Seelsorge zwischen Amt und Beruf: Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert 9783666623189, 3525623186, 9783525623183


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Seelsorge zwischen Amt und Beruf: Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert
 9783666623189, 3525623186, 9783525623183

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V&R

Arbeiten zur Pastoraltheologie

Herausgegeben von Peter Cornehl und Friedrich Wintzer

Band 22

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Seelsorge zwischen Amt und Beruf Studien zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert

Von Reinhard Schmidt-Rost

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

CIP-Titelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Schmidt-Rost, Reinhard: Seelsorge zwischen Amt und Beruf: Studien zur Entwicklung e. modernen evang. Seelsorgelehre seit d. 19. Jh. / von Reinhard Schmidt-Rost. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988. (Arbeiten zur Pastoraltheologie; Bd. 22) Zugl.: Tübingen, Univ., Habil.-Schr., 1985 ISBN 3-525-62318-6 N E : GT

©1988 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Garamond auf Linotron 202 System 4 Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 1985 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Habilitationsschrift für das Fach Praktische Theologie angenommen. Für die Veröffentlichung in dieser Reihe, die Herr Prof. Dr. F. Wintzer und Herr Prof. Dr. Peter Cornehl freundlicherweise ermöglichten, wurde der Schlußteil geringfügig erweitert. Den Berichterstattern im Habilitationsverfahren, Herrn Prof. Dr. K . - E . Nipkow und insbesondere Herrn Prof. Dr. Dr. D . Rössler verdankt der Autor vieles mehr als die "Wahrnehmung dieser ihrer öffentlichen Funktion. Schriften zur wissenschaftlichen Legitimation ihrer Verfasser müssen ihre Selbständigkeit beglaubigen durch den Vermerk „ohne fremde Hilfe". Die hier vorgelegte Arbeit würde ihren Sachgehalt verleugnen, wenn sie nicht dankbar wenigstens einige der Helfer namhaft machte, die dem Autor immer wieder, tatkräftig und einfallsreich, eine Hauptthese seiner Arbeit praktisch bestätigten, daß Leben und Arbeit nur möglich sind durch vorgegebenes Vertrauen und durch die wechselseitige geistige Bereicherung, die aus dem Kapital des Vertrauensvorschusses als Zins erwächst: Ich nenne vor allem meine Eltern und meine Frau, die Freunde Annette und Harald Homann, Christine und Bernd Janowski, Helmut Maier-Frey, Dieter Henke. Ich widme das Buch posthum meinem Vater, der die Erinnerungen seiner J u gendzeit und seine juristisch geschulte Genauigkeit dieser Forschungsarbeit hat zugute kommen lassen ( f 29. 9 . 1 9 8 7 ) , Tübingen, am Erntedankfest 1987

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Inhalt Vorwort Zur Einführung: Erstes Kapitel:

T r a d i t i o n s g e b u n d e n e u n d m o d e r n e Seelsorge Profil u n d P r o b l e m a t i k der m o d e r n e n d i a k o n i s c h e n

Seelsorge 1. „Hilfe" als leitender Gesichtspunkt seelsorgerlichen Handelns 2. Probleme der Theorie einer diakonischen Seelsorge a) b) c)

Die Diskussion über das Menschenbild Theologie und Psychologie D i e gegenwärtige Gestalt der Seelsorgelehre als Programm und Angebot

3. Soziale Funktion und soziologische Deutung der diakonischen Seelsorge a) b) c) Zweites

Seelsorge-eine pastorale Aufgabe Seelsorge-eine soziale Aufgabe Seelsorge zwischen Amt und B e r u f - e i n Auftrag für Christen Kapitel:

Z u r G e n e a l o g i e der m o d e r n e n speziellen

Seelsorgelehre seit d e m 19. J a h r h u n d e r t : V o n der amtlichen z u r wissenschaftlichen Seelsorge u n d Seelsorgelehre 1. Die Blüte der Pastoraltheologie im 19. Jahrhundert - Schritte vom Amt zum Beruf 2. Die Entwicklung einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin Poimenik als „Theorie der individuellen Seelenpflege" a)

Die Verselbständigung des frommen Subjekts im Organismus der Gemeinde

b)

Die „ E i g e n t ü m l i c h k e i t des Seelsorgepfleglings" als wissenschaftlich-anthropologische Grundstruktur der Poimenik D e r Seelsorger als Menschenbildner Die wissenschaftliche Präzisierung der Bildungsaufgabe der „eigenthümlichen Seelenpflege" „ O r t h o t o m i e " : Von der wissenschaftlichen Analyse des Seelsorgevorgangs zur Seelsorge als Wissenschaft Perfektibilität und Repräsentativität als Probleme der „eigenthümlichen Seelenpflege"

ba) bb) bc) bd)

be) Die Bedeutung der „eigenthümlichen Seelenpflege" für die weitere Entwicklung der evangelischen Seelsorge und Seelsorgelehre c)

57

Plädoyers für eine Unterordnung der speziellen unter die generelle Seelsorge

62

3. „Seelsorge Aller an A l l e n " : D e r Anspruch auf Verbindung von genereller und spezieller Seelsorge

67

4. Zusammenfassung: Theorie-Elemente einer wissenschaftlichen Poimenik

74

Drittes Kapitel: Von der speziellen wissenschaftlichen Seelsorge zur Seelsorge als diakonischer Spezialaufgabe 1. Die Konjunktur fachlicher Kenntnisse im Zusammenhang der Lebensführungskrisen des Menschen in der modernen Welt a) b) c)

Menschenkenntnis und wissenschaftliche Psychologie Naturalisierung des E t h o s - e i n Fall von „Psych-Analyse" Gesundheit und Heil: Fachärzte als Seelsorger

2. Interpretationsbedürftigkeit und Deutungsmöglichkeiten poimenischen Spezialwissens a) b)

77 77 77 83 89 93

Uberforderung der Fachleute als Lebensführer Die analytisch-funktionale Fassung der Seelsorge-Aufgabe und ihre organisatorischen Folgen Dominanz der anthropologischen Deutung in der speziellen Seelsorgelehre

104

3. Beratende Seelsorge als sozialwissenschaftliche Gestalt einer traditionsgebundenen Seelsorgelehre

109

c)

a) b)

Seelsorge als diakonische Spezialaufgabe Sozialwissenschaftliche Seelsorgelehre als theoretische Konstruktion einer reduzierten Realität

Abschließende Anhaltspunkte: Seelsorge als Suche nach dem verheißenen Heil

93 98

109 114

117

1. Lebensgewißheit aus dem Wort

117

2. Lebensgewißheit durch Wissenschaft

121

3. Lebendige Vorstellungen vom Heil a) b) c)

Seelsorge-eine Sorge Vom Zweck evangelischer Seelsorge: Wiederherstellung erwünschter Gesundheit oder Erkenntnis empfangenen Heils Gestalten des Heils: Glaube, Hoffnung, Liebe

124 124 125 126

Literaturverzeichnis

129

Namenregister

141

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Z U R EINFÜHRUNG

Traditionsgebundene und moderne Seelsorge Seelsorge ist eine Lebensäußerung von Christen. Sie geschieht in der Gemeinde als die Praxis wechselseitiger Verantwortung für ein Leben in christlichem Sinn. Denn wie Menschen ihr Leben führen, wird denen nicht gleichgültig sein, die sich durch ihr Bekenntnis zu Jesus Christus zur Verantwortung für ihre Mitmenschen gerufen wissen. Ist die Verpflichtung zur Seelsorge in christlichen Gemeinden selbstverständlich, so ist es ihre Gestaltung nach Form und Inhalt keineswegs. In der Vielfalt mitmenschlicher Zuwendung, wie sie das Neue Testament aus dem Leben Jesu und dem Zusammenleben der Urgemeinde aufgezeichnet hat, kommen die Selbstverständlichkeit der Seelsorge im allgemeinen und die Diskusssionswürdigkeit ihrer speziellen Gestaltung gleichermaßen zum Ausdruck 1 . Es gehört indessen zu den Umständen der organisatorischen Entfaltung der Kirche in ihrer Geschichte hinzu, daß die seelsorgerliche Verantwortung in dem Maße, wie sie öffentliche Bedeutung gewann, mehr und mehr delegiert, den amtlichen Aufgaben der Verkündigung und Gemeindeleitung als eine weitere selbständige, in der Gestaltung allerdings nicht ohne weiteres abzugrenzende Aufgabe hinzugefügt wurde. In diesem Entwicklungsprozeß bildete sich Seelsorge, die allgemeine gegenseitige, und gerade darin auf den einzelnen gerichtete Verantwortung überhaupt erst als eine eigenständig geformte Aufgabe heraus 2 . In religionssoziologischer Betrachtung gilt als Funktion der Seelsorge in prophetischen Religionen die Kontrolle der Lebensführung, die Leitung der einzelnen Mitglieder der Religionsgemeinschaft in der Bindung an die Tradi1 D i e k l a s s i s c h e n T e x t e , auf die sich die S e e l s o r g e l e h r e z u ihrer B e g r ü n d u n g u n d z u r G e s t a l t u n g ihrer P r a x i s jeweils bezieht, h a n d e l n e n t w e d e r v o m b r ü d e r l i c h e n U m g a n g der C h r i s t e n m i t e i n a n d e r ( M t 1 8 , 1 5 - 1 8 ; 2 5 , 3 1 - 4 6 ; L k 10,25—37) o d e r v o n den A u f g a b e n der G e m e i n d e l e i t u n g u n d G e m e i n d e o r d n u n g ( l . T h e s s 5 , 1 2 ; l . T i m 3 , 5 ; 5 , 1 7 ; H e b r 13,17; l . P e t r 5,2). D i e B e r u f u n g auf J e s u s als den g u t e n H i r t e n als V o r b i l d aller S e e l s o r g e r f ü h r t e nicht selten z u U b e r f o r d e r u n g e n der S e e l s o r g e r (vgl. K a p . 3,1). 2 Z u r G e s c h i c h t e der S e e l s o r g e vgl. A . H a r d e l a n d , G e s c h i c h t e der speciellen S e e l s o r g e in der v o r r e f o r m a t o r i s c h e n K i r c h e u n d der K i r c h e der R e f o r m a t i o n , B e r l i n 1898. - Η . A . K ö s t l i n , D i e W a n d l u n g e n im B e g r i f f der S e e l s o r g e , in: Z f P T h 1 7 / 1 8 9 4 , S. 1 ff.

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tion; die Macht der Religion über die Massen in ethischer Hinsicht zu bewahren, war die soziale Pflicht und Aufgabe der Priesterschaft 3 . Auch der christlichen Seelsorge ist das Moment der Disziplin nicht fremd. Beichtpraxis und Kirchenzucht galten vor allem der Reglementierung individuellen Verhaltens im Interesse der Integration und Bewahrung der Gemeinschaft, allerdings durchaus auch mit dem individuellen Sinn der Entlastung von zu hohen Ansprüchen an die Selbständigkeit der Lebensführung des einzelnen. O b Beichte, Erziehung oder Beratung 4 , alle diese Formen der Seelsorge können traditionsgebunden genannt werden, insofern sie zum Ziel haben, die Lebensführung des einzelnen durch Bindung an die christliche Glaubenstradition, durch Verpflichtung auf die überlieferten Normen der kirchlichen Gemeinschaft zu leiten und zu begleiten. Wesentliches Kennzeichen solcher traditionsgebundener Seelsorge ist die Differenzierung zwischen Laie und Amtsperson. In der evangelischen Seelsorge kommt aber, von der Reformation an stetig an Bedeutung zunehmend, eine Akzentuierung der Individualität und der individuellen Verantwortung gerade im Zusammenhang der Bestimmung der Seelsorgeaufgabe zum Tragen, wie sie der christlichen Botschaft zwar von allem Anfang an wesentlich ist, das christliche Leben aber öffentlich kaum je nachhaltig geprägt hatte. Die Verantwortung des einzelnen im Glauben 5 wird zu einem bedeutsamen Grundsatz nicht nur des Glaubens, sondern auch der Lebensführung, zu einer letztlich auch sozial wirksamen Maxime in einer abendländisch-neuzeitlichen Kultur, die für die Gestaltung individuellen Lebens nicht nur den ökonomischen Freiraum zur Verfügung stellt, sondern auch durch Entdeckungen und geistige Horizonterweiterungen mehr und mehr die Stabilität ihrer bindenden ständischen Gliederung verliert 6 . Damit 3 Vgl. M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972 5 , S . 2 8 3 : „Die Seelsorge, die religiöse Pflege der Individuen, ist in ihrer rational-systematischen Form gleichfalls ein Produkt prophetischer offenbarter R e l i g i o n . . . In dem Maß ihrer praktischen Einwirkung auf die Lebensführung verhalten sich Predigt und Seelsorge verschieden. Die Predigt entfaltet ihre Macht am stärksten in Epochen prophetischer Erregung. Schon weil das Charisma der Rede individuell ist, sinkt sie im Alltagsbetrieb ganz besonders stark bis zu völliger Wirkungslosigkeit auf die Lebensführung herab. Dagegen ist die Seelsorge in allen Formen das eigentliche Machtmittel der Priester gerade gegenüber dem Alltagsleben und beeinflußt die Lebensführung um so stärker, je mehr die Religion ethischen Charakter hat." 4 Vgl. D . Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie (1986), Kap. 3. 5 Vgl. M. Luther, Sendschreiben an die zu Frankfurt a.M. 1533, W A 30, III, S. 5 5 4 - 5 7 1 : Im Anschluß an die Anekdote von ,Doktor und Köhler auf der Brücke in Prag' charakterisiert Luther die Unselbständigkeit seiner Zeitgenossen im Glauben nicht minder anschaulich: „Denn wo sie des gewis werden, das sie nicht sorgen dürffen, ob sie recht odder unrecht geleret sind, so schlaffen und schnarcken sie fein sicher dahin, fragen auch hinfurt billich nach keiner lere noch predigt, Sie haben auff ein mal gnug gelernt, das sie wissen und gleuben, Christus gleube fur sie" (S. 563). 6 Als Ubersichtswerke für die allgemeinen historischen Entwicklungen werden benutzt:

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gerät auch die Bindung an die Tradition in der Seelsorge ins Zwielicht der Dämmerung von Aufklärung und Moderne, die Hierarchie von Amtsträgern und Laien wird labil, der Ubergang zu den neuen bürokratischen Organisationsstrukturen des modernen Staates beginnt sich erst allmählich abzuzeichnen. M. Luthers Vorstellung von einem Priestertum aller Glaubenden wird in dieser Ubergangssituation des 19. Jahrhunderts zum Impuls einer Auslegung der Seelsorge-Aufgabe, die die disziplinierende, traditionsgebundene Form der Seelsorge, repräsentiert durch Beichte und Beratung, umzuwandeln sucht in eine moderne Gestalt wechselseitiger Verantwortung mündiger Christen. In der pietistischen Seelsorge deutet sich das Ringen um eine solche moderne, weniger traditionsgebundene Gestalt der Seelsorge, in der der Gegensatz von Klerus und Laien tendenziell aufgehoben wäre, schon an in der Betonung der besonderen Würde des einzelnen auf seinem je eigenen Weg zum Heil. Bestimmt man aber als traditionsgebundene Seelsorge eine solche, die ihre Verantwortung für den einzelnen dadurch wahrnimmt, daß sie ihn in eine gegebene Ordnung einfügt oder wenigstens an ihr zu orientieren bestrebt ist, dann kann man im Unterschied dazu von einer modernen 7 Seelsorge doch erst im 19. Jahrhundert sprechen. Denn nun erst tritt die Tradition einer christlichen Gesellschaftsordnung als Orientierungsrahmen für die Seelsorge zurück. Die politischen Entwicklungen seit den napoleonischen Kriegen, mehr noch die sozialen Umbrüche im Zusammenhang der Industrialisierung zersetzen die relativ selbstverständliche Einheit von Christentum und Gesellschaft, lösen die Voraussetzungen für eine traditionsgebundene Seelsorge auf. Die evangelische Seelsorge muß sich in dieser Spannung zwischen Tradition und Entwicklung einer modernen Gesellschaftsordnung ihrer christlichen Identität immer wieder erst vergewissern, denn alle traditionsgebundene Seelsorge galt dem einzelnen in seinem Verhältnis zu einem selbstverständlich vorauszusetzenden sozialen ,Ganzen', der Gemeinde, der Kirche, der christlichen Gesellschaft. Moderne Seelsorge aber entsteht gleichzeitig Th. Schieder, Hdb. der Europäischen Geschichte Bd. 6, Stuttgart 1968. - H . Hermelink, Das Christentum in der Menschheitsgeschichte von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart—Tübingen 1951 ff. Zur theologiegeschichtlichen Orientierung dient: E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Gütersloh 1975 5 . - Sozialgeschichtliche Aspekte im Überblick sind der Darstellung von M. Greschat (Das Zeitalter der industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne, Stuttgart 1980) entnommen. 7 Die speziellere Verwendung des Begriffs „modern" zur Kennzeichnung einer Theologie, die sich programmatisch um eine Synthese von Christentum und Kultur bemüht, steht bei der Verwendung des Begriffs in dieser Arbeit orientierend im Hintergrund. (Zum Begriff „modern" vgl. R. Piepmeier/Red., Art. Modern, die Moderne, in: H W P Bd. 6, Sp. 5 4 - 6 2 . - E . Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, in: Ges. Sehr. Bd. 4, S. 297—338.)

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mit dem Zurücktreten der Allgemeingültigkeit christlicher Lebensformen unter den Bedingungen von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Mobilität, theoretisch gespiegelt in der zunehmenden Verbreitung allgemeiner Begriffe wie „Gesellschaft" und „Persönlichkeit" 8 . Es ist eine Seelsorge, die sich ihrer Selbstverständlichkeit in einer zunehmend säkularen Welt ohne Beziehung auf geprägte Lebensformen immer unsicherer wird, in der Seelsorgelehre offenbar nach Bestätigung ihrer Identität sucht. Die moderne Seelsorgelehre hat sich - wie zu zeigen sein wird - nicht zuletzt zu diesem Zweck gebildet; sie sucht unter den veränderten gesellschaftlichen Lebensbedingungen nach der Identität nicht nur christlicher Seelsorge, sondern christlicher Gemeinschaft überhaupt. Sie hat aus Gründen, die in diesen zeitgeschichtlichen Zusammenhang gehören 9 , vom g a n zen', in dem sie selbstverständlich wirken könnte, keine präzise Vorstellung mehr: Die Seelsorgelehre gerät damit in die prekäre, aber in der Geschichte der Kirche keineswegs einmalige Situation 10 , den sozialen Orientierungsrahmen erst begründen zu müssen, in dem sie wirken kann. Unter Bedingungen dauerhaften sozialen Wandels aber wird Seelsorge zu einem Dauerthema der theologischen Reflexion, sie wird zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin. Hatte die traditionsgebundene Seelsorge die Ordnung vorausgesetzt oder im Notfall neu zu setzen versucht, in der auch und gerade unter kritischen Umständen christliche Seelsorge immer wieder praktiziert werden konnte, hatte auch das Pfarramt solche Ordnungsstrukturen repräsentiert, weshalb die Pastoraltheologie ohne weiteres als ganze auch als ein Stück Seelsorgelehre aufgefaßt werden kann, so zeigt sich die individualistische Seelsorge der Gegenwart daran als modern, daß sie an Fragen ihrer gesellschaftlichen Einordnung wenig interessiert ist. Sie zielt vielmehr vornehmlich auf Emanzipation von „institutionellen Strukturen" 11 . Die evangelische Seelsorgelehre der Gegenwart scheint sich jedenfalls dem Individualismus mit einer Intensität verschrieben zu haben, die jegliche soziale Orientierung ihres Handelns 8 Vgl. F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984. - R. Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, dt. Frankfurt/M. 1983 (bes. III). 9 Zur Interpretation der zeitgeschichtlichen Lage, in der die moderne Seelsorge wurzelt, vgl. E. Troeltsch, Das Neunzehnte Jahrhundert, in: Ges. Sehr. Bd. 4, S. 6 1 4 - 6 4 9 . 1 0 Zum Zusammenhang der Seelsorge mit der Begründung neuer christlicher Lebensformen in Mönchtum und Mission vgl. D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie (1986), Kap. 3. » Vgl. D. Stollberg, Seelsorge als Lehre, in: EvTh 42/1982, S. 2 1 6 - 2 3 2 , bes. S. 228: „Dabei ist freilich zu berücksichtigen, . . . daß nämlich die institutionelle Struktur von Schulen und schulähnlichen Bildungseinrichtungen gerade mit .Bildung' und ,Lehre' in diesem tieferen Sinne (sc. als Lebenslehre) überfordert ist und deshalb ihren Auftrag totalitär pervertiert."

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entbehren zü können scheint. Der einzelne Mensch in seinen Bedrängnissen und Bedürfnissen, aber auch in seinen Entwicklungsmöglichkeiten wird als Maßstab der Seelsorge gesetzt, d.h. die individuellen Maßstäbe christlicher Orientierung müssen am und vom einzelnen immer erst gefunden werden. Die Seelsorgeliteratur, inzwischen sogar zum Teil die katholische 12 , ist in ihren Grundzügen pastoralpsychologisch aufgebaut, nicht mehr pastoralethisch oder pastoraltheologisch. Die Praxis der Lebensberatungsstellen verfährt nach psychologischen Methoden und Maßstäben 13 . Die evangelische Seelsorgelehre der Gegenwart legt sich nun nicht selten an einer Formel aus den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche aus, die es ermöglicht, ja nahelegt, die Unterscheidung zwischen dem Seelsorger und dem, für den er Verantwortung übernimmt, stark modifiziert aufzufassen: „ V o m E v a n g e l i o . Wir w o l l e n nu w i e d e r z u m E v a n g e l i o k o m m e n , welchs gibt nicht einerleiweise R a t u n d H u l f w i d e r die S u n d e ; d e n n G o t t ist reich in seiner G n a d e : erstlich d u r c h m u n d l i c h Wort, darin g e p r e d i g t w i r d V e r g e b u n g der S u n d e in alle Welt, w e l c h s ist d a s eigentliche A m p t des E v a n g e l i i , z u m a n d e r n d u r c h die T a u f e , z u m dritten d u r c h s heilig S a k r a m e n t des A l t a r s , z u m vierten d u r c h die K r a f t der Schlüssel u n d a u c h p e r m u t u u m c o l l o q u i u m et c o n s o l a t i o n e m f r a t r u m , M a t t h . 18: , U b i d u o fuerint congregati' etc."14

In diesem Abschnitt aus Luthers Schmalkaldischen Artikeln von 1537 und im dort zitierten Wort Mt 18,18 fanden die Verfechter einer umfassenden seelsorgerlichen Praxis im Sinne eines Priestertums aller Gläubigen im späten 19.Jahrhundert die grundlegende Formulierung für ihre Forderung einer Seelsorge „Aller an Allen" 1 5 , finden zumal die Vertreter der verschiedenen Ausprägungen gegenwärtiger Seelsorge ihre Argumente für eine individualisierende Gestaltung der Seelsorge als Gespräch oder im Gesprächskreis 16 . Die Frage, ob sich die evangelische Seelsorge zu Recht auf Luthers Formel berufe, hat J. Henkys deshalb eingehend untersucht. Er legt dar, daß Luthers Aussage als ganze - im Zusammenhang verschiedener Belege in und im Umkreis dieser Bekenntnisschrift betrachtet - die Formel „per mutuum colloquium et consolationem fratrum" als Bezeichnung für eine wesentliche 12 Vgl. K. Frielingsdorf/G. Stöcklin, Seelsorge als Sorge um Menschen. Pastoralpsychologische Modelle, Mainz 1976. - R.Bärenz, H.Fries, K. Kertelge, Gesprächseelsorge. Theologie einer pastoralen Praxis, Regensburg 1980. - H . u. S. Gastager, Die Fassadenfamilie. Ehe und Familie in der Krise. Analyse und Therapie, Frankfurt/M. 1980. 13 Vgl. H . Halberstadt, Psychologische Beratungsarbeit in der Kirche, Stuttgart 1983, bes. S. 113 ff. 14 B S L K 1967', S. 449. 15 S. u. S. 67ff. 16 Vgl. H . Doebert, Neuordnung der Seelsorge, Göttingen 1967, S. 5. - G. Hennig, Stärkt die Seelen, Stuttgart 1981, bes. S. 22.

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Gestalt des Evangeliums ausweise und daß offenbar eine solche Gestalt gemeint sei, die das Evangelium im Alltag der Welt, auf „Feld und Acker" von Mensch zu Mensch weiterzugeben, als Gottes Gabe mitzuteilen und auszuteilen erlaube, und daß Luther einen solchen Umgang mit dem Evangelium seinen Zeitgenossen auch nahelegen wollte17. Diese Zumutung, daß jedermann, nicht nur der amtlich berufene Seelsorger „dem bedürftigen Bruder mit dem nicht nur vorläufigen, sondern endgültigen Trostwort Gottes dienen" solle, war, so Henkys, für Luthers Zeitgenossen nicht weniger ungewöhnlich als für moderne Menschen. Er schließt seinen Blick durch Luthers Formel hindurch auf die gegenwärtige Seelsorgelehre mit der Beurteilung, daß christliche Seelsorge in der Form „menschlicher Beratung" vielleicht doch noch nicht die Gestalt gefunden habe, die ihr als einer Weise der Äußerung des Evangeliums unter Christen angemessen sei18. Es wäre demnach Sache der Poimenik, nach einer Bestimmung der Seelsorgeaufgabe zu suchen, die anderes und vielleicht auch mehr verlangt als die diakonische Handlungsweise der „menschlichen Beratung", wenn denn Seelsorge tatsächlich etwas Spezifisches sein soll im Vergleich zu den diakonischen Werken in christlicher Gemeinschaft, erst recht unter Bedingungen, unter denen die allgemeine Verbreitung sozialer Dienste die diakonische Hilfe in einen anderen Bedeutungszusammenhang gestellt hat, als er für die Epoche M. Luthers oder für die Blütezeit der Inneren Mission als eines Zusammenschlusses freier Vereine im 19. Jahrhundert angenommen werden muß. Soll die Bestimmung gelten, daß Seelsorge die Praxis wechselseitiger Verantwortung für ein Leben in christlichem Sinn sei, so kann sie nicht mit den Praxisgestalten diakonischer Hilfe in eins gesetzt, nicht durch Formen sozialer Hilfe zureichend beschrieben werden. Denn es geht ihr nicht primär um eine notwendige Hilfe, so sehr Not oft den Impuls zur Seelsorge geben wird. Die Aufgabe der Seelsorge ist vielmehr positiv zu formulieren: Evangelische Seelsorge will die Verselbständigung des einzelnen in seinem Glauben und damit seine Orientierung im Leben immer wieder fördern, ihm Halt geben an der christlichen Überlieferung, aber so, daß er selbständig verantwortungsbewußt den Sinn seines Bekenntnisses zu erfassen und in diesem Sinn zu leben vermag, nicht unselbständig, „schlaffend und schnarchend", an den Buchstaben der christlichen oder irgendeiner anderen Tradition gebunden bleibt. Diese Arbeit will in einem historisch-systematischen Untersuchungsgang den Anspruch der modernen Seelsorgelehre prüfen, sie repräsentiere die 17 18

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J. Henkys, Seelsorge und Bruderschaft, Stuttgart 1970, S. 37f., 43. Vgl. H . Henkys, a.a.O., S. 42.

sach- und zeitgemäße Auslegung der lutherischen Formel für eine evangelische Seelsorge in der Gegenwart. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt die evangelische Poimenik nach dem gegenwärtigen Diskussionsstand in ihrer inneren funktionalen und strukturellen Einheit dargestellt (Kap. 1), ein zweiter Interpretationsgang, der Hauptteil der Untersuchung, gilt der Herkunft der gegenwärtigen Poimenik im Zusammenhang der Entwicklung der Wissenschaften und der Berufswelt seit dem 19. Jahrhundert (Kap. 2), ehe in einem dritten Schritt die Verbindungslinien von der speziellen wissenschaftlichen Poimenik zur Beratenden Seelsorge der Gegenwart skizziert werden (Kap. 3). Dem Befund, daß die Beratende Seelsorge als diakonische eine moderne Form traditionsgebundener Seelsorge im Sozialstaat darstelle, werden abschließend einige Überlegungen über die spezifische Intention evangelischer Seelsorge als ein Diskussionsbeitrag angefügt.

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ERSTES KAPITEL

Profil und Problematik der modernen diakonischen Seelsorge

1. „Hilfe" als leitender Gesichtspunkt

seelsorgerlichen

Handelns

Lebenshilfe zur Lebensbewältigung hat sich die evangelische Seelsorgelehre seit ihrer „Neuordnung" im Jahre 1967 als ihre programmatische Orientierung gewählt 1 ; sie stellt sich damit als diakonische Seelsorge vor 2 : „ P o i m e n i k , W e i d e d i e n s t , beinhaltet L e b e n s h i l f e . D e n n z u n ä c h s t m u ß erst einmal dieses L e b e n hier auf E r d e n b e w ä l t i g t w e r d e n , u n d d a v o n , o b es u n s gelingt, w i r d es abhängen, o b wir das ewige Leben ererben oder nicht."3

Nicht überall wird der Auftrag der Seelsorge in gleicher Weise synergistisch gedeutet und doch verbindet der Vorgang ,Hilfe' in der Tat Seelsorge und Diakonie, Sozialarbeit und Beratung in der Gegenwart 4 . Die Differenzen zwischen den Hilfsangeboten der einzelnen Seelsorge-Programme sind nicht unerheblich, sie reichen von „Krisenhilfe" 5 und „Beratung" 6 über einen vorsichtigen Beitrag zur Rekonstruktion von Lebensgewißheit 7 bis hin zur „Lebenshilfe des Glaubens", wie sie H . Tacke in bewußtem Kontrast zur psychologischen Lebenshilfe darstellt 8 . Gemeinsam aber ist allen Beiträgen zur Seelsorgelehre in der Gegenwart die Struktur der sozialen Hilfe und Fürsorge: Diese Struktur baut sich auf aus 1 H . Doebert, Neuordnung der Seelsorge. Ein Beitrag zur Ausbildungsreform und zur heutigen kirchlichen Praxis, Göttingen 1967. 2 Die biblische Begründung ihres Selbstverständnisses gewinnt eine solche diakonische Seelsorge vor allem aus dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) und aus der Rede vom Weltgericht (Mt 25,31 ff.). 3 Doebert, a.a.O., S. 143. 4 H . Schröer, Seelsorge und Diakonie. Einleitung, in: H P T (G), Bd. 2, S. 265. 5 Vgl. u.a. H . J. Clinebell, Modelle beratender Seelsorge, Mainz—München 1977 3 . D. K. Switzer, Krisenberatung in der Seelsorge, Mainz—München 1975. 6 Vgl. neben Clinebell und Switzer bes. H . J . T h i l o , Beratende Seelsorge, Göttingen 1971. E. Guhr, Personale Beratung, Göttingen 1983. 7 Vgl. D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie (1986), Kap. 3. 8 Vgl. H . Tacke, Lebenshilfe als Glaubenshilfe, Neukirchen 1975.

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den Bedürfnissen, Mängeln, Defiziten des Klienten, angefangen bei religiösen Fragen und Zweifeln über die Unsicherheit in der Lebensführung bis hin zur neurotischen Verstimmung einerseits9 und dem Hilfsangebot des Seelsorgers, vom einfühlenden Gespräch im Alltag über die biblische Weisung bis zur psychologischen Beratung und psychotherapeutischen Behandlung andererseits10. In diese Struktur der Hilfe zwischen Bedürfnis und Angebot ist auch der Trost eingebunden, den der Glaube vermittelt, denn er soll die speziellen Defizite des Lebens aufheben helfen11, den Bedürfnissen des trostbedürftigen Menschen dienen12. Absicht und Anspruch des religiösen Hilfsangebotes ,Trost' richten sich zwar nicht nur auf Hilfe in dieser oder jener psychischen Krisensituation, Trost will vielmehr dem Menschen mit seiner Frage, „wie er leben kann, woran er sich halten kann" 13 , den tragenden und verläßlichen Grund seines Lebens aufweisen; die diakonische Struktur dieser Glaubenshilfe aber ist der Seelsorge als Lebenshilfe durchaus vergleichbar, so sehr sie diese in Fülle und Anspruch ihres Angebots überbietet. Diese Uberbietung, dem Glauben allein zugänglich14, bezieht sich zwar auf eine andere, die alltägliche menschliche Erfahrung transzendierende Wirklichkeit; sie betont die Vorläufigkeit aller menschlichen Hilfsmöglichkeiten, ist darin aber ihrerseits strukturell eine Form der Hilfe, auf ein Heil des Menschen gerichtet. Die Handlungsform der Hilfe prägt den Umgang von Menschen untereinander in typischer Weise15: - Hilfe bezieht sich, indem sie sich auf Defizite und Bedürfnisse richtet, auf einzelne Menschen oder eine Gruppe, die durch ihre Bedürfnisse zusammengeschlossen von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft getrennt und zu unterscheiden sind. - Hilfe zielt auf die Selbständigkeit dessen, dem sie gilt, sie hat den Sinn, sich überflüssig zu machen. 9 Vgl. z . B . das reichhaltige Therapie-Angebot in H . J . C l i n e b e l l , Modelle beratender Seelsorge pass, und die Vielfalt und Breite der Fallbesprechungen und Methodendiskussionen in der Zeitschrift „Wege zum Menschen". 10 Vgl. exemplarisch: D . Stollberg, Mein Auftrag - Deine Freiheit, München 1 9 7 2 . - J . Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, Göttingen 1972. - J . A . A d a m s , Befreiende Seelsorge, W u p pertal 1973. 11

Vgl. Tacke, a.a.O., S. 232.

Ebd. - N u r im Zusammenhang von Bedürfnis und Angebot ergibt die recht verbreitete Redeweise vom .billigen Trost' und der .Vertröstung' einen Sinn. Sie bezeichnet einen Trost, der nichts leistet, der keine Bedürfnisse stillt. 1 3 Tacke, a.a.O., S. 229. 12

Vgl. Tacke, a.a.O., S. 2 7 7 : „Der Glaube weiß, daß das empirisch offenbar ungedeckte W o r t auf die neue Wirklichkeit erfüllter Verheißung bezogen ist." 1 5 Vgl. D . Peyser, Hilfe als soziologisches Phänomen, Diss., Würzburg 1934. 14

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- Hilfe begründet deshalb sinnvollerweise nur einen begrenzten Kontakt, keine überdauernde Gemeinschaft 1 6 . - Hilfe kann ein wichtiger Ausdruck von Gemeinschaft sein, herstellen kann sie sie aber eher nur im Ausnahmefall 17 . - In vielen Fällen gerade seelischen Sorgens ist eine Distanz zwischen Helfer und Hilfsbedürftigem unerläßlich für den Erfolg der Hilfeleistung 18 . - Der Wille zum Erfolg ist ein weiteres wesentliches Merkmal der Hilfe. Seelsorge als Lebenshilfe muß deshalb unvermeidlich ihre Ziele diskutieren 19 , muß eine Vorstellung von der Hilfe und Heilung entwickeln, die sie anstrebt, muß damit zugleich das Verhältnis von Hilfe bzw. Heilung und Heil festlegen 20 . Die Merkmale der diakonischen Seelsorge finden ihre leistungsfähige A k tionsform im Gespräch unter vier Augen oder in kleinen Gruppen 2 1 . Die Gesprächsform ist offen für den unverbindlichen Austausch und für die vertiefende Besprechung von Problemen, für die Aussprache; sie ermöglicht Nähe und Distanz und ein modulierendes Umgehen mit beidem. Das Gespräch paßt sich zudem in die Gestalt der Sprechstunde ein, ist damit als Element der Gestaltung von größeren organisatorischen Zusammenhängen geeignet, läßt sich in Stundentafeln und Terminpläne einordnen, bildet als Gesprächskontakt einen Grundbaustein des Gesundheitswesens. Die Form des Gesprächs als Grundelement der Seelsorgelehre wird im allgemeinen mit Formen traditioneller Seelsorge, vor allem mit der Beichte in Verbindung gebracht, als Aufhebung bzw. Wandlung dieser Form in eine zeit- und sachgemäße Gestalt gekennzeichnet. Für die Würdigung der Gesprächsform in der modernen Seelsorgelehre ist aber mindestens ebenso die ärztliche Sprechstunde und die Situation des Telefongesprächs von Bedeutung 22 . Seelsorge stellt sich unter dieser Perspektive als ,Kontaktgeschehen' Zu den unsachgemäßen Erwartungen an seelsorgerliches Handeln: s. u. S. 71 ff. Vgl. D. Peyser, Hilfe (1934), S. 2 0 : „Die Möglichkeit der Hilfe für Ferne und Fremde." „Je innerlich näher sich Menschen sind, desto sekundärer erscheint die Hilfe, die sie sich l e i s t e n . . . . Dagegen prägt die Hilfe, die Ferne überwinden muß, die Beziehung von der Hilfe her, schafft also primäre Hilfsbeziehungen." 16 17

Vgl. W . Schmidbauer, Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek 1982. Vgl. z . B . H . Reller/A. Sperl (Hg.), Seelsorge im Spannungsfeld, Hannover 1979. 2 0 Vgl. D. Rössler, Rekonstruktion des Menschen, in: W z M 2 5 / 1 9 7 3 , S. 1 8 1 - 1 9 6 , wiederabgedr. in: V. Läpple/J. Scharfenberg (Hg.), Psychotherapie und Seelsorge, Darmstadt 1977, S. 3 8 9 - 4 1 1 . 2 1 Als eine der frühen, klassischen Arbeiten zum Thema Seelsorge als Gespräch gilt A. Rensch, Das seelsorgerliche Gespräch, Göttingen 1963. - Zur Gruppenseelsorge vgl. bes. D. Stollberg, Seelsorge durch die Gruppe, Göttingen 1971, J . W . Knowles, Gruppenberatung als Seelsorge und Lebensberatung, München 1971. 18 19

2 2 Die Impulse zur „Neuordnung der Seelsorge" kamen nicht nur aus der KrankenhausSeelsorge und dem amerikanischen C P T , sondern sie ergaben sich auch aus den Kontakten

19

dar und wird deshalb auch von der Sorge um die „Stabilität der Kirche"23 als ein hervorragendes Mittel zur Herstellung von Bindung angesehen 24 .

2. Probleme der Theorie einer diakonischen

Seelsorge

Mit ihrem Profil der Hilfe verbinden sich für die diakonische Seelsorgelehre einige Probleme. F. Wintzer 25 hat die wichtigsten in die drei Fragen nach dem Menschenbild, nach der psychologischen und theologischen Bildung des Seelsorgers in ihrem gegenseitigen Verhältnis und nach den Zielen der Seelsorge zusammengefaßt 26 .

a) Die Diskussion über das

Menschenbild

Die diakonische Seelsorge befindet sich zunächst immer auf dem „Wege zum Menschen". Sie kennt ihn noch nicht, denn eine gemeinsame Geschichte kann die soziale Hilfe im allgemeinen gerade nicht voraussetzen; sie will ihn aber in seinen Mängeln und Problemen kennenlernen, um zu helfen. Als christliche Seelsorge weiß die diakonische Seelsorge zwar vor allen Mängeln von der Bestimmtheit des Menschen als Geschöpf und Kind Gottes, darauf gründet sich die bedingungslose Hilfsbereitschaft christlicher Seelsorge. Die Uberzeugung, daß der Mensch als Geschöpf Gottes nicht in seinen Mängeln aufgeht 27 , bildet indessen offenbar eine so allgemeine Voraussetzung, daß sie auf die spezifische Gestaltung der diakonischen Seelsorge als Hilfe einen Einfluß noch nicht gewinnen konnte 28 . Dadurch treten in der Gestaltung der zwischen Ärzten und Seelsorgern (vgl. die Schriftenreihe „Arzt und Seelsorger", hg. v. W. Bitter) und aus der Arbeit der Telefonseelsorge, in der die Mitarbeit der theologischen Laien besonders zur Geltung kam und kommt. 23 H . Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche?, Gelnhausen 1974, z.B. S. 211 ff. 24 Die Akzentuierung des Beziehungsgeschehens findet sich auch dort, wo Seelsorge als eine Dimension kirchlichen Handelns überhaupt vorgestellt wird (vgl. I. Becker u.a., Handbuch der Seelsorge, Berlin 1983, bes. S.213ff.). 25 F. Wintzer (Hg.), Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1978. 26 A.a.O., S . X L V I I - L . 27 A.a.O., S.XLVIII. 28 Die Erwartungen an eine Psychologie unter theologisch-anthropologischer Perspektive vermochten bisher weder das Handlungsschema der Hilfe wirksam zu kritisieren und zu differenzieren, noch den Rahmen sozialwissenschaftlicher Hypothesenbildung zu sprengen. Weder hat die Erwartung R. Bohrens (Prophetie und Seelsorge, 1982, S. 224), daß sich E. Thurneysens Vorstellung von einer ganz anderen Psychologie, die den Menschen als gerechtfertigten Sünder vor Gott wahrnimmt, doch formulieren und praktizieren lasse, bisher eine Verwirklichung gefunden, noch hat E. Herms (Pastorale Beratung als Vollzug theologischer Anthropolo-

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Seelsorge diejenigen Aspekte in den Vordergrund, die sich den psychologischen und psychotherapeutischen Denkmodellen verdanken. Diese Beobachtung findet ihre Bestätigung in der Gestaltung der Zeitschrift „Wege zum Menschen": Fälle, Krisen, Konflikte und Therapieformen beschäftigen die Autoren in diesem der Aussprache von Ärzten, Psychologen und Seelsorgern gewidmeten publizistischen Organ vorrangig 29 . Die Grundstruktur des Menschenbildes, das die diakonische Seelsorgelehre in den mannigfachen Erörterungen praktischer Probleme, aber auch in Beiträgen zur Anthropologie speziell voraussetzt, ist durch gegenläufige Momente geprägt: Einerseits ist der Mensch durch seine Mängel gekennzeichnet, denn durch Defizienzen wird ärztliche oder therapeutische Aktion erst erforderlich, andererseits ist er prinzipiell und wenigstens generell der Heilung fähig, er ist ein offener und entwicklungsfähiger Mensch 30 . Diese allgemeinen Bestimmungen bedürfen in jedem speziellen Fall eines therapeutischen Seelsorgegeschehens der jeweils besonderen Fassung, der Seelsorger muß sich immer wieder erst auf den Weg zum einzelnen Menschen begeben.

b) Theologie und Psychologie Muß man den Menschen immer erst wieder aufsuchen, um sich ein Bild von ihm zu machen, so gewinnen die anthropologischen Erkenntniswege eine besondere Bedeutung. Ist der Mensch, dem die Seelsorge gilt, nicht mehr selbstverständlich vor allem durch seine Existenz als Christ bestimmt und steht damit auch nicht von vornherein fest, was aus christlicher Perspektive gie, in: W z M 2 9 / 1 9 7 7 , S. 2 0 2 - 2 2 3 ) in seiner systematisch-theologischen Interpretation der Situation pastoraler Beratung diese sozialwissenschaftliche Vorgabe, die Beratungssituation, in Frage stellen wollen. 2 9 F. Böckle u. a. (Hg.), Wege zum Menschen. Monatsschrift für A r z t und Seelsorger, Erzieher, Psychologen und soziale Berufe, l / 1 9 4 9 f f . (zuerst u. d. T . : Wege zur Seele). 3 0 Vgl. H . - C h r . Piper, Das Menschenbild in der Seelsorge, in: W z M 33/1981 (Themaheft „Das Menschenbild in der Seelsorge"), S. 386—393; Piper wendet sich gegen das „reduzierte, das eindeutige Menschenbild", das „an der Wirklichkeit des Menschen vorbeigeht". Ahnlich äußert sich R. Miethner bei seiner Bemühung um eine spezifisch theologische Äußerung zur Anthropologie: „Das Menschenbild in der Seelsorge ist geprägt von der Gewißheit, daß erst am Ende der Zeiten ich ,erkennen werde, gleich wie ich erkannt bin' ( l . K o r 13,12). Alle Menschenbilder sind vorläufig. Sie sind offen und auf Hoffnung zugeschnitten, wie das zweite Gebote, das uns verbietet, ,sich ein Bildnis oder Gleichnis zu m a c h e n . . . ' und Menschen darin festzuhalten." ( W z M 3 3 / 1 9 8 1 , S. 397).

Offen bleibt in solchen Feststellungen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Menschenbild und therapeutischem Handeln oder genauer die Frage, ob das Verständnis der Seelsorge als Therapie nicht notwendigerweise von einer Sicht des Menschen ausgeht, in der er entweder von seinen biologischen Grundlagen oder von seinen Entelechien her determiniert ist (s.u. S. 112).

21

über ihn immer schon gesagt und nur jeweils neuer Auslegung zugänglich zu machen ist, dann können theologische und psychologisch-philosophische Anthropologien innerhalb der Seelsorge in Auseinandersetzung über ihre Geltungsansprüche eintreten, wie es als Folge der Entwicklung der modernen Wissenschaften, insbesondere der Human- und Sozialwissenschaften, schon vor dem Ersten Weltkrieg faktisch geschehen ist 31 . Die Entzweiung der wissenschaftlichen Erkenntniswege von Theologie und Psychologie hat die Entwicklung der speziellen Seelsorge im 20. Jahrhundert tief geprägt; daß diese Entzweiung unvermeidbar gewesen sei, läßt sich zwar mit einer Fülle von Daten der Entwicklung der Wissenschaften (analytische Verfahren, Spezialisierung, Positivismus) und der Gesellschaft insgesamt (Methodisierung und Bürokratisierung von Lebensvollzügen, Institutionalisierung der Sozialarbeit und des Gesundheitswesens) behaupten, sachlich zwingend ist diese Konsequenz nicht. Es gab jedenfalls durchaus die Bemühung um eine Integration der Perspektiven. H . Faber hat in seiner Tübinger Preis-Arbeit über „Das Wesen der Religionspsychologie und ihre Bedeutung für die Dogmatik" 3 2 , schon auf dem Stand einer hochentwickelten Selbständigkeit der Religionspsychologie deren Nutzen für die Dogmatik nicht nur als Hilfswissenschaft, sondern als einen Arbeitsgang in der Grundlegung der Dogmatik zu begründen sich bemüht und gefordert, die Religionspsychologie zur Sicherung des Erfahrungsbezugs dogmatischer Aussagen einzusetzen 33 . Für die Seelsorgelehre sind solche Überlegungen nicht wirksam geworden, jedenfalls nicht so, daß sie die Frontstellung zwischen psychologischen und biblisch- bzw. verkündigungsorientierten Beiträgen zur Seelsorgelehre hätten verhindern können 3 4 . Die Ablehnung der Psychoanalyse und aller Vgl. Kap. 3,1. H . Faber, Das Wesen der Religionspsychologie und ihre Bedeutung für die Dogmatik, Tübingen 1913. 31

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3 3 H . Faber grenzt sich allerdings deutlich von G. Wobbermin und seinem Versuch einer religionspsychologischen Grundlegung der Dogmatik ab; vgl. a.a.O., bes. S. 157: „So sind denn die Bestrebungen, die dogmatische Methode durch die religionspsychologische zu ersetzen, dahin zu beurteilen, daß sie entweder die Beantwortung der Wahrheitsfrage des christlichen Gottesglaubens und damit die Entscheidung eines zentral-dogmatischen Problems unmöglich machen, oder aber der Religionspsychologie Aufgaben stellen, die sie ihrem Wesen nach nicht erfüllen kann, und so große methodische Verwirrung stiften."

Vgl. S. 161: „In einer Dogmatik darf kein Satz vorkommen, der psychologisch unverständlich ist, und die Religionspsychologie ist es, die als methodische Erweiterung der eigenen Erfahrung der Dogmatik das Mittel gibt, die christlichen Glaubensgedanken deutlich und verständlich darzustellen." 3 4 P. Tillichs korrelationstheoretische Argumentation gewinnt ihren Gehalt überwiegend aus der psychologischen Theoriebildung. Die Entzweiung der Disziplinen wird vorausgesetzt und hingenommen. Vgl. P. Tillich, D e r Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie, G W VIII, Stuttgart 1969, S. 3 2 5 - 3 3 5 .

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natürlichen Theologie durch die Theologie der Krisis zwischen den Weltkriegen wird im allgemeinen als Grund für die Entzweiung zwischen Theologie und Psychologie im 20. Jahrhundert angeführt 35 . Man muß indessen darüber hinausgehend und zugleich solcher begrenzten Argumentation gegenüber kritisch feststellen, daß die Spezialisierung der Wissenschaften in sich und gegeneinander und die Segmentierung der sozialen Institutionen ohnehin ein erhebliches Potential abgrenzender Kräfte geliefert hatten und die theologische Kritik an der Psychoanalyse in diesem größeren Entwicklungszusammenhang interpretiert werden muß 36 .

c) Die gegenwärtige

Gestalt der Seelsorgelehre als Programm und Angebot

Der Genese der gegenwärtigen Gestalt des Gesprächs über Seelsorge gilt diese Untersuchung im ganzen. Vom möglichen Sinn der immer wieder entschieden herausgestellten Differenzen zwischen Beratung und Bezeugung, zwischen Therapie und Verkündigung, Wachstum und Glaube kann ein vorläufiger Eindruck aber schon durch die Betrachtung der äußeren Struktur dieser programmatischen Beiträge gewonnen werden 37 . Lagen die verhaltensregelnden, lebensorientierenden Impulse einer traditionellen Seelsorge in der Verpflichtung der ,Seelsorge-Kinder' auf bestimmte Gebote, so macht die gegenwärtige Gestalt der Seelsorgelehre den Eindruck, die Aufgabe der Seelsorge durch Angebote bestimmen zu wollen. Die Verhaltensnormen werden nicht mehr nach der Uberzeugung der Seelsorger in Hinsicht auf die allgemeingültigen Verhaltensweisen formuliert, sondern die verschiedenen Seelsorgeprogramme konkurrieren in den Vorschlägen, die sie dem Seelsorger für sein Eingehen auf die Bedürfnisse des Menschen in der Seelsorge unterbreiten. Die Bedürfnisse der Betreuten, in der Fassung, die der Seelsorgelehrer und der Seelsorger ihnen geben, werden dadurch letztlich auf dem Umweg über die Angebote zu den die Seelsorge bestimmenden Geboten. Die Normgebung für die Seelsorge erfolgt damit auf der Basis einer Anthropologie, deren Ausformulierung offenbleibt und vom SeelsorgeFachmann jeweils individuell, von Fall zu Fall neu vorgenommen werden 3 5 Vgl. ζ. B. J . Scharfenberg, Die Rezeption der Psychoanalyse in der Theologie, in: J . Cremerius (Hg.), Die Rezeption der Psychoanalyse in der Soziologie, Psychologie und Theologie, Frankfurt 1981, S. 2 5 5 - 3 3 8 . 3 6 Einen Eindruck von der vielstimmigen Diskussionsrunde zwischen den Weltkriegen über die Bedeutung der Psychologie für Theologie und Medizin vermittelt das 3. Kapitel (Abschn. 2 und 3). 3 7 Uber die Vielfalt der evangelischen Seelsorgelehre der Gegenwart informiert z . B . W.Jentsch, Der Seelsorger. Beraten, Bezeugen, Befreien. Grundzüge biblischer Seelsorge, Moers 1983 2 .

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muß. O b theologisch vom Menschen als Geschöpf Gottes, ob medizinisch vom gesunden oder leistungsfähigen oder noch allgemeiner vom natürlichen Menschen, oder schließlich fasziniert von der Beliebigkeit des Verhaltens in einer modernen offenen Gesellschaft vom „offenen" 38 oder bedrückt vom Lebensgefühl der Zerrissenheit vom „ganzen" 39 Menschen gesprochen wird, es erhebt sich jeweils neu die Frage, welche Instanz die Verfahrensfragen in der Seelsorge regelt und dem Handeln, z . B . durch Zielsetzungen, seinen ethischen Sinn gibt 40 .

3. Soziale Funktion und soziologische Deutung der diakonischen

Seelsorge

Die angesprochenen Probleme der diakonischen Seelsorge sind jeweils von der Art, daß sie nicht begrenzt auf den engeren Problemzusammenhang hinreichend erörtert werden können. Die Auseinandersetzung mit einzelnen Gesprächsbeiträgen brächte und bringt nur andere Menschenbilder, variierte Zuordnungen von Theologie und Psychologie 41 , neue Programmangebote hervor. Es ist weiter auszugreifen und nach den Entstehungsbedingungen der modernen evangelischen Seelsorgelehre zu fragen, denn diese ist als wissenschaftlich selbständige praktisch-theologische Disziplin stärker als die mit den geprägteren Gestalten kirchlicher Praxis beschäftigten Disziplinen in ihrer ganzen Gestaltung von den Entwicklungen des sozialen Lebens grundsätzlich abhängig. U m die Seelsorge in ihrer diakonischen Ausprägung richtig zu beurteilen, ist deshalb zurückzufragen nach den Momenten der Entwicklung kirchlichen und sozialen Lebens, die diese Ausprägung spezifisch mitgestaltet haben 42 . Die Fülle der für eine solche Interpretation bedeutsamen Daten ist im Prinzip unbegrenzt. Die hier getroffene Auswahl orientiert sich an Überlegungen zur sozialen Funktion und Bedeutung, die der evangelischen Seelsorge in der Gegenwart zugeschrieben werden.

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Vgl. H . - C h r . Piper, Das Menschenbild in der Seelsorge (1981) pass. Vgl. D. Rössler, Art. Mensch, ganzer, in: H W P 5, Sp. 1106—1111.

4 0 Vgl. J . R i t t e r , Institution .ethisch'. Bemerkungen zur philosophischen Theorie des H a n delns, in: H . Schelsky (Hg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1973 2 , S. 5 9 - 6 5 . 4 1 Vgl. V. Läpple/J. Scharfenberg, Psychotherapie und Seelsorge (1977) pass. 4 2 Vgl. Kap. 2 und 3. Auf die sozialhistorischen Zusammenhänge kann im Rahmen eines solchen Diskussionsbeitrags zu einem praktisch theologischen Problem nur hin und wieder hingewiesen werden. Es ist jedoch insgesamt zu bedenken, daß viele der nachstehend aufgezeichneten Entwicklungen ohne die Impulse, ohne den Druck sozialer Probleme nicht oder wenigstens nicht in dieser F o r m eingetreten wären (vgl. auch Kap. 2, S. 32, Anm. 4).

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a) Seelsorge - eine pastorale

Aufgabe

Die moderne Seelsorgelehre hat sich im Zusammenhang der Suche des Pfarrerstandes nach seinem Ort in der modernen Gesellschaft entwickelt. Das Verlangen nach einer diakonischen Seelsorge, nach einer klar umrissenen Handlungsstruktur 4 3 , wie sie der Zusammenhang von,Bedürfnis, Hilfsangebot und Hilfe' darstellt, wuchs den Pfarrern endgültig zu im Laufe der Entwicklung einer offenen Gesellschaft in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schwierigkeiten im Umgang mit Amtern und Autoritäten nach deren totalitärer Depravierung, gekennzeichnet als Zustand einer „vaterlosen Gesellschaft" 4 4 , die zunehmende Komplexität der Lebensbedingungen in einer technisch-rationalen Welt, beides Folgen zweier, Lebensstrukturen wie Städte verheerender Kriege und zugleich einer stürmischen technischen Entwicklung und wirtschaftlichen Prosperität förderten die Orientierung am Spezialisten, am Experten. In einer Situation vielfältiger Unübersichtlichkeit genoß derjenige besonderes Vertrauen, der sich als fähig erwiesen hatte, eine Sachlage relativ unabhängig von ihrer Genese zu überblicken, der seine Orientierungshilfe aber nicht gleich mit einer bindenden Deutungsund Handlungsempfehlung verband, der noch dazu wissenschaftlich als objektiv geltende Aussagen vorlegte. Die Strukturen der ständischen Ordnungen wurden endgültig abgelöst von den an Tätigkeits- und Leistungsmerkmalen gewonnenen Ordnungsgesichtspunkten der Berufs- und Dienstleistungswelt. Deren Organisationsformen im kirchlich-sozialen Arbeitsbereich wurden zusammengefaßt im Diakonischen Werk 45 . In der verständlichen Sorge um eine Dysfunktionalität von Kirche und Pfarrerstand im Leben der Gesellschaft kam es auch in der Pastoraltheorie zur Definition des Pfarramtes als Beruf - in Anlehnung an den Typus der freien Berufe - und zu dessen struktureller Differenzierung in einzelne Aufgaben und Dienste, der soziologischen Erfassung anderer Berufe in der Gegenwart entsprechend 46 . Komplementär zur Differenzierung der Berufsaufgaben wuchs die Beliebtheit des Rollenbegriffs, weil er die Bündelung der Aufgaben und eine Rechtfertigung der Aufgabengewichtung von den Rollenerwartungen in der Gesellschaft aus ermöglichte. Das berufssoziologische Deutungsmuster von Rolle und RollenerwartunVgl. D . Rössler, Rekonstruktion des Menschen (1973), S. 404f. A. Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, München 1971 (65. Tsd.). 4 5 Vgl. P. Philippi, Art. Diakonie I, in: T R E 8, S. 621 - 6 4 4 ; Zentralbüro des Hilfswerks (Hg.), Dank und Verpflichtung. 10 Jahre Hilfswerk der Evangelischen Kirche, Stuttgart 1955. 4 6 Vgl. H . Daheim, Der Beruf in der modernen Gesellschaft, K ö l n - B e r l i n , 2/1970; vgl. auch D . Rössler, Grundriß, Kap. 10. 43

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gen führte allerdings, auf pastorale Praxis als A m t projiziert, fast unvermeidlich zur Uberforderung des Pfarrers, oder zumindest zu einem dauerhaften Gefühl der Uberforderung 47 , die zeitweilig verbreitete Beliebtheit von Spezialpfarrämtern unter Pfarramts-Aspiranten entsprach dieser Angst vor Uberforderung 48 . Weniger anschaulich als im Rollenbegriff, dafür sachlich präziser und in der Differenzierung aussagekräftiger wird die soziale Funktion von Religion in der Gesellschaft als Wertvermittlung („Darstellung und Vermittlung grundlegender Werte" 49 ) und als „helfende Begleitung" 50 soziologisch festgestellt. Die Funktion der Seelsorge wird vorwiegend der zweiten Sektion, der helfenden Begleitung, zugerechnet 51 . Für den Pfarrer zwischen A m t und Beruf, zwischen Stände- und Dienstleistungsgesellschaft, zwischen Tradition und Funktion, ergibt sich nun allerdings die Notwendigkeit, die beiden Hauptfunktionen in dem von ihm verantworteten Handeln immer wieder einander zuzuordnen. Von der Problematik einer solchen Zuordnung im Falle der Seelsorge zeugt die zeitgenössische Propriumsdiskussion 52 , die prinzipiell endlos verlaufen muß, solange ihre Voraussetzung, die funktionale und teilweise auch organisatorische Trennung von Wertvermittlung und helfender Begleitung nicht außer Kraft gesetzt wird. 47 Vgl. K. Marti, Guerillataktik und Parteilichkeit: Überlegungen eines Gemeindepfarrers, in: H.-D.Bastian, Kirchliches Amt im Umbruch, M a i n z - M ü n c h e n 1971, S. 1 0 5 - 1 1 4 . An Martis eindrucksvoller Schilderung der Aufgabenvielfalt im Berufsleben eines „guten" Pfarrers wird die Unangemessenheit einer nach Funktionen spezifizierenden Betrachtung der Berufstätigkeit des Pfarrers deutlich, vgl. S. 107: „Dieser ,gute' Pfarrer ist eine Art Götzenbild, dem keine geschöpfliche Realität entspricht. Ich kann und soll - so wie mich Gott nun einmal geschaffen hat - nicht alles sein, was ich nach dem Rollenschema sein sollte: Musik- und Singlehrer, Organisator von Basars und anderen Anlässen, Lehrer von Jugendgruppen und -lagern, wenn möglich auch noch von Kinderlagern, Besinnungswochen, Müttererholungswochen, Tröster von Sterbenden und cleverer Manager, Prediger, Lehrer (von Jugendlichen und Erwachsenen), Fürsorger, ein bißchen Jurist, Psychologe, Eheberater, Ausbilder von Sonntagsschul- und anderen -Helfern, Reisender für die Kirche von Haustür zu Haustür, Erziehungs- und Berufsberater, Seelsorger (was immer man darunter verstehen mag) ( s i e ! ) , . . . " 48 Eindrucksvolle Hinweise auf diese Überforderung geben E. Lange, Die Schwierigkeit, Pfarrer zu sein, in: Pst II/l, 1974, S. 11 - 2 4 ; R. Erler, 7 Tage, Nürnberg 1974. Zur Überforderung durch unterschiedliche Rollenerwartungen tritt eine zweite hinzu, diejenige, die alle sozialen Berufe betrifft und durch den schwierigen Balanceakt zwischen Helfen und Abhängigmachen und -werden hervorgerufen wird. 49 K.-W. Dahm, Beruf: Pfarrer. Empirische Aspekte zur Funktion von Kirche und Religion in unserer Gesellschaft, München 1972 2 , S. 117. 50 Dahm, a.a.O., S. 121. 51 Ebd. 52 Vgl. D. Rössler, Rekonstruktion des Menschen (1977), S. 408; D. Stollberg (Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis, Gütersloh 1978) unterscheidet zwei Propria der Seelsorge: Als generelles Proprium der Seelsorge bezeichnet er die hilfreiche Kommunikation als eine wesentliche Existenzform des Menschen überhaupt (S.20f.). Zum spezifischen Proprium der Seelsorge gehört vor allem ihr Kontext: Die Kirche (S. 29f.).

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Es ist eine Intention dieser Arbeit, auf die faktisch doch immer gegebene Verbindung von Wertvermittlung und helfender Begleitung aufmerksam zu machen und in den abschließenden Bemerkungen Anhaltspunkte für eine Gestaltung dieser Verbindung nach christlichem Verständnis zu markieren.

b) Seelsorge - eine soziale

Aufgabe

Die moderne Seelsorgelehre hat sich nicht nur als Antwort auf Probleme des Pfarramtes entwickelt, sondern auch im Zusammenhang der Suche von Christen überhaupt - in Amt und Ehrenamt - nach einer organisatorischen Basis und theologischen Begründung für ihre christliche Verantwortung für den Nächsten 53 unter den Bedingungen einer weitgehenden institutionellen Trennung von Staat und Kirche. Die historisch primäre Lösung, die Gründung von freien Vereinen zur Gestaltung der Privatwohltätigkeit 54 , stand zunächst in Konkurrenz zur Organisation der amtlichen Seelsorge mit ihren weniger diakonischen als vielmehr administrativen Aufgaben. Die funktionale Betrachtungsweise aber ermöglichte es, neben einer theoretischen Fassung der Zuordnung des Pfarramtes als Beruf zur modernen Gesellschaftsstruktur, auf dem Weg über die Differenzierung und Spezialisierung der pastoralen Aufgaben auch, die prinzipielle Ubertragbarkeit und die tatsächliche Übertragung der Seelsorgefunktion auf Laien - etwa durch entsprechende Theorien diakonischen Handelns 55 - zu formulieren. Es begann eine Loslösung vom Amt, die die Institutionalisierung der helfenden Begleitung in den Werken der Diakonie förderte, zumal eine zureichende theologische Theorie der Gemeindeleitung neben der strukturfunlftionalistischen Theorie kirchlichen Handelns nicht existierte und auch nicht existiert, die eine Integration der verschiedenen Aspekte seelsorgerlicher Verantwortung bewirken könnte 56 . Diese Entwicklung der Seelsorge zu einer allgemeinen sozialen Aufgabe57 und die ihr entsprechende organisationssoziologische Betrachtungsweise seelsorgerlichen Handelns vertieften die Unterscheidung von „Wert53

Der sozialpsychologische Sinn wesentlicher Grundbegriffe christlicher Lebenspraxis (z.B. .Nächster', ,Nächstenliebe', ,Bruder') wird selten problematisiert. Überforderungen ergeben sich dadurch in der Seelsorgelehre fast unvermeidlich. 54 Vgl. Ch. Sachsse/F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1980, S. 222-226.229. 55 Vgl. z.B. für die Telefonseelsorge: H . H a r s c h , Theorie und Praxis des beratenden Gesprächs, München 1973. 56 Vgl. G. Rau, Leitung und Organisation. Einleitung; in: H P T (G), Bd. 3, S. 555ff. 57 Auf dem Begriff gebracht hat diesen Vorgang D. Stollberg mit seiner Formulierung

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Vermittlung" und „helfender Begleitung" ins Grundsätzliche: Der Wertvermittlung als der religiösen Grundfunktion tritt die helfende Begleitung als ein Subsystem neben anderen in der Gesellschaft gegenüber 58 . Die Frage nach dem Proprium verblieb nun nicht mehr im Bewußtsein der amtlichen Seelsorger, sondern wurde zum Problem bei allen organisatorischen Regelungen in den kirchlichen Beratungsinstitutionen 59 .

c) Seelsorge zwischen Amt und Beruf- ein Auftrag für Christen War in der Wandlung der Seelsorge von einer pastoralen und einer sozialen Aufgabe als Folge der Transformation des Pfarramtes zum Beruf Pfarrer und im Zusammenhang einer vermehrten sozialen Verantwortungsbereitschaft von Laien der Aspekt der Wertvermittlung in den Hintergrund getreten 60 , so mußte diese Entwicklung in dem Moment in ihrer Problematik deutlich werden, in dem die Maßstäbe psychologischen und psychotherapeutischen Denkens als Orientierungskriterien sozialen Helfens als ungenügend empfunden wurden. Die Gesundheit in psychischer, physischer und sozialer Hinsicht - in medizinischer Perspektive also - konnte nur so lange als zentraler Wert sozialen Handelns und Helfens dienen, als sie nicht durch absolute Forderungen und Wünsche zum Zielbegriff umfunktioniert und ihrer pragmatischen Geltung enthoben, durch unerfüllbare Ansprüche außer Kraft gesetzt wurde 61 . In dieser Situation „sehen sich" die Berater „wieder nach dem Seelsorger um" 62 und empfinden es als unsachgemäß, wenn nicht sogar als Zumutung, „Psychotherapie im kirchlichen Kontext", Mein Auftrag - Deine Freiheit, München 1972, S.I. 58 Vgl. N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S. 58 f. 59 Vgl. H. Halberstadt, Psychologische Beratungsarbeit in der evangelischen Kirche, Stuttgart 1983, bes. S. 188ff. 60 Vgl. K.-W. Dahm, Beruf: Pfarrer, S. 121 ff. - Ein sprechendes Indiz dafür, daß der Pfarrer keineswegs mehr selbstverständlich allein die Seelsorgeaufgabe wahrnimmt, bilden P. Blaus Arbeiten zur Seelsorgelehre. Waren seine „Einzelbilder" aus der Arbeit des Seelsorgers noch von einem fraglosen Zusammenhang dieser Einzelfelder im Rahmen des pastoralen Wirkens ausgegangen (1912), so schickt er 1927 der Neuauflage dieses Buches, das nun in einzelne Teilbände zerlegt erscheint, eine grundsätzliche Besinnung über Pfarramt und Seelsorge voraus. 61 Vgl. J. Degen, Diakonie im Widerspruch. Zur Politik der Barmherzigkeit im Sozialstaat, München 1985. - P. Gross, Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft, Opladen 1983, S. 131 ff. 62 Diese Formulierung hatte L. Grote (Uber die Beziehungen der Medizin zur Theologie vom Standpunkt der Praxis, Arzt und Seelsorger, H . 19, Schwerin) 1929 zur Einleitung seiner Frage nach der ethischen Orientierung ärztlichen Handelns in ähnlichem Sinn gebraucht wie neuerdings der Psychologe E. v. Inäntsy-Pap (Seelsorge für Therapeuten, in: EvKomm 17/1984, S.274f.).

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daß die Seelsorger sich nicht um das Problem der Wertorientierung bemühen, sondern sich in Konkurrenz zu den Beratern ( - wenn auch in Teamarbeit! - ) auf die Psychotherapie, auf die helfende Begleitung verlegt haben 63 . Dieser Konflikt zwischen Seelsorgern und Beratern hat eine, wenn auch nicht nur diese eine64 Vorgeschichte in der Entwicklung der speziellen Seelsorgelehre in der evangelischen Theologie seit dem 19. Jahrhundert, deren Kenntnis über die Rolle evangelischer praktischer Theologie bei der Entwicklung der modernen sozialen Berufe und über die Herkunft des Interesses der Seelsorger an sozialwissenschaftlichen Kenntnissen und an psychologischer Beratungspraxis aufzuklären vermag. Ein solcher problemgeschichtlicher Rückblick kann nicht zur pastoralen parochialen Amtspraxis zurückführen, wie sie für vergangene Zeiten beschrieben wird 65 , aber er will ein Urteil ermöglichen, wie der Konflikt zwischen Beratern, Therapeuten, Ärzten einerseits und Seelsorgern andererseits zu verstehen sei und eventuell sinnvoll bearbeitet werden könnte. Es wird sich dabei u. a. zeigen, daß die Aufgabe der Seelsorge gerade in psychologischer Hinsicht bisher recht einseitig von der Wissenschaftsdogmatik einer therapeutisch orientierten klinischen Psychologie aus bedacht worden ist und daß die praktische Theologie nur selten auf die Aufgabe zugeht, den christlichen Seelsorge-Auftrag psychologisch und theologisch integrativ zu überdenken 66 .

63 E. v. Inäntsy-Pap bedauert, daß dem „heutige(n) Typ von Manager-Pfarrer" kaum noch etwas anderes übrigbleibt, „als vorgefertigte Antworten auf die Sinnkrise und das Leid des heutigen Menschen zu geben" (S. 275). Er wünscht sich den Pfarrer als Gesprächspartner für Psychotherapeuten und deren Klienten für die Sinnfrage. 64 Vgl. C. W. Müller, Wie helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit, Weinheim-Basel 1982. 65 Vgl. G . H o l t z , Die Parochie, Berlin 1969. - P. Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, Jena 1905. 66 Nach einer solchen Integration suchen für die Seelsorgelehre O . Wölber mit seinem Entwurf einer „dynamischen Theologie des Erbarmens" als Praxis des Rechtfertigungsglaubens (Das Gewissen der Kirche, Göttingen 19652, hier: S. 47) und E. Herms mit seiner Interpretation der pastoralen Beratungssituation als einer Vollzugsweise theologischer Anthropologie (Pastorale Beratung, 1977); für die Praktische Theologie insgesamt diskutieren integrative Interpretationen dieses Problemzusammenhangs: G. Rau, Theologie und Sozialwissenschaften - Theoretische Ansätze zu ihrer Integration, in: K.-F. Daiber/I. Lukatis (Hg.), Die Praxisrelevanz von Theologie und Sozialwissenschaften, Frankfurt—Bern 1984, S. 175 — 198. - D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie (1986), Einleitung: Begriff und Geschichte der Praktischen Theologie.

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ZWEITES KAPITEL

Zur Genealogie der modernen speziellen Seelsorgelehre seit dem 19. Jahrhundert: Von der amtlichen zur wissenschaftlichen Seelsorge und Seelsorgelehre Die Skizze der Probleme gegenwärtiger Seelsorgelehre war von der Annahme geprägt, daß die Poimenik in der besonderen Hinsicht der organisatorischen Gestaltung von Seelsorge nicht nur einheitlicher ist, als die heftigen Auseinandersetzungen der letzten Jahre zwischen bibelorientierter und psychotherapiebezogener Poimenik vermuten lassen, sondern daß sie in dieser Einheitlichkeit einen Sinn hat, der sich als Reaktion auf überkommene Problemlagen zu erkennen gibt 1 . Die moderne Seelsorgelehre gehört ihrer Entstehung nach in den Zusammenhang des Ringens der evangelischen Kirche um ihren Beitrag zur Verantwortung für den Menschen in der modernen Welt. Die skizzierten Grundzüge der Poimenik haben sich in einer Zeit der Vorherrschaft naturwissenschaftlichen Denkens gebildet. Die Neuordnung der Seelsorge in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts 2 muß auf dem Hintergrund der Schwierigkeiten im gesellschaftlichen und kirchlichen Leben Deutschlands gesehen werden, wie sie sich seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts angesichts industrieller Lebensbedingungen und zerfallender traditioneller kirchlicher Or1 Die publizistischen Entgleisungen im Streit um die Seelsorge noch einmal aktenkundig zu machen, hieße, sie über G e b ü h r aufzuwerten. Das Profil der Auseinandersetzung läßt sich erkennen in H. Reller/A. Sperl (Hg.), Seelsorge im Spannungsfeld. Bibelorientierung - G r u p pendynamik? Hamburg 1979. Der psychologische Schulstreit, der die Pastoralpsychologen beschäftigte, ist v o n der Auseinandersetzung über die religiösen Auffassungen und Stellungnahmen zur Psychologie zu unterscheiden. Er ist protokolliert in: T.U.Schall/J.Scharfenberg/ D. Stollberg/M. Seitz, Loccumer Thesen, PTh 71/1982, S. 3 1 7 - 3 2 8 . 2 Das Programm einer „Neuordnung der Seelsorge" hat H . D o e b e r t (Göttingen 1967) als einen „Beitrag zur Ausbildungsreform und zur heutigen kirchlichen Praxis" formuliert. Wesentlich angeregt, gefördert und verbreitert aber w u r d e die sog.,Seelsorgebewegung' der Klinischen Seelsorge-Ausbildung in Deutschland von W. Becher, H. C h r . Piper, R. Riess, D. Stollberg und K. Winkler. Wichtige Überlegungen trugen tiefenpsychologisch orientierte Theologen wie O . Haendler, J. Scharfenberg und H. J. Thilo bei (vgl. Lit.-verz.).

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ganisationsstrukturen im staatlichen Verband bildeten. Wenn man die Seelsorgebewegung nicht nur als Produkt nordamerikanisch-niederländischen Pionier-Geistes feiert und sie ebensowenig wegen ihrer methodischen Vielfalt als ,Fruchtcocktail' aus einem „exotischen Gemischtwarenladen" abqualifiziert3, wird man sich Aufschluß geben können über die vielen Ideen, Entwürfe und Anregungen, die der Klinischen und der Beratenden Seelsorge lange vorausgingen und den Boden bereitet haben, wird dabei allerdings auch die Möglichkeiten einer psychologischen Seelsorge anders einschätzen - und an einigen Stellen über ihre derzeitige Gestalt hinauszufragen, Anlaß finden.

1. Die Blüte der Pastoraltheologie im 19. Jahrhundert Schritte vom Amt zum Beruf

-

Die Sorge um die Seele des Menschen, aber auch um den Bestand der Kirche und die Ordnung der Gesellschaft brachte in den Umbrüchen des ^ . J a h r hunderts bis zum Ersten Weltkrieg seitens der christlichen Kirchen eine Fülle von Ideen und Aktionen zur Begleitung und Bewahrung der einzelnen und vereinzelten Menschen unter den Bedingungen von Orientierungslosigkeit, sozialer Entwurzelung und materieller Existenzgefährdung hervor 4 . Im Be3 Ausgesprochen positive Würdigungen der Klinischen Seelsorge-Ausbildung finden sich in H . Faber/E. van der Schoot, Praktikum des seelsorgerlichen Gesprächs (3. Aufl. mit einem Anhang von H.-Chr. Piper), Göttingen 1971 3 und in: Fünfzig Jahre Klinische Seelsorgeausbildung. Mit Beiträgen von W. Becher, S. Hiltner und D . Stollberg, W z M 27/1975, H . 7. Die spöttische Kritik aus der Perspektive eines behavioristischen Empirismus stammt von G. Besier, Seelsorge und Klinische Psychologie. Defizite in Theorie und Praxis der „Pastoralpsychologie", Göttingen 1980 (hier S. 74). Eine Auseinandersetzung mit Besiers Thesen ergibt sich in dieser Arbeit nur indirekt. Seine wie seiner Diskussionspartner Auffassungen über das Verhältnis von Psychologie und Seelsorge kommen darin überein, daß sie dem Pfarrer eine möglichst solide psychologisch-psychotherapeutische Ausbildung vermitteln möchten, jeder auf seine Weise. In dieser Arbeit wird ein Klärungsversuch der Frage unternommen, in welchem Sachzusammenhang sich der Wunsch nach Eingliederung psychologischen Wissens in die theologische Ausbildung ein erstes Mal in der modernen Seelsorgelehre stellte. 4 Zum Verständnis einer Seelsorgelehre gehört die Kenntnis ihrer historischen Entstehungsbedingungen notwendig hinzu. Es muß aber im Rahmen dieser Arbeit eine Beschränkung auf diejenigen Daten und in derjenigen Darbietung vorgenommen werden, die durch die hier behandelten Beiträge zur poimenischen Theoriebildung gegeben sind. Als ein in seiner Art besonders anspruchsvolles Beispiel sei ein Abschnitt zur Zeitdeutung aus der Praktischen Theologie von C. I. Nitzsch zitiert: „§. 434. Das neunzehnte Jahrhundert hat in den am meisten geschichtlich bewegten Ländern einen von Zeit zu Zeit gesteigerten Wettkampf zwischen Verderben und Cultur, Noth und Wohlstand, Entsittlichung und Gesittung gesehen, der auf der einen Seite die Christenheit, Staat und Kirche, die Gesellschaft im Ganzen ihrer Versäumniß und Ohnmacht überführte, auf der andern sie lehrte, zur Unerschöpflichkeit der Hülfsmittel, die in der christlichen Bildung noch unerkannt und unausgebeutet liegen, neuen Mut zu fassen. Die Jahre 1800, 1813, 1830, 1848

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mühen um die „Erbauung der Gemeinde" 5 , im Kampf um den „modernen Menschen" 6 , in Religionspsychologie und religiöser Volkskunde 7 , um nur weniges zu nennen, zeigte sich der Wille kirchlicher Leiter und theologischer Lehrer, die Christen in A m t und Ehrenamt in ihrer schwierigen Verantwortung für ein Leben in der modernen Welt mit theologischer und allgemeiner Bildung auszurüsten. Denn in der Auflösung der ständischen Gesellschaft, auf dem Weg ins Industriezeitalter geriet nicht nur die Kirche als religiöse Institution insgesamt in den Strudel der Verselbständigung aller relevanten gesellschaftlichen Kräfte, auch die Auffassung vom A m t mußte in ihrer praktischen Geltung strittig werden. Die Berufung auf die Funktionen des Amtes nach den klassischen Bekenntnisformulierungen der Confessio A u gustana 8 reichte nicht mehr aus zu dessen selbstverständlicher Begründung und unumstritten wirksamer Praxis. Wissenschaft und Ausbildung 9 versuchten, dieser Entwicklung zu begegnen. Die Befähigung der Pastoren zu einer persönlichen Führung ihres Amtes ist ein Anliegen schon der R e f o r m o r t h o doxie 1 0 und des Pietismus 1 1 . Die Problemstellungen des 19. Jahrhunderts schließen organisatorisch und sachlich an die älteren Reformideen auch durchaus an. Grundsätzlich neu und deutlich zu unterscheiden von R e f o r m vorschlägen überhaupt ist aber der Verfall der selbstverständlichen Geltung des Amtes in seiner gesellschaftlichen Funktion als Repräsentant von Religion im sozialen Gefüge und als ein Garant der Stabilität dieses Gefüges. Das lassen sich als Epochen auszeichnen. D e r verwüstende Krieg, mörderische Schlachten, zuweilen hinzukommende Seuchen, in der U m g e b u n g aufgehäuften Reichthums zunehmende Verarmung der zahlreichsten Volksklassen . . . haben der gewöhnlichen Anstalten der Selbsterhaltung des Gemeinwesens gespottet." (C. I. N i t z s c h , 3 Bde., B o n n 1847ff., Bd. 3,1, D i e e i g e n t ü m l i che Seelenpflege [1868], S. 42 f.). 5 6 7

Vgl. z . B . E . C h r . Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, Leipzig 1898 2 . Vgl. z . B . C h W l / 1 8 8 7 f f . (s. u. S. 74). Vgl. vor allem P. Drews, Das Problem der Praktischen Theologie, Tübingen 1910, pass.

8 D e r auf die Grundfunktionen der Verkündigung und der Verwaltung der Sakramente aufgebaute evangelische Kirchenbegriff nach lutherischem Verständnis (vgl. C A V I I D e ecclesia, B S L K , S . 6 1 ) und die zentrale Bedeutung des Predigtamtes für den Glauben (vgl. C A V D e ministerio ecclesiastico, B S L K , S. 58) machen die Frage nach der rechten Berufung (vgl. C A X I V D e ordine ecclesiastico, B S L K , S . 6 9 , „nisi rite vocatus") der Amtsträger zu einem Problem, für das eine Lösung immer wieder neu gefunden werden muß. Vgl. H . M . M ü l l e r , Das evangelische Amtsverständnis und die Pfarrerrolle der Gegenwart, in: V o m A m t , das die Versöhnung predigt. Vorträge der 26. Gesamtkonferenz der evangelischen Militärgeistlichen 1984, hg. ν. Ev. Kirchenamt für die Bundeswehr, B o n n 1984, S. 5 - 2 1 . 9 Z u r Entwicklung des theologischen Studiums als Vorbereitung auf den Pfarrdienst vgl. D . Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin 1986, Kap. 2, § 10, 1. Geschichte der Ausbildung zum kirchlichen A m t . 1 0 Vgl. K. Schmerl, Die specielle Seelsorge in der lutherischen Kirche unter der O r t h o d o x i e und dem Pietismus, N ü r n b e r g 1893, S. 62—67 (über T h . Großgebauer und V. E . Loescher). 11 Vgl. Schmerl, a.a.O., S. 7 3 f f . (über P h . J . Spener und Α . H . Francke); vgl. auch Rössler, a.a.O., Kap. 2, § 10,1.

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A m t trägt seinen Inhaber nicht mehr, es ist nicht mehr davon abzusehen, wie er seines Amtes waltet. Dafür gibt es verschiedene Anzeichen: - Es finden sich Belege einer internen Konkurrenz zwischen den Amtsbrüdern samt der darin implizierten Auffassung der Amtstätigkeit als Dienstleistung und der Voraussetzung durchlässiger Gemeindegrenzen, einer einsetzenden Auflösung des Parochialprinzips 12 ; - es finden sich zudem Anzeichen einer externen Konkurrenz gegenüber verwandten Berufen 13 und Erwägungen zu einer funktionalen Spezialisierung: „Wenn das A m t aber, wie gesagt, drey Seiten hat, nicht Eine nur oder z w e y , sondern drey, und die vorstehende dritte Seite, wie sich weisen wird, ein vornämlich großes Areal hat, o b es da nicht besser wäre, das A m t zu theilen so, daß Prediger, Priester und Pastoren auch verschiedene Personen würden .. ." 1 4 ;

- auch treten erstmals in erheblichem, breitenwirksamen Ausmaß konkurrierende Medien auf 15 und nicht zuletzt - sucht sich das freie Engagement von Christen gerade angesichts der sozialen Nöte der Zeit Wege selbständiger Hilfe; das Programm der Inneren Mission ist die Zusammenfassung einer Fülle von Initiativen, die ohne Leitung von Amtsträgern den christlichen Glauben in der Gesellschaft zu heilsamer Wirkung zu bringen hofften und auch brachten 16 . Für das Gebiet der Seelsorge, bis dahin als die freie Tätigkeit des Pfarrers

12 Vgl. Evangelische Kirchenzeitung, hg. v. E. W. Hengstenberg, 1/1827, S. 305ff., „Kranken-Communionen" von L. Cd.; vgl. auch: R.Schmidt-Rost, Der Pfarrer als Seelsorger Fachmann oder professioneller Nachbar?, W z M 31/1979, S. 2 8 4 - 2 9 6 . 13 Vgl. C. Harms, Pastoraltheologie. In Reden an Theologiestudierende. Drittes Buch: Der Pastor, Kiel 1834. - Zur Konkurrenz zwischen Arzt und Seelsorger vgl. S. 59: „Wenn ich nicht wäre, was ich bin, und wenn ich von meiner Lust dazu dürfte auf mein Geschick dazu schließen, dann möchte ich ein psychischer Arzt, ein Irrenarzt s e y n . . . Es verhält sich ja wol mit meinen Amtsgenossen ungefähr eben so . . . " 14 Harms, a.a.O., S. 7. 15 Die Erfindung der Schnellpresse 1811 erbrachte eine wesentliche Erleichterung der Zeitschriftenherstellung. Vgl. dazu: R. Schmidt-Rost, Verkündigung in evangelischen Zeitschriften, Frankfurt 1982, S. 57ff. - Kennzeichen für die Bedeutung des Drucks und der Presse sind nicht nur die evangelischen Kirchenzeitungen und Gemeindeblätter, sondern auch die Arbeit der Bibelgesellschaften; erst recht kommt im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang die Bedeutung der Presse in der Strenge der Zensur in Deutschland nach den Karlsbader Beschlüssen zum Ausdruck (vgl. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 19752, S. 440ff.). 16 Vgl. M. Hennig, Quellenbuch zur Geschichte der Inneren Mission, Hamburg 1912; G.Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Stuttgart 1895; - Chr. Sachsse/F.Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Stuttgart 1980, S. 214—244; Zur Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 19.Jhs. vgl. Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 19842.

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am Rande der Pastoraltheologie 1 7 , sozusagen unter Verschiedenes' abgehandelt, wird nun eine Stelle und eine nähere Bestimmung gesucht. Dieser neue Wert der freien Tätigkeit des Pfarrers für die Einschätzung und Funktionszuweisung des Amtes in der Gesellschaft bringt die Notwendigkeit einer selbständigen Bearbeitung der Seelsorgelehre erst hervor. G a n z äußerlich organisatorisch zeigt sich diese veränderte Auffassung von der freien Tätigkeit des Pfarrers in einer Bemerkung von C . H a r m s zur Begründung des dritten Teils seiner Pastoraltheologie: Der Pfarrer hat neben seinen reformatorisch begründeten Amtspflichten als Prediger und Priester noch reichlich freie Zeit übrig 18 . Die Gestaltung dieser von Pflichten freien Zeit steht ebenso als Aufgabe am Anfang der modernen Seelsorgelehre wie die materielle und geistige N o t der Zeit. Die berufliche Existenz des Pfarrers ruht nicht mehr selbstverständlich auf dem Ansehen des Amtes als Teil der Gesellschaftsordnung. Die Ausdifferenzierung der Institutionen 1 9 läßt auch die Kirche zu einer eigenständigen, sich nach und nach in sich selbst immer weiter differenzierenden gesellschaftlichen Institution werden; der Amtsträger der Religion wird zu einem Funktionär organisierter Religion, zu einem ,Vertreter der Kirche'. Im gleichen Differenzierungsprozeß bildet sich auch eine Gegenüberstellung von Klerus und Laien heraus 2 0 , die, bei Schleiermacher auf dem Hintergrund herrnhutiVgl. G . Rau, Pastoraltheologie, München 1970, S. 94. U n t e r den Einsprüchen gegen die freie pastorale Tätigkeit des Pfarrers diskutiert C . H a r m s auch das Argument: „Man habe keine Zeit dazu: Ich entgegne" - antwortet H a r m s - : „Wenn Sie eine Predigerstelle b e k o m m e n , w o Sie nur jeden andern Sonntag zu predigen haben, es giebt, w o nur jeden dritten, und o b auch alle Sonntage, so kommen Sie bald dahin, daß Sie in zweyen Tagen, in Einem Tage eine Predigt concipiren und memoriren können. Wenn nun noch Ein Tag zugegeben wird, an welchem wir suchen, sammlen, sondern und was das Predigtmachen außerdem erfordert, sehen Sie, dann sind doch noch drey Tage übrig. Was die priesterlichen Handlungen betrifft, meistens erfordern die nur, daß man sich in eine priesterlicher Stimmung setze, wozu das G e b e t immer die besten Dienste thut. Ferner, carpe diem, carpe horam, Freunde, nehmen Sie das breve tempus in Acht, sammlen Sie die übrigen B r o c k e n , dann machen Sie selber die Zeit. Ich weiß, was ich sage, und denke daran, daß es mein eigener Stand ist, über den ich das sage: Giebt es einen Stand, in welchem sich so viele Müßiggänger finden? O , einen Prediger sehen, wie er bey jedem schönen Wetter auf seinen Koppeln herum schlendert mit seiner Pfeife Taback! dem man es so recht ansehen kann, daß er sich die Zeit v e r t r e i b e t ! . . . " (Pastoraltheologie [1834], 3. Bd., S. 2 0 f.). 17

18

1 9 Vgl. D . Rössler, D i e Vernunft der Religion, München 1975; W. D . Marsch, Institution im Übergang, Göttingen 1970. 2 0 Vgl. F. D . E . Schleiermacher, K u r z e Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe hg. v. H . Scholz, Darmstadt 1969 ( = K D ) .

D e r Gegensatz von Klerus und Laien beruht bei Schleiermacher keinesfalls auf einem besonderen bürgerlichen Stand des Kirchenregiments ( K D § 13), sondern auf der Beteiligung an der Aufgabe der Kirchenleitung ( K D § 3). Die Aufgabe der Kirchenleitung aber bildet sich am Hervortreten einer Theologie auf dem Niveau einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung der christlichen Glaubensweise, d . h . im Zusammenhang des Hervortretens selbständiger Kirchen ( K D §§ 2 und 3).

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scher Tradition formuliert, gerade nicht als Merkmal starrer Hierarchie, sondern als Zeichen für die Beteiligung der Laien am Gemeindeleben zu verstehen ist, wofür Schleiermachers prononciert individuell gefaßter Gemeindebegriff einen Beleg abgibt 21 . Das 19. Jahrhundert bietet eine Fülle von Reflexionsbemühungen zur Bestimmung der Aufgaben des Seelsorgers in seinem gebundenen und in seinem freien Handeln. Die besonders anfänglich deutlich konfessionelle Prägung einiger deutscher Beiträge zu diesem Thema22 ist als eine spezifische Form des Umgangs mit dem Problem der sozialen Differenzierung, als ein Orientierungsversuch unter religiösen Aspekten zu verstehen. Die Theorie des freien Handelns des Pfarrers im Amt profiliert sich in den im folgenden zu skizzierenden Reflexionen mehr und mehr als Theorie des Handelns am einzelnen, letztlich als spezielle Seelsorgelehre, als Theorie der „eigenthümlichen Seelenpflege" 23 . Eine Betrachtung der Pastoraltheologie und der wissenschaftlichen Seelsorgelehre an einigen Punkten ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert soll die Umstände und Gründe dieses Prozesses erläutern helfen. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Pastoraltheologie 24 , - in den lutherischen Kirchen des 17. und 18. Jahrhunderts als Amtslehre zur rechten Führung des Amtes, also gewiß nie ohne kritisch pädagogischen Impuls dargeboten in Konkurrenz zur praktischen Theologie als Wissenschaft nicht etwa als wissenschaftlich weniger strenge, praxisnahe Amtsanweisung, sondern als programmatische Option für eine Orientierung kirchlichen Handelns an der Tradition im Wandel der gesellschaftlichen Strukturen. Besonders deutlich wird der in diesem Sinn polemische Charakter der Pastoraltheologie in den Werken von C. Harms 25 und W. Löhe 26 , die jeweils spezifische Merkmale der religiösen Position, die sie vertreten, in ihren Reflexionen der Praxis zur Geltung bringen. So artikuliert C. Harms den Standpunkt der Erweckungsbewegung grundsätzlich in der selbständigen Darstellung Die Unterscheidung der „Hervorragenden" von der „Masse" ( K D § 267) verdeutlicht Schleiermacher mit einer Interpretation der Hervorragenden als den zur Kirchenleitung Begabteren ( § § 2 6 5 f f . ) , wobei in der ersten Auflage (S. 74, § 1 3 ) der Praktische Theologe mit einem Künstler verglichen wird, während in der 2. Auflage eine Einschränkung des Gegensatzes zwischen den Hervorragenden und der Masse ins Auge gefaßt wird. 2 1 Keim aller religiösen Gemeinschaftsbildung ist eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins (vgl. D. F. E. Schleiermacher, Glaubenslehre [1830 2 ] §§ 3 und 6), S. u. S. 42 f. 22 S.u. S . 3 7 f f . 23 C. I. Nitzsch, Praktische Theologie, Bd. 3,1 (1868 2 ). 2 4 Zur Pastoraltheologie insgesamt vgl. G. Rau, Pastoraltheologie (1970). 2 5 C. Harms, Pastoraltheologie (1834). 2 6 W . L ö h e , Der evangelische Geistliche, 1.Bändchen 1852, 2.Bändchen 1858, (Vierte mit der dritten gleichlautende Auflage: Erstes Bändchen 1872; dritte mit der zweiten gleichlautende Auflage: Zweites Bändchen 1876) Gütersloh.

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des „Pastors" neben dem „Prediger" und dem „Priester" und in der diese Stoffaufteilung noch vertiefenden Erwägung, die pastorale Funktion des Pfarrers zu verselbständigen. Auch in Einzelheiten seiner pastoraltheologischen Ausführungen kommt Harms' Auffassung deutlich zur Geltung, insbesondere in der auffällig piazierten und gestalteten Auffassung, der Pastor habe seine Gemeinde aufzusuchen, wenn sie nicht zu ihm komme, Umgang mit ihr zu pflegen: „Hingegen, und die einzige Art, wie ein Prediger sich nützlich machen, Kummer und Verdruß sich ersparen kann und statt dessen wahre Pastorenfreuden sich bereiten kann: der Umgang, Herr, der U m g a n g mit den Leuten, der thut es! Wenn Sie die Gemeindeglieder in den Häusern besuchen und w o Sie zusammentreffen mit ihnen, dann, da die Rede so leiten, das Gespräch so führen, daß der Verstand gebildet, das Herz veredelt werde, richtige Begriffe und gute Grundsätze hervorgebracht werden, und meinetwegen auch Frieden stiften, Trost sprechen, guten Rath ertheilen, oder was er giebt, die Schulen fleißig besuchen, das Armenwesen w o h l leiten - dieß, Freund, m u ß ich für die beste Art erklären, ja für die einzige, wie ein Prediger sich um seine Gemeinde wahrhaft verdient machen könne, zu unsrer Zeit, und die fortwährende Nutzbarkeit des Predigtamtes bestätigen." 27

Auch hofft Harms auf eine Blüte der Stadtmission 28 . Mit mildem Spott distanziert er sich von den wissenschaftlichen Bemühungen der Praktischen Theologie, gibt aber damit zu erkennen, daß er sich noch an ihr orientiert29. W. Löhe seinerseits hebt die Bedeutung des Amtes eindringlich hervor 30 , darin der konfessionell lutherischen Position mindestens ebenso verpflichtet wie E. W. Hengstenberg in seiner publizistischen Tätigkeit31. Ein Nachgehen und Nachgeben der Gemeinde und ihren Bedürfnissen gegenüber ist gerade in Grundsatzfragen strikt zu vermeiden, der Pfarrer steht als Hirte der 27

C. Harms, Pastoraltheologie (1834), 3. Bd., S. 2. Vgl. Harms, a.a.O., S. 8: „Ich hoffe, daß Sie noch werden in unsrer Kirche neben den pastoribus loci auch pastores ducatus, regionis, regni sehen." 29 Vgl. Harms, a.a.O., S. 10f.: „Wenn wir denn unser Pastorgebiet abtheilen wollen, - nach Begriffen oder gar nach Einem Begriffe geht's nimmer an, sey's ein bildlicher, Hirte, Fischer, Arzt, Gärtner, oder ein eigentlicher. Kaiser, . . . , giebt als solche die Pädeutik mit drey Unterabtheilungen: Diagnostik, Psychagogik, Kirchenzucht. Hüffell stellt den gesellschaftlichen Verband als das Princip auf und theilt in: Kirchenregiment und Seelsorge. Andre anders. Das ist seines Orts nun alles recht schön, auch außerhalb der academischen Palästra, mit seinen gymnastischen Übungen darf niemand aufhören, allein wir fragen doch, wozu eigentlich ein allgemeiner Begriff... in unsrer Sache nützen soll." 30 Vgl. G. Rau, Pastoraltheologie (1970), S. 272 u.ö.; Löhe spricht nicht selten vom „Heiligen Amt": vlg. z.B. 1.Bändchen 18724, S.VI: „Ein Titel wie ,Der lutherische Geistliche' hätte, abgesehen, daß man beim Versuch, ihn zu gebrauchen, ganz besonders spürt, wie wenig ein Menschenname zur Bezeichnung des heiligen Amtes paßt, verheißen, was nicht in der Absicht lag zu geben." 31 S. o. S. 34, Anm. 12. 28

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Gemeinde deutlich über ihr32. Alle Funktionen des Amtes können ihre nähere Bestimmung nur erhalten von der zentralen Aufgabe der Wortverkündigung her33. Als Beruf ist das Amt im Sinne Luthers zu verstehen, als eine weltliche Ordnung, in die der einzelne gerufen wird. Löhe konnte sich mit seinem Entwurf offenbar an religiösen Lebensverhältnissen orientieren, wie er sie in ihrer Stabilität in seinem fränkischen Wirkungskreis antraf34. In Tübingen herrschte demgegenüber nahezu gleichzeitig schon ein anderer Geist im pastoraltheologischen Denken, der Geist Christian Palmers in seiner württembergischen Mischung aus Entschiedenheit und Liberalität. Sein Beitrag zur Pastoraltheologie kommt der Auffassung vom Pfarramt als Beruf im modernen Sinn am weitesten entgegen, insofern er die Fassung der pastoraltheologischen Bildung mit der wissenschaftlich-theologischen durch eine ausführliche Verhältnisbestimmung in engen Zusammenhang bringt35, die Pastoraltheologie auch als Gegenstand akademischer Lehre empfiehlt 36 , die die pastorale Lebenserfahrung durch die Vermittlung sachgemäßer Begriffe vorzubereiten habe. Allerdings macht W. Steck zu Recht darauf aufmerksam, daß auch die meisten anderen Pastoraltheologien des 19. Jahrhunderts sich um eine systematische und darin durchaus wissenschaftliche Darstellung ihres Stoffes bemühen 37 . Aufschlußreich für die unterschiedlichen Auffassungen von Amt und Beruf des Pfarrers sind jedoch die Differenzen in der theoretischen Fassung des freien Handelns des Seelsorgers: In der funk32

Vgl. W. Löhe, Der evangelische Geistliche, 1. Bd. (18724), S. 83 ff. Vgl. die Aufteilung im 2. Bd. des „evangelischen Geistlichen" in der 1. und 3. Auflage: In der 1. Auflage liegt das Gewicht ganz überwiegend auf den Amtsverrichtungen, die die Wortverkündigung betreffen oder ihr dienen, Homiletik, Katechetik, Liturgik (S. 65 - 1 7 9 ) . Die Seelsorge erscheint auf nur fünfzehn Seiten am Schluß, im wesentlichen als Seelsorge an Kranken. In der dritten Auflage ist dieser Teil beträchtlich erweitert. 34 Vom Bewußtsein, in stabilen Verhältnissen zu leben, zeugt in Löhes Pastoraltheologie auch noch der Rat, „den reichen Schatz casuistischer Pastoraltheologien, Consilien und Bedenkensammlungen (nicht zu) verachten" (Der evangelische Geistliche 2. Bd., 18581, S. 192). Vgl. auch das Vorwort zur 1. Aufl., S. VI: „Der Standpunkt, von welchem aus geschrieben wurde, ist hauptsächlich der eines Landpfarrers in der Landeskirche." 35 Chr. Palmer, Art. Pastoraltheologie. Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Elfter Band. Gotha 18592, S. 175-186; ders., Evangelische Pastoraltheologie, Stuttgart I860 1 , 18632; die 2. Aufl. ist gegenüber der ersten stark systematisierend umgearbeitet und unterstreicht den Trend der Pastoraltheologie zur pastoralen Berufstheorie. 36 Vgl. Chr. Palmer, Art. Pastoraltheologie (zit. nach G. Krause [Hg.], Praktische Theologie, Darmstadt 1972, S. 89): „Wohl muß er (sc. der Theologiestudent) die rechten Erfahrungen erst selber machen; aber um überhaupt Erfahrungen machen zu können, muß man bereits einen Anfang gemacht, einen Grund gelegt haben; alle Erfahrung besteht aus reichen Zinsen, die man nur bekommt, wenn man mit einem geistigen Kapital in die Welt tritt." Vgl. auch in Palmers Pastoraltheologie (I860 1 ) S. 19f.: Wissenschaftliche Erkenntnis und Kenntnis der pastoraltheologischen Literatur sind notwendig für das Amt. 37 Vgl. W. Steck, Der Pfarrer zwischen Beruf und Wissenschaft, ThExN.F. 183, München 1974, S. 29 f. u.ö. 33

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tionalen Gliederung der Aufgaben des Pfarrers bei C. Harms ist Seelsorge eine der drei eigenständigen Funktionen, der Pfarrer ist Pastor wie er auch Prediger und Priester ist. Als Gesichtspunkt seelsorgerlichen Handelns steht der Umgang mit den Gemeindegliedern im Vordergrund, mit solchen, die nicht erreicht werden durch die öffentliche Ausübung des Amtes, und mit solchen, die dadurch nicht befriedigt werden 38 . Dem Amt aber wird weiterhin die Kraft zur Integration der verschiedenen Funktionen zugeschrieben. W. Löhe hingegen beläßt der Seelsorge den Ort und die Funktion, die sie in der pastoraltheologischen Tradition innehatte, am Rande, zwischen den Hauptsachen und dem Anhang 39 . Chr. Palmer faßt Sinn und Aufgabe der Seelsorge zusammen im seelsorgerlichen Habitus der „pastoralen Liebe" 4 0 , näher erläutert als das „persönliche Interesse für alle Individuen und Familien in der Gemeinde und deren Erlebnisse 41 . Diese von den anderen pastoraltheologischen Entwürfen charakteristisch abweichende Fassung der Seelsorgelehre bindet das Handeln des Seelsorgers an dessen persönliche Befähigung und an die jeweils gegebenen individuellen Verhältnisse des Gemeindelebens. Gerade in dieser Kombination von persönlicher Befähigung und differenzierter (liebe- und vertrauensvoller) Wahrnehmung der individuellen Gegebenheiten ist das Grundmuster moderner Berufe schon vorgezeichnet. Die vertrauensvolle, vom Berufsethos getragene Zuwendung zur Gemeinde als ganzer und zu den einzelnen bedarf der Versachlichung durch eine gegliederte Wahrnehmung der zur Seelsorge anvertrauten „Objecte" 4 2 , damit der Pfarrer seinen Beruf als Pastor ausüben kann 43 . Gemeinsam ist den genannten pastoraltheologischen Entwürfen, daß sie 3 8 Vgl. C . H a r m s , P a s t o r a l t h e o l o g i e (1834), 3 . B d . , S . X V : „ D r i t t e R e d e . D i e d u r c h u n s e r öffentliches A m t nicht erreicht w e r d e n , E n t f e r n t w o h n e n d e , S c h w a c h e , K r a n k e . " „ F ü n f t e R e d e . D i e d u r c h unser öffentliches A m t nicht befriedigt w e r d e n , in wissenschaftlicher, in erbaulicher, in m o r a l i s c h e r H i n s i c h t . . . " 3 9 Vgl. S. 38, A n m . 33. 4 0 C h r . Palmer, A r t . P a s t o r a l t h e o l o g i e (1859), S. 98. 4 1 Palmer, a . a . O . , S. 98.

Ebd. Palmer empfiehlt z u r O r d n u n g der speziellen S e e l s o r g e eine differenzierte B u c h f ü h r u n g b z w . Statistik über die Z u s a m m e n s e t z u n g der G e m e i n d e u n d über die A r t der A m t s t ä t i g k e i t in der speziellen Seelsorge, eine einfache F o r m der K i r c h e n k u n d e , jedenfalls m e h r als nur eine F ü h r u n g der K i r c h e n b ü c h e r : „ . . . i n den N a m e n , die er schreibt, repräsentieren sich ihm die P e r s o n e n . H i e r a u f w ü r d e es sich u m f o l g e n d e , in der Wirklichkeit g e g e b e n e O b j e k t e h a n d e l n : l . d i e J u g e n d in der G e m e i n d e . . . 2 . D i e E h e n . . . 3 . D i e A r m e n . . . 4 . D i e V e r k o m m e n e n , Verwahrlosten aller A r t unter J u n g e n u n d Alten. - 5. D i e religiös A n g e f o c h t e n e n und Z w e i f e l n den. - 6. D i e K r a n k e n . . . 7. G e i s t e s k r a n k e , Wahnsinnige, B e s e s s e n e etc. - 8. G e f a n g e n e , M a l e f i k a n t e n . . . 9. P r o s e l y t e n . . . 10. R e l i g i ö s e G e m e i n s c h a f t e n ; religiöse B e w e g u n g e n . - 11. Politische B e w e g u n g e n u n d Parteiungen. - 12. Teilnahme des P a s t o r s an bürgerlichen A n g e l e g e n h e i ten, z . B . Wahlen z u G e m e i n d e ä m t e r n ; E i n f l u ß auf P r o z e s s e " (ebd.). 42 43

39

den Pfarrer auf seine Aufgaben vorbereiten wollen aus der Erkenntnis heraus, daß das Amt allein die Formen für seinen Vollzug nicht mehr mit ausreichender Bestimmtheit vorgebe. Indem sie sich aber von einer wissenschaftlich-analytischen Darstellung der pastoralen Berufsaufgabe auf die eine oder andere Weise abzusetzen versuchen, geben sie ihre eigentliche und Hauptintention zu erkennen: Die Präsentation eines Gesamtsinnes des kirchlichen Amtes in einer sich fortschreitend differenzierenden Welt; Harms entfaltet diese Präsentation in den traditionellen Aufgaben von Prediger und Priester und in der Intensivierung der persönlichen Umgangs- und Begegnungsformen in der Gemeinde, Löhe zentriert sie in der Verkündigung und Palmer betont die ethische Verantwortung des Pastors und entfaltet sie material. In dieser Betrachtungsweise erscheint die Pastoraltheologie des 19.Jahrhunderts keineswegs als eine berufsbezogene, vergleichsweise schlichte Lehre von den pastoralen Aufgaben im Gegenüber zu den elaborierten Systemen einer wissenschaftlichen praktischen Theologie. Gerade in ihrer systematisch differenzierenden Form bei Löhe und Palmer zeigt sie sich als eine an Wissenschaft orientierte Ordnung pastoraler Lebenserfahrung, die dem Sinn der religiösen Funktion in einer christlichen Gesellschaft nachdenkt und nachzudenken aufgibt; die Blüte dieser Pastoraltheologie kann demnach als Versuch aufgefaßt werden, eine christliche Gesellschaft durch das Amt zu rekonstruieren. Die Arbeit der wissenschaftlichen praktischen Theologie aber ist nicht weniger berufsorientiert als die Pastoraltheologie; in einem strikten Sinn moderner Professionen ist die wissenschaftliche praktische Theologie sogar viel eher als ein Berufswissen anzusprechen, als eine „theoretical knowledge", denn die gesammelte Lebenserfahrung der Pastoraltheologie 44 . Mit W. Steck sind Pastoraltheologie und praktische Theologie also in der Tat „hinsichtlich der verschiedenen Theoriestruktur zu unterscheiden, in der praktische Wirklichkeit gedeutet und zu ihrer Wahrnehmung angeleitet wird" 4 5 . U b e r Steck hinaus ist aber von der Pastoraltheologie mehr zu erwarten, als die „scheinbar zeitlose(n) Prämissen (der Praktischen Theologie) ihres Ewigkeitswertes zu entkleiden und sie als das zu enthüllen, was sie wirklich sind: Ausdrucksformen eines wissenschaftlichen Bewußtseins, das weit mehr den Bedingungen seiner Zeit unterliegt, als es selbst wahrzunehmen imstande ist" 4 6 . Gerade im Eintreten für eine Lebensform 4 7 , die des Pfarrers im Amt, erweist sich die Pastoraltheologie des 19. Jahrhun44

H . Daheim, Der Beruf in der modernen Gesellschaft (1970 2 ), S. 40.

W. Steck, Die Wiederkehr der Pastoraltheologie, in: P T h 7 0 / 1 9 8 1 , S. 26. 4 6 Steck, a.a.O., S. 27. 4 7 Zur Orientierung der Pastoraltheologie an einer gegebenen Lebensform gehört auch die Anerkennung ihrer regionalen und temporalen Begrenzung (vgl. Chr. Palmer, Pastoraltheologie, 1 8 6 0 \ S . V I I I f . ) . 45

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derts als ein Theorietyp, der in anderen Gestalten und Bezeichnungen neben der praktischen Theologie und in verschiedenen Verbindungen mit ihr immer weiterexistiert hat und dabei jeweils eine bestimmte Lebensform zu fördern bestrebt war, mit eher konservierender Tendenz in E. Sulzes „Seelsorge-Gemeinden" oder in der Dorfkirchenbewegung, in der Orientierung an Veränderungen der Lebensbedingungen ζ. B. in den Vereinen der Inneren Mission, in den Initiativen des Evangelisch-sozialen Kongresses oder in der Industrie-Seelsorge48. Im Kontrast zu einer auf wissenschaftlich-analytischen Kenntnissen aufgebauten speziellen Berufstheorie des Seelsorgers49 verstanden sich diese Initiativen als Beiträge zu einer generellen Seelsorge. Sie orientierten sich wie die Pastoraltheologien an gegebenen Lebensformen, die sie als Vorbilder ihrer Entwürfe für eine christliche, soziale Weltgestaltung wählten. Auch sie versuchten, sich an einem Gesamtsinn der religiösen Institutionen in der Gesellschaft auszurichten, statt sich diesen Sinn von einer Wissenschaftlichkeit zuschreiben zu lassen, die als analytisches Ordnungsprinzip in die soziale Ordnung der Berufe und Institutionen eingedrungen war. Zur Erläuterung dieser zweibahnigen Entwicklung, der Herausbildung einer speziellen Seelsorgelehre im Medium der Wissenschaft und einer generellen Seelsorge in der Gestalt sozialer Initiativen ist nun zunächst die Theorie der speziellen Seelenpflege, wie sie sich im 19. Jahrhundert als Grundtyp heutiger Seelsorgelehre entwickelt hat, von ihrem Entstehungszusammenhang und ihren wesentlichen Merkmalen her zu charakterisieren. Anschließend wird E. Sulzes Programm als Versuch einer Verbindung von genereller und spezieller Seelsorge vorzustellen sein.

2. Die Entwicklung einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin Poimenik als „Theorie der individuellen Seelenpflege" Die Arbeiten zur Pastoraltheologie im 19. Jahrhundert wurden im vorangehenden Abschnitt interpretiert als Versuche, Tradition in Gestalt überlieferter Strukturen kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens im Wandel der sozialen Verhältnisse zu bewahren. Als Subjekt dieser Theorien kam gerade wegen der Traditionsorientierung nur das Amt des Pastors in Frage. Die wissenschaftliche Systematisierung der Poimenik als einer selbständigen Disziplin, die in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit der Blüte der 4 8 Zu E. Sulzes Seelsorge-Gemeinden und den anderen Initiativen einer generellen Seelsorge vgl. u . S . 67 ff. 49

Vgl. H . Daheim, Der Beruf (1970), S. 39ff.

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Pastoraltheologie im 19. Jahrhundert verläuft, stellt sich der gleichen Aufgabe, „das kirchliche Leben zu heben", in einer ganz anderen theoretischen Gestalt, damit aber offensichtlich auch von ganz anderen Voraussetzungen aus50. Ihre Entwicklung setzt ein und wird möglich durch die ausdrückliche Thematisierung des einzelnen im Gegenüber zur Gemeinschaft; diese Gegenüberstellung findet sich im Zusammenhang einer ekklesiologischen Theorie, die die Kirche als Gemeinschaft der frommen Individuen charakterisiert, eine Gemeinschaft, die sich in der gottesdienstlichen Gemeinschaft aktualisiert. Alle kirchliche Tätigkeit geschieht zu dem Zweck, daß das religiöse Gesamtleben in der Gemeinde immer klarer zur Erscheinung gebracht werde 51 . Sie ist stets auf den einzelnen gerichtet, sie ist deshalb auf jeden Fall „Seelenleitung". Die Unterscheidung einer speziellen Seelsorge zur Rückführung des aus dieser Gemeinschaft Gefallenen zurück in die „Identität mit der Gemeine" ergibt sich demgegenüber nur als eine den Zufällen des Lebens entsprechende Notwendigkeit. Sie bildet den Ausnahmefall52. Diese Ekklesiologie erfaßt die Veränderungen der empirischen Gesellschaft und der Gemeinschaft der Kirche unter kritischen Bedingungen vorwiegend als Problem des einzelnen. Erst im Rahmen einer solchen Kirchentheorie, die die Selbständigkeit des frommen Individuums hervorhebt, wird 50 A. Schweizer, Ueber die wissenschaftliche Constructionsweise der Pastoraltheologie oder Theorie der Seelsorge, ThStKr 11/1838, S. 7. Schweizer sieht seine wissenschaftlichen Bemühungen als Ausdruck seines praktischen Interesses: „Daß aber gerade die wissenschaftliche Construction der Theorie zur seelsorgenden Praxis nöthig sey, können nur diejenigen bezweifeln, welche überhaupt meinen, es gebe ein sicheres Handeln, ohne daß sein Begriff aufgefaßt sey, und es gebe ein Wissen um einzelne Dinge, ohne daß deren organischer Zusammenhang mit allem übrigen dazu Gehörigen ebenfalls erkannt werde" (Schweizer, a.a.O., S. 7f.). 51 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung (Scholz, 1969), S. 101: „§ 263. Da aber alle besonnene Einwirkung auf die Kirche, um das Christentum in derselben reiner darzustellen, nichts anders ist, als Seelenleitung; andere Mittel aber hiezu gar nicht anwendbar sind, als bestimmte Einwirkungen auf die Gemüter, also wieder Seelenleitung: so kann es, da Mittel und Zweck gänzlich zusammenfallen, nicht fruchtbar sein, die Regeln als Mittel zu betrachten, sondern nur als Methoden". 52 F. Schleiermacher, Kurze Darstellung (Scholz, 1969), S. 112, § 17 im Dritten Teil nach der 1. Aufl. „Die einzelnen können nur insofern Gegenstand einer besonderen klerikalischen Tätigkeit werden, als sie sich nicht in der Identität mit der Gemeine befinden." Zur Interpretation des Kirchenbegriffs in der Theologie F. Schleiermachers vgl. bes. T. Rendtorff, Theologie und Kirche, Gütersloh 1966; D. Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1975; W.-D. Marsch, Institution im Ubergang, Göttingen 1970. Vgl. auch F. Schleiermacher, K D § 299 Zusatz. Die Ungleichheit eines „Mitgliedes der Gemeine" (S. 114) ist immer vorhanden, sofern es unter den gleichen nie völlige Gleichheit gibt, diese vielmehr nur das „Kleinste der Ungleichheit ist" (S. 115), die zufällige Ungleichheit hingegen ist Anlaß und Gegenstand der Seelsorge.

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eine spezielle Seelsorgelehre erforderlich, und je weniger die empirischen Verhältnisse die ideale Höhe des Kirchenbegriffs bewahren, um so breiter wird die Poimenik entfaltet. In der Spannung zwischen ekklesiologischem und anthropologischem Moment der Seelsorgelehre muß im Zusammenhang der Entwicklung der Lebensverhältnisse im 19. Jahrhundert ein Grundzug der speziellen Seelsorge gesehen werden, der auch heute noch wirksam ist, wobei sich die spezielle Seelsorge sachlogisch stets in einem Trend gegen ihre ekklesiologische und praktisch-kirchliche Verankerung befindet, indem sie zunächst die Eigenständigkeit und dann sogar die Eigentümlichkeit des Individuums zum Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung nimmt, sich empirisch begründet und damit das System-Denken Schleiermachers hinter sich läßt53.

a) Die Verselbständigung des frommen im Organismus der

Subjekts

Gemeinde

Der reale Ansatzpunkt für eine Theorie der Seelsorge ist noch nicht mit der Berücksichtigung des einzelnen und seines Verhältnisses zur Gemeinschaft der anderen frommen Individuen allein gegeben. Von der Entwicklung einer Seelsorge-Theorie im modernen Sinn kann man erst unter der Voraussetzung sprechen, daß der Kirchenbegriff das Verhältnis zum einzelnen in bezug auf Identität und Nicht-Identität nicht mehr organisch umgreift und nur noch als Rahmen fungiert. Der einzelne erscheint aus seiner Bindung an die kirchliche Gemeinschaft herausgelöst, als Selbständiger. Seine persönlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen begründen nicht mehr allein die Stufen der Identität und Nicht-Identität mit der Gemeinde, sondern lassen auch eine kategoriale Nicht-Identität denkbar werden. Die persönlichen Eigenschaften des einzelnen gewinnen damit an Bedeutung 54 . Die Frage nach der Christlichkeit des einzelnen wird bei A. Schweizer in ihrer prinzipiellen Denkmöglichkeit zum Kriterium der systematischen Unterscheidung von

53 In F. Wintzers Kommentar zur Seelsorgelehre Schleiermachers (Seelsorge [1978], S . X I X ) bleibt der Sachzusammenhang zwischen dem Defizienz-Modell in der Formulierung der KD und der „realistischen Sicht des Menschen" in der Poimenik der Praktischen Theologie uninterpretiert. Das Defizienz-Modell wird doch aber offenbar in der späteren Anschauung Schleiermachers verallgemeinert, nicht abgelöst, wenn die Mängel und Gebrechen eines jeden Gemeindegliedes zur Behandlung in Betracht gezogen werden. Gerade die Orientierung am DefizienzModell ermöglicht die Akzentverschiebung von der Ekklesiologie zur Anthropologie, die die Entwicklung der speziellen Seelsorge-Lehre und der damit verbundenen „Vollkommenheitsideologie" (ebd.) entscheidend förderte. 54 In einer für die Theoriebildung bedeutsamen Weise ist dies erst bei C. I. Nitzsch der Fall.

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Seelsorge und Halieutik 5 S . Die Verselbständigung der poimenischen Theoriebildung antwortet auf das mit dem Begriff der inneren Mission bezeichnete Problem, auf den Mangel an Ubereinstimmung zwischen der an Organismus-Vorstellungen orientierten Ekklesiologie und der Realität fortschreitenden Zerfalls der Gemeinden 5 6 , der aber nicht nur als kirchliches Phänomen, sondern als Merkmal sozialen Wandels in der Industriegesellschaft allgemein spürbar wird; der „Verfall des öffentlichen Lebens" 5 7 ruft in Gestalt der poimenischen Theorie eine theologische Reflexion des Umgangs mit den einzelnen Menschen in einer Situation hervor, die gekennzeichnet ist durch fortschreitende Privatheit des einzelnen, Ausgrenzung und eigenständige Organisation gesellschaftlich relevanter Kräfte wie Religion und Recht und deren komplementärer Verinnerlichung im Individuum 58 . Die wissenschaftliche Konstruktion der kirchlichen Tätigkeiten oder des kirchlichen Lebens in praktisch-theologischer Systematik soll als Mittel gegen die Auflösung der Kirche in einzelne Religionsgesellschaften dienen 59 , will die Einheit kirchlicher Praxis, die mangels Durchsichtigkeit des inneren Lebens des einzelnen Menschen und aufgrund der Vielfalt gesellschaftlicher Veränderungen der unmittelbaren Erfahrung nicht mehr zugänglich ist, wenigstens in der wissenschaftlichen Betrachtung sicherstellen. Zwar sieht sich A. Schweizer in seiner Studie „Ueber die wissenschaftliche Constructionsweise der Pastoraltheologie oder Theorie der Seelsorge" schon mit dem Gedanken konfrontiert, daß „der Staat total indifferent gegen den Glauben und die Religion der Bürger würde, also der E i n = oder Austritt aus einer Religionsgesellschaft in die andere keinerlei Folgen hätte im bürgerlichen Leben" 6 0 ; auch stellt er sich die Konsequenzen einer solchen Entwicklung deutlich vor Augen: „in dieVgl. A. Schweizer, Constructionsweise (1838), S. 3 1 - 3 5 . D. Rössler (Rekonstruktion des Menschen, 1973) hat zwar mit seiner Interpretation sicher darin recht, daß sich das therapeutische Denkmodell in der beratenden Seelsorge begrifflich auf Schleiermacher berufen kann und beruft, es ist aber mit Schleiermachers Gemeindebegriff nicht vereinbar, den einzelnen als Seelsorge-Objekt zu isolieren. Gewiß zielt Schleiermachers Seelsorge auf das Ganze auf dem Weg über den einzelnen (vgl. Rössler, a.a.O., S. 400), aber gerade deshalb kollidiert die anthropologische Deutung des Bedürfnisses als Leidensdruck mit Schleiermachers ekklesiologisch orientierter Seelsorge-Auffassung. 5 7 Vgl. R. Sennet, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, dt.Frankfurt 1983, bes. Teil III. „Die Erschütterung des öffentlichen Lebens im ^.Jahrhundert", S. 147ff. 5 8 Der einzelne Mensch muß auch in der praktischen Theologie zunächst prinzipiell als in „bloßem Naturzustand" befindlich gedacht werden; als solcher ist er Gegenstand der Halieutik. Aufgabe der Seelsorge ist es, die „vom göttlichen Geiste geheiligten Seelen" „in der kirchlichen Gemeinschaft immer mehr z« befestigen..., jede nach ihrem Bedürfnisse" (A. Schweizer, Constructionsweise [1838], S. 39). 5 9 Vgl. ebd. „Hier zeigt sich nun, was Hüffell Richtiges vorbringt, aber nicht richtig anwendet, wenn er will, ,daß das Pastorale immer von der Ansicht des Vereins ausgehe'." 6 0 Schweizer, a.a.O., S. 34. 55

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44

sem Falle würde aus unsrer Kirche förmlich austreten, wer einen Widerwillen gegen sie fühlte, und eben so hätte dann die Kirche wieder das Recht der Exkommunication" 61 . Aber Schweizer ist noch nicht bereit, die Lage der Kirche in diesem strikten Sinne als eine missionarische Situation zu deuten: „Wer nicht förmlich aus der Kirche tritt, ist Gegenstand der Seelsorge, qualificirt sich auch selbst als solchen, und der Geistliche behandelt ihn pastoral;... denn es ist überhaupt unter Christenvölkern nicht möglich, daß ein Individuum jedes Bewegtseyn von christlichem Geiste verlieren könnte" 62 . Der Zusammenhang von Christentum und Gesellschaft ist offenbar weiterhin im Sinne eines Gesamtorganismus gedacht63. Die Beweislast für die Christlichkeit der Gesellschaft aber trägt, jedenfalls im Zusammenhang der Seelsorgetheorie, doch schon der einzelne, was sich natürlich erst in dem Moment zeigt, wo nach entsprechenden Beweisen gefragt wird: „Da das innere Leben der Christen nicht durchsichtig ist, da es in ihm nur unendliche Abstufungen gibt zwischen dem völlig erstorbenen und dem kräftig lebenden, so könnte ja nirgends der Punkt fixirt werden, wo das Christliche anfinge völlig zu verschwinden, also an nichts Christliches mehr angeknüpft werden könnte" 64 . Jeder einzelne muß deshalb aber auch seelsorgerlich betreut werden, das „Pastoralgebiet" kann nicht mehr nur als Ergänzung zum „Cultus" angesehen werden, „die Bessern in der Gemeinde" sind für die „seelsorgende Wirksamkeit des Geistlichen" nicht mehr „bloße Nullen" 65 . Die private Einwirkung auf die einzelnen tritt selbständig neben den Cultus als öffentlicher Einwirkung, rechnet also offenbar mit einer Ergänzungsbedürftigkeit des Cultus von prinzipieller Art, nicht nur im Ausnahmefall. Die weiteren Begründungen für diese Verselbständigung des Pastoralgebietes neben der Differenz zwischen öffentlicher und privater Einwirkung beziehen sich wiederum auf die individuelle Ausprägung des Christenstandes: „Soll nun offenbar der Geistliche Allen etwas seyn, auch außerdem Cultus, muß er ferner schon darum alle Einzelnen behandeln, weil er ihnen nicht zum Voraus ansieht, ob sie unter die Gleichheit mit den Uebrigen herabgesunken seyen oder nicht; bedenkt man endlich, daß es keinen fixen Unterschied gibt zwischen Kranken und Gesunden, sondern nur allmähliche Abstufungen: so muß die Entscheidung dahin ausfallen, daß alle Einzelnen Gegenstände der Seelsorge seien"66. Die Konstitution einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin der 61 62 63 64 65 66

Schweizer, a.a.O., S. 34. Ebd. Vgl. Schweizer, a.a.O., S. 35 u.ö. Schweizer, a.a.O., S. 34. Schweizer, a.a.O., S. 30. Ebd.

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Seelsorge wird somit interpretiert als ein Versuch, die anspruchsvolle Vorstellung von einer freien christlichen Frömmigkeit in einem gesellschaftlichen Gesamtorganismus zu bewahren, ohne das Scheitern dieses idealen Kirchenbegriffs an den Klippen der Realität zu übergehen: A.Schweizer bestimmt deshalb ähnlich wie C. I. Nitzsch und A. Liebner die Kirche als Subjekt der Praktischen Theologie 67 . Dadurch kann die Gemeinde außerhalb des Cultus, der Realität entsprechend, als aus einzelnen bestehend betrachtet werden, ohne die theoretisch im Kirchenbegriff gesicherte Gemeinschaft zu gefährden. Schleiermachers Sorge um die Nicht-Identität des einzelnen kann dann bei Schweizer zur Privatseelsorge umgeformt werden, ohne Einbußen an öffentlicher Relevanz der Seelsorge zu befürchten 68 . Insgesamt sucht gerade Schweizer ganz augenscheinlich den sachlichen Anschluß an Schleiermachers Enzyklopädie zu wahren, den OrganismusGedanken als die sachgemäße Vorstellung von Kirche zu konservieren, und doch bietet er in seiner Systematik eine Fülle von Differenzierungen und Abgrenzungen, die zu einer spezialisierten Theoriebildung kirchlicher Seelsorge-Praxis führen müssen, sobald die Organismus-Vorstellung ihre Prägnanz mangels praktischer Entsprechungen verliert. Eine für die weitere Entwicklung der Poimenik folgenschwere Unterscheidung wurde schon beiläufig zitiert: Schweizer kennzeichnet die Benutzung des Begriffspaares 6 7 Als Klippen der Realität kommen aber nicht nur die innerkirchlichen Verfallserscheinungen in Frage, denen die Innere Mission zu begegnen sucht, bzw. die sie als solche überhaupt erst in den Mittelpunkt kirchlichen Interesses gestellt hat, sondern auch die durch die äußere Mission gegebene Erweiterung des gesellschaftlichen Horizonts: „Weiden und hüten kann man erst die Seelen, welche, sie mögen nun Schafe oder Lämmer genannt seyn, was Harms zu sehr trennen will, vorher aus der chaotischen Menschenwelt in den Organismus des Gottesreiches heraufgeführt, also schon Christi Lämmer geworden sind" (Schweizer, a.a.O., S. 32). Zur Orientierung der praktisch-theologischen Theoriebildung an der Kirche als Subjekt vgl.: C. I. Nitzsch, Ad theologiam practicam felicius excolendam observationes. Bonnae 1831; ders., Praktische Theologie, 3 Bde., Bonn 1847ff.; Th. A. Liebner, Die praktische Theologie, in: ThStKr 16/1843, S. 6 2 9 - 6 5 8 . 68 Diese Auffassung von der öffentlichen Bedeutung der privaten Seelsorge gegen die drükkende Realität ins Feld zu führen, wurde um so beliebter, je instabiler die öffentliche Verfassung der Kirche empfunden wurde. In diesem Sinn ist auch der Hinweis auf die Erwartungen an die Seelsorge in der Umfrage „Wie stabil ist die Kirche?" (H.Hild, 1974, S.234f. u.ö.) als ein problematisches Argument für die öffentliche Anerkennung der Kirche kritisch zu betrachten. Es spricht sich in der Nachfrage nach Seelsorge möglicherweise gerade die Anerkennung dafür aus, daß es Kirche seit der Aufklärung verstanden hat, die Privatheit der Religion separat zu verwalten. Der gewisse Stolz über die Nachfrage nach Seelsorge in kirchlichen Planungsteams und eine dementsprechende Planungs- und Organisations-Programmatik verknüpfen sich sachlich unzutreffend mit der Erwartung auf wachsende öffentliche Bedeutung der Kirche, wenn dieser Nachfrage entsprochen werden könnte. Der Hinweis von J. Matthes (Volkskirchliche Amtshandlungen, Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance?, Gelnhausen 1975, S. 111), daß eine inhaltliche Neuorientierung der Seelsorge notwendig sei, wird im allgemeinen nicht berücksichtigt oder als Impuls zur psychologischen Kompetenzerweiterung aufgefaßt.

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,krank—gesund' in der Seelsorgelehre als unsachgemäß und weist auch die Einteilung der Pastoraltheorie in Diagnostik und Therapeutik ab, weil diese Begriffe „wegen ihrer medicinischen Heimath zu sehr verleiten, nur an kranke Objecte der Seelsorge zu denken" 6 9 . Aber indem er die allgemeinen Korrelate zu diesen Begriffen, Aufsicht und Behandlung, übernimmt und überhaupt nach individuellen Bedürfnissen fragt, läßt er erkennen, daß er das medizinische Denk- und Handlungsmodell mit seinen „allmählichen Abstufungen" der individuellen Zustände doch für geeignet hält, den OrganismusGedanken mit der Intention einer Förderung individueller Eigenständigkeit zu verbinden, zumal der Begriff der Behandlung zur Integration älterer Formen kirchlicher Seelsorge am einzelnen, Kirchenzucht und Erziehung, sich ihm als dienlich erweist 70 . Es deutet einiges darauf hin, daß die Bedeutung des Gesundheitsbegriffs für die moderne Seelsorgelehre in dieser historischen Konstellation eine Wurzel hat, daß also dieser Begriff eine Funktion für die Poimenik als übergreifender Kategorie zur organischen Verbindung sozialer und individueller Perspektiven kirchlichen Handelns gewonnen hat. Der Krankheitsbegriff leistet, besonders wenn er sich auf Symptome bezieht, denen keine organischen Korrelate zuzuordnen sind, die vielmehr von ethischen oder psychischen Gegebenheiten her beschrieben werden, die Einordnung des einzelnen in die Gesellschaft bei maximaler - scheinbarer - Förderung der Individualität 71 .

b) Die „Eigenthümlicbkeit des Seelsorgepfleglings" als wissenschaftlichanthropologische Grundstruktur der Poimenik ba) Der Seelsorger als Menschenbildner Hatte A. Schweizer in seinem Konstruktionsversuch den ekklesiologischen Rahmen in der Seelsorgelehre auch als inhaltlich bestimmende Grundstruktur zu erhalten sich bemüht 72 , so fällt diese Orientierung bei C. I. Nitzsch faktisch aus; Kirche bildet nur noch den Funktionsrahmen 7 3 für eine sachlich nach ganz anderen Gesichtspunkten konstruierte Seelsorgetheorie. HinweiA. Schweizer, Constructionsweise (1838), S. 44. Ebd. 71 Vgl. dazu Kap. 3. 72 Vgl. Schweizer, a.a.O., S. 8: „Die ganze praktische Theologie ist Theorie oder Kunstwissenschaft von den kirchlichen Thätigkeiten, wobei, um sie von der sogenannten theoretischen zu unterscheiden, näher beizufügen ist, sofern sie einen bestimmten Organismus hervorrufen oder in demselben sich bewegen, also von den organischen Thätigkeiten des kirchlichen Lebens." 73 Mit dem Begriff des „actuosen Subjekts", mit dem Nitzsch der Kirche im Rahmen seiner praktischen Theologie die zentrale Stellung zuweist, leistet er einen wesentlichen Beitrag zur 69

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se auf deren Eigenart geben im Anschluß an Schweizers System-Entwurf zunächst die Verhältnisbestimmungen der Seelsorgelehre zur Inneren Mission und zur Pastoraltheologie. Hatte Schweizer in beiden Richtungen noch deutliche Grenzen markiert, indem er die Innere Mission ( - wohl im Anschluß an Schleiermacher - ) als Kirchendienst angesichts der volkskirchlichen Verhältnisse ausschloß 74 und der Pastoraltheologie gegenüber eine differenziertere wissenschaftliche Systematik aufbot, ja diese Systematik zur entscheidenden Grundlage sicheren seelsorgerlichen Handelns bestimmte 75 , so kommt Nitzsch - gewiß auch angesichts weiter fortschreitender Veränderungen in den Lebensverhältnissen 7 6 -jeweils zu modifizierten Lösungen: Die Innere Mission wird mit der diakonischen Sorge um das Wohl des Menschen mittels der Idee der Erziehung unter den Oberbegriff der Bildung zusammengefaßt, der Nitzschs zentrale Auslegung des Begriffs der individuellen Seelenpflege darstellt 77 . Nitzsch gelingt dank dieses idealen Begriffs von Bildung eine Systematisierung der kirchlichen Tätigkeiten von Seelsorge und Diakonie, deren Produktivität und Erklärungskraft der pragmatischen Verbindung unter dem Stichwort,Hilfe', wie sie für die Poimenik der Gegenwart charakteristisch ist, nachgerade spottet. Das Amtsverständnis erscheint gegenüber A. Schweizers Entwurf noch weiter verblaßt, wie sich exemplarisch an der begrifflichen Fassung der speziellen Seelsorge zeigt: „§.440. Eigenthümliche Pflege der Seelen oder specielle Seelsorge ist die amtliche Thätigkeit der christlichen Kirche, welche der Erhaltung, Vervollkommnung, Herstellung des geistlichen Lebens wegen auf das einzelne Gemeindeglied gerichtet ist, folglich nach den eigentümlichsten persönlichen Zuständen und Bedürfnissen bemessen sein und am meisten vom ganzen persönlichen Eindrucke des Seelsorgers unterstützt werden muß." 7 8

Die Vorstellung, die hier von der Seelsorge als einer Funktion kirchlichen Handelns überhaupt entwickelt wird, läßt die amtliche Beauftragung des Seelsorgers in ihrer Bedeutung für die Gestaltung seiner Tätigkeit so weit zurücktreten, daß sich hier schon die Konturen einer Profession im moder-

wissenschaftlichen Verselbständigung kirchlichen Lebens gegenüber dem gesellschaftlichen Leben, bewirkt damit aber zugleich auch eine Abstraktion von den realen Verhältnissen. S. o. S. 45. S.o.S.42. 7 6 Nitzschs Interesse an Geschichte und Zeitgeschichte wurde schon vorgestellt (s. o. S. 32), sein Sensorium für zeitgeschichtliche Wandlungen hat ihn bei der Gestaltung seines Praktischtheologischen Systems und zu einem solchen Entwurf überhaupt zweifellos mit angeregt. 74 75

77 Vgl. C . I . Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege (1868) § 4 1 6 , S. 17 und §§485f., S. 202 ff. 78

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Nitzsch, a.a.O., S. 7.

n e n S i n n e eines freien B e r u f s a b z u z e i c h n e n b e g i n n e n 7 9 . N i c h t v o n u n g e f ä h r k a n n m a n a u c h s c h o n ä h n l i c h w i e bei A . S c h w e i z e r das A n l i e g e n e r k e n n e n , eine S t a n d e s e t h i k z u e n t w e r f e n , die sich a u f die g e o r d n e t e F ü h r u n g

des

A m t e s r i c h t e t . Vielfältig ist v o n T ä t i g k e i t e n u n d V e r r i c h t u n g e n , v o n H a n d 80

l u n g e n u n d v o m W i r k e n die R e d e , das n u r A m t l i c h e w i r d a b e r h i n s i c h t l i c h d e r s e e l s o r g e r l i c h e n W i r k u n g g e r a d e in G e g e n s a t z g e b r a c h t z u d e r v o r b i l d l i c h s t e n K r a f t d e r S e e l s o r g e , z u r P e r s ö n l i c h k e i t : „ d e n n s o g e w i ß ein A n s e h n , w i e d e s W i s s e n s s o des Seins, z u m f r a g l i c h e n W i r k e n g e h ö r t , s o v e r m a g es d o c h als ein v o n d e r P e r s ö n l i c h k e i t G e t r e n n t e s , als ein b l o ß

Amtliches,

Staatliches, Gesetzliches, n u r Gesetzlichkeit, unfreie Z u c h t u n d E h r b a r k e i t hervorzubringen, o d e r m u ß im andern Falle d u r c h Fehler der Persönlichkeit heillosen A b z u g erleiden"81. In d i e s e n b e i d e n B e s t i m m u n g e n , d e r b e g r i f f l i c h e n V e r k n ü p f u n g v o n seels o r g e r l i c h e r u n d d i a k o n i s c h e r F ö r d e r u n g des I n d i v i d u u m s u n d d e r U m p r ä g u n g d e s A m t e s z u m B e r u f , ist die G r u n d f i g u r d e r m o d e r n e n

Poimenik

a u f g e z e i c h n e t , die in d e n v e r s c h i e d e n s t e n V a r i a t i o n e n e r k e n n b a r bleibt u n d die M ö g l i c h k e i t z u r O r i e n t i e r u n g d e s S e e l s o r g e r s an d e m p r o f e s s i o n a l i s i e r t e n B e r u f p a r e x c e l l e n c e , z u m A r z t , e r ö f f n e t . D a ß eine O r i e n t i e r u n g an d i e s e m B e r u f s c h o n a u f N i t z s c h s A m t s v e r s t ä n d n i s z u g u n s t e n einer U m g e s t a l t u n g i m Sinne einer P r o f e s s i o n g e w i r k t h a b e , m u ß t r o t z d e r z e i t i g e n F a s z i n a t i o n 7 9 Vgl. H.Daheim, Der Beruf in der modernen Gesellschaft (1970). - H. Kairat, „Professions" oder „Freie Berufe?". Professionales Handeln im sozialen Kontext, Berlin 1969. Th. Luckmann/W.-M. Sprondel (Hg.), Berufssoziologie, Köln 1972 (bes. Teil I und III). H. Kairat expliziert als die beiden „Grundvariablen professionalen Handelns" die „Zentralwertbezogenheit" und das „systematisierte Fachwissen" (S.20ff.). Das systematische Wissen ist nicht allgemein zugänglich, sondern einem Kreis von Fachleuten vorbehalten (S.29). „Die fachliche Exklusivität des Wissens kann . . . darauf beruhen, daß die allgemeine Zugänglichkeit des Wissens durch soziale Barrieren beschränkt wird", oder auf einem „Zwang" zur Spezialisierung, der sich aus dem Umfang des Vorrats an systematischem Wissen in einer Gesellschaft ergibt (ebd.). 80 Vgl. A.Schweizer, Constructionsweise (1838), S. 51 f.: „Sie (sc. die pastorale Sittenlehre) gehört darum in unsre Disciplin, weil ihre Idee, der zum Beispiel dienende Geistliche nur pastoral d.h. auf Einzelne wirkt, und bloß dadurch aufs Ganze. Sie hat wieder zwei Seiten oder Gesichtspunkte: a) durch welche Lebensrichtung ( . . . ) nährt und stärkt der Seelsorger seine eigene seelsorgende Kraft und Lust bei seiner persönlichen Individualität am besten? . . . b) Durch welche wirkt er auf die Gemeindegenossen so, daß ihre Empfänglichkeit und ihr Vertrauen zu seiner directen Seelsorge begünstigt wird. Daß diese pastorale Sittenlehre weder in b. ausarte zu einer schlauen Klugheit und Pedanterei, noch in a. zu einem laxen Libertinismus, wird sicher verhütet, wenn man bedenkt, die zu lösende Aufgabe sey gerade, diese beiden Rücksichten einerseits auf den Seelsorger und seine Kraft selbst, anderseits auf die Objecte eben völlig in Einklang zu bringen." Schweizer war allerdings noch bemüht, Seelsorge als pastorale Tätigkeit allein dem „clerus positivus" zuzuschreiben und nicht schon den „clerus naturalis" als funktional gleichwertig anzuerkennen (S. 22). 81 C. I. Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege (1868), S. 7; zum Sprachgebrauch im Sinne von Tätigkeiten u. ä. vgl. S. 68 u. ö.

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der Pfarrer durch die Ärzte 82 eher als unwahrscheinlich gelten 83 , denn Nitzsch richtet den Aufbau seiner Seelsorge-Theorie begrifflich überwiegend am Erzieher und am pädagogischen Prozeß aus und spricht den Vorrang im Bildungsprozeß des Menschen, sogar in physischer Hinsicht, der Bildung der geistigen Seele zu: „Ohne Erziehung keine Bildung. Allein Pädagogie kann ohne Psychagogie nicht vollzogen werden, sogar nicht die physische; denn gesetzt, daß die sittliche Aufgabe bereits als Harmonisierung des geistigen und leiblichen Lebens oder als naturgemäße Entwicklung einer ursprünglichen Harmonie des Leibes und Geistes, etwa wie Gesundheit und Genesung (mens sana in corpore sano) aufgefaßt wird, so liegt doch das Prinzip dieses Processes in der geistigen Seele; von ihren Selbstbestimmungen und Selbstbewegungen, nicht v o m leiblichen gehet aus, was dennoch auch dem leiblichen Leben frommt; und die bildenden, erziehenden Thätigkeiten müssen demnach alle, wollen sie des Zieles nicht verfehlen, psychagogischer Art sein." 84

Die positive Gestaltung der Aufgabe einer individuellen Seelenpflege ist demnach durch den Bildungsbegriff umfassend beschrieben: „Das wissenschafltiche Verständniß des Gegenstandes darf sich des Rückblicks auf ein allgemeines Urbildliche, darf sich der vermittelnden Abstraction niemals entschlagen. . . . Wir gehen demnach noch einmal auf die Idee der Bildung und der in derselben mit begriffenen Erziehung, . . . , zurück. N u n ist Bildung, also wahrhafte Vermenschlichung, zwar ohne alle Selbstthätigkeit des Menschen unmöglich, aber ebensowenig ohne Anregung und Leitung des Andern und v o n Seiten der Gemeinschaft zu erlangen. Das, w o z u der Mensch gebildet werden soll, das persönliche Gemeinleben in Gott, ist dasselbe, wodurch er gebildet wird, woran er sich erkennt, und wonach er sich richtet und gestaltet. Gebildete Bildner müssen schon da sein,...«85 82

S.o. S.34,Anm. 13. Wie F. Steinmeyer zu Recht feststellt, hat Nitzsch den Unterschied zwischen Christi Heilungen und menschlicher Heilkunst noch stark betont, so sehr, daß er den Begriff „therapeuein' als ,pflegen' statt als ,heilen' interpretierte (vgl. F. L. Steinmeyer, Die specielle Seelsorge in ihrem Verhältnis zur generellen, Berlin 1878). Die Spezialisierung in den ,Helfer-Berufen' innerhalb der Einrichtungen der Inneren Mission führt Nitzsch allerdings schon als vorbildlich an, der Trend zur Professionalisierung fand bei Nitzsch also durchaus reichliche Förderung: „Beide (sc. Wichern und Fliedner) begannen mit Vereinen und Anstalten, welche unmittelbar nach dem Verlorenen suchten; nachdem aber ein neues Bedürfniß des Dienstes nach dem andern und aus dem andern sich ergeben hatte, wußten s i e . . . die Willigkeit und Fähigkeit zum Helferdienste zu erwecken,... Auf diesem Wege kann, da die Basis evangelischen, nicht gesetzlich verdienstlichen Helfens festgehalten wird, der helferische Standesgeist (gefühlte Freiheit und demüthige Würde im Dienen für Seele und Leib der Mitmenschen) aus engeren Kreisen frei und wohltätig in weitere der christlichen Gesellschaft und Häuslichkeit sich mittheilen. Es ist Aussicht, daß in der ganzen Dehnbarkeit und Entwicklungsfähigkeit des Begriffs έργον διακονίας Eph 4,12 in immer reicherer Abstufung und Ordnung, in immer größerer Zahl die Heiligen zugerichtet werden zum Werke des Amts" (S. 49f.). 84 C. I. Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege (1868), S. 2. 85 Vgl. Nitzsch, a.a.O., S.l. 83

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Der Bildungsprozeß der speziellen Seelenpflege ist in ganz besonderer Intensität an die Persönlichkeit des Seelsorgers und deren Wirken gebunden; die Einwirkung von Eltern auf ihre Kinder dient Nitzsch als Beispiel für ein Verhältnis, in dem diese persönliche Einwirkung regelmäßig sich vollzieht 86 . Der Seelsorger erscheint als Menschenbildner. bb) Die wissenschaftliche Präzisierung der Bildungsaufgabe der „eigenthümlichen Seelenpflege" Es ist leicht einzusehen, daß eine individuelle Gestaltungsfreiheit der Seelsorge-Aufgabe in solchen Dimensionen einer präzisen Bestimmung der Rahmenbedingungen bedarf. Nitzschs Abhandlung über die spezielle Seelenpflege ist schon im Aufriß mit ihren dreihundert Seiten ein Zeugnis für die wissenschaftliche Präzision, mit der er den Seelsorger zum Verständnis seiner Aufgabe hinleiten und gerade dadurch zur rechten Praxis anleiten will. Im einzelnen führt Nitzsch seine Intentionen in einer begrifflichen, historischen und empirischen Analyse des Problems einer speziellen Seelsorge durch. Die begriffliche Analyse konstruiert er nach idealistischem Muster als eine Stufenfolge der Vollkommenheit: Die Dauer des Bedürfnisses und der Leistung in der speziellen Seelenpflege zum einen, die Frage nach dem Ziel zum anderen und die Frage nach den Mitteln und Verfahren der Seelenpflege zum dritten werden anhand einzelner Belege aus der klassischen Bildungstradition in eine solche abgestufte Ordnung gebracht. Hinsichtlich des Ziels der Seelenpflege wird beispielsweise die spartanische Erziehung als eine Grundstufe über eine ganze Skala der Entwicklung des pädagogischen Denkens gewissermaßen evolutionär - mit dem Reich der Vernunft in der späteren Stoa in Verbindung gebracht 87 . 86

Vgl. Nitzsch, a.a.O., S. 2. Vgl. Nitzsch, a.a.O., S. 4f.: „Zunächst, welches Ziel ist zu erstreben? Welcher Maaßstab anzulegen? Das bildende und gebildete Alterthum blieb nicht bei sonderlichen Bildungszwecken stehen. Zxr Selbständigkeit im Antbeilnehmen am Gemeinwesen sollte der Freigeborene erzogen werden. Indessen forden diese Bestimmung noch eine höhere, unangesehen daß sie an sich der Erklärung bedarf. Denn die spartanische Erziehung verwöhnt und verbildet dennoch, da sie die häusliche Bestimmung als rein egoistische behandelt und viel weniger die Persönlichkeit aufkommen läßt. . . . ja die spätere stoische Schule verfehlte nicht diese Idee der Tüchtigkeit bis zur Idee der Nachahmung Gottes zu entwickeln und sich demzufolge zu dem Gedanken der Erziehung des Menschen für das höchste, absolute Staatssystem, κόσμος, πόλις ανωτάτη, für das Reich oder die Stadt der Vernunft, für ein Reich Gottes zu erheben." Neben den Stoffen der klassischen Bildungstradition verwendet Nitzsch zur Illustration seiner Begriffsanalyse seinen nicht unbeträchtlichen Schatz an ethnologischem und kulturhistorischem Wissen. Als ein Beleg dafür sei ein Abschnitt aus der Begriffsanalyse der Persönlichkeit des Seelsorgers vorgestellt: „Eine eigenthümliche Erscheinung giebt es auf dem Gebiete des religiösen Heidenthums, 87

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Die Geschichte der christlichen Seelsorge interpretiert Nitzsch nicht in gleicher Weise als rein evolutionären Prozeß, nicht als „reines Fortschreiten, . . . reine Erweiterung und Vervollkommnung", sondern als ein „Sinken und Steigen der Thätigkeit, aber auch eine Ausartung und Genesung des Verfahrens". Am Anfang des Geschichtsprozesses aber stehen die „kräftigen Gedanken und Vorbilder apostolischer Seelenpflege"88. Die zeitgenössischen Verhältnisse werden von Nitzsch besonders im Hinblick auf die Werke der Inneren Mission außerordentlich differenziert dargestellt und danach gewürdigt, wie sie jeweils die christliche Auffassung des menschlichen Bedürfnisses, die Bildung der individuellen Persönlichkeit, fördern oder hindern89. bc) „Orthotomie": Von der wissenschaftlichen Analyse des Seelsorgevorgangs zur Seelsorge als Wissenschaft Ist C. I. Nitzsch mit seinen Analysen zum Begriff und zur Geschichte der speziellen Seelsorge schon weit über A. Schweizers ,Constructionsversuch', aber auch über die Seelsorgelehre in Schleiermachers nachgelassener Praktischen Theologie hinaus in Richtung auf eine selbständige wissenschaftliche Fassung der Poimenik fortgeschritten, so bietet er als mächtigen Schlußstein seiner Konstruktion im siebten und letzten Artikel der „eigenthümlichen Seelenpflege", der fast die ganze zweite Hälfte dieses Buches umfaßt, eine eigenständige Methodik der speziellen Seelsorgelehre mit dem Titel „Von der Orthotomie, oder von der rechten Austheilung und Anwendung des göttlichen Wortes in Bezug auf die Eigenthümlichkeit der Zustände und Anlässe", die in verschiedener Hinsicht als beispielhaft zu gelten hat90. Nitzsch entwikkelt hier eine Typenlehre derjenigen menschlichen Bedürfnisse, die zum Anlaß spezieller Seelsorge werden können, und entfaltet parallel dazu eine Typologie von Interventionsformen. Er unterscheidet den leidenden, den sündigen und den irrenden Menschen und entsprechend eine parakletische, eine pädeutische und eine didaktische Seelsorge. Die besondere Leistung welche scheinen könnte der Idee einer besondern amtlichen Seelsorge recht nahe zu entsprechen. Es ist der Guru, den der gemeine Hindu zur Vermittlung seines persönlichen Verhältnisses zu Gott annehmen muß. Er wählt ihn für sich und seine Familie. Man hat den Guru mit dem christlichen Beichtvater verglichen. In Wahrheit aber vollzieht sich durch diesen und für jenen nur in der Einzelpersönlichkeit das Verhältniß der Braminen, als der göttlichen Kaste zu der schlechthin abhängigen. Dagegen daß der Guru seinem Pflegling einige nöthige Anrufungsgebete und andere Ceremonien mittheilt, wird ihm der Hindu zu götzendienerischer unsinniger Verehrungsbezeigung, ja mit seinem ganzen Gut und Habe (worauf es dabei am meisten ankommt) dienstbar und pflichtig. Der Guru setzt den Fuß auf den Nacken des Jüngers, und dieser trinkt das Wasser, in welchem sich der Unhold gewaschen" (S. 9 f.). 8 8 Nitzsch, a.a.O., S. 19. 8 9 Zu Nitzschs Analyse der jüngeren Vergangenheit vgl. ζ. B. a.a.O., §§ 433 ff., S. 4 1 - 4 8 . 9 0 Nitzsch, a.a.O., S. 161.

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Nitzschs besteht nun aber darin, wie er diese doppelte Typologie mit seinem Seelsorgebegriff und seiner Auffassung von der Einwirkung des Seelsorgers verschränkt: Sollte die spezielle Seelsorge zur Erhaltung und Herstellung des geistlichen Lebens auf das einzelne Gemeindeglied wirken und sollte diese Psychagogie nicht als lockender Reiz oder Zauber auf die Seele wirken, sondern „das zugleich freilassende Moment der Belehrung, der Bezeugung, der Offenbarung" benutzen, um „zur Persönlichkeit", um „wahrhaft menschlich zu erziehen", so ergab sich die Forderung, daß das Wort Gottes in der Seelsorge zu regieren habe91, daß dieses Wort aber für die ,eigenthümliche Erbauung des Individuums' speziell zuzubereiten sei: „Da nun die biblische Offenbarung selbst, sowie für Menschen und Volk so auch nur an Mensch und Volk durch ihre Erfahrungen und Aeußerungen hat geschehen und ergehen können (obgleich sie durch Christi und des heiligen Geistes Herrlichkeit und Gottheit vor Zufall und Willkür gesichert ist), so giebt es mit der heil. Schrift nicht allein für die Grund und Aufbau wirkende Gemeinde=Predigt, sondern auch für die eigenthümliche Erbauung des einzelnen Bewußtseins eine Individualisierung der Rede Gottes, welche der Individualisierung des menschlichen, zeitlichen, örtlichen Bedürfens, Empfangens und Verlangens entspricht."92

Es kommt deshalb bei der speziellen Seelsorge auf das richtige „Maaß von Schriftgedächtniß und Schrifterfahrung und auf das divinatorische Mitgefühl mit dem vorliegenden Bedürfnis" an, „um den Incidenzpunkt zu treffen, auf welchem jedesmal das Wort Gottes auf seinen Empfänger und dieser auf jenes wartet. Mechanisieren nach Fach und Register läßt sich das nicht; zumal da ein drittes Individuelle in Betracht kommt, nämlich die Persönlichkeit des Seelsorgers selbst, vermöge welcher er nur nach dem Maaße seiner Macht das göttliche Wort lebendig zu reproduciren und anzueignen, da oder dort anzufangen und jedes auf anderes, jedes auf das ganze zu beziehen im Stande ist" 93 . Nitzsch konstruiert demnach aus der psychologischen Betrachtung des Vorgangs der Uberlieferung eine pastoralpsychologische Methode, die seinem Anspruch nach einem Gleichgewicht zwischen objektiver Uberlieferung und individueller Auffassung gerecht zu werden vermag, ohne die individuelle Produktivität des Seelsorgers in Person einer schematischen Handhabung der Seelsorge opfern zu müssen. Der Einführung in diese Seelsorge-Methodik dienen nun ausführliche Beobachtungen, deren empirischer Charakter neben dem systematischen Aufbau der Theorie als Ausweis von Wissenschaftlichkeit gilt. Nur scheinbar hat diese empirische Seelsorge91 92 93

Nitzsch, a.a.O., S. 2. Nitzsch, a.a.O., S. 162. Ebd.

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lehre noch den Charakter einer pastoraltheologischen Kasuistik älterer Zeit, vielmehr dient sie, wie es schon A. Schweizer gefordert hatte, der Verselbständigung des Urteilsvermögens des Seelsorgers, der Förderung seiner „diagnostischen Befähigung" und seiner „therapeutischen Tüchtigkeit" 94 , nicht nur der schematischen Anwendung von Verhaltensregeln. In dieser Seelsorgelehre spielt die Wissenschaft die tragende Rolle schlechthin: Nicht nur zur sachgemäßen Erfassung der Begriffe und zur empirischen Erhebung und Aufbereitung der Stoffe dient sie, auch liegt ihr Beitrag nicht nur in der Hilfe zur richtigen Gestaltung des Verfahrens (im Sinne der Pastoralpsychologie der Gegenwart), sondern sie beherrscht das ganze Verfahren der speziellen Seelsorge und ist deren Medium, gemäß dem Grundsatz: „Die Erkenntnis macht frei, die Tugend ist zuerst dianoetisch, Wissenschaft also die wesentliche Handhabe des psychagogischen Wirkens" 95 . Nitzschs Theorie der „eigenthümlichen Seelenpflege" erweist sich somit nicht allein als wissenschaftliche Seelsorgelehre, sondern sie vertritt die Lebens- und Handlungsform einer wissenschaftlichen Seelsorge, Seelsorge als Wissenschaft. Nitzschs Entwurf einer wissenschaftlichen Seelsorge nach dem methodischen Prinzip der Orthotomie erinnert im übrigen an die Entwicklung einer wissenschaftlichen Religionspädagogik aus der Konstruktion der Pädagogik J. F. Herbarts 96 . Die Parallelen zwischen Nitzschs Theorie der speziellen Seelenpflege und der Pädagogik Herbarts und seiner Schüler muß man wohl als Abhängigkeit Nitzschs von Herbart auffassen: Wie im Anschluß an Herbart die Religionspädagogik im Zusammenhang der allgemeinen Religionstheorie ausgearbeitet wird, so bei Nitzsch die amtliche Seelsorgelehre im Rahmen einer allgemeinen Bildungstheorie; diese zerlegt und ordnet den vorgegebenen Stoff - das Wort Gottes - nach Gesichtspunkten, die sich aus der Person des Pfleglings ergeben. Diese wird in ihren Merkmalen und Bedürfnissen zu einer Norm der Seelsorge97. 94 95

Nitzsch, a.a.O., S. VII. Nitzsch, a.a.O., S. 6.

9 6 Vgl. D.Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 1986, S. 484, im Anschluß an F.Jacobs, Die religionspädagogische Wende im Herbartianismus, 1969. 9 7 Als ein Beispiel für das Verfahren der Orthotomie und die darin vorgenommene Verbindung von empirischen Beobachtungen und biblischen Aussagen vgl. C. I. Nitzsch, Die eigent ü m l i c h e Seelenpflege (1868), §.484, S. 199 ff. „Wir gedenken zuerst der melancholischen und hypochondrischen Leiden. Die N a m e n schon zeigen an, daß der Ursitz derselben im Organismus zu suchen ist, obgleich er sich, zumal w o die gedrückte Stimmung an sich heitere Gemüther zeitweise erfaßt, dem Auge des Pathologen entzieht. Das logische sowenig als das empirische Bewußtsein solcher Kranken ist gestört, vielmehr wissen sie mehr oder minder von ihrem Zustande, ohne in der Kraft des ganzen Ernstes ihm zu widerstreben. Der Zustand besteht nämlich meistens in einer Willensschwäche, bei welcher die Vorstellung vom Uebel übermäßig anwächst, also auch Furcht, Sorge, Angst die

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bd) Perfektibilität und Repräsentativität als Probleme der „eigenthümlichen Seelenpflege" Zwei Probleme sind einer solchen wissenschaftlichen Seelsorge inhärent, jedenfalls sofern sie beansprucht, allgemeine Handlungsform in einer christlichen Volkskirche zu sein: Das Problem der Perfektibilität und das der Repräsentativität. Sein hohes Vertrauen in die Wissenschaft führt Nitzsch an beiden Punkten in Schwierigkeiten, deren Erkenntnis er offenbar für ihre Bemeisterung hält. So denkt er sich einerseits das relative Maß christlichmenschlicher Perfektibilität als bei weitem noch nicht ausgeschöpft: „ D a s C h r i s t e n t h u m an sich n i c h t perfectibel ist es d o c h in A n s e h u n g der E n t w i c k lung in W i s s e n s c h a f t u n d L e b e n in n o c h nicht b e g r e n z t e r Weise. D e s h a l b h a b e n w i r d o c h eine u r s p r ü n g l i c h e Vorbildlichkeit seiner E r s c h e i n u n g . . . D a s Ν . T. giebt die Principien in Vollständigkeit u n d V o l l k o m m e n h e i t ; der C h r i s t e n A u f g a b e ist, n a c h der richtigen V o l l z i e h u n g derselben z u ringen . . . " 9 8

Andererseits postuliert er eine Überlegenheit der christlichen Wahrheit über die philosophischen und alttestamentlichen Annäherungen an die Wahrheit. Diese soll sich nicht nur am Inhalt, sondern erst recht an den Lebensgestalten zeigen, die im U m g a n g mit dieser Wahrheit hervorgerufen werden: an der christlichen Gemeinschaft und der christlichen Persönlichkeit: „ W a s die griechische Weisheit in S o k r a t e s o d e r E p i k t e t , w a s selbst die s a l o m o n i s c h e für den engsten K r e i s des G e m e i n l e b e n s nicht z u leisten im Stande ist in A n s e h u n g d e r T h e r a p i e des Seelenlebens u n d der E r z i e h u n g z u g ö t t l i c h e r M e n s c h l i c h k e i t , leistet die G n a d e u n d W a h r h e i t J e s u C h r i s t i für - die Welt. D a s H e i l in C h r i s t o e r k e n n e n , die V o l l k o m m e n h e i t der Religion u n d der religiösen G e m e i n s c h a f t in ihm b e g r ü n d e t finden, u n d - die V e r w i r k l i c h u n g d e r Idee des H i r t e n a m t e s , seine U n i v e r s a l i t ä t , Seele in eine unfruchtbare und thatenlose Bewegung versetzt. Dabei herrscht doch noch viel Eigensinn. Mischt sich nun in diese ethisch=physische Lebenshemmung die Religion nach dem bisherigen Maaße von Erkenntniß und Frömmigkeit ein, so läuft das mehrentheils auf einseitige Anwendung der Lehre von strafender Gerechtigkeit und nun weiter auf Gefühle der Verlassenheit, ja der möglichen Verwerfung hinaus. . . . Nie aber soll man die Melancholischen bloß sich selbst überlassen, vielmehr ihnen mit Maaßen die Pflichten ordentlicher Geselligkeit ansinnen, und destomehr die Rechte derselben entgegenkommend gewähren. Verdoppelte Liebeserweisung thut ihnen um so wohler, da sie oft von Grauen und Abscheu vor sich selber ergriffen werden, aber das hindert nicht, ihren Eigensinn zu strafen, jenachdem er ausbricht, und ihren Irrungen mit sanftem Ernste zu wehren. Denn Narrheit und Irrthum gutheißen (Spr. Sal. 26,5) ist ebenso heillos in jedem Falle, als es bedenklich und gefährlich bleibt, einen kranken Verstand, für den sich die an sich heiligen Wahrheiten verschränkt und entstellt haben, mit weitläufigen Beweisführungen zu drängen und zu reizen. N u r müsse der Seelenkranke fühlen, daß auch die spitzfindigste Dialektik, mit welcher er wider sich, wider seine Seligkeit und seinen Trost argumentiert - eine nicht seltene Erscheinung - über unsere Glaubensfeste nichts vermag." 98

Nitzsch, a.a.O., S. 260.

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Gründlichkeit und Dauer, seine Vollkommenheit in allen Beziehungen verstehen, ist eins und dasselbe." 99

Wenn man jedoch den ganzen Entwurf überblickt, legt sich die Frage nahe, ob diese wissenschaftliche Fassung der Seelsorge nicht ebenso esoterisch werden müsse, wie Nitzsch es von der salomonischen Weisheit schildert: „Diese salomonische Weisheit rühmt sich allerdings der neidlosesten Mittheilung der W a h r h e i t . . . es soll nichts Esoterisches zurückbleiben, das sie nicht aussage; da sie aber je länger je mehr als Einheit von Ethik und Physik, überhaupt als Wissenschaft denkt, und so zu sagen mehr Schule anrichtet und Orden der Lehre und Ascese bildet, als daß sie der Volkskirche diente, so ist nicht abzusehen, wie sie nicht vielmehr zu einer recht umzäunten Aristokratie des Wissens, als zur Volkserziehung dem spätem Judenthum gereichen sollte." 100 .

Es ließe sich schon an Nitzschs Entwurf selbst und nicht erst im Blick auf die Folgen die Frage stellen, ob er nicht auch seinerseits mit einer Umzäunung für die Praxis seines wissenschaftlichen Seelsorgebegriffs rechnen mußte und auch faktisch gerechnet hat; die intensive Berücksichtigung der Organisationen der Inneren Mission in seiner Darstellung stützt diese Vermutung101. Vor der Verhandlung der Einsprüche gegen diese wissenschaftliche Seelsorge in ihrer Zeit muß ihre bleibende Bedeutung für die Theorie kirchlichen Handelns in der Gegenwart zusammenfassend angedeutet werden.

99

Nitzsch, a.a.O., S. 13. loc £)j e wissenschaftliche Analyse führt unvermeidlich zur Abgrenzung von Gruppen von Objekten der Seelsorge, die dann therapeutisch behandelt, d. h. für Nitzsch: gepflegt (s. o. S. 50) werden sollen. Die Abgrenzung auf wissenschaftlicher Grundlage wird in dem Moment wirksam, in dem der Erziehungs- und Bildungsgedanke seinen Einfluß als Kraft der Verallgemeinerung verliert. 101 Es gehört offenbar zu einer so speziellen Fassung der Seelsorgelehre, wie Nitzsch sie entwirft, hinzu, den Gesichtspunkt der organisatorischen Verankerung dieser Seelsorge ausdrücklich mitzubedenken: „Der verwüstende Krieg, mörderische Schlachten, zuweilen hinzukommende Seuchen, in der Umgebung aufgehäuften Reichthums zunehmende Verarmung der zahlreichsten Volksklassen und ein aus methodisch verbreitetem, von ausgearteter Philosophie erhitztem Unglauben immer wieder ausbrechender Aufruhr haben der gewöhnlichen Anstalten für Selbsterhaltung des Gemeinwesens gespottet. Bei der Langsamkeit und Widerwilligkeit, mit welcher sich alle Einrichtungen und selbstzufriedene Verfassungen bewegen und einer Reformation unterwerfen, hat es für's Erste die freie Geselligkeit sein müssen, welche dem Verderben mit Werken vereinter Hülfe entgegentrat. Der Geschichte ist es zum Gesetz geworden, was den Staat und was die Kirche betrifft, daß sie, was künftig erst als nothwendige und stätige Verrichtung sich ins amtliche Wirken einordnen soll, durch außerordentliche Gaben Einzelner und durch ihnen sich anschließende Vereine erfinden, anbahnen, vorbereiten läßt" (a.a.O., S. 43).

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be) Die Bedeutung der „eigenthümlichen Seelenpflege" für die weitere Entwicklung der evangelischen Seelsorge und Seelsorgelehre Eine zusammenfassende Betrachtung der Theorie der „eigenthümlichen Seelenpflege" läßt erkennen, daß Nitzsch darin Strukturmomente versammelt hat, die einer Uberführung der Poimenik in die Gestalt einer Sozialwissenschaft erkennbar den Weg bereiteten oder wenigstens einer solchen Transformation förderlich waren. An vier Gesichtspunkten soll die richtungweisende Bedeutung der wissenschaftlichen Poimenik Nitzschs zusammenfassend positiv dargelegt werden, ehe in der Behandlung der Einsprüche ein weiteres Mal, nun aber durch den Widerspruch hindurch, die Bedeutung dieser Theorie aufscheinen soll. - Wissenschaftliche Seelsorge als Theorie und Praxis des freien Handelns des Pfarrers. Lagen für alle wesentlichen Gegenstände der praktisch-theologischen Theorie geprägte Handlungsformen vor, deren Funktion und Gestaltung unter veränderten Verhältnissen zwar zu bedenken waren, aber im großen und ganzen nicht zur Disposition standen, so verlangte das freie Handeln des Pfarrers, - vom Brauch gelöst - , in besonderer Weise nach einer Organisation, die den Pfarrer nicht den wechselnden Umständen hilflos aussetzte, sondern sein Urteil bilden half, seinem aus dem Usus der Amtsführung entlassenen Handeln Ziel und Richtung gab. Das freie Handeln des Pfarrers war demnach der Teil seiner Praxis, der die Entwicklung einer funktionalen Berufstheorie in besonderem Maße forderte und förderte, forderte, der Orientierung halber, - förderte, wegen der zur Orientierung notwendigen Ordnung der Zwecke und Mittel, der systematischen Erfassung des gesamten Arbeitsgebiets. Die theologische Enzyklopädie kann, von der Idee eines wissenschaftlichen Kosmos und ihrem Ort als praktischer Wissenschaft darin gelöst102, als eine funktionale Theorie der Aufgaben und Zwecke gelesen werden, mit denen der Theologe in der modernen Gesellschaft seine berufliche Position ausfüllt und zur Geltung bringt. Gerade im Rückgang auf den enzyklopädischen Ursprung der praktischen Theologie 103 erweist es sich im übrigen als zweifelhaft, ob die praktische Theologie erst in Abhängigkeit von vorliegenden Berufstheorien und professionalisierten Aufgaben in der Gesellschaft ihrerseits die Professionalisierung und Spezialisierung des Pfarr-Amtes zum „Beruf: Pfarrer" 104 durchdacht hat. Dieser 102 Die theologische Enzyklopädie wird hier als eine wissenschaftliche Reflexionsbemühung interpretiert, die einer Sicherung der Praxis neuzeitlichen Christentums diente. Vgl. W. Steck, Der Pfarrer zwischen Beruf und Wissenschaft (1974), S. 26 ff.; V. Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie, Habilschr. Tübingen 1985. 103 Vgl. W. Steck, Der Pfarrer zwischen Beruf und Wissenschaft (1974), S. 26 ff. 104 Vgl. K.-W. Dahm, Beruf: Pfarrer (19722).

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Schluß liegt angesichts der Faszination durch die Praxis der Psychotherapie, wie sie sich gerade im Ausbildungsbereich für den Pfarrerberuf nicht selten zeigt, zwar nahe105 und hat für die Entwicklung der Poimenik im 20. Jahrhundert auch eine gewisse Berechtigung. Die Konstituierung der modernen freien Berufe aber ist vermutlich nicht ohne die schon vorausliegenden systematischen Anstrengungen praktischer Theologen im 19. Jahrhundert zur Klärung ihrer eigenen Berufspraxis in Wissenschaft und Kirche zustande gekommen. Das zeigt sich auch daran, daß im Ubergang von der Pastoraltheologie zur speziellen Seelsorge-Theorie eine Verwissenschaftlichung vor sich geht, die wissenschaftstheoretisch betrachtet sowohl eine Funktionalisierung als auch eine Spezialisierung/Universalisierung und schließlich, in der Orientierung an externen Zwecken, auch schon eine Art Finalisierung des beruflichen Wissens des Pfarrers darstellt106. Seelsorge bestimmt sich in diesen Theoriezusammenhängen nicht mehr von den Merkmalen und Motiven der pastoralen Amtstätigkeit in einer relativ stabilen Gesellschaft her, sondern von den wissenschaftlich-theologisch, zumeist anthropologisch vorgegebenen Kriterien, Zielen und Mitteln für die Berufsausübung des Pfarrers oder für das Leben von Christen überhaupt, jeweils soweit sie poimenische Verantwortung übernehmen. Diese Entwicklung beweist sich nicht zuletzt auch daran, daß seit dieser Verwissenschaftlichung der Pastoraltheorie dem Seelsorger eine Ausbildung nach dem jeweils letzten Stand der Wissenschaft angesonnen wird, die Praxis der Wissenschaften also in hohem Maße auf die Ziele und Methoden Einfluß nimmt, die in der Poimenik zu Ansehen und Geltung gelangen107. - Theoriegeleitete Empirie. In seinem Bemühen um einen wissenschaftlichen Standard der evangelischen Seelsorgelehre hat C. I. Nitzsch eine erste 105 vgl. J. Rabast, Die Entwicklung der Seelsorge im 19. und 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Friedrich Naumanns, Diss. Berlin (Humboldt Universität) 1970, S . 9 2 u.ö. Rabast kommt aus der Beschränkung seiner Studien auf F. Naumann und die Psychoanalyse zu einer Interpretation der Seelsorgelehre, die einerseits einen Niedergang der speziellen Seelsorge am Jahrhundertende und einen Wiederaufstieg ihrer Bedeutung durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse in den zwanziger Jahren zu erkennen glaubt und andererseits eine gleichmäßig wachsende Bedeutung der generellen Seelsorge zur diakonisch organisierten Seelsorge im Anschluß an Wichern und Naumann konstatiert. Nach Rabast müssen die Gründe offen bleiben, aus denen sich die Pfarrer als Seelsorger der Psychoanalyse zuwandten. 106 v g l . G. B ö h m e / W . v. d. Daele/W. Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, in: ZfSoz 2 / 1 9 7 3 , S. 1 2 8 - 1 4 4 . 107 Vgl. bes. die intensive Werbung, die G. Vorbrodt schon vor der Jahrhundertwende für die Psychologie und deren Verwendung im theologischen Studium betrieb ( z . B . Psychologie des Glaubens, Göttingen 1895); in diesen Zusammenhang gehört auch P. Drews' Programm einer religiösen Volkskunde („Religiöse Volkskunde", eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: M K P 1/1901, S. 1 - 8 ) .

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Wende zur Empirie schon vollzogen. Die leitenden Begriffe seines Entwurfs - Bildung, Persönlichkeit, Erziehung - stellen nicht die Spitze einer systematischen Deduktion dar, sondern bezeichnen die Themen, denen sich die Poimenik heuristisch zuwendet. Die ausgedehnte Kasuistik des 7. Artikels der „eigentümlichen Seelenpflege", aber auch schon eine Fülle von Beobachtungen in den (kultur-)historischen Partien der ersten Hälfte seines Buches vermitteln einen Eindruck vom empirischen Charakter dieser Seelsorgelehre. Es handelt sich um eine Empirie des christlichen Menschen als eines natürlichen und religiösen Individuums in einer vielfältig gegliederten Lebenswelt; nicht auf Maße und Zahlen kommt es an, aber doch auf Daten aus der Erfahrung. In der Beurteilung der Erziehungsversuche der Aufklärung erweist sich Nitzschs wissenschaftliche Empirie als durchaus kritisch und keineswegs als Sammlung von Primärerfahrungen aus pastoraler Praxis108. Die Humanwissenschaften haben auf diesem Stand der Entwicklung der Wissenschaften noch keine eigene Organisation neben Philosophie und Theologie. Der Dialog zwischen Erfahrung und Grundsätzen verläuft innerdisziplinär, noch nicht interdisziplinär. Die von F. Wintzer kommentierte Hinwendung zur Empirie in der Seelsorgelehre des Kulturprotestantismus 109 muß demnach näherhin als eine Wende zur praktischen Anschauung der Berufsfelder und Tätigkeitsgebiete des Pfarrers verstanden werden. Mit dieser Wende weg von der prinzipiengeleiteten Empirie hin zur unmittelbaren Anschauung von Praxis hilft die Praktische Theologie der Sozialwissenschaft auf ihren Weg der wissenschaftlichen Rekonstruktion von Wirklichkeit durch Hypothesenkonstruktion und Hypothesenprüfung bzw. begleitet sie auf diesem Weg. Das Verlangen nach praktischer Primäranschauung verbleibt nun erst recht unvermeidlich als Dauerdesiderat in den Nischen von Ausbildungsordnungs-Plänen und bildet zugleich vorwurfsvoll einen Hinweis auf die Uberproduktion von Sekundär-Erfahrung in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Es treten sich nämlich im Zusammenhang einer wissenschaftlichen Rekonstruktion der Lebenswelt ein naturwissenschaftliches Ringen um sichere, d.h. gesetzmäßige Erkenntnis und eine gerade durch Forschung zunehmende, Orientierung erschwerende Wissensmenge in unausgleichbarer- nur organisatorisch zu regelnder - Spannung gegenüber. Die Wissensmengen bilden ein Forschungsprodukt, das durch Interpretationsanstrengungen immer erst wieder auf die Ebene von Lebenserfahrung zurücktransportiert werden müßte; die Suche nach Primärerfahrung verbindet sich nicht selten mit der Klage über die Schwierigkeiten dieser Rückübertragungsversuche, über den 108 109

Vgl. C . I. N i t z s c h , Die eigenthümliche Seelenpflege (1868), § 433, S. 41 ff. Vgl. F. Wintzer, Seelsorge (1978), S. X X I I I .

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unvermeidlichen Hiatus zwischen Menschenkenntnis und wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Spannung zwischen wissenschaftlich erarbeitetem Wissen und der dadurch hervorgerufenen Relativierung aller Wissensbestände führt unter den Bedingungen weiterabnehmender Sicherheit der Lebensführung110 zur Orientierung der Seelsorger in ihrem Selbstverständnis und in der Konstruktion ihrer Berufspraxis am Arztberuf als demjenigen, - der über sozial bedeutsames individuelles Wissen verfügt, - der dieses Wissen mit sichtbaren Resultaten in seiner Berufspraxis anzuwenden hat, - der, um in solcher Weise handeln zu können, sein empirisches Wissen für naturgesetzlich gesichert oder wenigstens für wissenschaftlich unbestreitbar halten muß, - der dieses erlernbare Wissen in einer persönlichen Weise zu gestalten hat und - der sich in diesen Kennzeichen dem Lehrer als Lebensführer überlegen zeigt. - Abgrenzung einer speziellen Seelsorge zur Förderung persönlichen Christentums. Im System der Praktischen Theologie von C. I. Nitzsch hat die Theorie der „eigenthümlichen Seelenpflege" ihren Platz innerhalb des kirchlichen Verfahrens bzw. der Kunstlehren, als drittes Hauptstück im ersten Abschnitt, der „die unmittelbar auf Erbauung der Gemeine gerichteten Thätigkeiten"111 umfaßt. Die der Theorie der „eigenthümlichen Seelenpflege" zugrundeliegende Idee der Bildung verklammert die Seelsorge mit der Theorie des kirchlichen Unterrichts (§§ 171 ff.). Gerade mit der anthropologischen Fundierung im Bildungsbegriff ergibt sich jedoch eine auch theoretische Verselbständigung des einzelnen als Objekt der Seelsorge, eine Verselbständigung, die die Vereinzelung des modernen Menschen abbildet, seine Vereinsamung voraussetzt, aber gerade keine übergreifende Gemeinschaftsidee entwickelt, sondern allenfalls einer organisatorischen Herstellung von Gemeinschaft keine Hindernisse in den Weg legt. Als Ziel allen kirchlichen Tuns und Wirkens gilt der speziellen Seelsorge der Seelen Seligkeit, persönliches Christentum112. Das Gemeindeleben hat für dieses persönliche Christentum nur erhaltende und nährende Bedeutung113. Diese spezielle Seelsorge stellt also keineswegs eine Ergänzung zu einer auf die ganze Gemeinde 110

Zu diesem Argument vgl. F. H . Tenbruck, Wissenschaft und Religion, in: J . W ö s s n e r

(Hg.), Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, S. 2 1 7 - 2 4 4 . 111 C . I . Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege (1868), S. VII. 112 113

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Vgl. Nitzsch, a.a.O., S. 75. Vgl. Nitzsch, a.a.O., S. 73 u . ö .

gerichteten cura animarum generalis dar, sie ist vielmehr deren Konkurrenz114. Sie ordnet den Pfarrer in die moderne Berufswelt ein, sie weist ihm seinen Platz zu115 und begrenzt seine soziale Wirksamkeit bzw. reagiert auf die Begrenzung und Veränderung der Wirkungsmöglichkeiten des Pfarrers im Rahmen der Entwicklung der modernen Berufe. Auf dieser eingeschränkten sozialen Basis ergibt sich dann in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts das Gespräch mit (skeptischen) Ärzten: Zwei tragende Berufe einer alten Gesellschaftsordnung suchen nach ihrem Aufgabenbereich in einer neuen Welt der Evolution der Technik. - Die Position des pastoralen Fachmanns in der Gemeinschaft. An diese Einsichten, gewonnen an C. I.Nitzschs Theorie der „eigenthümlichen Seelenpflege" und ihren Entwicklungsbedingungen, fügen sich Beobachtungen zu einer nun unvermeidlich naheliegenden Frage an, zur Frage nach der neuen sozialen Funktion des Pfarrers nach Auflösung der Basis eines traditionellen Amtsverständnisses im geschilderten sozialen Wandel und den damit verbundenen Komplikationen. Der Seelsorger erscheint mehr und mehr als Fachmann, als Inhaber einer Profession. Er spielt eine Rolle im sozialen Gefüge, mit allen Distanzen und Distanzierungsmöglichkeiten zum Ablauf der sozialen Prozesse, sein Amt ist kein tragender Teil der sozialen Ordnung mehr. Die diagnostische und therapeutische Befähigung des Seelsorgers, sein Erfassungsvermögen der empirischen Verhältnisse, sind zu fördern. Wie er dann aber gleichzeitig zu seiner Gemeinde ins Verhältnis persönlicher Einwirkung, etwa gar mit Vater oder Mutter im Verhältnis zu ihren Kindern vergleichbar, treten soll, muß psychologisch unklar bleiben; der psychologische Berater, der Supervisor, kann nur unter Preisgabe dieser Funktion zum Familienmitglied werden. Der Fachmann ist bei C. I. Nitzsch noch als Erzieher gezeichnet, und diese Rollenperspektive geht trotz Annäherung des Seelsorgers an das therapeutische Handlungsmodell116 nicht ganz unter, sondern führt zu einer Betonung der entwicklungsfördernden Impulse ärztlichen Handelns gegenüber den konservierenden im seelsorgerlichen Handeln. Die psychotherapeutische Vereinigung von Erziehen und Heilen hat in der „eigenthümlichen Seelenpflege" Nitzschs und seiner Schüler mindestens Vorbilder gehabt117. An Vgl. E . Chr. Achelis, Art. Seelsorge, in: R E 3 Bd. 18, S. 133. Vgl. P.Blau, Praktische Seelsorge, Hamburg 1912 (bes. den Abschnitt über die Sprechstunde des Pfarrers als Seelsorger). 1 1 6 Vgl. Kap. 3. 114 115

1 1 7 C. G.Jungs Leitbegriff für den psychotherapeutischen Prozeß, die Individuation, bringt das Moment der Erziehung im Heilungsvorgang ebenso zum Ausdruck wie der Begriff des Persönlichkeitswachstums (personal growth) in der humanistischen Psychologie eines A. Maslow oder eines C. Rogers.

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diesem Punkt wird aber auch die künftige Überforderung sozialer Helfer in freier Praxis schon deutlich: Ohne institutionelle Sicherung ist eine intensive Einwirkung auf die Persönlichkeit eines Mitmenschen psychologisch nur um den Preis der Selbstaufgabe möglich. Der Weg freier Intimität zwischen den verschiedenen Formen institutioneller Bindung der persönlichen Einwirkung hindurch ist im allgemeinen ein Holzweg 1 1 8 .

c) Plädoyers für eine Unterordnung der speziellen unter die generelle Seelsorge Die Konstruktion einer wissenschaftlichen Poimenik und Seelsorge, wie sie von C. I. Nitzsch entworfen worden war, blieb nicht ohne Widerspruch. Es war sachlich und psychologisch - im Zusammenhang des konfessionellen Parteienstreits in Theologie und Kirche - nachgerade zwingend, daß ein derartig profiliertes Programm zur Gestaltung kirchlicher Praxis diejenigen Handlungsmodelle zu schärferer Profilierung führte, die bis dahin, nicht in gleichem Maße prägnant, das allgemeingültige oder mindestens übliche Verhalten des Pfarrers im Amt präsentierten und auch durchaus noch repräsentierten. Hatte die praktisch-theologische Theoriebildung insgesamt den Zwiespalt zwischen einer wissenschaftlichen Theorie des pastoralen und kirchlichen Dienstes einerseits und einer Theorie der Amtspraxis andererseits erst selbst ins Bewußtsein gehoben, so mußte sie jetzt die unvermeidliche Reaktion derer hinnehmen, die sich durch diese Entwicklungen der praktischen Theologie, nun auch auf dem Felde der Seelsorge, von den Vertretern der Universitätstheologie ins Abseits einer puren Pastoralpragmatik gedrängt fühlten oder für Pfarrer zu sprechen gedachten, die ihre Berufsausübung durch diese wissenschaftliche Poimenik in Zweifel gezogen fanden. Die Verständigung zwischen den Theoretikern einer wissenschaftlichen Seelsorge wie Schweizer und Nitzsch und den in ihren Hauptvertretern nicht weniger wissenschaftlich systematisch denkenden Amtstheoretikern 1 1 9 mußte um so schwerer fallen, als die sozialen Verhältnisse nach der Reichsgründung 1870 in einigen für kirchliches Leben ganz wesentlichen Hinsichten nochmals radikalen Veränderungen unterlagen und die Organisatoren und Planer kirchlichen Lebens aus diesem sozialen Wandel immer neue Energie zur Profilierung ihrer jeweiligen Vorstellungen bezogen. Zur gesetzlichen Vgl. dazu W. Schmidbauer, Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek 1983. Vor allem die praktisch-theologischen Vertreter der Erlanger Schule, G. v. Zezschwitz und Th. Harnack, traten der Auflösung des Amtes als Grundbegriff praktisch-theologischer Theoriebildung energisch entgegen. 118

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Aufhebung der Mobilitätsschwankungen und den vom Wachstum der Industrie abhängigen Bevölkerungswanderungen, zur Zivilstandsgesetzgebung und zur nationalen Einigung kamen die im 19. Jahrhundert immer wieder auftretenden wirtschaftlichen Depressionen, der Kulturkampf und der Weltanschauungskampf mit Sozialdemokratie und Materialismus. Die Konturen der Herde 1 2 0 , für die sich der Pastor verantwortlich fühlen sollte, verschwammen in Übervölkerung der Städte und Landflucht, im Pluralismus der Meinungen und Anschauungen immer mehr, die Gemeinden wurden zu groß, die Ansammlung der Menschen zu vielfältig, als daß Erfahrungsregeln für das Handeln des Seelsorgers hätten langfristig Gültigkeit behalten können 1 2 1 . F ü r diese Problematik bot Nitzschs Entwurf einer wissenschaftlichen Seelsorge eine sinnvolle Lösung. Die Einsprüche gegen seine Seelsorgelehrevor allem aus Kreisen des konfessionellen Luthertums - leugneten dann auch keineswegs die Problematik des pfarramtlichen Dienstes unter den gegebenen Zeitumständen; sie richteten sich aber entschieden gegen die Gefahr einer Auflösung der kirchlichen Gemeinschaft durch eine Intensivierung der speziellen Seelsorge. Das kirchliche A m t galt G. v. Zezschwitz 1 2 2 , Th. H a r -

1 2 0 K a u m zufällig wird der Begriff der Poimenik zur Bezeichnung der Seelsorgelehre in dieser Zeit in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt (vgl. T h . Harnack, Die Pastorallehre oder die Geschichte und T h e o r i e der Seelsorge, in: O . Z ö c k l e r (Hg.), Die praktische Theologie. Handbuch der theologischen Wissenschaften, Nördlingen 1885, S. 4 1 3 - 4 4 9 , hier: S. 415), einer Zeit, in der die Vorstellung von der Gemeinde als einer Herde keineswegs mehr selbstverständlich sein konnte, in der Nitzsch wie auch andere praktische Theologen die Frage nach dem Verhältnis von Seelsorge und Innerer Mission ernsthaft stellten. 1 2 1 Vgl. K . Schmerl, D i e spezielle Seelsorge in der lutherischen Kirche unter der O r t h o d o x i e und dem Pietismus, Nürnberg 1893, S. 7:

„Die Gegenwart wendet ihre Aufmerksamkeit mehr denn sonst den Aufgaben der speciellen Seelsorge des geistlichen Amtes zu. Man hält dieselbe vor Allem berufen, in den R i ß zu treten, den kirchlichen Nothstand zu beseitigen, das Verlorene wieder zu bringen, dem Zerreißen zu wehren, das Schwache zu stärken. Aehnlich wie im 17. Jahrhundert zeigt sich in der Gegenwart ein äußeres Kirchenwesen, das bei dem Andringen des Unglaubens und dem Eindringen des Sektenwesens Bankrott zu machen droht. D e r Schaden äußerer Kirchlichkeit wurde gegen E n d e des 17. Jahrhunderts nicht so augenfällig. Die Auflösung der Kirche war staatlicherseits verhindert. . . . Anders verhält es sich in der Gegenwart, die das Band zwischen Staat und Kirche gelockert hat. Nach der Einführung des Civilstandsgesetzes im deutschen Reich wurde durch die Verschmähung der kirchlichen Handlungen offenbar, wie weite Kreise des Volkes nur noch in einem losen Zusammenhang mit der Kirche gestanden hatten." 122 Vgl G . v. Zezschwitz, System der praktischen Theologie. Paragraphen für academische Vorlesungen, Leipzig 1876.

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nack 123 und F. Steinmeyer 124 als Garant der Unversehrtheit der Gemeinde. Sie sprachen dem anthropologischen Gesichtspunkt eine orientierende Funktion für die Poimenik ab und versuchten statt dessen, die ekklesiologische Orientierung verstärkt zur Geltung zu bringen. Während G. v. Zezschwitz alle speziellen seelsorglichen Handlungen auf das „Communionleben der Gemeinde" 125 bezog und ihnen die Aufgabe der „Erhaltung" des einzelnen in dieser Cultus-Gemeinschaft zuwies 126 , faßte Th. Harnack - bei gleicher Grundtendenz - die Aufgabenbestimmung der Seelsorge differenzierter und weiter: Subjekt der Seelsorge war auch für ihn das kirchliche Amt, Objekt der einzelne Christ bei seiner „Aufgabe der Durchführung und Bewahrung des Glaubens in den mannigfachen Verhältnissen des Lebens" 127 , nicht jedoch in den Besonderheiten seiner Persönlichkeit, sondern insoweit er Objekt der „Leitung, Pflege (und) Zucht" 1 2 8 durch den Amtsträger wird. Waren somit die Amtstätigkeiten als Richtschnur der Ausübung der Seelsorge bestimmt, so aber doch nicht in der „mechanischen Anschauungsweise des Romanismus", nicht unter Absehung von dem „hohen Wert, den das Christentum der Einzelpersönlichkeit beilegt"; andererseits aber sollte auch die „atomistische Anschauungsweise des Pietismus und Methodismus" 129 vermieden werden. Das Selbstbewußtsein des Seelsorgers hat sich nach Th. Harnack zu gründen auf den „Anspruch, den das Christentum erhebt, allbeherrschendes Lebensprinzip zu sein", ein Anspruch, der zwar den „natürlichen... Gemeinschaftsordnungen und Lebensaufgaben" ihr Recht

Vgl. Th. Harnack, Die Pastorallehre (1885), bes. S. 416: „Wir fassen also den Ausdruck spezielle' Seelsorge nicht im subjektiven Sinne, wornach nur das Einzelsubjekt als Gegenstand derselben verstanden wird; diese Begrenzung unserer Disziplin ist uns zu eng, sie erinnert an den Pietismus. Seelsorge und Kultus sind quantitativ gar nicht zu unterscheiden; denn auch die erstere bezieht sich auf das Einzelsubjekt, sofern es zugleich einem größeren Ganzen angehört: der Familie, der Gemeinde, dem Volk, die auf dasselbe immer, und mehr als man es ahnt, einen Einfluß in gutem oder schlimmen Sinne ausüben." 124 Yg] ρ Steinmeyer, Die specielle Seelsorge in ihrem Verhältnis zur generellen, Berlin 1878. 1 2 5 G.v.Zezschwitz, a.a.O., S.475. Vgl. S . 4 7 4 f . : „Wenn die ähnlich gestellte Principfrage Andere auf die Vorstellung führt, das Charakteristische der Seelsorge, in der Wirkung Einzelner auf Einzelne zu suchen, woher man Recht und Begriff der Sonderdisciplin auch jetzt noch teilweis ableitet; so spricht dagegen nicht nur der Eindruck des äusserlich formellen Teilungsgrundes; sondern positiv widerstrebt das Gemeindeinteresse an solcher Erhaltung, wie der besprochene dynamische Gemeinschaftseinfluss. . . . Daher ist Erhaltung ,auf der Höhe des Communionlebens' die unentbehrliche und charakteristische Näherbestimmung des Grundbegriffs. Die ,Seelsorge' aber als specifische Function muss unterschieden werden von der seelsorgenden Art der Vermittlung des Heiles, die allem kirchlichen Handeln eignet, sofern Seelenversorgung sein Zweck ist." 1 2 6 v. Zezschwitz, a.a.O., S. 476 u. ö. 127 Th. Harnack, Die Pastorallehre (1885), S. 416. 1 2 8 Harnack, a.a.O., S. 417. 1 2 9 Ebd. 123

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nicht abspricht, sie aber als „der Heiligung bedürftig" ausweist 130 . Die Seelsorge als gestaltende Tätigkeit des Amtsträgers bringt das Christentum als Lebensprinzip zur Geltung. „Die Mittel (der Seelsorge) s i n d . . . der Form nach mannigfache: didaktische, liturgische, pädeutische; aber sie konzentrieren sich alle in dem Einen Worte Gottes. Und zwar kommt dieses hier in Betracht als lösendes, sündenvergebendes und Kraft zum neuen Leben verleihendes; als segnendes, alle gottgeordneten Aufgaben und Verhältnisse des Lebens heiligendes, und als bindendes, sündebehaltendes, zum Heil strafendes und richtendes. Also sind Absolution, Benediktion und Retention die unentbehrlichen Mittel der Seelsorge." 131 Die Verrichtung solcher Amtstätigkeiten ist „nicht von der Persönlichkeit des Seelsorgers und seiner religiös-sittlichen Q u a l i t ä t . . . abhängig, sondern von dem den Vorschriften entsprechenden, legalen Vollzuge der Gesetze und Institutionen" 132 , damit aber auch nicht von der Ausbildung einer speziellen seelsorgerlichen Funktion, nicht von bestimmten neuen, speziellen Tätigkeitsmerkmalen 133 . Eine solche Auffassung steht in einem unübersehbaren Gegensatz zur speziellen Seelenpflege nach C. I. Nitzsch. In ausdrücklicher und scharfer Auseinandersetzung mit Nitzsch propagiert F. Steinmeyer die Hilfsfunktion der speziellen Seelsorge für die Arbeit des Amtsträgers an der ganzen Gemeinde. „Es gilt dem Schaden zu wehren, welcher dem Ganzen von Seiten der Einzelnen, es gilt den Segen zu sichern, der von dem Ganzen über die Einzelnen kommen soll. . . . Durch Seelsorge an den Einzelnen, durch wirkliche c u r a , . . . , in der realen Hülfe der Diaconie räumt er (sc. der Seelsorger) das Widerstreben hinweg, und ihre abnorme Stellung wird geheilt; mit den Andren in Harmonie werden sie dem Ganzen wieder «134 congruent. Ebd. Ebd. 1 3 2 E . C h r . Achelis, A r t . Seelsorge. R E 3 (1906), B d . 18, S. 134; vgl. d a z u auch F. L . S t e i n m e y er, D i e specielle S e e l s o r g e (1878), S. 4 1 : „ W e m aber d r ä n g t e sich angesichts derartiger A n s p r ü che nicht die F r a g e a u f : Π ρ ό ς τ α ϋ τ ά τ ι ς ι κ α ν ό ς ; O u t r i e r t e A n f o r d e r u n g e n thun niemals gut. Sie s p o r n e n nicht an, s o n d e r n sie l a h m e n ; sie f ö r d e r n d a s H a n d e l n nicht, s o n d e r n sie sistiren die T h ä t i g k e i t . Sie sind ein S y m p t o m f ü r die U n h a l t b a r k e i t einer T h e o r i e , welche solcher Mittel b e d ü r f t i g ist. M a n irrt, w e n n m a n des H i r t e n P e r s o n z u m F a k t o r der seelsorgerlichen E r f o l g e macht." 130 131

133

Vgl. F. L . Steinmeyer, D e r G e d a n k e der A r b e i t s t h e i l u n g , Berlin 1878.

F. L . Steinmeyer, D i e specielle S e e l s o r g e (1878), S. 5 6 f . Vgl. auch E . C h r . Achelis, A r t . S e e l s o r g e (1906), S. 135: „ S o ist es auch Pflicht und R e c h t der E h e l e u t e untereinander, des L e h r e r s an seinen Schülern, des F r e u n d e s an d e m F r e u n d e , aller untereinander spezielle Seelsorge zu ü b e n . D i e Allgemeinheit dieser Pflicht u n d dieses R e c h t e s beruht auf der n a t u r n o t w e n d i gen E i n w i r k u n g , die innerhalb jeder G e m e i n s c h a f t der eine auf den anderen, der E i n z e l n e auf die G e s a m t h e i t , die G e s a m t h e i t auf den E i n z e l n e n a u s ü b t . . . . A u c h das ist h e r v o r z u h e b e n , daß es keine G e m e i n s c h a f t giebt, die nicht im Interesse ihres B e s t a n d e s einen Z w e c k entsprechenden E i n f l u ß auf ihre G l i e d e r gewinnen m ü ß t e . " 134

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Das Amt, nicht die virtuose Beherrschung spezieller Handlungsweisen 135 gibt der cura animarum nach Auffassung dieser Seelsorgelehrer erst das Ansehen, mit dem sie wirksam auf die Mißstände in den Gemeinden eingehen kann, mit dem sie sich auch gegen Bestrebungen der Inneren Mission verwahren kann, sofern sie das Gemeindeleben beeinträchtigen: „Die Begrenzung der speziellen Seelsorge auf das einzelne Gemeindeglied i s t . . . auch um deswillen zu vollziehen, weil, vornehmlich in neuerer Zeit, die Aufgabe der speziellen Seelsorge durch die sozialen Aufgaben der Gemeinde und des Pastors, durch Vereinsthätigkeit und sonstige Bestrebungen der Inneren Mission verwirrt und zurückgedrängt worden ist. D e r Wert dieser Bestrebungen und ihre Unerläßlichkeit für Bewahrung und Förderung der Gemeinde wird nicht in Abrede zu stellen sein. Auch sie dienen der Seelsorge, der Cura generalis wie der Cura specialis, aber sie ersetzen diese nicht. U m der Reinlichkeit der Begriffe und um der Erkenntnis der Aufgabe willen sind sie von der speziellen Seelsorge z u unterscheiden." 136

Mit der Konzentration auf den Amtsbegriff, mit der Ablehnung von funktionaler Aufgabenspezialisierung und Seelsorge-Virtuosentum 137 im Pfarramt kann sich aber letztlich doch ein Beharren auf einer traditionellen Struktur kirchlichen Lebens nicht mehr verbinden. Indem sich das Interesse auf eine Harmonie des kirchlichen Organismus richtet, auf eine Konservierung der organischen Gemeinschaft, zeigt sich auch diese Amtstheorie als einer übergreifenden Idee bedürftig, die unter den Bedingungen weiter zerfallender gesellschaftlicher Stabilität dem Amt einen Raum bietet, in dem der Amtsträger ohne Uberforderung seinen Dienst verrichten könnte. Aus verschiedenen Richtungen münden die anthropologische und die ekklesio135 Vgl. F. L. Steinmeyer, Der Gedanke der Arbeitsteilung (1878), S. 152 f. „Sie (sc. gewisse Geistliche) glauben ihrer Heerde mehr zu leisten indem sie die Eine Funktion in virtuoser Weise versehen, als wenn sie die bemessene Kraft vertheilen oder wie sie sich auszudrücken lieben zersplittern... Weder an und für sich noch auf ein Interesse der Gemeinde wird jene Concentrirung auf eine einzelne Funktion eine Segensquelle seyn. Der Erfolg ist das grade Gegentheil. Der Prediger, welcher seine ganze Kraft der Kanzelthätigkeit zu Diensten stellt, gelangt etwa - die Begabung vorausgesetzt - zu der oratorischen Meisterschaft eines Flechier und Bourdaloue, eines Dodd und Saurin; der Catechet zu der technischen Virtuosität eines Dinter; und der Seelsorger zu demjenigen Geschick in der Sondirung der Gemüther und ihrer Falten, wie ein Feuerbach dasselbe auf dem juridischen Gebiete entfaltet hat. Allein die rhetorische Kunst macht nicht zum Prediger, ..., und der psychologische Scharfsinn nicht zum Seelsorger." 136 E. Chr. Achelis, Art. Seelsorge (1906), S. 133. Drastischer hatte wiederum F. L. Steinmeyer, Die spezielle Seelsorge (1878), diese Überzeugung zum Ausdruck gebracht: „Geistliche Rohheit und Verkommenheit, Stumpfheit und Ignoranz, Demoralisation und Verwilderung, rufen die Arbeit des Halieuten herbei: des Seelsorgers Ernte sprießt an dieser Stätte nicht" (S. 53). 137 Der Begriff der Virtuosität unterscheidet hier nicht mehr wie bei Schleiermacher Klerus und Laien, sondern bezeichnet, wiewohl von Schleiermacher entlehnt, den Berufsspezialisten.

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logische Theorie der Seelsorge deshalb in eine Interpretation des reformatorischen Grundsatzes vom Priestertum aller Gläubigen: „Die andere Frage betreffend, die nach dem Subjekt der Seelsorge, so ist dasselbe die Kirche, darum primär der Träger des kirchlichen Amts (vgl. die Pastoralbriefe); dieser aber nicht ohne die Gemeinde. Denn das Feld der Seelsorge ist nicht nur ein sehr großes, umfangreiches und mannigfach verzweigtes, sondern es erfordert auch Kräfte und Gaben, die nicht an das Amt allein gebunden, sondern von dem Herrn verschieden verteilt sind (1 .Kor 12). Es besteht nach evangelischer Anschauung keine Kluft zwischen dem kirchlichen Amte und dem allgemeinen Priestertum. Darum soll die Seelsorge geübt werden von den Trägern des geistlichen Amts unter geordneter Mitwirkung der in der Gemeinde vorhandenen Kräfte und Gaben; wie es Ephes 4,12 heißt: Christus hat etliche zu Hirten und Lehrern gesetzt προς τον καταρτισμόντών άγίων, είς έργον διακονίας, είς οίκοδομήν τοϋ σώματος τοϋ Χ ρ ί σ τ ο υ . " 1 3 8

Die Charismenlehre, die als Interpretament die „Kluft zwischen dem kirchlichen Amt und dem allgemeinen Priestertum" schließen soll, hat jedoch Merkmale, die eine funktionale Theoriebildung gerade zu fördern vermögen.

3. „Seelsorge Aller an Allen ": Der Anspruch auf Verbindung von genereller und spezieller Seelsorge Die Beobachtungen zur evangelischen Seelsorge im 19. Jahrhundert ließen erkennen, daß es sich bei der Entwicklung der wissenschaftlichen Seelsorge und Seelsorgelehre nicht mehr um den Entwurf einer pastoralen Amtslehre handelte. Die gesellschaftliche Kraft, die dem evangelischen Pfarrerstand bis zum 19. Jahrhundert sein öffentliches Ansehen und seinen gesellschaftlichen Einfluß zumaß, war keine berufsständische und beruhte nicht auf einem zünftigen Konsens; es war die staatliche Macht des Landesfürsten oder Patronatsherrn. Es lag nahe, daß sich die Amtsträger der evangelischen Konfessionen beim Zusammenbruch der alten Reichs- und Ständeordnung für die fernere Gestaltung der Aufgaben, die sie in der Gesellschaft wahrzunehmen gedachten oder zugeschrieben erhielten, auf den allgemein beschrittenen Wegen zu bewegen versuchten, die Ausbildung zum Pfarrer etwa nach dem Vorbild der Ausbildung zum preußischen Staatsdiener einrichteten und das Universitätsstudium obligatorisch machten 139 . In den Zusammenhang dieser akademischen praktisch-theologischen AusTh. Harnack, Die Pastorallehre (1885), S . 4 1 8 . Zum allmählichen Ubergang vom Besitz zur Bildung als Voraussetzung zum Eintritt in den preußischen Staatsdienst vgl. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution (1975 2 ), S. 245 f., 440 ff. 138 139

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bildung gehört die Seelsorgelehre von Α. Schweizer und C. I. Nitzsch. Sie orientierte sich an der Berufspraxis des Wissenschaftlers, in historisch-psychologischer Theoretisierung der Seelsorgepraxis, mit dem Resultat einer speziellen Seelsorgetheorie. Die Theorie einer generellen Seelsorge, die durch allgemeine organisatorische Maßnahmen auf den einzelnen einzuwirken plante, fand ihre wirkungsvollsten Vertreter dagegen faktisch nicht unter den Amts- und Seelsorgetheoretikern, wie G. v. Zezschwitz, Th. Harnack oder F. L. Steinmeyer, sondern in sozialpolitisch planenden Theologen wie Th. Fliedner, J. H. Wichern, G. Werner, später E. Sülze, F. Naumann und anderen Mitgliedern des evangelisch-sozialen Kongresses. Vornehmlich die im Zentralausschuß der Inneren Mission zusammengeschlossenen Initiativen einer freiwilligen Diakonie orientierten sich nicht an einer wissenschaftlich-theologischen Seelsorgelehre, sondern an der Theorie politischer Praxis140. Sie traten deshalb zunächst unvermeidlich in Konkurrenz zum Handeln der amtlichen Vertreter der Kirche in Gemeinde und Kirchenleitung, die zumeist noch im Sinne einer traditionellen Amtstheorie agierten und planten. Indessen zeigte sich schon an Nitzschs Seelsorge-Theorie, daß auch für die Vertreter einer wissenschaftlichen Seelsorgelehre trotz ihrer Orientierung an Person und Aufgaben des Pfarrers eine Theoriebildung ohne „Rücksicht auf die Innere Mission" 141 , also ohne Blick auf die organisatorischen Realisierungschancen der poimenischen Überlegungen im sozialen Gefüge, nicht mehr sinnvoll zu entwerfen war. Die Zeit nach der Reichsgründung und der Verabschiedung der Zivilstandsgesetzgebung führte zu einer Intensivierung der Bemühungen kirchlicher Kreise um den Bestand wirkungsvoller Formen kirchlichen Lebens und Handelns. Zu den bekanntesten unter den Initiativen, die sich in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einer Gestaltung des kirchlichen Lebens durch die Intensivierung traditioneller Sozialformen im Interesse des einzelnen Christen zuwandten, gehört die Arbeit von E. Sülze in Dresden142. Sie versuchte das Schlagwort von der „Seelsorge Aller an Allen" organisatorisch zu verwirklichen. Verschiedene Motive christlicher Uberlieferung und sozialer Realität verbindend, suchte Sülze nach Formen christlichen Gemeindelebens, die die Bevölkerungsströme kanalisieren sollten. Die Aufforderung zur Bruderschaft nach Mt 18 und die Sozialform der Familie verbanden sich für Sülze organisch zur Forderung nach der Organisation von 1 4 0 Vgl. vor allem F. Naumann, Werke. Erster Band. Religiöse Schriften, hg. v. W. Uhsadel, Köln 1964; zu Naumann und seinem Beitrag zur Seelsorge vgl. J. Rabast, Die Entwicklung der Seelsorge im 19. und 20. Jahrhundert (1970). 141 C. I. Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege (1868) § 4 1 6 , 1 7 f . und § 434, S. 4 2 f f . 1 4 2 E. Sülze, Die evangelische Gemeinde 1 8 9 1 1 , 1 9 1 2 2 . - Vgl. dazu P. Hennig, Konfirmandenelternarbeit, Stuttgart 1982, S. 3 2 - 4 0 .

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Seelsorge-Gemeinden. Durch administrative Maßnahmen, wie Aufteilung der Parochien in übersichtlichere Gemeindebezirke, Aufhebung der Rangunterschiede zwischen Pfarrern, Gründung von Hausväterverbänden innerhalb der Gemeindebezirke, Übertragung des Rechts zur Pfarrerwahl auf die Gemeinden 1 4 3 , aber auch durch eine Vielzahl von Hinweisen zur Gestaltung des kirchlichen und gottesdienstlichen wie auch des alltäglichen Zusammenlebens in der Gemeinde 1 4 4 versuchte Sülze, christlichem Leben eine Basis zu geben. Sein Leitgedanke war dabei aber überraschenderweise keine ideale Gemeinschaftsform, sondern die Idee eines persönlichen Christentums 1 4 5 , darin der Seelsorgetheorie von C. I. Nitzsch verwandt, vermutlich von ihr abhängig 146 . Für ausgeschlossen hielt Sülze die Förderung eines solchen persönlichen Christentums, die Anwendung der rechten christlichen Erkenntnis auf das eigene persönliche Leben ohne fremde Hilfe, ohne den Eindruck einer persönlichen Autorität auf die Seele. Denn „Beichte hören, Absolution erteilen und Kirchenbußen auferlegen, das ist sicher schwer. Seelsorge aber im evangelischen Sinne ist die Erziehung zu christlichem Charakter. Sie ist nur möglich durch eine unablässige, stetige Einwirkung" 1 4 7 . Unter den tatsächlichen sozialen Gegebenheiten aber sieht auch Sülze keine andere Möglichkeit, als diese erziehende Seelsorge mit diakonischer Unterstützung 1 4 8 zu beginnen. Als wohlwollender, aber doch kritischer Rezensent der Sulzeschen Reformschrift macht E. Chr. Achelis gegen die intensive Verwendung des Erziehungsgedankens geltend, daß die Gemeinde nach evangelischem Verständnis im Gottesdienst zum Vollzug ihrer Gemeinschaft gelange, nicht aber durch organisatorische Maßnahmen, und sei deren erzieherischer Wert noch so unbestreitbar 149 . Sülze findet aber gerade in der sozialerzieherischen Perspektive seines Programms lebhafte Zustimmung in den Kreisen des evangelisch-sozialen Kongresses, der sich zur Behandlung der drängenden sozialen Fragen im Jahr 1 4 3 Vgl. E . Sülze, a.a.O., S. 2 6 - 4 1 : „Wesen und Organe der Seelsorgegemeinden"; vgl. auch S. 141 f. - ders., Die Organisation der evangelischen Gemeinde, in: Flugschriften des Evangelischen Bundes, N r . 46, Leipzig 1890, S. 1 - 2 1 . 1 4 4 Vgl. E. Sülze, Die evangelische Gemeinde (1912), S. 161 — 171: „Der außergottesdienstliche Verkehr der Gemeindeglieder miteinander." 1 4 5 Vgl. Sülze, a.a.O., S . 6 , 2 9 u . ö . Zur Idee eines persönlichen Christentums und ihrer Verbreitung besonders unter den Schülern A . v. Harnacks vgl. F. Naumann, Die Industrialisierung des Christentums, in: ders., Werke, Bd. 1 , 1 9 6 4 , S. 821.

C. I. Nitzsch, Die eigenthümliche Seelenpflege (1868), § 399, S. 2. Sülze, a.a.O., S. 31. Die Vorstellung von der Gemeinde als Familie war dem Persönlichkeitsgedanken durchaus untergeordnet. 146

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Vgl. Sülze, a.a.O., S. 31, 43. Vgl. E . Chr. Achelis, Rez. E. Sülze, Die evangelische Gemeinde, in: ThStKr 6 5 / 1 8 9 2 , S. 7 7 7 - 7 9 7 , hier: S. 793. 148

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1890 150 konstituierte und seitdem in jährlichen Versammlungen bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts Sozialpolitiker und Theologen - vor allem der kulturprotestantischen Richtung der evangelischen Theologie zusammenführte. Nicht zufällig lautete das Thema des Eröffnungsreferats des ersten Kongresses „Die Kirchengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung". Hermann von Soden unterstrich darin die Notwendigkeit einer persönlichen Seelenpflege zur Förderung evangelischen Christentums: „ . . . bei u n s thut es nicht die I n s t i t u t i o n , s o n d e r n die P e r s o n , nicht die äußere A u t o r i t ä t , der m a n sich b e u g t , s o n d e r n die l e b e n d i g e K r a f t , die innerlich ü b e r z e u g t . D a r u m gilt es bei u n s , nicht u n m ü n d i g z u halten, s o n d e r n reif z u m a c h e n . . . . D a r u m b e d a r f . . . i n n e r h a l b der p r o t e s t a n t i s c h e n K u l t u r das C h r i s t e n t h u m . . . eine viel intensivere P f l e g e als in den k a t h o l i s c h e n L ä n d e r n . U n s e r evangelisches C h r i s t e n t h u m ist eine viel z a r t e r e P f l a n z e , d a r u m will sie viel treuer u n d peinlicher g e h e g t u n d g e p f l e g t w e r d e n . . . . U n s e r e evangelische F r ö m m i g k e i t verlangt z u i h r e m G e d e i h e n nicht I n s t i t u t i o n e n , die m a n w i r k e n läßt, nicht H a n d l u n g e n , die m a n m e c h a n i s c h vollzieht - sie verlangt d e n vollen E i n s a t z der g a n z e n e v a n g e l i s c h = c h r i s t l i c h e n Pers ö n l i c h k e i t , den l e b e n d i g e n A u s t a u s c h der v o r h a n d e n e n , p e r s ö n l i c h g e w o r d e n e n , aus dem Evangelium erwachsenen Kräfte."151

Von Sodens Hinweis auf die begrenzte Kraft der Geistlichen und sein Appell zur Beteiligung der Gemeinden - zumal angesichts der intensiven Vereinsarbeit der Sozialdemokratie - wird in der anschließenden Diskussion zwiespältig aufgenommen. Der lebhaften Zustimmung mit einem besonderen Höhepunkt in J. Kaftans Forderung, die Klassenschranken durch eine „Seelsorge Aller an Allen" 1 5 2 zum Fallen zu bringen, widersprechen freikirchlich und amtskirchlich gesinnte Theologen; ebenso läßt sich aus Regierungskreisen die mahnende Stimme nach mehr Sachkompetenz in sozialen Fragen vernehmen 153 . Die Diskussion über von Sodens Referat läßt ahnen, in welche Aporien das Sulzesche Gemeindeprogramm seine Verfechter über kurz oder lang stürzen mußte und dann auch tatsächlich stürzte: Die Forderung einer intensiven Seelenpflege aller an allen als Auslegung des reformatorischen Gestaltungsprinzips des Priestertums aller Gläubigen entlastete den Pfarrer nicht, sondern mutete ihm eine um vieles größere Verantwortung zu. Der Einsatz für eine Erziehung aller - oder wenigstens der Hausväter - zur Befähigung zu intensiver Seelsorge, gedacht als persönliche Einwirkung auf einzelne ande150 y g j B e r i c h t e über die Verhandlungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1890 ff. 151 Hermann v. Soden, Die Kirchengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung, in: Bericht über die Verhandlungen des Ersten Evangelisch=sozialen Kongresses, Berlin 1890, S. 27f. 152 Bericht über die Verhandlungen des Ersten Evangelisch=sozialen Kongresses (1890), S. 38. 153 A.a.O., S. 39 f.

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re, noch dazu unter Berücksichtigung der sozialdiakonischen Aspekte im Vorfeld der geistlichen Seelsorge, mußte als Uberforderung empfunden werden, zumal in einer Welt, die solche Forderungen ja gerade deshalb aufdrängte, weil sie so unüberschaubar und in den Abläufen der gesellschaftlichen Prozesse undurchsichtig geworden war. Die von den Diskussionsrednern nahegelegten Lösungsmöglichkeiten, die amtskirchliche Lösung, d.h. Beschränkung des Pfarrers auf die Tätigkeiten, die auch bisher seines Amtes waren, bei verbesserter Qualität 1 5 4 , die freikirchliche Lösung, rigorose Eingrenzung des Personenkreises, dem sich der Pfarrer zuzuwenden hätte 155 , und die sozial-professionelle Lösung, Verbesserung des Fachwissens etwa auch im Bereich der Nationalökonomie 1 5 6 , haben nach und nach unter den Seelsorgelehrern alle ihre Verfechter gefunden 157 . Es muß aber festgehalten werden, daß die Einbindung der speziellen Seelsorge in den Zusammenhang einer organisatorischen allgemeinen Seelsorge, die Verknüpfung intensiver Einwirkung auf den einzelnen und auf die Gemeinschaft zur Förderung des einzelnen sich einem Sendungsbewußtsein (kultur-)protestantischer Provenienz verdankt, das - aus den weltanschaulichen Auseinandersetzungen mit dem Materialismus und Monismus, mit Sozialismus, Nihilismus und Atheismus und manch anderer Richtung 158 hervorgegangen - zwar verständlich ist, mit seinen geradezu imperialen Zügen als Grundlage einer protestantischen Seelsorge aber psychologisch wie vor allem ethisch durchaus problematisch erscheinen muß. Den selbstbewußten Gestaltungswillen des „Seelsorger(s) unserer Tage" läßt O . Baumgarten in seinem ersten größeren Beitrag zur Poimenik kaum verhohlen anschaulich werden, wobei er an das Sulzesche Generalthema anknüpft: „Wie kann die evangelische Gemeinschaft zu einer sozialen Macht organisiert werden?" 1 5 9 Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" erfährt in einzelnen ihrer Aussagen eine mit Metaphorik aus dem Sachbereich der Nationalökonomie überaus merkwürdig ausgestattete Deutung: Luthers Aufforderung, „ . . . daß jeder einzelne Christ mit den geistlichen Gütern des Glaubens und der Gerechtigkeit selber den Brüdern diene, sich mitteile, für andere eintrete...", daß man „sich schicken (solle) in Ebd. Ebd. 156 Ebd. 157 Vgl. z . B . F . N a u m a n n , Der evangelisch=soziale Kursus in Berlin, in: C h W 7/1893, Sp. 1083, 1 1 5 1 - 1 1 5 4 , 1 2 4 9 - 1 2 5 1 . iss J ) i e geistige Lage des ausgehenden 19. Jahrhunderts war zudem geprägt von den Folgen des Kulturkampfes und von einer durch die kolonialen Bestrebungen zunehmenden Auseinandersetzung mit den anderen Weltreligionen. 159 O . Baumgarten, Der Seelsorger unserer Tage, in: Evangelisch-soziale Zeitfragen, Erste Reihe, Drittes Heft, Leipzig 1891, S. 3. 154

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Ordnungen der Gemeinschaft um der schwachen, unfreien Glieder willen" wird in Baumgartens Interpretation zu einer Kritik eines „falsch-freiheitlichen Individualismus", der „die Manchestertheorie auf das kirchliche Gebiet übertrug und die Gemeinde in lauter selbstherrliche Atome zersetzte" und eines „hierarchischen Bureaukratismus, der das alte Zunftwesen auf kirchlichem Gebiet künstlich konservierte, sogar repristinierte und die Gemeinde an gesunder, elastischer (!) Ausdehnung bis zur Wirksamkeit auf Geister einer neuen Zeit hinderte" 160 . Gegen solche Mißstände sei „das Priesterrecht der religiös-sittlichen Persönlichkeit und die Priesterpflicht der Selbstaufopferung derselben für die Gemeinschaft des Heils" zu fordern, damit „jede einzelne Seele, mit Christo verbunden, teil an seinem Königtum und Priestertum gewinne" 161 . Als Auswege aus dieser Uberforderung des Seelsorgers bieten sich an und werden folgerichtig auch bald angeboten: Fachwissen, Arbeitsteilung und Begrenzung der Gemeindegröße 162 , um noch nicht zu sagen: der Klientel sowie Mitarbeit der Laien in der Seelsorge. Das Fachwissen erstreckt sich auf Materien, die P. Drews wenig später als religiöse Volkskunde 163 und Religionspsychologie für den Studiengang der praktischen Theologie ins Gespräch bringt 164 ; die Arbeitsteilung wird durch die besondere Beauftragung der Laien im Sinne eines allgemeinen Priestertums, aber auch durch Mitarbeiter aus Kreisen der Inneren Mission als erreichbar vorgestellt; bei den Begrenzungsvorschlägen tauchen im übrigen Gedanken auf, die für Baumgarten vor allem nach dem Ersten Weltkrieg in den entmutigenden Auseinandersetzungen über die Neugestaltung der evangelischen Kirchen in Deutschland, nun allerdings resignativ gewendet, bestimmend werden: „ S e e l s o r g e ist eine z u innerliche B e z i e h u n g , bei d e r z u sehr die innerste E i g e n t ü m lichkeit in A k t i o n tritt, als daß m a n darin mit a n d e r e n g e m e i n s a m e S a c h e m a c h e n o d e r alternieren k ö n n t e . " 1 6 5

O. Baumgarten, a.a.O., S. 5. Ebd.; Baumgartens Überlegungen zur Seelsorge haben also wie die von E. Sülze ihr Zentrum in der Förderung der Persönlichkeit. Die Vorstellung eines persönlichen Umgangs des Christen mit Gott prägte die Überlegungen zur Gestaltung einer für Gebildete akzeptablen religiösen Lebensform in der Ritschl-Schule (vgl. W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluß an Luther dargestellt, Stuttgart 18861). 162 Baumgarten, a.a.O., S. 32f. 163 P. Drews, „Religiöse Volkskunde", eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: M K P 1/ 1901, S. 1 - 8 . 164 P. Drews, Das Problem der Praktischen Theologie, Tübingen 1910. 165 O . Baumgarten, a.a.O., S. 9. Vgl. ders., Die Gefährdung der Wahrhaftigkeit durch die Kirche, Gotha—Stuttgart 1925, bes. S. 84. - D a z u : R. Schmidt-Rost, Ein Freund der Christlichen Welt. Otto Baumgarten als Verfechter eines freien Protestantismus, in: W. Steck (Hg.), Gedenkschrift für Otto Baumgarten zum 50. Todestag am 21.3.1984, Kiel 1986, S. 5 7 - 7 1 . 160 161

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In dieser strikten Individualisierung der Seelsorgebeziehung gerade im Zusammenhang mit und als Folge einer sozialorganisatorisch geplanten Realisierung des allgemeinen Priestertums zeichnet sich das negative Ergebnis derjenigen Versuche ab, die die spezielle und generelle Seelsorge von einem übergeordneten theologischen Prinzip her gleichzeitig und gleichgewichtig in die Realität übertragen zu können meinten. Seelsorge an einzelnen bringt nicht ohne weiteres real Gemeinschaft hervor, schon gar nicht unter dem Leitgedanken des allgemeinen Priestertums, der die Selbständigkeit des einzelnen stark betont, aber auch nicht unter intensiver auf Gemeinschaft gerichteten ekklesiologischen Vorstellungen wie Leib Christi oder Communio sanctorum. Generelle Seelsorge als organisatorische Maßnahme im Interesse des einzelnen muß damit rechnen, dessen Probleme eher zu verfehlen. Generelle und spezielle Seelsorge stehen nicht nur von ihrer Herkunft her, sondern auch psychologisch-sachlich in Konkurrenz, wenn die Beziehungen zwischen den einzelnen Beteiligten zum Kriterium und Hauptgegenstand der Seelsorge werden: Intensives Gruppenleben stört tendenziell dyadische Beziehungen, Einzelseelsorge hingegen tritt zum Gruppen- oder Gemeinschaftsleben in Konkurrenz, absorbiert Kräfte für den Dialog aus dem Reservoir der Gruppenkommunikation. Vorerst aber dominierte das Selbstbewußtsein der kulturprotestantischen Seelsorger und ihre Uberzeugung, daß der Organismus der Volksgemeinschaft bei angemessener Beeinflussung der einzelnen zur Hervorbringung und Stärkung von religiös-sittlichen Persönlichkeiten und zur Förderung kirchlichen Lebens fähig sei. Daß in diesem Sinn die Initiativen zu verstehen sind, die in den dreißig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur (Re-)Kultivierung von Gemeinschaftsformen mit religiös-sittlicher Aufgabenstellung führen wollten, wird am ehesten am evangelisch-sozialen Kongreß, aber auch an der Dorfkirchenbewegung 1 6 6 und an den Bemühungen um die Industrieseelsorge 167 deutlich. Die Initiatoren interpretierten ihre Aktionen als Bewahrung einer Tradition oder als Anregung einer neuen sozialen Bewegung in christlichem Geist von einem umschriebenen O r t in der Gesellschaft aus, aber in gesamtgesellschaftlichem Wirkungsinteresse, sei es vom aufgeklärten Bürgertum her, sei es aufbauend auf der ländlichen oder industriellen Lebensform, um Dorfkirchturm oder Fabrikschornstein. In diesem Zusammenhang sind dann auch publizistische Initiativen, die der „Gartenlaube"

1 6 6 Vgl. Die Dorfkirche. Illustrierte Monatsschrift zur Pflege des religiösen Lebens in heimatlicher und volkstümlicher Gestalt, hg. v. H . von Lüpke, 1/1907ff. 1 6 7 Vgl. z . B . H.Bechtolsheimer, Die Seelsorge in der Industriegemeinschaft, Göttingen 1907.

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eine „Christliche Welt" oder „Das Reich Christi" 168 als medialen Ort für christliche Leser an die Seite zu stellen gedachten, als Versuche zu verstehen, das Auseinanderfallen von spezieller Sorge um den einzelnen Menschen und genereller Sorge um das Gemeinwesen zu verhindern oder auf medialer Ebene zu rekonstruieren. All diesen Initiativen mußte allerdings vorerst noch verborgen bleiben, daß sie mit ihren Aktionen jeweils nur ein Segment innerhalb der modernen Gesellschaftsordnung nach alten Vorbildern oder neuen Plänen gestalteten, sich damit aber gerade in die Organisation sozialen Lebens einordneten und keinen Einfluß auf dessen Gestaltung gewannen, sondern eher noch zur Segmentierung beitrugen.

4. Zusammenfassung:

Theorie-Elemente

einer wissenschaftlichen

Poimenik

Drei Konstruktionsmerkmale der speziellen Seelsorge-Theorie des 19. Jahrhunderts lassen in exemplarischer Weise deren Zusammenhang mit der poimenischen Theoriebildung der Gegenwart erkennen, und zwar nicht nur im Sinne einer zeitlichen Kontinuität der Fortführung einmal geprägter Denkund Handlungsmuster, sondern auch im Sinne eines Problemzusammenhangs, der die gegenwärtige Seelsorgelehre als eine Antwort auf die durch die Seelsorgelehre des 19. Jahrhunderts aufgeworfenen Fragen erscheinen läßt: - Die wissenschaftliche Poimenik beschreibt ein Handeln am einzelnen Menschen oder mindestens in seinem Interesse auch dort wo die Gemeinde oder die Gemeinschaft der theoretische Ausgangspunkt oder Angelpunkt sein sollen, orientiert sich die Theorie der speziellen Seelsorge doch stets letztlich am einzelnen. Sozialstrukturelle Überlegungen haben in der speziellen Seelsorgelehre - selbst bei E. Sülze - im ganzen kein selbständiges Gewicht; es entwickelt sich eine Differenz von genereller und spezieller Seelsorge mit starker Asymmetrie: Generelle Seelsorge liefert in der poimenischen Theorie den institutionellen Rahmen und dient nur zur Verselbständigung der speziellen Seelsorge; tatsächlich wahrgenommen wird das Anliegen einer generellen Seelsorge in den Überlegungen zur diakonischen Organisation der Inneren Mission. Über den Begriff des Bedürfnisses werden hingegen selbst solche Theorien individualisiert, die von der Betrachtung sozialer 168 Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt (Red. F.Stolle), Jg. 1 - 8 0 (zu je 52 N r . ) , 1 8 5 3 - 1 9 3 2 . - Die Christliche Welt (Hg. M. Rade), l / 1 8 8 7 f f . - Das Reich Christi (Hg. J. Lepsius), 1 / 1 8 9 8 ff. -

Zum selbstbewußten Weltgestaltungswillen in der Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts vgl. Th. Schieder, Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäischen Weltpolitik bis zum I.Weltkrieg ( 1 8 7 0 - 1 9 1 8 ) , Hdb. der Europäischen Geschichte B d . 6 , Stuttgart 1968, § 1, 5. 1 ff.

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Verhältnisse ausgingen169. Die Anthropologie tritt mehr und mehr in den Mittelpunkt der Poimenik. - Die an externen Zwecken orientierte Theorie der Seelsorge faßt vorhandene Strukturen notwendigerweise nur als Ausgangslagen für Entwicklungsund Interventionsprozesse auf. Das tatsächlich Gegebene wird, etwa als Symptom einer Fehlentwicklung oder als psychosoziale Verflechtung mit schädlichen Folgen für die religiös-sittliche Entwicklung der Persönlichkeit, in Frage gestellt. Die Reflexion auf das Mögliche und Nötige muß dann allerdings institutionalisiert werden: Poimenik und Anthropologie werden damit - als Ersatz für das in der Pastoraltheologie festgehaltene Traditionelle und Übliche - notwendige Bestandteile der Praktischen Theologie. Man kann deshalb für die betrachtete Phase der wissenschaftlichen Entwicklung der Poimenik durchaus sagen, daß nicht die Humanwissenschaften der religiös-kirchlichen Praxis ihre Erkenntnisse nahelegten, sondern die Poimenik für die pastorale Praxis nach wissenschaftlicher Absicherung ihrer Handlungsformen suchte. Der Blick richtet sich bei der Orientierung an externen Zwecken weg vom Gegebenen, vom „Geschenk Schöpfung' und vom ,Überlieferungs-Gut' auf das Mögliche hin, auf das, was verantwortlich zu tun wäre, - und dann auf das Machbare 170 . Das Bewußtsein christlicher Weltverantwortung erfährt eine enorme Intensivierung; die Sorge für den einzelnen, den Nächsten, gehört mit gleicher Intensität zu diesem umfassenden Weltverantwortungsbewußtsein hinzu. Dem Zug zur technischen und methodischen Beeinflussung der sozialen Beziehungen' sind in dieser Entwicklung die Gleise gelegt, dem Druck der Anforderungen zur Gestaltung der sozialen Welt scheint man nur noch durch eine immer speziellere Ausbildung standhalten zu können. In dieser Situation lag die Orientierung der Pfarrer bei der Gestaltung ihres Seelsorgeauftrags am Vorbild des zu hohem Ansehen aufsteigenden naturwissenschaftlich gebildeten Facharztes nahe171. 169 Vgl. P. Drews, „Religiöse Volkskunde", eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: MKP 1/1901, S . l - 8 , zit. nach F.Wintzer (Hg.), Seelsorge (1978), S.54: „Wenn der theologische Praktiker, der Pfarrer, in fruchtbarer, zielbewußter und ihn selbst befriedigender Weise das Evangelium verkündigen will, so muß er genau unterrichtet sein über den Stand des religiösen Lebens der Kreise, auf die er wirken soll. Er muß wissen, was hier wirklich religiöser Besitz, was hier religiöses Bedürfnis i s t ; . . . " 170 Auch F. Wintzer (a.a.O., S. XLVIII) entgeht der Schwierigkeit einer anthropologischen Bestimmung der Seelsorge-Aufgabe nicht, die in letzter Konsequenz unvermeidlich die Frage nach den Zielen provoziert, zu denen ein Ratsuchender geführt werden soll. Daß Seelsorge in praxi aber nur im Ausnahmefall ein von den Zielen her bestimmter Vorgang ist, kann in der Theorie nur dadurch zum Ausdruck gebracht werden, daß auch dem Tun des Seelsorgers keine Ziele unterstellt werden, über die er durch sein Handeln letztlich mitverfügen könnte. 171 Vgl. Kap. 3.

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- Das Subjekt des Handelns ist in dieser funktionalen Theorie der Seelsorge nicht näher bestimmt. Jeder Christ soll prinzipiell die seelsorgerliche Verantwortung übernehmen können. Der ekklesiologische Grundsatz vom Priestertum aller Gläubigen erfährt eine pragmatische Wendung im Sinne einer Beteiligung aller mit ihren je spezifischen Begabungen und Fähigkeiten; damit aber eröffnet sich die Möglichkeit einer Wiederkehr der durch diesen Grundsatz kritisierten Position: Ein neues Priestertum wird möglich, ja erforderlich, denn die religiösen Qualifikationen werden ersetzt durch solche, die nach wissenschaftlich begründeter Auffassung als der Förderung und Orientierung des einzelnen in seinem Leben dienlich gelten können. Nicht mehr der sakramental vermittelte ,character indelebilis' macht den Seelsorger aus; man müßte eher von einem durch Ausbildung zu erwerbenden, Funktionen zusammenfassenden ,character personalis' sprechen. Der Weg zur Professionalisierung des religiösen Berufs ist damit eingeschlagen; er führt durch das Tor des freien Handelns des Seelsorgers hinaus auf das offene Feld einer ihrer Ordnungen nicht mehr gewissen freien Gesellschaft. Auf diesem Weg sind im folgenden Kapitel noch einige Schritte zu gehen, die der Illustration und Bestätigung der vorgelegten Interpretation der Entwicklung der evangelischen Seelsorgelehre dienen sollen, indem sie deren Folgen skizzieren. Zu bedenken ist bei dieser Skizze allerdings, daß auch andere Wege - selbständige und verselbständigte - mit ähnlichen Zielen über dieses Feld führen, daß etwa die Wege der kirchlichen Diakonie und der staatlichen Sozialarbeit von ihren eindeutigen Einsatz- und Ausgangspunkten, den jeweiligen Notlagen von Menschen, her, hier weiter zu verfolgen wären, weil sie teilweise mit der Entwicklung der Seelsorgelehre parallel gehen oder sich - aus anderer Perspektive betrachtet - mit ihr überschneiden. Es muß im Rahmen dieser Studie allerdings bei einigen ausgewählten Gesichtspunkten bleiben 172 .

1 7 2 Vgl. dazu aus jüngster Zeit: J . A l b e r t , Von der Apologetik zur offenen Diakonie. N o t wendige Hoffnungen für die Diakonie-Theorie, in: W z M 37/1985, S. 250—257 und die dort genannte Literatur.

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DRITTES KAPITEL

Von der speziellen wissenschaftlichen Seelsorge zur Seelsorge als diakonischer Spezialaufgabe 1

1. Die Konjunktur fachlicher Kenntnisse im Zusammenhang der Lebensführungskrisen des Menschen in der modernen Welt a) Menschenkenntnis und wissenschaftliche

Psychologie

Die Theorie einer wissenschaftlichen Seelsorge in der Fassung, die ihr im wesentlichen C. I. Nitzsch gegeben hatte, erfuhr eine Umprägung zur funktionalen Berufstheorie in dem Moment und unter den Bedingungen, unter denen bedeutungstragende Vorstellungen wie der Bildungsbegriff in Nitzschs Theorie oder der Gedanke einer Seelsorge „Aller an Allen", der ekklesiologische Grundbegriff der Gemeindetheorie von E. Sülze, auf keine gegebene Praxis oder Lebensform mehr verwiesen oder sich beziehen konnten, Bedingungen, unter denen auch der Amtsbegriff, durch die wissenschaftliche Definition seiner Funktionen erst recht, seine Wirkung als sozial gestaltende Struktur einzubüßen begann. Schon vor der politischen Katastrophe des Deutschen Reiches im ersten Weltkrieg rissen die Wandlungen der wissenschaftlich-technischen Welt in der modernen Gesellschaft die geprägten Gestalten des sozialen Gefüges in ihren Strudel, in dem sie grundlegende Veränderungen erlitten und ihrer Vielfalt nicht selten entledigt wurden 2 . Der Stand des evangelischen Pfarrers wurde nun gerade in den Kreisen 1 D a s dritte Kapitel hat die Aufgabe, Folgeerscheinungen der wissenschaftlichen Seelsorge und Seelsorgelehre namhaft zu machen. Es müssen dabei eine Fülle von Ereignissen, D e u t u n g e n und T h e o r i e n zusammengefaßt werden, um eine Interpretationsperspektive zu gewinnen. Es versteht sich von selbst, daß bei diesem Vorgehen viele Detailfragen angesprochen werden, die jeweils eine eigene differenzierte Darstellung verdienten ( z . B . A r z t und Seelsorger aus medizinischer Sicht, D i a k o n i e und Fürsorge, Krankheitsbegriff und Psychotherapie, E n t w i c k l u n g des öffentlichen Gesundheitswesens), die heute nicht von ungefähr bevorzugt interdisziplinären Bearbeitungen überlassen werden (vgl. ζ. B . zum Problem der Euthanasie: A . Eser ( H g . ) , Suizid und Euthanasie als h u m a n - und sozialwissenschaftliches P r o b l e m , Stuttgart 1976). 2 Vgl. ζ. B . O . Baumgarten, D e r sittliche Zustand des deutschen Volkes unter dem Einfluß des Krieges, in: J . T. Shotwell ( H g . ) , Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges. D e u t sche Serie, S t u t t g a r t - B e r l i n - L e i p z i g 1927, S. 1 - 8 8 .

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der ,modernen', kulturprotestantischen Theologen 3 als „Berufstyp" 4 aufgefaßt. Die wissenschaftliche Poimenik hatte zu dieser Wandlung vom A m t zum Beruf als einer modernen Profession die theoretischen Voraussetzungen geschaffen, den Impuls zur wissenschaftlich orientierten Modernisierung des Pfarramtes zum Beruf Pfarrer gegeben oder wenigstens verstärkt, ohne Einsicht in die Konsequenzen wissenschaftlichen Denkens für die weitere Gestaltung des Berufs schon gewinnen zu können, gewiß aber in dem Bemühen, die Kirche hinter dem Stand des modernen Bewußtseins nicht zurückbleiben zu lassen5. Die Entwicklungen, die das Fortschrittsbewußtsein gerade unter Gebildeten nach und nach zum Krisenbewußtsein modifizierten 6 , waren nun nicht mehr so sehr die äußeren wie Bevölkerungsexplosion, Mobilität und die damit verbundenen sozialen Probleme; die Breitenwirksamkeit all der bewußtseinsprägenden Vorgänge, der Erkenntnisse, Erfindungen und Entdekkungen, ergab sich erst aus der Möglichkeit, das Neueste und Aufregendste unmittelbar mitzuteilen, öffentlich wirken zu lassen und damit dessen soziale Relevanz zu behaupten. Das Medien wesen erlebte um die Jahrhundertwende einen erneuten Aufschwung, der die soziale Ordnung medial relativierte 7 . Informationen von öffentlicher Bedeutsamkeit wurden alsbald in das Privatleben des einzelnen hineingetragen, die Wissenschaften entwickelten 3 Vgl. zur treffenden Kennzeichnung des Kulturprotestantismus E.Troeltsch, Art. Protestantismus: II. P. im Verhältnis zur Kultur, RGG 1 IV, Sp. 1 9 1 2 - 1 9 2 0 , hier Sp. 1920: „Neben den spezifisch kirchlichen Gruppen steht die freie, kirchlich nicht gebundene Denkweise derer, die irgendeine neue Verbindung der modernen Kultur und des P(rotestantismus) erhoffen und an ihrem Teil zu erarbeiten streben. In dieser dritten Gruppe herrschen natürlich die verschiedensten Meinungen und Hoffnungen." Vgl. auch E. Sachsse, Das Christentum und der moderne Geist, Gütersloh 1906. 4 O . W i l h e l m , Der evangelische Pfarrer der Gegenwart, in: C h W 24/1910, S p . 9 7 2 - 9 7 6 , 9 8 7 - 9 9 2 , hier Sp. 973 u. 992. 5 Vgl. Wilhelm, a.a.O, Sp. 973: „Es gilt, das Evangelium nicht zu entleeren und sich von rasch und seicht daherfließenden Strömungen nicht mitreißen zu lassen. Es gilt in einer Zeit der geringen Dinge den vollen Ewigkeitsgehalt des Evangeliums immer wieder neu, immer mehr, immer treuer herauszuarbeiten. Es gilt gleichzeitig, die Verbindung mit allen idealen, aufbauenden Mächten im Volksleben weitherzig und großzügig im besten Stand zu erhalten. Wenn dann wieder andere Zeit kommt - (sc. Zuwendung zur Kirche statt Gleichgültigkeit)... - , dann muß die neu erwachende Bedürftigkeit die Kirche auf der Stelle finden. Es darf sich nicht das Schauspiel vom Ende des Mittelalters wiederholen, w o die Kirche zur Aufnahme neuer Gemütsund Volksbewegungen nicht mehr fähig war." 6 Vgl. für die historischen Zusammenhänge W . J . Mommsen, Die latente Krise des Wilhelminischen Reichs. Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890—1914, Militärgeschichtliche Mitteilungen XV (1974). - J. Willms, Nationalismus ohne Nation. Deutsche Geschichte von 1789 bis 1914, Düsseldorf 1983, bes. Kap. 19 „Das chaotische Erbe", S. 536ff. - B. W. Tuchman, Der stolze Turm, dt. M ü n c h e n - Z ü r i c h 1969. 7 Vgl. die Ubersichten von Chr. H . Schöner, Die periodische Presse und die Kirche, Gotha 1892, mit G. Fick, Verzeichnis der evangelischen Presse, Hamburg 1908. Während Schöner immerhin auch schon 238 Titel unter den „wichtigsten evangelischen Zeitschriften" (S. 158 ff.)

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sich zu einem F a k t o r im täglichen L e b e n zu dessen Gestaltung 8 . J e d e r m a n n w u r d e in den Stand o d e r wenigstens in die Meinung versetzt, über alles M ö g l i c h e mitreden und urteilen zu können 9 . D i e Folge w a r aber nicht die erhoffte

Verhaltenssicherheit

und

Lebensgewißheit,

vielmehr

nahmen

Orientierungslosigkeit und Unsicherheit z u : „Das Volk der Dichter und Denker hat sich nach allen Richtungen der Bewältigung der äußeren Welt hingegeben." 10 D a s geistige L e b e n aber bot den E i n d r u c k eines Kampfes der Weltanschauungen, eines Streits der wissenschaftlichen Schulen und weltanschaulichen Sekten, Vereine und G r u p p e n . Z u den verbreiteten F o r m e n einer p o p u l ä r wissenschaftlichen D u r c h d r i n g u n g des Alltagslebens gehörte die P s y c h o l o gisierung

des

lebensorientierenden

Wissens 1 1 .

Ein

Durchschauen

und

D u r c h d r i n g e n v o n Welt und M i t m e n s c h e n w u r d e u m so dringenderes B e dürfnis und Erfordernis, je h ö h e r sich die A n f o r d e r u n g e n an eine selbständige E n t w i c k l u n g der eigenen Persönlichkeit und an eine selbstverantwortete Lebensführung schraubten, je fremder auch d e m Gebildeten die Fülle des zugänglichen Wissens wurde, zumal er sich nach der L o g i k empirischer F o r s c h u n g i m m e r erst auf den Ausgangspunkt völligen U n w i s s e n s und U n verständnisses z u r ü c k z u b e g e b e n hatte, u m die Objektivität, die Voraussetzungslosigkeit seines Wissens zu demonstrieren 1 2 . D i e wissenschaftliche Bildung, die von d e m neuen B e r u f s t y p des Seelsorgers gefordert wurde, bestand nicht m e h r im Nachvollziehen und selbständigen Aneignen gegebener Begriffs- und G e d a n k e n o r d n u n g e n , sondern in der nennt, verzeichnet F i c k über 9 0 0 Titel mit einer Auflage von weit über acht Millionen Exemplaren je Ausgabe. 8 Vgl. F. H . Tenbruck, Wissenschaft und Religion, in: J . W ö s s n e r (Hg.), Religion im U m bruch, Stuttgart 1972, S. 2 1 7 - 2 4 4 , hier: S. 2 3 8 f f . 9 N e b e n der „Gartenlaube" trug auch die Reihe der K o s m o s - B ü c h e r erheblich zur Verbreitung der jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und technischen Errungenschaften bei, sofern man für sie ein allgemeines Interesse vermuten konnte. (Vgl. die Publikationen von W . B ö l s c h e : Das Liebesleben in der Natur, 3 Bde. 1 8 9 8 - 1 9 0 2 (81./77. Tsd. 1927). - V o m Bazillus zum Affenmenschen 1900 (15. Tsd. 1921). - D i e Abstammung des Menschen ( = K o s mosbändchen N r . 1), 1904 (Ges. Aufl. 1 2 6 0 0 0 ) . 1 0 O . Wilhelm, der evangelische Pfarrer der Gegenwart (1910), Sp. 973. 11 Vgl. z . B . die Zeitschriften-Andachten von F.Niebergall in der „Christlichen Welt" des Jahrgangs 1903, N r . 5 - 1 0 ( z . B . „Zwangsvorstellungen", „Scheinfreiheit", in: C h W 1 7 / 1 9 0 3 , S p . 9 7 f . 121), die offenbar aus dem gleichen Erfahrungsgut schöpfen, das S . F r e u d in seiner Schrift „Zur Psychopathologie des Alltagslebens" (1901 1 ) verarbeitet hat. 12 Z u m Problem der Voraussetzungslosigkeit der Sozialwissenschaften und der Folgen dieser Forderung für die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in der zeitgenössischen Diskussion vgl.: O . Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, bes. S. 136f. - Z u r Auseinandersetzung des Kulturprotestantismus mit den modernen Naturwissenschaften vgl. z . B . R . Schmidt-Rost, Verkündigung in evangelischen Zeitschriften (1982), S. 164 ff.

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Fähigkeit, gegebene Verhältnisse mit eigenen Augen zu sehen, sie ganz unmittelbar neu wahrzunehmen. Nicht geistige Gehalte, sondern eine Geisteshaltung, die sich im alltäglichen Umgang als Natürlichkeit und Echtheit bewährt, wurde als die moderne Forderung an den Pfarrer aufgestellt: „Wir suchen beim Pfarrer der Gegenwart eine nach allen Seiten lebendige und empfängliche Geistesverfassung, einen weiten Horizont, ein lebhaftes Interesse für alle Gebiete geistiger Betätigung, einen an mannigfaltigen Lebensverhältnissen geschulten praktischen Verstand, Uebung und Erfahrung in der Kunst, Andere zu verstehen, sich ganz in sie hineinzuversetzen: In die Einzelnen, in das Empfinden ganzer Stände, in die Anliegen und Bedürfnisse des Gesamtvolkes." 1 3

Das Zutrauen zu einer solchen Mischung aus allgemein-wissenschaftlicher Bildung und psychologischer Auffassungsgabe wurde offenbar noch vermehrt durch die funktionale Gleichsetzung von wissenschaftlicher Prüfung und Durchdringung sozialer Verhältnisse einerseits und psychologisch-sympathetischer Einführung und Zuneigung andererseits: „Niemand unter den Gebildeten darf sein, dem die Gänge der Menschenseele, vor allem auch der jungen, so bekannt wären, wie ihm (sc. dem Pfarrer), der, was unser Volk braucht, so weitherzig und gründlich zu prüfen und so energisch betreiben würde wie er. Wer keinen Zug zum Menschen hat, zu seinen kleinen Leiden und Freuden, wie zu seinen großen Angelegenheiten, wer nicht herzlich mit Anderen lachen und nicht von Herzensgrund mit ihnen Leid tragen kann, der kann nicht Pfarrer sein." 1 4

Die Distanz, die wissenschaftliche Objektivität erzwingt, und die Unmittelbarkeit erlebenden Zugriffs zur Wirklichkeit wurden in solchen Programmen zur Gestaltung des Pfarrerberufs schlicht für vereinbar erklärt. Das berufsorientierte Praktikum bekam nicht von ungefähr eine wesentliche Funktion in Ausbildungsplänen als Klammer zwischen Primärerfahrung und wissenschaftlich reflektierter Erfahrung 15 . Diese Berufsorientierung verriet aber nicht nur die tatsächliche Entfernung der Pfarrer von der Arbeits- und Lebenswelt, sondern brachte sie auch mit hervor. Man mußte den Erfahrungen, die man mitbrachte, mißtrauen, völlig abgesehen von ihrer individuellen oder allgemeinen Bedeutung. Der Gedanke eines allgemeinen Priestertums galt in diesem Zusammenhang wiederum als Garant dafür, daß die hohen Forderungen an den Pfarrer1 3 O . Wilhelm, Der evangelische Pfarrer der Gegenwart (1910), Sp. 9 8 7 ; vgl. P. Drews .Religiöse Volkskunde' (1901) pass. - dsgl. O . Baumgarten, Der Seelsorger unsrer Tage (1891) pass.

Wilhelm, a.a.O., Sp. 987. Das von P. Drews formulierte Programm einer religiösen Volkskunde hatte die Intention, diese Erfahrungsbereiche zu verbinden (s.o. S. 72). Eine A r t Gemeindepraktikum bot G. Vorbrodt in Gestalt eines „religionspsychologischen Kursus" an (vgl. dazu R . S c h m i d t - R o s t , Methoden und Programme in der Seelsorge, in: W z M 2 9 / 1 9 7 7 , S. 442f.). 14 15

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beruf nicht z u r H e r a u s b i l d u n g o d e r Aufrechterhaltung v o n S t a n d e s d e n k e n und S t a n d e s d ü n k e l f ü h r e n w ü r d e , s o n d e r n der Pastor auch als hochqualifizierter F a c h m a n n f ü r die G e s t a l t u n g sozialer Verhältnisse 1 6 seine natürlichen und echt-menschlichen U m g a n g s f o r m e n selbstverständlich bewahren w ü r d e und auch bewahren k ö n n t e : „Das Z u n f t = und Kastenmäßige haftet uns immer noch in bedenklichem Grade an. Es gibt nur einen Stand, der uns hier die Stange hält, das ist der Offiziersstand An und für sich liegt zur Scheidung von anderen Ständen keine Ursache vor. Im Gegenteil, es ist auf evangelischer Seite ein vollendeter Widerspruch, wenn der Stand die Zunftbrille auf hat, der einer Sache dient, zu deren Grundbestandteilen das allgemeine Priestertum gehört. Wenn wir mehr Fühlung mit den Anderen hätten, wieviel richtiger, gesunder, ruhiger würden wir oft urteilen! Wie unnötig regen wir uns oft auf, wie falsch greifen wir oft an, bloß weil wir den Fall in einseitiger Standes = oder Institutionsbeleuchtung betrachten!" 17 D i e O r i e n t i e r u n g an der r e f o r m a t o r i s c h e n M a x i m e des allgemeinen Priestertums macht es aber nicht nur m ö g l i c h , die Professionalisierung des P f a r r e r b e r u f s als eines sozialen B e r u f s im Sinne einer F r e u n d s c h a f t mit allen zu mißdeuten, sie garantierte und stabilisierte auch die Fehleinschätzung der bürokratischen E n t w i c k l u n g der kirchlichen O r g a n i s a t i o n e n u n d Werke, als o b es sich u m einen R e s t b e s t a n d traditioneller ständischer O r d n u n g u n d nicht u m die E n t w i c k l u n g bürokratischer O r g a n i s a t i o n s s t r u k t u r e n im m o dernen, militärisch geordneten preußischen Staat handelte 1 8 , als o b schließlich der bloße A p p e l l genüge, u m den E n t w i c k l u n g e n der gesellschaftlichen Verhältnisse zu entgehen: „Auch ,geistliche Obrigkeit' wollen wir nicht sein, überhaupt nicht als ein Teil des Beamtenapparates erscheinen. Vielmehr wollen wir uns lösen von den Begleiterscheinungen der Durchwachsung unseres Staates mit immer neuen Beamtenschichten, dem Ideal der Korrektheit, der Zunahme des Schreiberwesens, der Ueberschätzung statistischer Erfolge, der Schwächung der Initiative." 19

16 Vgl. Wilhelm, a.a.O., S p . 9 9 1 : „Zu demselben Ergebnis führt die Psychologie und die Gesellschaftswissenschaft, sowie die allgemeine und religiöse Volkskunde. Sie zeigen uns die Religion nicht in Begriffe abgezogen, sondern als Bestandteil des Gesamtlebens, an hundert Stellen sich verknüpfend und in Wechselwirkung mit politischen, sozialen, wirtschaftlichen, natürlichen Elementen des Lebens. Die begriffliche Darstellung der Religion als Wahrheit kann es unterlassen, sich darum zu bekümmern, die praktische religiöse Beeinflussung keineswegs." 17 Wilhelm, a.a.O., Sp. 98. 18 Vgl. M.Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1 8 6 6 - 1 9 1 8 , 1983, S. 1 0 4 - 1 1 1 . J.Willms, Nationalismus ohne Nation (1983), S.573 u.ö. - B.W.Tuchman, Der stolze Turm (1969), S. 4 8 7 u . ö . 19 Wilhelm, a.a.O., Sp. 98.

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Die völlige Überforderung der kirchlichen Funktionsträger, einmal mehr gegründet auf den Nachfolge-Gedanken 2 0 , gipfelte in der anderwärts vielfältig erhobenen Forderung, Sitte zu schaffen und zu pflegen, mit dem Mittel des Evangeliums eine lebendige Gemeinde hervorzubringen, die das ganze soziale Gefüge mit der Kraft ihres Glaubenslebens durchdränge 21 . Auf der Höhe solcher Ansprüche ist allerdings der Abstieg vom Grat der Idealität schon vorgezeichnet: Die Seelsorge aller an allen wird als Utopie entdeckt; die Elite der aktiven, lebendigen Gemeindeglieder wird zur bestimmenden Gruppe in der lebendigen Gemeinde. Die Faszination durch die Vorstellung einer öffentlich-relevanten Kirche führt zur diakonischen Umdeutung der Seelsorge und zur Uberführung der religiösen Gehalte in eine organisierte Lebendigkeit und Aktivität. Sie führt andererseits, wo sie den organisatorischen Weg direkt zu gehen vermeidet, zur Orientierung und Ausrichtung der überforderten Pfarrer an anderen, gesellschaftlich mit wachsender Anerkennung versehenen Berufstypen. Das Spezialwissen, das dem Seelsorger in seiner Ausbildung angeeignet und im Beruf abverlangt werden soll, ist nicht einfach religiöse Psychologie oder Volkskunde schlechthin, schon gar keine intuitive Menschenkenntnis mehr, sondern eine Sammlung von sicheren, wissenschaftlich gewonnenen psychologischen Kenntnissen, deren Relevanz für die evangelische Seelsorge überzeugend behauptet werden kann. Dieser Bedeutungsnachweis aber ergibt sich nicht aus der wissenschaftlichen Arbeit selbst, sondern aus der Integrationsmöglichkeit des Wissens in Berufsbilder und Handlungsmuster von Organisationen und in deren Ausbildungsgänge. Fachmann ist derjenige, von dem gesagt wird, er verstehe sein Handwerk, nicht der, der es nur von sich allein weiß. Facharbeit kann man im organisierten Wohlfahrtswesen nur von akademisch gebildeten Fachleuten erwarten, Laienseelsorge steht im Verdacht der „Pfuscharbeit", Kurpfuscherei aber ist verpönt, zumal in Zeiten einer „Überproduktion an Ärzten" 2 2 . Die Institutionalisierung von Hilfe 2 0 Wilhelm, a.a.O., Sp. 9 9 0 : Zur Begründung, daß die „Bildungs- und Wohlfahrtsarbeit" . . . „wesentlich zur Amtsführung innerhalb der Volkskirche der Gegenwart hinzugehöre, stellt Wilhelm folgende Erwägungen an: „Erstens sind wir dabei auf den Spuren Jesu. Ihn als Volksmann, noch besser als tätigen Volksfreund zu zeichnen, ist durchaus berechtigt. Eben weil Jesus Seelsorger ohnegleichen ist, nimmt er auch die äußere Seite des Daseins in sein Wirken herein, ist er auch Leibsorger. Der größte Seelsorger ist er nicht, weil er nur und immer .Seelsorge' übt, sondern weil sie bei allem, was er tut - und er tut Dinge, die gar nicht wie ,Seelsorge' aussehen - , der leitende, häufig aber nicht merkbare Gesichtspunkt ist." 2 1 Vgl. P; Wurster, Die „lebendige Gemeinde" und die Innere Mission, in: M I M 3 1 / 1 9 1 1 , S. 3 6 1 - 3 7 5 , hier: S. 362. 2 2 A . Gmelin, L a i e n = und Berufsseelsorge, in: M I M 3 1 / 1 9 1 1 , S. 161 — 166, hier: S. 165. Zum Dauerstreit um die Kurpfuscherei vgl. H . Riedl, Die Auseinandersetzungen um die Spezialisierung in der Medizin von 1 8 6 2 - 1 9 2 5 , Diss. T U München 1982.

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entspricht den Fachwissens-Anforderungen, diese ihrerseits aber führen zu einer Reduktion an persönlicher Gesinnung, je höher der Grad an Organisierung sich bildet, denn die Organisation übernimmt die Entwicklung und Durchsetzung ethischer Normen. Die Orientierung von Seelsorgern an Fachärzten, vor allem an Nervenärzten, war eine naheliegende Konsequenz für die Berufsgruppe der Pfarrer, die sich zunächst deutlich unterschieden sah von den Mitarbeitern der Inneren Mission23 und die die Gestaltungsfreiheit ihres Berufes gerade zu seinem Kern zu machen gedachten24.

b) Naturalisierung des Ethos - ein Fall von „Psych-Analyse" Zu den Pionieren einer Orientierung des Seelsorgers in seiner Berufsauffassung und -praxis am Nervenarzt wird der Schweizer Pfarrer und Freund S. Freuds Oskar Pfister gezählt. Ihm wird die Einführung der psychoanalytischen Methode in der Seelsorgelehre zugeschrieben25. Dieses Urteil trifft aufs ganze gesehen sicher zu. Mit einem gewissen Recht könnte man ihm allerdings auch einen Anteil an der Zurückhaltung gegenüber der Psychoanalyse in der evangelischen Pfarrerschaft nachsagen, wenn man seine ersten Veröffentlichungen in renommierten theologischen Zeitschriften zur Kenntnis nimmt und vor allem die unbekümmerte, von wenig Selbstkritik, aber reichlich Sendungsbewußtsein geprägte Auseinandersetzung mit Fr. W. Foerster in Betracht zieht. Ein Jahr nach seiner ersten literarischen Äußerung über 2 3 D a ß unter den Pfarrern die Meinungen auseinandergingen über Notwendigkeit und Ausmaß eines Beitrags zur Wohltätigkeit seitens der Pfarrer oder der Gemeinden, läßt sich schon aus dem Umstand einer mit den Gemeindeorganen nicht selten konkurrierenden Organisationsstruktur und Tätigkeit der Inneren Mission entnehmen. Vgl. dazu E . Sachsse, D i e Innere Mission, in: Z P T h 2 3 / 1 9 0 0 . S. 1 - 9 ; als Beispiel für die Strittigkeit dieser Frage unter Pfarrern aus der Biographie H . K u t t e r s vgl. K . - J . Wrage, Zwischen prophetischem Anspruch und kirchengemeindlicher Praxis, in: A . S c h i n d l e r u . a . , H o f f n u n g der Kirche und Erneuerung der Welt, Fschr. A . Lindt, Göttingen 1985, S. 1 9 3 - 2 1 0 (bes. 198ff.). 2 4 Vgl. W.Veit, Was soll der evangelische Gemeindepfarrer sein: Priester, Evangelist oder Seelsorger?, Gießen 1910. D e r Frankfurter Pfarrer Veit rühmt in dieser Schrift eine persönliche Auffassung des Pfarrerberufs, in dessen Zentrum die Seelsorge-Aufgabe stehe, mit den W o r t e n : „Denn was kann es Schöneres geben, als der Kristallisationspunkt zu sein für einen Kreis selbständiger Menschen, die im gegenseitigen N e h m e n und G e b e n den Inhalt ihrer G e m e i n schaft erleben. Hier wird dann - freilich in ganz anderem Sinne - das erreicht, was die priesterliche Frömmigkeit darstellen wollte. Diese Gemeinschaft sammelt sich um ein gemeinsames Heiligtum, aber dieses Heilige wird nicht mehr angeschaut in O b j e k t e n und Symbolen. Es wird von den Gliedern der Gemeinschaft erschaut in dem Evangelium, das in F o r m von Seelenleben sich keusch und schlicht enthüllt, und über diesem Kreise schwebt das W o r t : W o zwei oder drei versammelt sind in meinem N a m e n , da bin ich mitten unter ihnen." (S. 63). 2 5 Vgl. F. Wintzer (Hg.), Seelsorge (1978), S. X X V I I . - T h . Bonhoeffer, Vorwort zu O . Pfister, Das Christentum und die Angst, Ölten—Freiburg 1975 2 .

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Freud 26 publizierte Pfister in O . Baumgartens „Evangelischer Freiheit" einen Fall aus seiner „psychanalytischen" Praxis als Seelsorger und gab damit den Anstoß zu einer heftigen Gegenrede von Fr. W. Foerster 2 7 . Der Disput zwischen diesen beiden Theologen ist aufschlußreich als eine wichtige Station auf dem Wege der Seelsorge, ausgehend von der amtlichen, alltäglichen Verantwortung des Pastors für seine Gemeinde, fortschreitend über die individuelle Beeinflussung des Seelsorgepfleglings nach dem Maßstab einer wissenschaftlich erarbeiteten Orthotomie hin zu einer psychotherapeutischen Seelsorge nach fachärztlichem Vorbild. An den besorgten und gegenüber Pfisters Argumentation besser begründeten Einreden Foersters gegen eine Seelsorge, die religiös-sittliche Probleme des Individuums therapeutisch mit Erfolg zu beeinflussen behauptet, wird deutlich, wie Pfister als Seelsorger objektive Verhaltensmaßstäbe auf der Suche nach dem „komplexen" individuellen Schicksal des Pfleglings gegen seinen erklären Willen doch aus den Augen verliert 28 . Der einzelne in seiner Biographie, mit seinem Werdegang und den religiös-sittlichen Schäden, die aus diesem Werdegang erwuchsen, wird zum Maßstab der Seelsorge. Das Individuum ist nicht mehr im Gegenüber zu und gemessen an allgemein gültigen Maßstäben Gegenstand der Sorge. Eine Praxis, die den einzelnen Pflegling auf ein Verhalten verpflichtete, das seine Gründe nicht in diesem Individuum selbst hätte, ist damit nicht mehr denkbar; es sind lediglich Empfehlungen für eine sinnvolle und d. h. gesunde Lebensführung sachlich vertretbar. Foerster seinerseits unterstreicht durchaus die Kritik am bloß Disziplinarischen in der Seelsorge, am Moralisieren und Dogmatisieren 2 9 , verwendet auch selbst psychologische Denk- und Handlungsformen, verweist aber auf die Folgen einer naturwissenschaftlichen Analyse der Psyche: „Die Unwissenheit von der menschlichen Psyche war wohl noch nie so groß wie in unserem Zeitalter der experimentellen und akademischen Psychologie." 3 0

2 6 O. Pfister, Psychanalytische Seelsorge und experimentelle Moralpädagogik, in: PrM 13/ 1909, S. 6 - 4 2 . 2 7 O. Pfister, Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge und Seelenheilung, in: EvFr 9/1909, S. 108—114, 1 3 9 - 1 4 9 , 1 7 5 - 1 8 9 . - Fr. W. Foerster, Psychanalyse und Seelsorge, in: EvFr 9/ 1909, S. 3 3 5 - 3 4 6 , 374—383. - O. Pfister, Die Psychanalyse als wissenschaftliches Prinzip und seelsorgerliche Methode, in: EvFr 10/1910, S. 6 6 - 7 3 , 1 0 2 - 1 1 3 , 137-146, 1 9 0 - 2 0 0 . Fr. W. Foerster, Nochmals Psychanalyse und Seelsorge, in: EvFr 10/1910, S. 2 6 3 - 2 7 5 . 2 8 Vgl. O. Pfister, Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge und Seelenheilung, in: EvFr 9/ 1909, S. 147: „Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, um die Weltanschauung ist für Sie und jeden Menschen der Kampf um die volle Gesundheit." 2 9 Vgl. Fr. W. Foerster, Psychanalyse und Seelsorge (1909), S. 375. 377. 387. 3 0 Foerster, a.a.O., S. 378.

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Seine Einsichten in die Problematik der Psychoanalyse hindern Foerster durchaus nicht, in seinen praktischen Vorstellungen sich einem seelsorgerlich-therapeutischen Handlungsmuster zu verpflichten 31 . Im Unterschied zu Pfister aber beharrt er auf einer deutlichen Differenzierung zwischen Gesundheit und Krankheit; er will die Psychologie nur methodisch und diagnostisch, nicht aber als geistigen Orientierungsrahmen des Lebens einsetzen. Die psychologische Analyse hat für Foerster Sinn nur im Rahmen von ethischen Wertsetzungen, im Zusammenhang einer höheren, einer geistigen und nicht nur natürlichen Lebensauffassung 32 . Für Pfister eröffnet die Psychologie hingegen den Zugang zu einem naturhaft gedachten unbehinderten Menschenleben, seiner Religion, seiner Schuld und Sünde. Darin, in der Ablösung des Menschen als Sünder durch den als sündlos denkbaren Menschen, nicht in irgendeiner besonderen psychologischen Methodik hat Pfister die Anliegen der Christen als Seelsorger bzw. in seelsorgerlicher Verantwortung in seiner Zeit zusammengefaßt und Lösungsmöglichkeiten der Seelsorgeaufgabe folgenreich vorgezeichnet: Nachgerade unbemerkt ist die Gesundheit an die Stelle religiöser Bildungsziele in der Seelsorge getreten, der „Vollmensch" hat die „Persönlichkeit" abgelöst; einem genesenen Patienten schreibt er: „Ihr Leben sei verklärt v o m Glanz eines seligen Lebensglaubens oder Gottesglaubens oder Liebesglaubens - es ist alles dasselbe! . . . A b e r nicht dumpf grübeln, sondern frisch und fröhlich mit beiden Füssen auf das Land der Freiheit und der ewigen Liebe hinüberspringen, über dem die Sonne nicht untergeht! Weiss G o t t , Sie sind näher besehen ein Glückskind erster Güte! In Ihnen schläft ein Dornröschen. Möge Jesus der Held sein, der es wachküsst! - U n d nun G o t t befohlen! Sie werden einst staunen, was für ein glücklicher, liebenswürdiger, tatenfroher Vollmensch in ihnen steckt! Beten Sie! Im Gebet atmen Sie Höhenluft. Ihre überschüssige Kraft muss irgendwohin; nicht in Hypochondrie, greisenhaften Weltschmerz, Kopfweh, sondern ins Reich des Ideals und der F r e u d e ! " 3 3

Seine bisherigen Behandlungsergebnisse zusammenfassend stellt Pfister selbstbewußt fest:

31 Foerster, a.a.O., S. 387: wir (stehen) vor einer neuen Aera der Psychotherapie im weitesten Sinne." In dieser Situation aber sucht Foerster nach der „wahren ,Psychagogie', der Seelenführung, von der Plato redet", nicht nach einer experimentellen Psychoanalyse. 32 Vgl. dagegen auch O. Baumgartens Beiträge zu einer psychologischen Seelsorge, in: EvFr 6/1906, S. 1 2 5 - 1 3 6 , 4 6 8 - 4 7 7 , 7/1907, S. 6 1 - 7 1 : „Die Diagnose der verschiedenen Formen des Irrtums und seiner Geschichte ist schon ihre halbe Therapie. Jene lehrt uns besonders: nicht viel machen, am wenigsten durch Einreden oder Zucht erzwingen! Der Natur, die sich auswirkt und korrigiert, und Gottes Geist, der wehet wo er will, Raum lassen!" (S. 61). 3 3 O. Pfister, Ein Fall von psychanalytischer Seelsorge (1909), S. 147.

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„Daß durch die neue Technik Krankheiten, die sich in religiös-sittlichen Defekten äußerten oder auf solchen beruhten, geheilt worden sind, wird niemand in Abrede stellen." 3 4

Er bringt mit dieser Feststellung eine neue Gewichtung und Deutung des Verhältnisses von Sünde und Krankheit ins Spiel: Sünde wird als ein einzelner Erreger oder als ein einzelnes Symptom eines sittlich-religiöses Defekts aufgefaßt, nicht als eine bewußte sittliche Verfehlung, schon gar nicht als eine Bestimmtheit menschlicher Existenz coram D e o ; Sünde ist damit naturhaft gedacht, ein Defekt, der mit der Behebung der Krankheit verschwindet. Gegen diese naturalistische Auffassung der Sünde wendet sich Foerster ganz entschieden, stellt mit Nachdruck in Abrede, „daß es" - wie Pfister formuliert - „sehr viele religiöse und sittliche Schäden gibt, deren Heilung durchaus dem Pfarrer obliegt und die Beherrschung der psychanalytischen Methoden erfordert" 3 5 ; denn für Foerster ist die Aufgabe der Seelsorge überhaupt nicht Heilung eines religiös-sittlichen Defektes, sondern „Anleitung zu wirklicher Läuterung und Selbsterziehung" 36 . Eine solche „seelische Einwirkung wird" . . . aber „nur auf Grund eines tiefen Glaubens an die geistige Natur des Menschen reformiert werden, und dieser Glaube muss uns gerade da begleiten und inspirieren, wo wir mit der dunklen und dämonischen Seite der menschlichen Natur zu tun haben!" 3 7 Pfister vertritt dagegen mit seiner Zuwendung zur Psychoanalyse als einer therapeutischen Technik im Dienste der Seelsorge eine Auffassung vom Menschen und seinem Verhältnis zur Sünde und zum Bösen, die als naturalistisch zu kennzeichnen ist. Sünde ist ein ätiologischer Faktor in der biographischen Konstellation, die zur Krankheit bzw. zur Verfehlung führte. So weist Pfister seinen Patienten - für eine Psychoanalyse allerdings überraschend konfrontierend - darauf hin, daß „auch sein eigenes Unrecht die Krankheit verschuldete. Besonders der Groll gegen die Mutter war nicht berechtigt" 38 . Foerster läßt sich auf eine solche naturalistische Betrachtung des psychischen Geschehens grundsätzlich nicht ein: „Entweder gibt es im Leben vernünftige Gründe der intellektuellen oder religiösen Uberzeugung, der Lebensbeobachtung, Kulturphilosophie, dann wäge man diese Gründe gegeneinander ab - oder das ganze Leben und Denken wird nur von sexuellen Komplexen, Neurosen etc. regiert. Dann wäre es das Richtige, überhaupt über nichts 34 35 36 37 38

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Pfister, a.a.O., S. 109. Ebd. Fr. W. Foerster, Psychanalyse und Seelsorge (1909), S. 387. Ebd. Pfister, a.a.O., S. 177.

mehr zu streiten, sondern bei allen Streitfragen nur den betreffenden Sexualkomplex festzustellen und dann mit vielsagendem Lächeln auseinanderzugehen!" 3 9

Foerster will sich nicht einreden lassen, „dass dort, wo wir scheinbar höheren geistigen Antrieben folgen, doch nur Marionetten unserer verdrängten Komplexe sind. Diese Theorie muß" - so folgert er - „auf alle Charakterstärke und sittliche Verantwortlichkeit direkt auflösend wirken. Was soll da noch Selbstüberwindung, Standhaftigkeit, Loyalität gegenüber einem Ideal?" 4 0 In diesen Anfragen wird aber auch schon erkennbar, warum eine psychoanalytische Deutung des Alltagsverhaltens sich überhaupt mit sozialer Breitenwirkung etablieren und in Gesundheitswesen und Seelsorge zu einer beherrschenden Interpretationsform entwickeln könnte. Die Psychoanalyse war eben nicht der Auslöser, sondern eine Antwort auf und also ein Symptom einer sozialen Entwicklung, die geistigen Uberzeugungen das Fundament bereits entzogen hatte. Gerade als Symptom der Zersetzung geistiger Uberzeugungen konnte sie natürlich nicht gleichzeitig als Mittel im „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, um die Weltanschauung... und (damit) um die volle Gesundheit" 4 1 in Betracht gezogen werden, jedenfalls nicht in dem von ihren Vertretern erhofften prinzipiellen Sinn. Aber sie trug auch nicht ursächlich die Last des Vorwurfs, „auf alle Charakterstärke und sittliche Verantwortlichkeit direkt auflösend zu wirken" 4 2 . Deutlich wird in diesem Disput, daß der Kampf um die Psychologie in der Seelsorge tiefer reicht und bedeutungsvoller ist, als es die Auseinandersetzung um psychologische Interventionsformen oder um theologische Begründungen der Seelsorge im einzelnen erkennen läßt. Die moderne wissenschaftliche Seelsorgelehre verdankt sich als Anliegen der Irritation des modernen Menschen in einer Welt, die ihm unverständlich geworden ist und durch die Fülle der angebotenen Erklärungen nur immer noch unverständlicher und unbegreiflicher wird. Die psychologische und psychoanalytische Poimenik scheint diese Entwicklung zu fördern und nicht rückgängig zu machen, denn es erhebt sich in der Tat die Frage, „ob es überhaupt noch feste Gründe für feste Wahrheiten (gibt), wenn doch alle unsere bewussten Lebensrichtungen und Lebensauffassungen so im Banne unterbewußter Motivierungen stehen, dass unser ganzes Deduzieren eigentlich nur ein Gaukelspiel ist, während in Wirklichkeit das Walten der Komplexe von unten her

39 40 41 42

Foerster, a.a.O., S. 386. Ebd. Pfister, a.a.O., S. 147. Foerster, a.a.O., S. 386.

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unser D e n k e n b e s t i m m t u n d ü b e r unser J a o d e r N e i n e n t s c h e i d e t " 4 3 . F o e r ster f ü h r t gegen s o l c h e F o l g e n einer p s y c h o a n a l y t i s c h e n Seelsorge das A n liegen der „ A u s b i l d u n g einer w a h r h a f t k o n k r e t e n P ä d a g o g i k u n d Seelenf ü h r u n g in B e z u g auf die B e s p r e c h u n g , L ä u t e r u n g u n d B e r u h i g u n g wusster

be-

E r l e b n i s s e u n d E r f a h r u n g e n " ins F e l d und v e r s p r i c h t sich v o n ei-

n e m s o l c h e n V o r g e h e n einen segensreichen E i n f l u ß a u c h auf das U n t e r b e w u ß t s e i n , „der o r d n e n d e r u n d b e f r e i e n d e r w i r k t als das p h a n t a s t i s c h e u n d sprunghafte W ü h l e n und D e u t e n in den T i e f e n der u n t e r b e w u s s t e n W e l t , das die geistige Z u c h t w e d e r b e i m B e f r a g t e n n o c h b e i m F r a g e r b e f ö r d e r t " 4 4 . D i e T e n d e n z seiner K r i t i k illustriert F o e r s t e r drastisch am b i b l i schen B e i s p i e l : „Als Saul zur Hexe von Endor hinabstieg, erfuhr er auch nichts anderes, als was ihm sein Gewissen längst im Oberbewusstsein gesagt hatte, wohl aber verlor er die letzte Entschlossenheit, dem Dämonischen in sich selber zu entrinnen und zu Gott zurückzukehren." 45 . D e m Walten der T r i e b k r ä f t e u n d der I r r i t a t i o n des m o d e r n e n M e n s c h e n die s c h l i c h t e Individualität des p e r s ö n l i c h e n U m g a n g s u n t e r d e m D a c h d e r V o r s t e l l u n g eines allgemeinen P r i e s t e r t u m s e n t g e g e n z u s e t z e n , s o l c h e V e r s u c h e k o n n t e n letztlich w e d e r P f i s t e r n o c h F o e r s t e r s a c h g e m ä ß e r s c h e i n e n . W ä h r e n d P f i s t e r das F a c h w i s s e n der P s y c h o a n a l y s e und d a m i t die I n s t i t u t i o n W i s s e n s c h a f t z u H i l f e ruft, z e i c h n e t sich bei F o e r s t e r , bei aller v o n P f i s t e r kritisierten 4 6 B e r u f u n g auf p s y c h i a t r i s c h e A u t o r i t ä t e n u n d näh e r b e s e h e n gerade in dieser B e r u f u n g auf eine A u t o r i t ä t , das V e r l a n g e n n a c h einer stärkeren selbständigen Institutionalisierung v o n R e l i g i o n n a c h k a t h o l i s c h e m V o r b i l d a b : I n d e r B e i c h t e 4 7 sieht er die M ö g l i c h k e i t p s y c h o 43

Foerster, a.a.O., S. 387.

44

Foerster, a.a.O., S. 388.

Ebd. Die Kontroverse zwischen O . Pfister und Fr. W. Foerster wäre unzureichend interpretiert, wenn sie allein als Auseinandersetzung zwischen einein modern denkenden und einem an der Tradition orientierten Theologen gesehen würde. Mindestens ebenso, wenn nicht überwiegend werden die Argumente der Psychoanalyse und ihrer Gegner unter den Fachpsychiatern ausgetauscht; vgl. O . Pfister, Die Psychanalyse als wissenschaftliches Prinzip (1910), S. 68 f.: 45

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„Warum ließ die Courtoisie Foersters nur die paar heftigsten Gegner zu Worte kommen und nicht auch Fachmänner, die bei aller Anerkennung der Bedeutung Freuds eine mehr abwartende Haltung einnehmen, wie Claperede, Schultz, War da? Foersters willkürliche Auswahl seiner Autoritäten stellt eine mir unfaßliche Ungerechtigkeit d a r . . . Seinen willkürlich ausgewählten Autoritäten ergibt sich Foerster mit blindem Vertrauen . . . " 4 7 Foerster, a.a.O., S . 3 7 6 . Das Institut der Einzelbeichte wird im 20. Jahrhundert immer wieder von Befürwortern einer speziellen Seelsorge ins Feld geführt, die gegenüber der Psychotherapie ein Proprium evangelischer Seelsorge ausweisen wollen; vgl. Hildegar Höfliger, Die Erneuerung der evangelischen Einzelbeichte. Pastoraltheologische Dokumentation zur

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logischer Entlastung immer schon angeboten, die Pfister von der nervenärztlichen Praxis erhofft.

c) Gesundheit und Heil: Fachärzte als Seelsorger „So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche v o m A r z t verlangen. Den alten Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die alten Meßgewänder, eines nach dem anderen; aber der A r z t soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen Hand. N u n , wie es beliebt: ich habe mich nicht angeboten; verbraucht ihr mich zu heiligen Zwecken, lasse ich auch das mit mir geschehen." 4 8

Diesen Kommentar zur beruflichen Situation der Arzte um die Jahrhundertwende, aus der Feder des Dichters auch den Ärzten gegenüber nicht ohne hintergründige Ironie, charakterisiert den über alle Maßen angewachsenen Erwartungsdruck auf die Arzte als den entscheidenden Führern auf dem Lebensweg des Menschen durch die moderne Welt, auf die Chirurgen zumal als den tätigen Garanten spürbarer, sichtbarer Heilung. Die kirchlichen Seelsorger haben den Lebensführern des Gesundheitswesens das Feld öffentlichen Einflusses weitgehend überlassen und wohl auch überlassen müssen49. Sie haben aber mit ihrer Bereitschaft, dem Arzt dienend zu Hilfe zu kommen 50 , zugleich ihre Unfähigkeit zum Ausdruck gebracht, ihre eigenen Vorstellungen vom Heil des Menschen zeitgemäß zu formulieren. Es hat seine theoretische Grundlage in einer zunehmend populären Identifizierung von Heilung und Heil, wenn die Seelsorger sich um die Heilung der Seele im ärztlichen Team bemühen, wo sie sich früher um das Heil der Seele sorgten 51 . evangelischen Beichtbewegung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, Freiburg—Schweiz 1971. 4 8 F.Kafka, Der Landarzt, in: ders., Das Urteil und andere Erzählungen, Frankfurt 1953, S. 78. 4 9 Vgl. die Ausführungen des Präsidenten der Ethischen Gesellschaft in Osterreich W. Börner (Weltliche Seelsorge, Leipzig 1912): „Man braucht in gewissen von der Kirche abgerückten Kreisen nur das Wort,Seelsorge' auszusprechen, um eine Unzahl lästiger Assoziationen heraufzubeschwören: die Erinnerung an kirchliche Einrichtungen, an salbungsvolle Reden, an Lippengebete, an fremdgewordene Symbole und Riten taucht auf. . . . Betrachtet man die Sache jedoch objektiv, so ist unschwer zu erkennen, wie irrig und ungerechtfertigt diese Auffassung ist. Sollte die Sorge um die Seele, um ihr ,Heil', d.h. Gesundheit der Seele in einem höheren, geistig-sittlichen Sinne, wirklich nur den Kirchen anvertraut werden dürfen und sollten weltliche Faktoren an dem .Seelenheil' wirklich gar kein Interesse haben?" (S. 7). 5 0 Vgl. A. Gmelin (Laien= und Berufsseelsorge, 1911) verlangt die Einrichtung von Seelsorge-Kursen, die von „christlich durchgebildeten Ärzten ( . . . ) in Verbindung mit Professoren der praktischen Theologie oder im Amt stehenden Geistlichen" zu veranstalten wären. „Als geeignetste Orte hierfür denken wir uns Anstalten der Inneren Mission, die ja meist christliche Ärzte zur Hand haben dürften, wie Bethel, Rauhes Haus, Stefansstift bei Hannover und besonders auch das Institut für Ärztliche Mission in Tübingen." (S. 166). 51 Die Orientierung am Arzt lag für den Seelsorger nahe in seinem Bemühen, sich dem

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Vorbereitet war diese Gleichsetzung allerdings durchaus schon bei C. I. Nitzsch in der Explikation des Ziels der Seelsorge ,der Seelen Seligkeit' durch die Vorstellung einer christlichen Persönlichkeit'. Die Orientierung des Seelsorgers am Arzt ist zwar nicht neu 52 , aber sie gewinnt um die Jahrhundertwende eine andere Dimension. In einer Zeit, in der das Fachwissen im Beruf zur Steigerung des gesellschaftlichen Ansehens wegen seiner lebensorientierenden Funktion entscheidend beiträgt, muß die Vermehrung solchen Wissens die Bedeutung eines Berufsstandes von Grund auf verändern. In der Fülle und Besonderheit der Erfindungen und Entdekkungen nimmt die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts für die medizinische Wissenschaft eine Sonderstellung ein; hier erweist sich der Arzt in überlegener Weise öffentlich wahrnehmbar als der Wissende, der - durch die Röntgenstrahlen sogar buchstäblich - ,Durchblick' gewinnen kann 53 . Ganz anschaulich rückt der Arzt durch die wissenschaftlichen Erfolge der Medizin in die Funktion des Priesters ein, er entscheidet u . U . über Leben und Tod, er wird zum umfassenden Garanten des Lebens. Nächst dem Chirurgen mit seinen sichtbaren Erfolgen gewinnt der Nervenarzt besonderes Ansehen und Gewicht auf Grund seines mit der „Aura des Geheimnisvollen" ausgestatteten Arbeitsgebiets 54 . Pfisters enthusiastische Zuwendung zur neuesten Forschung in der Psychiatrie war also durchaus seiner Zeit gemäß. Mit der Gründung ärztlichen Ansehens auf dem speziellen Fachwissen, das die wissenschaftliche Medizin erarbeitet hat, wird der Arzt und mit ihm der Seelsorger, soweit er sich in seiner Aufgabengestaltung am Arzt orienmodernen Menschen verständlich zu machen, ihm eine Anschauung der christlichen Heilsvorstellung zu bieten. - Auf der Ebene theologischer Diskussion steht das Fehlen einer Bearbeitung von Heilsvorstellungen mindestens zeitlich im Zusammenhang mit der Kritik der innerweltlichen Reich-Gottes-Vorstellungen im Sinne A. Ritschis durch die Arbeiten zur Eschatologie im N e u e n Testament, vor allem von J . Weiß (Die Predigt J e s u vom Reich G o t t e s , 1892). S.o.S.34. Vgl. W . H e l l p a c h , Wirken in Wirren, l . B d . 1 8 7 7 - 1 9 1 4 , H a m b u r g 1948: „Die beiden phantastisch leuchtenden Brennpunkte dieser Entdeckungsellipse bildeten die Röntgenstrahlen 1895 und das Radium 1 8 9 8 . . . ; es ist schwer, ein Halbjahrhundert danach anschaulich zu machen, als was für eine Wunderwelt sich uns damit das atomistische Geschehen auftat. Gerade die breiten Laienmassen wurden von jenen Funden aufs mächtigste erregt, hatte doch der Anblick der ersten Röntgenphotographien aus dem Körperinnern etwas beinahe Gespenstisches" (S. 185). Vgl. L . Aschoff/P. Diepgen, K u r z e Ubersichtstabelle zur Geschichte der M e d i zin, Berlin 1 9 4 5 6 , S . 7 2 - 7 6 . 52

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5 4 W. Hellpach, Wirken in Wirren (1948), S . 4 1 3 . Vgl. ebd. „Es ging die Fama um, als Nervenarzt gehöre einem die Zukunft, das 20. Jahrhundert werde eines der Neurasthenie und ihrer Bezwingung sein, als Nervenarzt sei man ein gemachter Mann. Eine Aura des Geheimnisvollen, Wundertätigen fing an, diesen Beruf zu umleuchten, wie ein Menschenalter zuvor jene Augenärzte, die plötzlich wie Magier, ja wie Heilande die Blinden sehend machten - die M a r l i « hatte nicht ohne Instinkt für die öffentliche Meinung einen solchen zum Helden ihres R o m a n s ,Das Geheimnis der alten Mamsell' erwählt.

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tiert, in einen zwiespältigen Prozeß hineingezogen, dessen Entwicklungsperspektiven für den Berufsausübenden immer weiter auseinandertriften: Fachwissen entwickelt seinen vollen Nutzen erst in einer Fassung, die es von der persönlichen Handhabung des Fachmannes unabhängig macht. Ubertragbare Erkenntnisse und Handlungsweisen können von vielen angeeignet werden. Fachwissen macht somit die Fachleute, die es anwenden, prinzipiell austauschbar, jeder kann es erwerben. Und doch wird gleichzeitig die Person dessen, der das Fachwissen einsetzt, für den Anwendungsprozeß um so bedeutungsvoller, je weiter die Spezialisierung fortschreitet; denn zum einen verlangt dieser Spezialisierungsprozeß eine immer höhere Einsatzbereitschaft zur Aus- und Weiterbildung, zum anderen hängt der Wert des bereitgestellten Fachwissens von der Kunstfertigkeit des Fachmanns überhaupt ab, womit auch seine individuelle Verantwortung bei wachsendem Wissen immer größer und der Aufbau einer integrierenden Gesamtperspektive immer bedeutungsvoller, aber auch immer schwieriger wird; zum dritten wirft die Anwendung eines Spezialwissens, das die Lebensgestaltung von Menschen beeinflußt, um so größere ethische Probleme auf, je nachhaltiger ein möglicher Einfluß gedacht und erwartet werden muß und je mehr sich dieser Einfluß auf den einzelnen konzentriert. Darüber hinaus hat sich die Suche nach Wissen als ein logisch unabschließbarer Prozeß erwiesen, der Spezialist weiß nicht nur über immer weniger immer mehr; sondern er tritt in einen Konkurrenzkampf der Spezialisten ein. Spezialisierung erscheint als der gegebene Weg zum Besser-Wissen, die innere Dynamik der Spezialisierung läßt eine Optimierung und somit eine Begrenzung auf einem pragmatisch festzusetzenden Niveau allenfalls nach eingehender Begründung zu, jedenfalls bietet die Spezialforschung von sich aus dazu keine Kriterien 55 . Die Zuschreibung der Lebensführungskompetenz an die Arzte auf Grund ihres enorm vermehrten Fachwissens konnte wegen dieser ethischen Probleme nur ein Ubergang sein zu einer weiteren Institutionalisierung im Gesundheitswesen 56 , denn der ,freie Beruf' des Arztes braucht den wertorientierenden organisatorischen Rahmen einer öffentlichen Institution oder eines Fachverbandes um so mehr, je höher die Verantwortung durch verfügbares Wissen wächst. Das ethische Dilemma der Arzte als Seelsorger und

5 5 Vgl. H . Riedl, D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n u m die Spezialisierung in der M e d i z i n v o n 1862 bis 1925, D i s s . M ü n c h e n 1982. 5 6 Vgl. Riedl, a . a . O . , bes. S. 31 ff. u n d die dort dargestellten B e m ü h u n g e n u m eine B e r ü c k sichtigung der F o l g e n der Spezialisierung in A u s b i l d u n g s p l ä n e n , s t a n d e s o r g a n i s a t o r i s c h e n u n d gesetzgeberischen M a ß n a h m e n .

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Lebensführer bricht an ihrer Wissensfülle, nicht an ihren Wissenslücken auf 57 . Der gedankliche Weg, auf dem die Seelsorger nun ihrerseits den Fachärzten in deren Art der Berufsausübung folgen können, - und dabei hoffen, auch die Funktion der Lebensführung mitzugestalten, ist schon lange geebnet, er braucht nur intensiver beschritten zu werden: Die Gestaltung des Seelsorgevorgangs nach dem Muster von Diagnose und Therapie war schon bei Schweizer und Nitzsch begrifflich vorgeprägt 58 , Fachwissen vor allem durch P. Drews, aber auch durch A. Römer 5 9 und O . Baumgarten als Vorbereitung auf die Tätigkeit des Seelsorgers anerkannt. Daß P. Blau unter seinen „Einzelbildern aus der Seelsorge" 6 0 nicht nur die Seelsorge am Krankenbett, sondern auch eine Seelsorge in der pfarramtlichen Sprechstunde beschreibt, entspricht den Ansätzen zur speziellen Gestaltung der pastoralen Praxis und zeigt zugleich, daß Pfisters Versuche mit einer analytischen Seelsorge im Trend nicht nur der medizinischen, sondern auch der pastoralen Berufsentwicklung lagen und in einem breiten Zusammenhang der Auseinandersetzung der Theologen mit der Medizin als Wissenschaft und Praxis zu verstehen sind. Illustrativ für die wachsende Orientierung der Seelsorger am Facharzt seit den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist neben der Auseinandersetzung über die Aufgaben des Irrenseelsorgers 61 das Erscheinen der berufsfeldorientierten Zeitschrift „Der Seelsorger", in der die im Zusammenhang der Leben-Jesu-Forschung besonders gepflegte Vorstellung und Begründung neuer Praktiken der Seelsorge unter Berufung auf die Biographie Jesu breiten Raum einnimmt 62 . In den Beiträgen dieser Zeitschrift ist die Orientie57 Vgl. D. Rössler, Der Arzt zwischen Technik und Humanität, München 1977, bes. Kap. 11, S. 1 0 4 f f . - S . a . u . S. lOlf. 58 S.o.S.47. 59 A. Römer, Psychiatrie und Seelsorge. Wegweiser zur Erkennung und Beseitigung der Nervenschäden unserer Zeit, Berlin 1899. 60 P.Blau, Praktische Seelsorge. In Einzelbildern aus ihrer Arbeit, Hamburg 1912, S. 326-334. 61 Diese erste Kontroverse zwischen Ärzten und Seelsorgern im zeitlichen und sachlichen Zusammenhang der Profilierung des Spezialisten der Medizin findet sich breit dokumentiert in den Spalten der „Christlichen Welt" (7/13): In insgesamt dreizehn Beiträgen (u.a. von Th. Achtnich, F. v. Bodelschwingh, J. Naumann und Dr. Siemens) wird die Verantwortung der Irrenseelsorger für die Heilung der Kranken mehr und mehr abgewiesen; aufrechterhalten wird hingegen der Anspruch auf Mitverantwortung der Kirche bei der Ausbildung des Pflegepersonals. Als Irrtum wird kritisiert, „wenn man meint, Geisteskranke seien in erster Linie seelsorgerlich zu beeinflussen", vielmehr müsse „der erste Paragraph im Katechismus des Irrenseelsorgers" lauten: „Jede Seelenstörung, sie heiße, wie sie wolle, ist als eine Erkrankung zu begreifen." (Th. Achtnich, Das Zusammenwirken von Irrenseelsorger und Irrenarzt, in: ChW 7/1893, Sp.448). 6 2 Die Seelsorge in Theorie und Praxis. Centraiorgan zur Förderung der Seelsorge. Eine

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rung am A r z t als Facharzt deutlichst dokumentiert, die noch Jahre zuvor durchaus kritisch kommentiert worden war. Max F r o m m e l hatte damals den wissenschaftlich ausgebildeten A r z t von dem erfahrenen A r z t unterschieden und dem Seelsorger empfohlen, die durch Erfahrung erworbene Menschenkenntnis und Einfühlung über die wissenschaftlichen Kenntnisse zu stellen 63 . Solange nun das fachärztliche Selbstbewußtsein auf ein stabiles naturwissenschaftliches Fundament sich gründete, war die Stellung des Arztes als Lebensführer in den Augen der Laien unerschüttert. Die Komplikationen der nervenärztlichen Ursachenforschung und die organisatorische Verselbständigung des Gesundheitswesens führten jedoch auch die Arzte in Zielkonflikte, die sie, die Vorbilder, wieder zu Gesprächspartnern der Seelsorger werden ließen.

2. Interpretationsbedürftigkeit und Deutungsmöglichkeiten poimenischen Spezialwissens a) Uberforderung der Fachleute als Lebensführer Das spezielle, wissenschaftlich erarbeitete Fachwissen des Seelsorgers im frühen zwanzigsten Jahrhundert findet sich weniger in Seelsorgelehrbüchern 6 4 als in Zeitschriften und Broschüren, dem schnellen Wandel mediziMonatsschrift mit Stahlstichporträts hervorragender Seelsorger, hg. v. D r . Liebermann, 1/ 1 8 9 6 - 8 / 1 9 0 3 . Vgl. Christus als Urbild aller Seelsorger (vom H g . ) , 1 / 1 8 9 6 , S. 3 - 5 ; A n o n y m , Ist Jesus Christus ein Suggestionstherapeut gewesen?, 8 / 1 9 0 3 , S. 1 —8, 27—37, 65—68. 6 3 Vgl. M . Frommel, Einwärts, Aufwärts, Vorwärts! Pilgergedanken und Lebenserfahrungen, Bremen und Leipzig 1886, S. 1 2 7 - 1 4 5 ; Frommel unterscheidet A r z t und Pfarrer noch als Leibsorger und Seelsorger: „Die Parallele zwischen A r z t und Seelsorger ist nicht etwa ein interessanter Versuch, Ähnlichkeiten zu entdecken, sondern sie beruht auf der Thatsache, daß es Störungen, H e m m u n g e n , Krankheiten des Seelenlebens gibt, wie die leiblichen Krankheiten Störungen und H e m m u n g e n des leiblichen Lebens sind" (S. 127). In dieser Analogie-Bildung aber setzt sich schon das Vorbild des Arztes durch. Allerdings stellt F r o m m e l , so sehr er dieser Analogie folgend die Aufgabe des Seelsorgers als „Individualisieren" charakterisiert, dem Seelsorger den praktischen Arzt, nicht den Facharzt als Vorbild hin: „Die Heilkunde ist ebensowohl eine Wissenschaft, als sie eine Kunst ist. D a ß sie das Erstere ist, wird allgemein zugestanden und vom Schüler Äskulap's gefordert. A b e r daß sie zugleich eine hohe Kunst ist, welche eine Anlage und eine Ü b u n g dieser Anlage voraussetzt, scheint heutzutage allzusehr in den Hintergrund zu treten. U n d doch erreichen geniale Praktiker, ja selbst scharfblickende Laien, wie Priesnitz, oft ganz andere Erfolge, als die gelehrtesten Professoren. Auch fragen die Patienten am liebsten nach dem .erfahrenen' Arzte. Es ist ein eigen D i n g um das Vertrauen, das so unentbehrlich ist zwischen dem A r z t und dem Kranken; aber dieses Vertrauen wird sich mehr dem erfahrenen Praktiker zuwenden, als dem wissenschaftlichen Gelehrten. Es ist mit der Seelsorge nicht anders" (S. 129). 6 4 Weder E . C h r . Achelis in der dritten Auflage seines Lehrbuchs (Lehrbuch der Praktischen Theologie, Leipzig 1911 3 ) noch F. Niebergall im zweiten Band seiner Praktischen Theologie

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nisch-naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlich-nationalökonomischer Erkenntnisse auf der Spur und möglichst auf den Fersen65. Der Seelsorger, der diesem permanenten Modernisierungsprozeß seiner Berufstheorie zu folgen versucht, wird dabei in die Probleme hineingezogen, die den Arztberuf auf der Höhe seines naturwissenschaftlich begründeten Ansehens zu belasten beginnen. - Veränderungen in der diagnostischen Argumentation. Daß es nicht erst die politischen Umbrüche des Ersten Weltkriegs und deren soziale Folgen, sondern viel eher Quantität und Qualität der naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte selbst waren, die die Orientierungsbedürftigkeit der ärztlichen Lebensführer offensichtlich machten, läßt sich unschwer an Veränderungen in der diagnostischen Argumentation zeigen, wie sie sich im Zusammenhang der Ursachenforschung an seelischen Krankheiten ergaben. Hatte der Psychiatrie-Streit die Annahmen über religiöse Verursachungen psychischer Krankheiten und daran anknüpfende Schuldzuweisungen entkräftet, um uneingeschränkt, ohne geistlich-institutionelle Bevormundung, nach organischen Krankheitserregern mit den Mitteln der Naturwissenschaften suchen zu können, so brachte die individualisierende und psychologisch-hermeneutische Wendung der ärztlichen Ursachenforschung an psychischen und organischen Krankheitssymptomen neue Verursachungen ins Spiel. Die Begründung von Krankheiten mit Bazillus, Abstammung und Milieu wurde, zunächst in bestimmten psychosomatischen Grenzfällen, abgelöst von einer Feststellung von Ursachen, die sich aus dem Zusammenwirken eines persönlichen Schicksals und einer individuellen psychophysischen Konstitution bei eventuell hinzutretenden aktuellen Erlebnissen oder Traumata als Faktoren von Erkrankung darstellten66. Auf der Suche nach (Tübingen, 1919) gehen auf neuere psychologische Überlegungen zur Gestaltung der Seelsorge ein, wiewohl Niebergall die Auseinandersetzung zwischen Pfister und Foerster unter die Literaturangaben aufgenommen hat (Bd. 2, S. 517). 6 5 Vgl. hauptsächlich die Zeitschriften: Evangelische Freiheit, Monatsschrift für Pastoraltheologie, Monatsschrift für innere Mission, Christliche Welt. Als ein Beispiel sei genannt: G. Diettrich, Was können wir aus der Psychotherapie der Sigmund Freudschen Schule für die Therapeutik unsrer Seelsorge lernen?, in: M P T h 12/1916, S. 1 3 6 - 1 4 2 . 1 6 3 - 1 7 4 . 6 6 Vgl. J. Naumann, Weltanschauung als Heilfaktor, in: C h W 2 2 / 1 9 0 8 , Sp. 2 - 6 : „Zu einem Professor der Medizin kommt ein kaufmännischer Beamter und erbittet seinen Rat wegen eines hartnäckigen Magenleidens. Dieser sagt zu ihm: Sie sind nicht magenleidend, sondern Sie haben Etwas auf dem Gewissen, was Sie drückt. Der Mann antwortet: Woher wissen Sie das? Es ist wahr, ich habe Unterschlagungen gemacht und lebe in beständiger Angst.

Diese kleine Begebenheit beweist zunächst nur den Scharfblick des betreffenden Professors . . . Ich möchte sie aber anders deuten, nämlich als ein Symptom eines leise sich vollziehenden Umschwungs in der Krankheitsauffassung weitsichtiger Arzte. Jahrzehnte lang hat in der Medizin die Materie geherrscht. Der Bazillus oder andere Schädlinge verursachten die Krankheit, die Abstammung und das Milieu schufen den geistigen und körperlichen Zustand des Menschen. Durch die dem medizinischen Heilschatze zu Gebote stehenden verschiedenartigen

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physiologischen Ursachen von Nervenleiden war vor allem S. Freud mit seiner psychoanalytischen Interpretation des Seelenlebens zu einer Argumentationsstruktur vorgestoßen, die die Suche nach Krankheitsursachen wenigstens prinzipiell ins Unendliche führte, zur „unendlichen Analyse"67. Eine Begrenzung zu begründen, wurde zu einer wesentlichen Aufgabe des Diagnostikers, der damit aber zugleich auch therapeutische Entscheidungen zu fällen hatte. Denn die Ursachenforschung hatte in dieser Handlungsstruktur keine Grenze mehr in ihren eigenen Ergebnissen, etwa der Isolierung eines Erregers, sondern nur noch in der Perfektionierung ihres therapeutischen Tuns, in der Maximalisierung des Therapie-Erfolgs. Das Motiv ,helfen' wandelte sich zum Ziel,Hilfe' bzw.,Abhilfe'. Die Entgrenzung der nosologischen Argumentationsstruktur steigerte zwar den Nimbus der Seelenärzte weiter, aber sie verstärkte auch die Dringlichkeit der Zielsetzung, zumal die Sonderstellung des Heilungswissens durch die psychologischhermeneutische Wendung nicht mehr aufrechterhalten werden konnte; psychotherapeutisches Wissen unterlag einem Prozeß der Yeralltäglichung, je mehr die Problematik der Lebensführung als Alltagsproblem bewußt wurde. - Neue Krankheitsbilder und die ,.Erkrankung des Alltagslebens'. Die Veränderungen der diagnostischen Argumentation belasteten die ärztlichen Lebensführer nicht nur mit neuen ethischen Problemen, mit der Zumutung, den diagnostisch-therapeutischen Prozeß nach ethisch vertretbaren Kriterien und pragmatischen Gesichtspunkten zu gestalten und zu Ende zu bringen, sie trugen ganz wesentlich zu einer Auflösung des Gegensatzes von ,Krankheit und Gesundheit' zu einer nur noch pragmatisch geltenden Alternative bei. Die psychoanalytischen Behandlungsmethoden setzten nämlich voraus, daß prinzipiell jede Äußerung und Regung menschlichen Lebens mit der Verursachung seelischen Leidens in Verbindung gebracht werden könnte. Der Alltag war auf seine psychopathologischen Strukuren hin durchsichtig zu machen, die Grenze zwischen gesundem und pathologischem Verhalten wurde undeutlich, potentiell jeder Mensch war auf seinen Grad an Neurotizismus hin zu betrachten, alle Elemente alltäglichen Lebens konnten als Symptome von Erkrankungen bedeutsam werden. Der Reichtum an Mittel suchte man die physikalischen oder chemischen Vorgänge, die sich in den Zellen des Menschenwesens vollziehen, zu fördern oder zu hemmen. Der H o c h m u t liegt mir fern, über diese Periode medizinischen Arbeitens geringschätzig zu urteilen; sie war zeitgemäß und deshalb notwendig und richtig. Aber sie hat nicht alle Hoffnungen, die man an sie knüpfte, erfüllt." (Sp. 2). Nach dieser Einleitung kommt J. Naumann auf ein Buch mit einer anderen Auffassung von Krankheit und Heilung zu sprechen (J. Marcinowski, Nervosität und Weltanschauung, Berlin 1908), in dem die „Weltanschauung als Heilfaktor eingestellt wird." (Sp. 4). 67

S. Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, G W X V I , S. 5 7 - 9 9 .

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Krankheitsbildern vergrößerte sich durch diese Entwicklung, die Zielsetzungszumutung erhielt noch mehr Gewicht 68 . Dieser sachimmanente Bedeutungszuwachs der ärztlichen Position erfuhr eine Bestätigung und weitere Steigerung in der gesellschaftlichen Organisation des Gesundheitswesens: - In der Ausgliederung des Gesundheitsressorts aus dem Kultusministerium in Preußen im Jahre 1909 erhält das Gesundheitswesen eine seiner öffentlichen Bedeutung als lebenssteuernde Institution angemessene offizielle Einrichtung und Anerkennung69. Mit dieser organisatorischen Differenzierung ist aber zugleich die Zielsetzungszumutung institutionalisiert: Die Arzte werden für die Ziele ihres Handelns selbständig verantwortlich, keine über- oder vorgeordnete Idee von Kultur, Bildung oder Persönlichkeit gibt dem ärztlichen Handeln Richtung und Orientierung. Der Gesundheitsbegriff muß zum Ziel gesetzt werden, erhält dabei aber sein Profil allein durch den Gegensatz zu den wissenschaftlich möglichen Vorstellungen von Krankheit, zu allem, was eine gesunde Entwicklung eines Menschen zu behindern scheint oder behindert70. An einer solchen begrenzten, lediglich an Kriterien der medizinischen Beurteilung gewonnenen Fassung aber muß der Gesundheitsbegriff und damit das Leben in ärztlicher Betrachtungsweise unvermeidlich ebenso e r kranken' wie an der Pathologisierung des Alltagslebens auf Grund der scheinbar grenzenlosen Entwicklung der medizinischen Untersuchungsweise. Im abstrakten Gegenüber zur Krankheit fehlt der absolute Bezugspunkt, an dem sich ärztliches Handeln in grundsätzlichen Fragen orientieren könnte. Die ethischen Maßstäbe für die Förderung von Gesundheit, durch immer neues Wissen aus dem Traditionszusammenhang und schließlich selbst aus der individuellen Erfahrung des Spezialisten wieder und wieder herausgenommen 71 , lassen sich aus dem Spezialwissen, das die naturwissenschaftliche 6 8 Vgl. S.Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, G W IV, London 1955, zuerst erschienen in: Mschr. für Psychiatrie und Neurologie, Bd. X , 1901, Heft 1 und 2. 6 9 Nachdem offenbar zunächst eine organisatorische Regelung vorgesehen war, die „eine Spaltung des übergrossen Kultusministeriums in ein reines Unterrichtsministerium und in ein Kultus- und Medizinalministerium" ins Auge faßte (vgl. O . Baumgarten, Kirchliche Chronik Mai 09., in: E v F r 9 / 1 9 0 9 , S. 190f.), wurde dagegen eine „Abtrennung der Medizinalabteilung vom Kultusministerium" und eine „Zusammenfassung des gesamten Unterrichtswesen in einem selbständigen Unterrichtsministerium" vollzogen (vgl. O . Baumgarten, Kirchliche Chronik Juni 10., in: E v F r 1 0 / 1 9 1 0 , S . 2 3 6 ) . - Z u r organisatorischen Konstitution des Gesundheitswesens vgl. H . Stümke, Bibliographie der internationalen Kongresse und Verbände, Bd. I Medizin, Leipzig 1939. 7 0 Die Entwicklungen, die D . Rössler (Der Arzt zwischen Technik und Humanität, München 1977) im Gesundheitswesen der Gegenwart diagnostiziert, haben in dieser Grundproblematik der naturwissenschaftlichen Medizin ihre sachliche Ausgangslage. 71

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Vgl. H . Kairat, „Professions" oder „Freie Berufe"? (1969), S. 3 1 : „Für den modernen

Medizin erarbeitet, nicht ableiten, weil diese von einem Begriff des natürlichen Lebens oder der Natur ausgeht, der erst durch ihre Forschungen eruiert wird, ihr nicht schon vorausliegt, der sich in ihrer Arbeit vielmehr immer neu konstituiert. Wie gesund ein Mensch sein könnte, ist nach dem jeweils neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft zu beschreiben. Dieser Stand aber läßt sich aus forschungslogischen Gründen nicht abschließbar formulieren 72 . Die Relativierung der Orientierungsmaßstäbe im Gesundheitswesen konnte bei der dominierenden Stellung der Arzte als Lebensberater nicht ohne Auswirkung auf die allgemeine Gewißheit der Lebensführung bleiben. Diese Verunsicherung spiegelt sich in geistigen Bewegungen und praktischorganisatorischen Maßnahmen, die aber unvermeidlich die Fülle der Programme zur Lebensgestaltung vermehrten 73 . In der evangelischen Seelsorgelehre bildet sich diejenige Tendenz weiter aus, die auch im Disput zwischen O.Pfister und Fr. W. Foerster eine Gestalt gewonnen hatte: Die wissenschaftlich-psychologische Beschreibung und therapeutische Bearbeitung individueller ethisch-religiöser Funktionsstörungen bzw. Defizite mit dem Ziel ihrer Beseitigung einerseits und die Bemühungen um einen verstehenderziehenden Umgang mit Konflikten und seelischen Belastungen andererseits treten als zwei unterschiedliche Lösungswege für die gleiche Aufgabe der Hilfe zur Lebensbewältigung, zum Umgang mit dem Verfall von Orientierungssicherheit auseinander. Die therapeutische und die sinnverstehende Form helfenden und heilenden Handelns werden als unterschiedliche Möglichkeiten des therapeutischen Umgangs mit Störungen des Lebensvollzugs auch von Seelsorgern hervorgehoben, und zwar um so entschiedener, je weniger die ärztliche Ursachenforschung einem Krankheits- oder Störungsprozeß von sich aus einen Sinn zu geben vermag. Die Beteiligung der Seelsorger an der Diskussion über den Sinn von Krankheit ergab sich nach Jahren der Distanz 7 4 und Konkurrenz, bei der sich P r o f e s s i o n a l i s t . . . sein Wissen prinzipiell v o r l ä u f i g und einer E n t w i c k l u n g unterlegen, es gibt trotz vieler täglicher R o u t i n e keinen E w i g k e i t s a n s p r u c h des W i s s e n s . " 7 2 E r s c h w e r t w u r d e die ethische A u f g a b e des ärztlichen B e r u f s n o c h zusätzlich durch die G e d a n k e n des S o z i a l d a r w i n i s m u s , die mit der U n t e r s c h e i d u n g v o n verschiedenen G r a d e n der L e b e n s t ü c h t i g k e i t die G e s u n d h e i t des einzelnen in ihrer B e d e u t u n g f ü r die G e s e l l s c h a f t hervorh o b e n u n d die F r a g e nach d e m U b e r l e b e n s r e c h t der S c h w a c h e n z u m öffentlichen D i s k u s s i o n s t h e m a w e r d e n ließen. Vgl. G . Fichtner, D i e E u t h a n a s i e d i s k u s s i o n in der Zeit der Weimarer R e p u b l i k , in: A . E s e r ( H g . ) , S u i z i d und Euthanasie, Stuttgart 1976, S. 2 4 - 4 0 (Fichtner geht auch auf die A n f ä n g e der E u t h a n a s i e d i s k u s s i o n um die J a h r h u n d e r t w e n d e ein). 7 3 Vgl. z . B . die G e s e l l s c h a f t für ethische K u l t u r , T h e o s o p h i e und A n t h r o p o s o p h i e , C h r i s t i a n Science; vgl. a u ß e r d e m entsprechende Schriften z u r D i ä t e t i k , z . B . v o n C . H i l t y u n d J . M ü l l e r (vgl. das Lit.-Verz.). 7 4 Vgl. H a n s v. S o d e n , Religion u n d M e d i z i n in der geistigen u n d sozialen K r i s i s der G e g e n w a r t , in: C h W 3 8 / 1 9 2 5 , S p . 691.

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die evangelische Poimenik unter dem Einfluß der akademischen Religionspsychologie als wissenschaftliche Seelsorgelehre weiter profilierte 75 , die aber auch hervorgerufen war durch den Kampf der Arzte um ihre eigene berufliche Absicherung, nach dem Ersten Weltkrieg zunächst nicht so sehr als weitere Suche der Seelsorger nach ihrem O r t in der modernen Berufswelt wie zur Zeit der Blüte des Kulturprotestantismus; es waren vielmehr die Ärzte selbst, die sich in ihrer Auseinandersetzung über das Verständnis von Krankheit und über einen weltanschaulichen Faktor der Heilung wieder nach dem Pfarrer umsahen. Die Pfarrerschaft stand allerdings ebenfalls vor der Frage nach ihrer Stellung im Rahmen der Neuordnung der Kirche als Volkskirche und des Wohlfahrtswesens in der Nachkriegsgesellschaft der zwanziger Jahre. Diese Frage betraf vor allem die Pfarrer in den Anstalten der Inneren Mission und der kirchlichen Wohlfahrtspflege; sie sind nicht von ungefähr an den Diskussionen zwischen Arzt und Seelsorger in dieser Zeit wesentlich beteiligt. Es ist deshalb sachlich angemessen, zunächst auf die weitere Profilierung der Seelsorgelehre als Fachwissen zur sozialen Hilfe einzugehen, die Anlehnung der Poimenik an die medizinische Anthropologie sodann erst als Antwort auf die religionspsychologisch orientierte Professionalisierung des Seelsorgewissens zu interpretieren.

b) Die analytisch-funktionale und ihre organisatorischen

Fassung der Folgen

Seelsorge-Aufgabe

Die Bereitschaft protestantischer Seelsorger, sich den Lebensbedingungen einer modernen Zeit zu öffnen, an deren Gestaltung mitzuwirken, war an der Entwicklung der speziellen wissenschaftlichen Seelsorgelehre zutagegetreten. Sie war ebenso erkennbar im sozialen Engagement der Mitglieder des evangelisch-sozialen Kongresses, in dieser Arbeit dargestellt an Hermann von Sodens Eintreten für E. Sulzes Programm der Seelsorge-Gemeinde. Hermann von Sodens Sohn Hans von Soden führte das sozialpolitische Engagement seines Vaters und vieler wissenschaftlicher Theologen des spä7 5 Zu denken ist vor allem an die Beiträge der Evangelischen Freiheit (Hg. O . Baumgarten) zur Religionspsychologie. In ihrem letzten Jahrgang bringt diese Zeitschrift einen Beitrag von E . J a h n , der den Ertrag der Vorkriegsdiskussion über Seelsorge und Psychologie im Hinblick auf die Frage kirchlicher Seelsorge in kommunalen Krankenhäusern mit den Worten zusammenfaßt, „daß die neueste Psychologie - die pragmatische Methode der Amerikaner James und Starbuck wie die psychoanalyse' der Freud, Jung und Pfister - nachdrücklich auf das Bedürfnis der leidenden Seele hinweist, all die Verdrängungen und Dissonanzen in religiöse Harmonien aufzulösen. Mit anderen Worten: die Frage der Krankenseelsorge ist keine „konfessionelle" Angelegenheit, sondern eine psychologische Frage der Seelenkultur von allgemeiner Bedeutung" ( E . J a h n , Krankenseelsorge und Kommunalpolitik, in: E v F r 2 0 / 1 9 2 0 , S. 62.

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ten 19. Jahrhunderts nach Geist und Intensität unverkennbar fort. Er tritt in der Krisensituation nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland für eine enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten als „Berufsarbeitern im Dienst der Volksreligion" 7 6 ein. Im Sinne eines solchen Engagements beteiligt er sich auch an den Gesprächen zwischen Ärzten und Seelsorgern, die in den zehn Jahren zwischen 1924 und 1933 für die Bestimmung des evangelischen Seelsorgeauftrags Bedeutung erlangten 77 . Kennzeichen des Berufsarbeiters ist - nach von Soden daß er im Unterschied zum Laien den Umgang mit den Erkenntnismitteln sicher beherrscht. „Symbole und Arbeitshypothesen" nicht zu „Dogmen verabsolutiert" oder vergröbert, daß er, als Mediziner zumal, die Leistungsfähigkeit seiner Wissenschaft und seiner technischen Mittel richtig, nämlich als begrenzte, einzuschätzen weiß und daß er deshalb aus dem relativen Wert der Gesundheit keinen „Götzen" bildet 78 . Kennzeichen des medizinischen und theologischen Berufsarbeiters ist es darüber hinaus, daß sich beide ihre Objekte vorurteilsfrei nach Sachgründen auszuwählen und zuzuteilen wissen und sich ihre Ziele pragmatisch setzen, sich also im Fall psycho-sozialer N o t auf deren Linderung beschränken und nicht irgendeine religiöse oder philosophische Entwicklungsidee als Ziel eines Betreuungsprozesses verobjektivieren 79 . Die Theologen haben sich in diesem Zusammenhang mit der Einsicht vertrautzumachen, daß der Arzt ihnen viele ihrer seelsorgerlichen Aufgaben abgenommen hat, soweit sie die Lebensführung des einzelnen in der Gesellschaft betrafen. „Im wesentlichen ist die Tätigkeit des Geistlichen an der Kirche und nicht am Einzelnen orientiert." 8 0 Kennzeichen des Berufsarbeiters ist dann selbstverständlich auch, daß er die eigenen therapeutischen Fähigkeiten rational einzuschätzen weiß, als Theologe dem Psychiater nicht 76 H. v. Soden, Religion und Medizin in der geistigen und sozialen Krisis der Gegenwart, in: ChW 38/1924, Sp. 6 9 0 - 6 9 9 . 7 4 7 - 7 5 1 , hier: Sp. 691. 77 Vgl. die Schriftenreihe „Arzt und Seelsorger", von der zwischen 1926 und 1934 insgesamt neunundzwanzig Hefte in unregelmäßiger Folge erschienen (Hg. C. Schweitzer). 78 v.Soden, a.a.O., Sp. 698. 7 9 Vgl. v.Soden, a.a.O., Sp. 748: „Es fragt sich, ob gewisse leitende medizinische Ideen in ihrer eigenen Konsequenz mit den christlich=religiösen zusammentreffen und sich als eine andere Formung eben dieser letzteren erweisen; es fragt sich, ob sich zeigen läßt, daß der rechte Arzt, der bessere Arzt ceteris paribus der fromme, der christliche Arzt ist. Ich kann mir nun nichts davon versprechen, . . . , wenn man die bekannten Lücken und Rätsel der spezifisch naturwissenschaftlichen Auffassung, der kausal=mechanischen benützt, um darin den Idealismus und den religiös=sittlichen Glauben anzusiedeln, ihn gewissermaßen in die Ritzen und Brüche der Naturwissenschaft einzusprengen. Ich halte ζ. B. den Vitalismus Drieschs und seiner Schule und die Erneuerung des aristotelisch=scholastischen Entelechiegedankens in ihr . . . zwar für eine begrüßenswerte Reaktion gegen den geistverlassenen Materialismus, aber selbst für eine aus einer gebrochenen Wissenschaft und einer dürftigen Religion bedenklich zusammengeflickte Halbschlächtigkeit." 8 0 v. Soden, a.a.O., Sp. 751.

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ins Handwerk pfuscht 81 , sofern er nicht speziell ausgebildet ist, als Arzt andererseits seine Aufgaben gesellschaftspolitisch richtig einzuschätzen und verantwortlich wahrzunehmen versteht. Bedingung für eine Realisierung der Vorstellungen von Sodens ist allerdings in der Tat, daß sich Theologen und Mediziner als Berufsarbeiter, als Arbeiter auf ihrem je eigenen Berufsfeld begreifen. Die Abgrenzung der Berufsfelder aber kann nun gerade nicht von den spezialisierten Berufsarbeitern geleistet werden; die Definition ihrer Berufsaufgaben muß entweder organisatorisch vorgegeben oder im Diskurs der Fachleute ermittelt werden. Hans von Soden sucht in beiden Richtungen und kommt zur Verknüpfung von Bestimmungen: Als organisatorische Struktur ist dem Seelsorger die Gemeinde vorgegeben 82 , der Arzt ist hingegen in der Gesellschaft insgesamt, näherhin im Gesundheitswesen tätig. Diese organisatorische Struktur ist nicht nur phänomenal, sondern auch sachlogisch die zur Abgrenzung der Berufsaufgaben dienliche, denn hinsichtlich ihres Objekts unterscheiden sich die beiden Berufstätigkeiten gerade nicht: Arzt und Seelsorger haben mit der religiösen Anlage in jedem Menschen zu rechnen, gegebenenfalls an ihr zu arbeiten und können über deren Behandlung auch in Diskussion treten 83 . Schwierigkeiten, die den Dialog zwischen Pfarrern und Ärzten in v. Sodens Augen besonders dringlich machen 84 , sind wohl auch Grenzüberschreitungen von Seelsorgern auf das Arbeitsgebiet der Ärzte 85 , Probleme auf der Organisationsebene also, vielmehr aber sind es die Tendenzen, die v. Soden in der Psychiatrie wahrnimmt, die Existenz religiöser Phänomene überhaupt S.u. Anm. 85. v. Soden, a.a.O., Sp. 751: v. Soden geht aber offenbar noch von einer relativ einheitlichen christlichen Kultur aus, die die Gesellschaft insgesamt prägt und die eine Zusammenarbeit von Geistlichen und Ärzten ermöglicht: der Geistliche k a n n . . . den ärztlichen Dienst so wenig übernehmen wie etwa der Lehrer, dessen Schüler ja auch zugleich Patienten des Arztes sind. Natürlich berühren sich die Arbeitsgebiete, und gewiß kann ein Geistlicher sich in der Seelsorge spezialisieren, wenn er dafür begabt ist und sich entsprechend bildet. Im Ganzen aber müssen beide, Geistliche und Ärzte, sich von verschiedenen Seiten in die Hand arbeiten, so wie Lehrer und Ärzte in der Schule oder Verwaltungsbeamte und Ärzte im Staat und der bürgerlichen Gemeinde." 83 v.Soden, a.a.O., Sp.750f. 84 Ebd. 85 Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen dem Psychiater W. Strohmayer und dem Theologen G. Vorbrodt in den Spalten der „Christlichen Welt", bes. die entschiedene Verteidigung der Professionalisierung im Sinne der Ausführungen v. Sodens: „Ich gehöre nicht zu den ,bornierten' Psychiatern, die sich einbilden, sämtliche Heilungsmöglichkeiten des kranken Seelenlebens in Erbpacht zu haben. Daß .Psychotherapie' jeder treiben kann, sogar mit Erfolg: die Heilsarmee, der Buddhismus, die Christian science, Pfarrer Blumhardt, Johannes Müller, Rudolf Steiner, der Schäfer Ast und Gott weiß wer sonst noch, weiß ich so gut wie Vorbrodt... Aber alle diese Zugeständnisse heben die Grenzen nicht auf, die zwischen der beruflichen Tätigkeit des Psychiaters und des Theologen bestehen." W. Strohmayer, Psychiatrie und Religionspsychologie, in: ChW 38/1924, Sp. 939. 81

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zu leugnen, sich auf eine D i s k u s s i o n über eine religiöse Anlage gar nicht erst einzulassen 8 6 . D i e naturwissenschaftlich-kausale, die Tatsachen aus Tatsachen erklärende Betrachtungsweise führt zu einer A u f f a s s u n g der Religion als Erzeugnis des menschlichen Geistes 8 7 . D i e Überlegenheit des Geistes über die N a t u r bewährt sich dann nur noch in einer Anpassungsleistung. „ D a b e i ist der Arzt, der in der Wissenschaft v o m Menschen Ausgebildete, der Führer und Helfer. Er kann für den einzelnen mit relativer Sicherheit bestimmen, was er vermag und was nicht, sei es aus allgemeinen, sei es aus für ihn speziell geltenden, aber immer eben aus n a t u r g e s e t z l i c h . . . wirkenden Ursachen." 8 8 D e r Mensch wird als determiniert in seinen Anlagen betrachtet, und das Leben wird zu der Kunst, mit den eigenen Anlagen richtig u m z u g e hen 89 . Als N o r m des Handelns ist dann schon lange an die Stelle des Motivs, der Sorge u m den Bedürftigen, der E f f e k t getreten, das Wohlbefinden, der N u t z e n , das Glück 9 0 . Wird das Leben als die Kunst, mit den natürlichen Anlagen richtig u m z u gehen 9 1 , bestimmt, dann liegt eine weitere Spezialisierung der H a n d l u n g s möglichkeiten, die diese K u n s t verfeinert, nahe, dann ergibt sich auch die Frage nach dem Beitrag der Religion z u m U m g a n g mit dieser geradezu künstlerischen A u f g a b e der Selbstgestaltung zwanglos 9 2 , dann bedarf die 8 6 Vgl. v.Soden, a.a.O., Sp. 750: „Die modernen Arzte behandeln ja nicht nur den über irgendeinen Mangel klagenden, sondern auch den seinen Mangel nicht empfindenden Menschen; ja, sie halten es für ihr Recht, selbst gegen den Willen eines Menschen diesem zu einem gesünderen Leben zu helfen, etwa auf dem Gebiet der Wohnungshygiene, des Seuchenschutzes . . . Von hier aus müssen sie auf die Frage geführt werden, ob nicht zur Vollkommenheit eines gesunden Lebens auch Religion, auch der Friede mit Gott, um es religiös auszudrücken, gehört, und ob das Fehlen der Religion nicht ebensogut einen Defekt darstellt wie irgendein anderer psycho=physischer Ausfall, ob nicht eine Reihe von medizinisch in Erscheinung tretenden Gesundheitsstörungen durch diesen Ausfall kausiert werden. Es ist merkwürdig, daß Ärzte häufig die Religion als sogenannte Ersatzbildung oder Sublimierung zu e r k l ä r e n . . . wissen, . . . aber nicht auf den Gedanken kommen, einmal vom religiösen Menschen als dem normalen und gesunden auszugehen und zu untersuchen, ob nicht manche Psychose eine Ersatzbildung für unbefriedigte Religiosität ebensogut sein könnte wie für unbefriedigte Sexualität." 8 7 Vgl. v. Soden, a.a.O., Sp. 696. 88 Ebd. 8 9 Vgl. v . S o d e n , a.a.O., Sp.697. Die Konstitutionstypenlehre im Sinne Kretzschmers „scheint der freien Arbeit an unserer Persönlichkeit nach einer idealen N o r m empfindliche Schranken zu setzen." 9 0 Vgl. v. Soden, a.a.O., Sp. 696. 9 1 Vgl. dazu auch C. Schweitzer (Hg.), Krankheit und Sünde, H . 14 der Schriftenreihe Arzt und Seelsorger, S. 91. 9 2 Vgl. K . B e t h , Religionspsychologie und Seelsorge, in: Z R P s 1/1928, S. 1: „Religionspsychologie kann und muß sich praktisch erproben in der Pflege der Seelen. Diese hat es mit der Mannigfaltigkeit, der unübersehbaren Fülle von individuellen Seelen zu tun, die das wirkliche Menschenleben aufweist, und es gibt keinen einzigen Fall von menschlichem Seelenleben, dem gegenüber die Seelenpflege versagen darf, den sie nicht kenne, dem sie nicht gerecht werden muß, außer dort wo es sich um psychiatrische Grundlagen handelt."

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Berufsarbeit an der Seele aber um so dringender sachlicher Richtlinien oder institutioneller Schranken, die ein Ethos der Sachlichkeit zu wahren vermögen93. Für die Behandlung seelischer Leiden zeichnet sich dabei eine Suche nach Gemeinschaftsformen, nach Gestalten sozialer Integration ab94. Der Trend zur Verselbständigung von diakonischen Werken95 und der Trend zur Spezialisierung der Berufstätigkeiten verstärken sich gegenseitig; an und für sich getragen von dem Bewußtsein und der Hoffnung, dem heilenden Handeln von Ärzten und Seelsorgern Ziele geben zu können, muß die Zielsetzungsdebatte wegen der erwähnten Eigendynamik der Spezialisierung 96 an Fachgremien und spezielle Einrichtungen delegiert, im Konfliktfall mit dem Staat notfalls auch in öffentlicher Auseinandersetzung geführt werden 97 . Die Kontakte mit hilfsbedürftigen Personen werden solchermaßen durch Delegation wahrgenommen, die nun ihrerseits Kontakte aufzubauen, den „pädagogischen Bezug" herzustellen, Sprechstunden und Beratungsstellen einzurichten erforderlich macht98. Die Uberführung von Seelsorge in Fürsorge zeichnet sich ab, obwohl es an Warnungen vor einem „Sozialbeamtentum" und einer Bürokratisierung der freien Wohlfahrt nicht fehlt 99 . Vgl. auch die Charakterisierung der Seelsorgeaufgabe aus religionspsychologischer Sicht durch W. Gruehn (Seelsorge im Licht gegenwärtiger Psychologie, Arzt und Seelsorger H . 7, S. 5) wenn von irgendeiner menschlichen Arbeit gehofft werden darf, daß sie ganz dem Ebenbilde Gottes entspricht, so gilt das von der Arbeit an der Seele. . . . Gottes tagtägliche Arbeit ist, soweit wir Menschen etwas davon erahnen, vornehmlich Arbeit am menschlichen Seelen". 93 Diese Aufgabe übernehmen einerseits die staatlichen Organisationen des Gesundheitswesens, andererseits die Verbände der Ärzte. (Vgl. H . Stümke, Bibliographie der internationalen Kongresse und Verbände [1939].) 94 Vgl. E. Kleßmann, Die Sprechstunde in der Heilerziehung, Arzt und Seelsorger, H . 22, S.22. 95 S.o. S. 56. 96 S.o. S. 90. 97 Zu denken ist dabei an Hans v. Sodens Marburger Gutachten gegen den Arierparagraphen in der Kirche (1933) (vgl. K.Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich Bd. 1, S.412), an F. v. Bodelschwinghs, Th. Wurms und mancher ungenannter Leiter kirchlicher Anstalten Widerstand gegen die Ubergriffe staatlicher Instanzen im Bereich der Wohlfahrt, vor allem bei dem Plan zur ,Vernichtung lebensunwerten Lebens'. Im Rückblick schreibt H . March (Vom Helfen, in: ders., Kernfragen des Lebens, Göttingen 1951, S.51): „Die vorliegende Studie entstand in der nationalsozialistischen Ära, einer Zeit, in der ganz Deutschland in einem Ausmaß, wie wohl nie zuvor, mit staatlichen und kommunalen Hilfs= und Erziehungseinrichtungen durchorganisiert war. . . . Damit wurde das Helfen als schlichtes, unmittelbares Wirken des einen für den andern zu einer propagandistischen Angelegenheit des Staates und weithin die Liebe ertötet, die doch die wesenhaft treibende Kraft einer sozialen Gesinnung sein sollte. Den K i r c h e n , . . . blieb nur noch ein begrenzter Bereich, innerhalb dessen sie ihren besonderen Auftrag erfüllen und notleidenden Menschen ihren Beistand zukommen lassen durften." d 98 E. Kleßmann, Die Sprechstunde in der Heilerziehung (1930), S. 22; vgl. auch H . Halberstadt, Psychologische Beratungsarbeit (1981), Abschn. 1, Zur Geschichte der Beratungsarbeit. 99 G. Bäumer, Gedanken über den Sinn der Fürsorge, in: D. Ulrich, Fürsorge und Seelsorge, Berlin 1928, S.12f.

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In ihrer nicht nur pragmatischen, vielmehr prinzipiellen Kritik an der spezialisierenden Betrachtung des Menschen und deren organisatorischen Folgen, der Möglichkeit, den auf seine religiösen N ö t e und Gebrechen hin betrachteten Menschen im Rahmen der gegebenen Angebote der W o h l f a h r t zu fördern und zu betreuen, trifft sich die medizinische Anthropologie in den zwanziger Jahren mit der Seelsorgelehre der Theologie der Krise 1 0 0 . Im Widerspruch gegen eine an naturwissenschaftlicher Analyse ausgerichteten Medizin, aber auch aus der Sorge heraus, daß sich aus einer bloß analytischen Betrachtung des Menschen keine f ü r den Arztberuf als einem freien, auf selbstverantwortetem Ethos gründenden Beruf ausreichende anthropologische Vorstellung mehr ableiten ließe, aus der Sorge also auch um das Profil des A r z t b e r u f s und um seine soziale Stellung, mehrten sich die Bemühungen um eine selbständige medizinische Anthropologie 1 0 1 . Gerade an ihrer Herkunft aus der Praxis 102 zeigt sich ihre Funktion als ethisches Regulativ f ü r die Erkenntnisfortschritte der naturwissenschaftlichen Medizin. In ihren aufs Grundsätzliche abzielenden Ausarbeitungen, schließlich unter dem Titel einer „Pathosophie", lassen die Beiträge zur medizinischen A n t h r o p o l o g i e die Tendenz erkennen, über die Befähigung zu selbständigem ethischem Urteil in einem gegebenen Problemrahmen hinaus eine eigene Weltanschauung anzubieten, die der analytischen Segmentierung des Menschen synthetisierend begegnet 103 . V o r allem aus dem Interesse an einer solchen „Psycho-

100 Es ist kaum zu übersehen, daß E. Thurneysen nicht erst in seinen späteren Schriften (vgl. Arzt und Seelsorger in der Begegnung mit dem leidenden Menschen, in: P. Christian/D. Rössler (Hg.), Medicus Viator, Festgabe für R. Siebeck, Tübingen-Stuttgart 1959, S. 2 5 9 - 2 7 2 ) , sondern bereits in seinem Aufsatz von 1928 (Rechtfertigung und Seelsorge) von den Begriffen der anthropologischen Medizin mindestens Kenntnis genommen hat: Es handelt sich nach Thurneysen in der Seelsorge „um das Ansprechen des sündigen Menschen in seiner G a n z h e i t . . . " (F. Wintzer [1978], S. 86); das seelsorgerliche Gespräch geht aus „von der im rechtfertigenden Handeln Gottes . . . gegebenen Synthesis, . . . Nur um diese göttliche Synthese der Vergebung sichtbar zu machen, wird dieses Gespräch überhaupt geführt" (S. 88). ιοί Vgl. P. Christian, Das Personverständnis im modernen medizinischen Denken, Tübingen 1952. - Die berufliche Situation kennzeichnet I . H . S c h u l t z (Psychiatrie, Psychotherapie und Seelsorge. Arzt und Seelsorger, H . 2 , Schwerin 1926, S. 3): „Die geschichtliche und besonders die soziale Entwicklung haben es mit sich gebracht, daß die akademischen Vertreter geistiger Berufe auf der ganzen Front in einen A b w e h r k a m p f . . . gedrängt wurden. Der Arzt ist aus einem freien Helfer seiner Mitmenschen zu einem kleinen Angestellten geworden, der von politischen Meinungen und sozialen Vorurteilen abhängig ist. Der Geistliche, einst der aus Volks= und Staatswillen bestellte Seelenhirte seiner Gemeinde, sieht sich jetzt plötzlich einem Chaos von Unverständnis und Ablehnung gegenüber." 102 Vgl. D. Rössler, Der ganze Mensch, Göttingen 1962, S. 72. - L.Grote, Über die Beziehungen der Medizin zur Theologie (1929), S. 5. 103 V. v. Weizsäckers Versuche, zu einer medizinisch-anthropologischen Gesamtschau des Menschen vorzudringen (Pathosophie, 1956), beurteilt D. Rössler (Der ganze Mensch, 1962, S. 80) hinsichtlich ihrer Wirkung auf das ärztliche Handeln skeptisch.

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synthese"104 empfängt das Gespräch von Seelsorgern und Ärzten seine Impulse. Es beteiligen sich an diesem Gespräch allerdings vornehmlich die Arzte, die die Profilierung ihres Berufsstandes nicht auf Fachwissen und Institution allein, sondern vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Menschenbildes105 auf Ethos und freie Berufsverantwortung zu gründen hoff-

c) Dominanz der anthropologischen Deutung in der speziellen Seelsorgelehre Hatte C. I. Nitzsch seine wissenschaftliche Seelsorgelehre am Bildungsbegriff und dem Leitmotiv einer christlichen Persönlichkeit ausgerichtet, O. Pfister sich unproblematisch von der Vorstellung eines tatkräftigen, gesunden „Vollmenschen" leiten lassen, so ist die funktionale Aufteilung der Berufsaufgaben zwischen Arzt und Seelsorger nach den verschiedenen psychischen Bezirken und Funktionen des Individuums, wie sie H. v. Soden und andere in konsequent weitergeführter Reflexion der wissenschaftlichen Seelsorgelehre vorschlugen, ein Versuch, zum Begreifen einer problematischen Situation anzuleiten, der aber nun seinerseits Probleme aufwirft; diese funktional-spezifizierende Ordnung und Deutung des individuellen und sozialen Lebens war jedenfalls nur eine mögliche Antwort auf die Krise 104 Unter den Teilnehmern an den Gesprächen zwischen Ärzten und Seelsorgern bemühen sich vor allem F. Künkel und A. Maeder um einen „Wiederaufbau der Persönlichkeit neben ihrer Analyse" A. Maeder, Psychoanalyse und Synthese. Arzt und Seelsorger, H. 8, Schwerin 1927, Untertitel). 1 0 5 Vor einem inflationären und darin unpräzisen Gebrauch des Begriffs „ganzer Mensch" warnt V.V.Weizsäcker schon 1927, Psychotherapie und Klinik, in: Psychotherapie, Bericht über den I; Allg. ärztl. Kongreß f. Psychotherapie (hg. v. W.Eliasberg), Halle 1927, S . 2 2 6 f f . : „Ein solcher Versuch einer Erkenntnistheorie klinischer Erfolgsbeurteilung und damit überhaupt klinischer Objektivität bleibt indes noch unvollkommen. . . . Wenn jedenfalls das Schlagwort, man müsse den ganzen Menschen behandeln, ernst genommen würde, so müßten wir ihn auch mit dem ganzen Menschen behandeln. Es ist aber kein Modewort undeutlicher und vieldeutiger als dieses. Gewiß ist, daß die Kategorie der Ganzheit oder der Totalität analytischer Erkenntnisweise unzugänglich bleibt" (S. 234). Vgl. zum Begriff der „Ganzheit" als eines Kennzeichens der ganzen Weimarer Zeit: P. Gay, Der Hunger nach Ganzheit, in: M. Stürmer, Die Weimarer Republik, Königstein/Ts., 1980, S. 224—236: „Die vielfältigen Sorgen, die ich .Hunger nach Ganzheit' genannt habe, erweisen sich bei näherer Betrachtung als eine mächtige Regression, die einer großen Angst entsprang: Der Angst vor Modernität. Die abstrakten Begriffe, mit denen Tönnies, Hofmannsthal und andere hantierten - Volk, Führer, Organismus, Reich, Entscheidung, Gemeinschaft - , offenbaren ein verzweifeltes Verlangen nach Verwurzelung und Gemeinschaft, eine heftige, häufig bösartige Ablehnung der Vernunft, begleitet von dem Drang nach unmittelbarer Aktion oder nach Kapitulation vor dem charismatischen Führer." 106 Zu den berufsständischen Sorgen der Ärzteschaft zwischen den Weltkriegen vgl. E.-M. Klasen, Die Diskussion über eine „Krise" der Medizin in Deutschland zwischen 1925 und 1933, Diss. Mainz 1984.

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allgemein geltender Wertvorstellungen, wie sie in den zwanziger Jahren z.T. schon als Folge der wissenschaftlichen Analyse und ihrer potentiellen Grenzenlosigkeit empfunden - ins Bewußtsein der sozialpolitisch verantwortlichen trat. Die medizinische Anthropologie erwies sich als eine andere Antwortmöglichkeit auf die Krise der Psyche im Relativismus wissenschaftlicher Analyse und zugleich als Entgegnung auf die funktional-spezifizierende, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse festschreibende Fassung der Seelenlehre 107 . Die medizinische Anthropologie formulierte nicht ohne Orientierung an philosophischen Entwürfen zur Anthropologie 108 , aber immer ausgehend von praktischen Fragen die Theorie einer „Ganzheit des Menschen" 109 kompensatorisch gegen den Druck einer biologischen und psychologischen Analyse, die den Menschen seiner Individualität und seines Ortes zu berauben schien, ihn allenfalls als Typus individuell wahrnahm und einordnete 110 . Für dieses Verständnis der Seelsorgeaufgabe gewann die medizinische Anthropologie eine hohe Bedeutung; während die funktional-spezifizierende Präzisierung der Seelsorge-Aufgabe als ,helfende Begleitung' den Theorie-Rahmen für die Arbeit in diakonischen Anstalten und Beratungsstellen 111 bereitstellte und als Seelsorgelehre vorerst nicht mehr selbständig in Erscheinung trat, erwies sich die an medizinischer Anthropologie orientierte spezielle Seelsorgelehre für die Herausbildung eines Selbstverständnisses und einer eigenen „Modernen Seelenpraxis" 112 des Pfarrerberufs im Zusammenhang der Entwicklung der akademischen Berufe in der modernen Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht als produktiv: 1 0 7 Zum Folgenden vgl. im ganzen: D.Rössler, Der ganze Mensch (1962), S. 6 4 - 8 6 ; zum Problem der Relativierung durch psychologische Objektivität vgl. z.B. A . Kronfeld, Religion und Psychotherapie, in: Zentralblatt f. Psychotherapie, 3/1930, S. 5 1 9 - 5 3 9 , hier: S. 534 f. 1 0 8 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1925'. 1 0 9 Die kritischen Beiträge zur Anthropologie des „ganzen Menschen" (vor allem O. Marquard, A r t . Anthropologie, in: H W P 1, S p . 3 6 2 - 3 7 4 und D.Rössler, A r t . Anthropologie, medizinische, in: H W P 1, Sp. 3 7 4 f f . ) haben auf die Argumentationsweise in Poimenik und Psychotherapie bisher kaum Einfluß gewonnen. Der „Trend zum Natürlichen" (Marquard, Sp. 373) wird nicht selten alttestamentlich unter Hinweis auf den Begriff „näphäsch" verstärkt. 1 1 0 Vgl. z.B. die Konstitutionstypenlehre von E. Kretschmer (Körperbau und Charakter, Berlin 1921); auf sie verweist auch Hans v. Soden, Religion und Medizin (1924), Sp. 697. 1 1 1 In diesem Umstand ist auch ein Grund dafür zu suchen, daß die amerikanische Seelsorge-Bewegung, die in der Immanuel-Bewegung der zwanziger Jahre Anregungen deutscher Sozialarbeit aufgenommen hatte, in den sechziger Jahren für die Pfarrerschaft (!) wie neu erscheinen konnte, obwohl sie als Form der Sozialarbeit so neu in Westeuropa nicht war. Vgl. dazu auch: G. Bäumer, Gedanken über den Sinn der Fürsorge (1928), bes. S. 12. 1 1 2 I. Schairer, Moderne Seelenpraxis, Gütersloh 1927.

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- Sie förderte das Interesse an einer selbständigen Zielformulierung der individuellen Seelsorge und führte auf der Suche nach „ P s y c h o s y n t h e s e n " zu Korrelationen zwischen Heil und Gesundheit 1 1 3 . - In der Ausrichtung der ärztlichen Aufmerksamkeit auf die gesamte Lebensgeschichte von Kranken bewirkte die medizinische Anthropologie in der ihr folgenden Seelsorgelehre eine Verallgemeinerung des Willens zu helfen, eine Ausrichtung der helfenden Aufmerksamkeit auf die Fülle potentiell psycho-somatisch problematischer Lebenslagen; zugleich konzentrierte sie ihre Aktivität auf die v o m einzelnen geäußerten Bedürfnisse und auf den Leidensdruck 1 1 4 . In der Klärung der individuellen Lebensgeschichte mit ihren vielfältigen personalen ,Bezügen' schien sich eine Verknüpfung von ganz individueller Betrachtung des Seelsorgepfleglings und seiner sozialen Situation und in deren Berücksichtigung dann zugleich auch eine Wahrnehm u n g und F ö r d e r u n g der Beziehungen in der Gemeinde, des Gemeindelebens insgesamt als Möglichkeit für das Handeln des Seelsorgers anzudeuten. D i e U b e r w i n d u n g des Psychologismus in einem biographisch orientierten Denken zeichnete dem Seelsorger die Möglichkeit, überindividuell zu wirken, vor Augen 1 1 5 . Tatsächlich aber ergab sich durch diese Ausweitung der Perspektive der Eindruck einer Erkrankung des ganzen Menschen mit seiner ganzen Biographie; die Suche nach Störungen mußte und konnte auf das ganze Leben ausgedehnt werden. - Mit ihrer intensiven therapeutischen Zuwendung, mit der methodischen B e m ü h u n g u m ein Vertrauensverhältnis zur heilungsfördernden H e r 113 D a s ärztliche Anliegen synthetischen Denkens wurde auf eigenen Fachkonferenzen zum Thema wahrgenommen. - Vgl. M. Sihle (Hg.), Verhandlungen der ersten Konferenz zur Förderung medizinischer Synthese, Riga 1931; bes. S. 4: „Die Forderung, seinem Nebenmenschen zu helfen, entspringt nicht einer sozial-polizeilichen Verordnung, sondern einem ethischen Imperativ. D e m Kranken in seinen leib-seelischen N ö t e n zu helfen und ihn einer glückverheissenden Gesundheit entgegenzuführen, ist eine hohe ethische Aufgabe, die dem in Wissenschaft und Heilkunst bewanderten Arzte nur dann in vollem Ausmasse gelingen kann, wenn er selbst von der Wahrheit ethischer Aufgaben durchdrungen i s t , . . . Ein wahrer Arzt ist nur derjenige, der in sich Wissenschaft, Kunst und persönliche Lauterkeit vereinigt." Zur Korrelation von Gesundheit und Heil vgl. bes. C. Schweitzer (Hg.), Krankheit und Sünde, Arzt und Seelsorger H . 14, Schwerin 1928. 1 1 4 Gerade mit dieser Verknüpfung im Begriff der Ganzheit des Menschen als Ausgangspunkt, Grundgegebenheit und Zielbegriff aber verhinderte die anthropologische Seelsorgelehre die Einsicht in die Verschiedenheit der in ihr verknüpften Intentionen der Verantwortung für den einzelnen in der Sprechstunde und der Verantwortung für die Gemeinschaft der Gemeinde in verschiedenen alltäglichen Beziehungen des kirchlichen Lebens; die Gemeinsamkeit der verschiedenen Intentionen und Absichten wurde unter den Begriffen von .Therapie' u n d , H i l f e ' zwar zusammengefaßt, die Differenzen jedoch wurden verdeckt. 115 Vgl. D . Rössler, Der ganze Mensch (1962), S. 84 u . ö . : „,Die Krankengeschichte ist immer zugleich auch eine Lebensgeschichte'" (Zitat aus R. Siebeck, Medizin in Bewegung, 1949, S. 34). Zur Lebensgeschichte aber zählt Siebeck nicht nur die persönliche Biographie, sondern die Beziehungen des Individuums zu seiner Umwelt in engeren und weiteren Kreisen.

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Stellung von Übertragungsbeziehungen setzte die Handlungsstruktur der ärztlichen Seelenpflege im Zeichen einer medizinischen Anthropologie des „ganzen Menschen" eine hohe Norm für die Intensität im Austausch von Seelsorger und Gemeindeglied. Die Ansprüche an die Intensität von Gemeindearbeit konnten unter der Perspektive einer solchen individuellen ärztlichen Behandlung und Betreuung nur noch weiter steigen. Wenn man dazu noch berücksichtigt, daß es sich bei dem psychotherapeutischen Modell ärztlicher Seelenpflege um ein an den sprachlichen Möglichkeiten von Oberschichten orientiertes Handlungsmuster handelt, verdichtet sich der Eindruck, daß auch das Modell einer ganzheitlichen Seelsorge an der Entzweiung von tatsächlicher pastoraler Seelsorgepraxis und poimenischer Theorie teilnimmt. Eine solche Entzweiung wurde in der jüngeren poimenischen Diskussion übereinstimmend der sog. kerygmatischen Seelsorge E. Thurneysens von der Position der beratenden Seelsorge aus vorgeworfen. Wenn man die beratende und die kerygmatische Seelsorge jedoch ausschließlich von ihren Aktionsstrukturen her betrachtet, kann man sie durchaus als zwei konkurrierende Modelle ärztlichen Handelns auffassen; die beratende Seelsorge bearbeitet im Sinne einer Ganzheitsmedizin die lebensgeschichtlichen Krisen und Probleme des Klienten in einer Einheit von Diagnose und Therapie, während der „Bruch", den E.Thurneysen in seiner Lehre von der Seelsorge 116 als Konstitutivum des seelsorgerlichen Gesprächs beschreibt, als Schritt von der Diagnose zur Therapie angesehen werden könnte. Es fügt sich in eine solche Betrachtungsweise ein, daß Thurneysen in seinem zweiten Lehrbuch 117 , in dem er sich ausdrücklich auf die anthropologische Medizin bezieht, den Bruch nicht mehr mit der ursprünglichen Schärfe markiert. Die Entzweiung zwischen Seelsorgepraxis und poimenischer Theorie, die als Wirklichkeitsverlust empfunden wird, ergibt sich bei Thurneysen gegenüber der beratenden Seelsorge deutlicher durch die theologische Begrifflichkeit in seiner Theoriebildung. Die beratende Seelsorge geht indessen von einer nicht weniger wissenschaftlich konstruierten Situation aus 118 . E. Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 1948. E. Thurneysen, Seelsorge im Vollzug, Zürich 1968. 1 1 8 H. Asmussens Seelsorgelehre (Seelsorge, München 1934) bereitet dem Verständnis durch seine theologische Sprache ähnliche Probleme wie die Poimenik E. Thurneysens. Zwar verbietet Asmussen dem Seelsorger ausdrücklich, sich „an Kraut und Pflaster zu begreifen" (S. 31); auch kritisiert er die „liberale Seelsorge (links und rechts)", sie stecke tief in dem „Wahn, es sei unsere (sc. der Seelsorger, d. V.) vornehmste Aufgabe, das Gegenüber unseres Gespräches zum Durchschauen seiner selbst zu bringen" (S. 24) und kennzeichnet wahre Seelsorge als dauerhaften Prozeß (S. 32 u.ö.). Jedoch verwischt er diese Grundlinien seiner Poimenik faktisch, wenn er „das Seelsorgegespräch eben doch als Gespräch von Mann zu Mann" (S. 15) bezeichnet und dabei eine durchaus ärztliche Autoritätsstruktur vorgibt und vor allem die Frage nach der Erfahrung von Heil derart schroff abweist, daß geradezu unvermeidlich Heilsvorstellungen 116

117

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- Ein weiteres Mal ergibt sich, nun auf dem Wege über die medizinische Anthropologie, die Möglichkeit für den Seelsorger, seine Aufgabe nach wissenschaftlichen, wenn auch nicht völlig unumstrittenen Standards und Handlungsformen zu profilieren. Er kann in einer Situation allgemeinen Neuaufbaus kirchlicher Strukturen und Organisationen nach dem Ersten und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg 119 wenigstens an diesem Teil seiner Tätigkeit seine Integration in die globalen sozialen Wirkungsstrukturen erreichen, ohne sich von der übrigen Gesellschaft auszugrenzen, sich gegen sie stellen zu müssen und ohne die Gefahr, in seinem Handeln von anderen gesellschaftlichen Gruppen abhängig zu werden und seine Selbständigkeit einzubüßen. Die Verknüpfung des Pfarramtes im traditionellen Sinn der Verantwortung eines Amtsträgers für seine Parochie mit einer speziellen Seelsorgelehre, die sich an der Handlungsform der ärztlichen Sprechstunde orientierte, die sich zugleich aber auch mit der Hoffnung auf eine über das Selbstbewußtsein des Seelsorgers beziehungsstiftend und gemeindebildend wirkende Seelsorge verband, schien plausibel die Einordnung des Pfarrerberufs unter die anderen freien Berufe zu gestatten. Daß sich dieses Interpretationsmodell für den Beruf des Pfarrers nicht alsbald als eine Verknüpfung divergierender idealer Forderungen und damit als kaum praktikabel erwies, lag nicht zum wenigsten daran, daß unter den Lebensbedingungen des totalen Staates zunächst einmal das Pathos der Berufsauffassung der sogenannten ,freien' Berufe hohl zu klingen begann: „ A m 15. S e p t e m b e r 1933 ist in B e r l i n die , D e u t s c h e allgemeine G e s e l l s c h a f t f ü r P s y c h o t h e r a p i e ' g e g r ü n d e t w o r d e n . D i e s e G e s e l l s c h a f t hat die A u f g a b e , i m Sinne der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n d e u t s c h e n R e g i e r u n g alle d e u t s c h e n A r z t e z u s a m m e n z u f a s sen, die d u r c h d r u n g e n sind v o n d e m G e d a n k e n , daß der A r z t bei jeder B e h a n d l u n g d a s G a n z e der P e r s ö n l i c h k e i t des K r a n k e n i m A u g e h a b e n m u ß , d a ß er die Seele des M e n s c h e n nicht u n b e a c h t e t lassen d a r f ; v o r allem aber diejenigen Ä r z t e , die willig sind, i m S i n n e der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g eine seelenärztliche H e i l kunst auszubilden und auszuüben."120 ersatzweise eingeführt werden müssen. Denn wohl versichert Asmussen, daß „unsere seelsorgerliche Tätigkeit keineswegs eine abstrakte Auseinandersetzung über den Zorn und die Gnade Gottes bleibt, „ w o . . . bei unserem Beichtkinde die Auseinandersetzung über den Zorn und die Gnade Gottes beginnt" (S. 38), aber wie „das Sterben des alten Menschen" und die „Zusammenschau von Gott und dem Geschaffenen" (S.40) zu denken sei, diese Frage erhält nur eine negative Antwort: Rechte Seelsorge wird erkennbar an der Feindschaft der Welt (S. 40ff.). ' 1 9 Die Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger", nach dem Zweiten Weltkrieg von W. Bitter und R. Daur begründet, stützt ihre Gemeinsamkeit zwischen den Berufsgruppen stärker auf die medizinische Anthropologie als das Clinical Pastoral Training ( C P T / K S A ) , das auf der Basis sozialpsychologischer Theorien arbeitet. 120 Vgl. Mitteilung des Reichsführers der „Deutschen allgemeinen Gesellschaft für Psychotherapie", in: Zentralblatt für Psychotherapie 6/1933, S. 140—143, hier: S. 140. - Vgl. auch S.Leibfried/F.Tennstedt, Berufsverbote und Sozialpolitik 1933. Die Auswirkungen der natio-

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- Die Versuche einer selbständigen und den Seelsorger verselbständigenden Rückbindung der Seelsorge an Formen kirchlichen Lebens 121 lagen angesichts der Konsequenzen einer ärztlich orientierten Seelsorgelehre nahe, zeigen aber in ihrer geringen Wirkung zugleich, welcher Richtung der Seelsorgepraxis demgegenüber auch die medizinisch-anthropologische Interpretation der Seelsorgelehre letztlich durch ihre Orientierung am Leiden des Menschen schon verpflichtet war: der sozialstaatlich-diakonischen Zuwendung zum einzelnen.

3. Beratende

Seelsorge als sozialwissenschaftliche traditionsgebundenen

a) Seelsorge als diakonische

Gestalt

einer

Seelsorgelehre

Spezialaufgahe

Blickt man vom gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Seelsorgelehre in der evangelischen Theologie in Deutschland zurück, so liegt es offenbar nahe, die weithin anerkannte, nach sozialwissenschaftlich

formulierten

Handlungsmustern konzipierte und praktizierte Beratende Seelsorge von einer sachlich als überholt angesehenen kerygmatischen Seelsorgelehre und nalsozialistischen Machtergreifung auf die Krankenkassenverwaltung und die Kassenärzte, Bremen 1980. 1 2 1 Vgl. M . D o e r n e , Volkskirche und Volksmission, in: W. Schadeberg (Hg.), Die seelsorgerlich = missionarische Arbeit der Kiche, Dresden und Leipzig (1940), S. 5 7 - 6 9 : „Missionarisch in diesem tiefsten Sinne ist jede Verkündigung, Unterweisung, Seelsorgepraxis, die den Einzelnen ruft: es geht um dich, ,wir sind allesamt zum Tode gefordert, und wird keiner für den anderen Rechenschaft geben' (Luther). Eine Kirche, die den Einzelnen nicht in diesem Sinne zu rufen und ,herauszurufen' weiß, ist eine tote Kirche, ein Salz, das nicht mehr salzt. Dieser missionarische Personalismus will nicht verwechselt sein mit dem Individualismus'. I m Gegenteil (man m u ß dies auch gegenüber den individualistischen Missionsmethoden des Neupietismus im Auge behalten), die Mission ist um so wirksamer, je schärfer sie auf die organischen Lebenszusammenhänge achtet, in denen der Einzelne gebunden ist, je bestimmter sie ihn auf sein Stehen im ,Stande' anspricht" (S. 63 f.).

D a ß die Seelsorge durch die Ordnungen von A m t und Gemeinde bestimmt werde, ist die Intention der Seelsorgelehre, die D . B o n h o e f f e r in seinen „Halbjahrs-Seminarvorlesungen im Predigerseminar Finkenwalde" (Werke Bd. 5, München 1967, S. 363—405) vorgetragen hat; vgl. S. 3 7 1 : D e r Abstand zwischen Seelsorger und Gemeindeglied beruht nicht auf „unterschiedlichen Begabungen und persönlichen Kräften, sondern auf dem A m t , das G o t t dem Seelsorger gegeben hat. . . . Es handelt sich nicht um ein Kräfteverhältnis, sondern um eine Auftragsverschiedenheit. Alle Fragen nach persönlicher Würdigkeit sind unsachlich und stellen uns in die Nachbarschaft der Psychotherapie. Zu dem, worum es in der Seelsorge geht, reicht unser Vermögen ohnehin nie aus. Allein unser Auftrag bindet und ruft uns." . . . S. 3 7 3 : „ D e r Seelsorger soll nicht willkürlich gewechselt werden. Die Gemeinde soll sich an den ihr verordneten Pfarrer halten, wenn nicht schwerwiegende G r ü n d e " ( z . B . Bruch des Beichtsiegels) „dagegensprechen".

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-praxis zu unterscheiden 122 . Eine an psychologischen Überlegungen und psychotherapeutischen Fertigkeiten orientierte Seelsorge-Ausbildung legt eine Seelsorgelehre zu den Akten, der sie sich durch ein einheitliches Konzept von Ausbildungsplan, Ausbildungsgang und Praxisgestalt (Seelsorge im Gespräch), vor allem aber durch die besondere Berücksichtigung des einzelnen und seiner Bedürfnislagen überlegen glaubt. Ihren Ausgangspunkt nimmt eine solche Interpretation zeitgeschichtlich nach dem Ersten Weltkrieg 123 , sachlich im Zusammenhang einer kritisch-emanzipatorisch entworfenen Praxis der Neugestaltung sozialen Lebens in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, im weiteren Kontext von sozialpolitischkritisch den restaurativen Tendenzen im Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft entgegengebrachten Vorstellungen der Erneuerung 124 . Die psychotherapeutische Ausbildung, die sich in ihrer Vielfalt gleichzeitig entwickelt, gibt das Modell ab für die Klinische Ausbildung in Beratender Seelsorge, die sich damit als erneute Fortsetzung des Versuchs erweist, den Pfarrerberuf in Anlehnung an das Vorbild des freien Berufs des Arztes, jeweils in seiner fortschrittlichsten Variante, zu interpretieren und zu praktizieren 125 . Der Vorwurf einseitiger Orientierung des Seelsorgehandelns am Muster der Predigt als einer Einweg-Kommunikation hat im Rahmen einer Beratenden Seelsorge den Sinn, die Beziehung der Seelsorgelehre zur Realität des einzelnen als ein Wahrnehmen seiner Bedürfnisse anzumahnen. Daß jedoch die Orientierung der Seelsorge an den Problemen der SeelsorgeKlienten eine Einseitigkeit eigener Art hinsichtlich des Realitätsbezugs darstellt, wird von der Beratenden Seelsorge selbst nicht gesehen, weil sie mit der Konstruktion einer eigenen Wirklichkeit beschäftigt, somit vor1 2 2 Ausführlich diskutiert vor allem R. Riess (Seelsorge. Orientierung - Analysen - Alternativen, Göttingen 1973) die Differenz zwischen einer „kerygmatischen" und einer „partnerzentrierten" Seelsorge. Er übersieht allerdings die Konsequenzen, die sich aus der von ihm zitierten (S. 181) Feststellung einer strukturellen Identität der Poimenik Thurneysens mit der allgemeinen Bewegung der Anthropologie (vgl. D . R ö s s l e r , Der ganze Mensch (1962), S.96) ergeben müßten: Es wäre doch zu fragen, ob eine ebenso prinzipiell vom „ganzen Menschen" (Riess, S. 182) ausgehende kommunikationspsychologische Poimenik nicht an die Stelle der theologischen eine psychologische Dogmatik setzt. 1 2 3 Vgl. R. Riess, a.a.O., S. 183. 1 2 4 Vgl. das Erscheinungsjahr der Schrift von H . D o e b e r t , Neuordnung der Seelsorge: 1967. 1 2 5 Die Vielfalt der zur Anwendung in der poimenischen Praxis diskutierten psychotherapeutischen Verfahren spiegelt in dezenter Wiedergabe das bunte Angebot des psychotherapeutischen Marktes wider. Eine Übersicht, die die Vielfalt ahnen läßt, gibt W.Jentsch (Der Seelsorger: Beraten - Bezeugen - Befreien; Grundzüge biblischer Seelsorge, Moers 1982, S. 120ff.). Die einschlägigen psychologischen Handbücher lassen schon durch die Dimensionen der klinisch-psychologischen Partien erkennen, wie stark beachtet und bearbeitet das psychotherapeutische Anwendungsfeld der verschiedenen psychologischen Schulen ist.

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wiegend planend, nicht reflexiv tätig ist bzw. die Reflexion im Interesse der Planung neuer Praxisformen betreibt. Überblickt man jedoch die moderne evangelische Seelsorgelehre von den Wurzeln einer wissenschaftlichen Poimenik und Seelsorge im ^ . J a h r h u n dert her, dann ergeben sich Einsichten, die die Beratende Seelsorge nicht einfach als den neuesten Stand der „Psycho-Technik" 1 2 6 propagieren oder kritisieren, vielmehr zusätzliche, differenzierende Gesichtspunkte zum Verständnis der Beratenden Seelsorge beitragen können: - Die Beratende Seelsorge erscheint, nach den Traditionsabbrüchen in der jüngeren deutschen Vergangenheit vielleicht unvermeidlich, nicht mehr als wissenschaftliche Seelsorge und Poimenik, sondern als sozialwissenschaftlich-konstruktive Seelsorgelehre, bei der Lehre und Praxis so zur Identität gekommen sind, daß die Praxis gegenüber der Lehre (sie!) kaum eine selbständige Rolle mehr spielt. Ihre Vertreter hoffen nicht mehr, die Seelsorge als eine Lebensäußerung im Raum der Kirche „vorzufinden" 1 2 7 und haben sich deshalb um neue Möglichkeiten einer Praxisgestaltung für Seelsorger bemüht. - Die sozialwissenschaftlichen Analysen der Wirklichkeit, deren sich die Beratende Seelsorge bedient, haben allerdings nicht weniger als die Zeitumstände zur Relativierung des Geltenden durch ihre funktionale Betrachtungsweise beigetragen. Beratende Seelsorge vollzieht offenbar auf sozialwissenschaftlichem Wege die Distanzierung zur Wirklichkeit, die in der Seelsorgelehre E. Thurneysens auf Grund ihrer ausdrücklich und schroff begrifflich theologisch gefaßten Theoriebildung einen bestimmenden Grundzug bildete. Die Beratende Seelsorge stellt sich dann aber nicht allein als Kritik der verkündigenden Seelsorge dar, sie ist in gewissem Sinn auch deren konsequente Fortführung, insofern als sie die ,konstruktive' Verwendung des Verkündigungsbegriffs 128 aufnimmt und auf das Gespräch über1 2 6 Vgl. W. Rorarius, Glaube und Psychotechnik, Pfullingen 1964, Zum Begriff der Technik und als Anfang einer geordneten Reflexion über das Verhältnis von Technik und Praxis vgl. D . F. E. Schleiermacher, K D § 30. 1 2 7 Vgl. D. Stollberg, Wahrnehmen und Annehmen, Gütersloh, 1978, S. 2 0 : Stollberg bekundet seine Verständnislosigkeit gegenüber Thurneysens Formulierung aus dem Leitsatz zum ersten Kapitel seines Buches „Die Lehre von der Seelsorge" (Zürich 1948, S. 9)« „Wieso ,findet' sie ,sich vor'? Vielleicht findet sie sich auch gar nicht vor oder wenn, dann in einem desolaten Zustand" (S. 20). , 2 S Mit der Feststellung, Seelsorge sei „Verkündigung des Wortes Gottes", sei ein „Spezialfall der Predigt" (E. Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge (1928), zit. nach F. Wintzer, Seelsorge (1978), S. 86), scheint nach seiner eigenen Auffassung, vor allem aber auch nach der seiner Kritiker eine predigtanaloge Handlungsstruktur ins Auge gefaßt zu werden. Wie aber „Predigt im Gespräch" als Predigt zu denken sei, dieser Fall wird in seiner psychologischen Möglichkeit nicht durchdacht, der Verkündigungsbegriff scheint sich seine Gestalt ganz selbsttätig zu sichern.

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trägt; daß sie die Prinzipien ihrer Konstruktion von Wirklichkeit aus der einen oder anderen psychologischen Theorie, nicht aber aus einer auf die individuelle Situation hingewendeten Soteriologie gewinnt, läßt den Unterschied größer erscheinen als er letztlich ist. Nicht von ungefähr treffen sich die Beratende und die Kerygmatische Seelsorgelehre in der Verwendung des Begriffs des „ganzen Menschen" 1 2 9 . Anders als in der klinisch tätigen psychosomatischen Medizin, wo er zur Kennzeichnung einer pragmatisch-humanen ärztlichen Einstellung zum Patienten und zur Bezeichnung eines Grundproblems der psychosomatischen Medizin dient, wird er in der Seelsorgelehre zur anthropologischen Grundkategorie aufgewertet, verrät aber gerade in dieser Verwendung die Ratlosigkeit der Seelsorger in Fragen der Lebensführung, denn die Frage nach dem Menschenbild steht für eine Unsicherheit in Grundfragen der Lebensorientierung 130 . - Der einzelne wird im Prozeß der Beratenden Seelsorge methodisch verallgemeinert, gerade um ihm ganz speziell gerecht werden, auf ihn eingehen zu können; nicht nur die Tätigkeitsmerkmale des Seelsorgehandelns sollen individuell gefaßt werden, jetzt gilt die Spezialisierung auch noch den Zielen des speziellen Handelns. Diese Konzentration auf das Individuum geschieht aber ohne Rücksicht darauf, daß Individualität abstrakt wird, wenn sie nicht in Koordinaten von Sozialität bestimmter gefaßt werden kann. Beratende Seelsorge steht deshalb, ohne daß es ausdrücklich gemacht wird, vor der Notwendigkeit, solche Koordinaten zu bezeichnen, sie ordnet sich ein in das Bedeutungsgeflecht diakonischen Handelns, die spezielle Seelsorge gestaltet sich als eine diakonische Spezialaufgabe. Die Funktionsspezifizierung der pastoralen Aufgaben nach,Wertvermittlung' und Reifender Begleitung' in der Gegenwart erscheint als Voraussetzung und Begleiterscheinung einer Bürokratisierung der Seelsorge nach sozialstaatlichem Muster. Die Vorstellung von Kirche, die die diakonische Seelsorge begleitet, weist Kirche eine Rahmenfunktion zu, sie wird gedacht als konturarme Volkskirche 131 , die ihr Profil nicht einmal am Einflußfaktor Diakonie zu reflektieren scheint, diese Großinstitution vielmehr unter dem Gesichtspunkt des „Subsystems" 1 3 2 soziologisch einzuordnen zuläßt. Der Uberblick über die Entwicklung der modernen evangelischen SeelsorS . o . S. 103, A n m . 100. Vgl. L. Landgrebe, Das Zeitalter ohne Menschenbild und die Dialektik der Befreiung, in: Gegenwart und Tradition, Fschr. B. Lakenbrink, hg. v. C. Fabro, Freiburg 1969, S. 1 5 1 - 1 6 6 , bes. S. 161. 131 Vgl. W.Trillhaas, Der Konturverlust des Christentums in der Gegenwart, in: ders., Perspektiven und Gestalten des neuzeitlichen Christentums, Göttingen 1975, S. 253—263. 1 3 2 Vgl. K.-F. Daiber, Diskreditiert die Beratungsarbeit die Kirche?, in: W z M 35/1983, S. 1 4 8 - 1 5 7 , hier: S. 150 und 156. 129 130

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geiehre in dieser Untersuchung hat zur Sammlung von Indizien geführt, die hinsichtlich der Einschätzung der Seelsorgelehre nach ihrem Stand zwischen Traditionsgebundenheit und modernem Individualismus eine zusammenfassende Folgerung nahelegen: Die moderne wissenschaftliche Poimenik, in ihren Anfängen seit Schleiermacher und immer wieder neu im Interesse der Verselbständigung und Mündigkeit des Individuums durch eine allgemeine christliche Bildung und individuelle religiöse Reifung formuliert und darin durchaus an reformatorische Impulse anknüpfend, lenkt ihrer inneren Struktur nach zur organisatorischen Gestalt einer traditionsgebundenen Seelsorge zurück, das ,Ganze' der diakonischen Organisation tritt als Deutungs- und Handlungsrahmen bestimmend in Erscheinung. Wohl sind es die individuellen Bedürfnisse, die das Interesse der Seelsorger auf sich ziehen, wenn sie vom einzelnen als Leidensdruck geäußert werden; es sind darin aber gerade die sozial anerkannten, therapiefähigen Leiden, die Abweichungen und Devianzen, deren man sich überhaupt schuldig machen und deren man sich annehmen kann im Horizont einer Poimenik, die in ihrer wissenschaftlichen Objektivität und methodischen Unparteilichkeit von Schuld und Vergebung im Hinblick auf den einzelnen nicht mehr allgemeingültig zu reden weiß 133 . Von Einrichtungen der Diakonie auch für den Gemeindedienst der Pfarrer und Laien herausgegebene Handreichungen zur psychosozialen Betreuung widerlegen diese Schlußfolgerungen nicht, vermitteln vielmehr eine Anschauung von der Konstruktion einer sozialen Welt aus dem Geist der Sozialwissenschaften 134 . 1 3 3 Vgl. H.Tacke, Schuld und Vergebung, in: ThP 19/1984, S . 2 9 1 - 2 9 7 „.Schuld* ist ein Wort, das persönliche Betroffenheit anzeigt. Daß die Menschen .allzumal Sünder' sind, kann als fast belanglose Selbstverständlichkeit hingenommen werden. Aber wer schuldig ist, kann sich zumeist nicht damit beruhigen, daß er genauso sei wie die anderen. . . . Es s c h e i n t . . . in der Gemeinde ein Bewußtsein dafür zu geben, daß ,Sünde' eine generalisierende Intention zum Ausdruck bringt, während .Schuld' eher ein individualisierendes Interesse verfolgt und den Menschen aufsucht in seiner eigenen biographischen Spur" (S. 291). Tackes Äußerung ist ein Beleg für die von H. Fischer (Der Schuldbegriff im Kontext heutiger theologischer Anthropologie, in: Hb. der christl. Ethik, Bd. 3, S. 160ff.) vorgetragene These, „daß im allgemeinen Sprachgebrauch und Verständnis der Gegenwart für den Schuldbegriff keine Eindeutigkeit mehr in Anspruch genommen werden kann, . . . daß Begriff und Sache der Schuld zunehmend auf kritische Reserve stoßen." (S. 160). Vgl. auch J . v. Graevenitz, Angst und Schuld in der Ehe, in: W. Bitter (Hg.), Angst und Schuld in theologischer und psychotherapeutischer Sicht, Stuttgart 1953, S. 9 7 - 1 1 0 . Vgl. bes. S. 97: „Unsere Erfahrung in der psychotherapeutischen Praxis hat uns sehr nachdrücklich gezeigt, daß im Geschehen einer Ehe ein Ehebruch verglichen werden kann mit einem Symptom einer Krankheit - . . . - d a s . . . nicht verwechselt werden darf mit dem Ursächlichen." 1 3 4 Als geläufiges Interpretationsmuster findet sich die Addition von christlichen Gedanken über diakonische Probleme aus sozialwissenschaftlicher Perspektive oder umgekehrt eine Beifügung einiger sozialpsychologischen Beobachtungen zu Aussagen der christlichen Glaubensüberlieferung. Uber solche Konstruktionen versuchen sozialethische Orientierungen hinauszuführen, die als Aufgabe einer diakonischem Handeln vorausgehenden sozialethischen Reflexion

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Durch sein sozialwissenschaftlich-konstruktives Berufswissen wird der Seelsorger in der Gegenwart in die soziale Position des helfenden Beraters eingewiesen, eine begrifflich gefaßte, kritische Distanz zu diesem System des Helfens ist von ihm nicht gefordert und kaum zu erwarten. Der Beruf ist nicht mehr Inbegriff einer religiös-subjektiven Verantwortung eines objektiven amtlichen Auftrags, sondern die objektive Form der individuellen Arbeitsleistung im sozialen System; der Beruf steht nicht als individuelle Beauftragung (vocatio) in fruchtbarer Spannung zur Objektivität des Amtes, sondern er hat dessen objektive Funktion übernommen.

b) Sozialwissenschaftliche einer reduzierten

Seelsorgelehre

als theoretische

Konstruktion

Realität

Die wissenschaftliche Fassung einer speziellen Seelsorgelehre und Praxis sollte der Förderung individueller christlicher Verantwortung im sozialen Raum der Gemeinde oder in der christlichen Gesellschaft überhaupt unter den Bedingungen der Erfahrung ständigen Wandels der Lebensverhältnisse dienen. Diese Poimenik vertrat damit eine sehr spezifische Auffassung von der Möglichkeit, Seelsorger auf ihre Tätigkeit angemessen vorzubereiten. Durch begriffliche Bildung sollte der zukünftige Pfarrer und darüber hinaus jeder Christ zur Beurteilung seines Handelns angeleitet werden. Seit den Tagen Η . P. Sextros und des Göttinger Pastoralinstituts 135 sind demgegenüber Lehrer des Pfarrernachwuchses immer wieder auf der Suche nach Möglichkeiten, auf die Berufstätigkeiten des Seelsorgers so vorzubereien, daß das Modell, an dem gelernt wird, möglichst genau diejenige Realität widerspiegelt, auf die sie vorbereiten wollen. Dabei scheint sich ein Interesse an formaler Reproduktion von Realität um so stärker auszubilden, je weni„die ethische Wahrnehmung der Wirklichkeit und auch die Gewinnung einer Wirklichkeit, der Gottes Handeln und Verheißung gilt - und nicht etwa die .Verwirklichung' solcher Hoffnung" expliziert ( H . G . U l r i c h , Begründung sozialer Verhaltensnormen, in: Diakonie, Snr.8, 1984, S. 22). 1 3 5 Vgl. H . - C h r . Piper, Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt, Göttingen 1981. Vgl. zur Auseinandersetzung um die Vorbereitung auf die Praxis des Pfarramtes außerdem:

G. Ph. Chr. Kaiser, Entwurf eines Systems der Pastoraltheologie, Erlangen 1816. - Vgl. S. V I : „Ich weiß es wohl, daß Prediger=Seminarien vorgeschlagen werden, aber alle diese Specialschulen, die von den öffentlichen allgemeinen Lehranstalten separirt, den Mechanismus fördern, wollen nach reifer Ueberlegung dem Sachverständigen nicht gefallen, besonders im theologischen Fache, und Religionsmechanismus muß als das Allerelendeste erscheinen, da nur wissenschaftliches Interesse mit religiösem gepaart der Geist ist, welcher lebendig macht." Allerdings nimmt Kaiser im folgenden durchaus positiv zu Sextros Initiative Stellung. Vgl. auch K. L., Gedanken über eine zweckmäßige Erziehung zum evangelischen Kirchendienste, in: Dt. Vierteljahresschrift, 1/1856, S. 323—343 und Chr. Palmers Polemik gegen diesen Aufsatz, in: Chr. Palmer, Art. Pastoraltheologie (1859).

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ger mit einer sachgemäßen Erfassung gegebener und zu gestaltender Praxis durch Begriffe und Aufgabenbestimmungen gerechnet werden kann. Im Interesse an einer unzweideutigen Fixierung derjenigen Praxis, auf die vorbereitet werden soll, werden gerade in der Poimenik als der am wenigsten vorstrukturierten pastoralen Aufgabe Abstraktionen der Realität in Kauf genommen, ζ. B. eine kasuistische Aufteilung der Seelsorge-Praxis in einzelne Entscheidungen oder eine Reduktion der Seelsorge auf die Situation des Gesprächs unter vier Augen als ihrer exemplarischen Situation, die zwar gewiß eine Grundform seelsorgerlichen Handelns darstellt, aber als solche kaum spezifisch genannt werden kann. Die Aufstellung eines pastoralpsychologischen Verhaltensrepertoires kann geradezu als ein Funktionsäquivalent zu den hochdifferenziert ausgearbeiteten kasuistischen Systemen der Pastoraltheologie des späten 18. Jahrhunderts angesehen werden 136 , auf deren Abstand zur Realität die wissenschaftliche Seelsorge gerade eine Antwort zu geben beanspruchte. Mit ihrer Orientierung an den empirischen Sozialwissenschaften, an deren Genese sie nicht unbeteiligt war, hat sich die Theoriebildung eben dieser wissenschaftlichen Poimenik einer Variante wissenschaftlichen Denkens bedient, die letztlich auch sie zur Schematisierung führte, nicht aber zur weiteren produktiven selbständigen Gestaltung kirchlichen Lebens als eines Teils und einer Gestalt des sozialen Lebens. Hatte Schleiermachers Interesse am einzelnen in der Seelsorge Sinn gehabt ausschließlich durch die Bedeutung, die diesem im Organismus der Gemeinde und als dessen Teil zufiel, so wird der einzelne Mensch im Verlauf des skizzierten Prozesses zum Maßstab des Gemeindelebens unter den Bedingungen schwindender Selbstverständlichkeit der sozialen Lebensformen und abnehmender Realität der Vorstellung einer organischen christlichen Gemeinschaft. Die Sozialwissenschaften sind nun aber gerade ein Symptom dieser schwindenden Selbstverständlichkeit der sozialen Lebensformen, so sehr sie Heilmittel für die Gemeinschaft zu sein oder zu suchen behaupten bei ihrer unablässigen Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des tatsächlichen sozialen und individuellen Lebens. Daß sogar die Selbstverständlichkeit der Existenz des Individuums in solcher Analyse nicht unbestritten bleibt, vermerkt gegenwärtige Soziologie ansatzweise in kritischer Selbstreflexion 137 . Der Individualisierung der Zuwendung entspricht andererseits eine Spezialisierung der Seelsorge, die Selbstverständlichkeit seelsorgerlichen Handelns tritt zurück. Diese kritische Würdigung des Wandels der wissenschaftlichen zu einer Vgl. G. Rau, Pastoraltheologie (1969), bes. 132 ff. Vgl. F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984. 136 137

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sozialwissenschaftlich-konstruktiven Seelsorgelehre erweist sich als sachlich zutreffend an den Reaktionen, die diese Seelsorgelehre in praktischer Theologie und kirchlicher Praxis hervorruft: Die sozialwissenschaftlich orientierte praktische Theologie selbst versucht dem Realitätsverlust in den von ihr betriebenen Analysen zu begegnen durch Konstruktion von Gemeinschaft praktisch in Gruppendynamik und Gemeindeorganisation, theoretisch durch Kommunikationstheorie - und durch Rekonstruktion von individueller Identität - praktisch in therapeutischer Seelsorge, theoretisch in Gestalt von Identitätstheorien 138 . Auf der anderen Seite bemängeln Theoretiker der pastoralen Praxis den Wirklichkeitsverlust durch die sozialwissenschaftliche Betrachtung und fordern eine Rückwendung zu den Lebensformen des pastoralen und parochialen Alltags mit entsprechenden Konsequenzen für die theologische Ausbildung 139 .

1 3 8 Zur Gruppendynamik vgl. W. Ciaessens, Begegnungsgruppe, Gelnhausen 1977. D . Stollberg, Seelsorge durch die Gruppe, Göttingen 1971. - Zur Gemeindeorganisation vgl. I.Adam/E.R.Schmidt, Gemeindeberatung, Gelnhausen 1977. - R.Riesner, Apostolischer Gemeindeaufbau, Gießen 1978. - F. Schwarz/Chr. A. Schwarz, Theologie des Gemeindeaufbaus, Neukirchen-Vluyn 1984. - Chr. Bäumler, Kommunikative Gemeindepraxis, München 1984.Zur Verwendung von kommunikationstheoretischen Überlegungen in der Seelsorge vgl. R. Riess, Seelsorge (1973), bes. S. 102 ff. - H.-Chr. Piper, Kommunizieren lernen (1981). Zur therapeutischen Seelsorge vgl. D . Stollberg, Therapeutische Seelsorge, München 1969. J . Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch, Göttingen 1972. Zur Identitätsthematik vgl. M. Kiessmann, Identität und Glaube, München 1980. - Als Übersicht: H. Schröer, Selbsterfahrung, in: H P T (G), Bd. 2, S. 2 7 8 - 2 9 7 . 1 3 9 Vgl. bes. Chr. Möller, seelsorglich predigen. Die parakletische Dimension von Predigt, Seelsorge und Gemeinde, Göttingen 1983. - Ders., Begeisterung für das Alltägliche. Das Charisma am Werktag, in: EvKomm 18/1985, S. 7 2 - 7 5 . Als einziger Entwurf, der in neuerer Zeit und unter Berücksichtigung der Arbeit der Sozialwissenschaften ein Verständnis der pastoralen Praxis eröffnet, gilt: M. Josuttis, Der Pfarrer ist anders, München 1982.

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ABSCHLIESSENDE ANHALTSPUNKTE

Seelsorge als Suche nach dem verheißenen Heil

1. Lebensgewißheit

aus dem Wort

Es war die spezifische Leistung der wissenschaftlichen Seelsorgelehre seit Schleiermacher, daß sie im Sinne der Grundüberzeugungen der Reformation die Position des Individuums als Subjekt seines Glaubens und Lebens durch eine allgemeine Begrifflichkeit und eine wissenschaftliche Bildung des Seelsorgers theoretisch zu sichern suchte und dadurch die Objektivität der durch die Tradition gegebenen Ordnung und die Subjektivität individuellen Verhaltens auf der Grundlage von Gewissensentscheidungen im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben in einem spannungsvollen Gleichgewicht zu halten erlaubte. Die sozialwissenschaftlich konstruktive Seelsorgelehre der Gegenwart hat dieses spannungsvolle labile Gleichgewicht, der Entwicklung der Wissenschaften folgend, stabilisiert, sei es durch die Festlegung von Verhaltensformen in einer therapeutisch-diagnostischen Seelsorge, sei es durch die Fixierung von Inhalten in geprägter Gestalt in der nouthetisch-lebensberatenden Seelsorge 1 . Seelsorge wird in beiden Varianten wesentlich von ihrem Ziel her als Hilfe zu seelischer oder geistlicher Gesundheit bestimmt. Die Sorgen und Bedürfnisse des einzelnen stehen im Vordergrund der Theoriebildung und zumeist auch der seelsorgerlichen Praxis. Seelsorge, als „Dienst der Kirche am Menschen" 2 aufgefaßt, entspricht den Verständnismöglichkeiten, die eine Dienstleistungsgesellschaft anbietet. Luthers Formel von der fünften Gestalt des Evangeliums als eines „mutuum colloquium" wird im Rahmen einer solchen Poimenik zur Bezeichnung eines kommunikativen Aktes zitiert, der der Ge1 Vgl. J . E. A d a m s , Befreiende Seelsorge. Theorie und Praxis einer biblischen Lebensberatung, Gießen 1977 4 . 2 W. Trillhaas, D e r Dienst der Kirche am Menschen. Pastoraltheologie, München 1950. Trillhaas kam zu dieser Bestimmung allerdings nicht auf dem Weg zu einer diakonischen Seelsorge, sondern in dem Bemühen, die Kirchlichkeit der Seelsorge wiederzugewinnen, „nachdem so oft auf die kirchliche Legitimität derselben gar keine Rücksicht genommen wurde oder sie wie ein mehr oder weniger privates Geschehen angesehen wird". (S. 7).

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sundung des einzelnen dient und dessen Gelingen von der Kompetenz des ausgebildeten Kommunikators abhängt 3 . Gegen diese Tendenz der sozialwissenschaftlich-konstruktiven Seelsorgelehre hat J . Henkys absichtsvoll den historischen Sinn der lutherischen Formel zur Diskussion gestellt 4 : M. Luther habe gerade an eine Praxis des Wortes gedacht, die prinzipiell allen Christen zugänglich sein könnte, jedenfalls die Unterschiedenheit der Beteiligten als Grundsatz ihrer Gestaltung verwerfe und der Allgemeinheit des Priestertums nach evangelischer Auffassung eine Gestalt gebe. Deshalb formuliert Henkys die Zumutung, nicht nur Diakonie durch hilfreiches Handeln, sondern auch evangelische Seelsorge durch bedeutungsvolles, sinnreiches Sprachhandeln zu ermöglichen und immer wieder der christlichen Uberlieferung abzugewinnen. Damit ist ebenfalls die Aufforderung ausgesprochen, Seelsorge solle sich von ihrer Konzentration auf die Heilung des einzelnen, von der diakonischen Fassung ihrer Aufgabe wegwenden zur Konzentration auf eine inhaltliche Gestaltung des Gesprächs über ein Verständnis der jeweils individuellen Situation aus der Perspektive des christlichen Glaubens. Ein solches Gespräch führe dem Gehalt nach über den Alltag hinaus, in dem es gleichwohl verwurzelt sei, denn es führe zur Freilegung der gemeinsamen Vertrauensbasis, die nicht aus dem Vertrauen eines Menschen zu seinem Mitmenschen sich bilde, sondern als ein Vertrauen auf einen gemeinsamen Lebensgrund zu denken sei und zur Wirkung komme. Daß dieser Lebensgrund als Vertrauensbasis nicht ohne weiteres zur Verfügung stehe, nicht durch psychodynamische Verfahren hervorgerufen und nicht durch die rezitierende Bezugnahme auf die biblische Uberlieferung aufgebaut werde, das erst mache Seelsorge als mutuum colloquium et consolatio fratrum notwendig und zu einer spezifischen Verhaltensweise unter Christen. J . Henkys hat mit seinen Anfragen kaum Gehör gefunden; vor allem scheint nicht ausreichend deutlich geworden zu sein, daß es Luther darum ging, Menschen zu einer Sprache zu befähigen, die sie eintreten läßt in das „mutuum colloquium" als einer Lebensform unter Christen; Henkys wurde um so weniger verstanden, als das Moment der Wechselseitigkeit, der gemeinsamen Bezugnahme auf Bedeutungen und die daraus entstehende Bildungsaufgabe in der Diskussion über Nutzen und Nachteil des Verkündigungsbegriffs in der Seelsorge übergangen wurde 5 . Im Zusammenhang mit 3

Vgl. D . Stollberg, Wahrnehmen und Annehmen (1978), S. 32.

S.o. S. 14. Auch M. Seitz ( L o c c u m e r Thesen, in: P T h 7 1 / 1 9 8 2 , S. 324ff.) spricht nur von der Aufgabe des Seelsorgers, „aussagefähig zu werden für den lebendigen und gegenwärtigen Christus" (S. 3 2 8 ) und verschweigt, daß Aufnahmefähigkeit und Aussagefähigkeit zusammengehören. Wenn aber die Beschreibung von R. Keintzel (Krisen der Partnerschaft, Stuttgart 1981) zutrifft, 4 5

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der Konjunkur des soziologischen Kommunikationsbegriffs bürdete die Hoffnung auf ein „mutuum colloquium" der modernen Seelsorge vielmehr noch die zusätzliche Last auf, sich als,Dauerreflexion' und zu diesem Zweck als eine eigene Sozialform zu etablieren, oder, mindestens der Tendenz nach, auf Institutionalisierung ganz zu verzichten, um den „herrschaftsfreien Diskurs" nicht mit Autoritätsstrukturen zu belasten. Hatte aber der Protest der Reformatoren gerade der Fixierung der Menschen auf ihr je persönliches Heil gegolten, so kann der evangelische Sinn christlicher Seelsorge nicht in der Konzentration auf die psychische Befindlichkeit des einzelnen gefunden und deshalb auch nicht primär in anthropologischen Bestimmungen sachgemäß zum Ausdruck gebracht werden. Evangelische Seelsorge hat ihr Spezifikum, das sie von traditionsgebundener Seelsorge immer wieder abgrenzen müßte, darin zu sehen, die Selbständigkeit des einzelnen durch eine intensive Orientierung an einem gemeinsamen, Bedeutung vermittelnden Sinn zu ermöglichen, ohne dazu einen institutionellen Kirchenbegriff zu befestigen 6 . Luthers Auffassung vom Wort als Medium des Glaubens war in diesem Sinn geeignet, den einzelnen zum Gegenstand der Sorge zu machen, ohne seinen Zustand zum Ziel der Seelsorge und damit seine individuelle Befindlichkeit zur N o r m des seelsorgerlichen Handelns werden zu lassen. J e mehr aber der einzelne zum Mittelpunkt und Ziel des Seelsorgegeschehens wird, um so mehr wird er wieder abhängig von strukturellen Kräften, die diese selbstbezogene Individualisierung überhaupt ermöglichen. Die moderne wissenschaftlich-konstruktive Seelsorgelehre hofft, den einzelnen durch eine intensive Beachtung seiner Probleme in seiner individuellen Verantwortungsfähigkeit emotional so weit zu fördern, daß er zu einer vernünftigen christlichen Lebensgestaltung selbständig fähig wird. Luthers Grundsatz von der fünften Gestalt des Evangeliums rechnet dagegen nicht mit der Möglichkeit realer Selbständigkeit im Sinne einer selbstgenügsamen daß „ u n s e r e Z e i t . . . w o r t l o s g e w o r d e n (ist) f ü r echtes tiefes L e i d " u n d sich d a r a u s die A u f g a b e f ü r den T h e r a p e u t e n und erst recht f ü r den Seelsorger ergäbe, „den sich T r e n n e n d e n zuallererst Worte anzubieten, u m ihr w o r t l o s e s L e i d a u s d r ü c k e n und gestalten zu k ö n n e n " (S. 148), d a n n müßte sich auch die P o i m e n i k der A u f g a b e einer F ö r d e r u n g christlicher B i l d u n g wieder z u w e n den. In dieser H i n s i c h t unterscheiden sich diese abschließenden A n h a l t s p u n k t e auch v o n C h r . M ö l l e r s Ü b e r l e g u n g e n (seelsorglich predigen, 1983). Wenn S e e l s o r g e eine L e b e n s ä u ß e r u n g v o n C h r i s t e n sein soll, dann m ü s s e n sie d a z u auch sprachlich befähigt w e r d e n . M ö l l e r spricht (S. 121) einstweilen nur v o m gründlichen S t u d i u m der „ ö f f e n t l i c h eingesetzten H i r t e n " . 6 D i e s e r H i n w e i s auf den K i r c h e n b e g r i f f soll festhalten, daß der in dieser U n t e r s u c h u n g v e r w e n d e t e B e g r i f f einer evangelischen Seelsorge auf der D o p p e l s c h i c h t i g k e i t des lutherischen K i r c h e n b e g r i f f s a u f b a u t (vgl. H . - M . Müller, L u t h e r i s c h e s K i r c h e n v e r s t ä n d n i s und der K i r c h e n begriff des K o d e x Iuris C a n o n i c i 1983, in: Z e v K R 2 9 / 1 9 8 4 , S. 5 4 6 - 5 5 9 ) .

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Unabhängigkeit. Er zielt deshalb auf eine wechselseitige Verantwortung im Sinne einer gegenseitigen Einweisung in die gemeinsame Verbindlichkeit und Geborgenheit im Alltag durch Orientierung am Sinn der Sprache und damit an der im Wort immer schon vorliegenden und vorauszusetzenden, aber auch nur dort gegebenen und zu gewinnenden Ordnung. Der Sinn evangelischer Seelsorge liegt - so gesehen - in der wechselseitigen Vergewisserung über das geschenkte Leben durch Auslegung und Deutung d«r zugesprochenen und immer neu zuzusprechenden Lebensmöglichkeiten und der darin ebenso gegebenen Verpflichtungen; daß dieser Sinn im Konfliktfall besonders dringend gesucht, dort auch am deutlichsten zur Sprache kommen kann, hatte Luther zum Ausdruck gebracht7. Wählt sich jedoch Seelsorge den psychischen Konflikt zum normativen Ausgangspunkt ihres Handelns, so verliert sie den Blick für die Lebensmöglichkeiten, die nicht vom einzelnen hergestellt werden können oder hervorgebracht werden müßten, und behaftet ihn in seiner narzißtischen Fixierung. Evangelische Seelsorge aber zielt nicht in dieser Weise auf Hilfe als Nothilfe, die jeweils nur als eine Hilfe durch Einordnung denkbar wäre, sei es in die Normalität alltäglicher Verhaltensregeln, sei es in den Durchschnitt psychischer Gesundheit, sie strebt vielmehr nach Bedeutungsgewinn für den einzelnen8. Aus der Untersuchung zur Entwicklung einer modernen evangelischen Seelsorgelehre lassen sich demnach für die Erarbeitung einer Poimenik und Pastoralpsychologie Konsequenzen ziehen, die in wesentlichen Punkten zu einer an klinischer Psychologie ausgerichteten Pastoralpsychologie Alternativen darstellen: Eine poimenische Theorie, die das Interesse an einem Be7 Vgl. J. Henkys, Seelsorge und Bruderschaft (1970), S. 36. - Vgl. auch: T. Rendtorff, Ethik, B d . 2 , Stuttgart 1981, S. 163: „Der Seelsorger ist nicht der Lebenskünstler, der anderen vormacht, wie Leben gelingt, oder der die Technik dazu bereitstellt. Die Praxis der Seelsorge geht nicht von Schuld und Konflikt aus, sondern darauf zu. Sie begründet sich nicht in der Krise und der Negation des Lebens, wie sie sich in Schuld und Konflikt für den Menschen verdichten. Ihr Ausgangspunkt sind die Erfahrungen des Guten, das Angenommensein des Lebens." - Ahnlich auch Chr. Möller, Seelsorglich predigen (1983), S. Vgl.l 11 ff. 8 Zu einem solchen Bedeutungsgewinn durch Verbreitung und Erwerb gehaltvoller Sprache kann und soll auch die Predigt beitragen, in diesem Sinn sind Seelsorge und Verkündigung zutiefst miteinander verbunden, ist Seelsorge auf Verkündigung angewiesen. -

D e r Krankenbesuch hat gerade insofern als ein klassischer Fall von Seelsorge zu gelten, als er den Kranken, aber auch den Seelsorger als Beauftragten der Gemeinde zu einem Bedeutungsgewinn „per mutuum colloquium et consolationem fratrum" zu führen vermag. Wenn man sich von dem Gedanken löst, daß Seelsorge ein Beratungsgeschehen zu sein habe, in dem menschliche Krisen und Konflikte zu lösen wären, wird man akzeptieren können, daß Seelsorge als Trost durch einfache Gesten und Gespräche immer schon geschieht und oft gar nicht anders geschehen kann. (Vgl. P.Beckmann, „ . . . E i n s t i m m u n g auf das K r a n k s e i n . . . " , in: DtPfrBl 7 8 / 1 9 7 8 , S.619ff. - O . B r a u n (Hg.), Seelsorge am kranken Kind, Stuttgart 1983. - R . S c h m i d t - R o s t , Wohin geht die Seelsorge-Bewegung in Deutschland?, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 3 9 / 1 9 8 4 , S. 1 0 8 - 1 1 1 ) .

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deutungsgewinn für den einzelnen dem Streben nach Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen über das Seelsorgegeschehen am einzelnen entgegensetzt, wäre als eine theologische Auslegungsaufgabe zu beschreiben und durchzuführen, die dazu beiträgt, die faktischen Realisierungen christlicher Glaubensüberzeugungen im psychosozialen Lebenszusammenhang verstehend aufzuweisen. Solche Konturen christlichen Lebens in der modernen Gesellschaft überhaupt und die Gestaltungsweise einer Praxis wechselseitiger Verantwortung für ein Leben in christlichem Sinn insbesondere sind als Beitrag zu einer evangelischen Seelsorgelehre immer neu zu entfalten. Denn die spezifische Lebensgewißheit, die dem einzelnen im Glauben zu ergreifen verheißen ist, - die aber Selbstgewißheit gerade ausschließt 9 - muß vorgestellt, kann nicht hergestellt werden 10 .

2. Lebensgewißheit

durch Wissenschaft

Seelsorge als einen Vorgang individuellen Verstehens im alltäglichen Leben zu gestalten, erschien M. Luther zwar als eine konsequent evangelische Praxis christlichen Glaubens, aber gerade deshalb auch als eine schwer zu realisierende Zumutung. Muß die Erinnerung an Luther deshalb nicht weiterhin historische Reminiszenz bleiben? Lassen sich Realisierungen christlicher Glaubensüberzeugungen in einer modernen, pluralistischen Welt überhaupt so allgemeinverständlich vorstellen, daß sie das individuelle Gewissen leiten und binden könnten? Die dargestellte Entwicklung der wissenschaftlichen Seelsorgelehre, erst recht aber ihre absehbaren Fortschritte scheinen eher dagegen zu sprechen: 9

Vgl.G. Schneider-Flume, Die Identität des Sünders, Göttingen 1985, bes. S. 125 ff. Vgl. W.Bernet, Seelsorge als Auslegung, in: MPTh 54/1965, S . 2 0 7 - 2 1 3 . - Daß man für diese Auslegungsaufgabe auf psychologische Kenntnisse gerade nicht verzichten kann, muß gegen Chr.Möller (seelsorglich predigen, 1983, S. 121) vertreten werden; die individuelle Selbstauslegung der Menschen ist in der Gegenwart in so hohem Maße von psychologischen Theoremen durchsetzt, daß der Seelsorger ohne Kenntnisse in dieser Hinsicht kaum ausreichend für sein homiletisches und poimenisches Wirken gerüstet wäre und erst recht seine Bildungsaufgabe im Dienst der Seelsorge nicht wahrnehmen könnte. Denn wie anders als durch eine differenzierte, auch psychologisch gebildete Interpretationsfähigkeit sollte beispielsweise eine Erkenntnis zu alltäglicher Geltung gebracht werden, wie sie D . Bonhoeffer über das gemeinsame christliche Leben notiert hat: „Es gibt wohl keinen Christen, dem Gott nicht einmal in seinem Leben die beseligende Erfahrung echter christlicher Gemeinschaft schenkt. Aber solche Erfahrung bleibt in dieser Welt nichts als gnädige Zugabe über das tägliche Brot christlichen Gemeinschaftslebens hinaus. Wir haben keinen Anspruch auf solche Erfahrungen, und wir leben nicht mit andern Christen zusammen um solcher Erfahrungen willen. Nicht die Erfahrung der christlichen Bruderschaft, sondern der feste und gewisse Glaube an die Bruderschaft hält uns zusammen" (D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München 1979 16 , S. 30). 10

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- Die Institutionalisierung des Helfens regelt den Zusammenhang zwischen dem Glauben des einzelnen und seinen Folgen für die individuelle Lebensgestaltung nach den Gesichtspunkten rationeller Verwaltung. Der individuelle Beitrag des einzelnen Helfers ist auf sein Teilnahme-Verhalten begrenzt, es sei denn, er habe eine spezifische Handlungskompetenz vorzuweisen oder sei bereit, sich eine solche zu erwerben. - Die Professionalisierung des Beratungswesens legt auch für das Handeln des Seelsorgers die Formulierung von Handlungszielen zwingend nahe. Es ist unvermeidlich, daß Berater und Ratsuchender dabei primär und überwiegend auf die Umstände und Befindlichkeiten des Ratsuchenden eingehen und auch durch die Situationsgestaltung im Gespräch kaum über diese Binnenorientierung hinausgeführt werden. - Die Spezialisierung und Finalisierung 11 in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise verstärkt den Trend, den die Professionalisierung anregte: Die Lösungs- und Ergebnisorientierung ist ein Grundzug der Seelsorge, die sich am Handlungsschema der Sozialwissenschaften ausrichtet, - gleich welcher religiösen Provenienz. Dadurch beschränkt sich die Betrachtung der Seelsorge-Situation auf die erfaßbaren Variablen, statt sich sowohl der Grenzen des einzelnen Menschen als auch der Fülle seiner Möglichkeiten bewußt werden zu können. Das Seelsorgegeschehen wird - jedenfalls in der wissenschaftlichen Theorie - einem therapeutischen Prozeß mit dem Ziel der Gesundheit immer ähnlicher. Diese Merkmale einer sozialwissenschaftlichen Fassung der Seelsorgelehre werden inzwischen nicht mehr einhellig als Merkmale des Fortschritts und als Kennzeichen zeitgemäßer Gestaltung von Seelsorge begrüßt. Gerade der Versuch, sich kritisch vom therapeutischen Spezialistentum unter den Seelsorgern zu distanzieren, zeigt jedoch, wie beherrschend die wissenschaftliche Theoriebildung die Auffassungen von kirchlichem Handeln prägt: Chr. Möller hat am überzeugendsten seine Kritik am therapeutischen Spezialisten in Richtung auf eine positive Vorstellung von Seelsorge im Alltag hin fortgeführt. Zutreffend diagnostiziert er dabei die Wissenschaftsorientierung der therapeutischen Seelsorger am Beispiel der Schriften D. Stollbergs12. Indessen unterschätzt er die Reichweite der wissenschaftlichen Denkweise, wenn er nur die human- und sozialwissenschaftlich-modernen, und nicht auch die paulinisch- oder reformatorisch-theologischen Interpretationen der Wirklichkeit als wissenschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit begreift. Geht man jedoch davon aus, daß Distanzierung von Lebenswirklichkeit Kennzeichen und Grundlage wissenschaftlicher Arbeit 11 12

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G. Böhme u.a., Die Finalisierung der Wissenschaft, in: ZfSoz 2/1973, S. 128-144. Vgl. Chr. Möller, seelsorglich predigen (1983), S. 111.

überhaupt ist, dann wird man einerseits davon absehen, die historische Distanz der christlichen Theologie zu den Quellen des Glaubens immer wieder für die Wirklichkeitsferne der Theologie verantwortlich zu machen, und andererseits die Aufgabe in den Blick zu bekommen, nach der Bedeutung wissenschaftlicher Konstrukte immer wieder zu fragen. Die Auslegungsbedürftigkeit wissenschaftlicher Termini wie „Rolle", „Beratung" oder „Hilfe" und umgangssprachlicher Begriffe wie „Bruder" oder „Hilfe" war bereits eingangs angedeutet worden 13 . Die notwendige Auslegung der begrifflichen Abstraktionen aber kann nicht einfach durch Herstellung eines anderen Lebenszusammenhangs, durch einen Sprung ins Alltagsleben oder durch den Ersatz der Berater-Experten durch Laien-Mitmenschen erreicht werden. Das situative Arrangement und die einzelnen Aktionen als solche bleiben vieldeutig. Ihr Sinn kann und muß sich im Leben zeigen; er wird es allerdings nur, wenn eine Vorstellung von christlichem Leben immer wieder entworfen wird und nicht einfach die psychischen oder sozialen Interaktionen mit einem Begriff aus der christlichen Tradition belegt werden. Es hat nun jedoch den Anschein, als sei die Praxis der Seelsorge so sehr mit der sozialwissenschaftlichen Fassung der Seelsorgelehre verbunden, daß sie gar nicht anders gedacht werden kann denn als Theorie vom Handeln einer Gruppe in der Gesellschaft, sei es als Theorie des Seelsorger-Berufs oder als Theorie exklusiven Gemeindelebens oder als Theorie diakonischer Institutionen im Sozialstaat. Es könnte somit sein, daß evangelische Seelsorge den „Beichtvätern des 20. Jahrhunderts" 1 4 und deren Konstruktion von Wirklichkeit kein anderes allgemeinverständliches Bild vom Menschen und vom Zusammenleben in der Gesellschaft mehr entgegenzusetzen hat, an dem sich Christen in der Gestaltung ihrer Lebensführung im Alltag der Welt zu orientieren Anlaß fänden. Sollte die Einordnung in ein Subsystem der Gesellschaft, die Vereins- resp. Sektenbildung, die einzige Möglichkeit sein, den „glimmenden Funken" evangelischen Christentums zu hüten 15 ? Sollte sich die Verantwortung für ein Leben in christlichem Sinn nur in den Institutionen des Sozialstaats und in Gruppen mit religiöser Sondersprache gestalten lassen? Damit wäre allerdings der Verzicht auf eine evangelische Seelsorge-Praxis im Sinne Luthers vollzogen, insofern der einzelne seine „Selbständigkeit" nur im institutionellen Zusammenhang der kirchlichen Werke, Gruppen und Gemeinden betätigte, nicht aber im Alltag der Welt, in Beruf und Freizeit. Eine Seelsorgelehre im Sinne Luthers müßte hingegen die S.o. S.27. P. Haimos, Beichtväter des 20. Jahrhunderts, dt. Zürich 1972. 15 E. Troeltsch in einem Brief an M. Rade, zit. nach J. Rathje, Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952, S. 127. 13 14

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Bedeutungen sichten und vorstellen, die die christliche Botschaft dem einzelnen in seinem Leben zu gewinnen verheißt und zu ergreifen zumutet. Es ergäbe sich damit unvermeidlich ein Vergleich und eine Auseinandersetzung mit den Botschaften und Heilsverheißungen, mit denen die Wissenschaften und andere potente Kräfte in der pluralen Gesellschaft die Öffentlichkeit bestimmend prägen.

3. Lebendige

Vorstellungen vom Heil

a) Seelsorge - eine Sorge16 - Den Anspruch Jesu Christi auf das Leben jedes Menschen als einen heilsamen Anspruch zum Ausdruck zu bringen, - die Autorität zu beschreiben, die der christliche Glaube über jedes einzelne menschliche Leben zum Heil des Menschen zu gewinnen beansprucht, - die Freiheit darzustellen, die in der Nachfolge Raum gewinnt, - die Verantwortung zu charakterisieren, in die der Glaube ruft, dies ist der praktische Sinn aller Theologie; in ihrer Beziehung auf individuelles Leben sind dies speziell Aufgaben der Seelsorgelehre. Sie ist deshalb zu entwerfen als die Theorie einer Sorge um die individuelle, dem einzelnen zugängliche und für den einzelnen lebensbestimmende Erfahrung der christlichen Heilsverheißungen. In einer Welt, in der vielfältig und mächtig andere Götter herrschen, - Angst und Zeit, Geld, Genuß und Gesundheit - , war und ist Seelsorge immer Sorge; Sorge nicht um den Zusammenhalt der Gemeinde oder um eine stabile Kirche, sondern um den Glauben des einzelnen, Sorge also um eine spezifisch christliche Auffassung der Welt, um realistische Hoffnung für die Welt und um Zuwendung zu anderen Menschen. Diese Sorge hat viele Gestalten im tatsächlichen, täglichen Engagement von Christen in Amt und Ehrenamt für die Lebensorientierung ihrer Mitmenschen - in großem Stil wird sie nur ausnahmsweise Gestalt gewinnen. Deshalb kann Seelsorgelehre gerade nicht zuerst in der Beschreibung bestimmter Aktionen bestehen, sei es als Verkündigung, sei es als psychotherapeutische Beratung oder soziale Hilfe. Seelsorge als Sorge besteht aber auch nicht allein in einem persönlichen Habitus der Zuwendung und Einfühlung des einzelnen Seelsorgers, ist nicht nur Haltung eines „Hirten" oder beraterische Kompetenz, nicht professionelle Einstellung oder charismatische Bega16 Chr. Möllers Versuch (seelsorglich predigen, S. 111 ff.), die Sorge durch Freude zu ersetzen, wird dem Anliegen der Seelsorge insofern nicht ganz gerecht, als eine Differenz-Erfahrung, die zwischen gegebenem und ergriffenem Heil, Ausgangspunkt der Seelsorge ist.

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bung. Seelsorge als Sorge ist vielmehr grundlegend eine inhaltlich bestimmte Einstellung zur begegnenden Realität, eine Interpretationsweise, eine Betrachtungsperspektive, ein Modus des Verstehens. Seelsorge ist der Interpretationsvorgang, in dem Menschen, sich in ihrem Glauben an Jesus Christus gründend, menschliche Existenz unter der Perspektive ihres Glaubens zu bedenken versuchen. Diese Sorge impliziert somit den Anspruch, daß der christliche Glaube eine besondere Perspektive von menschlichem Leben eröffne, nicht in eine besondere Gemeinschaft führt oder nur für den Sonderfall, eine Krise, ein Problem, wirksam werde. Seelsorge kann als eine Außerungsform des „Mutes" gelten, „den Reichtum Gottes, der so konkret unter den Menschen wurde, im Denken und dann auch im Leben noch einmal von vorne nachzubuchstabieren" 1 7

b) Vom Zweck evangelischer Seelsorge: Wiederherstellung Gesundheit oder Erkenntnis empfangenen Heils

erwünschter

Wenn Seelsorgelehre alltäglicher wechselseitiger Verantwortung von Christen zur Orientierung dienen soll, dann muß sie eine deutliche Vorstellung von dem Zweck entwickeln, dem sie gilt. Die sozialwissenschaftliche Seelsorge hat eine solche Vorstellung: Beratende Seelsorge dient der Konfliktlösung, der Problembearbeitung, der psychischen Gesundheit 18 . Die Zielvorstellungen im Umkreis der evangelikalen Seelsorge werden demgegenüber zwar in einer religiösen, Sprache formuliert, die einen Vergleich mit der Fachsprache der beratenden Seelsorge auszuschließen scheint, der Handlungs- bzw. Behandlungsstruktur nach geurteilt liegt aber offenbar doch etwas Vergleichbares vor: Seelsorge führt zur Lösung von Lebensproblemen, wobei die Lösung mehr oder weniger deutlich hervortritt. Beratende und befreiende Seelsorge helfen auf dem Wege zur erwünschten Gesundheit oder Ordnung des Lebens oder sie führen in die Gemeinde oder ins Gebet, sie führen jedenfalls zu etwas, leisten einen Beitrag, richten etwas aus an denen, die etwas mit sich machen lassen (wollen). Damit benutzen alle diese Seelsorgelehren das sozialwissenschaftlich-therapeutische Verhaltensmodell, nur allenfalls in unterschiedlichen Ausprägungen. Sorge aber richtet zumeist nichts aus, jedenfalls nicht direkt. Sorge ist ein Erfülltsein, das in Tätigkeit ausläuft, Wege sucht und Mittel, die Sorge zu mindern; Seelsorge ist von empfangenem, empfundenem Heil erfüllt, ist 17 W. Krötke, Karl Barth und das Anliegen der natürlichen Theologie', in: ders., Gottes Kommen und menschliches Handeln, Stuttgart 1984, S. 32. 18

Vgl. J. Scharfenberg, Pastoralpsychologie, Göttingen 1985.

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Sorge, es könnten die, die das Heil in der Taufe schon empfangen haben, es doch noch verfehlen, ihr Leben lang nichts davon merken, es nicht selbständig ergreifen. Worin aber besteht das Heil, das zu ergreifen und zu begreifen so schwerfällt, seit es nicht mehr soziologisch (extra ecclesiam nulla salus), nicht mehr substantiell-ontologisch (als gratia infusa) und schon gar nicht mehr, auch nicht mehr metaphorisch geographisch ( - als himmlisches Jerusalem etwa - ) vorgestellt werden kann? Wie kann man christlich vom Heil noch reden unter Lebensbedingungen, bei denen „für eine jedenfalls sehr große Zahl von Menschen die jenseitig-realen Gegenstände des religiösen Glaubens radikal ausgeschaltet sind" 19 ?

c) Gestalten des Heils: Glaube, Hoffnung,

Liebe

Die Besonderheit evangelischer Seelsorge, ihr Verzicht auf institutionelle Absicherung, läßt auch den Entwurf einer Seelsorgelehre zu einem ganz individuellen Versuch und Vorschlag werden, der indessen in der Niederschrift einen Allgemeinheitsanspruch gleichwohl erhebt. Die sachgemäße Fundierung und Entfaltung eines solchen Entwurfs bildet sich aus der Auslegung der biblischen Botschaft und im Gespräch mit zeitgenössischen Interpretationen der Welt 20 . „Das Reich Gottes ist mitten unter euch." (Lk 17,21) Heil geschieht und ereignet sich im Alltag, aber als das vom Alltag charakteristisch unterschiedene. Heil ereignet sich in der Erfahrung, daß der Alltag eine tiefere Bedeutung hat, als er erkennen läßt. Die Verheißungen christlichen Glaubens richten sich nicht auf eine dem Menschen durch Planung oder Prognose verfügbare Zukunft, sondern sie bringen die Gegenwart in die Spannung von Verheißung und Erfüllung, von „Schon-Jetzt und Noch-nicht". Von den Gestalten des Heils, das die ersten Christen an Jesus von Nazareth, seinen Worten, seinem Tod am Kreuz und über seinen Tod hinaus als lebendige Gegenwart erfahren haben, schreibt Paulus: „Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen" 19 G. Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur, in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg, v. M. Landmann, Frankfurt 1968, S. 169. 2 0 Vor allem P. Tillich hat mit seiner Methode der Korrelation die Vorstellung vom Heil als Heilung im theologischen Gespräch fest verankert, damit aber die Orientierung an den Denkmodellen der H u m a n - und Sozialwissenschaften dergestalt in das praktisch-theologische Denken Eingang verschafft, daß die theologisch-anthropologische Vorstellung vom Menschen als Sünder gegenüber einer philosophisch-anthropologischen Vorstellung vom Menschen als einer entwicklungsfähigen Persönlichkeit verblaßte. Vgl. G. Schneider-Flume, Die Identität des Sünders (1985), S. 127.

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(l.Kor 13,13). In diesen Grundbegriffen christlichen Glaubens und Lebens und der Vielfalt ihrer Ubersetzung in jeweils erfahrbare Gegenwart läßt sich gerade in einer modernen, nur an Wirkungen interessierten und orientierten Lebenswelt am überzeugendsten verdeutlichen, von welchem Heil der christliche Glaube ausgeht. Ist Heil nicht mehr durch den Hinweis auf Seiendes, sondern nur noch in Wirkendem in die Erfahrung zu bringen, so kann gerade in der Auslegung dieser Grundbegriffe der spezifische Sinn der christlichen Botschaft auch einem modernen Menschen in seinem wissenschaftlich geprägten Bewußtsein anschaulich gemacht werden, ohne das Opfer seiner Einsichtsfähigkeit zu fordern. Wo anders als in der Begegnung mit dem Zeugnis von Jesus Christus haben Menschen bisher grundlegend erfahren, daß Selbstlosigkeit, ja Selbstvergessenheit, Machtverzicht und Geduld, Vertrauen und Treue menschliches Zusammenleben menschlich gestalten und Zukunft eröffnen?

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Namenregister Achelis, Ε. Chr. 3 3 . 6 1 . 6 5 Achtnich, Th. 92 Adam, 1.116 Adams, J. E. 18.117 Albert, J . 76 Aschoff, L. 90 Asmussen, H. 107 Bärenz, R. 13 Bäumer, G. 102.105 Bäumler, Chr. 116 Barth, K. 125 Bastian, H.-D. 26 Baumgarten, O. 71 f., 77. 80.84f. 92. 96. 98 Becher, W. 32 Bechtolsheimer, H. 73 Becker, I. 20 Beckmann, P. 120 Bernet, W. 121 Besier, G. 32 Beth, Κ. 101 Bitter, W. 108.113 Blau, P. 28. 61. 92 Blumhardt, Chr. d. Ä. 100 Bodelschwingh, F. von 92. 102 Böckle, F. 21 Böhme, G. 58. 122 Bölsche, W. 79 Börner, W. 89 Bohren, R. 20 Bonhoeffer, D. 109.121 Bonhoeffer, Th. 83 Braun, 0 . 1 2 0 Christian, P. 103 Ciaessens, W. 116 Claperede 88 Clinebell, H. 17f. Cremerius, J. 23

Daele, W. van den 58 Daheim, H. 25. 40f. 49 Dahm, K. W. 26. 28. 57 Daiber, K . - F . 2 9 . 1 1 2 Daur, R. 108 Degen, J . 28 Diepgen, P. 90 Diettrich, G. 94 Doebert, H. 1 3 . 1 7 . 1 1 0 Doerne, M. 109 Drehsen, V. 57 Drews, P. 29. 33. 58. 72. 75. 80. 92 Driesch, Η. 99 Eliasberg, W. 104 Epiktet 55 Erler, R. 26 Eser, A. 77, 97 Faber, Heije 32 Faber, Hermann 22 Fabro, C. 112 Fichtner, G. 97 Fick, G. 78 Fischer, H. 113 Fliedner, Th. 68 Foerster, Fr. W. 8 4 - 8 8 Francke, Α. H. 33 Freud, S. 79. 88. 9 4 - 9 8 Frielingsdorf, K. 13 Frommel, M. 93 Gastager, H. u. S. 13 Gay, P. 104 ' Gmelin, A. 82. 89 Graevenitz, J. von 113 Greschat, M. 11 Gross, P. 28 Großgebauer, Th. 33 Grote, L. 28

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Gruehn, W. 102 Guhr, E. 17 Haendler, O. 31 Halberstadt, H. 13.28.102 Haimos, P. 123 Hardeland, A. 9 Harms, C. 3 4 - 3 7 . 39f. 46 Harnack, A. von 69 Harnack, Th. 62 ff. 67 f. Harsch, H. 27 Hellpach, W. 91 Hengstenberg, E. W. 34. 37 Hennig, G. 13 f. Hennig, M. 34 Hennig, P. 68 Herbart, J. F. 54 Hermelink, H. 11 Herms, E. 20.29 Henkys, J. 13.118.120 Hild, H. 20.46 Hiltner, S. 32 Hilty, C. 97 Hirsch, E. 11 Höfliger, H. 88 Hofmannsthal, H. von 104 Holtz, G. 29 Hüffell, W. 37. 44 Inäntsy-Pap, E. von 28 f. Jacobs, F. 54 James, W. 98 Jahn, E. 98 Jentsch, W. 23 Josuttis, M. 116 Jung, C. G. 61 Kafka, F. 70 Kaftan, J. 70 Kairat, H. 49. 96 Kaiser, G. Ph. Chr. 114 Kertelge, K. 13 Kleßmann, E. 102 Kiessmann, M. 116 KnowlesJ.W. 19 Köstlin, Η. A. 9 Koselleck, R. 34. 67 142

Krause, G. 38 Kretzschmer, E. 101 Krohn, W. 58 Kronfeld, A. 105 Künkel, F. 104 Kutter, H. 83 Läpple, V. 19. 24 Lakenbrink 112 Landgrebe, L. 112 Landmann, M. 126 Lange, E. 26 Leibfried, S. 108 Lepsius, J. 74 Liebermann 93 Liebner, Th. A. 46 Lindt, A. 83 Löhe, W. 3 6 - 4 0 Loescher, V. E. 33 Luckmann, Th. 49 Lüpke, H. von 73 Luhmann, N. 28 Lukatis, I. 29 Luther, M. lOf. 13f. 38.109.118f. Maeder, A. 104 March, H. 102 Marcinowski, J. 95 Marquard, O. 79. 105 Marsch, W. D. 35. 42 Marti, K. 26 Maslow, A. 61 Matthes, J. 46 Miethner, R. 21 Mitscherlich, A. 23 Möller, Chr. 116.119-122.124 Mommsen, W. J. 78 Müller, C. W. 29 Müller, H . M . 33.119 Müller, J. 97.100 Naumann, F. 58. 69. 71 Naumann, J. 92. 94f. Niebergall, F. 79. 93 Nipperdey, Th. 34 Nitzsch, C. 1.32.36.43.46-63.65. 68 f. 77.104

Palmer, Chr. 38 ff. 114 Peyser, D. 18 Pfister, Ο. 8 4 - 8 8 . 94. 97f. 104 Philippi, P. 25 Piepmeier, R. 11 Piper, H.-Chr. 21.24. 31 f. 114.116 Plato 85 Rabast, J. 58. 68 Rade, M. 74.123 Rathje, J. 123 Rau, G. 27.29. 35. 37.113 Reiler, H. 19.31 Rendtorff, T. 42.120 Rensch, A. 19 Riedl, H. 82. 91 Riesner, R. 116 Riess, R. 31.110.116 Ritsehl, A. 90 Ritter, G. 24 Römer, A. 92 Rössler, D. 10. 12.17. (u.ö.) Rogers, C. 61 Rorarius, W. 111 Sacchse, E. 83 Sachsse, Chr. 27. 34 Schadeberg, W. 109 Schairer, 1.105 Schall, T. 31 Scharfenberg,]. 18f. 23f. 31.116.125 Scheler, M. 105 Schelsky, H. 24 Schieder, Th. 11.74 Schindler, A. 83 Schleiermacher, D. F. E. 35.42 ff. 48. 111 Schmerl, K. 63 Schmidbauer, W. 19. 62 Schmidt, E. R. 116 Schneider-Flume, G. 121. 126 Scholder, K. 102 Scholz, H. 35. 42 Schoot, E. van der 32 Schröer, H. 17. 116 Schultz, I. H. 103 Schwarz, Chr. Α. 116

Schwarz, F. 116 Schweitzer, C. 99.101. 106 Schweizer, A. 4 2 - 4 9 . 52. 54. 62. 68 Seitz, M. 31.118 Sennet, R. 44 Sextro, Η. P. 114 Siebeck, R. 103 Siemens 92 Sihle.M. 106 Simmel, G. 126 Shotwell, J. T. 77 Soden, Hans von 9 7 - 1 0 2 . 105 Soden, Hermann von 70. 98 Sokrates 55 Spener, Ph. J. 33 Sperl, A. 19. 31 Sprondel, W.-M. 49 Steck, W. 38. 40. 57. 72 Steinmeyer, F. L. 50. 64ff. 68 Stöcklin, G. 13 Stollberg, D. 12.18 f. 22 f. 31 f. 111.116. 118 Stolle, F. 74 Strohmayer, W. 100 Stümke, H. 96.102 Stürmer, M. 81. 104 Sülze, E. 41. 68f. Switzer, D. 17 Steiner, R. 100 Tacke, H. 17 f. 113 Tenbruck.F. H. 12. 60. 79.115 Tennstedt, F. 27. 34. 108 Thilo, H . J . 17.31 Thurneysen, E.20.103.107.111 Tillich, P. 22.126 Tönnies, F. 104 Trillhaas, W. 112.117 Troeltsch, E. 11 f. 78. 123 Tuchman, B. 78. 81 Uhlhorn, G. 34 Uhsadel, W. 68 Ulrich, D. 102 Ulrich, H . G . 114 Veit, W. 83 Vorbrodt, G. 58. 80. 100 143

Warda 88 Weber, Μ. 10 Weizsäcker, V. von 103 f. Werner, G . 68 Wichern, J. H . 58.68 Wilhelm, O . 7 8 - 8 2 W i l l m s J . 78. 81 Winkler, K. 31 Wintzer, F. 20. 5 9 . 7 5 . 8 3 . 1 1 1

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Wobbermin, G. 22 Wölber, O . 29 W ö s s n e r J . 60. 79 Wrage, K.-J. 83 Wurm, Th. 102 Wurster, P. 82 Zezschwitz, G . von 62ff. 68 Zöckler, O . 63