Neffe des Zauberers mischen sich Fiktion und Realität. Die Darstellung der Landschaft operiert mit Authentizitätsmerkmalen, die in der Tat rekonstruierbar sind. Es geht um die Flora und die Fauna des Küstenhinterlandes von Kamerun, wo sich das Dorf des Protagonisten und Miterzählers Nsia befindet. In dieser Umwelt findet der entdeckungsreisende Erzähler nicht nur tropische Pflanzen wie Palmen und Bananen, sondern auch hohe Bäume des Regenwaldes. Geografisches Wissen aus dem kamerunischen Küstenhinterland wird kartografiert und für die Leser kontextualisiert: „Es war in den Tagen, da seit kurzem die Deutschlandflagge am Kamerunstrand flatterte und die deutschen Kanonen an der Mündung des Wuri-Flusses eine neue Zeit für Kamerun und seine schwarzen Bewohner ankündigten. Drinnen im Urwald lag auf einer Anhöhe, beschattet von Palmen und Bananen, ein Dörfchen, friedlich und lauschig. Seine niedrigen Hütten sind aus Palmrippen und deren Blättern erstellt und ziehen sich in langen Zeilen zu beiden Seiten der Dorfstraße entlang. Ihre Bewohner sind rings umgeben von der Fülle der tropischen Natur, die ihre reichen Schätze selbst den Trägen und Sorglosen in den Schoß schüttet“ (S. 5).
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Die Präzision, mit der der Erzähler den Raum der Geschichte, das Dorf des Knaben Nsia, wiedergibt, ist eindrucksvoll. Er gibt die zeitlichen („seit kurzem“) und räumlichen („drinnen im Urwald“) Koordinaten seines gezeichneten Küstenhinterlandes an. Die mentale Karte ist reich an geografischem Wissen. Es befindet sich auf dieser Karte der Anbau von Palmen und Bananen. Wie von Wolfgang Iser beschrieben, wird hier literarische Anthropologie betrieben. Im Akt des Fingierens lassen sich die drei Dimensionen feststellen, welche den anthropologischen Aufschlusswert der Literatur dokumentieren, nämlich das Reale, das Fiktive und das Imaginäre.10 Der Erzähler gibt eine ausgewogene Dosierung aus der realen Beobachtung, aus seiner eigenen Fantasie und konstruiert damit eine Welt der Sinne und Gefühle, die zugleich Fiktion und Realität ist. Die niedrigen Hütten auf dieser Karte sind aus Palmrippen geflochten, und das Ganze ergibt einen „friedlichen“ und „lauschigen“ Eindruck für den Betrachter. Beim Leser wird nicht die Abneigung suggeriert, wie dies der Fall bei der Darstellung des Heidentums war, sondern Neugier und Neid, weil dieses Küstenhinterland durch die Fülle seiner tropischen Natur seine reichen Schätze den „Trägen und Sorglosen in den Schoß schüttet“. Welcher Leser wünscht sich nicht, in einem solchen Paradies zu leben? Es geht hier um ein ökologisches Wissen, das der Historiker Albert Wirz als moralische Ökologie des Kolonisierenden bezeichnet hat. Es geht in den Beschreibungen nicht nur um die Darstellung des äußeren Waldes, wie er ist, sondern um die Mischung des äußeren mit dem inneren Wald. Dieser innere Wald ist die Summe der sozialen Konstruktionen des tropischen Waldes in der Herkunftsgesellschaft des Reisenden, die bei seiner Landschaftswahrnehmung mitwirkt.11 Die Fauna ist reich an tropischen Tieren wie Elefanten, Werbervögeln (S. 6), Graupapageien und Affen. Der Erzähler berichtet von diesen Erlebnissen bei der Kanufahrt ins Dorf des Zauberers Ekoki auf einer Wasserstraße: 10 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 19–20. 11 „Koloniale Waldschilderungen zeichnen ein Bild von dem, was die Zeitgenossen sahen. Sie geben Einblick in das, was sie taten, und das was sie dachten. Interessant sind sie jedoch vor allem auch deshalb, weil sie Zeugnis ablegen von der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Natur und Kultur, wie sie in jeder Gesellschaft geführt wird. Sie sind folglich immer auch Kommentare zur eigenen Gesellschaft und ihren Werten.“ Albert Wirz, Innerer und äußerer Wald. Zur moralischen Ökologie der Kolonisierenden, in: Michael Flitner (Hg.), Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik, Frankfurt a. M./New York, S. 23–48, hier S. 24.
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„Ab und zu erweiterte sich das Flüsschen, so dass das Auge etliche Kilometer weit einen freien Ausblick halten und zugleich eine bessere Übersicht über die beiden Uferstrände gewinnen konnte. An manchen Stellen sah man den Urwald unterbrochen von kleinen Ortschaften und einzelnen Gehöften mit wohlgepflegten Feldern. Buntgefiederte Vögel, besonders Scharen von grauen rotgeschwänzten Papageien, erhoben sich da und dort aus ihrem Versteck und flogen kreischend davon. Große Herden von kleinen Affen ergriffen mit großer Behendigkeit die Flucht, wenn der Ruderschlag sie aufschreckte und das Kanu in ihrem Gesichtskreis auftauchte“ (S. 17).
Naturfaktoren wie Berge (der Fako, S. 105, der Manengouba-Berg, S. 109, der Nlonako und Kupe-Berg, S. 110), Wasserfälle (Wasserfall von Ekom, S. 117), Kraterseen (am Manenguba-Gebirge, S. 109), Ebenen (die MboEbene, S. 146, 157) und Flüsse (der Wouri, der Nkam-Fluß, S. 157), die sich im bereisten Küstenhinterland befinden, fehlen nicht in der Erzählung. Diese Naturphänomene werden mit höchster Präzision dem Leser vermittelt. Zwei Beispiele der Naturbeschreibung möchte ich hier anführen: „Gewaltig ist der Rundblick. Da schimmert im fernen Südwesten das endlose Gewässer des Atlantischen Ozeans; zwei gewaltige pyramidenartige Bergkolosse ragen aus ihm empor: der Kamerunberg und der Clarence-Pik auf der Insel Fernando Po. Im Süden erheben sich die starren Nkosiberge mit dem Kupe und dem weißen Berg. Fern im Süden zieht sich die lange Kette der Basaberge dahin, wogegen in nächster Nähe jenseits des Tales, sich das Nlonako-Gebirge erhebt. Und zwischen den Bergzügen breiten sich weithin die dunkeln Urwälder aus mit ihren Hügeln und Tälern. Gegen Norden zu aber erblickt man die weiten Grassteppen im leuchtenden Grün. Wahrlich, ein entzückendes Panorama im tropischen Afrika!“ (S. 110).
Geografie und Topografie mischen sich. Der Erzähler signalisiert, dass er sich auf der Spitze eines Berges befindet, von wo aus er einen Überblick hat. Dies zeigt sich durch die Vogelperspektive, die er in der Narration einnimmt. Die Tatsache, dass er von dieser einzelnen Beobachtung einer Region von Kamerun ein „entzückendes Panorama im tropischen Afrika“ sieht, ist hier Ausdruck einer misslungenen Metonymie, denn Afrika ist in der Tat kein Land, sondern ein Kontinent, der von verschiedenen Vegetationszonen durchzogen ist. Er füttert seine Leser insofern mit approximativem Wissen.
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Ein weiteres bewegendes Bild ist die Darstellung eines Wasserfalls in Ekom, einer Ortschaft in der Nähe von Bare. Der Erzähler insistiert auf der Haltung des Protagonisten Nsia vor dem Anblick dieses Naturereignisses: „Aber welch ein Anblick bot sich den erstaunten Blicken des Knaben! Wie eine Bildsäule stand er mit offenem Munde da, und mit weit aufgerissenen Augen schaute er vor sich das Wunder der Natur. Das felsige Flussbett war plötzlich durch eine gähnende Tiefe unterbrochen, in die sich der Strom mit donnerndem Getöse hinunterstürzte. Dicht vor der schwindelnden Tiefe ragten im Strombett trotzig flache Felsen aus dem Wasserstrudel hervor, die den Fluß in verschiedene Rinnen zerteilten. Die einzelnen Felsen waren durch dürftige Stege miteinander verbunden, unter denen die grünlichen Fluten dahinschossen und sich tosend abwärts stürzten“ (S. 117).
Die Beschreibung der Gebirge und Flüsse führt zur Semantisierung von Ortschaften, die im Küstenhinterland Kameruns zu finden sind und von Abound Nkossi-Stämmen bewohnt werden. Es sind: Bonaku (S. 76) Mbwapaki (S. 88), Mangamba und Bekom (S. 111), Bare (S. 170), Nkongsamba (S. 173). Es sind aber auch Orte, an denen der Autor Heinrich Nikolaus Wöll seine Missionsarbeit geleistet hat. Hinter der Landschafts- und Naturschilderung öffnet sich dem Leser das hochkomplexe Leben der einheimischen Bevölkerung. Der Erzähler wird zum Ethnografen.
Der Erzähler als Ethnograf Die verschiedenen Völkergruppen des Küstenhinterlandes werden porträtiert. Dies beginnt schon am Anfang der Reise ab der Mündung des WuriFlusses über die Wasserstraße bis zum Dorf des Zauberers Ekoki und zur Umgebung. Die Kontakte mit dem Hinterland liefern Momentaufnahmen von Zuständen. Die Kompetenz des Missionars in einheimischen Sprachen bildet für seine Tatsachenberichte eine gute Voraussetzung dazu. Alle Figuren seiner Erzählung haben einheimische Namen. Bei Ortsnamen und Ritualen gibt er die einheimische Bezeichnung und fertigt für seine deutschen Leser eine Übersetzung an oder gebraucht eine Paraphrase. Der Geheimbund im Text heißt Losango. Der Kamerunberg „Mudongo ma Loba (der Berg Gottes)!“ (S. 105). Er kennt die Sitten und Gebräuche der Küstenleute. Ngambi übersetzt er mit Fetisch, die Muka mit Gerichtsversammlung, die Baturu
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als Dorfälteste, die das Sagen in einer Muka haben (S. 56). Der dokumentarische Wert seiner Schilderungen gründet in seiner Nähe zu der fremden Bevölkerung, die in der Erzählung als Mittel zur Rezeptionssteuerung gelten kann. Passagen von anschaulichem Erzählton, trotz des missionarischen Manichäismus des Erzählers, bringen die Authentizität seiner Deutungsgabe zum Ausdruck. Dies ist der Fall bei der Beschreibung einer Hüttenweihe mit Tanzaufführung (S. 131 f.) oder von Trauer- und Leichenfeiern, die Bestandteile der Sitten und Gebräuche der Bewohner des Küstenhinterlandes sind. So berichtet er mit Details über die Leichenfeier der verstorbenen Mutter des Knaben Nsia, bei der er als auktorialer Erzähler zugegen sein musste: „Währenddem sitzen die Klageweiber, die ihren ganzen Körper mit weißer Erde bestrichen haben, vor der Hütte der Verstorbenen und stimmen die üblichen Totengesänge an. Sie leiern sie geschäftsmäßig herunter und schauen dabei mit lüsternen Blicken auf die weitbäuchigen Töpfe, die im Halbkreis auf etlichen Feuerstellen dampfen und in denen das Trauermahl bereitet wird. Es fehlt auch nicht an Palmwein und Schnaps, welch letzteren man in großen Korbflaschen aus der nächsten europäischen Handelsfaktorei herbeigeschafft hat; denn ohne das ‚Feuerwasser‘ ist selbst in entlegenen Kamerun-Dörfern keine Festlichkeit denkbar, am wenigsten eine Leichenfeier“ (S. 12).
Trotz des distanzierten Blickes des Erzählers, der in seiner Beobachtung des einheimischen Leichenrituals der tiefen Anteilnahme und Betroffenheit den Anwesenden keine Aufmerksamkeit schenkt, sondern an ihrem Hunger („lüsterne Blicke“) und Durst („Palmwein und Schnaps“) interessiert ist, finden sich doch in der Wiedergabe des gesehenen Rituals gewisse Authentizitätsmerkmale. Das Küstenhinterland von Kamerun ist lange nicht mehr unbefleckt bzw. ursprünglich, sondern die europäische Modernität hat dort durch die Einführung des Branntweinhandels schon Fuß gefasst. So sieht das Kameruner Küstenhinterland Anfang des 20. Jahrhunderts aus, und der Erzähler von Heinrich Norden gibt ein getreues Abbild davon. Besonders prägnant ist die Berichterstattung über das Freudenfest an der Schnittstelle zwischen dem Küsten- und Hochland von Kamerun auf der Mbo-Ebene. Hier reichen die Kenntnisse der Duala-Sprache des reisenden Erzählers und Missionars nicht aus, und er gerät in Unsicherheit. Nur mit
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Unterstützung eines Dolmetschers kann er adäquat von einem Zwillingsfest berichten, dem er bei seiner Missionsreise im Hinterland beiwohnt. Zwillinge sind im Hochland von Kamerun etwas Besonderes. Eine Mutter, die Zwillinge zur Welt bringt, erhält nicht nur einen Titel (Magni), sondern ein Fest zur Bekanntgabe der Geburt wird zu ihren Ehren veranstaltet, wobei andere Zwillingsmütter zur Parade eingeladen werden und die frische Zwillingsmutter beim Tanzfest viele Geschenke erhält. Hierzu der Erzähler: „Der Missionar bereute jetzt, daß er der Einladung gefolgt war; aber wenn sie abgeschlachtet werden sollten, warum das gerade hier auf diesem Gehöft? Das hätte ja drunter am Flusse viel bequemer geschehen können. Sie waren ja doch in ihrer Gewalt. Es war noch ganz in Gedanken versunken, als plötzlich auf einen Wink des Häuptlings eine Anzahl Weiber sich zum Tanzreihen ordnete. Es waren jene kräftigen Frauengestalten mit den Bambusstäben. – Nun erschien auch die Vortänzerin, eine der Königsfrauen, um den Reigen zu eröffnen, wobei die Tänzerinnen eine lange Kette bildeten und dem Alter nach sich folgten. Unter dem Lärm mächtiger Trommeln wurde der Reigen eröffnet, und mit durchdringend kreischender Stimme stimmte die Vortänzerin eine rhythmische Weise an, wonach sich die Füße der Tänzerinnen im Gleichtakt bewegten. (…) Da plötzlich – stand ein Jüngling mit einer Pisangtraube und einem Huhn vor ihm und überreichte beides mit der Erklärung, die „Nyango“ lasse danken für die Ehre, die ihr der Weiße durch sein Erscheinen bei ihrem Freudenfest habe zuteil werden lassen; sie sende ihm das Huhn und Pisang als Geschenk. Diese Worte gaben seinem Gedankenlauf wieder eine andere Richtung, und er atmete auf; denn im ersten Augenblick hatte er nichts anderes geglaubt, als man reiche ihm die Henkermahlzeit dar. Doch nun wusste er, daß es seine Gastfreunde ehrlich mit ihm meinten und daß die ganze festliche Veranstaltung infolge irgend eines freudigen Ereignisses stattfinde. Und so war es auch. Als er sich durch den Dolmetscher nach seiner freigebigen Gönnerin erkundigen ließ, erfuhr er, daß eine Frau in der Stadt von der Gottheit gewürdigt gewesen sei, am Morgen dieses Tages einem gesunden Zwillingspärchen das Leben zu schenken“ (S. 163–164).
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Abschließende Bemerkungen Im Lichte der Kulturtransfertheorie als Leseraster hat die Analyse gezeigt, dass der Missionar Heinrich Norden ein Wissens- und Kulturvermittler ist. In der Erzählung versteckt er sich hinter einer auktorialen Erzählung. Er zeichnet sich durch seine interkulturelle Kompetenz als ein professioneller Sammler des kulturellen Wissens aus der Fremde für die eigene Heimat aus. Als Mittler zwischen den Kulturen besitzt er zwei Filter der Realitätsrepräsentation: den Filter der eigenen Kultur, mit dem er aufgewachsen ist, und den Filter der fremden Kultur, den er sich durch das Hineinversetzen in die Fremde angeeignet hat. Da er als Missionar seinen Lesern und seiner Mission in der eigenen Heimat gegenüber vertraglich gebunden ist, ist seine interkulturelle Identität nur zwischen den Zeilen zu lesen. Er muss bei der Wissensselektion die Wünsche seiner Missionsleser berücksichtigen, und dadurch wird seine Wissensvermittlung zu einem Erfolgsprotokoll eines Auslandsaufenthalts. Jenseits des christlichen Dogmas „Gehet hin in die ganze Welt und saget den Menschen von mir und lehret sie alles, was ich euch gelehrt habe“ (S. 142) aber kristallisiert sich seine Kompetenz als Geograf, Ethnograf oder als Kulturkartograf heraus. Die binäre Wahrnehmung des Kameruner Küstenhinterlandes verschwindet. An ihre Stelle tritt ein polytheistischer und interkultureller Raum mit hervorragenden touristischen Naturschätzen.
Die Heimat oder Europa Perspektiven englisch- und deutschsprachiger Missionare aus den 1830er-Jahren* Judith Becker
„Schon am Tage nach ihrer Ankunft in London bestiegen sie das Schiff, das sie nach dem Orte ihrer Bestimmung bringen soll, und verließen den Europäischen heimatlichen Boden.“1 „In den Kreisen dieser Neger fühlte ich mich immer gar wohl und heimathlich.“2
Diese beiden Zitate markieren die Pole, zwischen denen sich die Europabilder von Missionaren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegten: von dem Bewusstsein, dass Europa ihre Heimat war, bis zu neuen Heimatgefühlen in Afrika oder Asien, von der Orientierung an Europa und europäischen Maßstäben bis zur harschen Kritik an Europäern und ihrem Verhalten – in Europa wie in Übersee. Am Heimatbegriff lassen sich die Beziehungen, die die Missionare mit Europa und mit den Missionsländern verbanden, exemplarisch aufzeigen. Die Rede von der Heimat berührte die Identität der Missionare, ebenso wie die Identität der sie in Europa unterstützenden Gruppen und Personen. Europa wurde den Missionaren in der Fremde zur Heimat und wurde dann doch in manchen Fällen von der Fremde als neuer Heimat abgelöst. An der Heimatkonzeption der Missionare kristallisierte sich ihr Verhältnis zu Europa wie zu den außereuropäischen Ländern. Deshalb fragt dieser Beitrag: Welche Bedeutungsdimensionen hatte „Heimat“ für Missionare des frühen 19. Jahrhunderts, und welche Europabilder wurden damit verbunden?
Diese Untersuchung entstand im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Nachwuchsforschergruppe „Transfer und Transformation der Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen, 1700–1970“, die die Autorin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz, leitet. 1 Der evangelische Heidenbote 1828, S. 96. 2 Der evangelische Heidenbote 1830, S. 39. *
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Wenn anhand des Heimatempfindens die Stellung der Missionare zwischen den Welten untersucht werden soll, so müssen ganz unterschiedliche Aspekte zur Sprache kommen. Zunächst ist die Verwendung des Heimatbegriffs durch die Missionare historisch einzuordnen. Der Beitrag beginnt daher mit einer theoriebezogenen Einleitung, die die historische Heimatforschung in den Blick nimmt. Sodann wird dies auf die Praxis der Missionare bezogen, wenn gefragt wird: Wo fühlten sich die Missionare zuhause und warum? Dafür stehen wenigstens drei Gebiete zur Auswahl: das eigentliche Heimatland, Europa als Ganzes und das Land bzw. die Region, in der sie derzeit lebten. In einem dritten Schritt wird auf die Beziehung der Missionare zu ihren Unterstützern in Europa eingegangen. Welche Rolle spielte sie für die Bezeichnung Europas als Heimat? Und umgekehrt: Welche Bedeutung hatte die Bezeichnung Europas als Heimat für die Beziehung zwischen der Mission und ihren Unterstützergruppen? In welchen Zusammenhängen wurde Europa „Heimat“ genannt? Im zweiten und dritten Teil wird die Heimat ortsgebunden betrachtet und nach Absichten und Zielen der Benutzung des Heimatbegriffs gefragt. Für die Missionare hatte „Heimat“ jedoch auch eine immaterielle, ideelle Bedeutung: Die eigentliche Heimat war für sie religiös konnotiert. Sie war spirituell fundiert und lag im Himmel. Welche Bedeutung dieses Heimatkonzept für die Missionare hatte, wird in einem vierten Schritt analysiert und es wird gefragt, wie dieses Heimatkonzept im Leben der Missionare Ausdruck fand. In einem letzten Teil wird die „neue Heimat“ der Missionare in der Fremde zu den aufgezeigten Heimatkonzepten in Beziehung gesetzt. Die Missionare der CMS und der Basler Mission gingen jedoch nie so weit, die himmlische Heimat in den Missionsgebieten auch materiell abbilden zu wollen. Im kolonialen Kontext entwickelten die protestantischen Missionare einen neuen, eigenen Begriff von „Heimat“, in dem Europa, ihre neuen Wirkungs- und Lebensgebiete und ideelle Heimatvorstellungen zusammenkamen. Das Leben an einem „dritten Ort“3 führte zu einer Neukonzeption vieler aus Europa mitgebrachter Vorstellungen, so auch der „Heimat“. Auf Europa wirkte dies zurück, wenn die Missionare ihr Heimatverständnis in ihren Veröffentlichungen ausdrückten, wo es in manchen Berichten als neu entfaltet und dem Missionskontext geschuldet dargestellt, in anderen einfach als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Die Europäer in der alten Heimat mussten 3 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur (Stauffenburg Discussion 5), Tübingen 2007.
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sich in der Rezeption der Missionsberichte mit ihren eigenen Vorstellungen von „Heimat“ auseinandersetzen und diese, wollten sie die Gemeinschaft mit den Missionaren nicht verlieren, gegebenenfalls modifizieren bzw. um die neuen Heimatkonzepte erweitern. In dem gesamten Beitrag steht die europäische Perspektive im Mittelpunkt. Es wird herausgearbeitet, wie „Heimat“ von den Missionaren wahrgenommen und repräsentiert wurde. Welche Vorstellungen von Heimat die jeweiligen Menschen, bei denen die Missionare arbeiteten, hatten und wie sie auf die Konzeptionen der Missionare reagierten, ist – im Gegensatz zu anderen Themenbereichen4 – in den diesem Beitrag zugrundeliegenden Quellen nicht überliefert. Er zeigt jedoch die Perspektive von Europäern auf und möchte damit einen Beitrag zur Erforschung Europas, genauer: europäischer Auffassungen und Werthaltungen leisten.5 Im Fokus der Untersuchung stehen eine deutsch- und eine englischsprachige Missionsgesellschaft. Die Church Missionary Society (CMS) wurde 1799 gegründet, um der fünf Jahre zuvor ins Leben gerufenen überkonfessionellen London Missionary Society eine dezidiert anglikanische englische Gesellschaft an die Seite zu stellen und auch in die englische Staatskirche hinein zu wirken. Die CMS sandte 1804 die ersten (deutschen) Missionare nach Westafrika, begann 1809 ihre Mission in Neuseeland, 1811 in Malta und ging 4 Das Geschichtsbewusstsein der Neumissionierten wird z. B. in den Missionsberichten zumindest an manchen Stellen zitiert, vgl. dazu ausführlicher Judith Becker, Die Christianisierung fremder Völker – ein Zeichen für die nahende Endzeit?, in: dies./Bettina Braun (Hg.), Die Begegnung mit Fremden und das Geschichtsbewusstsein (VIEG 88), Göttingen 2012, S. 183–204. 5 Vgl. zur Wertedefinition und zur Entstehung von Werthaltungen: Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999; ders./Klaus Wiegand (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 52010; zur Europaforschung vgl. u.a. Ulrike von Hirschhausen/Kiran Klaus Patel, Europäisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/Europäisierung (letzter Zugriff: 29.11.2010); Lutz Niethammer, A European Identity?, in: Bo Stråth (Hg.), Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel u. a. 2000, S. 87–111; Heinz Duchhardt, Was heißt und zu welchem Ende betreibt man – Europäische Geschichte?, in: ders./Andreas Kunz (Hg.), „Europäische Geschichte“ als historiographisches Problem (VIEG Beiheft 42), Mainz 1997, S. 191–202; Wolfgang Schmale, Europa. Kulturelle Referenz – Zitatensystem – Wertesystem, (erschienen 03.12.2012), in: Europäische Geschichte Online (EGO), http://www.ieg-ego.eu/ de/threads/theorien-und-methoden/europa/wolfgang-schmale-europa-kulturellereferenz-zitatensystem-wertesystem/?searchterm=schmale&set_language=de (letzter Zugriff: 7.1.2013).
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ab 1813 nach Indien.6 Im Laufe des Jahrhunderts wurde die Arbeit in Afrika und vor allem Asien noch ausgeweitet. 1815 wurde in Basel eine überkonfessionelle und internationale Missionsgesellschaft gegründet, die 1816 ein eigenes Missionsseminar eröffnete.7 Zunächst bildete sie nur Missionare aus, die über Gesellschaften anderer Länder, insbesondere die CMS, ausgesandt wurden. 1821 entsandte die Basler Mission die ersten eigenen Missionare in den Kaukasus, 1827 nach Westafrika und 1834 nach Indien. Die Kooperation mit der CMS wurde mit offiziellen Verträgen verstetigt: Basel bildete Missionare für die CMS aus, diese wiederum nahm Einfluss auf den Basler Lehrplan. Von Zeit zu Zeit kamen Missverständnisse, national oder frömmigkeitsgeprägte Vorurteile und Vorwürfe auf, die jedoch immer beigelegt werden konnten. Die Zusammenarbeit wurde bis zur Jahrhundertmitte fortgeführt, als die CMS genügend eigene Kandidaten hatte – möglicherweise spielte auch eine Rolle, dass der Nationalismus zu dieser Zeit in beiden Ländern stärker wurde.8 Offiziell beendet wurde die Kooperation jedoch nie. Die Untersuchung behandelt folglich zwei Missionsgesellschaften, die eng kooperierten, die aber durchaus eigene Vorstellungen von Mission hatten und vor allem von ganz unterschiedlichen nationalen, sozialen und frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergründen geprägt waren. Zwar waren die leitenden Gremien der beiden Missionsgesellschaften von Angehörigen einer vergleichbaren Bevölkerungsschicht bestimmt: wohlhabenden erweckten Christen. Ihre Zielgruppen, die zukünftigen Missionare, die sie aussenden wollten, unterschieden sich jedoch deutlich. Während in Basel hauptsächlich Handwerker und (Dorf-)Schullehrer zu Missionaren ausgebildet wurden, versuchte die CMS, ihre Mitarbeiter vornehmlich unter Universitätsabsolventen zu rekrutieren – mit wenig Erfolg. Auch die Auffassungen über die Stellung 6 Zur Geschichte der CMS vgl. Eugene Stock, The History of the Church Missionary Society. Its Environment, its Men and its Work, Bde. 1–3, London 1899 und Zusatzband 4, London 1916. Vgl. auch Kevin Ward/Brian Stanley (Hg.), The Church Mission Society and World Christianity, 1799–1999 (Studies in the History of Christian Missions), Grand Rapids u.a. 2000. 7 Die Geschichte der Basler Mission wurde ebenfalls zur Hundertjahrfeier erzählt: Wilhelm Schlatter, Geschichte der Basler Mission 1815–1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen, 3 Bde., Basel 1916. Vgl. auch Paul Jenkins, Kurze Geschichte der Basler Mission, Basel 1989. 8 Für die Basler Mission bedeutete dies vor allem, dass zunehmend gegen Großbritannien argumentiert wurde und dass man sich auf allgemein-deutsche Vorzüge bezog. Zwischen Deutschland und der Schweiz wurde dabei in der Regel nicht unterschieden.
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der Missionare in den Missionsgebieten und mithin über die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten differierten. Während die Basler Mission zunächst ausdrücklich davor warnte, ihre Missionare könnten in der Kooperation zu „Gentlemen“ werden, betonte die CMS die Notwendigkeit einer guten Ausbildung, auch wegen der Berührungen mit Kolonialverwaltungen in den Missionsgebieten.9 Die nationalen und sozialen Hintergründe der Gesellschaften waren relativ deutlich geschieden, auch wenn sie miteinander kooperierten und aufeinander einwirkten. Die frömmigkeitsgeschichtliche Beziehung der beiden Gesellschaften ist weitaus komplizierter zu beschreiben. Sie waren auf sehr unterschiedliche Weise kirchlich geprägt. Die CMS bezog sich ausdrücklich auf die Church of England und übernahm deren Traditionen. Dazu gehörten bestimmte grundlegende Bekenntnisse und Schriften ebenso wie die Liturgie und andere religiöse Riten. Dies alles war seit der Gründung der CMS festgelegt. Sie ordnete sich ohne Vorbehalte in die anglikanische Kirche ein, wobei die anglikanische Ordination später immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Basel und den deutschen Missionaren führen sollte. Die Basler Mission hingegen war ausdrücklich überkonfessionell. Faktisch kam ein Großteil der Missionare aus dem lutherischen Württemberg, und auch die ersten Missionsinspektoren waren Württemberger. Die leitenden (und geldgebenden) Schweizer hingegen waren reformiert geprägt. Schon dies hätte zu Auseinandersetzungen führen können. Schwieriger wurde es, als eine eindeutig konfessionell ausgerichtete Missionsgesellschaft hinzukam, die noch dazu auf eine sehr hierarchisch strukturierte Kirche bezogen war. Hier differierten theologisch-dogmatische Grundüberzeugungen, Ekklesiologie und Kirchenpolitik. Dennoch funktionierte die Zusammenarbeit über Jahrzehnte, von einigen Missverständnissen abgesehen, die immer beigelegt werden konnten, gut. Denn beiden Gesellschaften war die persönliche Frömmigkeit wichtiger als kirchlich vorgeschriebene Bekenntnisse oder gar Strukturen. Basel war durch die Erweckungsbewegung geprägt, die CMS gehörte zum evangelical wing der anglikanischen Kirche.10 Die Frömmigkeitsstile waren zwar 9 Vgl. Wilhelm Schlatter, Die Heimatgeschichte der Basler Mission (Geschichte der Basler Mission 1815–1915, Bd. 1), Basel 1916, S. 61–87. 10 Da die englische Konzeption des evangelicalism nicht der Konzeption der deutschen evangelikalen Bewegung entspricht, werden die Begriffe hier nicht übersetzt, vgl. Ulrich Gäbler, Evangelikalismus und Réveil, in: ders. (Hg.), Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 3), Göttingen 2000, S. 27–84, hier S. 29.
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nicht identisch, aber so ähnlich, dass man sich auf dieser Basis treffen konnte, um gemeinsam zu missionieren. Beiden Gesellschaften war die persönliche Erfahrung des Glaubens, die Erfahrung von Sündhaftigkeit und Erlösung von fundamentaler Bedeutung für das Christsein. „Erfahrung“ wurde ihnen zu einer grundlegenden theologischen Kategorie, Hamartiologie (Sündenlehre) und Soteriologie (Heilslehre) standen im Zentrum des Glaubens. Beide Gesellschaften lebten in ständigem Bezug auf Gott und interpretierten die Welt unablässig im Spiegel Gottes.11 Die providentia Gottes, sein geschichtliches Wirken, das die Angehörigen der Mission auch in ihrem eigenen Leben fanden, war ihnen Grundlage des Glaubens. Aufgrund dieser grundlegenden frömmigkeitsgeschichtlichen Gemeinsamkeit und der engen Zusammenarbeit können Basler Mission und CMS im Folgenden gemeinsam behandelt werden. Wo Unterschiede zwischen den Gesellschaften relevant werden, wird dies herausgearbeitet. Die Untersuchung stützt sich hauptsächlich auf die Missionszeitschriften, in denen Basler Mission und CMS die Berichte ihrer Missionare veröffentlichten: der Basler Evangelische Heidenbote, der ab 1828 erschien, und der Church Missionary Record, der ab 1830 publiziert wurde. Sie werden bis 1840 analysiert. Ergänzt werden sie durch weitere Veröffentlichungen der Missionsgesellschaften sowie durch Archivmaterial. Damit wird exemplarisch anhand einer detail11 Vgl. zur Frömmigkeit der Basler Mission bzw. der ihr zugrunde liegenden Württemberger Frömmigkeit: Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg. Vom 17. bis. 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1969; Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert (Bürgertum, N.F. 2), Göttingen 2005; Gäbler (Hg.), Der Pietismus; Hartmut Lehmann (Hg.), Glaubenswelt und Lebenswelt (Geschichte des Pietismus 4), Göttingen 2004; Martin Brecht, Der württembergische Pietismus, in: ders./Klaus Deppermann (Hg.), Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 2), Göttingen 1995, S. 225–296; Ulrich Gäbler, Erweckung im europäischen und amerikanischen Protestantismus, in: Pietismus und Neuzeit 15 (1989), S. 24–39; ders., „Erweckung“ – Historische Einordnung und theologische Charakterisierung, in: ders. (Hg.), „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts, München 1991, S. 161– 186. Eine Übersicht über die Frömmigkeit der Evangelicals Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es nicht. Aufschlüsse über die Anfänge der CMS geben: Charles Hole, The Early History of the Church Missionary Society for Africa and the East to the End of A.D. 1814, London 1896; John H. Pratt, The Thought of the Evangelical Leaders. Notes of the Discussions of The Eclectic Society, London, During the Years 1798–1814, Edinburgh 1856; Jane Garnett/Colin Matthew (Hg.), Revival and Religion since 1700. Essays for John Walsh, London 1993.
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lierten Analyse der ersten zehn Jahre der gedruckten Berichte eine Tendenz aufgezeigt, die bis Mitte der 1850er-Jahre anhielt.
Historische Heimatkonzeptionen Heimatbegriff und Heimatbewegung sind in der historischen Forschung, insbesondere in Bezug auf Deutschland, intensiv diskutiert worden. Dabei ist zuvorderst bemerkenswert, dass der Begriff selbst, wiewohl schon im Althochdeutschen belegt,12 erst im 19. Jahrhundert ideologisch aufgeladen wurde. So wurde er – extrem erfolgreich – benutzt, um Deutschland zu einer Nation zusammenzuschweißen und den bislang getrennten Regionen eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Narrativ zu geben.13 Die Rede von der Heimat war zunächst ein Phänomen gebildeter Bürger, gerade auch in ihrer Beziehung zu jener Natur, in der diejenigen, die von Heimat redeten, nicht unbedingt lebten, und ebenso in Beziehung zu Traditionen, in denen diejenigen, die von Heimat sprachen, nicht unbedingt standen. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde die Konzeption von „Heimat“ als etwas besonders Wichtiges und Bewahrenswertes auch jenseits der bildungsbürgerlichen Schicht wahrgenommen.14 Das gemeinsame Narrativ bezog sich wiederum auf Traditionen15 und auf die Natur. Natur als „Heimat“ wurde im Zuge dieser Entwicklung stark aufgewertet. Heimatvereine und Landschaftsschutzvereine entstanden.16 Teilweise war die Heimatbewegung, gerade in ihren Anfängen, 12 Vgl.Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm,Art.Heimat,in: http.:// www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=heimat (letzter Zugriff: 13.7.2012). 13 Vgl. Celia Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990; Alon Confino, The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871–1918, Chapel Hill 1997. 14 Vgl. Applegate, Nation of Provincials, S. 7; John Alexander Williams, „The Cords of the German Soul are Tuned to Nature“. The Movement to Preserve the Natural Heimat from the Kaiserreich to the Third Reich, in: Central European History 29 (1996), S. 339–384, hier S. 354. 15 Vgl. dazu ausführlich Confino, Nation as a Local Metaphor; sowie Applegate, Nation of Provincials. 16 Die Beziehung zwischen Naturschutz und Heimatschutz ist ebenfalls intensiv untersucht worden. Vgl. z. B. William H. Rollins, A Greener Vision of Home. Cultural Politics and Environmental Reform in the German Heimatschutz Movement, 1904–1918 (Sodal History, Popular Culture, and Politics in Germany), Ann Arbor 1997; Willi Oberkrome, „Deutsche Heimat“. Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-
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von antimodernistischen Tendenzen als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen im Zuge der Industrialisierung geprägt.17 Diese Tendenzen lassen sich hingegen im Heimatverständnis der Missionare der 1830er-Jahre noch nicht belegen. Dies ist besonders bemerkenswert, weil solche Auffassungen durchaus auch in diesen Gruppen stark verbreitet waren und die Mission für manche Missionare unter anderem dem Zweck diente, das ,wahre Christentum‘, das in Europa aufgrund der Verstädterung nicht mehr möglich schien, nun in anderen Ländern zu leben.18 Diese Vorstellungen wurden indes nicht mit dem Heimatbegriff in Beziehung gesetzt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Modernisierungskritik, zumindest in diesen Kreisen, noch nicht mit dem Heimatbegriff verbunden. Die von der historischen Forschung herausgearbeitete, in Deutschland verbreitete Heimatkonzeption wurde erst ein halbes Jahrhundert nach dem Untersuchungszeitraum dieses Beitrags vollständig entwickelt. Dennoch sind die dazu vorliegenden Forschungen von Interesse für diesen Beitrag, denn die Themen, die im späten 19. Jahrhundert Deutschland bewegten, waren auch in den 1830er-Jahren schon mit dem Heimatbegriff verbunden: Natur und Nation. So wurde der Heimatbegriff gerne in Bezug auf Naturbeschreibungen für Vergleiche benutzt. Heimat und Natur schienen also auch für die Missionare um 1830 verbunden. Der Nationalismus spielte ebenfalls schon eine Rolle, allerdings eine gegenläufige zur späteren Entwicklung: Im 16. bis frühen 19. Jahrhundert war „Heimat“ noch gleichbedeutend mit „Vaterland“ benutzt worden.19 In diesem Sinn verwendeten den Begriff auch die untersuchten Missionare und Missionsgesellschaften. So konnte es auch durchaus vorkommen, dass die Redaktion der Basler Missionszeitschrift bei der Veröffentlichung von Missionskorrespondenz „Vaterland“ durch „Heimat“ ersetzte. Hier zeigt sich, dass die beiden Begriffe als weitgehend gleichbedeutend wahrgenommen wurden. Und doch gab es einen wesentlichen UnterLippe und Thüringen (1900–1960) (Westfälisches Institut für Regionalgeschichte. Forschungen zur Regionalgeschichte 47), Paderborn u. a. 2004; Friedemann Schmoll, Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2004; Williams, Cords of the German Soul. 17 Sie sind von der Forschung vielfach festgestellt, wenn auch teilweise wieder infrage gestellt worden. Vgl. z. B. Schmoll, Erinnerung an die Natur; Williams, Cords of the German Soul, S. 384. 18 Vgl. Thorsten Altena, „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918, Münster 2003, S. 271. 19 Vgl. Grimm, Heimat.
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schied, der den editorischen Eingriff erklären kann: „Heimat“ ist der unspezifischere Begriff.20 Er konnte sowohl auf Deutschland als auch auf die Schweiz und andere Länder angewandt werden. In der Regel wurde er für die Hauptunterstützerländer der Basler Mission, Deutschland und die Schweiz, benutzt. Hier war die Gemeinsamkeit die deutsche Sprache. Doch auch eine andere Verwendung und der Bezug auf andere europäische Länder waren in diesen Jahren nicht ausgeschlossen. Die Herausgeber des Heidenboten umgingen durch die Ersetzung von „Vaterland“ durch „Heimat“ die genaue Festlegung, auf welches europäische Land sich die Aussagen der Missionare bezogen. Ob „Heimat“ ein typisch deutsches Phänomen ist (und damit doch etwas mit deutschem Nationalismus oder gar einem deutschen „Sonderweg“ zu tun hat), wird ebenfalls in der Forschung diskutiert.21 Die Antwort ist deshalb schwierig, weil es in vielen anderen westeuropäischen Sprachen kein direktes Äquivalent zu dem deutschen Wort „Heimat“ gibt. So gilt auch für den hier durchzuführenden Vergleich zwischen einer deutsch- und einer englischsprachigen Missionsgesellschaft, dass im Englischen auf verschiedene Begriffe zurückgegriffen werden muss. Die Inhalte, die im Deutschen mit der „Heimat“ verbunden werden, finden sich jedoch auch in den englischen Quellen, und auch hier wird der Begriff „at home“ verhältnismäßig häufig benutzt. Er bezieht sich in der Regel auf Großbritannien. „Heimat“ kann aber nicht nur als Metapher für Natur und als Vehikel zur Nationsbildung interpretiert werden. In der Soziologie und Anthropologie wird diskutiert, ob das Bedürfnis nach „Heimat“ anthropologisch gegeben ist.22 Für unsere Fragestellung wichtig ist an diesem Ansatz, dass zur Identität eines Menschen die Verortung im Raum und die Abgrenzung gegenüber Frem-
20 Auf die „Beliebigkeit“ verweist, wenngleich mit einer ganz anderen Zielrichtung, auch Rolf Petri, Deutsche Heimat 1850–1950, in: Comparativ 11 (2001) 1, S. 77–127, hier S. 77. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Heimatbegriff genutzt, um die Unterschiedlichkeit der Regionen zu überwinden. Die Basler Mission benutzte ihn, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern zu überbrücken. In diesem Sinne wurde er doch in beiden Epochen ähnlich verwendet. 21 Vgl. z. B. Petri, Deutsche Heimat. Confino, Nation as Local Metaphor, beschäftigt sich ausführlich mit dieser These und kommt zu dem Schluss, dass es die einzelnen Elemente der deutschen Heimatkonzeption auch in anderen europäischen Ländern gab, ihre Kombination in diesem Begriff jedoch einzigartig war (S. 211). 22 Vgl. Petri, Deutsche Heimat, S. 80. Vgl. aus philosophischer Perspektive und von der umgekehrten Richtung, der Fremdheit kommend, auch: Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006.
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dem gehört.23 Und genau diese wurden für die Missionare infrage gestellt. Sie mussten sich nach der Überfahrt in die Missionsgebiete völlig neu verorten. Dabei konnte auch Europa als Heimat eine neue Bedeutung bekommen – ebenso wie die Missionsgebiete zur neuen Heimat wurden, konnte die ehemalige „heimat zur fremde“ werden.24 Für die Missionare und die Missionsgesellschaften und -unterstützer in den 1830er-Jahren, als der Heimatbegriff in den deutschsprachigen Ländern noch nicht ausgebreitet war, wurde in der Konfrontation mit der Fremde und mit geografischer Distanz die „Heimat“ zu einem Konzept, das – gerade aufgrund seiner Vieldeutigkeit – Räume und Trennungen überwinden konnte.25 „Heimat“ bildete sich hier in Auseinandersetzung mit und Bezug auf die Fremde, wobei nicht immer eindeutig ist, in welcher geografischen Region sich „Heimat“ und „Fremde“ befanden. Für die Missionare galten andere Phänomene als konstitutiv für die Heimat als die Geografie oder auch eine bestimmte Flora und Fauna, eine gewohnte Landschaftsansicht. Unter bestimmten Bedingungen konnte das Missionsgebiet zur Heimat werden und Europa fremd sein.
Die alte Heimat Dass die Basler und CMS-Missionare England, Deutschland oder die Schweiz ihre Heimat nannten, kann nicht weiter überraschen. Erstaunlicher ist, dass sie häufig auch Europa als ihre Heimat bezeichneten. Der Heimatbegriff wurde ausgeweitet auf alles, was hinsichtlich der Kultur und vor allem hinsichtlich der Frömmigkeit dem eigenen Erfahrungskontext ähnlich war. Nicht mehr ein einzelnes Land, sondern ein ganzer Kontinent wurde durch den Blick von außen, durch die räumliche Distanz, zur Heimat.26 Dies galt sowohl für die ausgereisten Missionare selbst als auch für die Missionsgesellschaften, die, wiewohl in Europa, mit diesem distanzierten Blick ihre Veröffentlichungen verfassten, in denen sie versuchten, die Verbindung zwischen den Missionsgruppen in Europa und den Missionaren in Übersee zu halten. Sie nahmen deshalb in ihren Kommentaren, die die Missionsberichte rahm23 Vgl. z. B. George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, mit einer Einleitung, hg. v. Charles W. Morris, Frankfurt 1973; Waldenfels, Phänomenologie des Fremden. 24 Schiller, Tell 2, zitiert nach: Grimm, Heimat. 25 Vgl. zur geografischen Distanz auch Petri, Deutsche Heimat, S. 106. 26 Vgl. ebd.
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ten oder als kleine Essays in den Missionszeitschriften abgedruckt waren, häufig die Perspektive der Missionare ein – beziehungsweise passten ihre Formulierungen der externen Perspektive an. Dabei wurde häufig Europa als Heimat bezeichnet. Oft benutzte die Mission die Begriffe „Heimat“ und „Europa“ synonym. Ein Zitat wie das zu Beginn dieses Beitrags angeführte vom „Europäischen heimatlichen Boden“, das beide Begriffe vereint, war eher selten. Häufiger wurden die Begriffe parallel genannt. So erklärte der Evangelische Heidenbote 1829, Missionar Hegele müsse aufgrund seiner schlechten Gesundheit „zu seiner Erholung nach der Heimath“ zurückgebracht werden. Auf derselben Seite wurde etwas später von seiner Rückkehr „nach Europa“ berichtet.27 Oft wurde auch nur einer der beiden Begriffe angeführt, und nur der Zusammenhang machte deutlich, ob ganz Europa oder ein bestimmtes europäisches Land mit der Heimat gemeint war. Nur der Begriff „Vaterland“ wurde im Evangelischen Heidenboten fast immer eindeutig auf ein bestimmtes Land bezogen.28 Aber auch hier ist sofort eine Einschränkung nötig: Er wurde nie für Europa als Ganzes verwendet. Zwischen Deutschland und der Schweiz hingegen unterschied der Heidenbote nicht immer eindeutig. So wurden z. B. im Heidenboten von 1835 die Missionare in Indien als „kleine Schaar frommer Knechte Christi aus dem deutschen Vaterlande“ bezeichnet, ohne Rücksicht darauf, dass für eine große Zahl der Leser Deutschland nicht das Vaterland war.29 Ähnliches 27 Heidenbote 1829, S. 52. 28 Vgl. z. B. Heidenbote 1834, S. 60: „zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach seinem Vaterland zurückgekehrt“. 29 Heidenbote 1835, S. 52. Die Missionare selbst, Samuel Hebich, Johann Christoph Lehner und Chr. Leonhard Greiner, kamen alle aus deutschen Ländern, vgl. Wilhelm Schlatter, Die Geschichte der Basler Mission in Indien und China (Geschichte der Basler Mission 1815–1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen, Bd. 2), Basel 1916, S. 7. Die Beobachtung könnte auch auf die Weise interpretiert werden, dass zu dieser Zeit das Schweizer Nationalgefühl noch nicht sehr ausgeprägt war. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand die Schweiz als Nation, vgl. Urs Altermatt/Catherine Bosshart-Pfluger/Albert Tanner (Hg.), Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert (Die Schweiz 1798–1998: Staat, Gesellschaft, Politik 4), Zürich 1998; bes. auch die Beiträge von Christoph Guggenbühl, Biedermänner und Musterbürger im „Mutterland der Weltfreyheit“. Konzepte der Nation in der helvetischen Republik, in: ebd., S. 33–47; Lucien Criblez/Rita Hofstetter, Erziehung zur Nation. Nationale Gesinnungsbildung in der Schule des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 167–187; sowie die Einleitung Urs Altermatt/Catherine Bosshart-Pfluger/
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ließ sich auch an anderen Stellen finden. Zumeist wurden die Missionare als „Deutsche“ angesprochen, auch wenn sich Schweizer auf der Station oder in dem Land befanden. Ohne den Zusatz „Vaterland“ war mit „deutsch“ häufig „deutschsprachig“ gemeint. In der Anrede an die europäische Leserschaft differenzierte der Heidenbote in der Regel. So sprach er wenige Seiten nach dem oben genannten Zitat von der „thätige[n] Liebe unserer theuern Brüder und Schwestern im deutschen und schweizerischen Vaterlande“.30 Bei einer solchen Formulierung konnte sich jeder einzelne Leser angesprochen fühlen, zumal auch direkte Anreden an die Leser nicht unüblich waren. Ein neuer Herausgeber machte 1839 auch seine eigene Herkunft explizit: „in meinem theuern deutschen Vaterlande und in der Schweiz“.31 Alle Inspektoren der Basler Mission im 19. Jahrhundert kamen aus Deutschland, während die Mitglieder des Komitees, des Leitungsgremiums, hauptsächlich Schweizer waren. Die These, dass die Zusammenfassung als „deutsch“ sich auf die Sprache und die religions-kulturelle Prägung bezog, wird dadurch untermauert. Wenn zu diesem deutschsprachigen Zusammenschluss die Kooperation mit oder Arbeit für eine Missionsgesellschaft aus einem anderen westeuropäischen Land hinzukam, sprach man zusammenfassend von „Europa“.32 Doch die Rede von Europa wurde nicht nur aus praktischen Gründen gewählt. Für viele Missionare wurde tatsächlich Europa die Heimat, mehr als ein bestimmtes Land. So schrieb der deutsche Missionar Samuel Hebich, geb. in Nellingen im Oberamt Blaubeuren33 in Württemberg, 1835 aus Mangalore:
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Albert Tanner, Einleitung. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, in: ebd., S. 11–15. Allerdings bezogen sich zur selben Zeit eben auch Deutsche auf die Schweiz als Heimat, auch Deutschland existierte streng genommen noch nicht als Nation. Noch waren die Konzepte fließend. Heidenbote 1835, S. 59. Heidenbote 1839, S. 6. Zwei Seiten später pries er die Verdienste des verstorbenen Inspektors Gottlieb Blumhardt „für unser ganzes deutsches und schweizerisches Vaterland“ (Beilage, keine Seitenzählung). Vgl. zur Europakonzeption der Missionsgesellschaften auch: Judith Becker, What was European about Christianity? Early 19th Century Missionaries’ Perceptions, in: dies./Brian Stanley (Hg.), Europe as the Other. External Perspectives on European Christianity, (VIEG Beiheft 103), Göttingen 2014, S. 27–50. Vgl. Samuel Hebich, Lebenslauf, 29. Dezember 1831, Archiv der Basler Mission (BM), BV 154.
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„die viele Gebirgs-Spitzen, die abwechselnd theils mit lauter Grahs bewachsen, andere aber wieder mit lauter Bäumen ange[f ]üllt sind – versetzen den Schweitzer ganz in seine Heimath. […] Zur linken Seite sieht man zwey [se] hr schöne Berge, die über & über mit Graß bewachsen sind, und die [g]anze Ansicht macht sich mehr freundlich und heimathlich.“34
Das Zitat kann sich natürlich darauf beziehen, dass Hebich seinen Reisebericht an das Missionshaus in Basel, sprich an die Schweiz, richtete. Bei den starken Unterstützergruppen in Deutschland, insbesondere in Württemberg, war der Bezug zur Schweiz indes nicht unbedingt nötig. Eine andere Erklärung wäre rein landschaftlicher Natur: In der Schweiz gibt es mehr den Ostindischen Bergen vergleichbare Berge als in Deutschland. Der wichtigste Grund aber ist, dass aus der Distanz die Unterschiede zwischen den europäischen Ländern verschwanden und alles zu der „Heimat“ oder „Europa“ wurde. Hebich, der selbst nur gut zwei Jahre in der Schweiz verbracht hatte – wenn auch zwei sehr prägende Jahre –,35 konnte so die Perspektive eines Schweizers einnehmen und von Heimat sprechen, als handele es sich um sein eigenes Heimatland. Gleichzeitig bezeichnete der Herausgeber des Heidenboten seine Leser häufig als Deutsche, auch wenn die Zeitschrift in der Schweiz erschien und für eine schweizerische ebenso wie für die deutsche Leserschaft gedacht war. Für die weit von Europa entfernt arbeitenden Missionare war das westliche, erweckte Europa die Heimat, nicht so sehr ein einzelnes europäisches Land. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung der Missionare in den Missionsgebieten, bei der das gemeinsame Ziel, die Missionierung im durch die Erweckung geprägten Sinne, größere Bedeutung besaß als nationale Unterschiede. Hermann Mögling schrieb am 15. September 1836 aus Bombay: „Mr Buchanan, der Clerk der Schottischen Kirche deren blendend weißer Spitze wir aus weiter Ferne schon gesehen hatten, führte uns einige hundert Schritte in sein Haus wo er uns nach ein Paar Minuten 4 Palankin’s bestellte, die uns nun schon in dunkler Nacht ein paar Meilen weit durch die Stadt, die 34 Samuel Hebich: Etwas von meiner Reise durch die Städte Cannanore, Mysore, Bangalore, Bellary, Hurryhur bis Darwar vom 23sten. Oct Bis den 21sten Decb 1835, BM, C-1,2 Mangalur 1835 (Dokument 3, 3r u. 8r). 35 Dezember 1831 bis März 1834, BM, BV 154.
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gerade als in einem großen Feste der Heiden von unzähligen Lampen an deren Hütten und Häuser so wie die Palmen und Platanen vieler Gärten glänzten beleuchtet war, und [vom] Getöse des aufgeregten sich drängenden Volkes so wie vom Zischen und Knallen des häufig gebrauchten Pulvers ertönte, vor das Haus des Dr. Wilson trugen, der uns als Missionsbrüder und besonders als deutsche Missionsbrüder freundlich und brüderlich aufnahm, so daß uns bald auf dem festen Lande recht heimatlich zu Muthe wurde.“36
Die Gemeinsamkeiten der Europäer waren, gerade in der Begegnung mit dem Fremden, von größerer Bedeutung als nationale Unterschiede. Mögling beschrieb hier anschaulich die Fremdheit Indiens, die durchaus auch als bedrohlich wahrgenommen wurde. Dem setzte er die herzliche Aufnahme im Haus des Briten entgegen, die die Heimatgefühle nur umso stärker herausstrich. Die „Heimat“ entstand in der Gemeinschaft mit anderen europäischen Missionaren, in der Freundlichkeit und in der Brüderlichkeit. Interessant ist, dass Mögling zwar die Geborgenheit im europäischen Missionshaus herausstrich, nicht aber europäische Traditionen, Einrichtungsgegenstände oder ähnliches. Ihm waren die Gemeinschaft und Verbundenheit das Wichtigste. Die Unterschiede zwischen den Nationalitäten, den Konfessionen und bis zu einem gewissen Grade auch den Frömmigkeitsstilen wurden darin aufgehoben, ebenso eine etwaige Konkurrenz. In der Gemeinschaft der europäischen Erweckten lag die Heimat.
Heimatgefühle durch Verbundenheit: Die Freunde in Europa Die Verbundenheit mit der Heimat wurde durch die Berichte der Missionare nach Europa und durch die finanzielle und ideelle Unterstützung durch die Europäer aufrecht erhalten. So richteten gerade die Missionare der CMS – 36 Hermann Mögling, BM, C-1,2 Mangalore 1836 (Dokument 12, 2v) (Herv. i. O.). Mögling war einer der wenigen Theologiestudenten unter den Basler Missionaren des frühen 19. Jahrhunderts. Geboren 1811, wurde er 1836 nach Indien gesandt, von wo er 1860 zurückkehrte. Vgl. Jennifer and Paul Jenkins, Journeys and Encounters. Religion, Society and the Basel Mission in North Karnataka, 1837–1852. Translations and summaries from published materials in German, in: http://www.library. yale.edu/div/fa/0-NorthKarnataka%20INTRODUCTION.pdf (letzter Zugriff: 17.7.2012).
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egal ob Engländer, Schweizer oder Deutsche – das Wort gerne direkt an „our friends at home“,37 denen sie für materielle Unterstützung dankten oder um deren Fürbitte sie baten oder deren Urteil sie anriefen. Insbesondere wenn in Basel ausgebildete Missionare aber für die CMS berichteten, konnte „at home“ nicht mehr ein einzelnes Land sein, sondern es musste sich zumindest auf Deutschland, die Schweiz und England beziehen.38 Dies wurde dann gleichbedeutend mit Europa, bzw. genauer: dem evangelischen Westeuropa. An vielen Stellen waren die Begriffe auch austauschbar. „Europa“ wurde häufig gleichbedeutend mit „Heimat“ benutzt und umgekehrt. Welcher Begriff hauptsächlich benutzt wurde, hing vom Gesprächskontext ab. In einfachen Berichten, ‚Missionar X kommt nach Europa‘, wurde zumeist von „Europa“ gesprochen. Auch in Berichten über Beziehungen zu Europäern, über materiellen Austausch, herrschte der Europabegriff vor. Anders war das, wenn Verbundenheit mit den Lesern der Briefe und Berichte hergestellt werden sollte. Dann wurde besonders häufig der Heimatbegriff benutzt. So konnte man an die Herzen der Leser appellieren und gleichzeitig eine Nähe herstellen, die bei allen Erfahrungen der Fremde und Berichten aus Ländern und von Situationen, die sich die Leser in Europa schwer vorstellen konnten, sonst leicht verloren gegangen wäre. Deshalb trat auch neben den Heimatbegriff ein zweiter: der Begriff der Freunde. Dies erinnert an Hermann Mögling im Haus des Briten Wilson: Heimat und Gemeinschaft hingen für die Missionare eng zusammen. Mithilfe des Heimat- oder des Freundschaftsbegriffs konnten die Missionare in ihren Berichten Nähe erzeugen. Der Heimatbegriff hatte verschiedene Funktionen. Er wurde genutzt, wenn die Missionare die fremden Länder und Kulturen beschrieben. Um ihren Lesern ihre Erfahrungen anschaulich zu machen, verglichen sie sie mit Europa. Wenn sie Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herausstellen wollten, sprachen sie ebenfalls von der Heimat. In demselben Zusammenhang wurden die europäischen Leser auch angerufen, ein eigenes Urteil zu fällen – oder ihr Urteil zu revidieren. „Könnten unsere christlichen Freunde in Europa nur sehen“, war ein immer wieder 37 Church Missionary Record 1831, S. 128, die in Basel ausgebildeten Missionare S. Gobat und C. Kugler an die CMS. Ebd., S. 144 baten die Ceylon-Missionare ihre „Fellow-Christians at home“ um Fürbitte. 38 Church Missionary Record 1832, S. 223 schrieb Missionar Schaffter, im Auftrag der CMS in Tinnevelley (Tirunelveli): „I should wish that the Missionary friends, and the enemies of Missions, in Europe, had a sight of this village“.
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genutzter Ausruf. Auch auf diese Weise wurde eine Verbundenheit mit den Europäern hergestellt – und gleichzeitig die Gemeinschaft ausgeweitet. Diese bezog sich nicht nur auf die Verbundenheit von Weißen untereinander, von Europäern in Europa mit Europäern außerhalb Europas, sondern sie konnte sich durchaus auf die einheimische Bevölkerung in Afrika oder Asien erstrecken. Gerade wenn Einheimische sich schon zum Christentum bekehrt hatten, wurden sie den europäischen Christen als Vorbild vorgestellt, und diese wurden dann auch häufig direkt angesprochen, um dem vorbildlichen Christentum der Nichteuropäer nachzueifern. Wenn die Missionare ihre Leser auf diese Weise ansprechen wollten, benutzten sie häufig den Heimatbegriff oder redeten die Leser als Freunde an. Der Heimatbegriff wurde des Weiteren eingesetzt, wenn um materielle Unterstützung durch Europäer geworben wurde. Dies geschah zum Beispiel wie im Church Missionary Record mit der ausdrücklichen Referenz auf die Heimat: „our friends at home“. Auf diese Weise wollte man die Verbundenheit der Missionare mit Europa herausstellen und das Verantwortungsgefühl der Daheimgebliebenen ansprechen. Häufiger noch als um materielle Unterstützung baten die Missionare jedoch um spirituelle Unterstützung, um das Gebet und die Fürbitte der Freunde in Europa. Sie glaubten fest an die Wirkung der Gebete und fühlten sich sicher, wenn sie auch der spirituellen Unterstützung durch europäische „Freunde“ gewiss sein konnten. – „Freunde“ waren in diesem Zusammenhang alle, die die Mission unterstützten, sei es mit Spenden, sei es mit aktiver Mitarbeit oder passiv im Gebet. Sie alle waren für die Missionare von großer Bedeutung. In der Gebetsgemeinschaft fühlten sich die Missionare geborgen. Sie erlebten sich nicht mehr als einsam, selbst in Ländern und auf Stationen, in denen sie weit von anderen Europäern entfernt waren. Im Gebet entstand eine Gemeinschaft, die die Missionare trug, obgleich man einander nicht sah und möglicherweise nicht einmal persönlich kannte.39 Aus diesem Grunde konnten die Missionare von Heimat und vor allem von Freundschaft sprechen, selbst in Bezug auf Menschen, die sie nie gesehen hatten
39 Durch die gegenseitige Fürbitte wurden auch emotionale Gemeinschaften geschaffen, vgl. z. B. Barbara Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006; und für einen Überblick dies., Problems and Methods in the History of Emotions, in: Passions in Context 1 (2010), S. 1–30, http://www.passionsincontext.de/index.php?id=557&L=2 (Zugriff: 26.10.2012).
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und nie sehen würden, selbst in die relative Anonymität der Empfänger einer Missionszeitschrift.40
Geistliche und spirituelle Heimat Die Unterstützung durch die Heimat war für die Missionare von besonderer Bedeutung. Gerade wenn ein Missionar wie Johann Jakob Bär,41 in Basel ausgebildet und durch die Niederländische Missionsgesellschaft ausgesandt, über Jahrzehnte erfolglos in einem Gebiet arbeitete, in dem er der einzige Europäer war, er also weder Missionserfolge verzeichnen noch sich mit gleichgesinnten und kulturell gleich geprägten Menschen austauschen konnte, wenn Briefe Monate brauchten und auch einmal verloren gingen, sodass Bär lange von der europäischen Welt abgeschnitten war, bekam das Bewusstsein um die Unterstützung seiner Tätigkeit durch gleichgesinnte Europäer, um deren Interesse und auch deren Fürbitte eine außerordentliche Bedeutung. Manchmal waren die Fürbitten und gelegentliche Briefe das einzige, das die Missionare noch mit Europa und mit der ursprünglichen Heimat verband.
40 Dabei verlief die wichtigste Trennlinie nicht zwischen Europäern und Asiaten oder Afrikanern, sondern zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Missionare fühlten sich denen am stärksten verbunden, die denselben Glauben hatten wie sie. Asiatische oder afrikanische Konvertiten waren ihnen in dieser Hinsicht näher als „ungläubige“ europäische „Namenchristen“. Gerade Samuel Hebich betonte dies immer wieder, er hatte in Indien eine Gemeinde aus Indern und Europäern aufgebaut. Vgl. z. B. Stationsbericht aus Cannanore 1849, BM, C-1,8 Talatscheri und Tschombala 1849, Brief 12, z.B. aber nicht nur S. 6: „Wie schon früher so fühlen auch jetzt die meisten Glieder der Gemeinde einen besonderen Zug der Gemeinschaft zu den schwarzen Brüdern, und so auch hier wiederum die schwarzen zu den Weissen.“ Hebich setzte mehrere weiße ehemalige Soldaten als Katechisten ein, die unter denselben Bedingungen arbeiteten wie die indischen Katechisten – und teilweise diesen untergeordnet waren. Dies ändert nichts daran, dass er als Missionar eindeutig die Leitungsposition innehatte, aber die Grenzen innerhalb der Gemeinde verliefen nicht einfach zwischen Indern und Europäern. 41 Johann Jakob Bär wurde 1816 ins Missionsseminar aufgenommen. Ab 1822 arbeitete er für die Niederländische Missionsgesellschaft auf den Molukken (vgl. Schlatter, Heimatgeschichte, S. 58–60). Ab 1831 berichtete der Heidenbote von ersten Anzeichen, dass Bärs Arbeit doch Erfolg haben könnte (vgl. Heidenbote 1831, S. 50), drei Jahre später behauptete der Heidenbote Erfolge, allerdings ohne sie zu spezifizieren (vgl. Heidenbote 1834, S. 60).
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Doch „Heimat“ war nicht nur ein bestimmtes Land oder eine Region. Und sie war auch mehr als das Wohlfühlen in einer bestimmten Gemeinschaft. Der Heimatbegriff wurde in der Missionsbewegung auch theologisch verwandt: Inspektor Blumhardt begrüßte 1835 die Teilnehmer am Jahresfest: „Seyen Sie uns daher an diesem festlichen Tage in diesem Hause unseres Gottes von Herzen willkommen, verehrteste Freunde und Mitarbeiter, die Sie nicht blos aus unsern nächsten Umgebungen, sondern zum Theil auch aus weiter Ferne herbeigekommen sind, um diese Tage des Dankes und der Freude gemeinschaftlich mit uns zu feiern. An dieser heiligen Stätte, wo Gottes Ehre wohnt, befinden wir uns mit unserem gemeinsamen Werke in der rechten Heimath.“42
Blumhardts Begrüßung kulminierte in der Trias von Gottes Ehre, gemeinsamem Werk und rechter Heimat. Darin lag eine kleine Missionstheologie verborgen. Zentrale Begriffe der Mission wurden hier miteinander verbunden: Ehre Gottes, gute Werke, Gemeinschaft und Heimat stehen für den Gottesbezug, den Bezug auf den Nächsten (Nächstenliebe, gute Werke), die communio und den Blick aufs Jenseits, den Himmel. Als „Heimat“ bezeichnete Blumhardt nicht nur die Kirche, in der die Festlichkeiten zum 20. Jahrestag der Gründung der Mission stattfanden. Es ging ihm nicht primär um das Kirchgebäude, in dem „die Ehre Gottes wohnt“, sondern es ging ihm um das, was die Menschen taten, die in diesem Kirchgebäude versammelt waren, was sie glaubten, wie sie lebten und in welcher Weise sie an der Mission – der missio Gottes – teilnahmen. Nach Ansicht Blumhardts „wohnte“ die Ehre Gottes in der Kirche, weil dort die Menschen zusammenkamen, um gemeinsam zu beten und um von da aus den Missionsbefehl zu erfüllen und an die Enden der Welt zu gehen und zu evangelisieren.43 Das Kirchgebäude war lediglich der Raum, in dem dies stattfand und der dies repräsentierte. Die „Heimat“ war nach Blumhardt konstituiert durch das „gemeinsame Werk“. Dabei waren beide Begriffe gleich wichtig, die Gemeinsamkeit und 42 Heidenbote 1835, S. 49 f. 43 Vgl. Mt. 28,18–20 par. Im Hintergrund der Rede von der Einwohnung könnte auch die Vorstellung der Schechina gestanden haben, vgl. Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München ³1987, S. 27–31.
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das Werk. Die Gemeinschaft als christliche communio gab den Missionaren innerliche Stärke, auch wenn die communio für viele mehr im Glauben als in der Welt existierte. Das gemeinsame Werk, der Einsatz für die Sache Gottes, wie die Missionare glaubten, galt als die Arbeit zur „Ehre Gottes“ und war damit als sanctificatio, als Heiligung, eine unabwendbare Folge der erfahrenen iustificatio, der Rechtfertigung, die sie in ihrer Bekehrung im Glauben angenommen hatten. Die Ehre Gottes war einer der zentralen Topoi der Mission. Die Missionare der CMS betonten fast alle in ihren Bewerbungsschreiben, sie wollten zur Ehre Gottes arbeiten.44 Auch in den Missionsberichten spielte die Ehre Gottes eine zentrale Rolle. Sie war der Grund, aus dem und für den die Missionare arbeiteten, wie immer wieder betont wurde. Wenn die Arbeit der Missionare mit der Ehre Gottes und diese mit der „rechten Heimat“ verbunden wurde, so machte dies deutlich, dass die eigentliche Heimat der Mission bei Gott war. Diese Überzeugung gewann in der Arbeit auf den Missionsfeldern Ausdruck. Blumhardt wandte sich in seiner Begrüßung aber nicht nur an die anwesende Festgemeinde, sondern auch und vielleicht sogar vornehmlich an die Missionare, die von ihrer ursprünglichen Heimat weit entfernt waren. Die Rede wurde im Heidenboten veröffentlicht und an die verschiedenen Missionsstationen verschickt. Sie sprach nicht nur die Europäer an, die zu diesem Fest gekommen waren, sondern auch diejenigen Missionsmitglieder, die in so weiter Ferne lebten, dass sie nicht persönlich teilnehmen konnten. Ihnen sagte Blumhardt, dass sie durch ihre Arbeit mit der Heimat in Basel, mit dem Missionshaus45 und dieser Kirche, in der sich die Festgemeinde befand, verbunden waren, und dass sie bei Gott (im Gotteshaus) ihre wirkliche Heimat hatten, egal wo sie sich körperlich aufhielten. Für Blumhardt war „Heimat“ eine ideelle Größe. In der Zusammenkunft zur gemeinsamen Mission wurde ein Stück des Reiches Gottes abgebildet. Das Reich Gottes, die himmlische Heimat, war für die erweckten Missionare 44 Vgl. CMS, C/AC: Candidates’ Papers, CMS Archives, University of Birmingham, Special Collections. Dies gilt erst recht für die Bewerber der London Missionary Society, deren Bewerbungsunterlagen auch aus den frühen Jahren überliefert sind, vgl. Answers to Printed Questions 1835–1885, Home. Candidates’ Papers, 1796– 1899, SOAS CWM/LMS Archives, London. 45 Auch das Basler Missionshaus, die Zentrale der Mission, war gerade für die Missionare, die dort über viele Jahre intensiv ausgebildet worden waren, tatsächlich zu einem Stück Heimat geworden.
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die einzige wirkliche, relevante Heimat. Das Wissen um die spirituelle Zugehörigkeit ermöglichte es den Missionaren, die „materielle“ Heimat Europa zu verlassen und sogar in fernen Ländern eine neue „materielle“ Heimat zu finden – ihre spirituelle Heimat verließen sie nie. Mit dieser im wahrsten Sinne theo-logischen, auf Gott bezogenen, Heimatdefinition war die Missionsbewegung nicht allein. Das Motiv der himmlischen Heimat als wahrer Heimat war weit verbreitet. Es ist in das evangelische Liedgut eingegangen und so zu einem Gemeinplatz geworden. In Dichtungen aus dieser Zeit ist die Konnotation von „Heimat“ als anzustrebender himmlischer Heimat bei gleichzeitiger kritischer Abwendung von der Welt gängig: „Hilf du uns durch die Zeiten / und mache fest das Herz, / geh selber uns zur Seiten / und führ uns heimatwärts./ Und ist es uns hienieden / so öde, so allein, / o laß in deinem Frieden / uns hier schon selig sein.“46
„Heimat“ wird in diesem Lied wie in vielen anderen Liedern und Gedichten eindeutig und ausschließlich auf die himmlische Heimat bezogen. Dies weist darauf hin, dass die himmlische Heimat – die ewige Ruhe im Sein bei Gott – als einzige wahre Heimat angesehen wurde. Dieses Heimatverständnis teilten auch die Missionare. Von ihrer Reise nach Indien berichteten die ersten Indien-Missionare Lehner, Hebich und Greiner über die Schifffahrt: „Besonders sind es die lieblichen Abende, die […] die Seele gewaltig in die ewige Heimath hinüberziehen.“47 46 Eleonore von Reuss 1867: Das Jahr geht still zu Ende, Evangelisches Gesangbuch der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Gliedkirchen, der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich sowie der Kirche Augsburgischer Konfession und der Reformierten Kirche im Elsass und in Lothringen (Frankreich), Nr. 63 (Stammteil, also für alle Landeskirchen gleich). Vgl. auch, von Paul Gerhardt 1666/67 verfasst: „Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand; / der Himmel soll mir werden, / da ist mein Vaterland. / Hier reis ich bis zum Grabe; / dort in der ewgen Ruh / ist Gottes Gnadengabe, / die schließt all Arbeit zu. […] So will ich zwar nun treiben / mein Leben durch die Welt, / doch denk ich nicht zu bleiben / in diesem fremden Zelt. / Ich wandre meine Straße, / die zu der Heimat führt, / da mich ohn alle Maße mein Vater trösten wird. / Mein Heimat ist dort droben, / da aller Engel Schar / den großen Herrscher loben, / der alles ganz und gar / in seinen Händen träget / und für und für erhält, / auch alles hebt und leget, / wie es ihm wohlgefällt.“ EG 529 (Stammteil). 47 Heidenbote 1835, S. 30.
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Die jenseitige Heimat stand auch den Konvertiten offen. Im Heimatbegriff wurde kein Unterschied gemacht zwischen Europäern und Afrikanern oder Asiaten. So berichtete der Heidenbote über die Missionsbemühungen in Indien und kommentierte: „Viele – Gott sei gelobt – […] sind nun in der Heimath, wo kein Leid noch Schmerz noch Krankheit noch der Tod sie mehr anfechten kann“.48 In der Perspektive der Missionsgesellschaft, die die himmlische Heimat vor die weltliche setzte, galt dies selbstverständlich nicht nur für Europäer, sondern für alle Christen. Einen Abglanz der himmlischen Heimat konnte man in der Welt erleben in der Gemeinschaft der wahren Christen, der communio, und insbesondere in der gemeinsamen Feier einer christlichen Gemeinschaft wie beim Jahresfest 1835. Dies hinderte die Missionare und Missionsgesellschaften nicht, den Heimatbegriff auch säkular zu nutzen. Die primäre Interpretation der Heimat aber war im dualistischen Weltbild der Missionsbewegung die religiöse, spirituelle. Daran sollte auch die Entstehung des säkularen, nationalisierten Heimat-Begriffs nach 1850 nichts ändern. Für die Erweckungsbewegung bzw. den späteren Neupietismus blieb die himmlische Heimat das wichtigere Konzept.49
Die neue Heimat Bemerkenswert ist, dass die Missionare durch ihr Leben in fremden Ländern den ortsgebundenen Heimatbegriff von Europa und damit von ihrem eigenen Ursprung lösen konnten. Dies ging nicht nur mit einer geografischen Veränderung einher, sondern die Missionare tauchten auch in eine völlig andere Kultur ein. Zunächst empfanden sie solche Teile des neuen Lebens als Heimat, die ihnen die alte Heimat in Erinnerung brachten, wie Hebich die ostindische Berglandschaft. Auch spielte das Angenommen-Werden eine große Rolle, wie das Beispiel Mögling gezeigt hat. Das Heimatgefühl konnte aber auch ganz unabhängig von anderen Europäern oder europäisch wirkender Landschaft entstehen, wenn andere Faktoren stimmten. Allem voran galt dies selbstverständlich für den Glauben. So 48 Heidenbote 1856, S. 91. Vgl. Offb. 21,4 aus der Rede zum himmlischen Jerusalem. 49 Dies galt selbstverständlich nicht für den National- und Kulturprotestantismus. In diesem Beitrag werden ausschließlich Aussagen für die hier untersuchten Missionsgesellschaften und ihre Unterstützergemeinschaften getroffen.
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stammt das eingangs erwähnte Zitat von einer Reise des Missionars Salbach an der Goldküste (Ghana) und lautet im Zusammenhang: „In den Kreisen dieser Neger fühlte ich mich immer gar wohl und heimathlich. Weder Widerspruch noch das geringste Vorurtheil gegen das Christenthum habe ich bei ihnen wahrgenommen, sondern sie vielmehr ganz geneigt dafür gefunden.“ Deshalb gehe das biblische Wort von der Ernte, so Salbach, nun auch in Erfüllung.50 Das heimatliche Gefühl konnte hier aufkommen, weil die Einheit in der christlichen Überzeugung gegeben war – oder weil sie zumindest von dem Missionar so wahrgenommen wurde. Die Offenheit der Menschen in Ghana für das Christentum, die von Salbach als potenzielle Zustimmung gedeutet wurde, machte ihm Ghana zur neuen Heimat. Salbach sprach hier also zum einen im religiösen Sinne von der Heimat, hatte aber zum anderen auch weltliche Heimatgefühle, dadurch dass die Einheimischen ihm freundlich und aufgeschlossen gegenübertraten. Afrika war ihm sehr schnell zur neuen Heimat geworden. Zwei Monate später berichtete der Heidenbote, dass Salbach sich an der Goldküste „wohler als in Europa fühlte“.51 Unter den richtigen Bedingungen, wenn die Möglichkeit zur Mission und zum Missionserfolg gegeben war und wenn die Missionare sich in der neuen Gemeinschaft angenommen fühlten, bzw. wenn sie ihre ganze Energie auf die Konversion der „Heiden“ zur Gewinnung von Seelen für das Reich Gottes – die wahre Heimat – richteten, konnten sie die Missionsgebiete als neue Heimat annehmen und dafür auch die alte Heimat, Europa, aufgeben. 1832 schrieb Missionar Reichardt aus Kalkutta: „Ich wünsche nicht, nach Europa zurückzukommen, und will meine Gebeine in Indien zur Ruhe legen, wo ich so recht in meinem Elemente bin.“52 Auch von anderen Missionaren wurde berichtet, dass sie eigentlich nicht „nach der Heimath“ zurückkehren wollten.53 In jedem Fall wurde der Wunsch, im Ausland zu bleiben, mit der dortigen Wirksamkeit der Missionare begründet. Die Arbeit an dem Werk, zu dem sie sich von Gott beauftragt sahen, gab ihnen ein Heimatgefühl, das über den irdischen Ort, an dem sie sich gerade befanden, hinausging. 50 Heidenbote 1830, S. 39. Vgl. Mt. 9,35–38; Lk. 10,2; Joh. 4,35. Karl Ferdinand Salbach wurde 1799 in Köpenick geboren, vgl. Wilhelm Schlatter, Die Geschichte der Basler Mission in Afrika (Geschichte der Basler Mission 1815–1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen, Bd. 3), Basel 1916, S. 22. 51 Heidenbote 1830, S. 58. Vgl. auch ebd., S. 25. 52 Heidenbote 1832, S. 52. 53 Heidenbote 1827, S. 58.
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Die Nähe zu dem Land, in dem die Missionare gegenwärtig lebten, und die Distanz zur europäischen Heimat konnten sich auch in Sätzen ausdrücken, wie in dem von Missionar Schaffter aus Madras: „Fast verliere ich ganz und gar die Fertigkeit, in einer europäischen Sprache mich auszudrücken, indem das tamulische mir nun ganz geläufig geworden ist“.54 Außerdem entstand eine intensive Verbundenheit mit den Menschen, bei denen und für die sie arbeiteten. Dies macht der Heimatbegriff ebenso deutlich wie andere Auffassungen. So veränderten sich zum Beispiel das Geschichtsverständnis der Missionare, und somit ihre Zukunftserwartungen, ein zentrales Motiv ihrer Religiosität und ein wesentlicher Antrieb zur Mission, mit dem Leben in den fremden Ländern. Ihre Arbeit und ihre Erwartungen bezogen sich nicht mehr allgemein auf das Kommen des Reichs Gottes und das Ende der Erde, das sie für die nahe Zukunft erwarteten, sondern sie bezogen sich sehr konkret auf die Gebiete, in denen sie arbeiteten. Die allgemeine Welt- und Christentumsgeschichte, die in Europa im Vordergrund gestanden hatte, trat dem gegenüber in den Hintergrund. Hierin zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Missionaren und ihren Gesellschaften,55 der auch darauf schließen lässt, in welchem Maße die Missionare in den neuen Ländern angekommen waren. Die „neue Heimat“ war auch willentlich herbeigeführt. So berichteten die Missionare Mögling, Frey, Layer und Loesch von ihrer Ankunft in Bombay: „Unter dem Schutze unseres gnädigen Gottes gesund und wohl in dem Lande unserer neuen Heimath angelangt“.56 Der Bezug auf Gott und die Ausführung ihres Missionsauftrags brachten die Missionare zu der Überzeugung, dass Indien ihre neue Heimat werden würde. Dass die Basler oder CMS-Missionare hingegen Heimatgefühle in der Fremde entwickelten, die eine völlige Abwendung von Europa beinhalteten, war eher selten. Das „going native“ war bei diesen Missionsgesellschaften unerwünscht, und die genauen Vorstellungen, wie Christen zu leben hät54 Heidenbote 1830, S. 24. 55 Vgl. Judith Becker, Zukunftserwartungen und Missionsimpetus bei Missionsgesellschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Breul/Jan Carsten Schnurr (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung, (AGP 59), Göttingen 2013, S. 244–270, (im Druck). Die Missionare sprachen in ihren Berichten und bei den Ausdrücken ihrer Zukunftserwartungen von „diesem Land“ bzw. benannten die Menschen, bei denen sie arbeiteten, vgl. zum Beispiel Heidenbote 1830, S. 74; Church Missionary Record 1832, S. 83. 56 Heidenbote 1837, S. 27.
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ten, orientierten sich am europäischen Christentum, nicht an indischen oder westafrikanischen oder anderen Verhältnissen.57 Ein Anflug von Heimatgefühl konnte aber dort entstehen, wo Missionare mit neu bekehrten Christen gemeinsam Dörfer oder Kolonien gründeten, um dort „wahres Christentum“ zu leben. Hier konnten Kompromisse zwischen europäisch-christlichen Wertund Verhaltensvorstellungen und den Bedingungen in einem landschaftlich-klimatisch-kulturell ganz anders als Europa geprägten Land gemacht werden. Wie schwierig das Leben in einer fremden Kultur aber auch war und wie sehr manche Missionare sich eine größere Nähe zu Europa wünschten, wurde deutlich, wenn sie zum Beispiel entgegen der ausdrücklichen Aufforderung der Missionsgesellschaft in den fremden Ländern europäisch aussehende Kirchen bauten, oder wenn ein Missionar wie Georg Adam Kißling in Liberia einen jungen Afrikaner nach dem Vorsitzenden des Basler Komittees „Jakob von Brunn“ nannte, „um mir das geliebte Basel näher zu bringen“.58 Gerade in diesem Kontext zeigt die Referenz auf Heimat beides: die bleibende Distanz zu den Missionsgebieten, die sozialen, kulturellen und klimatisch-landschaftlichen Unterschiede und die Nähe in dem gemeinsamen Glauben an den einen Gott, der alle Distanzen und Unterschiede überwinden konnte.
Conclusio: Die Heimat oder Europa Die Analyse der Heimatreferenzen der Missionare hat gezeigt, dass „Heimat“ für die Missionare eine Vielfalt an Konnotationen hatte und in ganz unterschiedlichen Kontexten benutzt wurde. Die europäische Heimat war für sie von großer Bedeutung: als Ursprungsregion, als Vergleichsregion, in der Gemeinsamkeit der Europäer und insbesondere durch die Unterstützung, die sie von Europäern erfuhren. Europa – das protestantische Westeuropa – war eine zentrale Größe im Heimatverständnis der Missionare.
57 Vgl. Becker, What was European about Christianity. 58 Heidenbote 1830, S. 14. Georg Adam Kißling studierte von 1823–1828 im Missionsseminar in Basel, war von 1827–1832 in Liberia, 1832–1841 in Sierra Leone (durch die CMS) und 1842–1865 in Neuseeland, vgl. Karl Rennstich, Art. Kissling, Georg Adam, in: Friedrich-Wilhelm Bautz (Hg.), Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Herzberg 1992, S. 1540–1542 sowie BM BV 69.
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Des Weiteren hatte „Heimat“ in diesen pietistischen Gruppen immer auch einen überweltlichen Klang. „Heimat“ konnte religiös bzw. spirituell verstanden werden und bezog sich dann auf die himmlische Heimat. Dies wurde insbesondere im Blick auf die Arbeit der Missionare und der Missionsgesellschaften wichtig, ihr Bemühen um sanctificatio und um die Ehre Gottes. In dieser Perspektive wurde „Heimat“ religiös interpretiert und fand im Himmel ihren Ort. Dieser Heimatbegriff geht über den bisher in der Forschung diskutierten hinaus, war aber für die hier untersuchten Gruppen zentral. Die geistliche Heimat war für sie wichtiger als die irdische, räumliche. In der himmlischen Heimat sahen die Missionare sich auch untereinander verbunden. Die Verbundenheit zwischen Missionaren und „Missionsfreunden“, die communio im gemeinsamen Glauben und Gebet funktionierte über Tausende von Kilometern und kulturelle Grenzen hinweg. In diesem Sinne war Heimat da, wo Menschen ein gemeinsames Bekenntnis ablegten. „Heimat“ konnte deshalb für die Missionare auch in Afrika oder Asien entstehen, wenn sich Menschen zum Christentum bekannten und an dem gemeinsamen Werk arbeiteten. Im Blick auf den gemeinsamen Glauben traten Unterschiede der Hautfarbe und der kulturellen Prägung in den Hintergrund. Auf diese Weise entwickelten diese Missionare einen neuen Heimatbegriff. Er umspannte einerseits ganz Europa, andererseits bezog er sich auch auf die Missionsgebiete. In den „contact zones“59 entstanden Heimatgefühle, die ein „Dazwischen“ darstellten60. Heimat war nicht mehr unbedingt Europa – und schon gar nicht ein einzelnes europäisches Land – aber es war auch nicht das neue Land, Indien oder Westafrika, sondern der Begriff wurde mit einem neuen Inhalt belegt. „Heimat“ war die Gemeinsamkeit mit anderen Gläubigen in gegenseitiger Unterstützung und im gemeinsamen Leben nach christlichen Regeln. „Heimat“ wurde damit nicht mehr primär räumlich verstanden. Während die Missionsgesellschaften in ihren Veröffentlichungen von „Heimat“ immer im europäischen Kontext oder religiös konnotiert als himmlischer Heimat sprachen, kam bei den Missionaren in Afrika und Asien eine neue Dimension hinzu: die Heimatgefühle in ihren Wirkungsgebieten. „Heimat“, auch im materiellen Sinne, war für sie mehr als Europa, wenn es auch 59 Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Studies in Travel Writing and Transculturation, London/New York 1992, S. 4–6. 60 Bhabha, Verortung der Kultur, S. 1–28.
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in den europäischen Erfahrungen begründet und immer wieder auf Europa bezogen wurde. Die Heimat oder Europa – das waren keine Synonyme, auch wenn sie manchmal so benutzt wurden. Es waren auch keine Gegensätze, auch wenn manche Missionare sie so gebrauchten. Der eine Begriff beinhaltete jeweils mehr als der andere, aber sie waren meistens aufeinander bezogen, häufig als Ergänzungen, und implizierten, gerade in dem gegenseitigen Bezug, immer eine Wertung. Über beidem stand das Reich Gottes als himmlische Heimat.
„Die Zauberei spielt in Kamerun eine böse Rolle!“1 Die ethnografischen Ausstellungen der Basler Mission (1908–1912) Linda Ratschiller
„Afrika, dunkles, schwarzes Afrika, mit all seinem trostlosen Aberglauben, seiner Furcht vor den rächenden, strafenden Göttern, seinen Strömen von Blut, die eine entartete Religion vergossen.“2 Mit diesen Worten berichtete der Korrespondent der Basler Nachrichten im März 1909 von der ethnografischen Ausstellung der Basler Mission in Zürich. Eröffnet wurde der Rundgang mit der afrikanischen Abteilung, wo der Besucher, so beschrieb es der Berichterstatter der Basler Nachrichten, „sofort von einer echt afrikanischen
Abb. 1 Postkarte von der Kameruner Dorfstraße in der Reiseausstellung der Basler Mission (Anonym, Kameruner Dorfstraße, o. A., Bildarchiv der Basler Mission, bmpix.org, QS-30.100.0048.)
1 Erläuterungen zur Basler Missions-Ausstellung, 1912, Archiv der Basler Mission (BM), N. 121, S. 4. 2 Anonym, Zur ethnographischen Ausstellung der Basler Mission in Zürich. Korrespondenz, in: Basler Nachrichten, 11.03.1909.
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Stimmung umfangen“ wurde. Dafür sorgte die „beträchtlich primitive Hütte eines Fetischpriesters.“ Für die Basler Nachrichten stand fest, „kaum wird es der Beschauer ahnen, welch’ unheilvolle Macht von dieser düsteren Behausung auf das afrikanische Volk ausgeht.“3
Afrika hautnah: Kamerun in Basel Afrika war für viele Menschen in Europa bis weit ins 20. Jahrhundert eine Angelegenheit der Bilder, der Projektionen und der Fantasie.4 Die öffentliche Ausstellung Afrikas, seiner materialen Kultur, seiner Tiere und seiner Menschen hatte einen erheblichen Einfluss auf die Popularisierung des Afrikadiskurses in den europäischen Metropolen. Die völkerkundlichen Ausstellungen der Basler Mission boten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit in Kontakt mit außereuropäischen Kulturen zu treten. Sie ersetzten Bücher, regten die Sinne an und sorgten für Unterhaltung. Das ausgestellte Wissen über Afrika prägte die menschlichen Emotionshaushalte und Verhaltensweisen in Europa nachhaltig mit. Gerade in diesen Bereichen, so die These des vorliegenden Artikels, konstruierten die Missionare durch ihre Ausstellungen neue Auffassungen vom Fremden und vom Eigenen. Dieser Beitrag versteht Missionare als Akteure einer modernen Wissensgeschichte und bezieht sich dabei auf einen neuartigen Zugang zur Religions- und Missionsgeschichte.5 Die von 1886 bis 1914 in Kamerun tätigen Basler Missionare trugen durch ihre ethnografischen Darstellungen sowohl zur Formierung der Ethnologie als Wissenschaft wie auch zum populären Afrika-Diskurs bei. Sie waren Teil eines komplexen, bei weitem nicht nur die Wissenschaft im engeren Sinne umfassenden Prozesses der Wissensproduk3 Anonym, Basler Missionsausstellung in der Kunsthalle, in: Basler Nachrichten, 21.10.1908. 4 Jüngste Beiträge zur Thematik der kolonialen Imagination bieten: David Ciarlo, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, London 2011; Patrick Minder, La Suisse coloniale. Les représentations de l’Afrique et des Africains en Suisse au temps des colonies (1880–1939), Bern 2011; Wolfgang Struck, Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2010. 5 Patrick Harries hat in seiner Pionierarbeit auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Vgl. Patrick Harries, Butterflies and Barbarians. Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford 2007.
Die ethnographischen Ausstellungen der Basler Mission
tion. Anhand von zentralen Studien zur Entstehungsgeschichte der Anthropologie,6 zur Ausstellungslogik der Kolonial- und Weltausstellungen7 und zur Praxis der sogenannten Völkerschauen8 wird deshalb gefragt, wie die Missionsausstellungen im Vergleich zu zeitgenössischen Wissens- und Ausstellungsformen zu bewerten sind: Wie stellte die Basler Mission ethnografische Gegenstände und afrikanische Lebensweisen aus? Welche Vorstellungen von Zivilisation und kulturellem Wandel lagen ihren Ausstellungskonzeptionen zugrunde? Wie unterschieden sie sich von den zeitgenössischen Konzeptionen der Ethnologie und der populären Völkerschauen? Die Basler Missionsleitung legte bereits 1860 eine ethnografische Sammlung an, mit dem erklärten Ziel, „den Missionsfreunden ein möglichst getreues Bild des Zustandes der Völker, mit denen die Mission zu thun hat“, zu geben und dadurch „ihre Teilnahme an der Mission lebendig erhalten zu helfen.“9 6 Vgl. H. Glenn Penny/Matti Bunzl (Hg.), Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003; Andrew Zimmerman, Ethnologie im Kaiserreich. Natur, Kultur und „Rasse“ in Deutschland und seinen Kolonien, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 191–212; ders., Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago/London 2001; ders., Science and Schaulust in the Berlin Museum of Ethnology, in: Constantin Goschler (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin 1870–1930, Stuttgart 2000, S. 65–88. 7 Vgl. Catherine Hodeir, Decentring the Gaze at French Colonial Exhibitions, in: Paul S. Landau/Deborah D. Kaspin (Hg.), Images and Empires. Visuality in Colonial and Postcolonial Africa, Berkeley/Los Angeles/London 2002, S. 233– 252; Sylke Kirschnick, „Hereinspaziert!“ Kolonialpolitik als Vergnügungskultur, in: Alexander Honold/Oliver Simons (Hg.), Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen 2002, S. 221–241; Sharon MacDonald (Hg.), The Politics of Display. Museums, Science, Culture, London/New York 1998. 8 Vgl. Anne Dreesbach, Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1840, Frankfurt a. M./New York 2005; Alexander Honold, Ausstellung des Fremden – Menschen- und Völkerschau um 1900. Zwischen Anpassung und Verfremdung. Der Exot und sein Publikum, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 170–190; Horst Gründer, Indianer, Afrikaner und Südseebewohner in Europa. Zur Vorgeschichte der Völkerschauen und Kolonialausstellungen, in: Jahrbuch für europäische Überseegeschichte 3, Wiesbaden 2003, S. 65–88. 9 Katalog über die ethnographische Sammlung im Museum des Missionshauses zu Basel, 1862, BM, N. 121, S. 3; Katalog der ethnographischen Sammlung im Museum des Missionshauses zu Basel, 1883, BM, N. 121, S. 3.
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Abb. 2 Anonym, Losango Sachen. Wohnhütte von Kamerun, o. A., Bildarchiv der BM, bmpix.org, QS-30.100.0043.
Schriftquellen, Fotografien und Artefakte aus Übersee bildeten in Basel einen Grundstock zum Erwerb ethnologischen Wissens, das sowohl in der Ausbildung der zukünftigen Missionare wie zu Finanzierungs- und Werbezwecken eingesetzt wurde. Aus der Sammlung entstand im Oktober 1908 in der Basler Kunsthalle erstmals eine öffentliche Ausstellung. Die in Kamerun tätigen Missionare hatten aus diesem Anlass Palmrippen und Palmblätter nach Basel geschickt. Aus ihnen errichtete der Sprachgehilfe eines Missionars in der Schweiz Häuser im Stil seiner Heimat Kamerun.10 In der nachgebauten Kameruner Dorfstraße, die für die Zeitgenossen den „besonderen Reiz echtester Ursprünglichkeit“ zu versprühen schien, stand die „Hütte des Riesenfetisches Dikoki.“11 Der zwei Meter hohe, schwarz, grün und rot bemalte Holzklotz transportierte durch sein „wüstes Aussehen“ ein beklemmendes Gefühl gegenüber der Kultur Kameruns nach Basel.12 In der Hütte wurden Fetische, Wahrsagergeräte und Zaubermittel der Losango-Geheimbünde ausgestellt, 10 Vgl. Führer durch die Völkerkundliche Ausstellung der Basler Mission, 1908, BM, Schachtel Missionsmuseum, ohne Signatur. 11 Anonym, Basler Missionsausstellung in der Kunsthalle, in: Basler Nachrichten, 21.10.1908. 12 Anonym, Der Riesengötze Dikoki aus Kamerun, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1898, S. 47.
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von denen „die grössten Gewalttätigkeiten“ ausgingen. Unter allerlei Zeremonien würden die Afrikaner in solche Bünde eintreten, und „wehe dem, der etwas von den Geheimnissen verriet.“ Er werde oft zu Tode gequält, so die schriftlichen Erläuterungen.13 Die Erklärungen, die jedem Besucher im Katalog zur Verfügung standen, versahen die fremden Gegenstände mit Bedeutung. Um den Besuchern einen bleibenden Eindruck von den schädlichen Geheimbünden zu vermitteln, verwies die Ausstellungsbroschüre zum Beispiel auf die Verwendung der ausgestellten Büffelmasken. Wenn die große Versammlung in heiterster Stimmung sei, wenn die Hörner geblasen würden, die Klappern und die Rasselkörbchen ertönten und die Trommeln wirbelten, dann steckten die Losango-Männer ihre Dolche in die Mundöffnungen der Büffelmasken und stürzten sich wütend auf die Menge. Dabei verwundeten sie jeden, der ihnen in den Weg komme.14 Die Erläuterungen nahmen den Betrachter mit auf eine akustische, sinnliche und abenteuerliche Reise in die vermeintliche Welt der Afrikanerinnen und Afrikaner. Die Missionsleitung untermalte die Todesgefahr, die von den Geheimbündlern ausging, mit lebhaften Erzählungen vom „MungiDienst“, um den Besucher mitten ins Geschehen zu versetzten: „Um die Leute einzuschüchtern und zu veranlassen, dass sie Schafe, Ziegen, Hühner brachten, flog auf einmal aus der Umzäunung des Mungi ein Menschenkopf, von dem gesagt wurde, Mungi habe ihn abgebissen, was dadurch glaubhaft gemacht wurde, dass an dem Kopf kein Blut floss, sondern die ‚abgebissene‘ Stelle ganz schleimig aussah.“15
Dies rühre daher, dass der Kopf mit einem glühend gemachten Messer abgeschnitten worden sei, versichert die Ausstellungsbroschüre. Die MungiBrüder hätten also einen Menschen gefangen und getötet.16 Die Geheimbünde symbolisierten den vermeintlichen Aberglauben in seiner tierischen, wilden und unberechenbaren Form. Die soziale Praxis des Mungi-Dienstes diente für die Missionare als abschreckendes Beispiel, um die weitreichenden schädlichen Auswirkungen des Aberglaubens auf die afrikanische Gesellschaft darzustellen. Der in Kamerun tätige Missionar Karl Stolz schrieb in 13 14 15 16
Erläuterungen zur Basler Missions-Ausstellung, 1912, BM, N. 121, S. 5. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Vgl. ebd.
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der Monatszeitschrift der Basler Mission Der evangelische Heidenbote, die Zauberei und Wahrsagerei richte, abgesehen „von groben Verbrechen“, auch „sozial und ökonomisch allerhand Unheil“ an.17 Selbst bei konvertierten Afrikanern warnte der Missionsinspektor Walter Oettli vor dem „Zurückbleiben des sittlichen hinter dem religiösen Leben“. So liege den Männern in Kamerun, auch den Christen, die Geringschätzung der Frauen noch im Blut.18 Das neue Leben als Christ sei eben oft „überschüttet“ und „verdeckt“ durch all den „Schutt“, der von der heidnischen Zeit her in den Herzen zurückgeblieben sei und erst noch weggeräumt werden müsse.19 Das Gelingen einer religiösen Bekehrung der Bevölkerung in Kamerun hing für die Basler Mission an einem tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandel der gesamten Gesellschaft. Sie verfolgte eine kulturelle Entwicklungsstrategie, die zur Entzauberung der deutschen Kolonie führen sollte. Die Zivilisierungsmission der Basler war so gesehen ein säkularisierendes Unternehmen, das mit allgemeinen Vorstellungen von Zivilisation und Modernisierung arbeitete. Missionare trugen als religiöse Akteure zur Formierung von säkularen Räumen in Afrika bei und beteiligten sich maßgeblich an der Entstehung moderner Wissenschaften in Europa.20 Durch die Inszenierung des vermeintlich wilden Afrikaners in Ausstellungen und Publikationen illustrierte die Basler Mission ihren zivilisatorischen Auftrag in Kamerun und signalisierte damit der europäischen Leserschaft und den Ausstellungsbesuchern gleichzeitig die eigene Modernität. Die Missionare legitimierten ihre Arbeit in Afrika vor einem europäischen Publikum, das religiösen Akteuren nicht immer aufgeschlossen gegenüberstand und sicherten sich so Anerkennung weit über die erweckten Zirkel der Schweiz und Südwestdeutschlands hinaus. 17 Karl Stolz, Die Bekämpfung der Zauberei und Wahrsagerei in Kamerun, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1905, S. 20. 18 Walter Oettli, Gegenwärtige Missionsprobleme der Basler Mission in Kamerun, 1911, BM, E.28, S. 38. 19 Vgl. ebd., S. 36. 20 Christliche Missionare kamen als Agenten einer globalen Transformation hin zur Moderne bisher kaum in Betracht. Die Geschichtswissenschaft verstand Globalisierung als Erweiterung eines eurozentrisch konzipierten Modernisierungsprozesses, zu dessen zentralen Eigenschaften eine umfassende Säkularisierung des sozialen Lebens zählte. Nach Frederick Cooper ist Modernität aber als historisches, narratives Muster zu betrachten und nicht als potenzieller Bewertungsmaßstab für Globalisierungsprozesse. Vgl. Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005, S. 133–152.
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Ethnologie: Die Naturwissenschaft vom Menschen Die zunehmende globale Verflechtung und die Entstehung einer Wissensgesellschaft in Europa führten im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Neuformulierung der europäischen Wissenschaften und ihrer Ideale. Der Imperialismus verlangte und ermöglichte zugleich die Entstehung einer Naturwissenschaft vom Menschen. Die Disziplinen Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte entwickelten sich aus ursprünglich gemeinsamen Fragenkomplexen. Es ging um die Erforschung und Dokumentation der Völker der Erde, die Erklärung ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen sowie die Entdeckung ihrer Vorgeschichte. Anstatt wie die humanistischen Vorväter europäische „Kulturvölker“, die durch ihre Geschichte und Zivilisation definiert waren, zu studieren, untersuchten die Anthropologen außereuropäische „Naturvölker“, denen Geschichte und Kultur vermeintlich fehlten.21 Die deutsche Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts konstruierte den Gegenstand der historischen Geisteswissenschaften unter anderem durch den Ausschluss dessen, was sie als „Natur“ und „Naturvölker“ betrachteten. So lehnte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte die Erforschung Afrikas südlich der Sahara ab, weil es sich bei den Menschen dort um „Geschichtslose“ handle, die „noch ganz im natürlichen Geiste befangen“ seien. Er führte aus: „Afrika ist, soweit die Geschichte zurückgeht, für den Zusammenhang mit der übrigen Welt verschlossen geblieben, es ist das in sich gedrungen bleibende Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist.“22
Das missionarische Interesse an den Völkern der außereuropäischen Welt ergab sich aus dem primären Missionsziel, Menschen in neu erschlossenen Weltgegenden für die Gottessache zu gewinnen. Die Basler Mission verfolgte „die Aufrichtung der Herrschaft Gottes durch die Verkündigung der Botschaft Jesus, dem Retter und König auch all dieser tiefgesunkenen 21 Vgl. Nélia Dias, The Visibility of Difference. Nineteenth-Century French Anthropological Collections, in: Sharon MacDonald (Hg.), The Politics of Display. Museums, Science, Culture, London/New York 1998, S. 36–52. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1917, S. 224.
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Völker.“23 Dabei spielte der Glauben an die göttliche Sendung, die außer der Evangelisierung vor allem zum Ziel hatte, das Unrecht, das den Einheimischen mit der Sklaverei angetan worden war, durch soziale und wirtschaftliche Förderung wieder gutzumachen, die zentrale Rolle.24 Der Bekehrungsauftrag veranlasste die Missionare dazu, neue Sprachen zu lernen, Sitten und Bräuche anderer Völker zu studieren und sich mit den geografischen und klimatischen Bedingungen ihrer Umgebung vertraut zu machen. Die Völkerkunde galt den Missionaren als wissenschaftliches Instrument die Gedankenwelt der „Heiden“ zu erforschen, um eine religiöse und kulturelle Bekehrung zu ermöglichen.25 Missionarische Erkenntnisse über die „Naturvölker“ an den Rändern der „westlichen Zivilisation“ dienten den Ethnologen als wichtige Quellen für die Formulierung ihrer weltumspannenden Thesen. Bis weit ins 19. Jahrhundert verließen sich die Wissenschaftler in den europäischen Metropolen auf die Informationen und Daten der Missionare aus Übersee.26 Es entwickelte sich eine Beziehung zwischen Missionaren, die im Feld Daten zusammentrugen und Ethnologen, die in den europäischen Städten die „Beweise“ klassifizierten und verglichen. Die Rolle der Missionare als wissenschaftliche Feldforscher versah ihre Mission mit einem neuen Sinn und Zweck und verband sie mit einflussreichen Wissens- und Machtzentren zu Hause.27 Der Basler Rechtshistoriker und Kulturwissenschaftler Johann Jakob Bachofen etwa versuchte mithilfe missionarischer Schriften über die Erforschung von „Naturvölkern“ eine Reise in die Vergangenheit Europas zu machen. Die Afrikaner stünden auf einer Entwicklungsstufe, die in Europa 23 Walter Oettli, Gegenwärtige Missionsprobleme der Basler Mission in Kamerun, 1911, BM, E. 28, S. 27. 24 Vgl. Peter A. Schweizer, Mission an der Goldküste. Geschichte und Fotografie der Basler Mission im kolonialen Ghana, Basel 2002, S. 7. 25 Vgl. Hilde Nielssen/James Sibree/Laes Dahle, Norwegian and British Missionary Ethnography as a Transnational and National Activity, in: Hilde Nielssen/Inger Marie Okkenhaug/Karina Hestad Skeie (Hg.), Protestant Missions and Local Encounters in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Unto the Ends of the World, Leiden/Boston 2010, S. 23–42. 26 Vgl. Harriet Völker, Missionare als Ethnologen. Moritz Freiherr von Leonhardi, australische Mission und europäische Wissenschaft, in: Reinhard Wendt (Hg.), Sammeln, Vernetzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht, Tübingen 2001, S. 174. 27 Vgl. Patrick Harries, Anthropology, in: Norman Etherington (Hg.), Missions and Empire, Oxford 2005, S. 238–260, hier S. 241.
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nicht aufgezeichnet worden sei, so die Überlegung. Die Anthropologie verstand sich als Wissenschaft des Verschwindens und tendierte dazu, den „Wilden“ – ohne Geschichte, Schrift, Religion und Moral – als Teil einer untergehenden Welt zu sehen, die dokumentiert werden musste.28 Adolf Bastian, ein Freund Bachofens, gilt als Begründer der Disziplin der Völkerkunde in Deutschland. Er erhielt 1867 den ersten Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität Berlin und rief 1876 das ethnografische Museum in Berlin ins Leben. Bastian wollte durch die Museumsgründung die materiellen Zeugnisse von Völkern und Entwicklungsstufen sichern, deren Überleben selbst er als zweifelhaft oder zumindest historisch kontingent betrachtete: „Man spricht vielfach von einem Aussterben der Naturvölker. Nicht das physische Aussterben, soweit es vorkommt, fällt ins Gewicht, weil ohnedem von dem allmächtigen Geschichtsgang abhängig, der weder zu hemmen noch abzuwenden ist. Aber das psychische Aussterben, der Verlust der ethnischen Originalitäten ehe sie in Literatur und Museen für das Studium gesichert sind.“29
Die Anthropologie sah in den Gesellschaften Afrikas Relikte einer Urzeit, die zu Untergang und Verschwinden verdammt sei. Die Unterscheidung in „Kulturund Naturvölker“ legte nahe, dass nur einige Völker dazu in der Lage seien, „Kultur“ zu entwickeln. Die afrikanischen „Naturvölker“ hingegen wurden anhand von anthropometrischen Messungen, Werkzeugen und Geräten untersucht, denn man ging davon aus, dass sich darin ihre unmittelbaren und vermeintlich ahistorischen Reaktionen auf ihre Umwelt äußerten.30 Der Kontext des Imperialismus erlaubte es der Ethnologie und Anthropologie, die herkömmlichen akademischen Disziplinen herauszufordern und den interpretierenden und textorientierten Arbeitsweisen der Geschichte und anderer Geisteswissenschaften eine naturwissenschaftliche Methodik entgegenzusetzen. Im deutschsprachigen Raum machte sie dem historischen Humanismus den Platz als hegemonialer 28 Vgl. Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 1–2. 29 Adolf Bastian, Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen und seine Begründung auf ethnologische Sammlungen, Berlin 1881, S. 181. 30 Der Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität Basel unterschied zwischen physischer und sozialer Anthropologie. Bachofens Neffe, der Mediziner Carl Passavant, unternahm 1883 als Mitglied der „Naturforschenden Gesellschaft Basel“ eine Reise nach Kamerun, wo er „Craniologische Untersuchungen der Neger und der Negervölker“ vornahm. Er brachte zahlreiche Fotografien zurück nach Basel. Vgl. Jürg Schneider/Ute Röschenthaler/Bernhard Gardi (Hg.), Fotofieber. Bilder aus Westund Zentralafrika. Die Reisen des Carl Passavant 1883–1885, Basel 2005.
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Ideologie streitig und warb für eine naturwissenschaftliche und transnationale Ideologie, die im Einklang mit der Politik eines Kolonialreiches stand.31 Während Johann Jakob Bachofen mit Verweis auf die Sammlungstätigkeit der Missionare ironisch erzählte, er habe seine ganze Feldforschung in Pantoffeln vorgenommen, professionalisierte sich die Völkerkunde rapide. Die Rolle der Missionare wandelte sich in der ethnologischen Wissensproduktion in den 1880er-Jahren entscheidend. Nun gingen die Anthropologen an den europäischen Universitäten dazu über, eigene Fachkräfte auszusenden. Die neue Gruppe der Wissenschaftler vor Ort setzte sich vornehmlich aus Männern zusammen, die eine akademische, meist naturwissenschaftliche, Vorbildung besaßen und sich selber zu Ethnologen erklärt hatten.32 Diese neue Rollenverteilung brachte Missionare bereits um die Jahrhundertwende um ihre Funktion als Feldforscher. Sprachkenntnisse und der langjährige Aufenthalt vor Ort wurden hinter das Kriterium der wissenschaftlichen Ausbildung zurückgestellt. Daraus entwickelte sich ein Gegensatz zwischen Missionaren und Wissenschaftlern, der sich mit der Aussendung ausgebildeter Völkerkundler im zwanzigsten Jahrhundert endgültig etablierte. Als Informanten schätzte man Missionare zwar durchaus weiterhin, versuchten sie aber sich die Rolle eines Wissenschaftlers vor Ort zu erstreiten, wurde ihre Arbeit von allen Seiten heftig angegriffen.33 Dieser Umstand erklärt auch, warum die Missionare als Akteure einer globalen Wissensgeschichte lange aus der säkularen Geschichtsschreibung ausgeschlossen waren. Den Beitrag der Missionare am Wissen über Afrika und seinen Einwohnern zu vernachlässigen, heißt aber, die Ausstrahlungskraft der Missionsausstellungen auf breite Bevölkerungsschichten zu unterschätzen und den populären Charakter der Ethnologie um 1900 zu verkennen.
Der Exot und sein Publikum: Mission, Ethnologie und Populärkultur Die Völkerkunde entstand als Disziplin aus dem öffentlichen Interesse am Exotischen im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Die Popularisierung der Wissenschaften in Europa förderte das Entstehen neuer 31 Vgl. Zimmerman, Ethnologie im Kaiserreich, S. 191. 32 Vgl. Harries, Anthropology. 33 Vgl. Völker, Missionare als Ethnologen, S. 173–174.
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Theorien über die Menschen und Entdeckungen, die man auf dem „dunklen Erdteil“ machte.34 Diese entwickelten Metaerzählungen halfen auch breiten Bevölkerungsschichten, die sich rasch globalisierende Welt zu erklären. Der jungen Wissenschaft der Ethnologie bereitete die Nähe zur Massenkultur durchaus Unbehagen. Ironischerweise führten aber gerade die populären Aushandlungen von ethnologischem Wissen, so wie sie in den zahlreichen Vereinen und Ausstellungen stattfanden, zur Etablierung und Anerkennung der Ethnologie als Wissenschaft.35 Nicht nur als Sammler ethnografischer Objekte und Aufzeichner von Lebensweisen waren Missionare für die Entstehung der Ethnologie zentral, sondern auch als Popularisierer ethnologischen Wissens in Europa. Die Basler Mission nutzte die populärwissenschaftliche Neugier an der außereuropäischen Welt, um die Mission bekannt zu machen. In einer Rede über die „Vielgestaltigkeit unserer Werbearbeit“ führt der Sekretär der Basler Mission 1912 aus, Vorträge und Referate „von belehrendem bzw. populärwissenschaftlichem Charakter“ bei Konferenzen oder in Vortragszyklen in Stuttgart, Wiesbaden und Basel täten gute Werbedienste. In weiten Kreisen sei der „Missionsstundenton“ verpönt, andere wären nie in eine Missionsstunde zu bringen, aber solche Vorträge würden auf weitgehendes Interesse treffen.36 Die Missionsgesellschaft warb mit ihren populär-ethnografischen Ausstellungen massenwirksam für religiöse Inhalte. Der Korrespondent der Basler Nachrichten in Zürich stellte fest, dass viele Ausstellungsbesucher kaum eine Ahnung von der Mission hätten und nur aufgrund des gut gewählten Namens „ethnographische Ausstellung“ gekommen seien. Die Schau vermöge das Interesse und die freundliche Mithilfe am weltumfassenden Werke der Mission in den Menschen wachzurufen, die ihm bisher fern gestanden hätten. Er rief dazu auf, „Afrika, Indien und China in Zürich!“ dürfe sich niemand entgehen lassen: „Es ist ein Anschauungsunterricht in des Wortes
34 Vgl. Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848– 1914, München 1998. 35 Vgl. Zimmerman, Science and Schaulust, S. 88. 36 Vgl. Georg Müller, Unsere Werbearbeit mit besonderer Berücksichtigung neuer Methoden. Referat an der Reisepredigerkonferenz in Freudenstadt, 1912, BM, QH-14,1, S. 2–3.
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bester Bedeutung, wie wir ihn reichhaltiger und farbenprächtiger uns nicht wünschen könnten“.37 Die Missionsleitung scheute keine Mühen und Kosten, ihre Ausstellungen zu den anschaulichsten, modernsten und unterhaltsamsten Darstellungen fremder Räume und Völker zu machen. Sie erwarb die neuesten Lichtbildapparate, ließ allein im Jahr 1912 für 3 000 Schweizer Franken neue Platten für die Lichtbildvorführungen erstellen. 1910 füllten die Gegenstände der Wanderausstellung bereits zwei Eisenbahnwagons.38 Den Aufbau der Reiseausstellung in den jeweiligen Städten überließ die Zentrale in Basel nicht dem Zufall. Die Aufstellung der Gegenstände folgte einem Grundriss, auf welchem jeder einzelne Gegenstand eingezeichnet war. Auch bei der Ausschmückung des Raums wollten die Missionsleiter genau bestimmen, wie er auszusehen hatte. „Exotische Pflanzen“ seien notwendig, Tannen hingegen seien besser nicht zu verwenden, „weil im Widerspruch mit dem Charakter unserer Missionsgebiete“.39 In jeder Abteilung sollte wenigstens ein Missionar stehen, der schon einige Male an Ausstellungen mitgearbeitet hatte und im Stande war, Lichtbildvorträge zu halten. Die Ausführungen verdeutlichen, dass die Basler Mission viel in ihre Ausstellungskonzeption investierte. Sie sollte möglichst authentisch wirken und damit weite, auch missionskritische Bevölkerungsteile erreichen. Wie eingangs beschrieben, fungierten die Basler Missionsausstellungen als lebensnahe Popularisierung ethnologischen Wissens. Anders als bei den ethnologischen Beobachtungen, die Teil der Ausbildung der angehenden Missionare waren, lag der Missionsleitung bei den öffentlichen Ausstellungen nicht besonders viel am Wahrheitsgehalt des vermittelten Wissens. Dass das Führungspersonal hin und wieder unrichtige Erklärungen lieferte, die mehr der Fantasie der Erklärenden als der Wirklichkeit entsprach, könne nicht geleugnet werden, gab sie offen zu. Das Publikum sei aber merkwürdig kritiklos, beruhigte sie die Leserschaft des Heidenboten.40 Je fremder, exotischer und unterhaltsamer die Eindrücke waren, desto mehr Besucher, Eintrittsgelder und potenzielle neue Missionsfreunde durfte die Missionsgesellschaft 37 Anonym, Zur ethnographischen Ausstellung der Basler Mission in Zürich. Korrespondenz, in: Basler Nachrichten, 11.03.1909. 38 Vgl. Müller, Unsere Werbearbeit, S. 3 39 Zusammenfassung der Referate. Reisepredigerkonferenz in Freudenstadt, 1910, BM, QH-14,1. 40 Vgl. Anonym, Die Missionsausstellung in Zürich, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1909, S. 37.
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erwarten. Durch die Aufnahme exotischer Elemente eröffnete sich eine imaginäre Dimension, die im Gegensatz zu den alltäglichen Erfahrungen der europäischen Besucher stand. Die Basler Nachrichten hatten bereits zur ersten Missionsausstellung in der Basler Kunsthalle 1908 einen Korrespondenten geschickt, der urteilte: „Wir sind sicher, dass namentlich die reichhaltige afrikanische Abteilung mit ihrem tiefen Einblick in eine ferne Welt ganz fremdartiger Vorstellungen jeden Besucher fesseln wird.“41 Er sollte sich nicht täuschen. Da die erste Missionsausstellung sehr gut besucht war und allgemein auf großes Interesse stieß, folgten ein Jahr später Ausstellungen in Zürich und St. Gallen, 1910 in Stuttgart, Karlsruhe, Straßburg, Kassel und Wiesbaden. Allein in diesem Jahr konnten die Basler Missionare an ihren Ausstellungen in fünf deutschen Städten und der gesamten Schweiz insgesamt eine Viertelmillion Besucher begrüßen.42 Die AfrikaAbteilung der damaligen Reiseausstellung der Basler Mission wurde 1911 in Müllheim gezeigt. Zwei Jahre später kam die ganze Ausstellung einige Wochen nach Freiburg im Breisgau, um dann über den Rhein nach Colmar transportiert zu werden. 1914 folgten eine Ausstellung im Reichstagsgebäude in Berlin und die Teilnahme an der Schweizerischen Landesaustellung in Bern. Die Sammlung der Basler Mission war bis zur letzten Ausstellung 1953 an über vierzig Orten zu sehen.43 Die Anfänge der Basler Missionsausstellungen fallen in die Hochphase der Zurschaustellung fremder Räume, Tiere und Menschen in den europäischen Metropolen. Die Veranstalter der kommerziellen ethnografischen Ausstellungen waren scharfsinnige Geschäftsleute, die das wirtschaftliche Potenzial der Unterhaltungsbranche und die gesellschaftliche Aufwertung der Naturwissenschaften als geeigneten Rahmen für den Vertrieb ihrer Produkte erkannten.44 Das komplexe Gefüge von Natur, Mensch und Gesellschaft sollte in den zoologischen Gärten und Attrappendörfern der Landes-, Welt41 Anonym, Basler Missionsausstellung in der Kunsthalle, in: Basler Nachrichten, 21.10.1908. 42 Vgl. Zusammenfassung der Referate. Reisepredigerkonferenz in Freudenstadt, 1910, BM, QH-14,1. 43 Vgl. Guy Thomas, Die Basler Mission als „Global Player“. Zwischen Selbstverständnis und Fremdkultur, in: Historisches Museum Basel (Hg.), In der Fremde. Mobilität und Migration seit der frühen Neuzeit, Basel 2010, S. 166. 44 Vgl. Sierra A. Bruckner, Spectacles of (Human) Nature. Commercial Ethnography between Leisure, Learning and Schaulust, in: H. Glenn Penny/Matti Bunzl (Hg.), Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, S. 127–155, hier S. 130–131.
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und Kolonialausstellungen global erklärt und unterhaltsam veranschaulicht werden. Einer der erfolgreichsten Veranstalter solcher Unterhaltungsshows war der Hamburger Tierhändler und Zoodirektor Carl Hagenbeck. Er kompensierte, wie er in seinen Memoiren berichtet, die Konjunkturschwächen im Handel mit exotischen Tieren seit Mitte der 1870er-Jahre durch die Errichtung sogenannter anthropologisch-zoologischer Ausstellungen.45 In diesen wurde die exotische Tier- und Menschenwelt zusammen mit reichhaltigen ethnografischen Sammlungen wie in einem belebten Diorama zur Anschauung gebracht. Während der zoologische Rahmen für die wissenschaftliche Legitimierung der Schaulust an menschlichen Objekten sorgte, sollte durch ethnologisches Wissen zunehmend auch das Unterhaltungspotenzial abgeschöpft werden. Fremde Sitten und Gebräuche wurden auf den sogenannten Völkerschauen erst in dem Maße zum Thema, wie sie auch bühnenwirksam präsentabel waren.46 Es reichte nicht einen Afrikaner auszustellen, er musste „wild“ sein, denn je fremder er schien, desto spektakulärer war die Show. In einer Missionszeitung aus dem Jahr 1905 wird beispielsweise von einem zur Schau gestellten Afrikaner berichtet: „[...] da musste er, um recht wild zu erscheinen, lebendige Tauben zerreissen und blutig verschlingen, rohes Fleisch essen, vor einem Ochsenkopf niederknien und ihn anbeten, mit einer Keule herumtoben und tun, als ob er in seinem wilden Lauf auf der Jagd wäre oder in den Krieg zöge.“47
Bei der inszenierten Primitivität und Natürlichkeit ging es weniger darum, ein möglichst authentisches Bild der jeweils ausgestellten Kultur zu vermitteln, sondern die Betonung lag vielmehr auf der Präsentation der Ethnien als sogenannte Naturvölker.48 Das angeblich primitive Leben der Afrikaner wurde hinter einer Absperrung oder einem Zaun dem Staunen des vermeint45 Vgl. Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen, Berlin 1909, S. 80. 46 Vgl. Kirschnick, „Hereinspaziert!“, S. 221–241. 47 Zit. nach Peter Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewusstsein der Deutschen, Hamburg 2001, S. 224. 48 So war es die gängige Praxis einiger Schausteller in Ermangelung „echter Wilder“ auf Menschen schwarzer Hautfarbe, die man in Europas Großstädten oder in Amerika angeworben hatte, zurückzugreifen, damit sie auf Jahrmärkten den „wilden Mann“ markierten.
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lich zivilisierten Publikums in der Metropole preisgegeben.49 Auf der einen Seite stand das Außereuropäische als Faszinosum, das aber auf der anderen Seite in einer Abgrenzungsbewegung dazu diente, die eigene kulturelle Überlegenheit herzustellen und zu festigen.50 Bei der Verhandlung von kulturellem Wissen geht es letztlich um die Erkundung des Menschen und dessen Quintessenz. Die alte Frage „Was ist der Mensch?“ gewann in den Zoogehegen und sogenannten Negerdörfern der Welt- und Kolonialausstellungen eine neue Dimension.
Menschenbilder: Der Afrikaner zwischen Natur und Kultur Um 1900 setzte sich in Europa mit den sogenannten Völkerschauen eine Praxis durch, die in dieser Form noch drei Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wäre. Zwar hatte es die Zurschaustellungen exotischer Menschen auch schon in früheren Jahrhunderten, in Westeuropa zumindest seit dem Zeitalter der Entdeckungen, gegeben.51 Im Zeitalter der Aufklärung und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein konnte jedoch eine gewerbsmäßige Ausstellung von Menschen, ob nun zu wissenschaftlichen oder unterhaltsamen Zwecken, keineswegs auf ungeteilte Zustimmung hoffen. Überliefert ist der Fall von einer im Zoo von Basel 1837 gezeigten südamerikanischen Indianerin. Dass die Frau dort zusammen mit dem „unvernünftigen Vieh“ in würdeloser Gefangenschaft gehalten und neugierigen Blicken preisgegeben wurde, empfanden viele Zeitgenossen seinerzeit als skandalös.52 Die Empfindungen hatten sich um die Jahrhundertwende radikal geändert. Die Völkerschauen wandelten sich von einem höfisch-feudalen Ritual zu einem Phänomen der Massenkultur. Anne Dreesbach zählt in ihrem grundlegenden Werk zu den Schauen in Deutschland mehr als 300 Menschengruppen, die allein in Deutschland zwischen 1870 und 1940 zu sehen waren und bis zu 60 000 Besucher pro Tag anlockten.53 Dieser Bruch verweist auf ein neues, naturwissenschaftliches Menschenbild, das im Zeitalter des Imperia49 Vgl. Matthias Fiedler, Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2005, S. 225. 50 Vgl. Hodeir, Decentring the Gaze at French Colonial Exhibitions. 51 Vgl. Gründer, Indianer, Afrikaner und Südseebewohner in Europa. 52 Vgl. Balthasar Staehelin, Völkerschauen im Zoologischen Garten Basel 1879–1935, Basel 1993, S. 124. 53 Vgl. Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 11.
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lismus in der breiten Öffentlichkeit Verbreitung fand. Die Natur wurde im Zuge des fortschreitenden Ausgreifens Europas in die Welt zunehmend systematisiert. Der Mensch galt fortan gemeinhin nicht mehr als die Krönung der Schöpfung, sondern wurde mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung als den Naturgesetzen unterworfen gedacht. Die Einheit von Mensch, Natur, Zeit und Raum wurde zugunsten von dichotomen und dualistischen Konzepten gespalten, was schließlich unter anderem auch zu einer Hierarchisierung der Menschen führte.54 Für die Ethnologen waren die Naturvölker natürlich, weil sie vermeintlich weder Schrifttum noch Geschichte noch Kultur besaßen. Damit betonten die Ethnologen einen radikalen Bruch innerhalb der Menschheit. Kultur war für sie kein universeller menschlicher Besitz. Natur besäßen alle Menschen, aber nur einige seien in der Lage, mit der Natur zu brechen und Kulturvölker zu werden.55 Im Gegensatz dazu vertraten die Basler Missionare einen dynamischen Kulturbegriff, der bereits im Kontext des humanistischen Bildungsgedankens formuliert worden war. Die Konstruktion Afrikas als geschichtsloser Kontinent bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel unterstrich, dass die europäische Kultur Herrschaft über die Natur bedeute. Gleichzeitig, und das kann als der gravierendste Unterschied zum naturwissenschaftlichen Menschenbild gelten, war der Aufstieg des Afrikaners auf der vermeintlichen Kultur- und Zivilisationsleiter möglich und auch anzustreben. Das Zeitalter der Erziehung brachte regelrechte Erziehungsexperimente hervor, die beweisen sollten, dass auch die Menschen des ersten Gliedes der Seinskette das Potenzial zur Bildung in sich trügen.56 Für die Basler Missionare war es von zwingender Bedeutung, dass der Afrikaner erzogen und somit gerettet werden könne. Im Selbstverständnis einer Kulturträgerin verfolgte die Basler Mission in Kamerun eine umfangreiche Zivilisierungsmission. Der Anspruch dieser kulturellen Hebung bestand in dem Versprechen einer umfassenden gesellschaftlichen Höherentwicklung, der Vermittlung technischen Fortschritts, der Abschaffung despotischer Herrschaft, einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf Emanzipation und Partizipation basierte, sowie der Einführung moderner kultureller Dispositionen. Zugleich beinhaltete sie eine Absage an Zauberei, Wahrsagerei und Aber54 Aïssatou Bouba/Detlev Quintern, Zur Verwissenschaftlichung des europäischen Afrikabildes, in: dies. (Hg.), Das Bild von Afrika. Von kolonialer Einbildung zu transkultureller Verständigung, Berlin 2010, S. 107. 55 Vgl. Zimmerman, Ethnologie im Kaiserreich, S. 199–204. 56 Vgl. Martin, Schwarze Teufel, S. 298.
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glaube, die durch das Christentum und eine weltliche Bildung ersetzt werden sollten. Die Missionare profilierten ihre Zivilisierungserfolge in den ethnografischen Ausstellungen mithilfe von Schülerarbeiten. Die Missionsschulen boten den ultimativen Beweis, dass sogenannte Eingeborene fähig waren, ihrer heidnischen Umgebung zu entkommen und sich dem christlichen Leben zuzuwenden. Der Ausstellungskatalog verweist auf die Schulhefte der über 10 000 Schüler in Kamerun. Den afrikanischen Kindern wird eine „natürliche Geschicklichkeit“ im Flechten und Zeichnen zugeschrieben.57 In der Würdigung der spirituellen und scheinbar naturgegebenen Disposition der afrikanischen Naturvölker offenbart sich der paternalistische Fortschrittsbegriff der Missionare, die sich als Verfechter einer religiösen, sozialen, wirtschaftlichen und medizinischen Entwicklungsstrategie verstanden. Die Ausstellungslogik folgte einem Muster, das sowohl auf die Dringlichkeit als auch auf den Erfolg der Missionsarbeit in der außereuropäischen Welt aufmerksam machte. Während die düstere Darstellung des afrikanischen Aberglaubens und seiner Praxen eindrucksvoll von der schweren Aufgabe der Missionare in Kamerun zeugte, diente das hoffnungsvolle Bild der sogenannten Eingeborenen als Beweis für die gelungene Missionierung. Die visuelle Kommunikation eignete sich besonders gut, um die Erfolgsgeschichten der Basler Missionare einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Die fotografische Inszenierung von Njoya etwa, dem König von Bamum, bietet ein eindrückliches Beispiel für den visuellen Erzählstil der Missionare. Er wurde in der völkerkundlichen Ausstellung gleich auf zwei Fotografien, einmal im Landeskleid und einmal in Offiziersuniform, gezeigt.58 Diese doppelte Bildersymbolik ermöglichte den Besuchern, den kulturellen Wandel des afrikanischen Oberhaupts auf einen Blick nachzuvollziehen. Auf dem ersten Bild (Abb. 3) verkörpert er das raue Heidentum. Njoya sitzt auf seinem Fetischthron im afrikanischen Busch und zeigt eine grimmige Miene. Sein Thron lässt auf den verderblichen Aberglauben schließen, seine Kleidung auf Einflüsse des Islam. Seine Untertanen wirken gewalttätig und jederzeit bereit, mit ihren Waffen die eigene Bevölkerung und die Feinde ein57 Vgl. Führer durch die Völkerkundliche Ausstellung der Basler Mission, 1908, BM, Schachtel Missionsmuseum, ohne Signatur, S. 6–7. 58 Unter den Bildern stand der Verweis, sämtliche Fotografien könnten beim Missionsmuseum in Basel erworben werden. Vgl. Führer durch die Völkerkundliche Ausstellung der Basler Mission, 1908, BM, Schachtel Missionsmuseum, ohne Signatur, S. 7.
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Abb. 3 Eugen Schwarz, König Njoya auf seinem Thron in Fumban, 1907/1912, Bildarchiv der BM, bmpix.org, E-30.29.046.
zuschüchtern. Auf der zweiten Fotografie (Abb. 4) posiert Njoya in deutscher Gala-Uniform neben den Missionaren als „Freund der Basler Mission“. Er tritt damit aus der Dunkelheit und Bedeutungslosigkeit des Aberglaubens und der Natur aus und wendet sich dem Christentum und der westlichen Sittlichkeit zu. Missionar Martin Göhring erklärt, Njoyas „politische Klugheit“ habe ihn zum Freund der Deutschen gemacht. Und dass der „Häuptling“ auch ein Freund der Missionare sei, habe seinen Grund gewiss nicht nur in der Klugheit, sondern auch in dem „Verlangen nach Erkenntnis der höchsten Dinge, in einem aufrichtigen Suchen nach Wahrheit.“59 Den Besuchern der Missionsausstellungen wurde damit versichert, dass in Kamerun nach gründlicher Missionsarbeit nicht mehr Lug und Trug des Fetischpriesters, sondern Bildung und Wahrheit der europäischen Missionare herrschte. An die Stelle der Lüge sei die Wahrheit getreten, an die Stelle des „heidnischen Schmutzes“ die „christliche Reinheit“, an die Stelle der Selbstsucht die Liebe. „Es ist in der Tat“, so fasste es Missionsinspektor Oettli zusammen, „ein Übergang aus der Finsternis ins Licht, aus dem Tod ins
59 Martin Göhring, Die Bamum-Schrift, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1907, S. 86.
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Abb. 4 Johannes Leimenstoll, König Njoya von Bamum in Gala-Uniform, 1908, Bildarchiv der BM, bmpix.org, E-30.32.002.
Leben.“60 Der Sieg des Evangeliums und der europäischen Kultur implizierte die Zerstörung des Aberglaubens und des afrikanischen Lebens in der Natur. Die sogenannten Heiden würden erst Gottes Liebe erfahren können, wenn sie von ihren heidnischen Schäden und ihren natürlichen Trieben befreit seien.
Dikoki in der Gefangenschaft in Basel Besonders deutlich und fassbar konnte der Triumph über die Zauberei und Wahrsagerei anhand der ethnografischen Sammlung im Missionsmuseum und der zahlreichen Ausstellungen kommuniziert werden. Als Dikoki 1898 nach Basel kam, publizierte die Missionsleitung im Heidenboten einen Artikel, der erklärte „wie Dikoki, der grosse Götze, in die Gefangenschaft nach Basel gekommen ist.“61 Nachdem sie dem Leser nochmals verdeutlicht hatte, welche Gräueltaten von einem derartigen Fetisch in Kamerun ausging, erklärte sie: „Aber Dikoki ist gestürzt und in die Verbannung weggeführt worden; 60 Walter Oettli, Gegenwärtige Missionsprobleme der Basler Mission in Kamerun, 1911, BM, E. 28, S. 35. 61 Anonym, Der Riesengötze Dikoki aus Kamerun, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1898, S. 47.
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es ist ein Sieg des Evangeliums, das die Basler Missionare den Schwarzen bringen.“62 Missionar Nathanael Lauffer, der den Götzen nach Basel gesandt hatte, schilderte im Heidenboten, wie der Häuptling des Dorfes Ndo in der Nähe von Bombe ihm die Figur überlassen hatte. Er habe „wie die meisten afrikanischen Grossen“ das Verlangen, allerlei Dinge der europäischen Kultur in seinen Besitz zu bringen, dazu gehöre nun nach allgemeiner Überzeugung auch ein christlicher Lehrer, der lesen und schreiben kann.63 In Lauffers Schilderungen erscheint die Szene als Tauschgeschäft. In den Erklärungen zur Missionsausstellung 1912 hingegen wird Dikoki zu einem „Beutestück des Stärkeren“. Missionar Lauffer habe sich mit seinen Leuten auf den Weg durch den Urwald gemacht. Dort, wird dem Besucher erklärt, „musste sich’s Dikoki gefallen lassen“, dass man den Fortsatz hinter seinem Kopf oben absägte, dass man seine Füße aus dem Untersatz nahm und ihn fort trug in die Christenkapelle.64 Die Basler Mission stellte aus, was sie erobert hatte. Die Sammlung und Ausstellung der ethnografischen Gegenstände symbolisierte die Vereinnahmung des afrikanischen Kontinents. Die inventarisierten Artefakte dienten dabei als Symbole einer bekämpften Eigenartigkeit, als Relikte eines aussterbenden Naturvolkes. Die Darstellung der Fremdartigkeit des afrikanischen Lebens in der Natur diente nicht etwa einer Abgrenzung und Abwendung, sondern einer werbenden Massenkommunikation zur Integration Afrikas in die Weltgemeinschaft Gottes. Nicht das Fremde selbst trat auf, sondern eine Repräsentation unter spezifischen Auftrittsbedingungen: Dikoki wurde als erobertes Beutegut vorgeführt. Seine Gefangenschaft illustrierte den Erfolg der Entzauberung Kameruns. Für die Missionsleitung in Basel dienten die Artefakte aus Kamerun als Mittel zum Zweck und hatten keinen eigenen Wert. Sie waren Anschauungsmaterial im Unterricht und wurden zu Werbezwecken im Museum und in den öffentlichen Veranstaltungen ausgestellt. Sie wurden in Missionskoffern verstaut, mit denen die Missionare auf Reisen gingen, um ihre Vorträge authentischer zu gestalten, und waren damit beinahe ein ebenso selbstverständlicher Begleiter wie die Bibel. Für die Missionare repräsentierte der 62 Ebd., S. 48. 63 Nathanael Lauffer, Eine Siegesbotschaft aus Kamerun, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1899, S. 89–91. 64 Erläuterungen zur Basler Missions-Ausstellung, 1912, BM, N. 121, S. 4.
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„Kram in den Fetischhäusern“, so drückte es Missionar Jakob Keller aus, das „Heidentum in seiner niedrigsten Gestalt“.65 Die Verachtung der Missionare im Missionsfeld für den allfälligen ethnologischen, kommerziellen oder ästhetischen Wert der afrikanischen Artefakte kommt in den zahlreichen Artikeln zu den sogenannten Götzenverbrennungen in Kamerun zum Ausdruck. Karl Stolz berichtet 1905 im Heidenboten von der Bedeutung der Verbrennungen für die Arbeit auf dem Missionsfeld. Wenn bei einem solch „sieghaften Durchbruch einer höheren Erkenntnis der ganze Zauberkram von den Eingeborenen“ dem Feuer übergeben werde, so verkündige diese „Flammenschrift dem ganzen Land in Lapidarstil“, dass die „blutige Macht des Heidentums“ niedergehe und das „Morgenrot einer neuen Zeit“ im Anbruch sei.66 Dass die Vernichtung der Gegenstände nicht immer mit Einwilligung der Einheimischen geschah, verdeutlichen Paul Scheiblers Schilderungen. Er und Missionar Georg Hässig ließen die Losango-Gegenstände eines Stammes in Ndogomakumak ins Wasser werfen, weil sie nach dem „Glauben der Neger“ dadurch ihre Zauberkraft verlören. Damit befreiten sie aus ihrer Sicht die „verblendeten Leute“, die sich bis jetzt gegenseitig betrogen und durch ihre Gifte beständig bedroht hätten, von ihrer Last.67 Kritik an der missionarischen Praxis des Autodafé kam vonseiten der Ethnografen, die bedauerten, dass bei solchen Gelegenheiten viele interessante Gegenstände vernichtet wurden. Missionar Stolz aber erwiderte, dass dabei der Gewinn für die Christianisierung und die Zivilisierung des Landes ein unendlich größerer sei als der allfällige Verlust für eine Sammlung ethnografischer Gegenstände.68
Fazit Die Ethnologie wäre eine Wissenschaft ohne Objekte gewesen, hätte es nicht den Transfer von Waren, Menschen und Ideen gegeben, den die europäische 65 Jakob Keller, Die Reise nach Bakundu, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1893, S. 83. 66 Karl Stolz, Die Bekämpfung der Zauberei und Wahrsagerei in Kamerun, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1905, S. 20. 67 Paul Scheibler, Reisepredigt am oberen Sanaga in Ndogomakumak und Loghega, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1907, S. 11. 68 Vgl. Karl Stolz, Die Reise nach Bakundu, in: Der evangelische Heidenbote, Basel 1893, S. 83.
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koloniale Expansion möglich machte.69 Die Missionare halfen, die durch die Verdichtung und Ausweitung kultureller Kontakte sich vervielfachenden Informationen über Lebensweisen, Gesellschaften, politische Systeme und nicht zuletzt über verschiedenste Formen religiöser Sinnstiftung zu sammeln, zu klassifizieren und zu ordnen.70 Die Überdetermination der naturwissenschaftlichen Methodik und die Systematisierung und Strukturierung des Wissens in den 1880er-Jahren drängte sie allerdings aus dem Feld der institutionalisierten Anthropologie. Die Disziplin der Ethnologie formierte sich als Verschränkung von wissenschaftlichen und populärkulturellen Erzählungen vom Fremden. Die Popularität der sogenannten Völkerschauen und Negerdörfer im Europa des frühen 20. Jahrhunderts verweist auf tiefe Veränderungen im Menschenbild der Zeit. Während das an die Glaubenswelt gebundene Menschenbild der Missionare den gemeinsamen Ursprung des Menschengeschlechts betonte, ging der Eifer der Wissenschaftler dahin, den Menschen zu klassifizieren. Statt geschriebene Quellen zu interpretieren, betrachteten die Anthropologen Objekte, die sie denjenigen Menschen weggenommen hatten, die sie erforschten, darunter Schädel, Werkzeuge und andere Gebrauchsgegenstände als geeignete Untersuchungsgegenstände. Daraus entstanden dualistische Menschenbilder und dichotome Zeit- und Raumvorstellungen, in denen der Afrikaner und Afrika außerhalb der Kultur- und Menschheitsgeschichte standen. Zwar wurden sie nicht von allen Ethnologen der Zeit geteilt. In den populären Völkerschauen wurden aber insbesondere diese Bilder Afrikas in Szene gesetzt. Die Basler Mission bot der europäischen Öffentlichkeit um 1900 eine alternative Darstellung von Afrika und seinen Einwohnern. In der vermeintlichen Gründerzeit eines säkularen Zeitalters warb sie massenwirksam für religiöse Inhalte. Bei einer Unterredung von Missionar Ferdinand Ernst mit Njoya über den Inhalt der Bibel habe der König von Bamum ihn gefragt, „werden die Weißen nicht anders gerichtet?“ Nein, sagte Ernst, „in eben diesem Buch steht auch geschrieben: Vor Gott ist kein Ansehen der Person, das
69 Vgl. Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, S. 7. 70 Zum Beitrag von Missionaren an der Formierung von globalen Wissensräumen vgl. Rebekka Habermas, Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 257–284; dies., Mission im 19. Jahrhundert. Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629–679.
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Abb. 5 Die Basler Missionsgebiete, in: Führer durch die Völkerkundliche Ausstellung der Basler Mission, 1908, BM, Schachtel Missionsmuseum, ohne Signatur.
heisst Gott schaut nicht auf die Haut, sondern auf das Herz.“71 Die Basler Missionare postulierten eine einzige, universal gültige und kulturunabhängige Form des Christentums, die allen Menschen näher gebracht werden sollte. Der in Kamerun tätige Missionar Jakob Keller schrieb 1926 in seinem Religionsvergleich: „Es ist eine auffallende Tatsache, dass der ganzen Menschheit ein Gemeingut in Beziehung auf Gott und Gotteserkenntnis, Abhängigkeitsgefühl von einem höchsten Wesen, Bewusstsein von Schuld und Sühne und den daraus entspringenden ethischen und sozialen Gesetzen, eigen ist.“72
Im Heidentum seien die religiösen Grundgedanken wohl „verdeckt“ und „verschüttet“ und treten unklar und verwischt, der bewussten tiefsten Bedeutung oft entbehrend, zutage, zeugten aber doch von dem Vorhandensein eines göttlichen Urgesetzes in den Herzen, hielt Jakob Keller fest.73 Afrikaner erschei71 Zit. nach K. Hauss, Der Pionier der Balimission. Aus dem Leben von Ferdinand Ernst, Basel 1910, BM, Kt. VI, 3, S. 55. 72 Jakob Keller, Goldkörner im heidnischen Urgestein. Ein Vergleich der Sitten und Gebote Israels, hauptsächlich im Pentateuch, mit denen der Heiden in Kamerun, Basel 1926, BM, M.II.b, S. 3. 73 Vgl. ebd., S. 30.
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nen in diesen Äußerungen als Geschöpfe Gottes, und nicht als Repräsentanten einer frühen menschlichen Entwicklungsstufe. Missionare trugen mit den Übersetzungen ihrer Kulturkontakte zur Entstehung eines globalen Raumes bei, der sich nicht säkular, sondern religiös formierte. Durch die Vereinigung ihrer vier Hauptmissionsgebiete, Indien, China, die Goldküste und Kamerun in einem Raum inszenierte die Basler Missionsgesellschaft die architektonische Metapher der Weltgemeinschaft unter einem Dach. Die ethnografischen Ausstellungen befriedigten die Faszination für die Vielfalt der Welt in der Einheit des Raumes. Die Karte der Basler Missionsgebiete (Abb. 5), die auf der Rückseite der Ausstellungsbroschüre aufgedruckt war, verbindet das Zentrum in Basel mit den Missionsfeldern in der Peripherie, die Christen in der Heimat mit denjenigen in der Fremde, die kleine Schweiz mit der großen weiten Welt. Die eigene Arbeit gewann durch den Verweis auf den globalen Maßstab des Wirkungsraums an Bedeutung. In diesem Sinn strahlte die Missionsarbeit der Basler hinaus in die Welt, schuf neue globale Kontaktstrategien und trug zur Definition eigener Werte und Normen in Europa bei. Der Fokus auf die Wissensgeschichte, und nicht etwa die Wissenschaftsgeschichte, ermöglicht neue Einblicke in die Arbeit der Missionen weltweit. Dabei müssen die Missionare viel stärker als bisher als vielschichtige und paradoxe Akteure untersucht werden. In Afrika verfolgten sie eine spezifisch religiöse Agenda, trugen durch ihre Arbeit aber auch zur Verbreitung von säkularen Rationalitätskonzepten und Modernitätsvorstellungen bei. In Europa beteiligten sich die Missionare durch ihre ethnografischen Beobachtungen an der Formierung einer neuen Wissenschaft vom Menschen. Die Faszination für die Andersartigkeit der Afrikaner verlangte nach wissenschaftlichen Erklärungen und ermöglichte zugleich ihre Vermarktung und Kommerzialisierung. Die Ausführungen haben gezeigt, dass der dynamische Kulturbegriff der Missionare im klaren Gegensatz zum zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Menschenbild stand und damit auch zu den populären sogenannten Negerdörfern und Völkerschauen.
„Mitleid“ über große Distanz Zur Fabrikation globaler Gefühle in Medien der katholischen Mission, 1890–1940 Richard Hölzl
Gefühle sind schwer in Worte zu fassen.1 Noch schwerer ist dies bei historischen Gefühlslagen – denn die Begriffe, mit denen wir Gefühle beschreiben, unterliegen ebenso einem historisch-semantischen Wandel, wie die individuellen und kollektiven Gefühlslagen im Bezug auf bestimmte Probleme sich mit der Zeit verändern. Dies gilt auch für „Mitleid“ im globalen Kontext. Der heutigen Debatte über humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe ist der sozialtechnologische Optimismus der 1940er- bis 1970er-Jahre vollkommen abhanden gekommen. Der Begriff „Mitleid“ hat seine positive Konnotation verloren und die Gefühlslage, die er beschreibt, lässt sich nur noch schwer in beschreibender Distanz untersuchen. Aus drei unterschiedlichen Richtungen wurde diese Perspektivenverschiebung angestoßen. Die erste Richtung könnte man als populistische bezeichnen; sie wird vor allem durch das populäre Sachbuch vorangetrieben und greift die bange Frage von Spendern und Spenderinnen auf: Werden meine Spendengelder richtig eingesetzt? Die Rede von der „Mitleidsindustrie“,2 die hart umkämpfte Spendermärkte bewirtschafte, verunsichert die, die helfen wollen. Unterstellt wird meist, dass mit dem schlechten Gewissen der reichen Europäer und Europäerinnen Geld gemacht werde. Hilfsorganisationen reagieren mit ausgefeilten Werbemethoden. Non-Profit-Marketing ist zu einem eigenen Berufsfeld geworden. Jenseits dieser populistischen Varianten haben in den letzten Jahrzehnten insbesondere zwei sehr ernstzunehmende kulturwissenschaftliche Ansätze 1 Für Korrekturen und Hinweise danke ich Albert Gouaffo, Karolin Wetjen, Tobias Mertke. 2 Aus der Fülle der Titel gegriffen: Linda Polman, Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen, Frankfurt a. M. 2010; schon 1898 warnte die katholische Caritas-Zeitschrift vor der „Bettelindustrie“, zit. nach: Oliver Müller, Mehr als Almosen. Plädoyer für eine christliche Spendenkultur, Köln 2006, S. 245.
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auf die Probleme des humanitären Engagements und der dahinter stehenden Motivationen und Emotionen hingewiesen: die postcolonial studies sowie die Mediensoziologie. Vertreter des Postkolonialismus haben Entwicklungshilfe und -politik als Weiterentwicklung des Orientalismus im Sinne Saids begriffen – als Form diskursiver Machtausübung nach dem Ende der formellen Kolonialherrschaft.3 Die Medienkritik der 1980er hingegen hat vor den Wirkungen gewarnt, die die ständige Präsenz von Leid und Gewalt in Bildmedien (Fotografie und Fernsehen) auf die Empathie-Fähigkeit der Betrachter ausübe. Ihre Vertreter fürchten ein Abstumpfen, Gleichgültigkeit, das Entstehen innerer Distanz.4 Beide Formen der kritischen Analyse haben wertvolle Erkenntnisse hervorgebracht. Dass im Entwicklungsdiskurs koloniale Hierarchisierungen und asymmetrische Differenzbildungen zwischen „the West and the Rest“5 fortgeführt wurden, dürfte kaum zu bestreiten sein, ebenso wenig die Bedeutung der Medien in diesem Diskurs. Die spezifische Medialität, in der das Leiden Anderer im 20. Jahrhundert repräsentiert wird, befeuert den historischen Wandel individueller wie kollektiver Gefühlslagen. Allerdings argumentiere ich im Folgenden, (1) dass Differenz nicht das einzige Dispositiv ist,6 das diesen Diskurs treibt, dass es vielmehr ein zweites Motiv – eine Basslinie – gibt, die vor allem Empathie und Mitgefühl mit „Anderen“ hervorbringen will.7 Mithin wird kulturelle und emotionale Dis3 Vgl. Arturo Escobar, Encountering Development: the Making and Unmaking of the Third World, Princeton, NJ 1995; Hubertus Büschel/Daniel Speich (Hg.), Entwicklungswelten: Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt a. M. 2009; Valentin Y. Mudimbe, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, London 1988; die Beiträge in WerkstattGeschichte 57 (2011) 1, Themenheft „Soziale Missionen“. 4 Vgl. Susan Sontag, Regarding the Pain of Others, London 2003 und Luc Boltanski, Distant Suffering. Morality, Media, Politics, Cambridge 1999. 5 Stuart Hall, The West and the Rest. Discourse and Power, in: ders./Bram Gieben (Hg.), Formations of Modernity, Cambridge 1992, S. 275–320. 6 Hall weist darauf hin, dass Differenz die Voraussetzung ist, um überhaupt Bedeutung generieren zu können, und kritisiert daher lediglich bestimmte Formen der Alterisierung – Rassismus, Fetischismus, Naturalisierung. Stuart Hall, Das Spektakel des ‚Anderen‘, in: Ders., Ideologie, Identität, Repräsentation (Ausgewählte Schriften 4), 2. Aufl. Hamburg 2008, S. 108–166. 7 Folgt man dem Sozialpsychologen Scheler, so setzt Mitgefühl – und seine Varianten Mitleid und Mitfreude – Differenz voraus. Eine vollständige „Einsfühlung“ – unter Aufgabe jeglicher Ich-Differenz – ist nach Scheler streng von Mit-Gefühl zu unterscheiden. Vgl. Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 2. Aufl. Bonn 1923, S. 4–39.
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tanz in einem solchen Diskurs ausgehandelt und dabei vergrößert, zugleich aber auch wieder verringert und überbrückt. Ich argumentiere außerdem, (2) dass zumindest jene Formen der Empathie, die über Face-to-faceGemeinschaften hinausgehen, kulturelle Produkte und demnach historisch geworden sind. Mitleid über große kulturelle wie räumliche Distanz kann mithin nicht vorausgesetzt werden, sondern muss als diskursiv produziert verstanden werden. Die mediensoziologische Kritik konstatiert zwar einen Prozess der zunehmenden Abstumpfung und Distanz zum Leiden Anderer durch dessen ubiquitäre mediale Präsenz. Eine ahistorische, anthropologische Grundempathie wird dabei aber anscheinend vorausgesetzt. Um diese Thesen zu belegen, untersuche ich eine spezielle Variante von Texten aus dem Feld der katholischen Mission: Kinder- und Jugendliteratur. Diese literarische Gattung wurde um 1900 Teil des Standardrepertoires, mit dem die Missionen in Europa für ihre Arbeit in allen Teilen der Welt warben. Kinderzeitschriften, Kalender und Abenteuerbücher zirkulierten in hohen Auflagen in katholischen Haushalten, Pfarrbibliotheken und Schulen.8 Die Jugendbuchreihe „Aus fernen Landen“, die von dem Jesuiten Joseph Spillmann bei Herder herausgegeben wurde, hatte 1926 eine Gesamtauflage von 900 000 Stück erreicht.9 Der „Heidenkindkalender“, den die Missionsbenediktiner auflegten, erreichte ab den 1920er-Jahren eine Auflage von jährlich über 120 000 Stück.10 Ebenso erfolgreich war ihre Kinderzeitschrift „Das Heidenkind“ (ab 1887) mit einer Auflage von 80 000. Etwas kleinere Auflagen hatten die Kinderzeitschrift der Mariannhiller Mission „Das Missionsglöcklein“ und „Der kleine Missionar“ der Pallotiner-Mission. Zu den frühesten Kindermissionszeitschriften zählte die „Kleine Africa-Bibliothek“ der St.-Peter-Claver-Sodalität, die seit 1893 erschien.11 Daneben waren viele 8 Vgl. die Zusammenstellungen von Bernard Arens SJ, Die Mission im Familienund Gemeindeleben, Freiburg/Br. 1918, S. 76–81, und Odorich Heinz, Religionsunterricht und Heidenmission. Ein Weckruf für die Jugendmissionsbewegung, Freiburg i. Br. 1914. 9 Spillmanns Abenteuergeschichte „Liebet eure Feinde! Eine Erzählung aus den Maori-Kriegen auf Neuseeland“ (Freiburg i. Br. 1926) etwa hatte in der 21. Auflage 50 000 Stück erreicht. 10 Kinderkalender veröffentlichten außerdem die St. Peter-Claver-Sodalität, die Pallotinerinnen und der Verein der Hl. Kindheit Jesu. Vgl. Arens, Mission im Familien- und Gemeindeleben, S. 76 11 Kleine Africa-Bibliothek. Illustrierte katholische Monatsschrift zur Förderung der Liebe zu unseren ärmsten schwarzen Brüdern 1 (1893) und ab 18 (1912) Das Negerkind. Illustrierte Monatsschrift für Kinder.
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Missionszeitschriften für Erwachsene mit Kinderteilen ausgestattet, allen voran das in drei Sprachen vertriebene Flaggschiff „Die katholischen Missionen“ mit einer „Beilage für die Jugend“, aber auch kleinere Zeitschriften, wie das „Afrikanische Missions-Glöcklein“ der elsässischen Missions Africaines, integrierten eine „Kinderecke“.12 Die Kinderangebote der protestantischen Mission, für die Erhebungen noch fehlen, dürften nicht weniger erfolgreich gewesen sein. Der zu untersuchende Korpus beschränkt sich nicht auf Erzählungen. Häufig wurden die Narrative multimedial präsentiert – illustriert mit Zeichnungen oder Fotografien bis hin zu speziell für Kinder gestalteten Sammelbüchsen und Werbematerialien (Heidensammelbildchen). Die Geschichten wurden im Rahmen von Missionsfesten und -ausstellungen, in experimentellen Formen, etwa als humoristische Bildergeschichten (Comics), Theaterstücke und Kinderspiele und als Spielfilm, erzählt. Diese verschiedenen medialen Formen referierten aufeinander und ergänzten sich. Einige waren eher auf die passive Rezeption durch die Kinder ausgerichtet, andere boten Gelegenheit, Empathie nicht nur zu empfinden, sondern sie auch zu üben und in Handlung umzusetzen – als Rolle in einem Stück, im Kinderspiel, durch Übernahme einer Patenschaft, durch Gebete, Spenden oder Spendenwerbung. Im Folgenden untersuche ich zunächst die Inhalte und die medialen Strategien der Kindermissionspropaganda. In einem zweiten Schritt versuche ich die Rezeptionsweisen und Reaktionen der Kinder auf das präsentierte Leiden Anderer zu rekonstruieren. Methodisch lässt sich dieser Ansatz als Kombination von diskursanalytischen und historisch-anthropologischen Herangehensweisen beschreiben, mit der sowohl das Reden über als auch die soziale Wirksamkeit von Mitleid über große Distanz untersucht wird.13 12 Vgl. etwa Afrikanisches Missions-Glöcklein. Illustrierte Monatsschrift der Missions Africaines (B-Rhin) 16 (1938) 1, S. 17–20. 13 Die „Kultur“ der Gefühle ist ein neues Thema der Geschichtswissenschaft. Derzeit werden besonders diskurs- und wissensgeschichtliche Ansätze erprobt, die die Dekonstruktion der wissenschaftlichen und der gesellschaftlichen Vorstellungen von dem, was Gefühle sind und wie sie wirken, untersuchen. Vgl. etwa Ute Frevert u. a., Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche, Frankfurt a. M. 2011; dies./A. Schmidt, Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 5–25. Ein weiterer Weg, Gefühle in der Geschichte zu untersuchen, ist, sie als historisch Gewordenes zu begreifen, als etwas durch menschliches Handeln Entstandenes und Veränderbares – sie also als Gegenstand historischer Anthropologie zu begreifen. Vgl. etwa Jean Delumeau, Angst im Abendland, Hamburg 1985, Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend
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Im Bereich der Globalgeschichte ist die historische Fabrikation von Gefühlen über große räumliche, aber auch kulturelle Distanz noch ein Desiderat. Der Kulturanthropologe Arjun Appadurai hat jüngst einen Essay über die Geografie des Zorns in einer von Globalisierung und Terrorismus geprägten Welt vorgelegt, in der er u. a. die Entstehung von Zorn und Hass gegen vermeintlich religiös und kulturell ‚Andere‘ über große Distanz thematisiert.14 Schon vor einigen Jahrzehnten hat Frantz Fanon auf Basis psychoanalytischer Annahmen einen im historischen Kontext kolonialer und rassistischer Ausbeutung entstandenen kollektiven Inferioritätskomplex – „affective disorder“ – ehemals kolonisierter Bevölkerungen beschrieben.15 Umgekehrt hat Ranajit Guha nachdrücklich auf die Rolle von „anxiety“ (Angst, Beklemmung, Unruhe) aufseiten der Kolonisatoren hingewiesen, die sich angesichts der Unwägbarkeit einer kolonialen Existenz einstelle.16 Johannes Fabian unterstrich die Folgen dieser imperialen Gefühlslage zwischen Angst und Überlegenheitsanspruch: Die Kolonisatoren hätten sich – durch Alkohol, Drogen, sexuelle Übergriffen betäubt – regelrecht im „Wahn“ befunden.17 Das Phänomen der Empathie, des Mitgefühls über große Distanz spricht Michael Ignatieff an, und zwar im Zusammenhang mit dem Mitleid des Kriegers mit den Opfern eines Krieges, das sich über eine lange Tradition der Einhegung von Gewalt innerhalb von Kriegen in Kriegsordnungen bis hin zur UN-Menschenrechtscharta institutionalisiert habe.18 Diese Autoren weisen einerseits auf die Existenz und die Wirkungen dieser globalisierten Gefühlslagen hin, ihren Entstehungsprozess allerdings untersuchen sie nicht. Jane Haggis und Margaret Allen haben das Potenzial dieser letzteren Fragestellung jüngst am Beispiel von „Gefühlsgemeinschaften“ protestantischer Frauen im Großbri-
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und Barmherzigkeit in Europa, München 1988, und als Überblick zur amerikanischen Forschung William Reddy, Barbara H. Rosenwein, Peter N. Stearns, Jan Plamper, Wie schreibt man die Geschichte der Gefühle? Ein Interview, in: WerkstattGeschichte 54 (2010), S. 39–70. Arjun Appadurai, Die Geographie des Zorns, Frankfurt a. M. 2009. Appadurais Analysen nehmen die Jahrzehnte um 2000 in den Blick – längerfristige, mithin historische Prozesse sind kaum in seinem Fokus. Frantz Fanon, Black Skins, White Masks, Neuauflage New York 2008 [frz. 1952]. Ranajit Guha, Not at Home in Empire, in: Critical Inquiry 23 (1997), 482–493. Johannes Fabian, Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001, bes. 130ff. Michael Ignatieff, Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte und Medien, Hamburg 2000.
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tannien des 19. Jahrhunderts aufgezeigt, die sich für die Christianisierung indischer Frauen einsetzten.19
Empathie-Fabrikation über große räumliche und kulturelle Distanz Gefühle über große Distanz werden medial nicht nur vermittelt, sondern mithilfe von Erzählungen und Bildern produziert. Einige Medien- und Literaturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen haben sich mit den medialen und literarischen Techniken auseinandergesetzt, die dazu notwendig sind – eine mediale Grammatik der Gefühlsproduktion ist derzeit allerdings noch nicht in Sicht. Luc Boltanski etwa sieht die Grundlage für humanitäres Handeln in einem „Spektakel des Leidens“ (Hannah Arendt), das die Betrachter zu der Entscheidung zwingt, ob sie Hilfe leisten oder nicht. Die Frage, wann und warum Hilfe geleistet wird, ist in konkreten, lokalen Situation – wie im Gleichnis des guten Samariters – einigermaßen nachvollziehbar. Boltanski zeigt aber, dass eine „Politik des Mitleids“, die humanitäres Handeln jenseits von face-to-face-communities initiieren will, vor einem „Paradoxon der Distanz” steht.20 Wie kann Distanz zwischen Leidendem und Betrachter überwunden werden, sodass es zu Mitleid und einer nachfolgenden Reaktion, und sei es einem Sprechakt, kommt? Boltanski untersucht primär den humanitären Diskurs des späten 20. Jahrhunderts und die medialen Techniken des TVZeitalters. Seine These: Um Mitleid über große Distanz zu erzeugen, muss die mediale Präsentation von Leiden unmittelbare Nähe des Leidenden suggerieren und gleichzeitig unspezifisch bleiben, um Verallgemeinerung zu erlauben: „To be a politics it must convey at the same time a plurality of situations of misfortune, to constitute a kind of procession or imaginary demonstration of unfortunates brought together on the basis of both their singularity and what they have in common. […] They therefore must be hyper-singularised through an accumulation of the details of suffering and, at the same time, 19 Jane Haggis/Margaret Allen, Imperial Emotions: Affective Communities of Mission in British Protestant Women’s Missionary Publications c1880–1920, in: Journal of Social History 41 (2008) 3, S. 691–716. 20 „To avoid the local such a politics must bring together particular situations and thereby convey them, that is to say cross a distance, while retaining as far as possible the qualities conferred on them by a face to face encounter.“ Boltanski, Distant Suffering, S. 12.
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underqualified: [I]t is that child there who makes us cry, but any other child could have done the same.“21 Susan Sontag befasste sich mit der Wirkung von Kriegsfotografien auf die Wahrnehmung jener westlichen Beobachter, die die unmittelbare Erfahrungsebene eines Kriegs nicht kennen und Kriege nur medial vermittelt erfahren, aber auch deren Fähigkeit zur Empathie. Kurzgefasst ist ihr Argument folgendes: Die ubiquitäre Verfügbarkeit von Bildern leidender Anderer oder Fremder – je größer die räumliche und kulturelle Distanz, desto wahrscheinlicher werden Opfer von Gewalt abgebildet und medial verbreitet – führt zur emotionalen Abstumpfung gegenüber dem leidenden Anderen.22 Lässt man den Kultur- und Medienpessimismus Sontags und Boltanskis beiseite, so bleibt für meine Fragestellung festzuhalten: 1) Womöglich übten Bildmedien für die Produktion von Mitleid über große Distanz, für die Überbrückung von Ferne und die Gleichzeitigkeit von Individualität und Verallgemeinerbarkeit eine besondere Funktion aus. Sie können Distanz überbrücken, indem sie namenlosem Leiden ein Gesicht geben, indem in Verbindung von Bildunterschrift bzw. Text und Abbildung individuelle Schicksale vor Augen geführt werden. Sontags Argument wird dadurch vom Kopf auf die Füße gestellt. Ich betrachte hier den Beginn eines Prozesses des Abbildens und der medialen Vermittlung der Leidens Anderer ab etwa 1900, während Sontag sich mit der Hochphase und der Allgegenwärtigkeit der medialen Repräsentation von fernem Leiden befasste. Mediale Repräsentationen des Leidens führten in dieser frühen Phase nicht zur Abstumpfung, sondern überhaupt erst zur Produktion von Gefühlen wie Mitleid, Mitgefühl oder Empathie über große räumliche und kulturelle Distanz hinweg.23 Man kann diese Hypothese nicht nur an Fotografien festmachen. Susan Sontag hat zu Recht auf die Abstraktheit von Fotografien hingewiesen. Fotografien leidender Menschen sind nach einer anfänglichen Schockwirkung statisch – sie lassen Betrachter und Betrachteten nicht interagieren,
21 Ebd. 22 „The ubiquity of those photographs, and those horrors, cannot help but nourish belief in the inevitability of tragedy in the benighted or backward – that is, poor – parts of the worlds.“ Vgl. Sontag, Regarding, S. 64. 23 Vgl. Judith Butlers auf Trauer und Mitgefühl für Kriegsopfer gerichtetes Argument, das die mediale „Rahmung“ von Krieg eine Art Kontrolle und Ökonomie von Affekten ermögliche. Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a. M. 2010, S. 9–38, 65–97.
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erzählen keine Geschichte, bieten wenig Potenzial zur Identifikation.24 Dies unterscheidet sie von Erzählungen. Der Germanist Fritz Breithaupt stellt der Kognitionsforschung eine kulturwissenschaftliche Theorie des Gefühls gegenüber. Er argumentiert, dass Empathie mit anderen entstehe, „indem wir sie in kleine gedankliche Erzählungen verwickeln […]. Indem wir in unseren Gedanken, bewusst oder unbewusst, das zeitliche Nacheinander der Handlungen und Situationen eines anderen ausspinnen, sind wir ihm verbunden.“25 Dieses sich Hineinversetzen, Mitfühlen, -freuen oder -leiden passiert nicht ständig, sondern nur in speziellen Erzählsituationen. Breithaupt meint sogar, dass es nur geschehen kann, wenn durch spezielle Erzähltechniken die alltägliche emotionale (Teil-)Blockade gegenüber Anderen aufgehoben wird – eine Blockade, die nötig ist, um nicht einen ständigen Perspektivenverlust zu erleiden. Diese besonderen Situationen sind in der menschlichen Fähigkeit des fiktiven Denkens zu finden. Der Prozess der Empathie-Produktion wäre demnach am besten an fiktionaler Literatur zu untersuchen. Hier würden Muster der Empathie eingeübt: „Dieses Einüben von Mustern der Empathie öffnet einen Raum, in dem zugleich auch variierende Formen von Empathie erprobt werden können, die wiederum Rückwirkungen auf die Fähigkeit zur Empathie haben können. Mit der Fiktion gibt es eine Historie der Empathie und den Plural der Kulturen der Empathie.“26 Narration ist für Breithaupt ein Mechanismus, der Empathie erzeugt. Sie entsteht im Prozess des sich Hineinversetzens und -fühlens in eine spezifische Figur der Erzählung (am ehesten, wenn diese in Konflikt zu einer anderen Figur gerät – hier ist dann die Parteinahme des Lesers bzw. Hörers als Drittem gefragt). Breithaupts Theorie von der Narration als Urgrund menschlicher Empathie-Fähigkeit, ist auf überzeitliche Mechanismen gerichtet und insofern nicht historisch. Allerdings bietet sie die Möglichkeit zur Adaption, 24 Sontag, Regarding, S. 107. 25 Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt a. M. 2009, S. 10; vgl. zur kulturwissenschaftlichen Interpretation von Gefühlen einführend Martin Hartmann, Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2010, bes. S. 139–147. 26 Ebd. S. 14. Die Analogie zur Nationenbildung als imagined communities, die durch Erzählungen, sogenannten invented traditions, hergestellt werden, liegt hier nahe – auch hier ging es darum, ein Gemeinschaftsgefühl über Distanz hinweg zu erzeugen. Erzählungen zu gemeinsamer Abstammung boten hier ein Mittel. Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Neuaufl. London 2006; Eric J. Hobsbawm/Terence O. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Neuaufl. Cambridge 1993.
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da von Kulturen und Mustern der Empathie erzeugenden Erzählung die Rede ist. Die historische Entstehung bestimmter Empathie-Kulturen ist also ein erklärungsbedürftiges Phänomen, das im Folgenden am Beispiel der auf Kinder und Jugendliche abzielenden Missionspropaganda untersucht wird.
Auf dem Weg zur Missionspädagogik Kinder gerieten bereits im 19. Jahrhundert in den besonderen Fokus der Mission – dies galt für christliche wie für andersgläubige Kinder. Vor dem Hintergrund des pädagogischen Blicks auf die Kindheit, der seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Besonderheit und die besondere Prägbarkeit dieses Lebensalters postulierte, sahen Missionare in Kindern die ersten Adressaten ihrer Arbeit und versprachen sich von dieser Zielgruppe nachhaltigen Missionserfolg. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – deutlich zu sehen am Erfolg des Missionswerks der Hl. Kindheit Jesu und dem dadurch generierten Spendenaufkommen seit 184327 – war dieser Ansatz auf ein Wechselverhältnis zwischen europäischen und nicht europäischen Kindern angelegt.28 Die Werbung für die „Heidenmission“ war hier Teil der „Volksmission“ in Deutschland selbst – Mitleid und Barmherzigkeit zu fühlen und durch Gebet und Spenden auszudrücken, galt als Ausweis von Frömmigkeit und christlicher Lebensführung. Besonders Kindern sollten diese religiösen Praktiken anerzogen werden. In den katholischen Missionszeitschriften, die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert an eine gebildete katholische Laienschicht wandten, dominierten die Textformen des Reiseberichts, des Briefs aus der Mission im Sinne eines kontinuierlichen Fortschrittsberichts, aber auch Abhandlungen zur Missionsgeschichte, zu einzelnen Missionaren, Märtyrern und Heiligen. Nach 1900 wurden ethnografische und andere wissenschaftsnahe Beschreibungen integriert. Die Texte waren mit Lithografien und Fotografien unterlegt, die den Missionserfolg untermauern sollten, die Arbeit der Missionare und -innen dokumentierten und ins rechte Licht rückten oder erbaulichen bzw. kontemplativen Charakter besaßen. 27 Bernhard Arens SJ, Die katholischen Missionsvereine, Freiburg 1922, S. 66 ff. und Handbuch der vier päpstlichen Missionsvereine, Aachen 1925. 28 Vgl. die Überblicke von Winfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1998, und Hugh Cunningham, Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Düsseldorf 2006.
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Publikationen, die sich explizit an Kinder wandten, waren etwas anders gestaltet. Zwar gab es auch hier vereinfachte Berichte und Briefe, die über den Fortgang der Mission informierten. Häufiger jedoch waren literarische oder anekdotische Erzählungen, die den Alltag in Afrika und anderen Missionsgebieten anschaulich machen sollten. Dies geschah in Form von literarischen Abenteuergeschichten, häufiger noch wurden Erlebnisse der Missionare mit afrikanischen Kindern geschildert – als wahre Begebenheit, aber mit Spannungsbogen und dem direkten Appell an die Leser. Die Texte befassten sich mit für Kinder lebensweltlich nahen Themen wie Schule, Spielen, Sport, Familienleben, Essen, Trinken.29 Korrespondierend dazu gestalteten die Redaktionen das Bildmaterial, das die Texte und Pamphlete illustrierte. Auf Fotografien waren häufig afrikanische Kinder zu sehen – als Spielende, Lernende, Leidende. Zwischen 1910 und 1914 erschien eine ganze Reihe pädagogischer Werke, die dazu aufforderten, Mission als Thema des Religions-, aber auch des Geschichts- oder Erdkundeunterrichts zu behandeln. Hinzukamen Anleitungen zur Gestaltung von Missionsfesten und zur Integration von Mission in das Gemeindeleben.30 Die „Heidenmission“ wurde in vielen dieser Publikationen als Mittel der Glaubenserneuerung in der Tradition der Volksmission begriffen. Die Schüler sollten im Vergleich zur vorgeblichen Rückständigkeit des Heidentums, die „Kirche als sittliche und kulturelle Macht schätzen lernen“, von der „Enge des Individuums, von den Schranken des Egoismus“ befreit werden und ihnen „Auge und Herz für die höchsten Interessen der ganzen Menschheit“ geweitet werden.31 Die Missionspädagogik war durch den traditionellen katholischen Religionsunterricht eingeengt. Dieser orientierte sich an den Vorgaben des Katechismus, der die neun Glaubensartikel, die zehn Geboten, die Sakramente, die Gebete, die biblische Geschichte des Alten und Neuen Testaments und Kirchengeschichte umfasste. Wenig 29 Vgl. etwa Märchen der Wayao, in: Das Heidenkind 22 (1909), S. 11, 20–22. 30 Hermann Dittscheid, Die Heidenmission. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien. Für Schule und Haus bearbeitet, Cöln 1911; ders., Missionskunde. Eine Forderung neuzeitlicher Pädagogik, Breslau 1913; Friedrich Schwager, Die katholische Heidenmission im Schulunterricht. Hilfsbuch für Katecheten und Lehrer, Steyl 1912; Heinz, Religionsunterricht; Anton Freitag, Das katholische Missionsfest, Steyl 1913; Arens, Die Mission im Familien- und Gemeindeleben; J. Zahn, Heimatliche Seelsorge und Heidenmission (Im Kampf fürs Kreuz 11), St. Ottilien 1919; Fischer, Beispielsammlung. 31 Schwager, Schulunterricht, S. 6. Vgl. ähnlich Zahn, Heimatliche Seelsorge, S. 16, und Heße, Beispiele von Missionsarbeit, S. 23.
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Raum blieb für eine gefühlspädagogische Identifikation mit „armen Heidenkindern“. Zentrale Begründungen für die Mission waren daher auch weniger „Mitgefühl“ mit den Leidenden32 als der messianische Bekehrungsauftrag an die Apostel, ein Vokabular des „Opfers“, des „Heldentums“, des „Kampfes“, der „Errettung“, der „Nächstenliebe/Barmherzigkeit“, aber auch – typisch für die Mission während des deutschen Imperialismus – der nationale Auftrag zu Kulturmission.33 Es finden sich in den theoretischen Texten auch Reflexionen über die Möglichkeit, die Rolle von „Neubekehrten“ in pädagogischen Projekten zu stärken.34 Im Unterricht sei zu vertiefen, was durch die Missionsliteratur „an Keimen opferfreudiger Liebe für die der kostbarsten Lebensgüter entbehrenden Heidenvölker ins Kinderherz gesenkt wurde“.35 So sollten Lehrer im Unterrichtsgespräch die Schüler zur „Einfühlung“ in Verbindung mit Missionserzählungen ermuntern: „Ganz besonders aber will ich an die armen Heidenkinder denken, für sie beten, namentlich das Gebet des Herrn […]. Gerne will ich die Pfennige für den Kindheit-Jesu-Verein geben, statt sie zu vernaschen“.36 Gleiches gelte für den Gottesdienst, wo die Predigt durch „Illustration und Exemplifizierung […] mit Beispielen, Erzählungen und ergreifenden Zügen aus der bedrängten Heidenwelt, aus dem erbaulichen Leben der Neuchristen, aus ihren Leiden und Verfolgungen usw.“ angereichert werden sollte, um die Zuhörer „in die Kanzelreden hineinzuziehen“.37 Wenn Missionspredigten nicht bloße „Kollekten- und Bettelpredigten“ seien, sondern „eine wahrheitsgetreue Schilderung des Unglücks der Heiden und des unvergleichlichen Glücks des katholischen Glaubens“ vermittelten, würden sie „das Gefühl des innigsten Dankes gegen Gott und innigsten Mitleids mit den Heiden“ wecken.38 32 Bezeichnenderweise zählte das Samariter-Gleichnis nicht zu den Unterrichtsbeispielen von Schwager, Schulunterricht. 33 Vgl. Dittscheid, Heidenmission; Heinz, Religionsunterricht. 34 Heinz empfahl u. a. „kurze Schilderungen aus dem Missionsleben, Erzählungen in denen die Neubekehrten vielfach eine Hauptrolle spielen“. Heinz, Religionsunterricht, S. 44. 35 Ebd., S. 4. 36 Dittscheid, Missionskunde, S. 58. 37 Freytag, Das katholische Missionsfest. Hilfsbüchlein und Materialsammlung zur Veranstaltung von Missionsfeiern, Steyl 1913, S. 19 f. 38 Schwager, zit. nach: Freytag, Missionsfest, S. 21f. Die Textgattung der Predigt hatte eine jahrhundertelange Tradition. Die Missionspredigt, wie sie etwa von den Redemptoristen nach neapolitanischem Vorbild in der Volksmission eingesetzt wurde, folgte einem vierstufigen Aufbau: 1. Thema und Argumentation; 2. Moralische
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Klassische Erzählungen – pädagogische Versuche Die Leser und Leserinnen der Missionskinderliteratur wurden häufig mit einer für die Missionsgeschichte geradezu klassischen Erzählung konfrontiert – ein leidendes, unzivilisierte Heidenleben, die Rettung durch die Mission, dann Zivilisierung und steigende Lebensperspektiven. Ihr Spannungsbogen lässt sich am Beispiel der Broschüre „Der armen Heidenkinder Freud und Leid. Ein Missionsbuch für unsere liebe deutsche Jugend“39 demonstrieren, die 1919 und 1923 in zwei Auflagen von insgesamt 10 000 Exemplaren erschien. Der Verfasser Johannes Emonts, ein in Kamerun missionierender Herz-Jesu-Priester, beschrieb offen und in Form des direkten Appells an die Leser die Intention seiner Erzählung: „Ich glaube […], daß die deutschen Kinder auch gern etwas aus dem Leben der Heidenkinder vernehmen werden und deshalb will ich ihnen in diesem Büchlein von dem erzählen, was ich als Missionar in Kamerun gesehen und erlebt habe“. Mitten im Vorwort wechselt Emont in die direkte Anrede: Beim Lesen „wird es dir warm ums Herz“ werden und „du wirst Mitleid mit diesen armen Kindern haben, wirst gern für sie beten und gern ein Opfer für sie bringen“. Die Existenz afrikanischer Kinder beschrieb Emonts als Leidensweg von Geburt an: „Das schwarze Negerkind kommt in der Negerhütte zur Welt. Komm, wir gehen das Kleine besuchen!“ Das Alltagsleben erscheint als Negativfolie zum Leben europäischer Kinder: Als Tür diene „eine kleine Öffnung“. Da sie so niedrig sei, könne man nur „gebückt und zur Seite gewendet hineingehen“. Der Fußboden bestehe „aus festgetretener Erde und nicht etwa aus glatten Steinfließen oder Holzbelag“. Und erneut in direkter Anrede: „Ich sehe, du schaust dich um nach einem Tisch. Du wirst keinen finden […]. Nirgendwo ein Schrank zum Aufbewahren der Kleider […] ein fußhohes Bambusgestell […] ist ein recht elendes Nachtlager“. Gewiss fehle es „in keiner Hütte an zahlreichen Ratten und Mäusen und an anderen Ungeziefer“. Alles in dieser Beschreibung ist auf Mangel ausgelegt, jedoch nicht durchweg auf Alteritätsproduktion. Die intendierte Reaktion ist ein Perspektivenwechsel: Wie würde ich mich fühlen,
Anwendungen; 3. Erregung der Affekte; 4. Reueakt. Vgl. Klemens Jockwig, Die Volksmissionen der Redemptoristen in Bayern von 1843 bis 1873, dargestellt am Erzbistum München und Freising und an den Bistümern Passau und Regensburg (Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 1), Regensburg 1967, S. 178ff., m. Herv., RH. 39 Aachen 21923.
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wenn ich so leben müsste, „vergleiche […] deine Wohnung, dein elterliches Haus, eure Kücheneinrichtung, dein Schlafzimmer, dein Bett und die übrigen Räume dieser Wohnung mit jener Wohnung des armen Heidenkindes“.40 Neben materiellen Defiziten führt Emonts seinen Lesern ein defektes Familienleben vor – abwesende Väter, überforderte Mütter, vernachlässigte Kinder, gefangen in einem Kreislauf ohne persönliche oder soziale Entwicklung: „Da die Mutter bis zum Abend auf dem Felde beschäftigt ist, kannst du dir denken, wie es unterdessen dem kleinen Kinde geht.“ Das Kind liege „in der rauchigen Hütte auf dem Boden“: „Du kannst dir vorstellen, wie furchtbar lang und traurig der Tag für so ein hungriges Kind“ ist. Der „Vergleich des heidnischen Kinderlebens mit deinem eigenen gibt dir den Gedanken ein, doch auch in Zukunft durch Deine kleinen Gaben mitzuhelfen, die armen Kinder loszukaufen, sie zu retten und ihnen ein besseres und glücklicheres Leben zu vermitteln.“41 Die Beschreibung des Lebens und Leidens eines „Heidenkindes“ endet mit dem Appell an die Bereitschaft zur Hilfe: „Willst du den Heidenkindern helfen?“ Mögliche Hilfen waren der Beitritt zu Missionsunterstützungsvereinen, wie dem Franz-Xaver-Verein oder dem Kindheit-Jesu-Verein, die Mutter, den Vater, die persönliche Umgebung um Spenden zu bitten, die Übernahme einer Patenschaft: „Sammle, bist du etwa 100 bis 150 Mark zusammen hast, um ein Heidenkind loszukaufen oder um ihm durch die Mission den Unterhalt, die Schulkosten, den Unterricht und die heilige Taufe zu vermitteln. Du kannst dem Kinde einen Namen geben, den es in der Taufe erhält. Du erhältst dafür ein Heidenkinder-Bildchen zugesandt und das Kind wird in der Mission angeleitet für dich zu beten.“ Und natürlich blieb für „ein mitleidiges Herz“ der Beruf als Missionar oder Missionsschwester.42 Der Leidensgeschichte der „armen Heidenkinder“ wird im zweiten Drittel der Broschüre die Geschichte einer glücklichen Errettung entgegengestellt, die für die afrikanischen Kinder mit der Aufnahme in der Missionsstation beginnt. Unterricht, Taufe, Ersatzfamilie, Arbeit, gesunde Wohnungen
40 Emonts, Heidenkinder, S. 3–8. Vgl. den Appell, den die Lehrerin und Missionsbenediktinerin Dominika Bonnenberg einer Sammlung mit Missionsgeschichten voranstellte: „Möge es euch helfen, eure farbigen Brüderlein und Schwesterchen recht lieb zu gewinnen. Und betet für sie!“ Sr. M. Dominika Bonnenberg, Blümlein aus aller Welt, St. Ottilien 1922, o. S. 41 Emonts, Heidenkinder, S. 8–16. 42 Ebd., S. 53–54.
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und spielerische Freizeitgestaltung sind die zentralen Aspekte dieses „neuen Lebens“: „Die Kinder sind fleißig und brav, für sie hat ein neues Leben angefangen, sie leben bereits christlich, ehe sie noch christlich sind“. Den Lesern und Leserinnen wird dies erneut in Form von lebensweltlich naher, zur Identifikation einladender Narration vermittelt: „Komm mit auf den Spielplatz, mein liebes Kind, und sieh wie da gerade eine Gruppe von Negerbübchen beim Fangspiel ist […]. Der Missionar, der weiße Vater muss auch mitspielen, dann ist’s nochmal so schön […]. Ihre Augen blitzen vor lauter Freude. Sie rufen und schreien: ‚Diesmal ist es uns geglückt. Der weiße Vater ist gefangen!‘ Sie machen große Luftsprünge, schnalzten mit der Zunge, klatschen in die Hände, breiten die Arme aus, lachend zeigen die schneeweißen Zähne“.43 Im letzten Drittel der Broschüre folgt eine Reihe von Anekdoten aus dem Alltag der Mission in Kamerun, die die Interaktion von Missionaren und einzelnen Kindern in den Mittelpunkt rücken und gleichzeitig allgemeine Kontexte vermitteln. Anders als im vorhergehenden Teil werden hier Kinder namentlich genannt, Charaktere umrissen, Unterschiede verdeutlicht, moralische Dilemmata und Konflikte eingeführt, die eine innere Positionierung und damit die Identifikation mit einzelnen Akteuren seitens des Lesers ermöglichen. Erzählt wird etwa eine Konfliktsituation im belgischen Kongo. Ein Pater erreicht ein Dorf, wo ihm der Sohn des Oberhaupts als Moritz vorgestellt wird. Die Anspielung auf den populären Heiligen Mauritius, der häufig mit dunkler Hautfarbe dargestellt wird, dürfte kein Zufall sein. Moritz wird als sehr freundlicher, äußerst sympathischer junger Mann beschrieben. Er erzählt, er sei Christ, habe aber nie zuvor einen Priester getroffen. Als sich der Pater erkundigt, wie er dann Christ geworden sei, erzählt Moritz, sein Bruder habe ihn getauft, ihm den Katechismus vorgelesen und mit seiner Ehefrau verheiratet. Der Bruder habe aber nicht den Mut gehabt, ihn auch zum Priester zu weihen. Dies solle nun der Pater machen. Das Dilemma – kann Moritz als getaufter Christ anerkannt werden oder muss er enttäuscht werden – ist geeignet, beim Leser einen Perspektivenwechsel auszulösen und den Wunsch, innerlich die Partei Moritz‘ zu ergreifen. Das Dilemma wird am Ende der Geschichte nicht beseitigt, trotzdem löst sich die Spannung, indem der Pater zumindest Wohlwollen und Sympathie gegenüber Moritz zeigt, „der ohne Zweifel ein Gegenstand des Wohlgefallens Gottes“ sei.44 Derartige Erlebniserzählungen, die kleine Konflikte, moralische Dilemmata, alltägliche Ausein43 Ebd., S. 68. 44 Ebd., S. 106.
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andersetzungen zu einem Spannungsbogen formten, finden sich in unzähligen Varianten in den Missionspublikationen für Kinder.45
Multimediale Rahmungen Emonts Text ist mit Fotografien versehen, die die Erzählung illustrieren, mit Realismus ausstatten, aber auch Teil der Erzählung sind – mithin als Medium nicht abstrakt und statisch wirken, sondern ebenfalls als Teil der Empathie-Produktion. Die Bildfolge (Abb. 1–3) zeigt einige der Fotografien, die in die Erzählung von Leid und Errettung eingebunden waren. Sie macht zugleich deutlich, wie sehr sie auf kindliche Lebenswelten abgestimmt war. Die Spielenden (Abb. 3) werden keineswegs auf die übliche koloniale Bildformation reduziert, in der sich die Dichotomien des kolonialen Diskurses – Primitivität/Zivilisation; Chaos/Ordnung; Schwarz/Weiß – reproduzieren. Für erwachsene, in der „Bilderschule des Herrenmenschen“46 sozialisierte Leser und Leserinnen war dieses Bild nicht gedacht, sondern für Kinder und Jugendliche, die sich im Spielen wiederfanden.47
45 Für den Religionsunterricht erschienen spezielle Beispielsammlungen, die auf einzelne Abschnitte des Katechismus passende und bewusst mit der Exotik und dem „dunklen Hintergrund des Heidenthums“ spielende Erzählungen präsentierten und von den Lehrern benutzt werden konnten. Der Religionsunterricht wie auch Missionsfeste und -vorträge konnten zudem mit Lichtbildserien angereichert werden, die entweder von den Missionsorden und -vereinen selbst, oder über Bildverleihe wie die „Süddeutsche Lichtbilderzentrale“ oder die „Lichtbilderei“ des Volksvereins Mönchengladbach zu beziehen waren (Heinz, Religionsunterricht, 47). Für die meisten Missionare bedeutete ein Heimaturlaub, vor allem Lichtbildervorträge zu halten und reisenderweise Spenden zu sammeln. 46 Joachim Zeller, Bilderschule des Herrenmenschen. Koloniale Reklamesammelbilder, Berlin 2008. 47 Vergleichbare Fotografien wurden für Erwachsenenzeitschriften aussortiert, vgl. Frédéric Garan, Les missions catholiques ont-elles trahi les missionnaires en chine? Photographies missionnaires et usage jounalistique, in: Claude Prudhomme (Hg.), Une appropriation du monde. Mission et mission au XIXe ou XXe siècles, Lyon 2004, S. 197–221. Diese Art Bilder konnte dennoch Teil rassistischer oder geschlechterspezifischer Differenzbildung sein. Vgl. Richard Hölzl, Rassismus, Ethnogenese und Kultur. Afrikaner im Blickwinkel der deutschen katholischen Mission im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte 59 (2011) 3, S. 7–34.
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Abb. 1 Originaltitel „Ein aussätziger Negerknabe“ (Emonts, Heidenkinder, S. 48).
Die Ikonografie von Kinderzeitschriften und Kalendern beschränkte sich nicht auf Fotografien, hinzukamen: Andachtsbilder, Comics, Embleme, Illustrationen zu Abenteuererzählungen (etwa Tiger, Löwen oder Elefanten).
Abb. 2 Originaltitel:„Schwarze Fronleichnamsengelchen der Mission“ (Emonts, Heidenkinder, S. 136).
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Abb. 3 Originaltitel:„Vier lustige Knaben beim Spiel“ (Emonts, Heidenkinder, S. 74).
Betrachtet man diese Formensprache, so wirkt sie wie ein Versuchs- und Experimentierfeld, auf dem die wirkungsvollsten Formen getestet wurden, um die Missionsfelder außerhalb Europas und insbesondere die dort lebenden Kinder in die Lebensund Vorstellungswelt deutscher Kinder zu integrieren. In Gestalt der Andachtsbilder wurden Afrikaner in die den Kindern bereits bekannte christliche Ikonografie integriert: nun – so das bildliche Abb. 4 Titelblatt des „Heidenkind-Kalenders“ der Missionsbenediktiner von St. Ottilien (Jahrgang 1934).
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Abb. 5 Afrikaner-Komik (Brüderlich geteilt, in: Das Heidenkind 10, 1897, S. 94–95).
Narrativ – führte das „weiße“ Jesuskind als Beschützer und Lehrer auch afrikanische Kinder durch das Leben (Abb. 4).48 Andere Bildformen wirken experimenteller, etwa die „Afrikaner-Comics“, in denen naive, kindliche und humoristische Szenen ausagiert werden. In diesen Bildserien gelingt es, dynamische Konstellationen darzustellen, humorvolle Konflikte, die Identifikation und Distanz gleichermaßen ermöglichen (Abb. 5), während unzählige grafische Embleme einen Wiedererkennungseffekt bewirkten und gleichsam als Klischee exotische, außereuropäische signalisierten.
Das Winnetou-Prinzip: Heiden, Konvertiten und intermediaries im Zentrum Folgt man dem Literaturwissenschaftler Breithaupt, können literarische Erzählungen besonders wirksam Empathie wecken, indem sie ihre Leser auf die Seite eines Protagonisten ziehen. Die Mission hatte dabei einen besonderen Effekt auf 48 Siehe dazu im Vergleich die Andachtsbilder der Volksmissionen – für Erwachsene und ohne Bezug zum „Anderen“, Renate Kotzur, Missionsbildchen. Graphische Andenken an Volksmissionen im deutschsprachigen Raum zwischen 1850 und 1920, in: Jahrbuch für Volkskunde 8 (1985), S. 143–201.
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ihrer Seite – sie konnte ihre Narrative und Figuren glaubwürdig und kenntnisreich in exotischen Settings präsentieren.49 Für die Wende zum 20. Jahrhundert lässt sich eine interessante Beobachtung machen: Im 19. Jahrhundert waren fast ausschließlich Missionare die Protagonisten der Berichte und Erzählungen. Sie wurden rund gezeichnet, durchlebten charakterliche Wandlungen, hatten göttliche Prüfungen zu bestehen, brachten Opfer und wurden Märtyrer. Bildlich ausgedrückt wird dies in Peter Paul Rubens’ Gemälde von den „Wundern des Hl. Franz Xaver“ (1619/1620). Rubens platzierte den Missionar ins Zentrum des Bildes vor einem Altar, eingerahmt durch einen Halbkreis von „Heiden“ aller Erdteile und überragt von einer Gruppe von Engeln, die ein Kreuz in den Himmel tragen. Die zu Missionierenden waren Statisten in den Geschichten der Mission, mal namentlich erwähnt, mal als Kollektiv der Verfluchten und Geknechteten. Dies änderte sich in den Abenteuergeschichten für Kinder und Jugendliche. Nun rückten auch Heiden und Konvertiten ins Zentrum, wurden als charakterstark und mutig geschildert und hatten Kämpfe und Prüfungen ihres neu erworbenen Glaubens zu bestehen. Man könnte es das WinnetouPrinzip nennen: Karl Mays indianischer Romanheld wurde zur exotischen Identifikationsfigur ganzer Kinder-Generationen, und zwar, indem er als Heide zum „Überdeutschen“ wurde und die vermeintlich deutschen Tugenden „Gerechtigkeits- und Freiheitsliebe, Toleranz und Nationalstolz in noch höherem Maße“ als die Deutschen selbst praktizierte: „Mag dieser Winnetou auch hüftlange Haare, Mokassins und Bärenkrallenketten tragen, er ist edel, fromm, aufrichtig und treu bis in den Tod […], er versteht es, Weihnachten zu begehen, und konvertiert kurz vor Schluß zum Gesinnungschristen.“50 May verfasste seine ersten Abenteuererzählungen Ende der 1870er für katholische Massenblätter wie den Deutschen Hausschatz oder den Marienkalender. Wiederzufinden ist das Winnetou-Prinzip in unterschiedlichen Plots und medialen Formen, etwa in Joseph Spillmanns „Liebet eure Feinde!“, in der die irische Familie O’Niel [!] und der Maori-Häuptling Te-Waturu eine Freundschaft entwickeln, die sie den Kolonialkrieg im Neuseeland Mitte des 19. Jahrhunderts überstehen lässt. In der Erzählung „Tahko, der junge Indianer-Missionär“[,] wird ein Tanana-Knabe zum Helden einer Bekehrungsgeschichte. Nachdem die USA Alaska von Russland gekauft haben, verlassen die 49 Vgl. dazu ausführlich Albert Gouaffo in diesem Band. 50 Vgl. Rolf-Bernhard Essig/Gudrun Schury, Karl May, in: Etienne Francois/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte 3, München 2001, S. 107–121, hier S. 108–109.
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Eltern Tahkos die Küste und ziehen ins alaskische Hinterland. Tahko, der als Matrose auf einem russischen Walfänger dient, halten sie für untergegangen. Tahko ist auf dem Schiff mit dem orthodoxen Glauben bekannt geworden und macht sich nach seiner Rückkehr auf die Suche nach seinen Eltern. Während der Reise lernt er einen Missionar kennen, der mit ihm zu den Tanana reist, um sie zu bekehren. Während der Reise besteht Tahko eine Reihe von Abenteuern und fürchtet aber nach einem Traum, dass seine Eltern bereits tot seien. Tatsächlich sterben die Eltern kurz vor Tahkos Heimkehr. Sie erhalten ein christliches Begräbnis und der „Stamm“ wird von Tahko und dem Missionar bekehrt. Der Tanana-Junge gelobt: „Ja, Vater, sagte Tahko, der liebe Gott hat alles das gut gefügt; und ich bleibe jetzt immer bei dir und helfe dir, den InanaMännern den wahren Weg in den Himmel zu zeigen.“51 Mit Tahko rückt die in der Mission unentbehrliche Figur des intermediary als Mittler zwischen den Kulturen vom Rand ins Zentrum der Erzählung. Ausgerüstet mit europäischer Technik ( Jagdgewehren), Mehrsprachigkeit und indianischen Kenntnissen zum Überleben im Eis wird er der Retter seines Volkes, während der namenlose Missionar als Statist die Sakramente spendet und ansonsten auf seinen „Gehilfen“ angewiesen ist. Tahkos Handlungen und Träume weisen ihn als von Gott erwählt aus, der Apostel seines Volkes zu werden. Seine Figur lädt die Leser und Leserinnen zur Identifikation ein, seine Hoffnungen und Konflikte lassen sie Anteil nehmen und für ihn Position beziehen. Eine Variante des Winnetou-Prinzips findet sich in Missionsspielfilmen. Ab den 1920er-Jahren begannen verschiedene protestantische und katholische Missionsgesellschaften Dokumentationen ihrer Arbeit, aber auch dramatische Stoffe zu verfilmen. Der erste Tonspielfilm „Tokosile – die schwarze Schwester“ (1933), der nicht nur Afrikaner und Afrikanerinnen ins Zentrum stellt, sondern auch mit afrikanischen Schauspielern verfilmt wurde, entstand unter der Regie von Pater Stephan Jurszek.52 Im Zentrum der Geschichte steht das Zulu-Mäd51 A. v. B., Tahko, der junge Indianer-Missionär, in: Drei Indianergeschichten (Aus fernen Landen. Eine Sammlung illustrierter Erzählungen für die Jugend 6), 15./16. Aufl. (34 000–38 000) Freiburg i. Br. 1920. Siehe auch den Beitrag von Albert Gouaffo in diesem Band, der eine ähnliche Erzählung aus der protestantischen Mission in Kamerun untersucht. Andere Missionssammlungen stellten Erzählungen mit deutschen, europäischen oder afrikanischen Settings unkommentiert nebeneinander und überbrückten schon dadurch ein Stück kultureller Distanz, vgl. etwa Franz Xaver Wetzel, Der kleine Missionär. Ein Kinderbuch, 3. Aufl. Ravensburg [ca. 1900]. 52 Jurszek hatte zuvor bereits einen abendfüllenden Dokumentarfilm über die Entstehung der Oblatenmission am namibischen Okawango („Das Kreuz am Oka-
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chen Tokosile: Nachdem ihr Bräutigam während der Hochzeit von Verwandten vergiftet wird, weil er zum Christentum konvertieren will, verdächtigt man die Braut. Tokosile flieht an die Küste in eine Station der Missionsdominikanerinnen – sie wird getauft und tritt in den Orden ein. Am Ende des Films kehrt sie als Missionskrankenschwester zu ihrem Clan zurück. Das Drehbuch entstand nach Erzählungen der Novizenmeisterin Mutter Euphemia, die für die Ausbildung angehender afrikanischer DominikanerSchwestern in Oakford/KwaZulu-Natal zuständig war. Explizit sollte der Film „unbedingt etwas ganz Neues auf dem Filmmarkt“ sein, um in Deutschland ein breites, auch missionsfernes Publikum anzuziehen. Seine Intention beschriebt P. Stephan folgendermaßen: „Der afrikanische Mensch. Aber nicht nur beim Essen, Arbeiten und Tanzen, wie er bisher gefilmt wurden. Was ich zeigen wollte, war die Negerseele, und zwar in ihrem Innenleben mit allen Empfindungen und Leidenschaften des Herzens und in den dramatischen Schicksalen des Familien- und Volkslebens.“53 Explizit war der Film auf Spannung und Charakterentwicklung angelegt. Die Kritik des Berliner Tageblatts konstatierte, die Handlung „entwickelt sich so selbstverständlich, ist auch im Tempo und in der inneren Handlung so gut geführt, dass man schnell eingefangen wird“.54 Obwohl Jurszek den Kontext seines Spielfilms im „gewaltigen Kampf zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Christentum und Heidentum in Südafrika“ situierte,55 ist es die Hauptfigur Tokosile, die diesen wango“) gedreht. Vgl. Ludger Kaczmarek, Missionsfilm, in: Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien, Lexikon der Filmbegriffe, http://filmlexikon.unikiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=6640, zuletzt: 14.8.12; sowie F.T. Meyer, Bekehrung mit Kamera. Filme der Äußeren Mission, in: K. Kreimeier u. a. (Hg.), Geschichte des dokumentarischen Films 2: Weimarer Republik 1918–1933, S. 204–218, hier 211–212. 53 Stephan Jurszek, Ich filme mit Wilden, 2. Aufl. Oberlahnstein 1949, S. 12. Publikumserfolg konnte er während der NS-Zeit allerdings nicht werden. Tokosile wurde mit dem vierten Zensurbescheid 1940 verboten. Vgl. F. T. Meyer, „Endsieg für den Samariter“. Missionsfilme der evangelischen und katholischen Kirche, in: P. Zimmermann/K. Hoffmann (Hg.), Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 3 (‚Drittes Reich‘ 1933–1945), S. 414–420. Vgl. Alain Patrice Nganang, Der koloniale Sehnsuchtsfilm. Vom lieben „Afrikaner“ deutscher Filme in der NS-Zeit, in: Susan Arndt (Hg.), Afrikabilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster 2001, S. 232–252. 54 Zitiert nach: Jurszek, Ich filme, S. 157, m. Herv., R. H. 55 Jurszek, Ich filme, S. 158. Vgl. auch Stephan Jurszek, Einführung und katechetische Auswertung zum Missionsfilm „Tokosile. Die schwarze Schwester“, o. O., o. J., eingesehen in der Bibliothek des Klosters Schweikelberg.
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Zivilisierungskampf personifizierte, und ihre Partei sollte der Kinobesucher ergreifen.56 Die hier vorgestellten Erzählungen, die nach dem Winnetou-Prinzip positive nicht-europäische Heldenfiguren ins Zentrum stellen, sind in einen kolonialen Diskurs eingehängt und operieren mit den Mitteln rassistischer Differenz- und Stereotypenbildung. Sie stellen in keiner Weise europäische Superiorität infrage und häufig diskreditieren sie „heidnische“ Kulturen.57 Vergleicht man sie allerdings mit dem Spektrum kolonialer Sach- und Romanliteratur bzw. des Kolonialfilms, in der Weimarer Republik noch verschärft durch die Propaganda-Kampagnen zur „Kolonialschuldlüge“ und zur „Schwarz Schmach“,58 so wird das Spezifische deutlich: Nicht ein ‚weißer‘ Kolonisator steht im Zentrum und monopolisiert Handlungsmacht, Charakterentwicklung und Identifikationspotenzial. Jànos Riesz hat von einer „unterbrochenen Lektion“ deutscher Leser im Bezug auf afrikanische Literatur gesprochen. Bis heute wird afrikanisch-deutsche Literatur von Migrantinnen und Migranten in deutscher Sprache kaum wahrgenommen.59
Inszenierte Begegnungen: Briefwechsel, Theaterstücke, Travestien Für den französischen Mediensoziologen Luc Boltanski stellt die Überbrückung von Distanz eine zentrale Herausforderung für die Gefühlsproduktion im globalen Kontext dar. Um Empathie tatsächlich herzustellen, war allerdings ein vorgestellter Perspektivenwechsel nötig, wie ihn literarische Erzählungen ermöglichten. Die Erzählungen aus der Mission gewannen an Dynamik und Spannungen, wenn einzelne Kinder aus der Mission in Form von Briefen mit den Lesern und Leserinnen kommunizierten. Diese Briefe waren nicht unbe56 Vgl. den in Ostafrika situierten Film der Bethel-Mission „Andrea – der Sohn des Zauberers“ (1928); dazu F. T. Meyer, Bekehrung mit der Kamera, S. 206. 57 Siehe auch den Beitrag von Albert Gouaffo in diesem Band, der nachdrücklich auf diesen Aspekt hinweist. 58 Vgl. Nganang, Sehnsuchtsfilm, und Jànos Riesz, Die „unterbrochene Lektion“. Deutsche Schwierigkeiten im Umgang mit afrikanischer Literatur, in: Susan Arndt (Hg.), Afrikabilder. Studien zu Rassismus in Deutschland. Münster 2001, S. 162– 174. 59 Vgl. Albert Gouaffo, Afrikanische Migrationsliteratur in Deutschland und interkulturelles Lernen: Zu ihrem Einsatz im Literaturunterricht des Deutschen als Fremdsprache/Zweitsprache, in: eDUSA 5 (2010) 1, S. 5–16.
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dingt häufig – ein bis zwei Briefe pro Jahr wurden etwa in der Kinderzeitschrift der Missionsbenediktiner abgedruckt. Zum Teil richteten sie sich direkt an die Leserschaft („die europäischen Kinder“), zum Teil waren sie an Missionare gerichtet, die nach Europa zurückgekehrt waren. Gelegentlich wurden auch Schulaufsätze oder Zeichnungen von Missionsschülern publiziert.60 Das Missionsmuseum von St. Ottilien stellte zumindest in seiner Anfangszeit auch Schulhefte aus den Missionsschulen aus, die von den Besuchern durchgeblättert werden konnten.61 Afrikanische Kinder – die Authenzität ist hier nicht unbedingt zentral – berichteten von Erlebnissen aus ihrem Alltag. Joseph Sihaba etwa beschrieb 1898 aus Dar es Salaam seinen Arbeitsalltag in der Schreinerei und schilderte auf Bitten eines ehemaligen St. Ottilianer Mitschülers die Vogelwelt an der ostafrikanischen Küste. Sihaba war Schüler im Missionsseminar gewesen, musste aber aus gesundheitlichen Gründen nach Ostafrika zurückkehren.62 Die Zeitschriften-Redaktion nahm den Brief an seine ehemaligen Mitschüler zum Anlass, eine Kommunikationssituation zwischen den Lesern und den Kindern in Dar es Salaam zu inszenieren: „Da Joseph dieses ‚Heidenkind‘ wahrscheinlich auch in die Hand bekommt und liest, so wollen wir alle miteinander ihm und seinen schwarzen Kameraden ein paar Millionen Grüße schicken und versprechen, für ihn und die anderen zu beten.“ Mari Disiki schrieb von der Station Lindi einen Brief an den Generalsuperior der Missionsbenediktiner, indem sie berichtet, wie sie am NyassaSee aufwuchs, entführt und als Sklavin verkauft wurde, und wie sie schließlich zur Mission gelangte – abgedruckt ist nicht nur eine holprige deutsche Übersetzung, sondern auch der Swahili-Text.63 Im selben Jahrgang wurde 60 Heidenkind 1898, S. 11; 1927, S. 126. Am Beispiel von Handarbeitsproben, die aus den Church Missionary Society Stationen nach Europa geschickt wurden, zeigt Silke Strickrodt die Bedeutung von Gegenständen als materielles Feedback für die Bindung von Spendern an die Mission. Vgl. Silke Strickrodt, African Girls’ Samplers From Mission Schools in Sierra Leone (1820s to 1840s), in: History in Africa 37 (2010), S. 189–245. 61 Heidenkind 1900, S. 148. Um 1920 wurde das Museum nach ethnografischen Gesichtspunkten reorganisiert, die Sammelgegenstände systematisiert und in Vitrinen gelegt. Die Ausstellung wurde bis heute kaum verändert. Vgl. Führer durch das Afrikamuseum St. Ottilien. Sammlungen aus unserem Missionsgebiet DeutschOstafrika, ca. 1920, vorhanden in der Bibliothek des Klosters Schweiklberg; sowie zur Praxis von Missionsausstellungen den Beitrag von Linda Ratschiller in diesem Band. 62 Das Heidenkind 1898, S. 140 f. 63 Das Heidenkind 1899, S. 31 f.
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ein Brief eines Kindes der Missionsstation Kollasini publiziert. Der „kleine Nikoverius“ dankt darin seiner „Mutter“ in Deutschland und bestätigt, die geforderten Gebete geleistet zu haben – auffällig ist neben der ostentativen Mutter-Kind-Semantik die bewusste Anspielung, warum ein Zusammentreffen nicht möglich sei, und die „Grüße an alle Schwestern und Kinder in Deutschland“.64 Ähnlich wie Mari Disiki berichtete auch Charlotte Bahati von ihrer Entführung, Versklavung und von der letztendlichen Rettung durch die Mission – allerdings wandte sich Bahati direkt an die „weißen europäischen Geschwister“, dankt für die gespendeten Weihnachtsgeschenke und den „weiße[n] Geschwisterchen, sehr viele Grüße von uns allen“.65 Philomena Kininumutemi schilderte einem Überfall eines Leoparden auf das Kinderhaus der Missionsstation Tosamaganga, dem die Kinder aber wie durch ein Wunder unverletzt entkamen.66 Begegnung konnte im Missionstheaterspiel inszeniert werden. Die Kinderpublikationen der Benediktiner enthalten verschiedene Kinderstücke, in denen in verteilten Rollen die Begegnung zwischen Missionaren und Nichtchristen eingeübt und nachvollzogen werden konnten – etwa der Einakter „Feuerwolke“, in dem der weise Häuptling Feuerwolke von einem Jesuiten bekehrt wird und der verschlagene Medizinmann Klapperschlange das Nachsehen hat.67 In dem Missionsspiel für Mädchen „Sinape“ gibt das Waisenmädchen Sinape ihr Leben für die Missionsschwester „Mutter Gabriela“. Neben zwei Missionsschwestern fallen die tragenden Rollen afrikanischen Mädchen zu, und die Hauptfigur in dem Stück ist ein afrikanisches Kind, das am Ende bekehrt stirbt.68 Den Leserbriefen an die Kindermissionszeitschriften ist zu entnehmen, dass Missionsdramen öffentlich aufgeführt wurden, Krippenspiele ersetzten, und die Einnahmen der Mission gespendet wurden. Die Travestie der Missionsspiele – europäische Kinder verkleideten sich als „Heiden“, schminkten sich mit Ruß, um der landläufigen Vorstellung von 64 65 66 67
Das Heidenkind 1899, S. 191. Das Heidenkind 1900, S. 91–93. Das Heidenkind, 1900, S. 99–101. Vgl. Heidenkind-Kalender 1931, S. 23–40. In einem weiteren Einakter „Der Unglückskaffee“ verbrennt die Mutter des kleinen Hansi Hölzle scheinbar Geld, das der Junge für den Pfarrer einsammeln musste. Hansi, der gerne ein Missionsseminar besuchen würde, dem aber das Geld fehlt, ersetzt die Summe aus seinen Ersparnissen. Als das Geld wieder auftaucht, beschließt er, es trotzdem für die Mission zu spenden. Der Schuldirektor erfüllt ihm daraufhin seinen Wunsch und finanziert den Besuch des Missionsseminars (Heidenkind-Kalender 1921, S. 11-24). 68 Heidenkind 1924.
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Afrikanern nahezukommen, richteten einfache Missions- und Kirchenräume ein – vertiefte den imaginierten Perspektivenwechsel. Sie ließ die Kinder ihre Vorstellungen vom Leid und der Errettung „anderer“ Kinder nachvollziehen und auf der Theaterbühne präsentieren. Im Gegensatz zu Karnevalsmaskeraden ging es in diesen Missionsdramen nicht um Lächerlichkeit oder Subversion der Ordnung. Deutsche Kinder spielten „Schwarzsein“ in ernsthaftem Kontext, imaginierten sich selbst als Leidende, konnten Empathie üben, sich gepflegt, umsorgt und gerettet fühlen (Abb. 6). Indem so vermeintliche Afrikaner auf die Bühne gebracht wurden, übten Kinder neue Rollen ein, und die Mission inszenierte interkulturelle Begegnung, ohne dass sich tatsächlich deutsche und afrikanische Kinder trafen. Nach 1911 nahm die Zahl der sogenannten Missionsfeste auch im katholischen Deutschland zu, bei denen neben Erwachsenen- und Kindergottesdiensten, Missionspredigten, Liederabenden und einem Lichtbildvortrag eines Missionars auch Theaterstücke und mehr noch „lebende Bilder“ eine Rolle spielten. Dabei wurden Szenen aus der Missionsgeschichte und dem Missionsalltag nachgespielt. Am 17.3.1912 in Essen-West etwa wurde der Vortrag des Steyler Missionars Pater Dier vom Kirchenchor, von Textrezitationen und einer Reihe von dramatischen Szenen über die Bekehrung der Germanen durch den hl. Bonifatius, über den hl. Franz Xaver in Indien, die Kulturarbeit in der Mission und den Triumph der Kirche über die Heidenwelt begleitet. Ähnlich wie die Missionsdramen setzten auch die szenischen Darstellungen Travestien voraus: In einen Handbuch zur Gestaltung von Missionsfesten führte der Steyler Pater Anton Freytag 1913 eine Szene aus: „Links eine Barmherzige Schwester, um sie herum sitzt oder kniet eine Gruppe von Kindern, eins betet, Abb. 6 Originaltitel: „Eine Fastnachtsfreude und ein Fastnachtsopfer zu Ehren Mariens“ (Etwas zur Nachahmung, in: Das Heidenkind 22 (1909), S. 239).
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eins liest in einem Buch, eins stickt, eins häkelt. Sämtliche Kinder schwarz. Nach dem Bilde sammeln schwarze Kinder für die Heiden“69. Das Vermeintliche und Fiktive dieser Perspektivenwechsel ist hervorzuheben. Dennoch war gerade die Fiktion, indem sie Raum für Imagination ließ, für die Herstellung von Mitleid zentral. Das Mitleid, das hier produziert wurde, war nicht abstrakt, sondern konkret – allerdings waren die Menschen, mit denen man fühlte, nicht real, sondern weitgehend imaginiert. Ebenso wichtig für die Herstellung von Empathie war das Zusammenwirken verschiedener Medien sowie dynamisch-narrativer und statisch-realistischer Präsentationsformen. Literarische Erzählungen brauchten den suggerierten Realismus topografischer Reiseberichte oder ausgestellter ethnologischer Gegenstände sowie die Unmittelbarkeit der Fotografie, um einen konkreten Raum entstehen zu lassen. Um die räumliche und kulturelle Distanz zwischen den Lebenswelten Europas und den außereuropäischen Missionsfeldern zu überbrücken, waren allerdings personalisierte Geschichten und anschauliche Charaktere notwendig, mit denen man sich identifizieren konnte, weil sie in konkreten moralischen Konflikten und lebensweltlich nahen Situationen agierten.
Handeln aus Mitleid Erzählungen, Briefwechsel, Bildfolgen, gespielte Szenen, Theaterstücke oder Feste machten nicht nur Missionsarbeit anschaulich, sondern ließen Perspektivenwechsel imaginieren und produzierten Empathie mit leidenden „Heiden“ außerhalb Europas. Dies geschah in dynamischen Situationen der imaginierten oder tatsächlichen Interaktion. Die Dynamik birgt allerdings eine Gefahr: Susan Sontag verweist auf die suggerierte, scheinbare Nähe, die Bilder leidender Anderer beim Betrachter hervorrufen, die scheinbare Überwindung von Distanz und das Gefühl des „Mitleids“, das dadurch erzeugt wird. Und sie kritisiert, dass die im „Mitleid“ enthaltene eigene „Unschuld“ wie auch „Ohnmacht“, da sie nicht in Handeln umsetzbar sei, schnell in „Apathie“ umzuschlagen drohe.70 Die Mission bot dagegen eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Empathie in Handlung umzusetzen – alle hatten mit der materiellen und ideellen Unterstützung der Missionsarbeit zu tun. Unterstützen konnte man in Form 69 Freytag, Das katholische Missionsfest, S. 185. Vgl. allgemein o. A., Missionsfeste. Warum und wie sie veranstaltet werden sollen, St. Ottilien 1916. 70 Vgl. Sontag, Regarding, S. 91.
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von Gebeten, Liedern, Gottesdiensten, der Verehrung bestimmter Heiliger und der Teilnahme an Missionsfesten.71 Materielle Unterstützung betraf vor allem Geldspenden. Hier wäre eine Hypothese zu wagen: Während sich im 19. Jahrhundert katholische Mission darauf konzentrierte, Spenden als Christenpflicht darzustellen und sie als Teil einer religiösen Sündenökonomie präsentierte, zu der nicht zuletzt der Sündenablass für den Spender zählte,72 trat im frühen 20. Jahrhundert stärker der Wirkungszusammenhang Empathie-Asymmetrie-Hilfe hervor. Parallel dazu löste der Begriff „Spende“ den Begriff „Almosen“ ab.73 Die Hilfe für die leidenden Anderen begann wichtiger zu werden als die Arbeit für das eigene Seelenheil.74 Aus einer kommunikativen Dreiecksbeziehung, in der Gott im Zentrum stand und Christen mit Heiden nur vermittelt kommunizierten, wurde eine lineare Verbindung. Die Spendenempfänger wurden greifbarer, die Verbindungen konkreter und unvermittelter, beruhten auf emotionalen Bindungen über große Distanz: Es veränderte sich auch die Form – individualisiertes, persönliches Spenden trat neben die Kollekte, den Vereinsbeitrag und das Zeitschriftenabonnement.75 Katholische Kinder in Schwaben etwa entwickelten die Idee, jeweils einzeln für ein ostafrikanisches Kind auf der Benediktiner-Station Madibira zu beten, nachdem sich ein Missionar über den mangelnden Erfolg seiner Arbeit beklagt hatte. Dies sei den Kindern „sehr zu Herzen“ gegangen und sie 71 Linus Leberle (Hg.), Geist der Missionshilfe. Gedanken einer eifrigen Förderin anderen zu Nutz und Frommen, München 1917. 72 Vgl. Siegfried Weichlein, Mission und Ultramontanismus im frühen 19. Jahrhundert, in: Gisela Fleckenstein (Hg.), Ultramontanismus. Tendenzen der Forschung, Paderborn 2004, S. 93–109. Die Spannung zwischen „Almosenpflicht“ und „Akt der Nächstenliebe“ wird in den Werbebroschüren der Mission um 1900 deutlich, die sich an Erwachsene richten, siehe etwa Linus Leberle, Der Hilferuf der Heiden (Im Kampf fürs Kreuz 2), 2. Aufl. St. Ottilien 1916. 73 Die Auseinandersetzung im Katholizismus und in verschiedenen päpstlichen Sozialenzykliken mit der Sozialen Frage und dem Kapitalismus führte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem neuen Spendenverständnis, dass die Sozialpflichtigkeit des Eigentums betonte und Spenden als Ausdruck der Nächstenliebe verankerte. Globalisiert wurde dieses Spendenverständnis spätestens mit dem Pontifikat Johannes XXIII. (1958–1963) und dem Zweiten Vatikanum. Vgl. Oliver Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt. Sozialethische Aspekte christlicher Spendenkultur, Freiburg i. Br. 2005. 74 In der protestantischen Mission im 19. Jahrhundert wurde analog im Sinne der Gnadentheologie von der Arbeit „zur Ehre Gottes“ gesprochen. Siehe den Beitrag von Judith Becker in diesem Band. 75 Vgl. Arens, Mission im Familien- und Gemeindeleben.
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hätten beschlossen, „ein jedes wolle für ein ganz bestimmtes schwarzes Kind jeden Tag beten“.76 Zur zentralen Figur wurde dabei das versklavte, womöglich kranke oder verwaiste Heidenkind, das losgekauft werden musste, dessen Patenschaft oder vielmehr dessen Namensgebung man übernehmen konnte,77 für dessen Ausbildung man aufkam, dem Kleider geschickt wurden und das womöglich Briefe schrieb, dankte und über Alltagserzählungen ein weiteres Mal kulturelle und geografische Distanz überbrücken konnte. Anschaulich wird dies etwa im Brief des „kleinen B.“ an den Redakteur der Zeitschrift Heidenkind 1898. Darin kündigt der Erstklässler eine kleine Geldspende an und berichtet über seine Bezüge zu Afrika: „Am liebsten sehe ich Landkarten an, besonders die von Afrika, aber ob ich deshalb Missionär werde, weiß ich noch nicht gewiß, denn ich fürchte mich sehr. […] Ich habe leider keine Geschwister, denn mein größeres Schwesterchen ist mir voriges Jahr gestorben. Es war so lieb mit mir […]. Ich habe zwar dafür ein schwarzes Schwesterlein im Kapland bekommen, aber mit dem kann ich nicht spielen“.78 Schon im 19. Jahrhundert waren es nicht große Spenden, sondern Kleinstbeträge und Vereinsmitgliedschaften, die durch eine Art „Mitmacheffekt“ Bindungen an Missionsorden, einzelne Missionare und Missionsschwestern bewirkten. In den 1920er-Jahren kamen weitere Mitmach-Aktionen hinzu, etwa das Sammeln von Briefmarken, Stanniolpapier oder das Nähen von Kleidern aus Stoffresten zugunsten der Mission, besonders im Schulunterricht.79 In Kirchen und Schulen gehörten Sammelbüchsen zum Inventar, die eine exotisch-farbenfrohe bis chauvinistische Ikonografie aufwiesen.80
76 Das wirksame Gebet der kleinen Hilfsmissionäre, in: Das Heidenkind 22 (1909), S. 37. 77 Ein Beispiel aus den Spenderlisten: „Aus Weibersbrunn von den Erstkommunikanten für ein Heidenkind ‚Anna‘ 20,50 Mk.“, Das Heidenkind 11 (1898), S. 60. Vgl. als Beispiel für die Ikonisierung des kranken afrikanischen Kindes in der Missionswerbung Norbert Weber, Sorgenkinder. Rundgang durch die Aussätzigendörfer im Süden Ostafrika, 3. Auflage St. Ottilien 1922. Vgl. zu Patenschaften auch den Beitrag von Julia Hauser in diesem Band sowie Strickrodt, African Girls’ Samplers, zu Patenschaftsangeboten der Church Missionary Society seit den 1830er Jahren insb. S. 203 ff. 78 Das Heidenkind 1898, S. 155. 79 Vgl. Ludovika Heße, Beispiele von Missionsarbeit in der Schule, in: Coelestin Maier, Missionspflicht der Frau und Jungfrau (Im Kampf fürs Kreuz 20), St. Ottilien 1919, S. 22–24. 80 Vgl. Auke de Vries, „Gehet hinaus in alle Welt“. Die Missionssparbüchse im Wandel, Köln 1989.
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Resümee Die Missionspädagogik blieb hinter der Praxis der Missionspublizistik insofern zurück, als sie die Identifikation mit den heidnischen oder neubekehrten Anderen als Nebenprodukt betrachtete. Seit dem späten 19. Jahrhundert versuchten die Missionsautoren und -autorinnen, insbesondere wenn sie sich an Kinder richteten, räumliche und kulturelle Distanz zwischen der Heimat und den Missionsfeldern zu überbrücken. Indem sie über kindernahe Themen wie Spiel, Märchen oder Schule in Kindermissionszeitschriften berichteten, indem sie Fotografien und Zeichnungen von Kindern „exotischer“ Kulturen zirkulieren ließen, integrierten sie afrikanische, asiatische oder amerikanische Kindheiten in die Lebenswelten der katholischen Kinder in Deutschland. Über Briefwechsel oder Patenschaften wurden Begegnungen inszeniert. Mithilfe von Abenteuererzählungen, Bildergeschichten oder Theaterstücken, die nicht-europäische Kinder als Heldenfiguren ins Zentrum von Geschichten rückten, forderten sie die Leser auf, für „andere“ Kinder Partei zu ergreifen. Auf der Bühne und im Spiel konnten deutsche Kinder Perspektivenwechsel üben, Travestien veranstalten, Interaktion mit Kindern aus den Missionsfeldern imaginieren. Die Produktion von Empathie über große Distanz blieb nicht statisch, denn die Mission bot reichlich Gelegenheit, Mitleid in Handlung umzusetzen, durch Spendensammeln, durch Gebet, durch Briefe und Theaterstücke. Mission hatte schon immer mit Gefühlen zu tun gehabt, mit Projektionen und Identifikationen: Auch die Missionspropaganda des 17. Jahrhunderts versuchte mit Rekurs auf Missionare wie den hl. Franz Xaver, Bindungen, Sehnsüchte und auch Empathie zu erzeugen, allerdings mit dem europäisch-christlichen Missionar. Neu war im 20. Jahrhundert der Versuch, Identifikation, Interaktion und Perspektivenwechsel mit dem leidenden Anderen hervorzubringen. Eine Missionsaktivistin, die sich in München für die Benediktinermission einsetzte, beschrieb den Mechanismus der Kindermission als Analogie zum Puppenspiel: „Das größere Mädchen spielt schon gerne etwas das Mütterchen, muß Wäsche kaufen für das Püppchen, es kleiden, für dasselbe sorgen, muß sich kümmern, es wiegen und einschläfern! […] Aber was sollen wir die lieben Kleinen nur für Püppchen sorgen und dieselben kleiden lassen? Könnten sie nicht auch ein kleines schwarzes Negerlein kleiden? Mit Freuden werden sie auf Näschereien verzichten, um etliche Pfennige für ein armes
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Kind im Heidenlande zu erübrigen.“81 In dieser Puppen-Analogie liegt das Dilemma der missionarischen Empathie-Produktion: das Auseinanderfallen von real gefühlter Empathie und Künstlichkeit des Objekts der Empathie. Dass es sich bei den „leidenden Anderen“ zum allergrößten Teil um kulturelle Konstrukte europäischer Imagination handelte, ändert an den Gefühlen für sie überhaupt nichts – genau wie Kinder Puppen im Spiel ernst nehmen und das Spiel genau dann obsolet wird, wenn es als künstlich erkannt wird. Mit Fritz Breithaupt habe ich argumentiert, dass genau in der Fiktion und in der Imagination der Schlüssel zur Empathie liegt, nämlich in dem sich Hineinversetzen in die Konfliktlagen eines Gegenübers. Am Ende bleibt ein ambivalentes Fazit: Der missionarische Diskurs in Europa beschränkte sich keineswegs nur auf kulturelle oder rassistische Differenzbildung, an deren Ende die Superiorität des Christentums und der Zivilisation stand. Mitgefühl, Nähe, Perspektivenwechsel sogar Identifikation konnten ihren Ort in der Auseinandersetzung haben. Allerdings erleichterte Empathie womöglich nicht unbedingt wechselseitige Kommunikation – die hier beschriebenen Prozesse der Empathie-Produktion beruhten auf medial vermittelten Erzählungen, Bildern und Stereotypen des „Anderen“. Sie suggerierten persönliche Nähe zu den leidenden Menschen in Afrika. Sie beruhten nicht auf tatsächlicher Interaktion, sondern auf einer imaginierten Begegnung zwischen europäischen „Helfern“ und afrikanischen „Opfern“. Ein Ausblick am Ende: Die Herstellung globaler Gefühle im kolonialen oder postkolonialen Zeitalter, ob nun Sehnsüchte, Empathie oder Zorn, ist kein innereuropäischer Prozess. Zum einen schalteten sich Akteure in den Missionsländern zunehmend aktiver in den Kommunikationsprozess über große Distanz mit ein, im Briefverkehr, in der kulturellen Übersetzungsarbeit als intermediaries, im Zuge der Afrikanisierung des Klerus und des zunehmenden personalen Austauschs von Süd nach Nord. Zum anderen bedeutete natürlich Mission auch eine Globalisierung der Imagination und der Identifikationen in den Missionsländern. Eine zukünftige globale Verflechtungsgeschichte der Empathie dürfte stärker als in meinem Beitrag an diesen Symmetrien auszurichten sein.
81 Leberle, Geist der Missionshilfe, S. 46.
Aus Töchtern werden Schwestern Afrikanische katholische Ordensfrauen in kolonialen und postkolonialen Zeiten Katrin Langewiesche
Dieser Artikel folgt der kolonialen Geschichte afrikanischer Ordensfrauen in postkoloniale Zeiten. Ihre lokalen Erfahrungen werden in den nationalen Kontext Obervoltas, des heutigen Burkina Fasos, eingebettet und mit den neuen Entwicklungen der globalen katholischen Kirche in Verbindung gebracht. Es geht darum, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert deutlich zu machen sowie die historischen Wurzeln der heutigen Netzwerke katholischer Ordensfrauen zu beschreiben. Als Fallbeispiel habe ich zwei Kongregationen gewählt: erstens die Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika. Sie wurden unter dem populären Namen Weiße Schwestern1 bekannt und gehörten zu den einflussreichsten Missionsinstituten, besonders in Westafrika, seit Beginn des 20. Jahrhunderts;2 zweitens die afrikanische Kongregation der Schwestern der Immaculée Conception von Ouagadougou, deren erste Mitglieder von den Weißen Schwestern ausgebildet wurden. Obwohl es immer mehr wissenschaftliche Arbeiten über Missionarinnen und ihre Rolle in den jeweiligen afrikanischen Gesellschaften gibt,3 bleiben 1 Sœurs Missionnaires de Notre Dame d’Afrique (SMNDA). Ihr männliches Äquivalent, die Missionare Unserer Lieben Frau von Afrika (Missionnaires de Notre Dame d’Afrique (MDA)) werden als Weiße Väter bezeichnet. 2 1938 erstreckten sich die von Weißen Vätern evangelisierten Bereiche über 2 150 000 km2 in Westafrika und 1 110 000 km2 in Äquatorialafrika (Missions d’Afrique, 1938, S. 48–49, S. 234–235 und 1939, S. 18–19, zitiert nach: Sœur Marie Lorin, Après l’histoire des origines de la congrégation 1910–1974. Polykopie, Archiv SMNDA, 2000, S. 63). 3 Beispielsweise: Fiona Bowie/Deborah Kirkwood/Shirley Ardener (Hg.), Women and Missions. Past and Present. Anthropological and Historical Perceptions, Providence/Oxford 1993. Elisabeth Dufourcq, Les aventurières de Dieu. Trois siècles d’histoire missionnaire française, Paris 1993. M. T. Huber/Nancy Lutkehaus (Hg.), Gendered Missions. Women and Men in Missionary Discourse and Practice, Michigan 1999. Sarah A. Curtis, Civilizing Habits. Women Missionnaries and
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die Publikationen über afrikanische katholische Ordensfrauen noch selten.4 Und dies, obwohl die Geschichte afrikanischer Ordensfrauen nicht nur Aufschluss gibt über die wenig bekannte Welt katholischer Kongregationen und ihrer Entwicklungen in Afrika, sondern auch über die koloniale Gesellschaft, in der sie integriert waren: über Geschlechter- und Rassenverhältnisse, über koloniale Bildungs- und Gesundheitspolitik, über die Sozialisierung junger Afrikanerinnen in eine westliche katholische Welt sowie über die Professionalisierung von Frauen. Im zeitgenössischen Kontext hält sich hartnäckig eine überkommene Vorstellung, die katholische Orden, afrikanische wie europäische, als traditionelle, am Status quo festhaltende Gemeinschaften wahrnimmt. Untersucht man ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten, stellt man allerdings schnell fest, dass sie an den Veränderungen der Religion und der Zivilgesellschaft teilnehmen – genauso wie Pfingstkirchen, muslimische Propheten oder charismatische Katholiken. Nicht nur in Burkina, sondern auf der ganzen Welt erkunden katholische Schwestern neue Wege, um sich in der Gesellschaft und für sie zu engagieren.5 Sie tun dies mithilfe von transnationalen Netzwerken. the Rivival of French Empire, New York 2010. Die Hefte der Zeitschriften Social Sciences & Missions (2005) 16: Women and Missions und Histoire et Missions Chrétiennes (2010) 16: L’autre visage de la mission: les femmes. 4 Zu nennen sind hier u. a. die Arbeiten von Mary Aquina, A Sociological Study of a Religious Congregation of African Sisters in Rhodesia, in: Social Compass 14 (1967), S. 3–32. Brigitte Larsson, Conversion to Greater Freedom? Women, Church, and Social Chance in North-Western Tanzania under Colonial Rule, Stockholm 1991. Joan F. Burke, The Catholic Sisters are all Mamas! Celibacy and the Metaphor of Maternity, in: Bowie/Kirkwood/Ardener (Hg.), Women and Missions, S. 251–267. Kathleen R. Smythe, „Child of the Clan“ or „Child of the Priests“. Life Stories of two Fipa Catholic Sisters, in: The Journal of Religious History 23 (1999), S. 92–107. Ghislain de Banville, Kalouka et Zoungoula. Les deux premières religieuses de Brazzaville, au Congo 1892–1909, Paris 2000. Nicholas Creary, Jesuit Missionary Perspectives on the Formation of African Clergy and Religious Institutes in Zimbabwe, 1922–1959, in: Le fait missionnaire 14 (2004), S. 117–145. Phyllis M. Martin, Catholic Women of Congo-Brazzaville. Mothers and Sisters in Troubled Times, Indiana 2009. 5 Als Beispiel für aktuelle sozialwissenschaftliche Arbeiten über weibliche katholische Orden auf verschiedenen Kontinenten seien hier genannt: Heather L. Claussen, Unconventional Sisterhood. Feminist Catholic Nuns in the Philippines, Michigan 2001 (zum Feminismus katholischer Ordensfrauen auf den Philippinen). Gertrud Hüwelmeier, Närrinnen Gottes. Lebenswelten von Ordensfrauen, Münster 2004 (zu zeitgenössischen Aktivitäten einer in Deutschland gegründeten Gemeinschaft und deren transnationalen Veränderungen). Kristoff Talin Survivre à la modernité ? Reli-
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Im Folgenden stelle ich zuerst die Beziehung der Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika zu der von ihr ausgebildeten afrikanischen Kongregation, der Schwestern der Immaculée Conception von Ouagadougou seit 1917 bis heute vor. Seit ihrer Ankunft in Afrika haben die Missionsschwestern aktiv Neugründungen von afrikanischen weiblichen Kongregationen in ganz Afrika unterstützt. 22 Kongregationen wurden von ihnen ausgebildet, davon drei im heutigen Burkina Faso. Im zweiten Teil gehe ich auf die Bedeutung von weiblichen Kongregationen für die Gesellschaft von Obervolta bzw. Burkina Faso und den Wandel ihrer Funktionen im Laufe eines Jahrhunderts ein, bevor ich im dritten Abschnitt die Rolle der katholischen Orden für die Emanzipation der Frauen in Westafrika diskutiere. Im Vordergrund meiner Argumentation steht also der historische Prozess des sich Herauslösens aus kolonialen Hierarchien, die Aufrechterhaltung der katholischen transnationalen Verbindungen in postkolonialen Zeiten, zu denen westafrikanische weltliche Netzwerke hinzukommen, und schließlich die neue Betonung der interkulturellen Kompetenz sowie des emanzipatorischen Effekts der Rolle der katholischen Ordensfrauen in der Gesellschaft Burkina Fasos.
Ausbildung und Abstammung: 1917–1960 „Wir waren bei unseren Müttern als die Garde kam und uns trotz unserer Schreie mitnahm. In Ouagadougou angekommen, wurden wir zu weißen Frauen gebracht, die unsere Sprache verstanden. Sie haben uns eine Matte gieuses et religieux dans le monde occidental, Montréal 2005 (vergleicht Ordensfrauen in Frankreich und Kanada). Amy L. Koehlinger,The New Nuns. Racial Justice and Religious Reform in the 1960s, Havard 2007 (zum Einfluss der Bewegung racial justice in den Vereinigten Staaten der 1960er-Jahre auf amerikanische katholische Ordensfrauen). Roselyne Roth-Haillotte, La vie religieuse entre passion et désordre, Villeurbanne 2008 (ethnografische Studie über kontemplative Frauen in Frankreich). Isabelle Jonveaux, Le monastère au travail. Le royaume de Dieu ou défi de l’économie, Paris 2011 (zu Wirtschaftsformen zeitgenössischer Klöster in Europa). Katharina Stornig, „Sister Agnes was to go to Ghana in Africa!“ Catholic Nuns and Migration, in: Glenda Tibe Bonifacio (Hg.), Feminism and Migration. Cross-Cultural Engagements, Dordrecht/Heidelberg/London/New York 2012, S. 265–282. (zum Zusammenhang von Migration und feministischen Ideen der missionarischen Kongregation Dienerinnen des Heiligen Geistes).
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Abb. 1 Teppichatelier in Ouagadougou, etwa 1932.6
gegeben, eine Decke, einen Stoff [pagne], zu Trinken, zu Essen und sie haben uns ,getröstet‘. Und später im Atelier hat Schwester Delphine uns beigebracht wie man Teppiche webt und allmählich wurden wir zufrieden dort.“7
So beschreibt eines der Mädchen seine Ankunft im Teppichatelier (ouvroir) von Ouagadougou, das dort 1917 von den Weißen Vätern gegründet worden war. Unter der Leitung einer Weißen Schwester, Schwester Delphine, wurden in diesem Atelier Teppiche hergestellt, die an Europäer verkauft wurden. Zu Glanzzeiten des Ateliers arbeiteten dort jeden Tag über 200 junge Frauen zwischen elf und zwanzig Jahren.8 Im täglichen Umgang mit diesen Mädchen während der Arbeit und den Katechismusstunden bemerkte Schwester Delphine besonders eifrige und fromme Jugendliche und schlug sie
6 Archiv SMNDA, Karton Voyages de Sr. Andrée-Marie du Sacré Cœur. 7 Zitiert nach: Sr. Elisabeth de la Trinité, Une femme missionnaire en Afrique, Paris 1983, S. 73. Dieses und alle folgenden Zitate wurden von der Autorin aus dem Französischen übersetzt. Hervorhebungen in den Zitaten sind aus dem Original übernommen. 8 Paul Baudu, Vieil empire, jeune Église. Paris 1956, S. 122.
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als erste Kandidatinnen für ein gottgeweihtes Leben vor.9 Sieben von ihnen legten am 8. Dezember 1930 ihre ersten Gelübde ab und bildeten damit – trotz des gewaltsamen Einschreitens der Familien10 – die erste Gemeinschaft der Schwestern der Immaculée Conception (SIC). Nicht nur in ihrem familiären Umfeld, sondern auch innerhalb ihrer neuen religiösen Familie, den Schwestern der Immaculée Conception, hatten die afrikanischen Ordensfrauen Widerstände zu überwinden. Die ersten afrikanischen Schwestern, die während der Kolonisation, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg, in eine Kongregation eintraten, litten unter den abwertenden Blicken einiger Missionarinnen und Missionare.11 Die afrikanischen Schwestern waren durch die Konstitution der Kongregation dazu gezwungen, ein einfacheres Leben zu führen als ihre europäischen oder kanadischen Schwestern, mit anderer Nahrung, einfachen Schlafmatten statt Betten und häufig körperlich anstrengenden häuslichen Arbeiten.12 Die afrikanischen Novizinnen und ihre europäischen Lehrerinnen lebten in unterschiedlichen Welten. „Ich glaube nicht“, schreibt Elisabeth de la Trinité, die von 1939 bis 1942 verantwortlich war für die Ausbildung der afrikanischen Novizinnen, „dass eine von uns dieses Regime physisch hätte durchhalten können.“13 Außerdem durften die afrikanischen Schwestern kein Französisch sprechen, sondern mussten auf Moore, eine der Verkehrssprachen Obervoltas, lesen und schreiben. Selbst die Mädchen, die in die französische Schule gingen, mussten sich an dieses Verbot halten. Nach der Konferenz von Brazzaville 1944 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges veränderte sich allmählich die Terminologie, mit der die Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika die afrikanischen Schwestern 9 Nicht nur die zukünftigen Schwestern stammten aus dem Atelier, sondern auch die potenziellen Ehefrauen der Katechisten und anderer Christen (Ebd., S. 123). 10 Sondo beschreibt diese Ereignisse detailliert (Sr. Rose-Marie Sondo, Au service de Dieu et des hommes en Haute Volta (Burkina Faso). Ouagadougou 1998, S. 160– 167). 11 Mehrere Rundbriefe der Oberinnen forderten ihre Schwestern auf, den autochthonen Schwestern gegenüber nachsichtig zu sein (LC 1930 Mère Saint-Jean, Conseils Mère Saint Jean 1935, LC 1938/39 Mère Claude-Marie, Archiv SMNDA). Der Rundbrief vom 15. August 1943 von Mgr. Thévenoud nimmt das Thema wieder auf (Sondo, Au service de Dieu, S. 179). Phyllis M. Martin beschreibt ähnliche Konstellationen von Autorität und Hierarchie für Kongregationen im Kongo (Martin, Catholic Women, S. 109). 12 Rapport du Noviciat de Pabré 1939/40, Archiv SMNDA, Signatur B 5171/9. 13 de la Trinité, Une femme missionnaire, S. 87.
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und auch die Schulmädchen bezeichneten, deren Ausbildung ihnen oblag. Die Terminologie spiegelt die Entwicklung wider, die die Kinder im Sinne der Missionsschwestern durchlaufen sollten: Aus den „jungen Buschbewohnern von gestern“ sollten „aufgeschlossene Aspirantinnen [werden], die fähig sind, die religiöse Erziehung, der sie entgegen streben, aufzunehmen“.14 Aus den „armen Kindern“15, „den kleinen Wilden“ oder den „niedlichen Wilden“16 der 1930er-Jahre werden „unsere Mädchen“ und „unsere Töchter“ oder „unsere kleinen schwarzen Schwestern“17, wenn es um die afrikanischen Postulantinnen geht. Obwohl es durchaus vorkam, dass die Missionarinnen jünger waren als die Frauen, die sie ausbildeten18, bezeichneten sie die afrikanischen Schwestern, gleich welchen Alters und unabhängig davon, ob es sich um geweihte Frauen oder Postulantinnen handelte, gerne als ihre Töchter, die Aufmerksamkeit, Disziplin und Ermutigung verlangten. Ende der Dreißigerjahre berichtet Schwester Elisabeth de la Trinité in ihren Memoiren von den ersten Anzeichen aufkommender Autonomiewünsche der „Töchter“. Die Schwestern der Immaculée Conception wollten selbstständig ihre Posten leiten und nicht mehr nur als Handlanger der Weißen Schwestern fungieren.19 Die Missionarinnen reagierten verständnisvoll auf die Autonomiewünsche. Schließlich sei es normal, dass Kinder flügge würden und zudem bereiteten sich die Missionarinnen gemäß den Anweisungen ihres Gründers seit Beginn ihrer Mission darauf vor, die einheimischen Kongregationen in afrikanische Hände zu übergeben. Doch noch hielten sie die afrikanischen Schwestern nicht für mündig, noch für ungenügend ausgebildet oder nicht ausreichend geführt und überwacht.20 14 Beschriftung des Fotoalbums „Haute-Volta 1962“, Archiv SMNDA. 15 Mgr. Thevenoud 1937 in einem Brief an die Generaloberin der Weißen Schwestern, zitiert nach: Sondo, Au service de Dieu, S. 178. 16 Religieuse Missionnaire de Notre-Dame d’Afrique, 7 ans de vie soudanaise. Lyon 1935, S. 123. 17 Sr. Marie St. Hervé, A travers l’AOF, in: Chroniques des SMNDA (1939) n° 267, S. 152–155, hier 154. 18 Sr. Elisabeth de la Trinité war 20 Jahre alt, als sie 1934 nach Obervolta kam; Sr. Renelde war 25 Jahre alt, als sie 1949 dort eintraf. Sie war jünger als die Novizinnen der SIC, für die sie verantwortlich war (Interview März und Mai 2008). 19 De la Trinité, Une femme missionnaire, S. 94. 20 Rapport du Noviciat Marie-Immaculée de Pabré 1939/40, Archiv SMNDA, Signatur B 5171/3. Den Novizen-Jahrgang 1940 beschreibt die Weiße Schwester, Autorin des Berichts, als „intelectuellement lamentable“, den Missionsposten von Ouagadougou als zu „groß für eine indigene Oberin“.
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Diese Generationenmetapher „Mütter-Töchter“ macht die ungleichen sozialen Positionen der Missionsschwestern und der afrikanischen Ordensfrauen deutlich.21 Sie konstruiert das übliche koloniale Stereotyp, das Afrikaner als große Kinder beschreibt, die ihren Eltern, den Kolonisatoren, dankbar sind für Erziehung und Zivilisation.22 Die jungen Postulantinnen werden charakterisiert als „träge“ Kinder, „ungeheuer empfindlich“, mit einer „dienenden Mentalität“, aber mit „gutem Willen“ und „dem brennenden Wunsch, es zu schaffen“.23 Paul Baudu, der mehrere Jahre der spirituelle Begleiter der ersten afrikanischen Schwestern war, schreibt: „Ordensfrauen, Bräute Christi, das sind sie sicherlich. Doch Sein göttlicher Blick muss sich mit Nachsicht auf diese Kinder richten, die doch kaum erst Wilde waren und dennoch so gut die flammende Rede Pascals vollbringen, ohne sie jemals gelesen zu haben: ‚Herr, ich gebe Dir alles‘.“24
Die afrikanischen Schwestern benutzen in ihren Erinnerungen ebenfalls die Mutter-Tochter-Metapher, um ihr Verhältnis zu den Oberinnen, Novizenmeisterinnen und Lehrerinnen zu beschreiben. „Sie behandelten uns wie ihre Töchter! Und wenn wir etwas machten das nicht gut war, korrigierten sie uns! Wir wussten so musste es sein, damit wir perfekte Schwestern werden konnten“.25 Sozialisiert in einer mütterlichen Hierarchie haben sie die christliche Idee der spirituellen Mutterschaft verinnerlicht, gelebt und weitergegeben. Sie integrierten die Idee der westlichen Überlegenheit, die ihnen mehr oder weniger gewaltsam aufgezwungen wurde, und interpretierten sie
21 Anlässlich des Besuchs der Generaloberin der SMNDA, Mère Claude-Marie, in Obervolta 1939 berichtet eine Missionarin, dass die afrikanischen Schwestern sie mit folgenden Worten empfingen: „Die Mutter aller Weißen Schwestern, die unsere Mütter sind, ist sie nicht unsere Großmutter?“, Sr. Marie St. Hervé, A travers l’AOF, in: Chronique des SMNDA (1939) n° 267, S. 152–155, hier S. 153. 22 Julia Clancy-Smith/Frances Gouda (Hg.), Domesticating the Empire. Race, Gender and Family Life in French and Dutch Colonialism, Charlottesville/London 1998, S. 9. 23 Paul Baudu, Sœurs Noires. Formation et Préparation, in: Mgr. Thevenoud, Dans la boucle du Niger, Namur 1938, S. 218–222. Elisabeth de la Trinité. La Classe chez les Novices Noires, in: Chroniques des SMNDA (1938) n° 260, S. 210–213, hier S. 210. 24 Baudu, Sœurs Noires, S. 222. 25 Sr. A., 1. Gelübde 1959, Interview 2010.
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im Nachhinein als positiv. Dazu mag beigetragen haben, dass ihnen ihre neue Position eine privilegierte Stellung innerhalb der Gesellschaft verschaffte. Je näher die afrikanischen Schwestern dem Ideal der perfekten Ordensfrau kamen, desto mehr wurden sie von den Missionarinnen nicht nur als Gruppe wahrgenommen, welche die indigene Kirche stärken sollte, sondern erfuhren
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Abb. 2 bis 4 „Postulantinnen in der Küche“,26 „Schwester Suzanne-Marie, Mädchen der Haushaltsschule und eine schwarze Schwester“,27 „Schwester Delphine und Postulantin“.28
auch als Individuen Aufmerksamkeit. Dies drückt sich in den Berichten29 und den Legenden der Fotografien aus, die im Archiv der Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika in Rom aufbewahrt werden. Die ersten Fotografien sind mit Beschriftungen versehen, die die Namen der ausbildenden Missionarinnen angeben, während die afrikanischen Frauen als Gruppe benannt werden oder mit ihrem Rang innerhalb der Kongregation. 26 Originalbeschriftung: „Postulantinnen in der Küche“, ohne Datum, um 1935. Archiv SMNDA, Karton Immaculée Conception 3406. 27 Originalbeschriftung: „Schwester Suzanne-Marie, Mädchen der Haushaltsschule und eine schwarze Schwester“, ohne Datum etwa 1932–34, Archiv SMNDA, Karton Voyages de Sr. Andrée-Marie du Sacré Coeur. 28 Originalbeschriftung: „Schwester Delphine und Postulantin, die Spinnräder“, ohne Datum etwa 1932–34, Archiv SMNDA, Karton Voyages de Sr. Andrée-Marie du Sacré Coeur. 29 In ihrem Bericht über das Noviziat von Pabré 1939/40 verfolgt die Autorin, Sr. Elisabeth de la Trinité, noch ganz die alten Linien. Nicht ein einziges Mal werden die 14 afrikanischen Novizinnen mit ihren Namen genannt, sondern als ethnische Gruppen, die „dagari“, die „gurunsi“, zusammengefasst. Die Dagari sind in ihrer Beschreibung „apathisch“, „mittelmäßiger Intelligenz“ und „unterwürfig“, die Gurunsi „gute Arbeiterinnen mit unabhängigem Geist“, Archiv SMNDA, Signatur B 5171/3.
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Abb. 5 1941/42 Noviziat Pabré ,von links nach rechts: 1. Rang (oben): Srs. Justine, Marie-Thérèse, Colette, Margerutus Marie 2. Rang: Srs. Thérèse Bernadeur, Ribiane, Blandine, Thérèse Regina, Honorine, Angélique, Cécile, Jeanne-Marie, Aloysia, Bernadine 3. Rang: Srs. Anne-Francoise, Clémence, Marie-Denise, Andrée-Marie, Madelaine-Marie, Brigitte, Marie, Anne-Marie, Pauline, Suzanne, Marie-Anne 4. Rang: Srs. Gabrielli, Odile, Marie Madelaine, M.-Jeanne, Mère Elisabeth, Angèle, Bernadette, Elisabeth, Josephine30
Das erste Gruppenfoto mit Namen aller Schwestern, der afrikanischen wie der europäischen, das sich in den Archiven finden lässt, stammt aus dem Noviziat in Pabré und wurde 1941/42 aufgenommen. Die Konstruktion der Fotografien folgt den Kriterien der „Erfolgsfotografie“, die weniger Einblicke in den Missionsalltag als vielmehr Rückschlüsse auf das Verhältnis der Missionarinnen zu den afrikanischen Schwestern und Postulantinnen zulässt, die auf diesen Bildern passend in Szene gesetzt werden.31 Die Ausbildung der afrikanischen Schwestern passte sich nach 1945 langsam den neuen Gegebenheiten an: Französisch wurde als Ausbildungssprache 30 Originalbeschriftung, Archiv SMNDA, Karton Immaculée Conception 3406. 31 Zur Analyse von Missionsfotografie siehe: Andreas Eckl, Ora et labora. Katholische Missionsfotografien aus den afrikanischen Kolonien, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Sunna Gieseke (Hg.), Koloniale und postkoloniale Konstruktionen von Afrika und Menschen afrikanischer Herkunft in der deutschen Alltagskultur, Frankfurt a. M. 2006, S. 231–249.
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eingeführt, die Schwestern lernten Schreibmaschine schreiben und wurden von ihren Oberinnen ermutigt, einen nationalen Schulabschluss abzulegen.32 Diese Neuerungen entsprachen dem Verlangen der jungen Schwestern nach mehr Autonomie gegenüber der Mutterkongregation und nach Gleichberechtigung mit den fremden Missionarinnen. In erster Linie kamen sie aber den Anforderungen der Kolonialverwaltung nach, die gut ausgebildete französisch sprechende Krankenschwestern oder Lehrerinnen brauchte. Ordensfrauen, die ohne anerkannte Diplome als Krankenschwester oder Lehrerin fungierten, wurden von der Kolonialverwaltung nicht bezahlt. Die Mission hatte also durchaus Interesse daran, ihre Schwestern gut auszubilden, um sich die finanzielle Unterstützung der Kolonie zu sichern. 1955, fünf Jahre vor der politischen Unabhängigkeit Obervoltas, lösten die Schwestern der Immaculée Conception sich von ihrer Mutterkongregation. Nach einer Übergangszeit, während der eine Missionsschwester als Generaloberin der SIC die Kongregation zusammen mit einem Rat aus von ihr benannten afrikanischen Schwestern verwaltete, wurde 1955 die erste afrikanische Oberin, Mutter Angèle Nikiéma, von ihren Mitschwestern in dieses Amt gewählt.33 Die Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika sind heute stolz auf ihre „Töchter“ und sich selbst. Sie beschreiben die junge afrikanische Kongregation, die sie trotz aller Schwierigkeiten friedlich und ganz allmählich aus der europäischen Vorherrschaft entlassen haben, als Beispiel für die politische Welt.34 Die Quellen zeigen jedoch, dass die Machtübergabe an die afrikanischen Schwestern nicht ohne Widerstände verlief. 1952 musste Mère Louise-Marie ihre Mitschwestern mit deutlichen Worten ermahnen, dass „diese Schwestern echte Ordensfrauen eures Gleichen sind“.35 Und 1961 schreibt Sr. Elisabeth de la Trinité mit Bedauern über die Veränderungen der Dekolonisierung: „Die Zeiten haben sich geändert […] Die afrikanischen Schwestern gehen auf die Universität in Paris, in Rom […]. Man erwischt sich manchmal dabei, die Zeiten zu bedauern, als die afrikanischen Schwestern, alle einfach und unbedarft, ohne große Bedürfnisse einen Missionsposten gründen konnten mit vier 32 Sondo, Au service de Dieu, S. 186. Baudu, Vieil empire, S. 223. 33 Sie sitzt auf dem Gruppenfoto des Noviziates 1941/42 rechts neben Mutter Elisabeth. 34 Vgl. Lorin, Après l’histoire, S. 105. 35 Hervorhebung im Original. Conseils donnés par Mère Louise-Marie à la retraite d’avril 1952, Archiv SMNDA, S. 11.
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Mauern und einem Dach; […] so wie man das Kind vermisst, wenn man den Jugendlichen sieht. Wahrlich sie waren Kinder vor Gott und auch Kinder vor denen, die sie geformt haben.“36
Das Prinzip der Afrikanisierung der katholischen Kirche Obervoltas, einstimmig anerkannt von Missionarinnen, Priestern und Bischöfen, wurde auch bei den Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika langsam und nicht immer enthusiastisch in die Tat umgesetzt.37
Netzwerke in postkolonialen Zeiten: 1960 bis heute Nach der Unabhängigkeit Obervoltas 1960 und dem zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) entwickelten sich die Beziehungen der ausländischen Missionarinnen zu den afrikanischen Schwestern Obervoltas zögerlich, aber immer mehr in Richtung einer selbstbestimmten Arbeitsteilung. Auch die soziale und geografische Herkunft der afrikanischen Schwestern und Schwesternanwärterinnen veränderte sich zu dieser Zeit. Die erste Generation kam hauptsächlich aus der Hauptstadt Ouagadougou und bestand aus Mädchen des Teppichateliers, die dort häufig gegen ihren Willen oder den ihrer Familien arbeiteten, oder aber aus Waisenkindern, die in christlichen Familien aufwuchsen.38 Die folgenden Generationen von Postulantinnen kamen dagegen aus christlichen Haushalten, zum Beispiel der Katechisten oder aus der direkten Umgebung der Missionen im ganzen Land, in deren Nachbarschaft sie 36 Sr. Elisabeth de la Trinité, Evolution et Vocation, in: Trait d’Union, Fiches de documentation LXX Nr. 6, 1961, S. 11–15, hier S. 15. Im Jahresbericht 1959/60 des Missionspostens von Ouagadougou notieren die Weißen Schwestern, dass sie sich nun nicht mehr um die Wäsche der Brüder kümmern müssen, weil sie diese Arbeit an die schwarzen Schwestern abgeben konnten. Archiv SMNDA, Signatur B 5081/3. 37 Claude Prudhomme untersucht die Rolle des Vatikans für die Indigenisierung der katholischen Kirche, um ihren supranationalen Charakter zu unterstreichen (Claude Prudhomme, Missions chrétiennes et colonisation, Paris 2004, S. 133.). 38 Die ersten christlichen Gemeinden in Afrika setzten sich häufig aus sozial Schwachen zusammen, Waisen, Sklaven, Kranken, „Mischlingen“. Zu dieser Thematik siehe: Martin, Catholic Women, besonders Kapitel 4. Sonia Abdu-Nasr, Afrikaner und Missionar. Die Lebensgeschichte von David Asante, Basel 2003. Pascale Barthélémy, Africaines et diplômées à l’époque coloniale (1918–1957), Rennes 2010: besonders Kapitel VII.
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aufwuchsen oder deren Schulen sie besuchten.39 Die Generation der Frauen, die nach 1960 und im Laufe der 1970er-Jahre zu den Schwestern der Immaculée Conception kam, war geprägt von der politischen Unabhängigkeit und ganz besonders von der voranschreitenden Afrikanisierung der katholischen Kirche sowie den Änderungen, die dem zweiten Vatikanischen Konzil folgten. Während in Europa die Zuwachsrate der katholischen Kongregationen abnahm und die 1970er-Jahre durch zahlreiche Austritte gezeichnet waren, traten in Afrika weiterhin viele Frauen in die religiösen Institute ein, getragen von der Hoffnung der Afrikanisierung katholischer Institutionen.40 Zu dieser Zeit schließen sich die verschiedenen afrikanischen Kongregationen unterschiedlicher Länder zusammen. Die drei autochthonen Kongregationen des heutigen Burkina Fasos gründen mit anderen katholischen Kongregationen in Burkina und Niger die Union des Supérieures majeures du Burkina-Niger (USMB/N). Diese seit 30 Jahren bestehende Institution organisiert den einzelnen Kongregationen übergeordnete Strukturen, z. B. Ausbildungszentren. Der Zusammenschluss aller Kongregationen soll die Stimme der geweihten Frauen innerhalb der von Männern dominierten katholischen Kirche Westafrikas verstärken. Als weiterer Schritt in diese Richtung kann der Wechsel der Schwestern der Immaculée Conception von bischöflichem Recht zu päpstlichem Recht interpretiert werden. Seit 1983 untersteht die Kongregation direkt dem Vatikan, und ihre Oberin hat die ordentliche kirchliche Rechtshoheit über alle Mitglieder. Zumindest theoretisch wird damit die Autorität der lokalen Bischöfe über die Schwestern der Immaculée Conception eingeschränkt. Seit den 1980er-Jahren setzte sich auch bei den Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika, der ehemaligen Mutterkongregation, die Aufnahme von afrikanischen Schwestern durch. Bis dahin wurden die jungen Mädchen, die sich einem gottgeweihten Leben widmen wollten, von den lokalen Bischöfen angehalten, in eine der drei lokalen Kongregationen einzutreten, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits über 30 internationale Missionsgesellschaften in Burkina arbeiteten. Viele der älteren Schwestern berichten davon. Der Einfluss und die Autorität der Bischöfe auf einheimische religiöse Gemeinschaften, die der Diözese unterstanden, war wesentlich größer als 39 Vgl. De la Trinité, Une femme missionnaire, S. 89; Sondo, Au service de Dieu, S. 184. 40 Vgl. Katrin Langewiesche, Actrices du quotidien Congrégations féminines en Haute Volta lors de l’indépendance, in: Odile Georg/Didier Nativel/Jean-Luc Martineau (Hg.), Vivre les Indépendances 1960–1965, Presse Universitaire de Rennes (im Druck).
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ihre Möglichkeit, Entscheidungen für internationale Kongregationen zu treffen, die nach kanonischem Recht walteten. Als offizieller Grund für die Aufnahmeverweigerung afrikanischer Novizinnen in internationale Kongregationen wurde die Stärkung der nationalen Kirche angeführt. Der drastische Rückgang der Vokationen in Europa und Kanada sowie die Überalterung der europäischen Schwestern haben schließlich dazu geführt, dass internationale Kongregationen sich gegen den Willen der Bischöfe durchsetzten und afrikanische Novizinnen aufnahmen. Obwohl die Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika seit 1950 afrikanischen Postulantinnen prinzipiell die Türen öffneten, hat der Einfluss der Bischöfe dazu geführt, dass sich die Aufnahme von Afrikanerinnen erst viel später massiv durchsetzte. Und erst 1999 wurde die erste Afrikanerin in den Generalrat der Missionsschwestern aufgenommen. Bis heute war noch keine Afrikanerin Generaloberin. Junge katholische Frauen, die sich heutzutage in Burkina Faso für ein religiöses Leben entscheiden, haben die Wahl zwischen mehreren afrikanischen Kongregationen und mindestens 50 internationalen Institutionen, die alle gleichberechtigt neben- und häufig miteinander arbeiten. Die Verwandtschaftsmetapher wird auch heute immer wieder benutzt, um die Beziehung zwischen den Missionsschwestern Unserer Lieben Frau von Afrika und den afrikanischen Kongregationen, die sie ausgebildet haben, zu charakterisieren und auf ihre gemeinsame Geschichte zu verweisen. Die Ordensfrauen der afrikanischen Kongregationen nennen heute die Schwestern Unserer Lieben Frau von Afrika ihre „Mütter“, nicht um ein intellektuelles oder religiöses Ungleichgewicht zu betonen, sondern um ihren Respekt, der ihren Vorgängerinnen gebührt, zum Ausdruck zu bringen.41 Sie erkennen die gemeinsame Abstammung an und betonen gleichzeitig ihr eigenes Charisma und eine spezifische Lebensweise, die nicht mit der der Ausbildenden identisch ist. Mutter sein ist ein Dienst, den eine Schwester innerhalb einer Kongregation den anderen erweist, oder eine Aufgabe, die eine Kongregation für eine andere übernimmt. Mutter sein wird von den Betroffenen als „Dienst der Autorität“ verstanden.42 41 So heißt es im Faltblatt anlässlich des 75. Jubiläums der SIC: Seite 1: „Die Schwestern der Immaculée Conception haben ihre „Eltern“, die Missionare Unserer Lieben Frau, zu einer Messe und anschließendem Essen im Aspirat von Tampouy eingeladen.“ Anselme Sanon, emeritierter Bischof von Bobo-Dioulasso, nennt sein Vorwort, für das Buch von Sr. Elisabeth de la Trinité 1982 „hommage filial à l’égard d’une mère aux nombreux fils“ (de la Trinité, Une femme missionnaire, S. 8). 42 Generaloberin der SIC, Interview 2008. Bei den SIC wird die Generaloberin als „Mutter“ angeredet, solange sie im Amt ist, danach wird sie von den Mitschwestern
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Die Beziehungen zwischen den Weißen Schwestern und den afrikanischen Kongregationen sind noch immer eng. Ein Teil des jährlichen Mehrbetrags der Schwestern Unserer Lieben Frau von Afrika wird den 22 von ihnen ausgebildeten afrikanischen Kongregationen zur Verfügung gestellt. Diese können in einem festgelegten Turnus um Subventionen anfragen.43 In den neueren Publikationen, gemeinsamen Seminaren und Weiterbildungssessionen verschiedener Kongregationen wird versucht, diese Abhängigkeiten zu thematisieren und zu diskutieren. Besonders deutlich wird dies z. B. anhand des Vereins ASIENA, der Ordensfrauen verschiedener Kongregationen zusammenschließt. Eine der Gründerinnen berichtet über Schwierigkeiten der Zusammenarbeit: „Die Personen und Gruppen legen ihre Abhängigkeiten nicht sofort offen. […] Der ‚Weiße‘ möchte nicht reich erscheinen und der ‚Schwarze‘ nicht arm. Jeder hält sein Kapital und die Geldgeber geheim.“44 Ein Versuch, interkulturelle Probleme zu umgehen, wurde von den Weißen Schwestern bereits Ende der 1970er-Jahre gestartet. Sie ließen lokale Gemeinschaften zu, die nur aus afrikanischen Schwestern bestanden, in der Hoffnung, interkulturelle Probleme ganz zu vermeiden. Doch dieses Experiment scheiterte und verstärkte die Überzeugung, dass der interkulturelle Dialog nicht nur in der Mission, sondern auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft ins Zentrum gerückt werden musste. Die Ausbildung der Postulantinnen und die Fortbildungen der Schwestern sind heute ganz auf das Erlernen interkultureller Kompetenz ausgerichtet. Dieser Begriff wird gerne benutzt. Kardinal Lavigerie, der Gründer der Schwestern Unserer Lieben Frau von Afrika, wird von ihnen als „Prophet des interkulturellen Dialogs“ bezeichnet.45 Die burkinischen Kongregationen sind zwar nicht international, die meisten Schweswie vorher als „Schwester“ angesprochen. Bei den SMNDA wird die Generaloberin seit dem Generalkapitel 1969 mit „Schwester“ angeredet wie alle anderen Schwestern auch. Vgl. Lorin, Après l’histoire, S. 140. 43 Vgl. Generalkapitel 2005, Historique de Notre Solidarité avec les congrégations de sœurs africaines. Archiv SMNDA. Ab 1966 kümmerte sich eine SMNDA unter dem Titel „Procureuse de la Congregation“ um das Fundraising bei den internationalen Organisationen für die eigene Kongregation und auch für die afrikanischen Kongregationen. Vgl. Lorin, Après l’histoire, S. 141 sowie Sr. Elfriede Bohn, Situation financière de la Congrégation après le Chapitre Général de 1965 et mon travail pour trouver de support pour la Congrégation et ses œuvres missionnaires, Fotokopie, Archiv SMNDA. 44 Sr. Emilie Somda, Faire connaissance avec ASIENA, 2002–2005, S. 14. 45 Lucie Pruvost, Lavigerie, un prophète en matière d’interculturalité? in: Partage Trentaprile, n°2/2009, S. 41–42.
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tern sind burkinabe, aber sie bestehen auf ihre interkulturelle Kompetenz, da sie sich im Rahmen ihrer religiösen Gemeinschaft mit vielen verschiedenen Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen und Gewohnheiten auseinandersetzten müssen. Sehr viele46 der Schwestern berichten von ihren anfänglichen Schwierigkeiten mit einer solchen kulturellen Vielfalt umzugehen. Sie interpretieren die Überwindung dieser Spannungen im Nachhinein als Vorbereitung auf die Integration in die globale katholische Kirche, als Voraussetzung für ihre Arbeit in der Mission mit den Anderen schlechthin. Die Internationalisierung der lokalen religiösen Gemeinschaften, das massive Eintreten nicht-europäischer Frauen in internationale Kongregationen, das Erlernen einer interkulturellen Kompetenz im tagtäglichen Leben sowie die organisatorische und finanzielle Vernetzung von afrikanischen und europäischen Kongregationen können als Voraussetzungen gelesen werden für eine verstärkte Transnationalisierung der weiblichen Kongregationen, wie wir sie seit den 1990er-Jahren beobachten.
Bedeutung der Frauenorden in den gesellschaftlichen Strukturen Obervoltas und Burkina Fasos Schulen und Krankenstationen waren nicht nur wichtige Instrumente der Kolonisierung, sondern auch der Evangelisierung. Die „moralische Eroberung“47 durch Schulen und Krankenstationen Französisch-Westafrikas richtete sich in erster Linie an Männer und Jungen. Doch Pascale Barthélémy hat mit ihrer Untersuchung über die ersten afrikanischen Hebammen und Lehrerinnen gezeigt, wie sehr diese koloniale Politik, mehr oder weniger ungewollt, Frauen in strategische Positionen brachte. In ähnlicher Weise lässt sich dies für Missionarinnen und die ersten afrikanischen Schwestern feststellen: Ausgebildet und eingesetzt als Hilfskräfte der Missionare sollte durch sie die Evangelisierung der Frauen und Mädchen erreicht werden. Gleichzeitig 46 Zwischen 2006 und 2011 habe ich 65 Schwestern von zehn verschiedenen Kongregationen getroffen, die in Burkina arbeiten oder gearbeitet haben. Sowohl die älteren als auch die jüngeren Schwestern berichten von den Schwierigkeiten des interkulturellen Zusammenlebens innerhalb der Kongregation. 47 Der Begriff „la conquête morale“ wurde durch das Buch von Georges Hardy „Une conquête morale. L’enseignement en AOF.“ popularisiert. Hardy war Inspektor des Erziehungswesens von Französisch Westafrika 1912–1919. Vgl. Barthélémy, Africaines, S. 17.
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entwickelten sich die afrikanischen Schwestern zu den ersten westlich ausgebildeten Afrikanerinnen ihrer Zeit. Ihre Lebensläufe stellten Ausnahmen dar, doch standen sie durch ihre Aktivitäten als Lehrerinnen, Krankenschwestern und pastorale Seelsorgerinnen in enger Verbindung mit der Bevölkerung und beeinflussten viele Menschen – besonders Frauen – durch ihre Lebensführung und erzieherischen Maßnahmen.
Einfluss über Krankenstationen und Schulen 1912–1960 Ein Jahr nach ihrem Eintreffen in Ouagadougou eröffneten die Weißen Schwestern 1913 eine Krankenstation, die bis heute besteht und durch viele erfolgreiche Augenoperationen und die Behandlung der Schlafkrankheit zeitweilig ein großes Renommee erlangte. Achtzehn Jahre später hatten die Weißen Väter und Schwestern zusammen bereits 15 Krankenstationen verschiedener Größe errichtet.48 Die aktivsten Krankenstationen waren die, in denen Weiße Schwestern arbeiteten.49 Laut Jahresbericht der Weißen Väter von 1931/32 wurden in allen Missionsstationen Obervoltas 163 000 Kranke behandelt, während in den kolonialen Krankenhäusern kaum mehr als 100 000 Patienten registriert waren.50 Der Einfluss der Missionarinnen auf die Bevölkerung durch ihre Aktivitäten im Gesundheitsbereich zeigt sich nicht nur an der Anzahl der Patienten, die sie behandelten, sondern auch an ihrem Beitrag zur qualifizierten Ausbildung der Krankenpfleger und -schwestern. Anfang der 1930er-Jahre begann ein Weißer Vater mit der systematischen Ausbildung der Schwestern der Immaculée Conception, bevor er Ende der 1940er-Jahre mit der Leitung der gesamten kolonialen Krankenpflegerausbildung betraut wurde.51 Diese Aus48 Vgl. Jahresberichte der Weißen Väter 1931–1932, Archiv SMNDA, Signatur B 633 51. Diese Krankenstationen liegen in den apostolischen Präfekturen BoboDioulasso und Ouagadougou. Jahresberichte der Weißen Schwestern 1930 für Koupela (B 5088/3), Toma (B 5095/3), Ouagadougou (B 5081/3), Archiv SMNDA. 49 Die Jahresberichte der Weißen Väter liefern Statistiken für jeweils zwei Jahre von 1931/32 bis 1939/45, Archiv SMNDA. 50 Vgl. Jahresberichte der Weißen Väter 1931–1932 sowie Jean-Paul Bado, Médecine coloniale et grandes endémies en Afrique, Paris 1996, S. 236. 51 Vgl. Roger de Benoist, Docteur Lumière. Quarante ans au service de l’homme en Haute Volta, Paris 1975, S. 77. Während einer dreijährigen Ausbildung wurden morgens Praktika in den verschiedenen Abteilungen durchgeführt und nachmittags theoretischer Unterrichtsstoff vom Arzt und Weißem Vater Goarnisson oder ausge-
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bildung für religiöse und staatliche Krankenpflegerinnen vermittelte nicht nur medizinische Kenntnisse, sondern führte auch in das Berufsethos und den christlichen Umgang mit den Kranken ein. Die so ausgebildeten Krankenschwestern arbeiteten im ganzen Land und haben sicherlich zur Ausbreitung christlicher Ideen beigetragen.52 Die verschiedenen medizinischen Aktivitäten der Weißen Väter und Schwestern kamen so dem kolonialen Gesundheitswesen genauso zugute wie ihrer eigenen Evangelisierungsstrategie.53 Ausgestattet mit christlicher Bildung, einer professionellen Ausbildung und der Legitimität, die ihnen durch die Zusammenarbeit mit dem kolonialen Gesundheitswesen übertragen wurde, übten die ersten afrikanischen Krankenschwestern ihre Autorität über die Frauen und zum Teil auch über Männer aus, die sie behandelten oder unterrichteten. Genauso wie das Gesundheitswesen war auch der Bildungssektor nicht nur ein Instrument sozialer Kontrolle, sondern auch ein wichtiger Faktor sozialen Wandels sowie Ausdruck des Machtanspruches der kolonialen Verwaltung über die Bürger und der Missionare über die Gemeindemitglieder. Die Missionarinnen und die afrikanischen Ordensfrauen Obervoltas unterrichteten in „Gemeindeschulen“54, Grundschulen und ab den 1950er-Jahren in weiterführenden Schulen, die sowohl Mädchen als auch Jungen offen standen, sowie in Haushaltsschulen, die speziell für Mädchen gegründet worden waren.55 Aber auch außerhalb der Schulen hatten die Schwestern Kontakt
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bildeten Krankenschwestern der Weißen Schwestern vermittelt. Um die ophthalmologische Spezialisierung der Mission zu unterstützen, sollte besonders das chirurgische Talent der afrikanischen Schwestern gefördert werden. Goarnisson ließ die Schwestern dafür an Rindsaugen üben (de Benoist, Docteur Lumière, S. 65). Vgl. Jahresberichte der Weißen Väter 1950/51, S. 132. Vgl. Katrin Langewiesche, Konfessionell, national, global: Das Gesundheitswesen in Burkina Faso aus historischer Perspektive, in: Nikolaus Schareika/Eva Spies/ Pierre-Yves Le Meur (Hg.), Auf dem Boden der Tatsachen. Festschrift für Thomas Bierschenk, Köln 2011, S. 415–434. Die écoles de paroisse waren in der Regel einer Missionsstation angeschlossen. In diesen Schulen wurden Religion, Rechnen, Lesen und Schreiben in lokalen Sprachen unterrichtet. Nach 1940 wurden sie zu Grundschulen, unter der Bedingung, dass die Lehrenden über die anerkannten Diplome verfügten. Vgl. Maxime Compaoré, L’enseignement privé catholique en Haute-Volta (1901–1960), in: Jean Ilboudo (Hg.), Burkina 2000. Une église en marche vers son centenaire. Actes du Colloque de Ouagadougou, 12–13 decembre 1993, Ouagadougou 1996, S. 201–221, hier S. 208. Zu den katholischen Schulen in Obervolta und Burkina Faso siehe die Arbeiten von Compaoré (1993) sowie Maxime Compaoré, La refondation de l’enseignement catholique au Burkina Faso, in: Cahiers d’études africaines 169/170 (2003), S. 87–97.
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mit einer großen Zahl von jungen Mädchen. In den 1930er-Jahren strömten Mädchen und Frauen in fast allen Landesteilen in den Katechismus-Unterricht.56 Die Teilnahme am Katechismus-Unterricht erleichterte es ihnen, einen von der Familie ausgewählten Ehemann abzulehnen. Das Engagement der Missionare für die freie Wahl der Ehepartner und gegen die lokalen Heiratsformen zog viele junge Frauen an.57 Die Ausbildung, die den Mädchen geboten wurde, umfasste in erster Linie das Erlernen von häuslichen Aktivitäten wie Stricken, Schneidern, Haushaltsführung, Weben und Kinderpflege. Während der Unterrichtsstoff der Ordensfrauen ausdrücklich darauf ausgerichtet war, die jungen Mädchen zu guten Ehefrauen und christlichen Müttern zu erziehen, zeigte doch ihr eigener Lebensstil, dass es auch andere Wege für Frauen gab.58 In einer Gesellschaft, in der die Fruchtbarkeit der Frauen ihre soziale Stellung bestimmt, hatten sich dennoch 1950 bereits 74 Frauen in Obervolta zu diesem radikal neuen Lebensstil entschlossen.59 Auf dem Land arbeiteten diese afrikanischen Schwestern unabhängig, in den städtischen Gebieten in den meisten Fällen unter der Aufsicht von Weißen Schwestern. Die afrikanischen Schwestern gehörten zu den wenigen Frauen, die zu dieser Zeit per Fahrrad unterwegs waren, später gehörten sie zu den ersten Frauen die Auto fuhren. Zu einer Zeit, in der es in Obervolta noch kaum afrikanische Krankenschwestern gab, erhielten afrikanische Ordensfrauen eine solide Ausbil-
56 Die Mission von Bam, um nur ein Beispiel zu nennen, hatte in einem einzigen Jahr (1930) 674 junge Frauen eingeschrieben. Vgl. Joseph-Roger de Benoist, Eglise et pouvoir colonial au Soudan Français, Paris 1987, S. 459; Doti Sanou, L’Émancipation des femmes Madare. impact du projet administratif et missionnaire sur une société Africaine, 1900–1960, Leiden 1994; Sondo, Au service de dieu. 57 Katrin Langewiesche, Mobilité religieuse. Changements religieux au Burkina Faso, Berlin 2003: besonders Kapitel 3. 58 Zur Frage der Mädchenerziehung zu guten Ehefrauen und Müttern, wie man sie in ganz Afrika besonders in den 1930er-Jahren findet, siehe z. B. Jean Allman, Making Mothers. Missionaries, Medical Officers and Women’s Work in Colonial Asante, 1924–1945, in: History Workshop Journal 38, 1994, S. 23–47; Barthélémy, Africaines, S. 139; Clancy-Smith/Gouda, Domesticating the Empire Predelli, Sexual Control and the Remaking of Gender. Attempt of Nineteenth-Century Protestant Norwegian Women to Export Western Domesticity to Madagascar, Journal of Women’s History, Bd. 12, n°2, 2000, S. 81102; Karine Hestad Skeie, Pioneering Female Autonomy? Johanne Borchgrevink’s Girls’ School in late 19th Century Madagascar, in: Social Sciences and Missions 16, 2005, S. 11–42. 59 Vgl. Lorin, Après l’histoire, Annexe IV.
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dung, die 1948 von der kolonialen Verwaltung anerkannt wurde. Betrachtet man die Ausbildung der afrikanischen Ordensfrauen zu Lehrerinnen, ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch in diesem Berufszweig gehörten sie zu den ersten professionell ausgebildeten Frauen. Obervolta gehörte zu den Kolonien, die sich durch einen besonders schwachen Zugang zu Schulbildung auszeichneten.60 Dies führte dazu, dass nur sehr wenige Mädchen dieser Kolonie es schafften, für die föderativen Schulen Französisch Westafrikas in Dakar zugelassen zu werden. Die Ecole normale für Mädchen in Dakar, die seit 1938 afrikanische Lehrerinnen ausbildete, entließ zusammen mit der Ecole de médecine innerhalb von vierzig Jahren (von 1918 bis 1958) nur zwanzig Mädchen aus Obervolta mit einem Diplom.61 Die Lehrerausbildung der afrikanischen Schwestern in Obervolta begann dagegen 1940, nachdem Französisch als Ausbildungssprache der Postulate und Noviziate zugelassen worden war. Die ersten afrikanischen Schwestern, die als staatlich geprüfte Lehrerinnen arbeiteten, d. h. eine Ausbildung an einer Ecole normale absolviert hatten, gab es bei den Schwestern der Immaculée Conception gegen Ende der 1940er-Jahre.62 Afrikanische Ordensfrauen gehörten also bis in die 1960er-Jahre zu der Minderheit von Frauen, die einen Beruf ausübten.63 Ebenso wie die wenigen diplomierten Frauen64 der kolonialen Verwaltung verfügten sie über eine professionelle Ausbildung, westliche Bildung und ein Gehalt, das sie allerdings im Unterschied zu den staatlichen Lehrerinnen und Krankenschwestern nicht persönlich verwalteten, sondern ihrer Kongregation überließen. 60 Vgl. Barthélémy, Africaines, S. 106. Zu einer vergleichenden Analyse der Schulpolitik in anglophonen und frankophonen Kolonien und den ungleichen sozialen und geografischen Zugangsmöglichkeiten zur Schulbildung siehe Thomas Bierschenk, L’éducation de base en Afrique de l’Ouest francophone. Bien privé, bien public, bien global, in: Thomas Bierschenk/Giorgio Blundo/Yannik Jaffré/Mahamdi Tidjani Alou (Hg.), Une anthropologie entre rigueur et engagement. Essais autour de l’oeuvre de Jean-Pierre Olivier de Sardan, Paris 2007, S. 251–276. 61 Das entspricht 2 % der in diesen Schulen diplomierten Frauen. Vgl. Barthélémy, Africaines, S. 292. 62 Vgl. Sondo, Au service de Dieu, S. 217. 63 Zur Professionalisierung von Frauen siehe Catherine Coquery-Vidrovitch, Les Africaines. Histoire des Femmes d‘Afrique Noire du XIX au XX siècle, Paris 1994, S. 130–132, S. 178–188. 64 Barthélémy schätzt die diplomierten Krankenschwestern, Hebammen und Grundschullehrerinnen Französisch Westafrikas auf ein Tausend von 1918–1958 (Barthélémy, Africaines, S. 9.). Zum Vergleich: 1960 gibt es in den Kolonien Westafrikas 246 afrikanische Ordensfrauen, die in den von den Weißen Schwestern gegründeten Kongregationen leben. Vgl. Lorin, Après l’histoire, Annexe IV.
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Sowohl die Lebensführung der Missionarinnen als auch die Erziehung und berufliche Ausbildung der Schwestern schafften Freiräume für Frauen, die sie weder in der lokalen ländlichen Gesellschaft noch in der kolonialen hatten. Die Missionarinnen und später die afrikanischen Schwestern entwickelten Orte, wo junge Frauen materiell unabhängig von Vätern und Männern, räumlich weit entfernt von ihren Familien, ein berufliches Leben mit religiösem Engagement verknüpfen konnten. Die Bedeutung der weiblichen Orden für die Gesellschaft Obervoltas lässt sich also nicht nur daran erkennen, wie viele Menschen die Schwestern durch Schule, KatechismusUnterricht und Krankenpflege erreichten, sondern auch an der radikal neuen Lebensform, die sie in Obervolta einführten. 1960 gibt es dort 158 afrikanische Schwestern, deren Einfluss auf die Bevölkerung in keinem Verhältnis zu ihrer geringen Zahl steht. Die Weißen Schwestern waren sich des Potenzials der afrikanischen Schwestern wohl bewusst und beschrieben sie als „unsere Multiplikatoren“.65 Jede von ihnen wirkte als kulturelle Mittlerin durch ihre Verbindungen zu einer Masse an Schülerinnen, Patienten, Schwangeren, Kindern und ihren Familien. Ihre Lebensgeschichten faszinieren durch die erstaunliche Autonomie, die sie an den Tag legten, durch eine Entscheidung, die ihr Leben definitiv änderte und gleichzeitig den konventionellen Inhalt ihrer Erziehung und Moralvorstellungen, denen sie selbst unterlagen und die sie getreu weitergaben.
Einfluss über Schule, Krankenhaus und Transnationalisierung: 1960 bis heute Nach der Unabhängigkeit Obervoltas haben sich die Einflussbereiche der Missionarinnen und der afrikanischen Schwestern im Gesundheits- und Erziehungswesen erheblich verschoben. Zugleich entwickelten sich neue Arbeitsfelder in der katholischen Kirche im Bereich der Entwicklungshilfe, der internationalen Kooperation und transnationalen Beziehungen, in denen sich die religiösen Schwestern engagierten.
65 Vgl. Jahresbericht 1959/1960 Poste de Tounouma, Archiv SMNDA, Signatur C 5168/3.
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1960 gingen 36,5 % der Kinder, die in Obervolta eine Schule besuchten, auf katholische Schulen.66 Dies änderte sich in den kommenden Jahren, denn aufgrund der anhaltenden Probleme gab die Kirche 1969 ihre Grundschulen an den Staat.67 Von 1969 bis 1990 gab es nur noch katholische weiterführende Schulen, die fast ausschließlich von weiblichen Kongregationen geleitet wurden.68 Die Aktivitäten der Schwestern beschränkten sich dementsprechend auf wenige weiterführende Schulen und die Centres de formation féminine, in denen Mädchen eine praktische, nicht diplomierte Ausbildung mit sehr geringen Berufschancen geboten wurde.69 Erst 1990 nahm die katholische Kirche Burkina Fasos ihr Engagement im Grundschulwesen in Absprache mit der Regierung wieder auf. Wie in anderen Ländern Westafrikas vervielfältigte sich gleichzeitig das konfessionelle Bildungsangebot, während sich das gesamte Schulwesen stärker privatisierte. Neben die katholischen traten immer mehr evangelische und muslimische Privatschulen. In ähnlicher Weise verschob sich nach der Unabhängigkeit auch der Einfluss der Missionarinnen und der afrikanischen Schwestern im Gesundheitsbereich, so unterhielt die katholische Mission nur noch sechs Krankenstationen.70 Die Finanzierung und Verwaltung der anderen kirchlichen Etablissements ging an den Staat oder die einheimischen Kongregationen. In den 1970er-Jahren investierte die katholische Kirche kaum selbst in den Gesundheitssektor, mobilisierte aber durch ihre vielfältigen Verbindungen große Summen für Projekte und die Ausbildung spezialisierten Personals. Bis in die 1980er-Jahre war die katholische Kirche zwar längst nicht mehr der einzige konfessionelle Akteur im nationalen Gesundheitssystem – Protestanten und 66 Vgl. Compaoré, L’enseignement privé catholique, S. 210. Siehe auch: Statistiques de la scolarisation dans les écoles primaires catholiques avant la nationalisation de l’enseignement primaire de 1960–1968, Fidélité et Renouveau, jan. 1979, n°110, S. 10. 67 Vgl. eine detaillierte Untersuchung zur Schulkrise bei Michel Ouedraogo, Engagement politique, social et économique de l’église catholique voltaïque de 1966 à 1983, Mémoire de maîtrise, Université de Ouagadougou 1985, S. 9095. 68 Vgl. Theodul, Sankara, L’enseignement catholique au Burkina Faso. Analyse d’un malaise 1969–2002. Mémoire de maîtrise, Institut Catholique de Paris 2005, besonders S. 76–100. 69 1975 gab es davon 75. Vgl. Fidélité et Renouveau, 1975, n 84, S. 4–18 zitiert nach Ouédraogo, Engagement, S. 94. 70 Vgl. Die Krankenstationen von Tounouma, Dano, Koupela, Nouna, Toma, Ouagadougou Archiv SMNDA: Karte im Fotoalbum 1962: 50jähriges Jubiläum der Weißen Schwestern in Obervolta und Statistiques générales 1950–1965.
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Muslime kamen hinzu –, aber doch nach dem Staat immer noch der quantitativ wichtigste. Nationalisierung des Schul- und Gesundheitswesens nach der Unabhängigkeit sowie die Vervielfältigung der religiösen Akteure seit den 1990er-Jahren haben dazu geführt, dass die katholischen Schwestern nicht mehr exklusiv die einzigen religiösen Akteurinnen in diesen Bereichen sind und ihren Einflussbereich mit anderen Konfessionen teilen müssen. Die zunehmende Pluralität der religiösen Landschaft Burkina Fasos hat den Einfluss der Ordensfrauen nachhaltig verändert. Diese Umgestaltungen in der Gesellschaft Burkina Fasos sowie der Wandel der globalen katholischen Kirche im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils haben seit den 1970er-Jahren dazu geführt, dass sich Gruppierungen von Ordensfrauen bildeten, die den Rahmen ihrer eigenen Kongregation sprengten. Berufsgebundene Vereine haben Ordensfrauen aus unterschiedlichen Kongregationen zusammengeführt. So versammeln sich z. B. alle Schwestern, die im Gesundheitswesen in Burkina und Niger arbeiten, im Verein der religiösen Krankenschwestern, alle Lehrerinnen kommen im Verein der religiösen Lehrenden zusammen. Diese Emanzipierung der Ordensfrauen von ihrer Kongregationszugehörigkeit kann bereits als erster Schritt zu einer fortschreitenden Transnationalisierung interpretiert werden. Seit den 1990erJahren bildeten sich vermehrt Vereine von Ordensfrauen, die sich im Rahmen ihrer sozialen oder politischen Affinitäten zusammenfanden – und nicht mehr nach institutionellen oder beruflichen. Einer dieser Vereine sei kurz vorgestellt: Solwodi.71 Solwodi ist ein Netzwerk für Frauen in Not, das in Afrika und Europa agiert. Es wurde 1985 von einer Weißen Schwester gegründet. An Solwodi lässt sich erkennen, wie religiöse Schwestern einen transnationalen Raum um ein politisches Anliegen herum schaffen; hier geht es um Frauenhandel und Sextourismus in Europa und Afrika. Die Antwort vieler Ordensfrauen in der ganzen Welt auf Frauenhandel wird von Ian Linden als „ungesungenes Lied der Globalisierung“ bezeichnet.72 Im Falle von Solwodi hat eine Weiße 71 Für weitere Beispiele transnationaler Vereine, die Ordensfrauen zusammenführen, siehe: Talin, Survivre à la modernité, S. 274; Ian Linden, Global Catholicism. Diversity and Change since Vatican II, London 2009: besonders Kapitel 10; Katrin Langewiesche, Hors du cloître et dans le monde. Des Sœurs catholiques comme actrices transnationales, in: Social Sciences and Missions 25 (3), 2012, S. 195–224. 72 Linden, Global Catholicism, S. 271.
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Schwester, Lea Ackermann, ein große Zahl internationaler Kongregationen, die Gruppe „Ordensschwestern gegen den Handel mit Frauen“, NGOs und Selbsthilfegruppen für ihr Projekt gewinnen können. Ehemalige Missionarinnen stellen ihre Kontakte zu afrikanischen Kongregationen und den verschiedenen Gruppen der afrikanischen oder asiatischen Zivilgesellschaften in die Dienste des Vereins, um den betroffenen Frauen die Rückkehr in ihre Länder zu erleichtern und dort vor Ort für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Solwodi unterstreicht die Notwendigkeit, den katholischen Rahmen zu sprengen und mit Akteuren der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten. Ihr Verein beherrscht die Methoden des Lobbying, des Fundraisings und der Medienkommunikation. Die Ordensfrauen, die sich gegen Sextourismus engagieren, treffen sich zu Fortbildungen in Deutschland, Rumänien oder Nigeria. Sie üben Druck aus auf örtliche Bischöfe und europäische Politiker. Ich möchte mit diesem Beispiel die großen Veränderungen unterstreichen, denen religiöse Orden in den letzten Jahren unterliegen. Politische Lobbyarbeit ist eines der Mittel, derer sich die Ordensschwestern bedienen, um sich Gehör zu verschaffen. Einfluss auf die politische Elite zu üben, ist eine Möglichkeit der religiösen Gemeinschaften, ihren Personalmangel auszugleichen, ohne ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum völlig aufzugeben. Lobbying funktioniert durch Absprachen und Aktionen im Rahmen von Netzwerken und setzt eine kohärente und disziplinierte Arbeitsteilung voraus. Ordensschwestern scheinen durch ihre langjährige Ausbildung besonders geeignet zu sein für eine solche Arbeitsweise. Geschult durch die Gelübde des Gehorsams und der Armut, sind Ordensschwestern es gewohnt, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, sich diesen solidarisch unterzuordnen, gemeinschaftliche Ziele vor ihre individuellen zu stellen und über Generationen hinweg tagtäglich mit einer großen kulturellen Vielfalt umzugehen. Transnationale Lobbyarbeit, Engagements in internationalen Vereinen, eine qualifizierte Ausbildung als Krankenschwester, Ärztin, Lehrerin, Bibliothekarin, Sekretärin oder Entwicklungsexpertin, eigenständiges Arbeiten innerhalb der Gemeinden, ein familienunabhängiges Leben, eine materiell gesicherte Existenz sowie Alters- und Krankenvorsorge sind sicherlich einige Elemente, die dazu führen, dass katholische Orden ihre Anziehungskraft für religiös inspirierte Frauen in Burkina Faso nach wie vor nicht verlieren. Verständlicher wird dies, wenn man sich die Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Frauen in Burkina Faso anhand einiger Zahlen und Fakten vor Augen führt.
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Frauenemanzipation in Burkina Faso und katholische Kongregationen Katholische Schwestern verfügen insgesamt über eine höhere Schulbildung als die meisten Frauen Burkina Fasos in vergleichbaren Lebensbedingungen. Die Mehrzahl der Schwestern stammt aus ländlichen katholischen Familien. Die Register des Internats für Aspirantinnen der Soeurs de l’Immaculée Conception in Ouagadougou verzeichnen als Beruf des Vaters der meisten Mädchen Bauer. Von 1963 bis 2006 stammten nur dreißig Mädchen aus Beamten- oder Händlerfamilien.73 Doch gerade in ländlichen Gebieten ist der Schulbesuch für Mädchen nicht selbstverständlich. Die nationale Nettoeinschulungsrate der Sekundarstufe beträgt für Mädchen 13,3 %.74 Wohingegen fast alle katholischen Schwestern mindestens den Abschluss der Sekundarstufe besitzen. 2010 gab es in Burkina Faso 1548 Ordensfrauen, von diesen hatten 90 % einen Sekundarschulabschluss.75 Dieses Diplom ist inzwischen die Grundvoraussetzung, um zum Noviziat zugelassen zu werden. Von den 390 Schwestern der Immaculée Conception haben sieben einen Hochschulabschluss oder sind dabei, ihr Studium abzuschließen.76 Das entspricht 1,79 %, während auf nationaler Ebene 1,8 % der burkinischen Frauen studieren.77 Doch auch ein Hochschulabschluss bedeutet heute nicht mehr zwangsläufig eine gute berufliche Stellung mit angemessenem Gehalt. Die Arbeitslosenquote bei Studienabgängern liegt bei ungefähr 20 %.78 Katholische Schwestern haben dagegen keine Probleme, nach Studienabschluss verantwortungsvolle Posten zu erhalten. Die Ärztinnen arbeiten in katholischen Krankenhäusern, die Lehrerinnen in katholischen Gymnasien und die Entwicklungsexpertinnen sind gefragte Gutachterinnen für alle Kongregationen und kirchlichen Strukturen.
73 Vgl. Katrin Langewiesche, Entre choix et obligation : La gestion du corps des religieuses. Etudes de cas au Burkina Faso, in: Journal des Anthropologues 112–113 (2008), S. 111–134, hier S. 16. 74 Vgl. Rapports d’analyses thématiques du recensement général de la population et de l’habitation (RGPH) 2006. 75 Vgl. Annuaire de l’Église catholique au Burkina Faso, Conférence Episcopale du Burkina-Niger, 2010. Nur die ältesten Schwestern haben weniger Schuldiplome. 76 Vgl. ebd. sowie eigene Schätzung aufgrund der geführten Interviews. 77 Vgl. RGPH 2006. 78 Zur wirtschaftlichen Situation der Hochschulabsolventen in Westafrika: JeanPierre Lachaud (Hg.), Pauvreté et marché du travail urbain en Afrique subsaharienne. Analyse comparative, Genf 1994, S. 16.
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Die Erwerbstätigkeit von Frauen wird sowohl von Männern als auch von Frauen eindeutig als positiv bewertet. Die auf dem Land lebenden Frauen arbeiten in der Landwirtschaft, während sie in den städtischen Zentren hauptsächlich im informellen Sektor tätig sind. Nur 3,7 % der burkinischen Frauen sind Gehaltsempfängerinnen, im Gegensatz zu 8,6 % der Männer. Im Jahr 2002 sind nur 23,1 % der Stellen der öffentlichen Verwaltung von Frauen besetzt und 5 % arbeiten in Privatunternehmen.79 Doch auch wenn Berufstätigkeit ein Merkmal der zeitgenössischen weiblichen Lebensläufe in den Städten ist, bedeutet dies nicht, dass damit eine wirtschaftlich gesicherte Existenz verbunden ist. Abgesehen von einigen Stellen in internationalen NGOs und Beamten sind die Gehälter in Privatunternehmen und ganz besonders im informellen Sektor so gering, dass viele berufstätige verheiratete Frauen auf das Gehalt ihres Ehemannes angewiesen sind. Diese Frauen besitzen – im Gegensatz zu den katholischen Schwestern – in den meisten Fällen keine Sozial-, Kranken- oder, Rentenversicherung, kein Anrecht auf bezahlten Urlaub und keine Garantie, ihre Arbeitsstelle nicht plötzlich zu verlieren. Neben einer unsicheren wirtschaftlichen Existenz ist der soziale Druck entscheidend dafür, dass es in Burkina wenig allein lebende unverheiratete Frauen gibt. Auch für diplomierte Frauen bleibt die Heirat eine zwangsläufige Etappe, um anerkannt und respektiert zu werden. Die Heirat ist nach wie vor die privilegierte Lebensform für Frauen, mehr noch eine soziale Notwendigkeit.80 Eine unverheiratete Frau gilt in vielen Fällen als Schande für ihre Familie.81 Unverheiratete allein lebende Frauen über dreißig,82 mit oder ohne Kinder, geschieden oder verwitwet, sind extrem marginalisiert. Auch wenn die Scheidungsrate besonders in den urbanen Zentren zunimmt, bleibt die Stellung einer geschiedenen Frau sozial schwer zu ertragen.83 Die gesellschaftlichen Zwänge, verstärkt durch die finanziell schwache Situation der meisten
79 RGPH 2006. 80 Siehe hierzu im Vergleich die Beschreibung der matrimonialen Lebensläufe diplomierter Frauen während der Kolonialzeit, die sich letztlich nicht viel von den heutigen unterscheiden. Vgl. Barthélémy, Africaines, besonders Kapitel 18. 81 Vgl. Saratta Traoré, Mariage et célibat à Ouagadougou, Paris 2005. 82 Das Heiratsalter für Frauen liegt in ländlichen Gebieten bei 18 Jahren, für berufstätige Frauen in den urbanen Zentren bei 23 Jahren oder für Studentinnen bei 30 Jahren. Vgl. Jacinthe Mazzocchetti, Etre étudiant à Ouagadougou. Itinérances, imaginaire et précarité, Paris, 2009; sowie RGPH 2006. 83 Vgl. Anne-Claude Cavin, Droit de la famille burkinabé. Le code et les pratiques à Ouagadougou, Paris 1998.
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Frauen, machen Ehelosigkeit zu einem sozialen und wirtschaftlichen Risiko, das nur wenige Frauen auf sich nehmen.84 Doch auch die Ehe birgt für Frauen, und zwar mehr als für Männer, einige Risiken. Die Frage der Dominanz steht nach wie vor im Zentrum der Geschlechterverhältnisse und ist eng verbunden mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen und dem Niveau ihrer Schulbildung. Diplomierte Frauen werden von den Männern als Ehepartnerinnen geschätzt und gleichzeitig gefürchtet. Man schreibt ihnen Freizügigkeit, Arroganz, Hang zum Luxus und Unabhängigkeit zu.85 Studentinnen sind dennoch begehrte Heiratskandidatinnen für junge Männer. Sie haben trotz ihres Alters gute Chancen auf dem Heiratsmarkt, doch einmal verheiratet, sind Karriere und Familie häufig nicht mehr vereinbar. Sich für ausgeglichene Geschlechterbeziehungen innerhalb der Ehe einzusetzen, ist umso schwieriger für Frauen, als Männer die Möglichkeiten haben, eine zweite Frau zu heiraten. In Burkina Faso ist die monogame wie die polygame Ehe gesetzlich anerkannt, unter der Voraussetzung, dass die erste Ehefrau ihre Zustimmung gibt. Doch auch ohne deren Zustimmung kann der Mann nach traditioneller oder religiöser Zeremonie eine zweite Frau in seine bestehende Familie aufnehmen. Mazzocchetti beschreibt ausführlich die Resignation von Studentinnen angesichts dieser Situation.86 Je höher die Schulbildung der Frauen, desto schwerwiegender wird die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach einem gleichberechtigtem Leben und den sozialen Zwängen empfunden. Die katholischen Schwestern umgehen diesen Kampf, auch wenn sie sich anderen Abhängigkeiten aussetzen. Ordensfrauen leben ein vollkommen anderes Leben als die meisten Frauen ihrer Umgebung, die das Modell der Mutter und Ehefrau vorziehen. Die aktiven Ordensfrauen übten und üben sowohl zu Kolonialzeiten als auch heute qualifizierte Berufe aus und verwirklichen ihre religiösen Ambitionen innerhalb einer Gemeinschaft von Frauen. Trotz wichtiger Nuancen in Bezug auf historische Epochen und geografische Regionen durchzieht die emanzipatorische Rolle der weiblichen religiösen Institute ihre gesamte Entwicklung. Der Gehorsam gegenüber ihrer Gemeinschaft und die Emanzipation von ihrem sozialen und kulturellen
84 Im Jahr 2006 sind 2,6 % langfristig unverheiratet (RGPH 2006). 85 Vgl. Jacinthe Mazzocchetti, A la recherche de l’homme capable… Concurrence entre femmes (Ouagadougou, Burkina Faso), in: Civilisations 59 (2010) 1, S. 21–36. 86 Vgl. Mazzocchetti, Etre étudiant; dies, A la recherche.
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Milieu sind konstante Merkmale der Ordensfrauen über Epochen hinweg.87 Zahlreiche Autoren unterstreichen diese Idee, um den „Frühling der weiblichen Kongregationen“ des 19. Jahrhunderts in Europa zu erklären.88 Claude Langlois hat in seinem Werk Le catholicisme au féminin diese Gründungswelle von weiblichen Kongregationen zu Beginn des 19. Jahrhundert als „stille Revolution“ bezeichnet. Er macht am Beispiel der Gründerin der Petites Soeurs des Pauvres deutlich, wie Frauen im Rahmen privater karitativer Praktiken, die autonomes und innovatives Handeln von Frauen legitimierten, religiöse Kongregation gründen konnten.89 Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Einrichtung von karitativen Frauenorden im 19. Jahrhundert, zum Teil gegen den Widerstand des etablierten Klerus, neue autonome Handlungsräume für Frauen in Europa schuf.90 Die schnelle Zunahme von weiblichen religiösen Instituten während des 19. Jahrhunderts in Europa hängt mit der „Feminisierung der Religion“ zusammen, mit den politischen Veränderungen – besonders der Entstehung der Nationalstaaten – sowie mit dem Prozess der Industrialisierung.91 Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und Krisenzeiten führten in unterschiedlichen Kontexten zu religiösen Erneuerungsbewegungen bzw. neuen Formen religiösen Lebens.92 Schnelle 87 Vgl. Jo Ann Kay McNamara, Sisters in Arms. Catholic Nuns Trough two Millennia, Harvard 1996. 88 Vgl. Martha Danylewycz, Profession. Religieuse. Un choix pour les Québécoises (1840–1929), Montreal 1988; Hüwelmeier, Närrinnen Gottes, S. 33–42; Claude Langlois, Le catholicisme au féminin. Les congrégations françaises à la supérieure générale au XIXe siècle, Paris 1984; Relinde Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000. 89 Vgl. Claude Langlois, Je suis Jeanne Jugan. Dépendance sociale, condition féminine et fondation religieuse, in: Archives des sciences sociales des religions, 1981, S. 21–35. 90 Sowohl für Frauen aus dem Bürgertum (Relinde Meiwes, Religiosität und Arbeit als Lebensform für katholische Frauen. Kongregationen im 19. Jahrhundert, in: Götz von Olenhusen, Irmtraud u.a. (Hg.), Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1995, 69–88; Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“) als auch für Frauen aus den armen ländlichen Bevölkerungsschichten (Hüwelmeier, Närrinnen Gottes). 91 Barbara Welter, The Feminization of American Religion 1800–1860, in: Mary S. Hartmann/Lois Banner (Hg.), Clio’s Consciousness Raised. New Perspectives on the History of Women, New York 1976, S. 137–157; Langlois, Le catholicisme; Götz von Olenhusen (Hg.) , Frauen unter dem Patriarchat; Edith Saurer (Hg.), Die Religion der Geschlechter, Wien 1995. 92 Deborah Valenze hat diesen Aspekt in ihrer Arbeit über eine methodistische Sektenbewegung in der englischen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jhds. herausgearbe-
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Veränderungen der Gesellschaft können die Zunahme der religiösen Schwestern sowohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa erklären als auch in den zeitgenössischen Gesellschaften Afrikas. Die Gründe für die Entwicklung der weiblichen Kongregationen in Afrika sind selbstverständlich vielfältig; zu ihnen gehört ihre soziale Nützlichkeit. Durch ihre Arbeit im Erziehungs- und Gesundheitswesen, mit der sie die staatlichen Lücken schließen, haben sich die religiösen Schwestern unersetzlich gemacht. Auf individueller Ebene ist deutlich geworden, dass der Eintritt in eine religiöse Gemeinschaft eine der wenigen Alternativen für Frauen in Burkina zu Heirat, Mutterschaft und Häuslichkeit war und ist. Spirituell und religiös inspirierte Frauen finden hier Handlungsräume, die ihnen eine Autonomie ermöglichen wie in kaum einem anderen Bereich der Gesellschaft.
Schluss Während der Kolonialzeit haben Missionarinnen und afrikanische Schwestern durch ihre Aktivitäten im Bildungs- und Gesundheitswesens trotz ihres Konservatismus das Verhältnis der Geschlechter und die Organisation der Familien durcheinandergebracht sowie die männliche Dominanz angekratzt. In postkolonialen Zeiten haben die Dauerhaftigkeit bestimmter Formen weiblicher Unterlegenheit oder die Resignation angesichts der wenigen möglichen Alternativen für Frauen sicherlich dazu beigetragen, dass die Attraktivität des religiösen Lebens bis heute nur wenig nachlässt. Die Hypothese der weiblichen Kongregationen als Faktor der kulturellen und sozialen Emanzipation ist hilfreich, um zu verstehen, warum die Vokationen in Afrika kaum abnehmen, während sie in Europa, Kanada und Amerika ständig zurückgehen. Die internationalen wie auch die afrikanischen Orden sind heute nicht nur Institutionen, in denen religiöse Virtuosen nach spirituellen Grundsätzen zusammenleben, sondern auch Lebensgemeinschaften, die internationale professionelle Karrieren ermöglichen, koordinieren und stabilisieren. Jenseits von kolonialen Hierarchieverständnissen haben sich zwischen den ehemaligen Tochter- und Mutterkongregationen Verbindungen entwickelt, die sowohl die alten Nord-Süd- als auch neue Süd-Süd-Vernetzungen zulassen. Diese Netzwerke kooperieren immer mehr mit nichtkirchlichen Instituitet. Vgl. Deborah Velenze, Prophetic Sons and Daughters. Female Preaching and Popular Religion in Industrial England, Princeton 2005.
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tionen und konstituieren sich um gesellschaftsrelevante Themen (wie in unserem Beispiel um den Kampf gegen Sextourismus). Die Fallbeispiele haben deutlich gemacht, welch wichtige Rolle die kolonialen Verbindungen für die heutige Organisation eines weitverzweigten Geflechts humanitärer Hilfe und kulturellen Austausches spielen. Katholische Kongregationen unterliegen nicht nur großen Veränderungen aufgrund des Wandels innerhalb der katholischen Kirche, sondern auch durch ihre multikulturelle Zusammensetzung und transnationalen Verbindungen. Diese Konstellation macht ihre Analyse besonders aufschlussreich, um Aspekte des Wandels moderner afrikanischer Gesellschaften zu untersuchen. Die Mischung aus informellen und institutionalisierten Netzwerken innerhalb der Kongregationen erlaubt es ihnen auf lange Sicht, einen transnationalen Raum aufzubauen.
Gibt es eine „islamische“ Mission? Die „Muslim Bible Preachers“ in Tansania im 20. Jahrhundert Roman Loimeier
Einleitung: Mission im Islam In Auseinandersetzung mit christlichen Missionsbemühungen haben sich in einer Reihe von Ländern muslimische Gegenbewegungen gebildet. In diesem Kapitel werden diese muslimischen Gegenbewegungen am Beispiel des gegenwärtigen Tansania untersucht. Insbesondere die „Muslim Bible Preachers“ haben sich in ihrem öffentlichen Auftreten und selbst in ihrer Namensgebung stark an christlichen Vorbildern, insbesondere an den Pfingstkirchen, orientiert. Bevor aber diese Transfers, die daraus entwickelten Missionspraktiken und das Selbstverständnis dieser muslimischen Mission beschrieben werden, wird einführend die Frage diskutiert, welchen Stellenwert Idee und Praxis der aktiven Glaubensverbreitung im Islam allgemein haben. In der populären Literatur wird häufig angenommen, dass es im Islam keine mit der christlichen Mission vergleichbare Missionsidee und Missionstätigkeit gebe. Auch Muslime verweisen darauf, dass der Islam keine Missionsgeschichte wie das Christentum habe. Sie begründen das scheinbare Fehlen einer islamischen Mission mit dem bekannten Koranzitat: „Lā ikrāha fī-l-dīn“ (es gibt keinen Zwang in der Religion; Koran Sure 2: 256). Die Menschen sollten selbst, aus eigenem Antrieb, zum wahren Glauben finden. Die Tatsache, dass es im Islam zumindest in historischer Zeit keine Institutionen gab, die Mission betrieben und mit christlichen Organisationen oder Institutionen, etwa Missionsorden, zu vergleichen wären, scheint diese Annahme zu stützen. In der Frühzeit des Islam (also die Zeit der futūh., der Eroberungskriege und der Umayyaden-Dynastie, bis ca. 750) betrieben Muslime vor allem den Abschluss von Kooperations- und Bündnisabkommen mit nicht-muslimischen Gruppen, etwa christlich-arabischen Stämmen in Nordarabien: Man suchte zu dieser Zeit nach verlässlichen (lokalen) Bündnispartnern gegen das übermächtige byzantinische Reich und
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das Reich der persischen Sassaniden. Die Mehrheit der christlichen Bevölkerungen Ägyptens, Syriens und Mesopotamiens war zudem aus der Perspektive der („orthodoxen“) byzantinischen Reichskirche „dissident“ (also „koptisch“ bzw. „nestorianisch“). Diese christlichen Gemeinschaften begrüßten die arabische Eroberung als Befreiung. Die arabischen Eroberer, die sich bis in die Zeit der Umayyaden als eine ethnische, politische und religiöse Elite verstanden,1 waren daher bereit, die christlichen und jüdischen Mehrheitsbevölkerungen dieser Regionen, nicht aber die „heidnischen“ Berber Nordafrikas, als „ahl al-kitāb“ zu akzeptieren und ihnen als „Schutzbefohlene“ (arab. d_immis) einen gesicherten Rechtsstatus zuzugestehen. Einer häufig nur formalen Aufforderung bzw. Einladung (da‘wa) zur Konversion folgten in der Regel zunächst keine weiteren Aktionen: Konversion wurde nicht erzwungen. Zudem wurde rasch, zur Mitte des 7. Jahrhunderts, klar, dass das neue arabisch-muslimische Reich angesichts einer weitgehenden Abgabenfreiheit für Muslime auf die erheblichen Steuereinnahmen, etwa in Gestalt der gˇizya, der Schutzabgabe der christlichen und jüdischen Mehrheitsbevölkerungen, angewiesen war.2 Diese Faktoren erklären, warum sich der Konversionsdruck auf die christlichen und jüdischen Bevölkerungen in Ägypten, Syrien und Mesopotamien in Grenzen hielt und Konversion zum Islam in diesen Regionen nur sehr langsam vor sich ging.3 Der Eindruck eines scheinbar fehlenden Missionseifers der Muslime wird durch die Existenz religiöser Gruppierungen bestärkt, die sich, wie etwa die Jahanke im sudanischen Westafrika, nicht nur durch islamische Gelehrsam˘ keit auszeichneten, sondern auch durch ihre politische Enthaltsamkeit und ihre Weigerung, Nicht-Muslime zum Islam zu bekehren. Ivor Wilks, einer der besten Kenner der Jahanke-Traditionen, stellte fest:
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1 Erst im Kalifat von ‘Umar II. ‘Abd al-‘Azīz (reg. 717–720) erfolgte ein erstes Emanzipationsedikt, durch das nicht-arabische Muslime als gleichberechtigt anerkannt wurden. Freilich wurde dieses Emanzipationsedikt von den Nachfolgern von ‘Umar II. ‘Abd al-‘Azīz wieder aufgehoben. Erst im Kontext der ‘abbāsidischen Revolution kam es zur nachhaltigen Gleichstellung arabischer und nicht-arabischer Muslime. 2 Vgl. hierzu ausführlich: Ulrich Haarmann, Geschichte der arabischen Welt, München 1987, S. 64–66. 3 Vgl. hierzu umfassend: Richard W. Bulliet, Conversion to Islam in the Medieval Period. An Essay in Quantitative History, Cambridge 1979.
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„Key to their beliefs was the rejection of active proselytization; true conversion occurs only in God’s time. Jihad had therefore to be rejected as an instrument of change except, perhaps, in situations in which the very existence of the Muslim community was threatened. All unbelievers will, at various points in time, convert, but these times are preordained. Muslims who live among them have an obligation to keep pure the way of the prophet and, by providing their hosts with example (qudwa), will thereby make emulation (iqtidā’) possible“.4
Die Jahanke waren nicht die einzige muslimische Gelehrtengruppe, die sich ˘ einem friedlichen Leben als religiöse Gelehrte widmeten und sich weltlicher Bestrebungen sowie aktiver Missionierung enthielten. Im westlichen Afrika fanden sich vielmehr eine ganze Reihe solcher Gruppierungen, die sich letztendlich auf ein historisch etabliertes Modell einer Rollenteilung in saharischen Stammesbevölkerungen zurückführen lassen, die „Krieger“-Gruppen („lah.ma“) und Handel treibende Gelehrten-Verbände („Ineslemen/Zwāya“) kannten: Die Kunta der Nigerregion um Timbuktu sind nur eines von mehreren Beispielen. Ebenso gibt es in Ostafrika, im südlichen Jemen, eigentlich in der ganzen Region des Indischen Ozeans das Beispiel der h.ad.ramitischen Gelehrten-Verbindung der ‘Alawiyya, die sich ebenfalls militanter Versuchungen verweigerte und die Konversion von Nicht-Muslimen ablehnte. Erst in den 1920er-Jahren durchbrach ein junger Gelehrter aus Kenia, H . abīb S.ālih., dieses Paradigma, und sprach in seiner Lehrtätigkeit in der Riyād.a-Moschee in Lamu gezielt afrikanische Konvertiten, vor allem Sklaven und andere marginalisierte Gruppen, an. Diese Beispiele sollen genügen, um zu einer argumentativen Wendung zu kommen: In meiner eigenen Forschungstätigkeit im Senegal, in Nordnigeria, in Tansania, aber auch bei Reisen nach Ägypten und Syrien bemühten sich Muslime nämlich immer wieder darum, mich mit großem Eifer und manchmal auch mit abenteuerlichen Argumenten zum wahren Glauben zu bekehren. Diese persönlichen Erfahrungen mit muslimischen Missionierungsbemühungen zeigen, dass es eben doch so etwas wie eine islamische Mission gibt, auch wenn sie sich in ihren Ausprägungen sowohl historisch wie gegenwärtig etwas anders darstellt als christliche Mission. Die Existenz einer islamischen Mission zeigt sich zunächst in einer entsprechenden Begrifflichkeit, die hier kurz vorgestellt werden soll. Zentral ist dabei der bereits genannte Begriff der 4 Ivor Wilks, Consul Dupuis and Wangara. A Window on Islam in Early 19th Century Asante, in: Sudanic Africa 6 (1995), S. 55–72, hier S. 61.
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da‘wa ( ;ﺪﻋﻮﺓPerson: dā‘ī), der heute häufig als Synonym für den Begriff der „Mission“ verwandt wird. Eigentlich meinte da‘wa zunächst „Aufruf“ (auch Aufforderung, Einladung, zum Beispiel an die nicht-muslimischen Gegner vor dem Kampf, doch den wahren Glauben, eben den Islam, anzunehmen), daneben aber auch „Sache“, „Angelegenheit“, „Botschaft“. Eng mit dem Begriff der da‘wa verwandt ist das Konzept der „Mahnrede“, wa‘z. ( ;ﻮﻋﻈPerson: wā‘iz. ), das heute vor allem für eine Kampfpredigt oder Brandrede steht. Daneben gibt es den Begriff tablīg˙ ( ) ﺘﺒﻠﻴﻎ, eigentlich Information, Übermittlung, Vermittlung, Ankündigung, aber im engeren Sinne auch Verkündigung, ein Begriff, der heute eher die „Missionsarbeit“ unter den Muslimen selbst bezeichnet, besonders deutlich in der Botschaft und Arbeit der indo-pakistanischen gˇamā‘at al-tablīg˙;5 und schließlich den Begriff tabšīr () ﺘﺒﺸﻴﺮ, der für die Ankündigung, Verkündigung, Predigt des Evangeliums steht, also christlich konnotiert ist und in der Tat die Überbringung der guten (christlichen) Botschaft (bišāra) meint. Gegen das eingangs genannte Toleranzgebot des Islam steht eine andere aus dem Koran abgeleitete Auffassung. Danach sei es Aufgabe der gesamten Gemeinschaft der Muslime, die Botschaft des Islam weiterzugeben. Paradigmatisch sei nach dem Gebot zu handeln, zum „Guten aufzurufen und zu verbieten, was verwerflich sei“ (Koran 3: 104; 9: 71): Aus dieser koranischen Grundaussage wurde wiederum die Verpflichtung zur Ausbreitung des Glaubens durch Wort, Hand und Schwert abgeleitet. Diese Verpflichtung könne, wie der gˇihād, stellvertretend durch einzelne Muslime erfüllt werden. Die grundlegende Akzeptanz der Missionsidee, der Weitergabe der Botschaft (da‘wa), fand sich konsequenterweise in vielen muslimischen Erneuerungsbewegungen wieder, die ihre jeweilige Botschaft durch entsprechende Sendboten (dā‘īs) zu verbreiten suchten, etwa die da‘wa der ‘Abbāsiden, der Fāt.imiden, der Almoraviden, der Almohaden, der Wahhābiten oder der Ah.madiyya. Bereits in der Frühzeit des Islam wurde durch den islamischen Staat und die islamische Rechtsprechung auch eine Privilegien-Hierarchie etabliert, in der bis ca. 720 zunächst die arabischen Muslime ganz oben standen, gefolgt von den nicht-arabischen Muslimen, dann den anderen „Buchleuten“ (ahl al-kitāb), also zunächst Christen und Juden, später auch die persischen Zoroastrier und schließlich sogar die „hinduistischen“ Inder, dann die Sklaven 5 Vgl. Muhammad Khalid Masud (Hg.), Travelers in Faith. Studies of the Tablighi Jamâ’at as a Transnational Islamic Movement for Faith Renewal. Leiden 2000.
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und letztlich die „ganz und gar ungläubigen Heiden“ (kuffār). Ein Aufstieg in dieser Hierarchie war nur durch die Konversion zum Islam möglich. Wer konvertierte, erhielt Zugang zu bestimmten Privilegien und wurde gleichzeitig von (Steuer-)Lasten und diskriminierenden Beschränkungen, etwa im Bereich der Kleiderordnung, befreit. Letztlich war es dieses Zuckerbrotund-Peitsche-Prinzip, das bis zum 11./12. und 13. Jahrhundert zum mehr oder weniger freiwilligen Übertritt einer Mehrheit (aber eben nicht aller) der christlichen Bevölkerungsgruppen in Ägypten, Syrien und Mesopotamien zum Islam führte.6 Diese Ausführungen zeigen, dass es sich bei der Frage nach der islamischen Mission um ein kompliziertes und historisch wie semantisch immer wieder unterschiedlich besetztes Feld handelt. Bevor ich mich im Folgenden mit einem spezifischen Fall islamischer Mission in Ostafrika beschäftige, der sich eng an christliche Vorbilder, insbesondere die Pfingstkirchen, anlehnt, soll die Entwicklung dieser muslimischen Mission historisch kontextualisiert werden. Hierfür ist zunächst ein Exkurs in die christliche Missionsgeschichte Tanganyikas/Tansanias notwendig.
Christliche Mission in Tanganjika/Tansania: Der Fall der Pfingstkirchen Die Anfänge christlicher Mission in Ostafrika lassen sich, wenn wir die gescheiterten Missionsbemühungen der Augustiner im 16. und 17. Jahrhundert7 beiseitelassen, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen, als mit Johann Ludwig Krapf ein erster Missionar der anglikanischen „Church Missionary Society“ (CMS) ins ostafrikanische Landesinnere vorstieß.8 Die erste feste Missionsstation wurde 1862 von der katholischen Kirche in 6 Vgl. Bulliet, Conversion. 7 Vgl. Justus Strandes, The Portuguese Period in East Africa (Erstveröffentlichung 1899 in Berlin unter dem Titel „Die Portugiesenzeit von Deutsch- und EnglischOstafrika“), Nairobi 1961, S. 145–154. Die Augustiner-Mission begann Ende des 16. Jahrhunderts als ein kleines Kloster innerhalb der Mauern von Fort Jesus in Mombasa, dazu gab es kleinere Niederlassungen in Sansibar und Faza. Die Präsenz der Augustiner an der ostafrikanischen Küste endete im Jahre 1698 mit der Eroberung von Fort Jesus durch eine osmanische Flotte. 8 Krapf hatte zunächst vergeblich versucht, in Äthiopien zu missionieren und war 1844 nach Sansibar gekommen. In den folgenden Jahren führte er von Mombasa aus mehrere Reisen ins ostafrikanische Landesinnere durch.
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Sansibar errichtet. Die Station wurde von den „Vätern vom heiligen Geist“ getragen, allerdings wurde die Missionsstation 1868 von Sansibar nach Bagamoyo aufs ostafrikanische Festland verlegt.9 Die katholischen „Weißen Väter“ folgten 1878 mit einer Station in Tabora. Auch die protestantische „Universities’ Mission to Central Africa“ (UMCA) errichtete 1864 ihre erste Missionsstation in Sansibar, konzentrierte sich ab den 1890er-Jahren aber auf die Mission in Bonde und Uzigua. Diese Missionsorganisation publizierte im Jahre 1888 auch die erste Übersetzung der Bibel ins Kiswahili, das sich in den folgenden Jahrzehnten zur Verkehrs- und Amtssprache in Deutsch-Ostafrika, im britischen Tanganyika und im unabhängigen Tansania entwickelte. Die 1886 gegründete „Deutsch-Ostafrikanische Missionsgesellschaft“ (auch „Berlin III“), aus der 1906 die „Bethel Missionsgesellschaft“ wurde, folgte mit weiteren Missionsstationen in Dar es Salaam (1887), sowie Kisarawe (1892) und Maneromango (1895) in der Usambara-Region. Die „Berliner Missionsgesellschaft“ („Berlin I“) und die „Herrnhuter Brüdergemeinde“ etablierten sich jeweils 1891 in der Unyakusa-Region nördlich des Malawi-Sees, während die „Evangelisch-Lutherische Mission zu Leipzig“ 1893 am Kilimandscharo einen Stützpunkt einrichtete.10 Im Jahre 1895 errichtete auch die 1884 im Benediktiner-Kloster St. Ottilien gegründete Benediktiner-Mission eine erste Missionsstation in Lukuledi und 1898 in Peramiho bei Songea im Südwesten der Kolonie, nachdem sie zu vor in Pugu 1888 und Daressalam 1890 erste Niederlassungen an der Küste errichtet hatte. Diesen Missionsorganisationen folgten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere, beispielsweise die Adventisten oder die amerikanische „Africa Inland Mission“. Häufig wurden christliche Missionsorganisationen von afrikanischen lokalen Herrschern eingeladen, sich in bestimmten Regionen niederzulassen und Schulen einzurichten. Man erhoffte sich von den Missionen dabei insbesondere Unterstützung für eigene Modernisierungsbestrebungen. Die Aktivitäten der unterschiedlichen Missionsorganisationen, insbesondere im Bereich des Gesund-
9 Zur Geschichte der christlichen Mission und der christlichen Missionsschulen in Sansibar siehe Roman Loimeier, Between Social Skills and Marketable Skills. The Politics of Islamic Education in 20th Century Zanzibar. Leiden 2009; zu Tanganyika siehe John Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979. 10 Dabei übernahm die Leipziger Mission eine Missionsstation der CMS, die 1885– 1892 eine Missionsstation am Kilimandscharo unterhalten hatte, sich dann aber nach Uganda verlagerte.
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heits- und Bildungswesens,11 führten aber auch zur Aufteilung der Kolonie in „Missionsprovinzen“, die vorzugsweise einer bestimmten Kirche überlassen wurden. 1934 schlossen sich die unterschiedlichen protestantischen Missionsorganisationen schließlich zum „Tanganyika Mission Council“ zusammen, aus dem 1948 der Dachverband der protestantischen Kirchen Tanganyikas entstand, der „Christian Council of Tanganyika“ (später Tansania, CCT). Das katholische Pendant zu diesem protestantischen Kirchen-Dachverband war die „Tanganyika Episcopal Conference“.12 Die erste pfingstkirchliche Gemeinde in Tanganyika entstand im Jahre 1927 mit der Etablierung der „Holiness Mission“ in Mbeya, die 1949 von der „Assemblies of God“-Kirche übernommen wurde.13 Diese Pfingstkirche 11 Siehe hierzu Jürgen Becher, Die deutsche evangelische Mission. Eine Erziehungsund Disziplinierungsinstanz in Deutsch-Ostafrika, in: Albert Wirz/Andreas Eckert/Katrin Bromber (Hg.), Alles unter Kontrolle: Disziplinierungsprozesse im kolonialen Tansania (1850–1960), Köln 1996, S. 141–169; Roman Loimeier, Perceptions of Marginalization. Muslims in Contemporary Tanzania, in: Réné Otayek/ Benjamin Soares (Hg.), Islam and Muslim Politics in Africa, London 2007, S. 137– 56; sowie Lawrence E.Y. Mbogoni, The Cross versus the Crescent. Religion and Politics in Tanzania from the 1880s to the 1990s, Dar es Salaam 2004. 12 Im Jahre 1914 wurde die Zahl der Christen in Deutsch-Ostafrika auf ca. 2 % der Bevölkerung geschätzt. Der Zensus des Jahres 1957 ergab einen Bevölkerungsanteil von 25 % Christen (davon 2/3 katholisch, 1/3 protestantisch), während auf die Muslime ca. 31 % entfielen (Iliffe, Tanganyika, S. 543). Jüngere Schätzungen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, sind sich jedoch darin einig, dass es seit 1957 zu einem weiteren massiven Wachstum sowohl der muslimischen als auch der christlichen Bevölkerungsanteile gekommen ist. Siehe hierzu und zum Streit über die Religionsstatistik in Tansania Loimeier, Perceptions of Marginalization. 13 Zur Entwicklung der Pfingstkirchen in Afrika gibt es inzwischen zahlreiche Untersuchungen, die seit c. 1990 vor allem im Journal of Religion in Africa reflektiert wurden. Siehe aber auch die Arbeiten von Hansjörg Dilger, Healing the Wounds of Modernity. Salvation, Community and Care in a Neo-Pentecostal Church in Dar es Salaam, Tanzania, in: Journal of Religion in Africa 37 (2007) 1, S. 59–83 und Frieder Ludwig (Tansania); Paul Gifford, Ghana’s New Christianity. Pentecostalism in a Globalizing African Economy, London 2004 (v. a. Südafrika, Ghana, Kenia), Rosalind Hackett, Charismatic/Pentecostal Appropriations of Media Technologies in Nigeria and Ghana, in: Journal of Religion in Africa 28 (1998), S. 258–277 und Klaus Hock, Der Islam-Komplex. Zur christlichen Wahrnehmung des Islams und der christlich-islamischen Beziehungen in Nordnigeria während der Militärherrschaft Babangidas, Hamburg 1996 (Ghana, Nigeria); David Maxwell, The Durawell of Faith. Pentecostal Spirituality in Neo-Liberal Zimbabwe, in: Journal of Religion in Africa 35 (2005) 1, S. 4–32 (Simbabwe), Birgit Meyer, Translating the Devil. Religion and Modernity among the Ewe in Ghana, Edinburgh 1999 (Ghana); Asonzeh F.-K. Ukah, Pentecostalism, Religious Expansion and the City.
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hat sich trotz einer Spaltung im Jahre 1982, als sich die „Evangelistic Assemblies of God“-Kirche abspaltete, zur heute stärksten Pfingstkirche in Tansania entwickelt. Bereits 1932 hatte sich aber auch die „Swedish Free Mission“ in Tabora etabliert und 1946 die „Elim Pentecostal Church“ in Morogoro. Die „Assemblies of God“ begründeten 1959 zudem in Mbeya eine eigene Bibelund Predigerschule. Dennoch blieben die Pfingstkirchen in Tansania angesichts der Vorrangstellung der protestantischen Kirchen, insbesondere der lutherischen Kirche und der katholischen Kirche marginal. Erst im Kontext der gesellschaftlichen Verwerfungen der Ujamaa-Zeit (1967–1985) kam es zu einem explosionsartigen Wachstum der Pfingstkirchen, die sich 1993 zum „Pentecostal Council of Tanzania“ (PCT) zusammenschlossen, dem 22 Pfingstkirchen angehören. Im Rahmen des von Julius Nyerere – er regierte Tansania von 1961 bis 1984 – betriebenen Ujamaa-Programms wurden zentralisierte Genossenschaftsdörfer eingerichtet, etwa fünf Millionen Menschen zwangsweise umgesiedelt und dadurch bestehende kirchliche Strukturen zerstört. Die Pfingstkirchen reagierten in dieser Situation der Krise am schnellsten und flexibelsten und waren so in der Lage, den Entwicklungsvorsprung der katholischen und der lutherischen Kirche aufzuholen. In den späten 1990er-Jahren hatten Pfingstkirchen in Tansania bereits über eine Million Mitglieder.14 Dieses Wachstum wurde von den anderen protestantischen KirLessons from the Nigerian Bible Belt, in: Peter Probst/Gerd Spittler (Hg.), Between Resistance and Expansion. Explorations of Local Vitality in Africa, Hamburg 2004, S. 415–442 (Nigeria) und David Westerlund, Ahmed Deedat’s Theology of Religion. Apologetics through Polemics, in: Journal of Religion in Africa 33 (2003) 3, S. 263–278 (Südafrika). 14 Im Jahre 1993 wurde die Zahl der Mitglieder in Pfingstkirchen noch auf ca. 500 000 Menschen geschätzt. Vgl. Frieder Ludwig, Das Modell Tanzania. Zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat während der Ära Nyerere, Berlin 1995, S. 155. Zum Wachstum und zur Entwicklung der Pfingstkirchen in Tansania siehe ebd., S. 153–159; ders., Church and State in Tanzania. Aspects of a Changing Relationship, 1961–94, Leiden 1999, S. 222 f.; ders., After Ujamaa. Is Religious Rivalism a Threat to Tanzania’s Stability, in: David Westerlund (Hg.), Questioning the Secular State. The Worldwide Resurgence of Religion in Politics, London, S. 216–236, hier S. 183 und S. 186 ff.; sowie Mbogoni, Cross versus Crescent. Nach Maxwell haben pfingstkirchliche Gemeinden heute (2005) weltweit etwa 250 Millionen Anhänger, in Afrika mehrere Dutzend Millionen: Vgl. Maxwell, Durawell of Faith, S. 5. Pfingstkirchliche Bewegungen sind heute wohl „the largest self-organized movement of the urban poor on the planet“. Vgl. David Maxwell, Writing the History of African Christianity. Reflections of an Editor, in: Journal of Religion in Africa 36 (2006) 3–4, S. 379–399, hier S. 389.
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chen und der katholischen Kirche als Bedrohung empfunden, und zwar insbesondere deshalb, weil sich die Pfingstkirchen nicht an die von den anderen christlichen Kirchen getroffenen Absprachen zum Missionsverzicht in den „Territorien“ der anderen Kirchen hielten, sondern in ganz Tansania warben. Von besonderer Bedeutung für das Wachstum der Pfingstkirchen war das Mittel der „crusades“, öffentliche Predigtkampagnen, die 1980 mit einer „crusade“ in Iringa begannen. In Dar es Salaam fand die erste „crusade“ 1986 statt, seither fanden einmal pro Jahr, meist im Monat November, „power crusades“ statt, die etwa zwei Wochen dauerten und bis zu 200 000 Gläubige zu gewaltigen Massengottesdiensten und Predigtveranstaltungen mobilisierten. Eine treibende Kraft der pfingstkirchlichen „crusades“ war die von dem deutschen Evangelikalen Reinhard Bonnke begründete und geführte „Christ for all Nations“ (CfaN) Bewegung, die seit 1986 in Seckbach bei Frankfurt ansässig ist und seit 1980 in Tansania agiert.15 Reinhard Bonnke (geb. 1940), ein deutscher Evangelikaler, war von 1959–1961 am „Bible College of Wales“ in Swansea als Prediger ausgebildet worden, ging 1967 für die „Apostolic Faith Mission“ nach Lesotho und war dann lange Zeit in Südafrika tätig. In Südafrika baute Bonnke mit Hilfe US-amerikanischer Evangelikaler, insbesondere Kenneth Copeland aus Texas, eine eigene Organisation mit Sitz in Johannesburg auf, die CfaN, und führte unter dem Motto „Africa shall be saved“ im Jahre 1975 einen ersten Missionskreuzzug in Botswana durch. In den folgenden Jahren führten ihn seine Kreuzzüge durch Südafrika, nach Zaire, Sambia, Zimbabwe und Kenia, später auch nach Tansania, Nigeria und Sierra Leone. Seit den 1980er-Jahren erhielt die CfaN-Bewegung Bonnkes in einer Reihe von „crusades“ in vielen afrikanischen Ländern enormen Zulauf in der Bevölkerung und löste auf Grund ihres aggressiven Auftretens wiederholt gewalttätige Auseinandersetzungen aus. Anfang der 1990er-Jahre verfügte Bonnke über 129 feste Mitarbeiter, 19 LKWs und ein Großraumzelt, das 34 000 Personen fasste, aber bald für seine Großveranstaltungen zu klein wurde, sodass er seither bevorzugt in Fußballstadien predigte.
15 Zu Bonnke siehe Paul Gifford, „Africa shall be saved“. An Appraisal of Reinhard Bonnke’s Pan-African Crusade, in: Journal of Religion in Africa 17 (1987) 1, S. 63–92, hier S. 64 und Roman Loimeier, Die Dynamik religiöser Unruhen in Nordnigeria, in: Afrika Spectrum 27 (1992) 1, S. 59–80.
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Die „Muslim Bible Preachers“ in Tansania Die Missionsbestrebungen der christlichen Kirchen in Tanganjika/Tansania, insbesondere die Aktivitäten der Pfingstkirchen, und deren erstaunliche Missionserfolge seit den späten 1970er-Jahren, haben eine muslimische Gegenreaktion provoziert, die zur Entwicklung der „Umoja wa wahubiri wa kiislamu na mlingano wa dini“ (Swahili: „Vereinigung der Prediger des Islam und äquivalenter Religionen“) führte. Bei dieser Vereinigung handelte es sich um eine muslimische aktivistische Gruppe, die in Tansania landläufig als „Muslim Bible Preachers“ bekannt wurde.16 Die starke Anlehnung der „Muslim Bible Preachers“ an Agitationsmodelle der Pfingstkirchen hat dazu geführt, dass die tansanischen „Muslim Bible Preachers“ und ähnliche Bewegungen in Südafrika oder Nigeria in der Literatur bereits als „Pentecostal Muslims“ bezeichnet wurden. In der Tat zeichnen sich viele muslimische Reformbewegungen im subsaharischen Afrika dadurch aus, dass sie Formen des Auftretens, der Organisation und der Argumentation kultiviert haben, die stark an entsprechende pfingstkirchliche Muster erinnern oder direkt von pfingstkirchlichen Bewegungen übernommen wurden.17 Aus diesem Grunde hat der französische Religionssoziologe André Mary diese muslimischen Reformer als „born-again Muslims“ bezeichnet.18 Die Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Reformern und pfingstkirchlichen Gemeinden begannen in Tansania im Jahre 1981. In diesem Jahr besuchte der südafrikanische muslimische Prediger Ah.mad Deedat (1918–2005)19 auf Einladung der „Dar es-Salaam Muslim Students’ Associ16 Die „Umoja wa wahubiri wa kiislamu na mlingano wa dini“, UWAMDI, wurde 1990 in Dar es-Salam begründet und arbeitete eng mit Ah.mad Deedat zusammen. Vgl. Justo Lacunza Balda, The Role of Kiswahili in East African Islam, in: Louis Brenner (Hg.), Muslim Identity and Social Change in Sub-Saharan Africa, London 1993, S. 226–238, hier S. 229. Sie ist aber inzwischen in mindestens zwei unabhängige Gruppierungen zerfallen. Vgl. Loimeier, Perceptions of Marginalization. 17 Dabei handelt es sich um unilaterale Übernahmen. Pfingstkirchen haben bislang keine Elemente muslimischer Reformbewegungen übernommen. 18 Siehe Laurent Fourchard/André Mary/René Otayek (Hg.), Entreprises religieuses transnationales en Afrique de l´Ouest, Paris 2005. 19 Zu Ah.mad Deedat s. Westerlund, Ahmed Deedat, und Samadia Sadouni, Le minoritaire sud-africain Ahmed Deedat, une figure originale de la da’wa, in: Islam et Sociétés au Sud du Sahara 12 (1998), S. 149–172 ; sowie dies., La controverse Islamo-Chrétienne en Afrique du Sud. Ahmed Deedat et les nouvelles formes de débat, Aix-en-Provence 2011; zur Entwicklung des mihadhara-Predigens in Tansania und Ah.mad Deedats ersten Besuch in Tansania siehe Hamza Mustafa
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ation“ die Universität Dar es Salaam und sensibilisierte seine Zuhörerschaft nachdrücklich und erfolgreich für den Kampf gegen die Pfingstkirchen. Was die Pfingstkirchen in den Augen von Ah.mad Deedat und der muslimischen Reformer Tansanias besonders gefährlich machte, war die Tatsache, dass sie neue Formen des öffentlichen Auftritts und des Glaubenslebens propagierten, die eine enorme Anziehungskraft entwickelten. Dazu gehörten einerseits die Massengottesdienste der pfingstkirchlichen Gemeinden, öffentliche (Wunder-)Heilungen und Geisteraustreibungen, das (Wiedergeburts-) Bekehrungserlebnis als Bestandteil pfingstkirchlicher Veranstaltungen und die in der „Zungen-Rede“ manifest werdende Erfahrung Gottes. Andererseits gaben die Pfingstkirchen unmittelbar Rat für Probleme des Alltags und betonten, damit verbunden, den Glauben an die Unfehlbarkeit der Schrift und ihre durch den „Heiligen Geist“ vermittelte heilende Kraft. Sie predigten die Botschaft des materiellen „Wohlstands“ („the gospel of prosperity“) und versprachen Sicherheit in der Gemeinschaft der Gläubigen.20 Diese Botschaft des „Erwachens“ (Kiswahili: uamsho),21 war auch für die armen, städtischen Muslime, insbesondere muslimische Frauen attraktiv.22 Njozi, Mwembechai Killings and the Political Future of Tanzania, Ottawa 2000, S. 10–12. Sadouni (2011) diskutiert in ihrer Arbeit zu Ah.mad Deedat nicht nur die intellektuellen Wurzeln Deedats in der historischen Auseinandersetzung im Indien der 1850er-Jahre zwischen Mawlana Rah.matullāh Kairanawī und Karl-Gottlieb Pfander zu christologischen Fragen wie der Kreuzigung Christi, sie zeigt auch, dass Ah.mad Deedat und das 1957 von ihm in Durban gegründete „Islamic Propagation Centre International“ seit den 1970er-Jahren erhebliche finanzielle Unterstützung aus Saudi-Arabien erhielt. Diese Unterstützung ermöglichte seinen Aufstieg zu einem internationalen Medienstar und TV-Prediger, der nicht nur bekannte evangelikale Prediger wie Jimmy Swaggart herausforderte, sondern auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Papst suchte. 20 Maxwell, Durawell of Faith, S. 20; siehe auch Dilger, Healing the Wounds; sowie ausführlich Michael Bergunder, Die südindische Pfingstbewegung im 20. Jahrhundert. Eine historische und systematische Untersuchung, Halle 1998, der Pfingstkirchen in Südindien untersucht hat, und David Martin, Tongues of Fire. The Explosion of Protestantism in Latin America, Oxford 1990 (Lateinamerika, vor allem Brasilien). 21 Auch eine der wichtigsten Zusammenschlüsse muslimischer Reformer in Tansania nennt sich „Uamsho“, und auch für die muslimischen Reformer ist die bewusste BeKehrung (Rückkehr) zum Islam ein wichtiges öffentliches Predigtelement. Muslime sprechen hier von „re-version“. 22 Eigene Beobachtungen, Tansania, 2007. Pfingstkirchliche Gottesdienste in Tansania zeichnen sich durch die starke Teilnahme muslimischer Frauen aus und die Tatsache, dass einige von ihnen bei diesen Veranstaltungen konvertieren.
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Vor allem die Austreibung der „Geister“ (Swahili: wapepo, jinni), das Heilen von Beschwerden durch Handauflegen und das Beschwören des „heilenden“ Namens Jesu, waren ein populärer Bestandteil pfingstkirchlicher Aktivitäten und wurden bald von muslimischen Reformern kopiert. Muslimische Reformer vertreiben so heute „prophetische Medizin“ und haben begonnen, mit dem Mittel von Koranrezitationen (Swahili: kusoma Koran, uganga wa kitabu) Geisteraustreibungen durchzuführen, obwohl diese Aktivitäten noch bis vor Kurzem von denselben Reformern als verdammenswerte Neuerungen (bid‘a) verurteilt worden waren.23 Gleichzeitig haben muslimische Reformer andere Inhalte pfingstkirchlichen Auftretens bislang nicht übernommen, insbesondere nicht die musikalische Gestaltung der Predigtveranstaltungen und das „Sprechen in Zungen“.24 In ihrer Reaktion auf die öffentlichen Auftritte der Pfingstkirchen und ihren Erfolg bei Muslimen übernahmen muslimische Reformer, insbesondere die „Muslim Bible Preachers“, nicht nur eine Reihe pfingstkirchlicher Ideen, sondern auch die von Ah.mad Deedat in Südafrika entwickelten Strategien des Umgangs mit den Pfingstkirchen, die Ah.mad Deedat wiederum in der primären Konfrontation mit diesen Kirchen seit den späten 1950er-Jahren kultiviert hatte, insbesondere mit der von Reinhard Bonnke geführten „Christ for all Nations“ (CFAN)-Bewegung. Bei der Übernahme „pfingstkirchlicher“ Strategien war vor allem das öffentliche Predigen von besonderer Bedeutung. Die muslimischen BibelPrediger verzichteten ganz bewusst auf entsprechende arabische Termini, etwa dā‘ī (pl. du‘ah) oder wā‘iz. (pl. wu‘‘āz. ) für ihre Aktivitäten als Prediger und bezeichneten sich selbst, ebenso wie die Prediger der Pfingstkirchen, in Swahili als wahubiri (sg. mhubiri). Sie pflegten in ihren Predigtveranstaltungen (Swahili: mihadhara) den meist apologetisch intendierten Vergleich von Bibel und Koran, mit dem Ziel, den Christen vorgeblich falsche, von koranischen Aussagen berichtigte Interpretationen von Bibelstellen, insbesondere christologischen Inhalts vor Augen zu halten. Auf Grund dieser neuen Predigtstrategien verschlechterten sich seit den 1980er-Jahren die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen in Tansania erheblich, insbesondere weil muslimische Bibel-Prediger ihre Predigt-Veranstaltungen seit 1984 vermehrt
23 Eigene Beobachtungen, Tansania 2007. 24 Der häufige Bezug auf den Qur’ān (in arabischer Sprache) kann nicht als Parallele zum „Zungen-Reden“ gesehen werden, weil die Bezüge zum Qur’ān legitimatorische Funktion haben und zudem in klarem Arabisch erfolgen.
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außerhalb der Moscheen auf öffentlichen Plätzen abhielten.25 Und obwohl die tansanische Regierung das öffentliche Predigen im Jahre 1992 untersagte, weil es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen gekommen war, fanden auch weiterhin mihadharaVeranstaltungen außerhalb von Gotteshäusern und Moscheen statt.
Jesus ist nicht Gott! Im Juni 2007 entzündete sich in Tansania eine recht polemisch geführte Auseinandersetzung um christologische Fragen zwischen den Pfingstkirchen, repräsentiert durch ihre Wochenzeitung „Msema Kweli“ („die frohe Botschaft“), und den muslimischen Bibel-Predigern. Ein Vertreter der Pfingstkirchen, Godwin Dihigo, hatte erklärt, dass selbst der Prophet Muh.ammad akzeptiert habe, dass Jesus am Kreuz gefoltert wurde, starb und wieder von den Toten auferstand (Swahili: kuteswa, kufa na kufufuka) und damit die entsprechende Darstellung in der Bibel bestätigt habe.26 Gegen diese aus muslimischer Sicht häretische Position verfasste der damals bedeutendste muslimische Bibel-Prediger Tansanias, Scheich Ally Bassalleh,27 eine umfassende Gegendarstellung, die in einer Reihe von Artikeln in den islamischen Wochenzeitungen an-Nuur („das Licht“) und al-Huda („die Rechtleitung“) in den folgenden Wochen veröffentlicht und diskutiert wurde. Seine Bei25 Siehe hierzu: Njozi, Mwembechai Killings, S. 11–80. Ally Bassalleh (s. unten) zufolge entwickelten die Prediger der indo-pakistanischen Reformbewegung der Ah.madiyya bereits in den 1950er-Jahren in Tansania Gegenstrategien zu den Aktivitäten christlicher Missionsbewegungen (Mitteilung Ahmed Chanfi, 25.9.2007). 26 „Msema Kweli“ (Nr. 510, 10. Juni 2007). 27 Ally Bassalleh wurde 1946 in Sansibar geboren und ist heute einer der bekanntesten muslimischen Prediger (mhadhiri) in Tansania. Er absolvierte in Sansibar die Sekundarschule und das Zanzibar Teacher Training College und lehrte sowohl an Primar-, als auch an Sekundarschulen in Sansibar und Tanganyika. Im Jahre 1974 ließ er sich in Dar es Salam nieder und begann für die islamischen Wochenzeitungen an-Nuur and Nasaha zu schreiben. Er verfasste ebenfalls den Text „Sunna za mtume kwa watoto“ (Die Sunna des Propheten für Kinder; 1999). Im November 2001 wurde Ally Bassalleh verhaftet, weil er erklärt hatte, dass „Jesus nicht Gott sei“ (Yesu si Mungu). In den letzten Jahren erschien keine Ausgabe von an-Nuur ohne einen Artikel von oder über Ally Basalleh. Ally Bassalleh ist Leiter der „Taasisi na Jumuiya za Kiislam Tanzania“ (Die Vereinigung der muslimischen NGOs Tansanias) und steht zudem der „Umoja wa wahubiri wa kiislamu na mlingano wa dini“, UWAMDI nahe (s. oben und Loimeier, Perceptions of Marginalization).
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träge wurden mit entsprechenden Koran-Zitaten belegt, insbesondere Sure 4, al-nisā’, die Frauen, Vers 157, wo es heißt: „wa-qaulihim, inna qatalnā al-masīh.a ‘Isā, ibn Maryam rasūl Allāhi, wa-mā qatalūhu wa-mā salabūhu, wa-lākin šubbiha lahum“ (und sie – die Juden – sagten, wir haben den Christen Jesus getötet, den Sohn der Maria, den Gesandten Gottes – aber in Wirklichkeit [RL] – haben sie ihn nicht getötet und nicht gekreuzigt, sondern es erschien ihnen ein Ähnlicher (auch: etwas, was ihm ähnlich sah).28
Die koranischen „Belege“ wurden wiederum mit Zitaten aus der Bibel kontrastiert, so aus dem zweiten Buch Samuel 2: 1–2 oder Lukas 22: 41–42 und Markus 14: 35 (wo es heißt: „Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich an ihm vorübergehe“), die, so Scheich Basalleh, bestätigten, dass Jesus nicht der Sohn Gottes sein könne und auch nicht am Kreuz gefoltert wurde oder starb: „Yesu hakusulubiwa“: Jesus wurde nicht gekreuzigt. Die angebliche Kreuzigung des Propheten Jesus sei eine infame Unterstellung der Christen und aus der Bibel heraus nicht zu belegen.29 Aus der Argumentation von Scheich Bassalleh und anderen muslimischen Bibel-Predigern geht jedoch nicht hervor, inwiefern die von ihnen zitierten Bibelstellen, insbesondere die Zitate aus dem Alten Testament, einen tatsächlichen Beleg für eine nicht stattgefundene Kreuzigung Jesu bedeuten. Hier wäre festzuhalten, dass eine apologetische Argumentation häufig nicht dazu dient, den Gegner zu überzeugen, sondern die eigene Anhängerschaft zu ermutigen. Der Streit zwischen Ally Basalleh und Godwin Dihigo war keineswegs eine einmalige Angelegenheit, sondern stand vielmehr in einer Serie ähnlicher Debatten, die in Tansania seit dem Jahre 2001 zwischen den muslimischen Bibel-Predigern und Vertretern der Pfingstkirchen geführt wurden und 28 Insbesondere dieser letzte Teil des Verses (sondern es erschien ihnen ein Ähnlicher) konnte bis heute von den muslimischen Gelehrten nicht eindeutig ausgelegt werden (Adel Theodor Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch, Gütersloh 2004, S. 178), hier handelt es sich also um einen klassischen Fall von mutašabbihāt, also „undeutlichen Aussagen“ im Koran. 29 Dies ist nun keineswegs ein spezifisches Argument muslimischer Reformer, sondern Bestandteil einer breiteren muslimisch-christlichen Auseinandersetzung, die wiederum darauf verweist, dass die muslimischen Reformer Tansanias in dieser historischen Traditionslinie fest verankert sind.
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die mit der Verhaftung des muslimischen Predigers Hamisi Rajabu Dibagula am 16. März 2001 und einem Gerichtsverfahren gegen ihn begannen, weil er behauptet hatte, dass „Jesus nicht Gott“ sei (Swahili: Yesu si Mungo), jeder, der dies behaupte, sei ein Ungläubiger, zudem sei Jesus nicht am Kreuz gestorben.30 Dibagula wurde daraufhin in einem Gerichtsverfahren (The Republic of Tanzania against H.R. Dibagula) vom Morogoro District Court schuldig gesprochen und am 21. Juli 2001 zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt,31 im August 2001 vom Tanzania High Court aber wieder aus der Haft entlassen, obwohl der High Court bestätigte, dass „slandering religion“ (Blasphemie) vom District Court in Morogoro zu Recht als kriminelles Vergehen festgestellt worden war. Andererseits habe aber jede religiöse Gemeinschaft das Recht, ihre Religion zu propagieren. In Folge dieses Gerichtsverfahrens entwickelte sich die Aussage „Jesus ist nicht Gott“ (Swahili: Yesu si Mungo; und Jesus wurde nicht gekreuzigt: na Yesu hakusulubiwa) zu einem wiederkehrenden Streitgegenstand, weil muslimische Bibel-Prediger diese Aussagen immer wieder zitierten, um entsprechende christliche Proteste auszulösen. Diese wurden wiederum dazu genutzt, um in der Öffentlichkeit die vermeintliche Absurdität christlicher Glaubensaussagen vorführen zu können. Dabei erfuhren die muslimischen Bibel-Prediger nicht nur Hilfe aus anderen ostafrikanischen Ländern, insbesondere Kenia, sondern auch aus Südafrika oder den USA.32 Die tansanische muslimische Bibel-Prediger-Bewegung sollte also sowohl als direkte Reaktion auf die zunehmenden Aktivitäten der Pfingstkirchen in Tansania gesehen werden, als auch als Teil eines umfassenderen Kampfes muslimischer Reformer gegen die Pfingstkirchen, in dem ein globaler Informationsaustausch stattfindet.
Schluss Was bedeutet nun die Auseinandersetzung mit den Pfingstkirchen für die Muslime in Tansania. Zunächst einmal muss das Engagement muslimischer Reformer in der Auseinandersetzung mit den Pfingstkirchen als eine Form 30 Hamza Mustafa Njozi, Muslims and the State in Tanzania, Dar es-Salam 2003, S. 22. 31 Ebd., S. 22f. 32 In an-Nuur und al-Huda wurden so Stellungnahmen US-amerikanischer Muslime gegen pfingstkirchliche Positionen veröffentlicht (eigene Beobachtungen, Tansania 2007).
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der Positionierung innerhalb der tansanischen Gesellschaft gesehen werden: Die muslimischen Bibel-Prediger haben den Kampf gegen die Pfingstkirchen zu einem zentralen Inhalt ihrer Aktivitäten gemacht, und zwar vor allem über das Mittel der öffentlichen Predigt. Diese Predigtveranstaltungen waren mit spektakulären öffentlichen Konversionen zum Islam verbunden. Hinzu kam eine entsprechende Medienarbeit, in der sich die jeweiligen Konfliktparteien direkt zitierten, die aber auch dazu genutzt wurde, um immer wieder auf die internationalen Verbindungen der Bibel-Prediger, insbesondere zu Ah.mad Deedats „Islamic Propagation Centre“ in Südafrika, zu verweisen. Damit wollten die muslimischen Bibel-Prediger den Muslimen Tansanias zeigen, dass man trotz der scheinbar unaufhaltsamen weltweiten Ausbreitung der Pfingstkirchen in der Lage sei, diese erfolgreich zu bekämpfen. In ihrem Kampf gegen die Pfingstkirchen betonten die muslimischen Bibel-Prediger aber auch die Notwendigkeit der Einheit der Muslime und des Überwindens innermuslimischer Dispute (arabisch: „fitna“), die seit der Unabhängigkeit Tansanias eine wirksame Einflussnahme der Muslime auf die politische Entwicklung des Landes verhindert habe. Damit haben es die muslimischen Bibel-Prediger vermocht, sich seit den 1980er-Jahren als wichtige gesellschaftliche und religiöse Kraft in Tansania zu etablieren und konkurrierende muslimische Gruppierungen, insbesondere die staatstreuen muslimischen Funktionärsverbände als untätig und spalterisch zu diskreditieren. Der Kampf der muslimischen Bibel-Prediger gegen die Pfingstkirchen sollte daher nicht nur als ein Kampf gegen die Pfingstkirchen gesehen werden, und damit als Teil christlich-muslimischer Auseinandersetzungen, sondern auch als Aspekt innermuslimischer Konflikte und als Versuch, die Muslime in Tansania gegen die vermeintliche Bedrohung durch die Christen zu einen. Es geht den „Muslim Bible Preachers“ bislang also weniger um die Konversion von Christen, als vielmehr um die politische Auseinandersetzung mit ihnen und die politische Mobilisierung der Muslime mit Hilfe einer aus christlicher Perspektive keinesfalls überzeugenden religiösen Argumentation.
Autorinnen und Autoren Kokou Azamede ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Département d‘Etudes Germaniques der Université de Lomé (Togo). Er wurde 2008 an der Universität Bremen promoviert. Von Oktober 2012 bis September 2013 war er Gastwissenschaftler und Stipendiat der Fritz Thyssen Stiftung im Forschungsprojekt „Blickwinkel und Dekonstruktion des imperialen Auges. Kolonialfotografie als Quelle zur afrikanischen Geschichte am Beispiel Togos“ am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Publikationen zählen u. a.: Gebete und Wunder als transkulturelle Vorstellungen im Gebiet der Norddeutschen Mission in Westafrika 1847–1939, in: Ulrich van der Heyden/ Andreas Feldtkeller (Hg.), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, 41–54; Von der Volks- zur Kirchensprache. Anwendung und Interpretation der Ewe-Sprache auf dem Missionsgebiet der Norddeutschen Missionsgesellschaft in Westafrika, in: Thomas Stolz u. a. (Hg.), Koloniale Sprachforschung, Die Beschreibung afrikanischer und ozeanischer Sprachen zur deutschen Kolonialherrschaft. Berlin 2011, 75–95; Transkulturationen? EweChristen zwischen Deutschland und Westafrika, 1884–1939, Stuttgart 2010. Judith Becker leitet am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz eine BMBF-Nachwuchsgruppe zum Thema „Transfer und Transformation der Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen, 1700–1970“. Sie wurde 2006 an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit über „Gemeindeordnung und Kirchenzucht. Johannes a Lascos Kirchenordnung für London und die reformierte Konfessionsbildung“ (Leiden 2007) zur Dr. theol. promoviert. Neben Glaubensmigration, Kirchenordnungen und der reformierten Konfessionalisierung bildet die Missionsgeschichte des 19. Jahrhunderts einen Schwerpunkt ihrer Forschungen. Sie arbeitet an einer Habilitation zu Konzeptionen von conversio und sanctificatio in der südindischen Mission des frühen 19. Jahrhunderts. Sie hat u. a. veröffentlicht: „Gehet hin in alle Welt …“. Sendungsbewusstsein in der evangelischen Missionsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: EvTh 72 (2012); Die Christianisierung fremder Völker – ein Zeichen für die nahende Endzeit?, in: dies./Bettina Braun (Hg.), Die Begegnung mit Fremden und das Geschichtsbewusstsein, Göttingen 2012.
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Katja Füllberg-Stolberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Sie lehrt und forscht im Bereich der transatlantischen Beziehungen zwischen Afrika und Afroamerika im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Seit 2011 arbeitet sie an dem Forschungsprojekt „Afroamerikanische Missionare und Siedler in Westafrika“ im Rahmen des interdisziplinären DFG-Projekts „Nach der Sklaverei. Die Karibik und Afrika im Vergleich.“ Jüngst erschienen sind u. a. Afroamerikanische Abolition und Emigration. Martin R. Delany’s Niger Valley Exploring Party von 1859, in: Christine Hatzky/Ulrike Schmieder (Hg.), Sklaverei und Postemanzipationsgesellschaften in Afrika und der Karibik (Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte), Berlin 2010, S. 116–139; (Ulrike Schmieder/Michael Zeuske, Hg.), The End of Slavery in Africa and the Americas. A Comparative Approach, Berlin 2011. Albert Gouaffo ist Associate Professor an der Université de Dschang in Kamerun, wo er deutsche Literatur und Kultur sowie interkulturelle Kommunikation lehrt. Er promovierte und habilitierte sich an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Seine Forschungsfelder sind: Deutsche Literatur und Kulturgeschichte des Kaiserreiches, Kolonialgeschichte sowie Migrationserfahrungen und Kollektives Gedächtnis der afrikanischen Diaspora in Deutschland. Neueste Buchpublikationen: Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext. Das Beispiel Kamerun-Deutschland (1884–1919), Würzburg 2007; (mit Hans-Jürgen/Lutz Götze Lüsebrink, Hg.), Discours topographiques et constructions identitaires en Afrique et en Europe – Approches interdisciplinaires/Topographische Diskurse und identitäre Konstruktionen – interdisziplinäre Annäherungen, Würzburg 2012. Rebekka Habermas ist Professorin für Geschichte an der Georg-AugustUniversität Göttingen. Sie hat Geschichtswissenschaft und Romanistik in Konstanz und Paris studiert, wurde mit einer Arbeit zum Wunderglauben in der Frühen Neuzeit im Fach Geschichte an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken promoviert und habilitierte sich in Bielefeld mit einer Geschlechtergeschichte des Bürgertums. Seit 2000 lehrt sie in Göttingen. Sie hat neben Arbeiten zur Kriminalitätsgeschichte in letzter Zeit vor allem zur Religionsgeschichte wie zur Global- und Kolonialgeschichte publiziert. Jüngst erschienen sind: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2008; Piety, Power, and Powerlessness: Religion and Religious Groups in Germany, 1870–1945,
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in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford/New York 2011, S. 453–480; Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 56 (2008), S. 629– 679; Rebekka Habermas/Alexandra Przyrembel (Hg.), Von Märkten, Käfern und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen, 2013 Julia Hauser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Sie hat in Göttingen und Bonn Geschichte, Anglistik und Kunstgeschichte studiert und beschäftigt sich seit ihrer Magisterarbeit über den Auftragsreisenden Johann Ludwig Burckhardt mit globalgeschichtlichen und transnationalen Themen. Sie wurde 2012 an der Georg-August-Universität Göttingen mit einer Dissertation zur Tätigkeit Kaiserswerther Diakonissen in Beirut promoviert. Jüngst erschienen sind: „... das hier so furchtbar verwahrloste weibliche Geschlecht aus dem Stande heben zu helfen“. Der emanzipatorische Auftrag Kaiserswerther Diakonissen im Osmanischen Reich und seine Ambivalenzen, in: Wolfgang Gippert u. a. (Hg.), Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 219–236; „Waisen gewinnen“. Mission zwischen Programmatik und Praxis in der Erziehungsanstalt der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut seit 1860, in: WerkstattGeschichte (2011) 57, S. 9–30. Richard Hölzl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Dort arbeitet er an seinem Habilitationsprojekt „Konversion – Zivilisierung – Entwicklung? Katholische Mission zwischen Deutschland und Ostafrika, 1887–1940“. Er hat Geschichte, Politikwissenschaft und Englische Philologie an den Universitäten Regensburg und Leicester (UK) studiert. 2004–2007 war er Promotionsstipendiat des DFG-GK 1024 „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“ und wurde 2008 mit einer Arbeit zur Geschichte des Waldes in Göttingen promoviert. 2008–2009 war er Postdoc der Graduiertenschule für Religion in Modernisierungsprozessen der Universität Erfurt. Jüngst erschienen sind u. a.: Rassismus, Ethnogenese und Kultur. Afrikaner im Blickwinkel der deutschen katholischen Mission im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: WerkstattGeschichte 59 (2012), S. 7–34; Aus der Zeit gefallen? Katholische Mission zwischen Modernitätsanspruch und Zivilisationskritik, in: Christoph Bultmann u. a. (Hg.), Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der Europäischen Religionsgeschichte, Münster 2012; Der Körper
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des Heiden als moderne Heterotopie. Katholische Missionsmedizin in der Zwischenkriegszeit, in: Historische Anthropologie 19 (2011), S. 54–81. 2011 gab er das Themenheft „Soziale Missionen“ der WerkstattGeschichte (57) heraus. Katrin Langewiesche wurde an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris, promoviert. Sie ist Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Sie arbeitet über religionsanthropologische Themen in Westafrika: religiöse Pluralität, Konversionstheorien, konfessionelle NGOs, katholische Kongregationen zwischen Europa und Afrika sowie religiöse Akteure und der Staat. Zuletzt publizierte sie: Hors du cloître et dans le monde. Des Sœurs catholiques comme actrices transnationales, in: Social Sciences and Missions 25 (3) 2012; Zwischen Afrika und Europa. Aspekte des Christentums in Afrika nach den Unabhängigkeiten, in: Thomas Bierschenk/Eva Spies (Hg.), 50 Jahre Unabhängigkeit in Afrika. Kontinuitäten, Brüche, Perspektiven, Köln 2013. Roman Loimeier ist Professor für Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Er beschäftigt sich mit der Geschichte und Entwicklung muslimischer Gesellschaften in Afrika. Seine Forschungsaktivitäten haben ihn vor allem nach Senegal, Nigeria und Tansania geführt. Andere Forschungsschwerpunkte sind die historische Anthropologie, die Religionsethnologie und die Ethnologie der Seefahrt (maritime Anthropologie). Jüngst veröffentlichte er zwei Monografien zur Geschichte Sansibars und zur islamischen Bildungskultur in Ostafrika: Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung: Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012 und Between Social Skills and Marketable Skills: The Politics of Islamic Education 20th century Zanzibar, Leiden 2009. Linda Ratschiller bereitet momentan ein Dissertationsprojekt zur Geschichte der Missionsmedizin an der Universität Fribourg (Schweiz) vor. Sie hat an der Universität Fribourg und in Stellenbosch (Südafrika) Zeitgeschichte und Sozialpolitik studiert. 2011 hat sie ihren Master of Arts in Geschichte mit einer Arbeit „Kamerun in Basel. Wissenstransfer und Mission um 1900“ abgeschlossen. Seit Oktober 2012 studiert sie am Department of History and Philosophy of Science an der Universität Cambridge im Masterstudiengang Wissenschaftsgeschichte und -philosophie.
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Kirsten Rüther hat die Professur für Geschichte und Gesellschaften Afrikas am Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien inne. Sie ist Historikerin für Neuere Geschichte und Geschichte Afrikas. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Globalgeschichtliche Dimensionen afrikanischer Geschichte, Christianisierung und Kolonialismus sowie Medizin und Gesundheit. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 520 „Umbruch und Bewältigung in afrikanischen Gesellschaften“ an der Universität Hamburg (1999–2003), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover, Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und sie absolvierte Forschungsaufenthalte in Südafrika. Neuere Publikationen sind: Through the Eyes of Missionaries and the Archives They Created. The Interwoven Histories of Power and Authority in the Nineteenth-Century Transvaal, in: Journal of Southern African Studies 38: 2 (2012), S. 369–384; African Conversion to Christianity Before the Advent of Colonial Modernity. Power, Intermediaries and Texts, in: Medieval History Journal 12: 2 (2009), S. 249–273; Religiöse Interaktion, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Vol.10, ed. Friedrich Jäger, Stuttgart 2009, S. 1165–1188; Christianisierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Vol. 2, hg. v. Friedrich Jäger, Stuttgart 2005, S. 741–757. Ulrike Schmieder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover. Sie studierte von 1984 bis 1989 Lateinamerikawissenschaften und Geschichte an der Universität Rostock und wurde 1993 an der Universität Leipzig promoviert. Im Jahr 2002 habilitierte sie sich an der Universität zu Köln zur vergleichenden Geschlechtergeschichte Mexikos, Brasiliens und Kubas im 19. Jahrhundert. Im Rahmen ihres aktuellen Forschungsprojekts beschäftigt sie sich mit der vergleichenden Sklaverei- und Nachsklavereigeschichte Lateinamerikas und der Karibik. Jüngst erschienen sind u. a.: (mit Katja Füllberg-Stolberg/Michael Zeuske, Hg.), The End of Slavery in Africa and the Americas. A Comparative Approach, Berlin 2011. Katharina Stornig ist derzeit Postdoc-Stipendiatin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz. Sie studierte Geschichte und Philosophie in Innsbruck und Wien. Nach ihrer Promotion 2010 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitglied der BMBF-Nachwuchsgruppe „Transfer und Transformation der Europabilder evangelischer Missionare im Kontakt mit dem Anderen“ am
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Autorinnen und Autoren
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz tätig. Neueste Publikationen sind: „Sister Agnes was to go to Ghana in Africa!“ Catholic Nuns and Migration, in: Glenda Tibe Bonifacio (Hg.), Feminism and Migration. Cross-cultural Engagements, Dordrecht 2012, S. 265–282; im Erscheinen: Sisters crossing Boundaries. German Missionary Nuns in colonial Togo and New Guinea, 1897–1960, Göttingen 2013. Gilbert Dotsé Yigbe leitet seit 2008 das Département d’Etudes Germaniques an der Université de Lomé. Er hat Germanistik (DaF) in Lomé und Romanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Interkulturelle Germanistik in Bayreuth studiert. 1996 wurde er an der Universität Bayreuth promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind: deutsche Kolonialliteratur, Mission, afrikanische Literatur, Ewe-Literatur und -Kultur. Jüngst erschienen u. a.: La production du savoir colonial: une chasse à la parole africaine, in: Adjaï Paulin Oloukpona-Yinnon (Hg.): Le Togo 1884–2004: 120 ans après Gustav Nachtigal. Connaître le passé pour mieux comprendre le présent, Lomé 2007, S. 189–199; Spiel und Ernst als heimatliches Mitbringsel des Migranten – am Beispiel von Martin Aku und Sénouvo Agbota Zinsou, in: Mont Cameroun 6 (2009), S. 103–118; Von Schlegel über Spieth bis Westermann: die EweSprache im Dienste der missionarischen Ethnographie, in: Particip’Action 2 (2010) 2, S. 121–137; Die Anfänge der afrikanischen Literatur in afrikanischer Sprache: Sam Obianim trifft John Bunyan im deutschen Missionsgebiet Togo, in : Annales de l’Université de Lomé, Série Lettres et Sciences Humaines 30 (2010) 2, S. 321–330; Übersetzung und Wissenstransfer in den Schriften der evangelischen Missionare in Deutsch-Togo, in: Ulrich van der Heyden/Andreas Feldtkeller (Hg.): Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 441–452; sowie der Sammelband Reiseliteratur und Wahrnehmung der Fremdheit. Am Beispiel Afrikas. Lomé 2011 und die Übersetzung von Jakob Spieth, Les communautés ewe (Die EweStämme 1906). Traduction de l’allemand en français, relecture et annotations, Lomé 2009.
MARIANNE BECHHAUS-GERST, ANNE-KATHRIN HORSTMANN (HG.)
KÖLN UND DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS EINE SPURENSUCHE
Der deutsche Kolonialismus fand nicht nur in Übersee oder in den „Kolonialmetropolen“ des Deutschen Reiches wie Berlin oder Hamburg statt, auch in Köln war die Kolonialbewegung sehr aktiv. Zahlreiche Kölner Familien und Unternehmen waren am „kolonialen Projekt“ beteiligt. Pompös inszenierte Großveranstaltungen, koloniale Ausstellungen und die beliebten Völkerschauen zogen die Bürger an. Bürgervereine, Wissenschaftler und Missionsgesellschaften beschäftigten sich mit kolonialen Themen und auch im Kölner Karneval wurden diese immer wieder in Szene gesetzt. Der Verlust der Kolonien 1918 stellte keinesfalls das Ende dieser Bewegung dar – im Gegenteil. Diesen bisher vernachlässigten Teil der Kölner Geschichte arbeitet der Sammelband in 40 reich bebilderten Beiträgen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Mission, Kultur und Diaspora auf. Er zeigt ein komplexes Bild einer Epoche Kölner, deutscher und transnationaler Geschichte, die oftmals vergessen oder verdrängt wurde. 2013. 288 S. 120 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-21017-5
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
PEER SCHMIDT, SEBASTIAN DORSCH, HEDWIG HEROLD-SCHMIDT (HG.)
RELIGIOSIDAD Y CLERO EN AMÉRICA LATINA – RELIGIOSITY AND CLERGY IN LATIN AMERICA (1767–1850) LA ÉPOCA DE LAS REVOLUCIONES ATLÁNTICAS – THE AGE OF THE ATLANTIC REVOLUTIONS (LATEINAMERIKANISCHE FORSCHUNGEN, BD, 40)
Religión, clero y sociedad experimentaron un cambio profundo durante la Época de las Revoluciones Atlánticas. En la Independencia de América Latina probablemente ninguna otra agrupación sufrió un impacto tan directo y profundo en su ubicación social como el clero católico. Este volumen, resultado de un congreso internacional en Gotha/Alemania en 2008, recoge las investigaciones más recientes sobre el papel del clero y la importancia de la religiosidad durante la descolonización latinoamericana considerada sobre todo como parte de un proceso de más larga duración o »tránsito a la modernidad« (1767–1850). A partir de esta perspectiva se consideran los cambios de mentalidad y la consecuente transformación paulatina de la religiosidad. Religion, clergy and society experienced profound changes in the Age of the Atlantic Revolutions. No other part of society was more intensely affected by the independence of Latin America than the catholic clergy. The volume, result of an international conference in Gotha/Germany in 2008, presents the findings of recent investigations into the role of clergy, clerical culture, and religious mentality in the longue durée of decolonization (1767–1850). 2011. 376 S. 12 FARB. ABB. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20749-6
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SUSANNA BURGHARTZ, REBEKKA HABERMAS (HG.)
GRENZVERSCHIEBUNGEN (HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE 19,1 (2011))
Im Mittelpunkt dieses Themenheftes stehen Berichte über Begegnungen zwischen Europäern und Indigenen in einem Zeitraum von fast 400 Jahren. Angefangen mit niederländischen Seefahrern, die sich am Ende der Welt mit sich selbst konfrontiert sahen, über protestantische Missionare, die in Afrika oder der Südsee „Heiden“ bekehren wollten, bis zu Ärzten, die in die südliche Halbkugel auf brachen, um Hilfe zu bringen, reicht das Spektrum der Beiträge. So unterschiedlich diese Begegnungen auch waren; stets wurden Grenzziehungen und Selbstpositionierungen vorgenommen. Es entstand aber auch überraschend Neues – etwa wenn Missionare den Grundstock für die ethnologische Methode der teilnehmenden Beobachtung legten oder Ärztinnen den Weg von einer Zivilisierungsmission zur modernen Entwicklungshilfe ebneten. 2011. IV, 169 S. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-20731-1
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