Zwischen Schicksal und Chance: Arbeit und Arbeitsbegriff in Großbritannien im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Hintergrund der »Utopia« des Thomas More [1 ed.] 9783428492084, 9783428092086

Ziel der vorliegenden Abhandlung ist die Entwicklung eines vorindustriellen Arbeitsbegriffes mittels einer hermneneutisc

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German Pages 343 Year 1997

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Zwischen Schicksal und Chance: Arbeit und Arbeitsbegriff in Großbritannien im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Hintergrund der »Utopia« des Thomas More [1 ed.]
 9783428492084, 9783428092086

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ANDREAS PRÄUER

Zwischen Schicksal und Chance

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 52

Zwischen Schicksal und Chance Arbeit und Arbeitsbegrift' in Großbritannien im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Hintergrund der "Utopia" des Thomas More

Von

Andreas Präuer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Präuer, Andreas: Zwischen Schicksal und Chance: Arbeit und Arbeitsbegriff in Großbritannien im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Hintergrund der "Utopia" des Thomas More I von Andreas Präuer. Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 52) Zug!.: München, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09208-2

Alle Rechte vorbehalten

© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-09208-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Auf dem Weg in die vielzitierte Dienstleistungsgesellschaft und durch immer schneller aufeinanderfolgende industrielle Revolutionen hindurch verändert die menschliche Arbeit heute erneut ihr Gesicht. Die Dienstleistungsgesellschaft steht dabei stets in Relation zur industriellen Produktionsgesellschaft, welche sie dabei ist, abzulösen. An Schlagworten und vermeintlichen Patentrezepten zur Gestaltung dieses Übergangs fehlt es nicht. Um jedoch die gegenwärtige Situation, die sich durch die Auflösung überkommener Strukturen auszeichnet und die viele Menschen als Phase des Übergangs in eine ungewisse Zukunft empfinden, richtig einschätzen zu können, ist es nötig, die Wurzeln des gängigen, an seine Grenzen stoßenden Arbeitsbegriffes und den Werdegang unserer Arbeitswelt zu kennen. Dafilr genügt es nicht, auf Henry Ford oder James Watt zurückzugehen. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Relativität und Bedingtheit des industriellen Arbeitsbegriffes aufzuzeigen, der heute so selbstverständlich als Maßstab der Veränderung herangezogen wird. Ihr Gegenstand ist daher die Epoche vor der (ersten) Industriellen Revolution am Ende des 18Jh. In dieser Zeit werden die technischen und philosophischen Voraussetzungen der industriellen Arbeit und ihres Begriffes geschaffen. In den verschiedenen Arbeitswelten sind Unsicherheiten und die Suche nach neuen Strukturen zu beobachten, so daß sich das 17. und 18.Jh. als Epoche ungelöster Fragestellungen, verschiedenartiger Lösungsansätze und werdender Begriffe darstellt. Es galt also, Informationen aus verschiedenen Wissensgebieten zusammenzutragen, philosophie- und wirtschafts geschichtliche Quellen zum Sprechen zu bringen, ohne daß die vorliegende Arbeit jedoch den Anspruch erheben möchte, eine Philosophie- oder Wirtschaftsgeschichte zu ersetzen. Bei der Auswertung des umfangreichen Materials habe ich mich bemüht, die Autoren aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und Werturteile, die Ende des 20Jh. oft nahe liegen mögen, außen vor zu lassen, wo immer sie die Gefahr mit sich bringen, früheren Jahrhunderten und ihren Protagonisten ihnen fremde Maßstäbe aufzuzwingen. Mein eigener Standpunkt ist somit der eines neugierigen, sich ins Gedränge der Zeit mischenden Beobachters, jedoch eines Beobachters, der selbst verschiedene Arbeitswelten aus eigener Erfahrung kennt. Der Blickwinkel ist mithin kein ausschließlich akademischer.

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Vorwort

Für die geduldige und einfilhlsame Betreuung dieser Arbeit danke ich Prof. Dr. Norbert Brieskorn S.J. Zudem danke ich meinen Eltern und meinen Freunden Peter Duck, Dr.Reinhard Feneberg, Holger Folz und Sabine Braun filr die kritische Durchsicht des Manuskripts. Schließlich sei noch allen Kollegen gedankt, die dazu beigetragen haben, daß meine ausgiebigen Abstecher in die reale Arbeitswelt, bestehend aus Baustellen und Lagerhallen, nicht lediglich eine lästige Notwendigkeit zum Broterwerb, sondern eine gelegentlich sogar willkommene Abwechslung zur Tätigkeit am Schreibtisch waren.

München,Mai 1996

Andreas Präuer

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

.................................................................................................................. 15

A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' - Die Klammer um die Epoche ...................... 19 Der zeitliche Rahmen (19) Agrargesellschaft, Knappheitsgesellschaft (20) I. Ansätze und Ausgangspunkte .............................................................................. 23 I. Der Ansatz der 'Utopia' ................................................................................ 25 Der Status der idealen Insel (25) Die Eindimensionalität der utopischen Rationalität und Joseph Halls frühe satirische Kritik daran (26) 2. Der Ansatz des 'Wohlstands der Nationen' .................................................. 28 H. Von der utopischen Rationalität zum liberalen Effizienzdenken ........................ 30 Natürliches Bedürfnis und freier Konsument (30) Vernunft und Brauch (31) Kontrolle und Markt (34) Verfügbarkeit und Mobilität (35) Vermögen und Kapital (37) Perfektion und Dynamik (39) Haus und Weltmarkt (41)

B. Horizonte und Perspektiven menschlicher Arbeit .............................................. .44 I. Arbeit und der menschliche Horizont ................................................................. .44

Heilsame Aktivität... (44) ... oder abstumpfender Alltag? (46) David Humes optimistische Fortschrittsperspektive (48) Adam Smith und die Kosten des Fortschritts (50)

8

Inhaltsverzeichnis 11. Business und Beschäftigung - Fleiß und Arbeit: eine Begriffsklärung ............... 52 1. Selbständiges Business, abhängige Beschäftigung ...................................... 52

Verordnete Arbeit (53) Beschäftigung als neues Mittel der Armenpolitik (54) Defoes lehrbuchmäßige Unterscheidung von Business und Beschäftigung (56) Der Charakter des Tradesman als Businesstreibendem (58) 2. Der Fleiß als die Seele der Arbeit ................................................................ 60 Mun, Burton und der Rückgriff auf Aristoteles (60) Mandevilles Definition des Fleißes (61) Fleiß und Erfindungsgabe: Sir lames Steuart (65) Kapital und Arbeit: Adam Smith und die neuen Kategorien (66) III. Das Haus: Ausgangspunkt und Kategorie im Hintergrund ................................ 68 Das aristotelische Erbe, lohn Locke und das soziale Verhältnis der Arbeit (68) Der 'Servant' (70) Das Haus und die Republik (72) Volkswirtschaftliche Knechte (73) IV. Nationaler Reichtum durch Beschäftigung des Volkes ..................................... 76 I. Das Arbeitshaus ...................................................................................... 77 Das Arbeitshaus als Hoffuungsträger (78) Das Scheitern des Arbeitshausgedankens(80) 2. Sir William Petty - Beschäftigungspolitik unter der verwaltenden Vernunft ....................................................................................................... 83 Zukunftsorientierte Armenpolitik (84) Ökonomische Hebammendienste für Irland (86) 'Spare Hands': übrige oder ungenutzte Hände (88) Die Perspektive (90) V. Arbeit als individuelle Chance ........................................................................... 91 1. Arbeit-Geben als Gnadenakt: Thomas Mun ................................................. 92

2. Arbeit als Ware und der Versuch, ihr einen fairen Markt zu schaffen: Hartlibs und Robinsons 'Office of Addresses' .............................................. 94 3. Gemeinschaftliche Arbeit als Chance tUr den Einzelnen ............................. 98 a) Kampf jeglicher Mittelbarkeit: Gerrard Winstanley .................................... 99 Das Gesetz Gottes und der Vernunft (100) Arbeit als Sozialisationsvollzug: Würde statt individueller Profit (102) Eine zukunftweisende Inkonsequenz (103)

Inhaltsverzeichnis

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b) Interessengemeinschaft von Kapital und Arbeit: lohn Bellers' Colledge of Industry ........................................................................................ 104 Wechselseitige Pflichten (105) Wertmaß Arbeit: Interne Geldlosigkeit und Solidarität (107) Fleiß und soziale Perspektive (109) 4. Arbeit als Chance und Verantwortung: Daniel Defoe und der 'Woollen Trade' ................................................................................................... 111 Selbstverantwortung am Arbeitsmarkt (111) Idylle der Arbeitsamkeit (114) Schutz der heimischen Arbeit vor Importen (115) Sozialversicherung aus Verantwortungsgefühl (117) 5. Die Chance im Systemwande1- Steuart und Smith .................................... 119 Die Erfassung der ökonomischen Situation (119) Bestimmungsfaktoren des Arbeitslohnes: Wachstum, Fleiß und Fortschritt (121) Arbeit und Kapital; Lohn und Profit (125) Der Umgang mit den Folgen der Arbeitsteilung (127) Die Perspektive an der Schwelle zum Industriezeitalter (128)

C. Konkrete Arbeitswelten in den verschiedenen Bereichen der Volkswirtschaft ............................................................................................................... 131 I. Die Landwirtschaft ............................................................................................. 132

1. Die ökonomische Situation ........................................................................ 133 Produktivität und Subsistenzwirtschaft (134) Größere Produktionseinheiten und Spezialisierung (136) 2. Landwirtschaft als an sich wertvolle Tätigkeit... ........................................ 139

11. Die Schiffahrt ................................................................................................... 144 Kapital, Arbeit und Qualifikation (144) Defoes Projekt einer VermittlungssteIle (145) Die Berufsrealität (147)

111. Handwerk und Industrie .................................................................... .............. 153 1. Arbeit zwischen Kunst und Norm .............................................................. 154 2. Größe und Struktur des Handwerksbetriebes: Arbeitswelt im WandeI .............................................................................................................. 157 Arbeit außer Haus: Das Baugewerbe (158) Arbeit im Haus: Meister und Lehrling (159)

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Inhaltsverzeichnis 3. Die Suche nach neuen Strukturen: Bellers und Crowley ........................... 161 a) Organisation von Arbeitswelt im Colledge ofindustry ............................. 162 b) Das Fabrikgesetzbuch von Crowleys Eisenwerken ................................... 165 Die Fabrik (165) Der Eintritt in eine eigene Welt (166) Qualitätsstandards: Kontrolle, Anleitung und Verantwortung (168) Hohe Anforderungen an die Loyalität der Arbeiter (171) Crowleys 'Regierungsziel': Gerechtigkeit und ein blühendes Volk (173) Geistliche und soziale Versorgung: Die Geschlossenheit der Arbeitswelt (175) IV. Der Handel ...................................................................................................... 178 I. Der Konflikt zwischen Produktion und Handel ......................................... 178 Die Monopole (179) Die Weber gegen die Ostindische Kompanie: Der Höhepunkt des Konfliktes (180) 2. Die Funktionen des Handels ...................................................................... 183 Kritik am Handel als der Instanz der Ausschließlichkeit: Gerrard Winstanley (183) Inventur der Vermittler: Sir William Petty (186) Die Chance im Geftlge wechselseitiger Abhängigkeiten: Defoes Lob des Zwischenhandels (187) Der Außenhandel als Ort des Fleißes: lohn Locke (188) Femhandel als Wissensvermittler: Francis Bacon und die Royal Society (190) Der Kaufmann als Vermittler des Fortschritts: David Hume (192) V. Vermittlung und Geldwesen ............................................................................. 194 1. Das Geld in der Welt des Tradesman ......................................................... 195 Die konkrete Bedeutung von Wucher und Kredit (195) Der Schuldner: moralische Pflichten und Perspektive (197) Die fremde Welt des Geldes (198) 2. Was ist Geld? Zwei mögliche Antworten .................................................. 199 John Locke (199) Adam Smith (201) VI. Akademiker ..................................................................................................... 203 I. Mediziner ................................................................................................... 204 2. Klerus und Juristen .................................................................................... 206 Utopische Direktheit statt zum Mißbrauch einladende Vermittlung (206) Revolutionäre Kritik an den Stützen eines verhaßten Systems (208) Winstanleys Kampf gegen 'Pfaffentrug und Advokatenlist' (209)

Inhaltsverzeichnis

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Von der grundsätzlichen zur pragmatischen Betrachtungsweise: Petty und Smith (211) VII. Dienstboten .................................................................................................... 213 Unproduktive Arbeit (213) Knecht als Teil des Hauses (215) VIII. Der Bettel ....................................................................................................... 21 7 Erfassung und Kriminalisierung (217) Business Bettel (219)

IX. Konsum und Muße: Gegenpol und Ziele der Arbeit.. ..................................... 220 'Suffsistenz': Alkohol als einziger Fluchtweg aus einem perspektivlosen Arbeitsalltag (221) Luxus und Verschwendung: vom Laster zur Nachfrage (223) Neues Konsumverhalten (225) Unflihigkeit zur Muße? (226) X. Krieger und Sklaven ......................................................................................... 228 I. Das Kriegswesen ........................................................................................ 229 Von der Kriegsmacht zur Handelsmacht: Bacon und Hume (230) Volksmiliz, Bürgerarmee oder stehendes Heer? (233) 2. Die Sklaverei ............................................................................................. 238 Philosophische Begriffsdefinition nach John Locke (238) Utopische Sklaverei als Strafe mit erzieherischer Komponente (240) Die rursorgliche Sklaverei Sir James Steuarts (242) Fakten zur amerikanischen Negersklaverei (244) Koloniale Sklaverei unter dem Banner der Freiheit und LockesVerfassungsentwurfrur Carolina (246) Die Selbstverständlichkeit der Negersklaverei (248) Arbeitsbedingungen und Rentabilitätsrechnungen (251) Kampf gegen die Sklaverei auf biblischer Grundlage: Samuel Sewall (253) Kampf gegen die Sklaverei auf moralisch-vernünftiger Grundlage: John Wesley (255) Die Absage an die Sklaverei auf der Grundlage ökonomischen Interesses: Adam Smith (258)

D. Schicksal und Chance in der Auseinandersetzung mit der Natur

................... 261

I. Der Fluch ........................................................................................................ 261 Die Anatomie des Fluches (261) Variationen und Relevanzverlust (263)

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Inhaltsverzeichnis II. Zwei Optionen: Bacon und Locke .................................................................... 265 Paradies oder Naturzustand? Eine wichtige Vorentscheidung (265) Die unterschiedlichen Anxsatzpunkte (267) Lockes Primat der Moral (269) Bacons Primat tätiger Naturerkenntnis (271) III.Die Option des Forschers ................................................................................. 273 Winstanleys Variante (273) Forschung: Die Musterehe von Kraft und Verstand (275) Die Royal Society, eine Gemeinschaft freier Forscher (277) Bacons Anspruch (279) Bacons Utopie Neu Atlantis (281) IV. Die Gestaltung der menschlichen Natur mittels Erziehung ............................. 283 I. Erziehung zum Verständnis - John Brinsley .............................................. 285 Das Ziel: Verständnis (286) Die Methode: Spielerischer Wettbewerb und die Zergliederung von Fragen (287) 2. Operatives Wissen und Persönlichkeitsbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Hartlib, Dury und Bellers ............................................. 288 Ingenieure rur die neue Republik (289) Hartlibs Plan einer Armenschule und die reale Situation (292) Bellers' Colledge of Industry: Die große Integration (294) 3. Erziehung zur Souveränität - John Locke .................................................. 297 Arbeit zur Vermittlung des Realitätsbezugs (298) Arbeit, Spiel, Ausgleich (299) 4. Erziehung der Knechte - Bernard Mandeville ........................................... 301 5. Reparaturarbeiten an den Opfern der Arbeitsteilung - Adam Smith .......... 302 V. Die Option des Benutzers ................................................................................. 304 I. Die Entzauberung der Natur ...................................................................... 304 Land und Leute, betrachtet mit den Augen des Nutzers: Defoes Tour durch England (305) Naturgestaltung: Zweierlei Maß mangels Orientierung (308) 2. Die Stellung des Menschen, der sich selbst besitzt .................................... 310 Lockes Eigentumslehre im Kontext (310) Die Rolle des Fleißes (312) Von Locke zu Smith (313) 3.Die demographische Komponente: Sir James Steuart................................. 315

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4. Der Neue Fluch .......................................................................................... 318 Mehr oder Nichts (319) Adam Smith und die List der Natur (320) Der Preis des Fortschritts (322)

Schluß ......................................................................................................................... 326

Illusion, Vision und Perspektive in der behandelten Epoche (327) Die moderne Perspektive und die Folgen eines gewandelten Arbeitsbegriffes (329) Literaturverzeichnis ................................................................................................. 331 Register ....................................................................................................................... 339

Hinweise zur Textgestaltung Im Sinne einer besseren Lesbarkeit sind alle TextsteIlen in deutscher Sprache wiedergegeben. Wo es möglich war, liegen dem deutsche Ausgaben der Originalwerke zugrunde. Diese sind weitgehend mit den Originalen verglichen und im Bedarfsfall unter Angabe der OriginalsteIle korrigiert worden. Wo keine deutschen Ausgaben zugänglich waren, handelt es sich um eigene Übersetzungen. Einzelne Begriffe, die nicht eindeutig übersetzbar sind bzw. deren deutsche Synonyme heute mit irreführenden Bedeutungen belegt sind, wurden ebensowenig übersetzt wie Parolen und Merksätze, die dabei zuviel von ihrer Griffigkeit verloren hätten. Originaltexte in Fußnoten sind nicht übersetzt. Zitierte Werke werden bei der ersten Nennung vollständig unter Angabe des originalen Erscheinungsjahres aufgeführt, später mit dem Namen des Autors und einer Kurzform des Titels abgekürzt. Sekundärliteratur wird nach einer vollständigen ersten Nennung mit dem Namen des Verfassers - bei mehreren zitierten Werken vom selben Verfasser zuzüglich Jahreszahl - abgekürzt.

Einleitung Auf der Suche nach den Wurzeln des gängigen, durch die historische Entwicklung der Industriellen Revolution und die Philosophie von Karl Marx, geprägten Arbeitsbegriffes, stößt man schnell auf die Namen Smith und Hegel, vielleicht auch noch auf den einen oder anderen früheren Autor, der sich bei Marx zitiert fmdet, und schließlich auf eine gelegentlich etwas vage formulierte Vorstellung von protestantischer Arbeitsethik. Adam Smith wird dabei meist aus der fiir das 19. und 20.Jh. weitgehend typischen Perspektive der Industriellen Revolution heraus betrachtet, um dann entweder an Marx gemessen oder gegen ihn verteidigt zu werden. Die Zeit zwischen der Reformation und dem Erscheinen des 'Wohlstands der Nationen' steht dagegen, was die philosophische Dimension menschlicher Arbeit betrifft, als Epoche weniger im Blickpunkt des Interesses, von der Eigentumslehre lohn Lockes einmal abgesehen. Philosophisch ist diese Zeit vor allem fiir erkenntnistheoretische und staatsphilosophische Entwürfe bekannt, während Arbeit eher ein Thema fiir Wirtschafts- und Sozialgeschichtler zu sein scheint. Deren Erkenntnisse sind fiir den Philosophen umso wertvoller, je weniger sie in ein eigenes dogmatisches Gewand gekleidet sind. Dann können sie äußerst hilfreich sein beim Nachweis eines polymorphen Arbeitsbegriffes, dessen einzelne Facetten manchmal nur kurz in Utopien und Projekten sichtbar werden, um in der Industriellen Revolution wieder abzutauehen. Unterschiede im Gebrauch von 'Labour', 'Work' und in frühen Schriften auch noch 'Travaill' oder 'TravelI' mögen philologisch relevant sein, erreichen aber keine begriffsbildende Dimension. Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es daher, zunächst einen Bogen von Thomas Mores (1478-1535) 'Utopia' zum 'Wohlstand' zu spannen, um dann, auf Adam Smith (1723-1790) als Endpunkt der Untersuchung hin, die Parameter und Kategorien des neuzeitlich-vorindustriellen und die Wurzeln des industriellen Arbeitsbegriffes darzustellen. Dies wird in der Klärung der Begriffe und sozialen Voraussetzungen, einem Aufweis unterschiedlicher Arbeitswelten in den einzelnen Wirtschaftsbereichen und schließlich in der Darstellung des Verhältnisses des Menschen zur Natur geschehen. Aufgrund seiner fortschrittlichen Entwicklung, der Rolle als Mutterland der Industriellen Revolution sowie der

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Einleitung

gegebenen nationalen und sprachlichen Einheit erschien Großbritannien fiir diese Untersuchung besonders geeignet, auch wenn einzelne Bestandteile moderner Wirtschaftsweisen in anderen Ländern entwickelt wurden, das Bankwesen in Italien etwa oder die Textilwirtschaft in den Niederlanden. Selbst die Niederlande fielen jedoch als Wirtschaftsrnacht im 18.Jh. deutlich gegenüber Großbritannien ab. Die Suche nach Vorbildern und Vorformen englischer Gegebenheiten in anderen Ländern sowie der Vergleich mit den Nachbarn erschien verzichtbar, da sie im Rahmen der vorliegenden Abhandlung kaum umfassend geleistet werden könnte und die Einarbeitung einzelner Ergebnisse unsystematisch bleiben müßte. Um nun die Einseitigkeiten der industriellen Perspektive zu vermeiden und einen möglichst unverstellten Blick auf die Autoren des 17. und 18.Jh. zu gewinnen und um nicht die unersprießliche Diskussion über die 'Ideologie' des Verfassers führen zu müssen, wurde auf eine Auseinandersetzung mit Karl Marx ebenso wie auf die Diskussion anderer mittlerweile klassischer Autoren wie Max Weber oder R.H.Tawney verzichtet. Eine qualifizierte Auseinandersetzung mit diesen Autoren wäre ein eigenes Unterfangen. Die Methode der folgenden Abhandlung wird somit eine geduldig aber kritisch Beobachtende sein, die ohne eine vorangestellte Grundthese, sei es vom Klassenkampf, von der protestantischen Arbeitsethik oder vom Paradigmenwechsel auskommt, ohne die Ergebnisse dieser Methoden in irgend einer Weise abwerten oder sich ihren Erkenntnissen entziehen zu wollen. Kategorien und Begriffe werden von den Zeitgenossen des 17. und 18.Jh. selbst bezogen, und dies aus möglichst vielen Lebensbereichen. Arbeit als Lebensvollzug ist mehr als eine ökonomische Größe; sie ist ein persönlicher und sozialer Vollzug, hat individuelle wie volkswirtschaftliche Relevanz, schafft nationalen und persönlichen Reichtum und konstituiert Lebenswelten. Verschiedene Wissensbereiche tragen zur Erhellung ihres Begriffes bei, ohne daß allen Fragen, die sich beim Eindringen in diese eröffuen, so weit nachgegangen werden könnte, wie dies gelegentlich wünschenswert scheinen mag. Auf dem Weg zum 'Wohlstand' wird so ein Rahmen aufgespannt, den ein sich wandelnder Zeitgeist mit Leben erfiillt. Die Facetten dieses Zeitgeistes bestimmen und beschreiben neben bekannten philosophischen Größen wie Francis Bacon, John Locke oder David Hume Ökonomen wie Thomas Mun und Sir James Steuart, aber auch eher kuriose Erscheinungen wie der Fabrikpatriarch Sir Ambrose Crowley und Zeitzeugen, die, oft belastet mit allerhand Vorurtei-

Einleitung

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len, mitten im Geschehen stehen. Zu den Letzteren zählt an vorderster Stelle Daniel Defoe in seiner Eigenschaft als politischer Schriftsteller. Als solcher bringt er zwar kaum genuin neue Gedanken, kann aber gerade in seiner Polemik und Borniertheit viel von der Perspektive des vorindustriellen Kleinbürgertums vennitteln. Die Beschreibung des Umfeldes der Arbeit, die Äußerung von Ressentiments und die Vorlage venneintlich genialer Verbesserungsvorschläge können mitunter mehr über das Verständnis von Arbeit aussagen als der zunächst prägnante Merksatz. Die Suche nach dem Zeitgeist kann auch zur Folge haben, daß manche Fragen mehrmals aufgeworfen werden, weil sie aus einer Perspektive allein nicht zu beantworten sind. Dies gilt filr Lockes Ableitung des Eigentums aus der Arbeit, die der Leser vielleicht als eigenen Gliederungspunkt vennissen wird, l ebenso wie rur das Vordringen der Maschine, die ihre die Industrielle Revolution prägende Fonn erst gegen Ende der Epoche fand. Aufschlußreicher als Berichte über einzelne Maschinen oder Maschinenstünner, die seit dem ausgehenden Mittelalter auftauchen, ist der Umgang mit potentiell überflüssigen Arbeitskräften, der von der ängstlichen Sorge um einzelne Beschäftigungsfelder bis zu ihrer Ausbildung im Dienste einer Vision reicht. Die Perspektiven, welche Arbeit eröffuet, sind vielfältig. Am Ende steht die optimistische Perspektive des Liberalismus, die sich auch heute wieder wachsender Beliebtheit erfreut. Der unterschiedliche Charakter der vorgestellten Texte und die Vielzahl von Utopien und Projekten, die sich mit der Gestaltung und Organisation von Arbeit befassen, sind ein Anhaltspunkt darur, daß die Menschen des 17. und 18.Jh. nicht gewillt waren, Arbeit einfach als Schicksal hinzunehmen und rege nach neuen Strukturen suchten. Anders als im Industriezeitalter hat Arbeit noch kein einheitliches Gesicht, an dem sie zu erkennen wäre und dessen Veränderung ein gemeinsames mit einer klar defmierbaren Methode erreichbares Ziel abgeben könnte. Arbeit tritt dem Menschen in vielfiiltiger Fonn gegenüber und so versucht er erst einmal, ihr rationale Räume zu schaffen, in denen sie gestaltet und

1Eine ausfiihrliche Diskussion von Lockes Eigentumstheorie hat in jüngster Zeit Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum, Darmstadt, 1992, vorgelegt. Brocker stellt die Eigentumslehre in einen naturrechtlichen Rahmen und hält sich an das Modell vom Paradigmenwechsel. Trotz seiner sehr scharfsinnigen Einzelanalysen vermag ich ihm aufgrund einer anderen Gesamtsicht letztlich nicht zuzustimmen. Da man für eine grundsätzliche Auseinandersetzung sehr weit ausholen müßte, sind im Folgenden nur einzelne Punkte angemerkt. Die konträre Gesamteinschätzung Lockes ist im jeweiligen Kontext offensichtlich und erhellt besonders aus Kapitel D. 2 Priuer

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Einleitung

organisiert werden kann. Als Darstellung eines systematischen Versuches, solch einen Raum in scheinbar idealer Weise zu schaffen, stellt die 'Utopia' - nachdem die umfassende Ordnung des Mittelalters zerbrochen ist - einen epochalen Schritt dar.

A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' Die Klammer um die Epoche 'Zwischen Reformation und Industrieller Revolution' betitelt Christopher Hill sein Standardwerk zur britischen Geschichte von 1530 bis 1780. Die 'Utopia' des Thomas More erscheint 1515 und der 'Wohlstand der Nationen' Adam Smiths 1776. Hili fUhrt eine ganze Reihe von geschichtlichen Fakten, Erfmdungen und Publikationen an, um seine zeitliche Grenzziehung plausibel zu machen - zum Ende der Epoche u.a. die Erstauflage des 'Wohlstands' und die Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent im selben Jahr!. Die 'Utopia' ihrerseits erschien nur kurz nach der Entdekkung Amerikas. Die Neue Welt wird schnell zum Tummelplatz der Phantasie. Die Vorstellungen von einem scheinbar unermeßlichen Fundus an Land und Reichtum schlagen sich auch in der Philosophie des Mutterlandes nieder. Amerika bietet die Kulisse fiir Lockes Naturzustand und Eigentumslehre. Die 'Wilden' dienen bis Adam Smith als Kontrast zur europäischen Zivilisation und Beweis der eigenen Überlegenheit, oder aber auch ihrer moralischen Verkommenheit. 2 Der zeitliche Rahmen

Die Entdeckung Amerikas und die darauf folgende Aufbruchstimmung in Europa sind ein wesentlicher Hintergrund der 'Utopia' und die 'Utopia' ist ein spezifischer Ausdruck dieser Stimmung. Die humanistische Rezeption antiker Weisheit und die Perspektive einer neuen Welt machen das utopische Modell in

I Christopher Hili, Von der Refonnation zur Industriellen Revolution, FrankfurtlM. tNew York, 1977, S.230f 2 Der ehrliche Wilde im Gegensatz zum scheinheiligen Europäer taucht bereits in den Anfangszeiten der Kolonisation auf, so in Thomas Mortons New English Canaan, 1639, entwickelt sich aber erst mit der Zeit zu einem Gegenbild zur europäischen Zivilisation insgesamt. So stellt etwa J.J.Rousseau den 'nackten Wilden', der ~edes Mahl, das er hält, mit seinem Schweiß oder seinem Blut bezahlt', aber trotzdem zufrieden und glücklich ist, dem hektischen Europäer gegenüber, der inmitten seines Luxus nur unglücklich ist. Vorbereitende Fragmente zum Diskurs über die Ungleichheit, Nr.14. In: J.-J.Rousseau, Diskurs über die Ungleicheit, Paderborn u.a. 1990

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A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' - Die Klammer um die Epoche

dieser Form erst möglich. Da sich die Fragestellungen bis Ende des 18.Jh. nicht epochal ändern, soll dieses utopische Modell gleichsam als Folie der ganzen Untersuchung untergelegt werden, auf der die Lösungsansätze des 17. und 18. Jahrhunderts beleuchtet werden, die im 'Wohlstand' einen Abschluß finden und den neuen Fragestellungen der Industriellen Revolution weichen. Der 'Wohlstand' bildet Zielpunkt und zeitlichen Abschluß der Untersuchung. Dazwischen liegt die Epoche des sogenannten Merkantilismus. 3 Darunter sind die politischen und ökonomischen Konzepte des 17. und 18.Jh. zu verstehen. Das 16.Jh., also das Zeitalter Heinrichs VIII. und Elisabeths wird in der vorliegenden Untersuchung wegen seines eigenen Charakters, aber auch wegen des Materialreichtums über diese Zeit, dessen Aufarbeitung den hier gegebenen Rahmen bei weitem sprengen würde, nicht weiter berücksichtigt. Die Eigenart der 'Utopia' als eines vermeintlich vollständig rationalen Idealbildes erlaubt es aber, ja reizt geradezu, sie der Analyse des Arbeitsbegriffes von Francis Bacon bis Adam Smith unterzulegen. Im Zweiten Buch der 'Utopia' wird - nach der Kritik bestehender Mißstände im Ersten Buch - erstmals ein Vorschlag zur systematischrationalen Aneignung der Wirklichkeit mittels Arbeit diskutiert. Nach einer Phase königlich geförderter Piraterie unter Elisabeth werden seit Beginn des 17.Jh. verstärkt Konzepte in Umlauf gebracht, die sich mit der Rolle der Arbeit als rationalem Weg zu Macht und Reichtum beschäftigen. Zugleich setzt mit Francis Bacon, welcher oft als erster Philosoph der Neuzeit bezeichnet wird, ein verstärktes philosophisches Interesse an der menschlichen Arbeit ein. Adam Smith in seiner Eigenschaft als Moralphilosoph und Nationalökonom erscheint als vielversprechender Endpunkt einer keineswegs geradlinig verlaufenden Begriffsentwicklung sowie einer Epoche, die noch wesentlich agrarisch geprägt und von Knappheit bedroht ist. Agrargesellschaft, Knappheitsgesellschaft

"Die Hauptquelle des gesellschaftlichen Reichtums ist in den meisten frühneuzeitlichen Utopien die Landwirtschaft, "4 stellt der Utopieforscher R. Saage

3 Den Begriff 'Merkantilismus' hat Adam Smith von Quesnay und Mirabeau d.Ä. übernommen . Am Anfang des 4. Buches des 'Wohlstandes' unterscheidet Smith grundsätzlich zwischen Merkantil- und Agrarsystem. Darüber, was man unter 'Merkantilismus' zu verstehen habe, gibt es weitreichende Meinungsunterschiede. Eine Übersicht über diese Debatte bietet Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus, Wiesbaden, 1973, v.a. S.5ff 4 Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, S. 34

A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' - Die Klammer um die Epoche

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als Ergebnis einer ökonomischen Untersuchung mehrerer Utopien des 16. und 17.Jh. fest. Tatsächlich bildet die Erneuerung der Landwirtschaft den Kern der Lösung, die im ersten Buch der 'Utopia', dem analytischen Teil, zur Behebung der zeitgenössischen Übelstände angeboten wird. "Ruft den Ackerbau wieder ins Leben, erneuert die Wollspinnerei"s sind Raphael Hythlodaeus', des utopischen Protagonisten des Dialogs, zentrale Ratschläge. Entsprechend nimmt der Ackerbau eine zentrale Rolle im Lebensrhythmus der Utopier ein. Auch im 'Wohlstand' nimmt die Landwirtschaft eine Schlüsselstellung ein. Sie bleibt Grundlage jeder weiteren wirtschaftlichen Entwicklung und genießt Priorität. "Die Kultivierung und Verbesserung des Bodens, der filr uns den Lebensunterhalt liefert, müssen daher wichtiger sein als die Entwicklung der Stadt, die uns lediglich mit Dingen versorgt, die unserer Bequemlichkeit und dem Luxus dienen. "6 Smith polemisiert nicht wie der utopische Berichterstatter Hythlodaeus gegen die "Angehörigen unnützer Luxusgewerbe."7 Luxus ist filr ihn nicht mehr anstößig, aber dennoch erst auf der Basis einer gesicherten Grundversorgung akzeptabel. Dann allerdings können Produktion und Vertrieb von Luxusgütern mehr zum Reichtum der Nation beitragen als die Landwirtschaft. Jene macht im 17. und 18.Jh. einen inneren Strukturwandel durch. Werden in der 'Utopia' Ackerbau und Schafzucht noch gegeneinander ausgespielt, so stellt die Landwirtschaft als Ganze im 'Wohlstand' einen Wirtschaftssektor unter anderen dar. Doch bei allen Veränderungen bleibt die Landwirtschaft der Grundstein der Volkswirtschaft. Bis in Adam Smiths Tage stand der Mensch bei aIIem Fortschritt im gewerblichen Sektor den Naturgewalten verhältnismäßig hilflos gegenüber. In einer Zeit wachsender Bevölkerung und vor der Erfindung chemischer Methoden zur Steigerung landwirtschaftlicher Erträge herrschte in Europa eine beständige latente Knappheit an Lebensmitteln. Bereits kleinste Ertragsschwankungen konnten bei dem gegebenen niedrigen Niveau der landwirtschaftlichen Produktivität Hungersnöte verursachen. "Ein Ertragsrückgang, der heutzutage vielleicht unerheblich schiene, mochte eine Katastrophe bedeuten, während ein uns als mäßig erscheinender Anstieg als unermeßlicher Segen angesehen werden

S Thomas Morus, Utopia, Stuttgart 1987, S. 30

6 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, München 1988, III.Buch, I.Kapitel, S.312 7 Morus, Utopia, 144

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konnte. flg Die Verfassung der Insel Utopia läßt sich zu einem guten Teil als Antwort auf diese latente Knappheit begreifen. Bereits im Ersten Buch der 'Utopia' wird im Rahmen einer Diskussion über Diebstahl und Strafe das dauernde dem Hunger-ausgeliefert-sein eines großen Teils der Bevölkerung schnell als Hauptgrund massenhaften Vagabundentums und Diebstahls erfaßt. Entsprechend ist eine der Haupterrungenschaften der utopischen Gesellschaft eine gesicherte Befriedigung der Grundbedürfnisse. "Denn gibt es einen größeren Reichtum als befreit von jeder Sorge, fröhlichen und ruhigen Herzens zu leben, ohne um seinen Lebensunterhalt zittern zu müssen ... ?"9 Ein sorgenfreies gesichertes Leben ftlr die gesamte Bevölkerung erscheint den Philosophen und Ökonomen des Merkantilismus im internationalen Wettlauf um Reichtum jedoch kaum erstrebenswert, ja oft geradezu hemmend. So verliert diese utopische Errungenschaft in der öffentlichen Diskussion an Relevanz und angesichts wachsenden nationalen Reichtums erscheint persönliche Armut zunehmend als vereinzeltes und selbst verschuldetes Übel. "Die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt, die in Zeiten der Bildung und Zivilisation herrschen, geben wenig Gelegenheit, die Verachtung der Gefahr und die Geduld im Ertragen von Mühe, Hunger und Schmerz zu üben. Armut kann leicht vermieden werden und das geduldige Ertragen der Armut hört deshalb beinahe auf, eine Tugend zu sein." 10 Man könnte meinen, Knappheit sei Ende des 18. Jh. kein Thema mehr und die Befriedigung der Grundbedürfnisse allgemein sichergestellt. Doch daran glaubt letztlich nicht einmal Adam Smith selbst. Nicht nur seine Überlegungen zu Wachstum und Rückgang der Arbeiterschaft setzen die Annahme von möglicher existentieller Knappheit in dieser Schicht voraus, im Falle seiner Verteidigung des Getreidehandels nehmen mögliche Hungersnöte eine zentrale Stellung in der Argumentation ein. Freier Getreidehandel, so die Rechnung, verteuere das Getreide bei schlechten Ernten rechtzeitig, so daß der Verbraucher zu rationellem Umgang gezwungen wird, während Regulierungen zwar anfangs eine Teuerung verhindern mögen, letztlich aber durch zu hohen Verbrauch in einer Hungersnot enden. II Das Gespenst des Hungers ist noch nicht endgültig ge-

g Aldo de Maddalena, Das ländliche Europa 1500-1750 in Cipolla/Borchardt, Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd.2, Stuttgart/New York, 1983, S.211 9 Moros, Utopia, 142 10 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefiihle, Hamburg 1985, V.Teil, 2.Kap., S. 349 11 Vgl. Smith, Wohlstand, IV,5, S.436-438

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bannt und so läßt sich die latente Knappheit zusammen mit der Abhängigkeit von der Landwirtschaft als epochenspezifisches Merkmal begreifen.

I. Ansätze und Ausgangspunkte Thomas More und Adam Smith und stellen beide Konzepte zur Verbesserung der Lage der Menschheit vor. Gemeinsam ist diesen die zentrale Stellung produktiver Arbeit und deren rationale Gestaltung. Beide Autoren verbinden sozialpolitische mit philosophischen Interessen und Kenntnissen, womit sie sich von vielen Autoren des Merkantilismus, die als Männer der Praxis oft weitgehend Sprachrohre einer bestimmten Lobby sind, ebenso unterscheiden wie von den rein akademischen Moralphilosophen beispielsweise in Cambridge. Ferner gelten beide Autoren als Pioniere einer je eigenen Literaturgattung: More als Vater der Utopie und Smith als Vater der wissenschaftlichen Nationalökonomie. Für diese auf den ersten Blick wenig kompatiblen Arten der Ideenvermittlung gilt es nun, eine gemeinsame Sprache, eine Verbindung zu fmden. Beide Male wird 'vernünftig' argumentiert; im 'Wohlstand' auf der Basis von Daten und Fakten, in der 'Utopia' wird die Vernunft gleichsam durch die utopische Linse gebrochen. Der Autor, Sir Thomas More, tritt hinter zwei literarischen Figuren, Morus und Raphael Hythlodaeus zurück, ohne letztlich seine eigene Position völlig offen zu legen. Im Folgenden wird daher, wenn es um die Darstellung 'utopischer' Gedanken geht, Raphael Hythlodaeus als deren Vertreter erscheinen. Er steht fiir eine Art von Vernunft, die gleich noch genauer charakterisiert werden wird. Morus stellt seinen literarischen Widerpart dar. 12 Um die Ansätze von More und Smith einander gegenüberzustellen, bedatf es jedoch zuerst eines kurzen Blickes auf ihre jeweilige historische Situation. "Ergießt sich doch ein Sturzbach gleichsam alles Guten und Bösen vom Fürsten auf alles Volk herab wie von einer nie versiegenden Quelle."13 Diese an sich nebensächliche Bemerkung der literarischen Figur Morus im Ersten Buch der 'Utopia' verweist auf einen bedeutenden zeitgeschichtlichen Hintergrund früher Utopien: die Macht eines absoluten Fürsten, der sich quasi als archimedischen Punkt der Gesellschaft begreift. Ohne diese Macht kann kein König Utopus Verfassungen erlassen, in denen sogar der Grundriß von Städten

12 Dies gilt für die gesamte vorliegende Abhandlung. Desgleichen steht 'Utopia' für das Werk; Utopia für die Insel. I3 Morus, Utopia, 21 f

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geregelt ist. Auf der anderen Seite steht eine 'displaced population', d.h. eine filr den Utopisten frei verrugbare Bevölkerung, die sich, ohne eigene überkommene Identität, ohne die Chance der Artikulaltion eines eigenen Interesses, frei nach dessen Geschmack organisieren läßt. "Der tugendhafte Bürger ist das Produkt des utopischen Staates und nicht dessen Vorbedingung; die anomische und versetzte Bevölkerung/anomic and displaced population ist kein Träger eines bedrohlichen sozialen Chaos, sondern ein weißes Blatt, das der Beschriftung durch den Utopisten harrt."14 In dieser Hinsicht hat sich die Situation in England 1776 radikal geändert. Die Monarchie ist in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt und zumindest ein Teil des Volkes artikuliert durchaus seine Interessen. Seit spätestens 1688/89, dem Ende der Epoche der Bürgerkriege und Revolutionen, ist in Großbritannien allgemein eine gewisse Utopiemüdigkeit festzustellen. Bereits am Ende des Interregnums erscheint eine ganze Reihe antiutopischer Satiren. Utopie wird gleichgesetzt mit Republik und die konservativen Satiriker raten, die Republikaner nach Utopien zu verschiffen: auf den Galeeren. 15 Die Zeit der großen Entwürfe ist vorbei; an die Stelle von Utopien treten Projekte, die zwar oft 'utopisch' anmuten, aber doch nicht im Vollsinn als Utopien gelten können. Zugleich entwickeln sich in Demographie (Gregory King, John Graunt) und politischer Arithmetik (William Petty) Instrumentarien zur quantitativen Erfassung der Gesellschaft. Die oft sehr kühne Art, mit der die Instrumente einer entstehenden Sozialwissenschaft gehandhabt werden, die Möglichkeit, mit einer auf Quantitäten reduzierten Bevölkerung scheinbar rationale Planspiele zu veranstalten, erinnert noch oft an utopische Setzungen. Andererseits bieten die neuen Methoden eine wichtige Voraussetzung, den Status quo zu erfassen und zu strukturieren. Adam Smith baut sein System kritisch auf dem Hintergrund und mit Hilfe von demographischen und statistischen Erkenntnissen auf. Da er in einer revolutionsmüden Gesellschaft Gehör finden will, muß er sich an eben jene "andere, mehr weltläufige Art von Philosophie" halten, welche die literarische Figur Morus der Radikalität Raphaels gegenüberstellt, einer Radikalität, die in der Welt wie sie ist zu recht auf stocktaube Ohren stieße. 16

14 James Holstun, A Rational Millenium, New York/Oxford, 1987, S. 43f; vgl. zur 'displaced population' auch ebd., 36 15 Vgl. Holstun, 269 16 Morus, Utopia, 49

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1. Der Ansatz der 'Utopia' Im Ersten Buch der 'Utopia' entwickelt sich aus einer Rahmengeschichte heraus zunächst eine strafrechtliche Diskussion: Ist es gerecht, daß Diebe gehenkt werden, die ihren Lebensunterhalt nicht anders als durch Diebstahl bestreiten können? Daraus ergibt sich die allgemeinere Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen, die es Menschen unmöglich machen, von ihrer Hände Arbeit zu leben, d.h. ihnen die Chance, die in der menschlichen Arbeit liegt, vorenthalten. Als Antwort auf diese und alle anderen Fragen präsentiert sich im Zweiten Buch die ideale Insel Utopia: "Nirgends ist das Volk tüchtiger, nirgends der Staat glücklicher als dort." 17 Der Status der idealen Insel

Um den Status dieser Insel und des Berichterstatters Raphael Hythlodaeus gibt es ausfiihrliche Diskussionen: Wieweit ist es tatsächlich ein 'Nirgendwo', das der 'Schwätzer' Hythlodaeus beschreibt? Was ist Ironie, was Insiderscherz der Humanistenszene, was Ernst? Alle Versuche, Scherz, Ernst und Ironie akribisch auseinanderzuhalten, setzen sich der Gefahr aus, dem Werk Gewalt anzutun. Um das zu vermeiden, soll hier der Zugang über den Autor und seine Zeit zum Werk gesucht werden. Alistair Fox beschreibt in seiner Biographie den jungen More als eine entgegen dem äußeren Anschein widerspruchsgeladene Persönlichkeit. "Weit entfernt von gelassener Heiterkeit, zeigen die frühen Werke vielmehr einen Sinn rur schwere Melancholie in More und lassen vermuten, daß ihn möglicherweise ein tragisches Gespür rur die offensichtliche Nichtigkeit, Ungerechtigkeit und Absurdität der Welt sehr beunruhigte, daß er das Opfer von Konflikten innerhalb seiner eigenen Persönlichkeit war und ziemlich unentschlossen, ob er über die Welt lachen oder weinen sollte, sie zurückweisen oder sich in sie stürzen."18 In einer Zeit, da Dekadenz und Wohlstand, Bußpredigten und Korruption gleichermaßen eine Blüte erleben, wird More vor allem von zwei Vorbildern geprägt: von Pico de Mirandola, dem Prediger, der sich letztlich gegen die korrupte Welt und in diesem Sinne rur das Weinen entscheidet und von Lukian, dessen Dialoge More zusammen mit Erasmus übersetzt und der über die Welt und ihre Widersprüche lachen kann. More entscheidet sich bekanntlich zunächst rur die Welt, und die literarische Figur Morus in der 'Utopia' steht näher bei Lukian, während das andere Gesicht

17 Ebd. 101 18 Alistair Fox, Thomas More - History and Providence, Yale 1982, S.9

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seines Selbst, die Komponente Pico de Mirandola, deutliche Spuren in Raphael Hythlodaeus hinterlassen hat. 19 "Die 'Utopia' enthält somit eine innere Doppeldeutigkeit. Sie zeigt weitgehend, was More filr wünschenswert hielt, selbst während er sah, daß bei dessen - niemals zu erreichender - Verwirklichung die Situation des Menschen hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Funktion im wesentlichen unverändert bleiben würde. ,,20 Hinter dem utopischen Staat steht die Einsicht, daß er in dieser Welt, bei all seiner Idealität, keinen Ort hat - wie der Name sagt. Nur flüchtet Raphael in kein Kloster, sondern auf eine Insel, wo er seine eindimensionale Rationalität und seine Kopf-durch-die-Wand-Mentalität bis ins Abstruse verfolgen kann. Die Eindimensionalität der utopischen Rationalität und Joseph Halls frühe satirische Kritik daran

Diese utopische Rationalität stellt sich dem Leser, hat er die Kröte der Gütergemeinschaft, als des Garanten einer gleichmäßigen Verteilung des gemeinsam erarbeiteten Reichtums erst einmal geschluckt, zunächst auch im alltags sprachlichen Sinn als recht vernünftig dar. So werden als landwirtschaftliche Zugtiere Ochsen statt Pferde genommen, da sie robuster und pflegeleichter sind "und zu guter letzt, wenn sie ausgedient haben, noch als Braten sich nützlich machen."21 Wenn die Utopier jedoch beginnen, ganze Wälder auszuroden und anderswo wieder einzupflanzen, nämlich des besseren Transportes wegen an Flüssen und am Meer, ohne dabei auf die Fruchtbarkeit des Bodens zu achten,22 kommen doch Zweifel an der Vernünftigkeit dieser Aktion auf. Die Vernunft der Utopier ist kompromißlos. Was einmal als vernünftig akzeptiert ist, wird ohne Rücksicht auf mögliche Fragen, die während des Umsetzungsprozesses auftreten können, gnadenlos bis zum Ende durchgefiihrt. Die utopische Rationalität neigt dazu, Dimensionen der Wirklichkeit, die ihrer grob gerasterten Weitsicht widersprechen, zu ignorieren. Sie läßt sich deshalb als eindimensional charakterisieren. 90 Jahre später hat Joseph Hall (1574-1656) in seiner Utopie-Satire 'Mundus alter et idem' die Eindimensionalität der utopischen Rationalität unterhaltsam bloßgestellt. Seine Pamphagonians, wahre Hohepriester der Völlerei, pflanzen

19 Vgl. ebd., 32 20 Ebd., 59 21 Morus, Utopia, 61 22 Ebd., 101

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nur Bäume, die Eßbares tragen und verabscheuen alle, die lediglich Schatten spenden und sonst unfruchtbar sind. 23 In Sachen Ressourcennutzung filhrt Hall die Ochsenrechnung mit utopischer Radikalität zu Ende. "Wenn einer dieser Aristokraten des Königreiches nun in der Folge übermäßigen Trinkens dahinscheiden sollte, wird er den Sklaven zum Verzehr auf einem jener heiligen Feste übergeben (da doch sein ganzer Körper eine Kombination aus den erlesensten Speisen ist), denn es ist ungesetzlich, einer solchen Delikatesse zu gestatten, im Grabe liegend zu verwesen"24 Für den Zeitgenossen ist dieser Delikatessenkannibalismus auch nicht abartiger als die Künste der Utopier in der Kriegruhrung, vom Aufruf zum Königsrnord und Verrat bis zum allgemeinen "Brauch, den Feind öffentlich auszubieten und zu verkaufen"25 - ganz gemäß dem Hall'schen Motto "Nothing if not in excess"26. Das gilt in jeder Hinsicht. So wie sich die Utopier gegenüber der Außenwelt konsequent jener zweifelhaften Methoden bedienen, welche sie den nicht von utopischer Vernunft und Moral Geleiteten fi.ir angemessen halten, treiben sie zur Festigung der Moral der Truppe ihre eigenen, positiv besetzten, Vorstellungen von Natur und Vernunft auf die Spitze. Die Krönung utopischer Kriegfiihrung streng nach Natur und Vernunft stellt das Aufstellen ganzer Familien in den Schlachtreihen dar, "damit die am nächsten beisammen sind zu gegenseitiger Hilfe, die von Natur den stärksten Antrieb haben, einander beizustehen. "27 Da diese Familien entweder komplett oder gar nicht aus dem Krieg zurückkommen, löst sich das Problem der Kriegsinvaliden, . -witwen und -waisen auf diese Art von selbst. Selbst die blutigen Gebräuche zeitgenössischer postritterlicher Kriegruhrung sind rur die aus utopischer Sicht freilich irrationale - Welt weniger widerlich als die hier aus Natur und Vernunft abgeleitete Methode. Der Umschlag ins Abstruse bedeutet aber keinesfalls, daß die 'Utopia' letztlich zur Resignation oder Passivität auffordern würde. "Die 'Utopia' als Ganze illustriert Mores Glauben, ... daß die leidige Unzulänglichkeit der menschlichen Natur selbst sowohl gesellschaftlich als auch individuell kreative Anstrengungen in Gang bringt bzw. bringen sollte, ihre eigenen Auswirkungen zu lin-

23 loseph Hall. Another World and yet the Same. Ed. lohn Miliar Wands, Yale 1981,22 24 Ebd., 29 25 Moros, Utopia, 119 26 Hall, 38 27 Morus, Utopia., 122f

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dern."28 Der Kampf von Anspruch und Wirklichkeit und die Versuchung einfacher Lösungen ziehen sich durch die gesamte Epoche. Nur wenige Autoren filhlen sich jedoch als Utopisten. Die meisten wähnen sich beidbeinig auf dem Boden der Tatsachen und halten ihre Konzepte und Ideen für streng vernünftige Deduktionen. Für die Vertreter der Wirtschaft gehört das zum Geschäft. Unter dem Einfluß des Puritanismus und der daraus hervorgehenden Moralität macht sich dazu oft eine Humorlosigkeit breit, welcher der Zugang zu More's Form der Utopie fehlt. James Harringtons 'Oceana' und die aus dem Kreis um Samuel Hartlib stammende Kurz-Utopie 'Macaria' sind literarisch kaum verkleidete Verfassungs- bzw. Gesellschaftsentwürfe, hinter denen die Autoren voll und ganz stehen. Daniel Defoes Projekte und Lehrbücher erheben gleichfalls den Anspruch rechtschaffener Vernünftigkeit. Dabei werden, wie kaum anders zu erwarten, die unterschiedlichsten Sichtweisen rur allein 'vernünftig' erklärt. All diesen Konzepten wird im Verlauf dieser Abhandlung immer wieder die Folie der utopischen Rationalität untergeigt werden; sie werden vor dem Hintergrund einer allzu vernünftigen Vision auftreten, deren Reiz, aber auch deren Ortlosigkeit in ihrer spezifischen Rationalität lagen. Die Gegenüberstellung utopischer und realer Gegebenheiten ist also stets als Vergleich von Ansprüchen bzw. von Anspruch und Wirklichkeit, niemals aber als Vergleich zweier gleichwertiger Realitäten zu sehen. Ebensowenig spiegeln die Lösungen der Utopier die Wertprämissen des Verfassers der vorliegenden Arbeit wider. Sie haben primär eine heuristische Funktion. als Kontrastmittel lassen sie die Konturen einzelner Konzepte schärfer zutage treten.

2. Der Ansatz des 'Wohlstandes der Nationen' Adam Smith ist gegenüber einfachen Lösungen vorsichtig. Er hat den Hang, "alle Erscheinungen aus sowenig Prinzipien als möglich zu erklären,"29 den er allen Menschen, insbesondere aber den Philosophen attestiert, erkannt und versucht ihm zu widerstehen. Er sieht seine Aufgabe primär in der Analyse; ein ausgebildeter Gegenentwurf gehört nicht zu seinem Konzept. Kein 'Schwätzer' erzählt von 'Nirgendwo'. Den Einstieg in die 'Untersuchung der Natur und der Gründe des Wohlstands der Nationen', wie das Werk in voller Länge heißt, bildet die allgemeine Feststellung: "Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen und angenehmen Dingen

28 Fox, 71 29 Smith, Theorie der ethischen GefUhle, VII. Teil, 2.Abschnitt, 2.Kap., S.499

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versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht."30 Die Aneignung der Wirklichkeit mittels Arbeit, Arbeit als vernunftgemäßes und vernünftig gestaltbares Mittel, sind mittlerweile selbstverständlich. Der 'Wohlstand' kann sich, aufbauend auf dieser Voraussetzung, mit der Optimierung des Wirkungsgrades von Arbeit befassen. Bei aller Bemühung um objektive Wissenschaftlichkeit steht auch hinter diesem Werk ein Ideal: das des freien Handels, d.h. des freien Austausches von Arbeit und Gütern. A.Smith selbst nennt dieses Ideal utopisch: "Auf der einen Seite ist es natürlich ebenso absurd, zu hoffen, Großbritannien werde jemals zum vollkommenen Freihandel zurückkehren, wie zu erwarten, es könne jemals ein Ozeanien oder Utopia errichtet werden. "31 Smith ist sich also wie More im Klaren darüber, daß der von ihm skizzierte Weg trotz seiner Vernünftigkeit von der Welt nicht ohne weiteres gegangen werden wird. Die Zerrissenheit Mores, die ihn seine literarische Form wählen ließ, ist Smith aber fremd. Sein Problem ist nicht, ob er angesichts der Welt lachen oder weinen soll; er ist ihr als Ganzer gegenüber optimistisch und braucht keine feme Insel als Rückzugsgebiet der Vernunft vor dem Egoismus und den Leidenschaften der Welt, da er von der Konvergenz der Einzelinteressen im Sinne des Allgemeinwohls ausgeht. Diese Annahme, rur die er auch das Bild der unsichtbaren Hand gebraucht, stellt gleichsam das geänderte Vorzeichen zur Verfassung der Insel Utopia dar. Der einzelne ist stets darauf bedacht, herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so vorteilhaft wie nur irgend möglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa den der Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu fUhrt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Land den meisten Nutzen bringt.32 Wäre dieses Prinzip tatsächlich uneingeschränkt wirksam, sähe Europa deutlich anders aus. De facto herrschen, unter dem Geist des Merkantilismus, Monopolgeist und kurzsichtige Kleinlichkeit. "Der unberechenbare Ehrgeiz von Königen und Ministern ... ist rur den Frieden in Europa nicht so verhängnisvoll gewesen wie die unverschämte Eifersucht von Kaufleuten und Unternehmern." Wenn es um Monopolgewinne geht, ist deren Interesse "dem des überwiegenden Teils der Bevölkerung genau entgegengesetzt."33 Die Interessensverhältnisse lassen sich also auf folgenden Nenner bringen: Wenn jeder Einzelne

30 Smith, Wohlstand, S.3 31 Ebd., IV,2, S.385 32 Ebd., 369 33 Ebd., IV,3/2, S.407

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seine Interessen - gemäß der Logik des freien Marktes, der selbst wiederum eingestanden utopisch ist - kennt und verfolgt, fördert er damit das Gemeinwohl. Sobald sich jedoch eine Gruppe zusammenschließt und ein Monopol bildet, stellt sich ihr Interesse dem allgemeinen entgegen. De facto wird England von solchen Gruppen beherrscht. Gerade das Vertrauen in dieses weitgehend außer kraft gesetzte Prinzip läßt A.Smith aber die Vermehrung des Wohlstandes über die Steigerung der Produktivität der Arbeit suchen statt über die Verteilung von Arbeit und Produkt, wie dies in der 'Utopia' geschieht. das Ideal der eine sichere Versorgung garantierenden Gütergemeinschaft wird durch das individuelle risiko freudige Streben nach Reichtum ersetzt. Damit hat sich das Hauptaugenmerk von der gerechten Verteilung auf die effektive Vergrößerung des Konsumfonds verlegt. Historisch vollzogen wird dieser Schritt nicht plötzlich und abrupt, sondern etappenweise mit Rückschritten und Widersprüchen über die gesamte zu behandelnde Epoche hinweg.

11. Von der utopischen Rationalität zum liberalen Effizienzdenken Der alle Bereiche des Lebens reglementierenden utopischen Rationalität läßt sich als Gegenpol das liberale Effizienzdenken gegenüberstellen, dessen vornehmliches Ziel es ist, den allgemeinen Konsumfonds zu vergrößern. Im Dienst einer schnellen und erfolgreichen Verwirklichung dieses Zieles ist die Wahl der Mittel dazu frei. Die Gegenüberstellung der utopischen Rationalität und des liberalen Effizienzdenkens zeigt nun einzelne Pole auf, zwischen denen sich das Arbeitsleben und der Stellenwert der Arbeit im 17. und 18.Jh. bewegen. Die Konturen der Epoche werden deutlicher und Bezugspunkte fUr das weitere Vorgehen gesetzt. Natürliches Bedürfnis undfreier Konsument

Das liberale Effizienzdenken gesteht dem Prozeß des Fortschritts eine eigene Vernünftigkeit zu, die durch engmaschige Regelwerke nur ihrer Kraft beraubt würde. Größtmögliche Freiheit im Wirtschaftsleben stellt, von dieser Warte aus betrachtet, das beste Mittel gegen jeglichen Mangel und die negativen Folgen des Monopolgeistes dar. Das maßgebende Interesse ist das des Konsumenten. "Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion, daher sollte man die Interessen des Produzenten eigentlich nur soweit beachten, wie es erforderlich sein mag, um das Wohl des Konsumenten zu tOrdern."34 Dies ist na-

34 Ebd., IV,8, S.558

11. Von der utopischen Rationalität zum liberalen Effizienzdenken

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heliegend, da alle Mitglieder der Gesellschaft zu ihrer Selbsterhaltung Güter konsumieren müssen. So gesehen ist das Interesse des Konsumenten das allgemeinste. Der Konsument wird dabei nicht weiter spezifiziert. Er kann selbst un-, ja kontraproduktiv sein. Welches Bedürfnis er befriedigt und was er konsumiert, hängt allein von seiner Fähigkeit ab, dafUr zu bezahlen. Ganz anders die utopische Rationalität. Sie begnügt sich nicht damit, vorhandene oder gar neu zu weckende Bedürfnisse der Menschen nur effizient zu befriedigen; sie gestaltet die Bedürfnisstruktur des Menschen selbst. J.C.Davis hat zwar recht, wenn er schreibt, die Utopie idealisiere nicht den Menschen, sondern die Institution35 ; die Utopier haben jedoch die Grundsätze ihres Staates derart verinnerlicht, daß sie von selbst "verkehrte und ruchlose Begierden", unter die in etwa alles flillt, was sich der Zeitgenosse unter Pracht und Ehre vorstellt36, unterscheiden von echtem und natürlichem Vergnügen. Um sich dieses zu verschaffen, genügen 6 Stunden Arbeit täglich, verteilt auf alle Mitglieder der Gesellschaft. 37 Durch das Wegfallen aller "nutzlosen" Gewerbe bleiben reichlich Arbeitskräfte rur die Produktion des Notwendigen. Die utopischen Gewerbe reduzieren sich auf Tuchmacher, Leinenweber, Maurer, Schmiede, Schlosser und Zimmerer. 38 Für eine Zeit, die sich durch eine weitgehende Spezifizierung der Handwerke auszeichnet, ist das beachtlich, jedoch nur konsequent, wenn von jemandem, der sich gegen die Welt entschieden hat, von vornherein bestimmt wird, welches Bedürfnis natürlich und damit legitim ist und weIches nicht. Vernunft und Brauch

In einer historisch konkreten Gesellschaft lassen sich natürliche und wahre Bedürfnisse nicht einfach von oben herab definieren. Vielmehr bilden sich Bedürfnisstrukturen langfristig durch Manipulation und Gewohnheit. Der wahre Widerpart der Utopie ist nach James Holstun deshalb der Brauch, die Sitte. 39

35 V gl. J.C.Davis, Utopia and the Ideal Society, Cambridge u.a., 1981, S.38 36 Vgl. Morus, Utopia, 93f Als Beispiele fUhrt Hythlodaeus u.a. vornehme Kleidung, besondere Ehrbezeigungen, Edelsteine und die Jagd an. 37 Vgl. ebd., 69f 38 Vgl. ebd., 66 39 Holstun, 74. Smith widmet dem 'Einfluß des Brauches und der Mode auf die ethischen Gefiihle' ein ganzes Kapitel in der 'Theorie der ethischen Gefiihle' Obwohl einzelne Gebräuche durchaus abscheulich sein können, so das Ergeb-

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A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' - Die Klammer um die Epoche

Dieses Muster an vorhandenen Gewohnheiten, von der utopischen Rationalität ignoriert bzw. als irrational einfach hinweggefegt, wird im englischen liberalen Denken nicht nur als Faktum zur Kenntnis genommen, sondern zunehmend zur Nonn, ja zur Natur. Im Unterschied zu Frankreich sind 'custom', 'habit' und 'belief im England des 18.Jh. nach-revolutionär und post-katholisch; säkularisierter common sense. Bacons 'Vier Vorurteile'40 stehen vor ihrer Revolution wie Rousseaus Kritik der Welt und ihrer Vorurteile vor der ihrigen. 41 Nach der Revolution steht in England ein weitgehend desillusionierter common sense. Die Einstellung zum Prinzip Gewohnheit dreht sich binnen 150 Jahren um hundertachzig Grad. Für Francis Bacon (1561-1626)ist Gewohnheit noch synonym mit Vorurteil. "Bis jetzt hat noch niemand Mut und Ausdauer genug besessen, alle Systeme und hergebrachten Ansichten ganz und gar von sich zu werfen und mit ruhigem, besonnenem Geiste Alles von vom an wie auf eine leere Tafel wieder aufzutragen. So ist denn unsere gegenwärtige Kenntnis ein Gemenge aus blindem Glauben, ungeprüftem Zufalle und aus kindischen, frühreifen Begriffen."42 Von diesem baconischen Ethos des Neuanfanges ist anderthalb Jahrhunderte später nichts mehr zu spüren. David Hume (1711-1776), wohl kaum eines dumpfen Opportunismus verdächtig, greift, um im täglichen Leben handlungsfähig zu sein, wieder auf Brauch und Gewohnheit zurück. "So ist denn die Gewohnheit die große Führerin im Menschenleben. Dieses Prinzip ist es allein, das unsere Erfahrung fiir uns nützlich macht... ,,43 1764, ein Jahr nachdem er A.Smith auf den Lehrstuhl fiir Moralphilosophie in Glasgow nachgefolgt ist, unterstellt Thomas Reid (1710-1796) die Vernunft endgültig dem common sense. Wenn sie nicht seine Dienerin sein will, wird sie

nis, lassen sich die ethischen Geruhle nicht wie der Geschmack korrumpieren. Eine derartige Gesellschaft wäre nicht lebensfähig. VgI.S.341-359 40 Bacon nennt sie Vorurteile der Gattung, des Standpunktes, der Gesellschaft und der Bühne. Vgl. Francis Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, Darmstadt, 1990, I.Buch, 39. Aphorismus und folgende. 41 Zu Rousseaus Kritik der Vorurteile der Welt vgl. 1.1. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderbom, 1989, u.a. S.251. Entsprechend schreiben Bacon und Rousseau, wie auch der vor-revolutionäre Diderot Utopien, während ihre z.T. sogar älteren 'Kollegen' Aufklärer Hobbes, Locke und Hume sich von dieser literarischen Gattung weitgehend distanzieren. 42 Bacon, Neues Organon, I, Aph.97 43 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1982. S.64

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seine Sklavin sein. 44 Die Philosophie muß die Grundsätze des 'common life' anerkennen, will sie nicht lächerlich werden und alle Menschen zu Yahoos machen. 45 Noch im Zeitalter der Aufklärung werden also der Vernunft ihre Grenzen aufgezeigt. Gerade Humes Verweis auf die alltägliche Handlungsflihigkeit läßt erwarten, daß Arbeit und hehre Vernunft nicht immer gemeinsam anzutreffen sein werden, daß Brauch und Überkommenes im Arbeitsleben trotz allen Fortschritts weiterhin ihre Rolle spielen. Zugleich erscheint die Vernunft zunehmend im bereits erwähnten Gewand des Eigeninteresses, welches, lange Zeit als Laster abgetan, nun zur geschichtstreibenden Kraft wird. 46 Common Sense und Eigeninteresse verbinden sich zu einem rationalen Eigeninteresse, an das sich genauso appellieren läßt wie an die Vernunft selbst. Eine kompakte Darstellung dessen, was Mitte des 18.Jh. unter Eigeninreresse verstanden wird, gibt David Hartley (1705-1757), ein Mediziner, der sich durch den erstmaligen Versuch, Newtons Prinzipien umfassend auf die menschliche Wahrnehmung und Psyche anzuwenden, einen Namen machte. Diese beruflichen und methodischen Voraussetzungen verleihen seinen Ausfiihrungen ein besonders objektives Gepräge. Interesse erscheint als Objekt einer exakten Wissenschaft, deren Ausrichtung aber letztlich eine moralische bleibt. Hartley unterscheidet4 7 zwischen grobem Eigeninteressel gross self interest, welches sich v.a. in der Liebe zum Geld äußert, verfeinertem Selbstinteressel refined self interest, welches nach den Freuden! pleasures aus Sympathie, Religion und Moral Sense strebt und rationalem Selbstinteressel rational self interest als dem abstrakten Verlangen nach Glück auch im Jenseits. Und "es bedarf keines Beweises, daß rationales Selbstinteressel rational self interest und Gehorsam gegen den Willen Gottes dasselbe sind."48 Hartley glaubt an einen Fortschritt hin zu diesem rationalem Eigeninteresse. Am Ende der (Heils-) Geschichte steht freilich die 'Self-Annihilation' und Auflösung in Gott, der Alles-in-Allem ist. Die Stufen des Interesses sind zu überwinden, aber notwendig und insofern nicht von vornherein verwerflich. Als Folge dieser Entwicklung kann A.Smith zwischen der "Lehre der Vernunft und Philosophie" und der "Lehre der Natur", der Natur der faktischen 44 Thomas Reid, An Inquiry into the Human Mind, Chicago, 1970, S.78 45 Vgl. ebd., 16. 46 Vgl. zu diesem Thema Joyce O. Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth Century England, Pronceton, 1978. 47 David Hartley, Observations on Man, his Frame, his Duty and his Expectations, Hg. Th.L.Huguelet, GainsvillelFlorida, 1966, Part I,IV,3,§96 48 Ebd., Part II,I,§ 12 3 Präuer

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Gegebenheit, differenzieren.49 Infolgedessen werden die Bedürfuisse des Menschen nicht mehr von übergeordneter reglementiert, sondern es geht nur mehr darum, sie möglichst effizient zu befriedigen: die Steigerung der Produktivität durch Arbeitsteilung. Wo die utopische Rationalität 'verkehrte Begierden' sieht, konstatiert der liberale Denker wertfrei die Wirtschaftskraft der Affekte,50 die, um ökonomisch funktionalisiert zu werden, selbst nicht einmal vernünftig sein müssen. Die Vernunft erkennt die irrationale Welt der Affekte nicht nur an, sie benutzt sie auch. Insofern hat sie durch den Verzicht auf den Anspruch alleiniger Gültigkeit an Souveränität gewonnen. Kontrolle und Markt

"Ohne die zentrale Koordination der Arbeit und die Kontrolle über die Disziplin, Moral und Bedürfuisse der Bevölkerung, ohne die Androhung und Durchfilhrung von Sanktionen bei Normverletzungen versänke 'Utopia' beim gegebenen Stand der Entfaltung der Produktivkräfte im Chaos. "51 Das Prinzip Kontrolle beherrscht die gesamte utopische Gesellschaft und seine Durchsetzung ist die Hauptaufgabe der Obrigkeit. "Das wichtigste und beinahe einzige Geschäft der Syphogranten ist, dafiir zu sorgen und Maßregeln zu treffen, daß keiner müßig herumsitzt, sondern jeder fleißig sein Gewerbe treibt" - im Rahmen des 6-Stunden Tages. 52 Durch die verordnete Regelung der Bedürfuisse wird Kontrolle nicht nur im Bereich der Produktion und Arbeitszeit, sondern auch in dem der Konsumtion und Freizeit notwendig. Auf der ganzen Insel gibt es "nirgends eine Möglichkeit zum Müßiggang, keinen Vorwand zum Faulenzen. Keine Weinschenke, kein Bierhaus, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Spelunken, kein heimliches Zusammenhocken, sondern überall sieht die Öffentlichkeit dem einzelnen zu und zwingt ihn zu der gewohnten Arbeit und zur Ehrbarkeit beim Vergnügen."53

49 Smith, Theorie der ethischen Gefühle, I.Teil, 3.Abschn., Kap.2, S.75. Zum Begriffsfeld Mensch - Natur - Arbeit, zu dem auch die Natur des Menschen gehört, vgl. unten, Kap. D dieser Abhandlung. 50 Vgl.ebd., VII.Teil, 2.Abschn., Kap.4, S.52l 51 Saage,68

52 Morus, Utopia, 67 Syphogranten bzw. Phylarchen heißen die Obrigkeiten auf Utopia. Sie werden jährlich von je dreißig Haushalten gewählt, sind die Quelle der politischen Gewalt und zugleich Ordnungshüter, vgl. ebd., 65f 53 Ebd., 80

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Dem Prinzip Kontrolle läßt sich das des Marktes gegenüberstellen. Das wesentliche Anliegen des 'Wohlstands' ist die Deregulierung des Wirtschaftslebens. "Grundsätzlich kann man sagen, je freier und umfassender der Wettbewerb ist, umso mehr Vorteile hat die Öffentlichkeit von jedem Gewerbe oder von jeder Arbeitsteilung. ,,54 Der Staat ist mit der "Aufgabe, den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die fiir das Land am nützlichsten sind" schlichtweg überfordert. 55 Am sensiblen Beispiel des Getreidehandels versucht A.Smith aufzuzeigen, daß staatliche Regulierungen der Wirtschaftstätigkeit, in diesem Fall ein zeitweiliges Verbot des Getreidehandels, nicht nur "ganz offensichtlich ein Eingriff in die natürliche Freiheit und daher unrecht", sondern zudem geradezu kontraproduktiv sind: durch die Verhinderung der Arbeitsteilung zwischen Händler und Landwirt müssen beide unter ihrer maximal möglichen Effizienz bleiben. 56 Im Bereich von Freizeit und Konsum hat der liberale Staat die Privatsphäre des Bürgers absolut zu respektieren. Zu den Grundsätzen des merkantilen Systems, die Adam Smith über Bord geworfen hat, gehört auch jener, einheimische Güter zu kaufen und ausländische zu meiden, um die Handelsbilanz des Landes positiv zu gestalten. Smith ist ein erklärter Gegner der Zölle und Prämien, die zu diesem Ergebnis fuhren sollen. Verfügbarkeit und Mobilität

Die Anforderungen an die Mobilität der Arbeitskraft richten sich nach der primären Wirtschaftsweise und dem organisatorischen Ansatz einer Volkswirtschaft. Landwirtschaftliche Arbeit, wie sie die gesamte Epoche prägt, ist saisonabhängig. Auf Utopia wird dem Rechnung getragen durch eine zweijährige Arbeitspflicht jedes Bürgers in der Landwirtschaft, so daß sowohl die harte Arbeit gleichmäßig verteilt als auch die wenigen bekannten landwirtschaftlichen Techniken von allen Bürgern erlernt werden. Das genuin Utopische ist die gerechte Verteilung der Arbeit, nicht die Steigerung der Effizienz einzelner Arbeitsschritte. "Wenn die Ernte bevorsteht, melden die Phylarchen der Ackerbauer den städtischen Behörden, wieviele Bürger ihnen zugeschickt werden sollen. Diese Anzahl trifft dann am bestimmten Tage rechtzeitig als Erntehelfer ein, und so wird bei schönem Wetter so ziemlich an einem Tage die ganze Ernte

Smith, Wohlstand, 11,2, S.272 Ebd., IV,9, S.582 56 Ebd., IV,5, S.442 54 55

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eingebracht. oo57 Einer möglichen Knappheit bei natürlichen Unbilden wird dadurch radikal vorgebeugt. Ansatzpunkt bleibt die Organisation des Gesamtablaufes, nicht die technische Verfeinerung einzelner Arbeitsschritte. Die Obrigkeit als Verkörperung der utopischen Rationalität disponiert frei mit der Arbeitskraft des Volkes in der Auseinandersetzung mit der Natur. Um diese Disponibilität zu sichern und die Kontrolle über den Lebenswandel zu bewerkstelligen, wird die persönliche Freizügigkeit des Einzelnen eingeschränkt. Von seiner Scholle darf er sich nur mit 'Urlaubsschein' entfernen - bei Strafe der Sklaverei im Falle wiederholter Mißachtung dieser Regel. 58 Die Angst vor einem ausufernden Vagabundentum ist fi1r das 16.Jh. allgemein typisch und hat sich in Form des Act of Settlement in mehreren Stufen gesetzlich niedergeschlagen. 59 Ein demographischer Ausgleich zwischen den einzelnen ländlichen Familien fand bis ins 18.Jh. durch das Eingehen von Dienstverhältnissen Jugendlicher statt, wodurch sich Esser und Arbeitskräfte einigermaßen gleichmäßig verteilen ließen. Der Brauch, als 'Servant' sich in landwirtschaftliche Dienste zu geben, umfaßte tendenziell alle ländlichen Schichten. 60 Neuere Untersuchungen versuchen zu zeigen, daß die damalige Armengesetzgebung diese Mobilität, die in der Regel nur einen Kreis von nicht mehr als 20 Meilen umfaßte, nicht wesentlich behinderte. 61 Typisch utopisch ist die obrigkeitliche Organisation dieses Brauches bis zur letzten Konsequenz. Zuerst wird der Bevölkerungsüberschuß einzelner Familien, dann der von Städten untereinander und zuletzt der der ganzen Insel durch Kolonisation ausgegelichen. 62 Menschen werden mit derselben Selbstverständlichkeit verpflanzt wie Bäume. A.Smith setzt bei aller Anerkennung der Rolle der Landwirtschaft doch andere Schwerpunkte. Er hat endgültig von allen Vorstellungen Abschied genommen, man könnte die - schon 1515 nicht mehr intakten - überkommenen ländlichen Strukturen mit Gesetzen neu beleben. Seine klassische Kritik an Ar-

57 Morus, Utopia, 61 58 Ebd., 79

59 Zur Annengesetzgebung in England vgl. Sir Frederic Morton Eden, The State of

the Poor , London, 1966. Eden druckt in einem ausfiihrlichen Anhang sämtliche Gesetzestexte. 60 Ann Kussmaul, Servants in Husbandry in Early Modern England, Cambridge 1981, S.9 61 Ebd.,149 62 Morus, Utopia, 73

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mengesetzen und Niederlassungsbestimmungen ist aus der Sicht des gewerblichen Arbeiters bzw. Arbeitgebers geschrieben. Fortschreitende Arbeitsteilung läßt sowohl die Beschränkungen der Mobilität zwischen den Gewerben, an welchen die Zünfte immer noch festhalten, als auch die Beschränkungen der räumlichen Mobilität der Arbeitskräfte als Fortschritt und Wachstum hemmende Anachronismen erscheinen. "Dabei sind in verschiedenen Manufacturen die Arbeitsverrichtungen einander so ähnlich, daß die Arbeiter ohne weiteres das Gewerbe wechseln könnten, wenn nicht solch absurde Gesetze sie daran hindern würden. ,,63 Die Freizügigkeit des Arbeiters liegt in dessen eigenem Interesse wie im Interesse des Kapitaleigners, da sie zugleich Voraussetzung eines freien Kapitalverkehrs ist. "Alles, was den freien Arbeitswechsel von Gewerbe zu Gewerbe behindert, schränkt auch den freien Kapitalverkehr ein, denn wieviel Kapital man in einer Branche einsetzen kann, hängt weitgehend davon ab, wieviele Arbeitskräfte dort zur Verfilgung stehen.,,64 Damit das Prinzip Markt helfen kann, die Bedürfnisbefriedigung zu optimieren, muß an die Stelle eines disponierenden Staates die Freizügigkeit des Einzelnen treten. Vermögen und Kapital

Das Kapital, von A.Smith klassisch definiert als Vermögen, aus dessen Verwendung der Besitzer ein Einkommen erwartet65 , ist der auf Gemeineigentum und Geldlosigkeit aufgebauten utopischen Gesellschaft notwendig fremd. Um Gewinn zu erzielen, muß das Kapital möglichst schnell zirkulieren. Das Interesse des Kapitaleigners sorgt dafilr, daß Kapital auch Kapital bleibt, d.h., daß er es nicht als Konsumfonds mißbraucht, da es nur aus dem Umlauf am Markt mit Gewinn zurückkommen kann. 66 Damit löst sich das Problem der Verteilung von Arbeit und Produkt, das Raphael noch zu engagierten Ausbrüchen brachte gegen "die Zahl der Edelleute, die selber müßig wie die Drohnen von anderer Leute Arbeit leben" und einen "Schwarm tagediebender Trabanten" um sich scharen,67 sowie gegen den Prasser als wahren "Fluch seines Landes"68, ten-

63 Smith, Wohlstand, 1,10/2, S.118 64 Ebd. 65 Ebd., II,Einl., S.227f Die Verwendung von Geld als Kapital ist freilich nicht erst Smiths Erfindung. "Geld ist Kapital. Das war der entscheidende Schritt des frühen Merkantilismus." Smith gab dem Kapital jedoch seinen Begriff. 66 Vgl. ebd., 11,3, S.279 Zum Verhältnis von Geld und Kapital vgl. unten, Kap. C.V 67 Morus, Utopia, 25

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A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' - Die Klammer um die Epoche

denziell von selbst, ohne daß es direkter obrigkeitlicher Eingriffe bedürfte. Zwar würde ein Volk von Verschwendern zweifelos ann werden, doch vertraut Smith auf die sparsamen und produktiven Kräfte des Landes, an denen es ist, von der Verschwendung der Müßigen zu profitieren. 69 In den Händen der Fleißigen wird das Vennögen zu Kapital und als solches selbst zum Mittel effizienter Bedürfnisbefriedigung. Was der utopischen Rationalität absolut widerspricht, wird zum Schlüssel der effizienten Produktion: die Teilung der Gesellschaft in Arbeitende und Kapitaleigner, wobei der Kapitalgewinn ebenso wie die Grundrente nicht als Entgelt rur eine Arbeitsleistung gesehen werden. 70 Die Ansammlung von Vennögen und der Einsatz desselben als Kapital, mit dessen Hilfe aus der Lohnarbeit anderer Mehrwert gewonnen und der Grundstein fiir eine wachsende Wirtschaft gelegt wird, sind die Bedingung der Möglichkeit, daß der Anteil des Verschwenders am Gesamtvennögen sinkt. Arbeit wird zur Chance auf Ungleichheit und muß sich auf einem Markt selbst organisieren. Auf Utopia bezeichnet der Markt lediglich den Warenumschlagplatz. Gedanken an Zirkulation und Umsatz sind diesem Markt ebenso fremd wie das Geld. Produktionsüberschüsse werden zunächst als Vorrat aufbewahrt und erst dann exportiert, ohne daß diesem Export eine besondere Rolle im Wirtschaftsleben zukäme. 71 Dahinter steht nicht zuletzt ein Autarkie-Ideal, das im tiefen Mißtrauen der utopischen Rationalität gegenüber den noch von Brauch und Gewohnheit regierten Nachbarn wurzelt. Bedürfnisbefriedigung, das der 'Utopia' und dem 'Wohlstand' gemeinsame Ziel, erhält so zwei Gesichter. Der utopischen Bevorratungspolitik zur Sicherung der Grundbedürfnisse steht die gewinnorientierte Reinvestition des dynamischen Unternehmers gegenüber. "Bringt es ein selbständiger Handwerker, etwa ein Weber oder ein Schuster, zu mehr Kapital, als er braucht, um das nötige Arbeitsmaterial zu kaufen und seinen Lebensunterhalt so lange zu bestreiten,

68 Ebd., 28 69 8mith fuhrt das Ende der Macht der Barone und des hohen Klerus auf das geschickte Ausnutzen der Konsumfreude der Vermögenden durch die Fleißigen zurück. vgl. Wohlstand, V, 1/3,3, 8.683 70 8mith, Wohlstand, 1,6, 8.43 71 Daß das auf diese Weise gewonnene Edelmetall später als Kriegsschatz von entscheidender Bedeutung ist, hat keinen Einfluß auf die ökonomischen Überlegungen. Geld und Krieg gehören gleicherweise unter die Kategorie 'schmutzige Geschäfte', die man möglichst nicht auf der Insel haben möchte. Entsprechend finanziert das im Außenhandel gewonnene Geld auch den Krieg auf fremdem Boden mit fremden Truppen; vgl. Utopia, ll9ff

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bis er seine Waren verkaufen kann, so wird er natürlich den Überschuß dazu verwenden, den einen oder anderen Gesellen einzustellen, um aus dessen Arbeit Gewinn zu ziehen. Erhöht sich der Überschuß, so wird er natürlich mehrere Gesellen beschäftigen.'072 Wo niemand einen absoluten Rahmen festlegt, ist dieser als natürlich defmierten und damit nicht mehr hinterfragbaren Dynamik keine Grenze gesetzt. Perfektion und Dynamik

Der Perfektion der Utopie tritt eine dynamische Geschichte und der Glaube an einen dauernden Fortschritt gegenüber. Das Ziel der Utopier kann nur die Erhaltung ihres Standards sein, nicht die Verbesserung ihrer Lebenssituation. Das Streben gerade danach ist aber die Mutter des Fortschritts. "Das gleichmäßige, fortwährende und ununterbrochene Streben der Menschen nach besseren Lebensbedingungen, Ursache und Quelle des öffentlichen und nationalen wie des privaten Wohlstands, ist durchweg mächtig genug, trotz Unmäßigkeit der Regierung und größter Fehlentscheidungen in der Verwaltung den natürlichen Fortschritt zum Besseren hin aufrecht zu erhalten."73 Fortschritt als Prozeß bedeutet kontinuierliche Veränderung, was in einem als perfekt defmierten System nicht möglich ist. Dementsprechend setzt Smith auf das - den Utopiern äußerst suspekte - Streben der Einzelnen gegen die - den Utopiern die Idealität garantierende und erhaltende - Staatsrnacht, welche fiir Smith die Rolle der Verkörperung reiner Vernunft längst verloren hat. Dieser Fortschritt wird erreicht durch Wachstum, d.h. Erhöhung der Produktivität mittels Arbeitsteilung und Kapitalisierung des Produktionsprozesses,?4 Grundlage dieses Wachstums wie der Vorratshaltung ist eine über die reine Subsistenz hinausgehende Produktivität, die erst den Gewinn des Kapitaleigners ermöglicht. "In einem entwickelten Land ... wird der Jahresertrag aus seiner Arbeit stets ausreichen, um eine viel größere Menge Arbeit zu kaufen oder über sie zu verfUgen, als die, welche eingesetzt wurde, um die Produkte anzubauen, zu be- und verarbeiten und auf den Markt zu bringen."75 Da sich der Kapitalbesitzer vom erneuten Einsatz des Kapitals wie des Gewinnes wiederum Gewinn erhofft, wird er seine Kapazitäten ausbauen und somit die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhen, was nach den

72 Smith, Wohlstand, 1,8, S.60 73 Ebd., 11,3, S.283 74 Vgl. ebd. 75 Ebd., 1,6, S.48

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Regeln des Marktes zu höheren Löhnen und damit zur verbesserten Bedürfnisbefriedigung der Arbeiter fUhrt. Das gesellschaftliche Überschußpotential gründet in dem des Arbeiters selbst. "Jeder Arbeiter kann über eine große Menge seiner Arbeit verfUgen, die über das hinausgeht, was er zum eigenen Lebensunterhalt braucht. "76 Er kann dieses Potential nun entweder als Freizeit oder zur selbständigen Produktion von Gütern nutzen oder es eben in den Dienst eines Kapitaleigners stellen, der es in einem kapitalisierten Produktionsprozeß effektiver als der Arbeiter selbst und damit im Dienste des Wachstums einsetzen kann. Der Schlüssel zur Effizienz ist die Arbeitsteilung. "Gewöhnlich trödelt man ein wenig beim Übergang von einer Arbeit zur anderen, zudem beginnt man eine neue Tätigkeit kaum mit großer Lust und Hingabe, ist noch nicht ganz bei der Sache, wie man zu sagen pflegt, und vertut einige Zeit mit Nebensächlichem, anstatt ernsthaft zu arbeiten ... 77 Zu den Errungenschaften des Manufakturwesens gehört unter anderem die Abstellung dieses Übelstandes durch die Koordinierung und Zentralisation der Produktion. Kaum ein utopischer Syphogrant wäre in der Lage, die Einhaltung der Arbeitspflicht so genau zu überwachen wie das Manufakturwesen. Zu den Folgen dieses Fortschritts zählen insbesondere die relative Verbilligung gewerblicher, d.h. verarbeiteter Produkte und die relative Verteuerung von Rohprodukten des Bodens. 78 Und das heißt nichts anderes, als daß die Befriedigung immer verfeinerterer Bedürfnisse fUr immer mehr Menschen möglich wird. Auf A.Smiths nicht ganz einheitliche Haltung gegenüber der gesicherten Befriedigung der Grundbedürfnisse wurde am Anfang des Kapitels verwiesen. Die Wurzeln seines Optimismus liegen im gewerblichen Sektor, denn vor allem dort können Arbeitsteilung und Kapitaleinsatz Wachstum bringen. Hüte und Stecknadeln sind durch menschliche Arbeit leichter vermehrbar als Getreide oder Kartoffeln. Die ganze Logik von Wachstum und Fortschritt ist der glücklichsten aller Inseln fremd. Die Utopier sind "ein gewandtes, witziges und regsames Völkchen, das sich seiner Muße freut, in körperlicher Arbeit, wenn nötig, genügend Ausdauer zeigt, sonst aber nicht mehr als vernünftig danach verlangt, dagegen unermüdlich ist in geistigen Interessen."79 Ein Utopier würde diese Muße niemals

76 Ebd., I, I, S.14 77 Ebd., 13

78 Vgl. ebd., 1,1113, S.205f 79 Morus, Utopia, 102

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gegen Produkte aus seiner Ansicht nach unnützen Gewerben tauschen. Das Ziel der utopischen Wirtschaftsordnung liegt außerhalb dieser selbst. "Denn die Behörden beschäftigen die Bürger nicht gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit, da die Wirtschaftsverfassung dieses Staates vielmehr in erster Linie das eine Ziel vor Augen hat, soweit es die notwendigen Ansprüche des Staates erlauben, filr alle Bürger möglichst viel Zeit frei zu machen von der Knechtschaft des Leibes filr die freie Pflege geistiger Bedürfnisse. Denn darin glauben sie, liege das wahre Glück des Lebens. "80 Die Produktion im Dienste des Konsumenten hat hier ein anderes Gesicht. Auf Utopia ist das Interesse des 'Konsumenten' geistiger Güter vorrangig. Der aber ist identisch mit dem Produzenten der Mittel zur materiellen Bedürfnisbefriedigung - und diese sind genormt, natürlich und ohne Dynamik. Wie sehr Arbeit über die definierten Grenzen hinaus der utopischen Rationalität widerspricht, zeigt sich an den Personengruppen, filr die der 6-Stunden Tag nicht gilt: die Sklaven81 und die Mitglieder einer Arbeitssekte. Diese verzichten auf alle Muße, rackern beständig und leben zum Teil ehelos, ohne sich jedoch selbst zum Maßstab filr andere aufzuschwingen. "Würden diese ihre Bevorzugung des Zölibats vor der Ehe und der Strapazen vor den Annehmlichkeiten des Lebens auf VernunftgrUnde stützen, so würde man sie auslachen; so aber, da sie religiöse Motive angeben, begegnet man ihnen mit Hochachtung und Verehrung."82 Auf Fortschritt oder Dynamik ist aber auch deren Arbeit nicht gerichtet. Haus und Weltmarkt

Der perfekten Insel und der dynamischen Wirtschaftsmacht entsprechen schließlich unterschiedliche Räume und Horizonte. Die erste historische Tat der Utopier ist die Abtrennung ihrer Insel vom Festland. 83 Die gesellschaftliche Struktur ist patriarchalisch geprägt; Familienvorstände bestimmen das politische Geschehen. 84 Güter werden - gleicherweise filrsorglich wie autoritär - verwaltet statt gewinnbringend vermarktet. "So bildet das ganze Inselreich gleichsam eine

80 Ebd., 72 81 Vgl. zur Sklaverei allg. Kap. C.X.2 82 Morus, Utopia, 134 83 Ebd., 59 84 Ebd., 60, 65 bzw.74

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A. Von der 'Utopia' zum 'Wohlstand' - Die Klammer um die Epoche

Familie.,,85 Die Familie als Fonn entspricht der utopischen Rationalität durch ihre natürliche Unmittelbarkeit. Sie wird dadurch ebenso unhinterfragbar wie die als natürlich defmierten Bedürfuisse. Nach außen zeigt sie denselben Hang zur Ausschließlichkeit; nach innen ist sie geprägt von absoluter sozialer Kontrolle. Die Gestaltung des gesamten Lebens, Arbeit, Essen, Muße, wird in einen geschlossenen moralischen Raum gestellt. Der 'Wohlstand der Nationen' geht, wie der Titel schon sagt, von einem modemen Nationalstaat aus. Ein wesentliches Anliegen ist ihm gerade der Kampf gegen jegliche 'väterliche' Bevonnundung der Bürger von Seiten des Staates, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Nach außen hin soll sich der Staat nicht abschotten, sondern die Möglichkeiten bieten, an einem weltweiten Güteraustausch teilzunehmen. Im Gegensatz zum merkantilistischen Grundtenor sieht A.Smith Fortschritte in Ackerbau, Handel und Gewerbe, in Künsten und Wissenschaften, auch bei den Nachbarn gern. "Denn das sind ja die wahren Fortschritte der Welt, in der wir leben. Durch sie wird die Menschheit gefördert, die menschliche Natur veredelt. ,,86 Freilich ist es nicht nur die Liebe zur Menschheit, die des Nachbarn Wohlstand gern gesehen sein läßt. Dahinter steht auch David Humes Einsicht in die Notwendigkeit wirtschaftlich gesunder Handelspartner. Es ist durchaus üblich, daß Staaten, die einigen Fortschritt im Handel gemacht haben, den Fortschritt ihrer Nachbarn mit Argwohn und alle Handelsnationen als ihre Rivalen betrachten und davon ausgehen, daß diese nur auf ihre eigenen Kosten bltihen könnten. Ich möchte im Gegensatz zu dieser engstirnigen und bösartigen Meinung die Behauptung wagen, daß das Wachsen von Reichtum und Handel in jeder einzelnen Nation den Reichtum und Handel all ihrer Nachbarn nicht etwa beeinträchtigt, sondern im allgemeinen fördert, und daß ein Staat Handel und Gewerbe kaum sehr weit entwickeln kann, wenn alle benachbarten Staaten in Unwissenheit, Faulheit und Barbarei versunken sind. 87

Über den Handel fließen aus der ganzen Welt Faktoren auf das Arbeitsleben ein. Internationale Vernetzung verändert den Horizont des einzelnen Arbeiters wie der Gesellschaft. Familie und Weltmarkt konstituieren insgesamt unterschiedliche Lebensräume. Auf die politischen Debatten des 17.Jh., ob und inwiefern ein Königreich

85 Ebd., 80 86 A.Smith, Theorie der ethischen Geruhle, VI.Teil, 2.Abschn., Kap.2, S.389 87 David Hume, Essay 'Über den Argwohn im Handel'. In: D.Hume, Polit. u. ökonom. Essays, Hamburg, 1988, S.251 Zu David Humes Forderungen nach Handelsfreiheit vgl. ausruhrlich Kap. 3.4.

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eine große Familie sei, kann hier nur eingegangen werden, wo diese Auseinandersetzungen filr den Begriff der Arbeit relevant sind, so etwa bei der Untersuchung der Stellung des Knechtes im privat- wie im volkswirtschaftlichen Rahmen. Nach der Beschreibung der zeitlichen Pole der Epoche wollen wir uns zunächst der Frage zuwenden, wie sich der Mensch seiner Arbeit gegenüber vorfmdet. Der 6-Stunden Tag bleibt im 17. und 18.Jh. eingestandenerweise utopisch; wie sehr die Arbeit tatsächlich eine Chance darstellt, die eigene Lebenssituation zu verbesem, gilt es nun zu prüfen.

B. Horizonte und Perspektiven menschlicher Arbeit Arbeit erlebt der 'arbeitende Anne' zunächst als Schicksal, in das er ebenso hineingeboren wird wie in die Annut. Für den Ökonomen stellt die Arbeit der Annen eine Chance dar, zu nationalem Reichtum zu kommen. Dazwischen stehen der Privatmann und die verschiedenen Gemeinschaften, von der Kommune bis zur Handelsgesellschaft, die in der Arbeit eine Chance zur Verbesserung ihrer Lebenssituation sehen. Diese Verbesserung muß sich nicht auf wirtschaftlichen Wohlstand beschränken. Arbeit als Lebensvollzug rührt an tiefere Schichten der Persönlichkeit. Aus konkreten Arbeitswelten erwachsen unterschiedliche Perspektiven, Horizonte und Erwartungshaltungen gegenüber der eigenen und fremder Arbeit, die oft hart aufeinander treffen. Die Zeit vor Adam Smith kennt so keinen einheitlichen Arbeitsbegriff, sondern ein Netz von nicht immer explizit defmierten Kategorien, welche die Diskussion bestimmen.

I. Arbeit und der menschliche Horizont Heilsame Aktivität...

Der alte und weise Schäfer Geron in Sir Philipp Sidneys (1554-1586) 'Arcadia' empfiehlt dem jugendlichen Helden des Stückes Arbeit als Mittel gegen Liebeskummer. Denn "solch ein aktiver Geist sieht selten Leidenschaft."1 "Nichts ermuntert die Leidenschaft der Liebe mehr als Behaglichkeit und Muße, oder zerstört sie mehr als Fleiß und harte Arbeit, ,,2 konstatiert David Hume und der Mediziner Dr. Hartley rät: "Religiöse Überlegungen sind der beste Schutz gegen erbliche oder andere Neigungen zum Wahnsinn ... körperliche Arbeit allerdings, zusammen mit mannigfaltigen geistigen Übungen und merklicher Zurückhaltung bei Art und Menge der Nahrung, sollten stets dazugenommen werden. oo3 Arbeit, so also der Gemeinplatz, ist gesund und hilft dem Menschen auf dem Weg zur Tugend, ja scheint sogar seiner Vernunft förderlich, da sie unver-

I Sir Philip Sidney, The Countess of Pembroke's Arcadia, Ed. Jean Robertson, Oxford 1973, S.75 2 David Hume, Essay 'Über nationale Charaktere' in Polit. u. ökonom. Essays, 171 3 David Hartley, Observations on Man, Part One, III,6, S.403

I. Arbeit und der menschliche Horizont

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nünftige Triebe abblockt. Aneignung von Wirklichkeit ist in diesen Fällen sekundär. Daß deIUloch körperliche Arbeit gemeint ist und nicht geistige oder politische Tätigkeit, geht aus den TextsteIlen hervor. Wieweit jedoch die empfohlene körperliche Arbeit der Arbeit der 'arbeitenden Armen' entspricht, bleibt zunächst offen. Im 17.Jh. ist körperliche Arbeit unter der Würde eines standesbewußten Adeligen, der seine Körperkräfte auf der Jagd und im Krieg trainiert. Den Damen obliegt es, einen Sohn zu gebären, damit der Name der Familie erhalten bleibt. Ansonsten haben sie vor allem repräsentative Pflichten. Kindererziehung und Hausarbeit sind Aufgaben der Mägde. Zarte Hände und ein blasser Teint gelten als vornehm, weil sie anzeigen, daß die Lady nicht zu arbeiten braucht. Vor diesem Hintergrund empfiehlt Robert Burton (1577-1640) dem Adel, insbesondere den Damen, körperliche Arbeit als Mittel gegen Melancholie. ".. so lange, wie er oder sie faul sind, werden sie nie zufrieden sein, werden sie sich nie wohl fiihlen in Körper und Geist ... ; deIUl Faulheit ist ein Anhängsel des Adels; sie halten es filr eine Schande zu arbeiten und verbringen all ihre Tage mit Sport, Erholung und allerhand Zeitvertreib und wollen sich dabei nicht anstrengen, wollen keinen Beruf/vocation ergreifen ... ihre Körper fUllen sich mit schweren Dünsten ... , das beste Mittel dagegen ist, sie an die Arbeit zu setzen! set them awork, um damit ihren Geist zu beschäftigen;,,4 Burton, ein eher typischer Gelehrter, sieht sich selbst als Zuschauer im großen Welttheater. Sein Studierzimmer ist die Loge, von der aus er der tragikomischen Auffilhrung des Zeitgeistes beiwohnt. Er verfUgt über einen reichen Schatz an literarischer Bildung, aus dem er seine Kommentare zur Darbietung auf der Bühne formt und sein Rat an den Adel, zu arbeiten, wäre nicht weiter erwähnenswert, weIUl er sich lediglich auf Ackerbau treibende römische Feldherren oder aufVergil, den Literaten der Landwirtschaft, berufen würde. Er empfiehlt dem Adel auch nicht im Stil der Zeit fromme oder klassische Studien, um den Geist rege zu halten, sondern spricht tatsächlich von vocationlBerufund set aworklan die Arbeit setzen, bedient sich also eines Vokabulars, wie man es ansonsten aus Schriften über die Beschäftigung von Landstreichern oder allgemein der sozialen Unterschicht gewöhnt ist. Sicher, Burtons Stil entbehrt allgemein nicht eines gewissen Sarkasmus und es kaIU1 gut sein, daß diese Formulierungen eine geschickt gewählte Spitze gegen die betreffenden Adeligen darstellt. Ein Leben ohne geregelte Arbeitszeiten verbindet schließlich Landstreicher und Adeligen. Burton klagt jedoch nicht die Unmoral müßigen adeligen Lebens an. An die Arbeit ge-

4 Robert Burton, Anatomy ofMelancholy , LondonlNew York, 1961, S.244

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B. Horizonte und Perspektiven menschlicher Arbeit

setzt werden sollen die Adeligen nicht, um sich nützlich zu machen, sondern um 'den Geist rege' zu halten. Burton legt, wie es der Titel der 'Anatomy' schon sagt, den Müßiggang gleichsam mit dem Seziermesser als Ursache der Melancholie frei. Melancholie heißt in diesem Fall Leere, Perspektivlosigkeit des Lebens. Der träge Adelige spürt sich selbst nicht mehr. Eine Dosis jenes existentiellen Druckes, der den Handwerker zur Arbeit zwingt und dessen Leben strukturiert, soll auch dem Adeligen einen Widerstand vermitteln, an dem er sich wahrnimmt. Die Befriedigung seiner Bedürfuisse wird ihm mehr Genuß bereiten, wenn er die Mühen, die dafilr aufgewandt werden müssen, selbst erfiihrt. ... oder abstumpfender Alltag?

Das dem arbeitenden Armen vorzuschlagen, wäre jedoch reiner Zynismus. Er kennt die Mühen, welche die Bedürfuisbefriedigung fordert, nur allzu gut. Schlimmstenfalls kennt er sogar nur die Mühen und die Bedürfuisse, aber keine Befriedigung. Geregelte Arbeitszeit kann rur ihn bedeuten: den ganzen Tag abzüglich der Zeiten rur Essen und Schlafen und das an sechs Tagen in der Woche. Obwohl dieses Szenario erst filr den Arbeiter der einsetzenden Industrialisierung Ende des 18., Anfang des 19.Jh. allgemeine Realität wird, haftet der gewöhnlichen Alltagsarbeit seit jeher der Beigeschmack der Horizontlosigkeit an. Diese Assoziation findet sich nicht nur in sozialphilosophischen Traktaten wieder. Zu den Kernaussagen in John Lockes (1632-1704) Abhandlung über den menschlichen Verstand zählt jene von der Beschränkung der menschlichen Erkenntnis auf den Bereich der Wörter. Lockes Erkenntnistheorie wird deshalb oft als nominalistisch bezeichnet. Die Grundlage der Ideen oder Wörter bilden die Erfahrung/sensation und die Reflexionlreflection auf das von der Erfahrung zusammengetragene Material. Auch wenn Locke nicht von einem sozial gestaffelten Verstand und Folgerungsvermögen ausgeht,5 so gilt doch, daß das tägliche Leben des Einzelnen und seine Beschäftigung den Horizont seiner Erfahrung und seines Reflexionsvermögens bestimmen. Einzelne Berufsgruppen bil-

5 Vgl. lohn Locke, Über den menschlichen Verstand , Viertes Buch, XX, §6

I. Arbeit und der menschliche Horizont

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den dann tatsächlich eine Art von 'Sprachspiel'6 aus und Locke gesteht dem Praktiker in seinem speziellen Bereich durchaus klarere Ideen zu als dem Philosophen. 7 Insofern kann Arbeit als praktische Auseinandersetzung mit der Realität Erkenntnis vertiefen. Andererseits kann sie als drückende Notwendigkeit den Erfahrungshorizont verengen und das Reflexionsvermögen strangulieren. Locke fUhrt unter den Gründen irriger Urteile an erster Stelle den Mangel an Beweisen, d.h an klarer Reflexion über Begriffe und Urteile an. Der Grund fUr diesen Mangel ist die Befangenheit der meisten Menschen in jener Berufsarbeit, die ihnen zwar einzelne klare Begriffe gewähren mag, sie aber in einern größeren Kontext unwissend hält. "In dieser Lage befmdet sich der größte Teil der Menschen, die gänzlich der Arbeit hingegeben sind und durch die Zwangslage ihres Standes geknechtet! enslaved sind, deren Leben vollständig durch den Erwerb ihres Lebensunterhaltes in Anspruch genommen ist ... ihr Verstand kann nur wenig ausgebildet werden, weil ihre Zeit und Mühe ausschließlich damit ausgerullt sind, das Knurren ihres eigenen Magens oder das Geschrei ihrer Kinder zum Verstummen zu bringen."s Die zur Fristung des Lebensunterhaltes geleistete Arbeit mag selbst durchaus vernünftig sein, d.h. eine mühsam erlernte, nach vorn Menschen ausgeklügelten Regeln vollbrachte Tätigkeit; sie tritt ihm aber schicksalhaft entgegen. Dem größten Teil der Menschen bleibt nichts anderes übrig als den größten Teil seines Lebens mit Arbeit zu verbringen. Muße ist aber rur Locke Voraussetzung zur Weiterentwicklung der Vernunft. Die Betonung liegt hier ganz auf der materiellen Notwendigkeit des Erwerbs, welche die Arbeit drückend macht und ihr sogar in ihrem eigenen Bereich jegliches Erfahrungs- und Erkenntnispotential zu zerstören droht. 9 Locke steht damit in einer Tradition, welche eine zu enge Bindung an die Welt als Hindernis auf dem Weg zu Tugend und Wissen sieht. Notwendige Arbeit ist ein Faktor dieser Bindung. Thomas Hobbes (1588-1679) bringt es auf den Punkt, woraus der Strick gedreht ist, mit dem der Mensch nach dieser Lehre

6 Vgl. ebd., Zweites Buch, XVIII, §7, S.267. Locke selbst benützt diesen Wittgensteinsehen Terminus natürlich nicht, kommt ihm aber in der Beschreibung des Sachverhalts recht nahe. 7 Vgl. ebd, VIII, §3, S. 144 S Ebd., Viertes Buch, Kap.20, §2, S.419 9 Neben dem Mangel an Möglichkeit, den Horizont zu erweitern, erwähnt Locke auch den Mangel an Motivation als Ursache von Irrtum und Horizontlosigkeit. Damit sind jene angesprochen, die sich, trotz grundsätzlich vorhandener Muße, von Vergnügungssucht oder Geschäftsleben gänzlich beherrschen lassen. Für sie hat Locke kein Verständnis. Vgl. ebd., Viertes Buch, XX, §6, S. 423

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B. Horizonte und Perspektiven menschlicher Arbeit

an die Welt gefesselt ist. "Menschen, die durch Notwendigkeit oder Habsucht an ihr Gewerbe und ihre Arbeit gefesselt werden, und auf der anderen Seite Menschen, die ihren sinnlichen Vergnügungen nachgehen, weil sie reich oder träge sind (diese beiden Arten von Menschen machen den größten Teil der Menschheit aus) werden vom gründlichen Nachdenken ... abgelenkt."IO Robert Burton hatte offensichtlich etwas anderes im Sinn, als er Berufsarbeit zur Heilung adeliger Melancholie empfahl: frei gewählte bzw. gleichsam ärztlich verordnete Arbeit als Therapie gegen eine abtötende Trägheit, als Mittel, um sich selbst wieder zu spüren, aufzuwachen und sich neue Perspektiven zu erschließen. Gerade das kann die schicksalhafte Berufsarbeit aber nicht leisten. Mit der Emanzipation des Interesses scheint jedoch auch die Berufsarbeit den Beigeschmack von Beschränktheit und Perspektivlosigkeit zu verlieren. Der Weg zur Tugend und zur Weiterentwicklung der Vernunft verläuft zunehmend auf dem Boden der Tatsachen. Die Fessel des Verstandes ist tUr David Hume nicht mehr allgemein aus geschäftiger Weltverbundenheit gedreht. "Armut und harte Arbeit erniedrigen den Verstand des gemeinen Volkes und machen es ungeeignet tUr jede Wissenschaft und geistige Beschäftigung." 11 Nicht jede Arbeit ist hart und wird in Armut geleistet. Um einen Horizont zu bieten, wird sie nun nicht angereichert mit religiösen Überlegungen und Vollwertkost, gemäß dem Rezept von Dr. Hartley, sondern übernimmt eine aktive Rolle im Dienst von Interesse und Fortschritt. David Humes optimistische Fortschrittsperspektive

Unter dem Stern dieser neuen Rationalität weist Arbeit in Form von Künsten und Gewerbe einen Weg aus der Perspektivlosigkeit, hat sie eine Chance, zur treibenden Kraft nach vorn zu werden, mehr als nur ein Heilmittel zur Wiederherstellung einer verlorenen Gesundheit an Körper und Geist. Ist der nötige Freiraum rur Fortschritt und Interesse gewährt, erscheint sogar die berufsmäßige Arbeit in einem anderen Licht. "In Zeiten der Blüte von Gewerbe und Künsten sind die Menschen ständig beschäftigt und genießen zur Belohnung die Beschäftigungloccupation selbst und jene Annehmlichkeiten, welche die Früchte ihrer Arbeit sind."12 Nicht nur das Recht auf die Früchte der Arbeit - eine zen-

10 Hobbes, Leviathan, FrankfurtlMain, 1989, Zweites Buch, 30. Kapitel, S.261 11 David Hume, Essay über nationale Charaktere, a.a.O., ISS 12 David Hume, Essay 'Über die Verfeinerung in den Künsten', in Polit. u. ökonom. Essays, 193

I. Arbeit und der menschliche Horizont

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trale Forderung durch die gesamte Epoche hindurch - sondern die Tätigkeit selbst wird hier zum Genuß. Es ist dabei nicht das Business in einem ausgewählten Tätigkeitsbereich, sondern einfach das des Mannes, der beidbeinig im (Geschäfts-)Leben steht. Die Tätigkeit am Puls der Zeit wird ftlr Hume zum menschlichen Grundtrieb. Keine Lust und kein Verlangen des menschlichen Geistes ist beständiger und unersättlicher als das nach Ertüchtigung und Beschäftigung, und dieses Verlangen ist anscheinend die Grundlage all unserer Leidenschaften und Vorhaben. Nimmt man einem Mann alle Geschäfte und ernsthaften Betätigungen, so wendet er sich rastlos von einer Vergnügung zur anderen, und der Müßiggang belastet und bedrückt ihn so sehr, daß er den Ruin vergißt, in den ihn seine unmäßigen Ausgaben treiben müssen. \3

Robert Burtons Medikament scheint zum Suchtmittel geworden zu sein, unter Beimischung einer Komponente jedoch, die Burton selbst eher zu den Ursachen der Melancholie als zu den Gegenmitteln rechnet: das Streben nach Mehr, denn "insbesondere, wenn jeder einzelne Beweis von Fleiß profitabel ist, hat er den Gewinn so oft im Auge, daß er nach und nach eine Leidenschaft daftlr entwickelt und kein anderes Vergnügen kennt, als sein Vermögen täglich wachsen zu sehen."14 Die Freude an der Tätigkeit ist also stark abhängig vom Genuß der Früchte - oder besser gesagt, vom Ergötzen an der Zunahme der Früchte, am Wachsen eines Reichtums, der sich dem direkten Genuß, der unmittelbaren Befriedigung von Bedürfuissen, zunehmend entzieht. Das Streben nach Mehr nimmt Humes Geschäftsmann gleichermaßen ein wie das Knurren des Magens Lockes Arbeiter. Angst vor Irrtümern braucht der Geschäftsmann nicht zu haben, solange er sich in den bewährten Bahnen der Gewohnheit bewegt - oder anders ausgedrückt: solange das Streben mit einem Mehr belohnt wird. Ob Humes Mann am Puls der Zeit seinen Beruf frei gewählt oder von seinem Vater übernommen hat, ist belanglos. Man darf auch getrost voraussetzen, daß er arbeiten muß, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dennoch ist Berufsarbeit ftlr ihn kein drückendes Schicksal; er verwirklicht sein Interesse in ihr und gestaltet sie nach seinen Vorstellungen. Das Interesse läßt die Vernunft ein vielversprechendes Bündnis mit der beruflichen Tätigkeit eingehen. Beide treiben sich gegenseitig vorwärts: die Tätigkeit hält den Geist rege und be-geisterte Tätigkeit wirft Profit ab. Das funktioniert freilich nur, solange der Tätige seinem eigenen Interesse dient. Die Unterscheidung von Business und Beschäftigung im nächsten Kapitel wird dazu die nötigen Klarstellungen liefern.

13 David Hume, Essay 'Über Zinsen', in Polit. u. ökonom. Essays, 224

14 Ebd. 4 Präuer

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B. Horizonte und Perspektiven menschlicher Arbeit

Wie im Individuellen verbinden sich nach Humes Vorstellungen Geist und Arbeit auch im gesamtgesellschaftlichen Rahmen unter dem Vorzeichen des Interesses. Das Ergebnis ist ein umfassender Fortschritt, dem der sonst skeptische Denker ungewöhnlich optimistisch entgegenblickt. Ein anderer Vorteil von Gewerbe und Verbesserungen in den mechanischen Künsten besteht darin, daß sie im allgemeinen Verbesserungen in den freien Künsten bewirken. Auch können die einen nicht vervollkommnet werden, ohne in gewissem Umfang von den anderen begleitet zu werden. Ein Jahrhundert, das große Philosophen und Politiker, anerkannte Generäle und Poeten hervorbringt, hat gewöhnlich auch geschickte Weber und Schiffszimmerleute im Übermaß. Wir können nicht ernsthaft erwarten, daß ein Stück Wollstoff in einer Nation zu Vollkommenheit gebracht werden könnte, die nichts über Astronomie weiß oder in der die Ethik vernachlässigt wird. Der Zeitgeist beeinflußt alle Künste, und sind die Menschen einmal aus ihrer Lethargie erwacht und ihr Verstand beginnt zu gären, so wendet er sich nach allen Seiten und schafft Verbesserungen in jeder Kunst und Wissenschaft. 15 'Mens sana in corpore sano', kann man hier zusammenfassen, wobei die Gesundheit des Staatskörpers sich in seiner Wirtschaftskraft manifestiert, der auf der Seite des Geistes das kulturelle Leben entspricht. Das Weckmittel aus der Lethargie ist nicht einfach Arbeit als Selbsterfahrung, sondern die Aussicht auf Profit, auf die Befriedigung immer neuer Bedürfnisse. Der umfassende Charakter des Zeitgeistes knüpft kulturellen Fortschritt an wirtschaftlichen, bindet ihn so einerseits, garantiert ihn aber auch im Gegeyzug. Adam Smith und die Kosten des Fortschritts

An dieser Stelle lohnt es sich, kurz zum Anfang der Geschichte von Künsten und Zivilisation zurückzublicken. Den Blick zurück an diesen Anfang richten in systematischer Form erst die Schüler Adam Smiths, allen v