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German Pages 218 Year 2016
Vanessa Marlog Zwischen Dokumentation und Imagination
Film
Vanessa Marlog wurde am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert. Sie ist Mitglied der AG Visuelle Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde und arbeitet als Referentin in Berlin.
Vanessa Marlog
Zwischen Dokumentation und Imagination Neue Erzählstrategien im ethnologischen Film
Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Titel, unter dem die Arbeit eingereicht wurde: »Strategien der Entgrenzung. Perspektiven und Trends im ethnologischen (Dokumentar-)Film.« Erstgutachter: Prof. Dr. Frank Heidemann Zweitgutachter: PD Dr. Alexander Knorr Tag der Disputation: 15. Januar 2013
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 7 1.
Zur Einführung | 9
1.1 1.2 1.3 1.4
Der neue ethnologische Film | 9 Auf bau und Vorgehensweise der Arbeit | 11 Entwicklungslinien im ethnologischen Film | 16 „Neue Klassiker“ des ethnologischen Films: David MacDougall und Kim Longinotto | 24 Filmtheoretische Ansätze | 31
1.5
2. P romised P ar adise | 37 2.1 2.2 2.3 2.4
Theater als Katalysator für Fakt und Fiktion | 37 Protagonisten | 44 Montage | 53 Resümee: Vom Auge zum Ohr und unter die Haut | 57
3.
M aking of – K amik a ze | 61
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Entwicklung eines zerrissenen Charakters | 63 Konzepte von Männlichkeit als Reibungsfläche für Bahta | 70 Medienkritik durch verdichtete Montage | 78 Making-of als Erweiterung der Figur und Reflexion von Kritik | 81 Sprache-Körper und Gesang-Tanz | 85 Resümee: Illusionsbruch als Möglichkeit für Gesellschaftskritik | 87
4.
N eukölln unlimited | 89 4.1 Einführung der Figuren | 92 4.2 Tanz als Ausdrucksmittel und Inszenierung der Körper | 101 4.3 Resümee: Film als Raum für Identitätsverhandlung | 106
5. I r an : E lections 2009/The G reen W ave | 109 5.1 Exkurs: Die „Bloggernation“ | 112 5.2 Exkurs: Der Arabische Frühling | 115
5.3 Collagetechnik des Films | 117 5.4 Das Zeigbare und das Unzeigbare | 123 5.5 Resümee: Imagination des Schrecklichen | 143
6. E xile F amily M ovie | 149 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Beziehungsebenen im Film | 151 Kommunikation im und durch den Film | 154 Reflexion auf das Medium Film | 156 Erinnern im und durch den Film | 158 Resümee: Entgrenzung des Privaten | 161
7.
B urma VJ: R eporting from a C losed C ountry | 165
7.1 7.2 7.3 7.4
Dramaturgie unter besonderer Berücksichtigung des Tons | 168 Die Installation eines Protagonisten als Erzähler | 174 Die Materialität des Bildes | 175 Resümee: Erweiterung von Footage-Material durch den Ton | 177
8.
Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film | 179 8.1 Animation: Waltz with Bashir und Persepolis | 181 8.2 Überinszenierung: Die Reise der Pinguine und Unser täglich Brot und pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren | 183 8.3 Unterhaltung als Strategie: The Other Chelsea – Eine Geschichte aus Donezk | 186 8.4 Distanzierende Darstellung: Aghet – ein Völkermord | 189 9.
Fazit II: Authentisches Erzählen durch Reflexion und Imagination | 195
10. Filmografie | 203 11. Bibliografie | 205
Danksagung Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Frank Heidemann, der mich fachlich und menschlich unterstützt hat und diese Arbeit von ihren Anfängen bis zu ihrer Veröffentlichung begleitet hat. Viele hilfreiche inhaltliche Diskussionen und sein Vertrauen haben maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. PD Dr. Alexander Knorr danke ich für sein Zweitgutachten und seine inspirierenden Hinweise. Prof. Dr. Jürgen Schläder danke ich für seine kritische und bereichernde Begleitung der Disputation. Meinen Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Ethnologie, den Anthrodocs, der Film AG des Instituts und besonders Dr. Marcus Andreas, Dr. Julia Bayer, Dr. Sophie Elixhauser, Miriam Hornung, PD Dr. Wilma Kiener, Dr. Anna Meiser, Jutta Schön, Dr. Susanne Schmitt und Verena Zimmermann danke ich für die vielfältige, vor allem fachliche Unterstützung. Den beiden Filmemachern Leonard Retel Helmrich und Arash T. Riahi danke ich sehr herzlich dafür, dass sie mir für meine wissenschaftliche Arbeit Kopien ihrer Filme zur Verfügung gestellt haben. Der AG Visuelle Anthropologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde und ihren vergangenen und aktuellen und stellvertretenden Sprechern, vor allem Prof. Dr. Frank Heidemann, Paul Hempel, Dr. Margrit Prussat und Anne Rethmann sowie den übrigen Mitgliedern, und hier insbesondere Julia Binter und Valerie Hänsch, sei ebenfalls für den fachlichen Austausch gedankt. Für viele inspirierende Momente und Perspektivwechsel danke ich „meinen Theaterwissenschaftlern“ Josef Bairlein, Dr. Konstanze Heininger, Julia Lonkwitz und Dr. Berenika Szymanski-Düll. Pia Birtel, Dr. Juliane Dame, Dr. Nina Höhne und Kathrin Steinbichler gilt mein Dank für ihre Zeit, ihre kritisch-konstruktiven Hinweise und auf bauenden Worte. Nora Marlog und Antonio Piccirilli ist nicht genug zu danken, für ihre Geduld und ihre Unterstützung, auch in technischen Fragen. Für die letzte Phase der Veröffentlichung danke ich Eva Maurer und Dr. Brigitte Rath für ihre Ratschläge, Diana Keitel für die freundschaftliche und fachliche Unterstützung sowie Tanja Jentsch von 7Silben sowie Kai Reinhardt und
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Christine Wichmann vom transcript Verlag für die konstruktive Zusammenarbeit. Meinen ehemaligen und aktuellen Chefinnen und Chefs, Arbeitskolleginnen und -kollegen in Berlin und München danke ich für das Entgegenkommen und die ideelle Unterstützung. Allen Freundinnen, Freunden und Bekannten, vor allem in den genannten Städten und in Gelsenkirchen sei für offene Ohren und moralische Unterstützung auf das Herzlichste gedankt. Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die große und stetige Unterstützung und Freundschaft von Dr. Eva Matt und Dr. Gökhan Yigit. Ihnen gebührt mein besonderer Dank. Mein größter Dank gilt meiner Familie: Meinen Eltern Barbara und Gerd Marlog und meinen Geschwistern Benedikt und Nora Marlog, die mich mein ganzes Leben lang liebevoll unterstützen und in jeder Phase dieses Lebensabschnitts für mich da waren. Ich danke Euch.
1. Zur Einführung 1.1 D er neue e thnologische F ilm Der ethnologische Film hat sich schon immer mit der Problematik des Zeigens und ‚Wahrnehmbar-Machens‘ von Gegenwart und des Archivierens von Handlungen und Situationen beschäftigt. Die Ethnologie bzw. das Teilgebiet der Visuellen Anthropologie untersucht Dokumentarfilme meines Erachtens umfassender als andere filmtheoretische Ansätze, denn sie fragt nicht nur nach der Rezeption bzw. den Rezeptions- und Wahrnehmungsangeboten der Filme, sondern auch nach der Produktion, das heißt nach den Protagonisten und Quellen und hinterfragt die „filmische Realität“ (Hohenberger 19881). Durch die Analyse der ethnologischen Filme reflektiert die Visuelle Anthropologie über kulturelle Prozesse im Allgemeinen, und verbindet diese Reflexionen mit filmtheoretischen Überlegungen zu (Sinnes-)Wahrnehmungen und zu Konzepten von Kultur und dem Medium Film und seinen Wirkungsweisen selbst. Die vorliegende Arbeit basiert auf meinen Recherchen zum ethnologischen Dokumentarfilm in den Jahren 2006 bis 2011. Den ethnologischen Film möchte ich in diesem Rahmen zunächst definieren als Film, der fremde Lebenswirklichkeiten beschreiben und zugänglich machen will. Dabei handelt es sich üblicherweise um gegenwartsbezogene Filme, die sich dem Dokumentarfilm zuordnen lassen. Besonders augenfällig war für mich in dem umrissenen Zeitraum, dass sich auf ethnologischen Filmfestivals sowie auch auf allgemeinen Dokumentarfilmfestivals zunehmend Filme finden ließen, die auf darstellerischer und dramaturgischer Ebene Strategien verwenden, die Grenzen überschreiten. Dabei handelt es sich einerseits um Grenzen zwischen Kunstformen wie Film, Theater oder Tanz, und andererseits schließen die Dokumentationen Darstellungsformen wie 1 | Eva Hohenberger entwickelt in ihrem herausragenden Werk Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnograpischer Film. Jean Rouch (1988) eine Theorie zu den unterschiedlichen Realitätsbezügen im Dokumentarfilm. Dabei unterscheidet Hohenberger die „filmische Realität“ in „nichtfilmische Realität“, „vorfilmische Realität“, „Realität Film“ und „nachfilmische Realität“ (ebd.: 28ff.).
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Animation oder fiktive Protagonisten nicht mehr aus. Daher habe ich diese Arbeit vormals mit dem Titel Strategien der Entgrenzung. Perspektiven und Trends im ethnologischen (Dokumentar-)Film als Dissertation am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht. Da sich die analysierten Filme (alle aus den Jahren 2006 bis 2010) in einem Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Imagination bewegen und diverse Fragen nach der authentischen Darstellung und auch der Möglichkeit der Identifikation aufwerfen, wurde für diese überarbeitete Fassung der neue Titel Zwischen Dokumentation und Imagination. Neue Erzählstrategien im ethnologischen Film gewählt. So wird das Spannungsfeld des neuen ethnologischen Films noch deutlicher. Mit Erzählstrategien sind darstellerische und dramaturgische Verfahren gleichermaßen gemeint. Da es sich dabei um innovative und grenzüberschreitende Verfahren handelt, wird der Begriff „Strategien der Entgrenzung“ hier weiter analog für diese neuen Erzählstrategien verwendet. Dem ethnologischen Dokumentarfilm haftet ein Image der authentischen „Wirklichkeitsabfilmung“ an, weshalb er oft bezüglich seiner innovativen Ansätze unterschätzt wird. Dabei sind es gerade diese Filme unter den ethnologischen Dokumentarfilmen, die neue Erzählstrategien entwickeln und einen Raum zwischen Imagination und Dokumentation eröffnen, welche nachhaltig filmische und wissenschaftliche Diskurse innerhalb und auch außerhalb des Fachs beeinflusst haben. Grundsätzlich lässt sich eine Bandbreite von entgrenzenden Verfahren im ethnologischen Dokumentarfilm in den letzten Jahren feststellen. Die Filme arbeiten zunehmend mit anderen Kunstformen wie dem Theater im Film, mit animierten Sequenzen oder stellen den Filmprozess an sich aus. Auch der autobiografische oder semi-autobiografische Film ist weiter in den Vordergrund gerückt. Hier werden Erzählstrategien verwendet, die mehr Raum für Imagination schaffen. Es ist auffällig, dass Filme, die andere Wege beschreiten, oft mit dem schwer Nachvollziehbaren auf inhaltlicher Ebene operieren, wie religiösem Fanatismus in der islamischen Welt, politischer und gesellschaftlicher Unterdrückung in Diktaturen, einem unsicheren Leben im Exil oder (Kriegs-)Traumata. Es ist der Versuch, das Nicht-Erzählbare nachvollziehbar zu machen. Es ist der Sieg des Bildes und, wie sich zeigen wird, der Sieg der Imagination über Restriktionen, Zensur und innere Blockaden und Konflikte. Die Filme werden hier zur Stimme und zum Mittel, der Freiheit oder dem Wunsch nach Freiheit Ausdruck zu geben. Ein Mittel, dies ausdrucksstark umzusetzen, ist die Anwendung filmischer Verfahren, die neue Möglichkeiten der Imagination eröffnen. In den betreffenden Filmen werden oftmals Identitäten verhandelt. Dies geschieht entweder auf einer individuellen Ebene durch die konkrete Verarbeitung von Erinnerung und Trauma oder durch die Suche nach Antworten in der Gegenwart und die Suche nach einem ‚guten‘ Leben. Oder es geht um Identitäten auf gesellschaftlicher Ebene, zum Beispiel um Freiheit und Gleichberechti-
1. Zur Einführung
gung innerhalb ganzer Gesellschaften oder die Unterdrückung solcher durch Verbrechen an der Menschlichkeit. Meine zentrale forschungsleitende Frage lautet: Welche Erzählstrategien lassen sich im ethnologisch relevanten Dokumentarfilm der jüngsten Zeit feststellen? Teilfragen, die diese Leitfrage aufwirft, sind: Reflektiert der Film durch diese Strategien (implizit oder explizit) auf das Medium Film? Wie werden Autorschaft und die Beziehungsebenen in den Filmen folglich thematisiert? Und sind diese filmischen Verfahren besonders dafür geeignet, dokumentarischer bzw. faktischer zu erzählen? Dieses vermeintliche Paradoxon führt zu der zentralen Frage: Liegt im Imaginären möglicherweise mehr Authentizität? Lassen sich infolgedessen neue Imaginationsverfahren feststellen? Weiterführende Fragen an die Filme lauten außerdem: Wie tragen die Erzählstrategien der Imagination dazu bei, Identitäten zu verhandeln? Welche Figurenkonzeptionen liegen den Filmen zugrunde? Welche Rezeptionsangebote machen die Filme durch die aufgezeigten Entwicklungen?
1.2 A ufbau und V orgehensweise der A rbeit Im Zentrum dieser Arbeit stehen sechs Filmanalysen von ethnologisch relevanten Filmen, die jeweils eine eigene Form der Entgrenzung praktizieren und damit selbst Fragen aufwerfen, die in dieser Forschungsarbeit zum Tragen kommen. Deswegen kann hier bewusst nicht einer (Film-)Theorie oder auch nicht einer Idee der Vorzug gegeben werden, denen sich dann die Filmanalysen ‚unterzuordnen‘ haben. Ich verfolge vielmehr die Absicht, die Filme zunächst selbst sprechen zu lassen und damit eine ethnologische Form der Herangehensweise anzusetzen. Damit erklärt sich die Vielfältigkeit der im Verlauf dieser Arbeit analysierten Filme. Weiterführende theoretische Überlegungen werden anhand der Formen und Verfahren dieser Filme in den Filmanalysen diskutiert. Die theoretischen Überlegungen aus den sechs Analysen werden ein Bild aktueller Erzählstrategien aufzeigen. Der Einstieg in die Filmanalysen erfolgt in Kapitel 2 mit dem Film Promised Paradise von Leonard Retel Helmrich (INO/NL 2006, R: Leonard Retel Helmrich, L: 52 Min.), der auf den ersten Blick am meisten die Erwartungen eines Filmes auf einem ethnologischen Filmfest erfüllt. Man begibt sich auf die Spuren des Puppenspielers Agus Nur Amal, der in seiner Heimat Jakarta und in Bali versucht, den Motiven des islamischen Fundamentalismus und Terrorismus auf die Spur zu kommen. Ein exotisches Setting und eine klassische Kameraführung lassen den Rezipienten zunächst im Glauben, einen ‚normalen‘ dokumentarischen Film zu sehen. Der Schein trügt allerdings. Und genau das
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ist auch das Thema von Agus. Promised Paradise ist ein herausragender Film, da hier als besonderes Verfahren der Dokumentarfilm an die Kunstform des Theaters geknüpft ist. Es wird eine Art oszillierendes System geschaffen, indem zwar auf den ersten Blick auf filmische Art und Weise ein Blick vom Film auf das Theater stattfindet – alleine der Kamerablick scheint dies nahe zu legen. Auf den zweiten Blick wird aber offenbar, dass der eigentliche Blick hier vom Theater, d.h. in erster Linie vom Puppenspiel, auf den Film stattfindet. Der Film lehnt Authentizität ab und schafft Bereiche der Verschmelzung, in denen man nicht mehr erkennen kann, ob es sich um Fiktion, Vision oder Realität handelt. In Kapitel 3 ist Making of – Kamikaze von Nouri Bouzid (TUN/MAD/F/D 2006, R: Nouri Bouzid, L: 115 Min.) Gegenstand der Analyse, ein Spielfilm mit einer an einen Dokumentarfilm erinnernden Ästhetik. Der junge Tunesier Bahta träumt davon, Tänzer zu werden. Tanzen ist seine Leidenschaft und die seiner ausschließlich aus Jungen und jungen Männern bestehenden Clique, die mit Eltern und Behörden durch ihre Breakdance-Battle und Graffiti in Konflikt gerät. Bahta ist mit seinen 25 Jahren der Älteste der Gruppe und möchte nach Europa gehen, um dort sein Leben frei nach seinen Vorstellungen gestalten zu können. Als er von der Polizei wegen des unerlaubten Tragens einer Polizeiuniform gesucht wird, kommt er in Kontakt mit einer terroristischen Gruppe und wird von dieser ‚unter ihre Fittiche‘ genommen. Es beginnt eine Parallelhandlung: Der Schauspieler Lofti Abdelli, der den jungen Bahta spielt, tritt aus seiner Rolle heraus und beschwert sich bei dem Regisseur Bouzid, dass er einen Tänzer und keinen Terroristen spielen wollte. Im Zuge dieser selbst- bzw. filmreflexiven Handlungen diskutieren die beiden nicht nur die filmische Realität, sondern auch die mögliche nachfilmische Realität und die Wirkung des Films. Dabei spielen die Dichotomien Sprache/Tanz und Stimme/Körper eine entscheidende Rolle. Neukölln unlimited (D 2010, R: Agostino Imondi/Dietmar Ratsch, L: 96 Min.) (Kapitel 4) spielt im Berlin unserer Zeit und ist ein Film über die drei Geschwister Hassan, Lial und Maradona, die um ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland bemüht sind. Die Geschwister werden in ihrem Alltag mit ihren Freunden und ihrer Familie gezeigt, bei Diskussionen über die finanzielle Situation und die ungewisse Zukunft der Familie in Deutschland sowie bei ihrem Hobby, dem leidenschaftlichen Singen, Rappen und Tanzen. Der Film orientiert sich stilistisch über weite Strecken an klassischen Dokumentarfilmen, bricht allerdings mit diesem Ansatz in einigen wenigen animierten Sequenzen, in denen der älteste Bruder Hassan vom Trauma der Abschiebung berichtet. Dabei sind Überblendungen von gezeichneten und realen Settings besonders augenfällig. Der kleine Bruder Maradona, der im Gegensatz zu seinen Geschwistern größere Schwierigkeiten mit einem Leben in Deutschland hat, wird von Zeit zu Zeit in Settings gezeigt, die an Traumsequenzen erinnern. Der Film diskutiert innere Konflikte der Protagonisten anhand von
1. Zur Einführung
unterschiedlichen filmischen Darstellungsweisen. Dabei tritt der Handlungsverlauf hinter die Inszenierung von Körpern und körperlichem Ausdruck im Tanz zurück. In dem Film Iran: Elections 2009/The Green Wave2 (D 2010, R: Ali Samadi Ahadi, L: 52/80 Min.) (Kapitel 5) von Ali Samadi Ahadi werden die Proteste im Iran 2009 thematisiert. In der Presse wurde von der ‚Twitter-Revolution‘ gesprochen, da Informationen über die Situation im Land über Blogs und soziale Netzwerke verbreitet wurden. Diese Informationskanäle nimmt der Film als Quelle, aber auch als direkte Bilder in die Erzählung auf. Die auffälligste Strategie jedoch sind zwei fiktionale Protagonisten, deren Texte und Charaktere auf Blogeinträgen von iranischen Jugendlichen während der Wahlen 2009 und speziell während der Revolte danach beruhen. Die Zitate, die Ali Samadi Ahadi seinen beiden Protagonisten in den Mund legt, bestehen aus den Einträgen vieler verschiedener Blogs. Mit der Stimme einer Generation entwickelt der Regisseur so zwei authentisch erscheinende Lebensgeschichten innerhalb des bearbeiteten bzw. des dokumentierten Zeitraums. Exile Family Movie (A 2006, R: Arash T. Riahi, L: 94 Min.) (Kapitel 6) ist ein autobiografischer Film des Filmemachers Arash Riahi, der ein Familientreffen der anderen Art mit einer sehr subjektiven Kamera gefilmt hat. Der Exil-Iraner lebt mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern in Wien. Andere Mitglieder der iranischen Großfamilie sind nach Skandinavien oder in die USA emigriert. Ein großer Teil der Familie jedoch ist im Iran geblieben. An einem für die iranische Obrigkeit unverdächtigen Ort gibt es ein geheimes Familientreffen und damit ein Wiedersehen nach vielen Jahren. Riahi filmt die Vorbereitungen und Skype-Telefonate mit seinen Verwandten sowie die Reise und Aufenthalte in Hotels, in denen die Treffen stattfinden. In der Öffentlichkeit in Mekka ist lediglich ein geheimes Filmen möglich. Der Film reflektiert auf besondere Weise, was es heißt, einen sehr persönlichen Familienfilm zu machen. Die Protagonisten schwanken zwischen vollständigem Vertrauen und unmittelbaren emotionalen Reaktionen einerseits sowie andererseits Momenten, in denen die Präsenz der Kamera bewusst und damit auch zum Thema gemacht wird. Durch das besondere Zusammentreffen der westlichen und muslimischen Gesellschaft werden nicht nur kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten offenbar, sondern auch das Filmemachen selbst thematisiert. Gleichzeitig lassen sich an diesem Film Formen von Privatheit und Öffentlichkeit sowie die Fragen der Autorschaft und Augenzeugenschaft diskutieren. 2 | Die deutsche Fernsehpremiere wurde mit dem Titel I ran : E lections 2009 auf dem deutsch-französischen Sender arte ausgestrahlt. Die Kinoversion kam mit dem Titel The G reen Wave auf den Markt. In meiner Arbeit beziehe ich mich in der Analyse auf die Fernsehausstrahlung.
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Burma VJ: Reporting from a Closed Country (DK 2008, R: Anders Østergaard, L: 84 Min.) (Kapitel 7) von Anders Østergaard ist nicht nur ein Film über die Videojockeys in Burma (das „VJ“ im Titel steht für Videojockeys), die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Ereignisse in ihrem Land zu dokumentieren und einer Öffentlichkeit zugängig zu machen. Es ist zugleich ein Film über die Wirkung der Bilder und ihre Bedeutung in Zeiten der Krise und darüber hinaus. Der Film thematisiert das ‚Zeigen‘ ebenso wie das ‚Nicht-Zeigen‘ und führt damit einen hochaktuellen Diskurs über Augenzeugenschaft. Auch wenn es einen Protagonisten bzw. einen Erzähler gibt, der uns durch seinen Alltag führt und die Ereignisse aus seiner persönlichen Perspektive schildert, versucht der Film dennoch, eine große Objektivität zu vermitteln. Dabei werden die zwei Wahrnehmungskanäle des Visuellen und des Akustischen oft kontrapunktisch eingesetzt, so dass der Film zwischen Reflexion und Manipulation changiert. Er zeigt auf eindrückliche Weise, welche Macht Bilder haben können – wenn wir an die Macht der Bilder (noch) glauben – und vor allem, mit welchen filmischen Strategien diese täglich in jeder Nachrichtensendung der Welt eingesetzt werden. Hier werden Fragen nach der Macht der Medien sowie unserer heutigen Umgangsform mit der Gegenwärtigkeit der Geschichte auf professionelle Weise vorgeführt. Dazu führt der Film einen Diskurs um die Frage nach der Vorherrschaft von Ton oder Bild. Ich habe Burma VJ auch ausgewählt, weil er genauso wie Iran: Elections 2009 nicht vornehmlich auf ethnologischen Filmfestivals, sondern im Fernsehen und im Kino rezipiert wurde, und auch weil beide Filme die Medienöffentlichkeit auf ihre Art reflektieren. Sie bieten einen geeigneten Übergang zur Öffnung des Filmkorpus zu einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs. Mir ist es ein Anliegen zu zeigen, dass diese Strategien längst auch Einzug in kommerziell erfolgreiche Kinoproduktionen oder auch Fernsehdokumentationen auf renommierten Sendeplätzen gehalten haben, oft in einer noch deutlicheren Ausprägung. Es handelt sich hierbei nicht um Randphänomene spezialisierter ethnologischer Filmfestivals oder um Ausnahmefilme, sondern diese Filme treffen genau den Nerv der Zeit oder sind ihrer Zeit sogar ein wenig voraus. Daher wird im Anschluss an die sechs Einzelanalysen in Kapitel 8 eine Verknüpfung zu weiteren Filmen außerhalb des Bereichs des ethnologischen Dokumentarfilms hergestellt, deren Strategien die der zuvor eingehend analysierten Filme spiegeln und in einen größeren Kontext rücken. Hier stehen die Strategien oder Verfahren im Vordergrund, die im ‚Mainstream‘ angekommen sind. Ich habe dafür sehr populäre Beispiele gewählt, die im Kino herausragende Besucherzahlen und als TV-Formate Top-Kritiken erhalten haben. Einige Beispiele sollen hier bereits vorab genannt werden. Mit dem Film Waltz with Bashir (ISR/F/D/FIN/CH/B/A 2008, R: Ari Folman, L: 87 Min.) ist die Strategie der Animation 2008 prominent ins Kino
1. Zur Einführung
gekommen. Es findet eine Verbindung zum Thema des Traumas statt, das in einigen meiner Detailanalysen behandelt wird. Ein weiteres Thema ist Augenzeugenschaft als Authentisierungsstrategie. Dies trifft auch auf die vorhin genannten Filme zu, zeigt sich als Tendenz aber in ganz unterschiedlichen Filmen und Formaten, so auch TV-Formaten wie Aghet – Ein Völkermord (D 2010, R: Eric Friedler, L: 90 Min.). Anhand dieses Beispiels wird in Ergänzung zu Iran: Elections 2009 gezeigt, wie Quellenkritik und das Aufgreifen und Darstellen traumatischer gesellschaftlicher Krisen auch funktionieren kann. Im Gegensatz zu Samadi Ahadis Film geht es hier aber um eine historische Perspektive und nicht um die jüngste Vergangenheit. Die generelle Tendenz der Entgrenzung hin zur Überinszenierung ist in keinem anderen Bereich so sichtbar wie in Food-Filmen oder Tier-Dokumentationen, wie hier exemplarisch an den zwei kommerziell sehr erfolgreichen Filmen Die Reise der Pinguine (F 2005, R: Luc Jacquet, L: 82 Min.) und Unser täglich Brot (A 2005, R: Nikolaus Geyrhalter, L: 92 Min.) angesprochen wird. Ein kurzer Blick soll auch noch auf die 3D-Technik geworfen und mit pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren (D/F 2011, R: Wim Wenders, L: 107 Min.) von Wim Wenders diskutiert werden. Dies geschieht in der Absicht, über diese extrem inszenierten und kommerziell erfolgreichen Filme Tendenzen zu veranschaulichen, die sich, nach meiner Beobachtung, auch in ethnologischen Dokumentarfilmen finden. Es sieht so aus, als gäbe das digitale Zeitalter Dokumentarfilmen eine neue Freiheit, indem sie weniger als zuvor an eine ‚klassische Idee von Authentizität‘ gebunden zu sein scheinen. Es geht zwar immer noch darum, ‚Wahrheiten‘ zu erzählen bzw. eine Ahnung von ‚Wirklichkeit‘ zu vermitteln. Es geht immer noch darum, auf eine authentische Art und Weise zu erzählen, doch die Strategien hierfür sowie die Vorstellungen davon, was Authentizität ausmacht, befinden sich ganz offensichtlich im Wandel.3 Dieses Phänomen einer Authentizität, basierend beispielsweise auf Blog-Texten, der Ästhetik eines Handyvideos und persönlicher Augenzeugenschaft und künstlerischer Verarbeitung ebendieser (was als subjektive Perspektive auf Geschehnisse gesehen werden kann), ist die Matrix, vor 3 | Dass diese Kategorien aber heutzutage immer noch nicht obsolet sind, zeigt die Diskussion um den am 16. August 2012 in den deutschen Kinos gestarteten Dokumentarfilm This ain ’ t C alifornia (D 2012, R: Marten Persiel, L: 99 Min.). Der Film ist in der Kategorie ‚Dokumentarfilm‘ bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2012 in der Kategorie „Perspektive Deutsches Kino“ uraufgeführt und ausgezeichnet worden. Auf dem Münchner DOK.fest lief er in der neuen Kategorie ‚DOK.fiction‘. An dem Film und vor allem an seiner öffentlichen Rezeption ließe sich viel aufzeigen über Sehgewohnheiten, Umbrüche und auch, wo und wie Kino gemacht wird. Perspektivisch wird dieser aktuelle Film ganz am Ende der Arbeit noch einmal aufgegriffen.
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der Dokumentarfilmer heutzutage ihre Arbeit machen. Im Film selbst können die Phänomene natürlich wieder ganz andere Ausprägungen haben. Diesen Ausprägungen und dem Bilddiskurs, in dem sich diese Filme befinden, gehe ich im Folgenden nach. Im digitalen Zeitalter, in dem wir mehr über die Manipulierbarkeit von Bildern wissen und in dem so genannte ‚Twitter-Revolutionen‘4 stattfinden, kommt Bildern eine andere Bedeutung zu. Es geht, so meine These, in den Filmen nicht mehr darum zu verhandeln, ob ein Bild an sich ‚wahr‘ oder ‚authentisch‘ ist, sondern vielmehr um die Prozesse, wie etwas als authentisch wahrgenommen wird, und die damit zusammenhängende Wirkung der Bilder. Es geht darum, dass die Filme nicht mehr nur Bilder zeigen, sondern von einer möglichen Kultur der Bilder erzählen. Und dies passiert auf ganz unterschiedliche Weise. Dabei stellen die Filme zum einen den Filmprozess selbst aus, indem sie offensichtlich fiktionale Mittel nutzen wie beispielsweise Animationen, oder sie thematisieren die Quellen außerhalb des Films. Ein weiterer Faktor ist eine intensivere Tendenz zum Ton. Es finden in jedem Fall Grenzüberschreitungen statt, um Themen innerhalb der Filme zu entwickeln und starke Rezeptionsangebote machen zu können. Letztendlich geschieht dies auch, um überhaupt Interesse an Themen und Argumentationsstrukturen zu wecken.
1.3 E nt wicklungslinien im e thnologischen F ilm Interesse für Themen und Menschen wecken, auf andere Perspektiven aufmerksam machen, sensibilisieren für das „Andere“, Systeme hinterfragen. Ich denke, das alles und sicher noch viel mehr hat sich der ethnologische Film immer schon zur Aufgabe gemacht.5 Eingangs habe ich es damit beschrie4 | Der Begriff wurde im Zuge der Proteste gegen die Wahlergebnisse im Iran 2009 geprägt. Siehe z.B. The Washington Times 2009: o.S.: Quirk 2009: o.S.; Leyne 2010: o.S. 5 | Es gibt Definitionen zum ethnologischen Film, die „kulturelle Differenz“ und eine wissenschaftliche Verwertbarkeit dieses Genres hervorheben, z.B.: „Der ethnographische Film ist ein Genre des Dokumentarfilms, zwischen dessen vor- und nichtfilmischer Realität eine kulturelle Differenz besteht. Seine Produktionsweise ergibt sich aus seinem Verwertungszusammenhang: Er soll Analysematerial bereitstellen, Datensammlung sein, der Verifikation ethnologischer Hypothesen dienen und Feldforschungsersatz für Studenten sein.“ (Hohenberger 1988: 146) Hohenberger geht in ihrer Arbeit über diese Definition mit der Analyse der Filme Jean Rouchs hinaus. Und fragt in ihrem Nachwort: „Ein Dokumentarfilm ist ein Film über die Wirklichkeit, aber ist die Wirklichkeit das, was ein Dokumentarfilm zeigt?“ (Ebd.:332) Und es scheint, als gäben die Herausgeber der Anthologie Die Fremden sehen. Ethnologie und Film anlässlich der entsprechenden Reihe im Münchner Stadtmuseum (Januar bis April 1984) eine Antwort
1. Zur Einführung
ben, dass „der ethnologische Film fremde Lebenswirklichkeiten“ zugänglich machen will. Oft ging es dabei vielleicht um ein faktisches Nachvollziehen, was den ethnologischen Film stark in die Nähe des wissenschaftlichen Films gerückt hat. Man kann sagen, dass der klassische ethnologische Film im Allgemeinen eher den Intellekt, also die Fähigkeit, Argumentationslinien zu folgen, und die Reflexionsfähigkeit der Rezipienten angesprochen hat. Das heißt nicht notwendigerweise, dass in ethnologischen Filmen niemals die sinnliche und emotionale Wahrnehmung angesprochen wurde, wie beispielsweise in den Filmen Robert Flahertys oder denen Jean Rouchs, wie sich im Folgenden bei dem kurzen Abriss zeigen wird, der genau diese Seite des ethnologischen Films, die immer schon einen Raum der Imagination eröffnete, in den Fokus rücken soll. Ab den 1970er Jahren entstand in der Ethnologie die Teildisziplin der Visuellen Anthropologie, die sich mit der „Reflexion über Visualität“ (Heidemann 2011: 259) wissenschaftlich beschäftigt. Dabei sind die Themengebiete und Filme, mit denen sich die Visuelle Anthropologie beschäftigt, so vielfältig wie das Schaffen von Filmemachern selbst. Von der Stummfilmzeit bis heute gibt es Filme, die das besondere Interesse von Ethnologen auf sich gezogen haben. Schlaglichtartig sollen aus meiner Perspektive einige Filme beleuchtet werden, die zum Korpus der Visuellen Anthropologie gehören, nämlich ein paar jener Filme, die jeweils neue filmische Strategien zu ihrer Zeit entwickelt und angewendet haben und damit sozusagen als ‚Urahnen im Geiste‘ der in dieser Arbeit analysierten Filmbeispiele gelten können. Damit sprengten (und sprengen auch heute) solche Filme die Grenzen dessen, was bis dato als ‚ethnologischer Film‘ galt. Volker Kull hat in seinem Sammelband Poeten, Chronisten, Rebellen, den er zusammen mit Verena Teissl herausgegeben hat, ein sehr interessantes Korpus als Beispiel für Vielfalt im ethnologischen Film in seiner Einleitung genannt, das ich hier gerne exemplarisch zitieren möchte: „Es sollte darüber hinaus nicht schwer fallen, sich vorzustellen, dass es so viele ethnographische Filme gibt, wie Autoren, die darüber geschrieben haben. Ebenso wie im Genre des Dokumentarfilms spielt neben der Intentions- und Ereignisebene die Rezeptionsebene eine bedeutende Rolle bei der Frage, welcher Film ein ethnographischer Film ist, was dazu führte, dass Filme wie G rass (1925) von Schoedsack und Cooper auf Hohenbergers Frage, wenn sie in ihren einleitenden Bemerkungen schreiben: „Jene ethnographischen Filme aber, die mit und im Anschluß an die Dokumentarfilmbewegung der späten 50er Jahre entstanden, haben die Diskussion über Beobachtung in der Ethnologie in eine andere Richtung gelenkt: nicht zuletzt, weil sie das Machen vor Augen führen. Indem Sehkonventionen gestört werden – und manchmal stören schon ethnographische Inhalte –, kann nach der Wirklichkeit von Wirklichkeit gefragt werden.“ (Friedrich et al. 1984:14)
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Zwischen Dokumentation und Imagination sowie die Filme von Robert Flaherty, Robert Gardner (D ead B irds [...]) und Dennis O’Rourke, die sich selbst nie als ethnographische Filmemacher gesehen haben, ebenso wie die selbst-reflexiven Filme von Trinh T. Minh-ha oder auch ‚fiktionale‘ Filme wie True S tories [...] von David Byrne, ihren Platz in der Ethnologie gefunden haben.“6 (Kull 2006: 20)
Schon in dieser kleinen, sicher auch subjektiven Aufzählung zeigt sich die Vielfalt und das Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Imagination der Filme, die in der Visuellen Anthropologie diskutiert werden. Der Stummfilm Grass (USA 1925, R: Merian C. Cooper/Ernest B. Schoedsack, L: 71 Min.) erschafft ähnlich wie Nanook of the North (USA 1920/21, R: Robert Flaherty, L: 79 Min.) eine Erzählung, die das Leben einer Community im damaligen Persien, dem heutigem Iran, erzählt. „Grass gehört neben Nanook zu den bedeutendsten ethnographischen Dokumenten, die die Stummfilmzeit hervorgebracht hat.“ (Petermann 1984:34) True Stories von David Byrne (USA 1986, R: David Byrne, L: 90 Min.), dem ehemaligen Sänger der Talking Heads, ist ein wunderbarer Grenzgänger im fiktionalen Film, der mit einer Vielfalt von Strategien, dokumentarischen und Musical-Elementen die Geschichte der Vorbereitungen zu einem Stadtjubiläum in Texas erzählt. Im Zusammenhang mit dem Zitat von Kull habe ich ihn zum ersten Mal im Kontext des ethnologischen Films verortet gesehen. Die Filme von Dennis O’Rourke begegneten mir hingegen schon in meinem Grundstudium der Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Von Dennis O’Rourkes Filmen ist der am meisten in der Visuellen Anthropologie diskutierte Film vielleicht The Good Woman of Bangkok (GB/AU 1991, R: Dennis O’Rourke, L: 82 Min.) in dem der Filmemacher selbst eine Liebesbeziehung mit einer Prostituierten für seinen Film eingeht, oder vorgibt einzugehen. In den frühen 1990ern war der Film ein echter ‚Aufreger‘ und Auslöser für etliche intellektuelle Diskussionen, wie Hamilton festhält: „Critical analysis moves beyond the immediacy of the ‚innocent viewer’s‘ response, and by implication denies that any viewer is innocent. No cultural product, least of all a ‚documentary fiction‘, can be understood to provide a simple reflection of ‚the real‘; the contested relation between image and world is nowhere registered more starkly than in a work of this kind. The blurring between ‚truth‘ and ‚fiction‘, which has become a burning issue recently in the field of literature […], was in many ways pre-empted by The Good Woman of Bangkok, although few seemed to recognise this at the time.“ (Hamilton 2006 [1997]: 11)
6 | Soweit nicht anders vermerkt, wurden sämtliche Auszeichnungen oder Hervorhebungen bei Zitaten bereits innerhalb des Originals verwendet.
1. Zur Einführung
Ebenso sind die Filme von Trinh T. Minh-ha eindeutig Filme, die neue beziehungsweise eigene Erzählstrategien verfolgen. Sie sind durchaus auch als Beitrag zur Theorie zu verstehen. Minh-ha lehnt nämlich jegliche Kategorisierung von Filmen ab und stellt die Praxis des Schaffens von Genres durch Wissenschaft ebenfalls in Frage. Generell hält sie fest: „Es gibt keinen Dokumentarfilm – unabhängig davon, ob der Begriff eine Materialkategorie bezeichnet, ein Genre, eine Methode oder eine Reihe von Techniken.“ (Minh-ha 2012 [1998]: 276) „Vergegenwärtigt man sich nur allein das ästhetische und inhaltliche Spektrum der Filme dieser Filmemacher wird bereits die stilistische Vielfalt ethnographischen Filmschaffens deutlich. David MacDougall hat mit seiner ‚teilnehmenden Kamera‘ das Konzept der beobachtenden Filme weiterentwickelt. Dennis O’Rourke ist mit seinen polemischen Filmen stets auf Kritik zahlreicher Ethnologen gestoßen. […] Trinh T.Minh-ha hat mit ihren selbst-reflexiven Filmen, das starre, ideologisch geprägte und wissenschaftliche Konzept des ethnographischen Films erweitert.“ (Kull 2006: 19f.)
Neue Erzählstrategien werden auch durch technischen Fortschritt hervorgerufen, wie sich in der Geschichte gezeigt hat. Es gibt Abhängigkeiten zwischen Verfahren und technischen Möglichkeiten (ebd.: 16, 21). Etwa hätte es ohne die Erfindung leichter 16-mm-Kameras und des Synchrontons seit den 1960er Jahren eine Entwicklung wie das direct cinema7 in den USA und das cinema verité 8 in Frankreich nicht gegeben (ebd.). Durch die Möglichkeit des Originaltons konnte der Off-Kommentar wegfallen, gleichzeitig steht dahinter nicht nur Technik, sondern immer auch ein Konzept innerhalb eines gesellschaftlichen Zeitgeists und einer spezifischen Filmkultur.
7 | Das direct cinema entstand in den 1960ern in Nordamerika. Durch die neue Technik veränderte sich viel auf der Ebene des Tons. Originalton und -geräusche ersetzten den Kommentar und es wurde bevorzugt auf Interviews verzichtet. Die Kamera ist dabei quasi unsichtbar, die Bilder sprechen für sich. Bedeutende Vertreter sind u.a. Richard Leacock, Don A. Pennebker, Frederik Wiseman (Hohenberger 1988: 125ff.; Kull 2006: 27f.) 8 | Das cinema verité ist stark mit dem Namen Jean Rouch und dem Film C hronik eines S ommers (im Original: C hronique d’un été) (F 1961, R: Jean Rouch/Edgar Morin, L: 85 Min.) verbunden. Ganz bewusst wurden Reaktionen von Protagonisten in Interviewsituationen hervorgerufen. „Ganz im Gegenteil die Filmemacher verstehen sich als so genannte ‚agents provocateurs‘. Dies bedeutet, dass die Dreharbeiten im Sinne der so genannten ‚provozierenden Kamera‘ in höchstem Maße durch die Interaktion der Filmemacher mit den gefilmten Personen bestimmt sind.“ (Petermann 1984: 41f.; Kull 2006: 27; Hornung 2009: 50)
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Zwischen Dokumentation und Imagination „In den 60er Jahren hat sich das Erscheinungsbild des Dokumentarfilms radikal verändert. Zunehmende Unzufriedenheit der Dokumentaristen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Techniken angesichts der realistischeren Möglichkeiten des fiktionalen Films führten zu einer Veränderung der Wünsche bezüglich des Verhältnisses von Realität und Film. Anstatt über das Reale zu sprechen, sollte das Reale nun selbst sprechen können.“ (Hohenberger 1988: 125)
In dieser Zeit wird der ethnologische Film von drei Regisseuren geprägt: Jean Rouch, John Marshall und Robert Gardner (Petermann 1984: 38; Hornung 2009: 49). Sie alle sind bedeutend und doch möchte ich an dieser Stelle nur einen herausgreifen, die vielleicht schillernste Figur der Dreien. Jean Rouch prägte mit seinem Filmschaffen den ethnologischen Dokumentarfilm, vor allem in Folge seines Films Les Maîtres Fous (F 1955, R: Jean Rouch, L: 36 Min.). Hier entwickelte er sein Konzept des Ciné Trance. Er argumentierte, dass er während des Rituals der Hauka9, welche dabei in einen tranceartigen Bewusstseinszustand fallen und die Kolonialzeit durch symbolische Rollen aufarbeiten, selbst in eine Art „Trance“ gefallen sei und die Kamera sich wie von selbst geführt hätte (Kull 2006: 25). Die Darstellung des Besessenheitskults in Kombination mit dem improvisierten Kommentar Rouchs sorgte für Kontroversen (ebd.). Der Film stand für eine neue Form der Grenzüberschreitung, was Thema und Machart zugleich betraf: Die Darstellung der Riten, die eine Verhöhnung der ‚Kolonialherren‘ und Besessenheit zeigte, kombiniert mit einer ‚entfesselten‘ Kamera, die quasi selbst mitten im Geschehen war und keinen distanzierten Blick wahrte (ebd.: 25f.).10 Hier zeigt sich erneut, wie eine neue Erzählart, eine Entgrenzung der filmischen Darstellungsweise, im besten Sinne nicht nur ein Thema überhaupt erzählbar macht, sondern auch versucht, filmisch neue Möglichkeiten des Wahrnehmens zu eröffnen. Die Bedeutung des technischen Fortschritts sollte man sich auch verdeutlichen hinsichtlich der heutigen Technik (Stichwort Mini-DV), die tatsächlich 9 | Die Hauka sind nigerianische Bauern, die nach Ghana migrierten. Die Besessenheitsrituale der Hauka sind auf die Kolonialzeit zurückzuführen, nach der Unabhängigkeit West-Afrikas gerieten diese in Vergessenheit (Kull 2006: 25 Fußnote 33). 10 | Die Homepage Maitres-Fous.Net hat sich ganz dem filmischen Schaffen Jean Rouchs verschrieben hat ihn sogar als Vater des Ethnofiction ausgezeichnet: „ETHNO-FICTION: Rouch did not believe in a strict delineation between fiction and non-fiction films. He writes, ‚For me, as an ethnographer and filmmaker, there is almost no boundary between documentary film and films of fiction‘ (Ciné-Ethnography, 185). Recognizing that cinematic objectivity was illusory and that a camera was bound to change the kind of interactions he could have with the world around him, he saw nothing contradictory in the idea of employing narrative techniques in his ethnographic films. This practice has come to be known as ethno-fiction.“ (Maitres-Fous.Net o.J.: o.S.)
1. Zur Einführung
noch einmal einen ganz anderen Zugang für ‚jedermann‘ zum Medium Film ermöglicht und vor allem hier keinen Unterschied mehr zur ‚Filmelite‘ zulassen muss. Gleichzeitig ist die Ästhetik von Mini-DV durchaus auch für Profis und die große Leinwand gangbar geworden. Deutschland. Ein Sommermärchen (D 2006, R: Sönke Wortmann, L: 110 Min.) von Sönke Wortmann, der vier Millionen Zuschauer in die Kinos lockte, wurde mit einer kleinen, semiprofessionellen Mini-DV-Kamera gedreht (Müller 2011: 9). „Wortmanns S ommermärchen bewies, dass das Consumer-Format Mini-DV auch im nicht-fiktionalen Bereich auf der großen Kinoleinwand reüssieren kann. Die günstige semi-professionelle Videotechnik führte seit ihrer Ausbreitung Mitte der 1990er Jahre zu einer ständig steigenden Zahl an Dokumentarfilmen, die mit Low-Budget-Ausrüstung gedreht und bei Filmfestivals eingereicht werden.“ (Ebd.: 10)
Gehen wir einen Schritt zurück zu der Frage, was neben der Technik eigentlich entscheidend ist für Umbrüche. Was gegenwärtig die Mini-DV ist, war in den 1960er Jahren der Synchronton und noch früher vielleicht der Akt des Filmens an sich. Dabei ging es in erster Linie also immer um die Frage nach der Art der filmischen Darstellung und der benutzten Verfahren. Und der Entgrenzung kam schon immer eine besondere Bedeutung zu, wie sich bei Jean Rouch gezeigt hat. Filme mit neuen Erzählstrategien sind bereits zu Stummfilmzeiten diskutiert worden, wie Grass oder eben auch Nanook of the North von Robert Flaherty, der als „Vater des Dokumentarfilms“ gilt (Kull 2006: 21). Flaherty hatte das Anliegen, seine Protagonisten als handelnde Personen zu zeigen und damit seinen Respekt gegenüber den Inuit auszudrücken. Dabei griff er auch auf inszenierte Szenen für den Film zurück, was für ihn aber Ausdruck des Versuchs einer größtmöglichen dokumentarischen Authentizität war. Gleichzeitig schaffte er damit Identifizierungsmöglichkeiten für die Rezipienten. „Flahertys Eskimos sind handelnde Subjekte, keine ethnographischen Objekte.“ (Petermann 1984: 31; Hornung 2009: 45)11 Die Frage nach der Authentizität oder der größtmöglichen Authentizität begleitete den ethnologischen Film von seinen Anfängen bis Heute. Ich möchte an dieser Stelle weder eine Geschichte des ethnologischen Films und der unterschiedlichen Rezeptionen desselben in der Wissenschaft schreiben noch selbst dezidierte Kriterien entwickeln, was ein ethnologischer 11 | Natürlich gab es Kritik an dieser Vorgehensweise, auch wenn Flaherty selbst kein Geheimnis daraus gemacht hat. Man warf ihm vor, nicht dokumentarisch gearbeitet zu haben. Er selbst sah das anders, wie Hohenberger herausarbeitet, unter anderem: „Flaherty verstand den Dokumentarfilm in erster Linie als Gegenpol zu den Methoden des Spielfilms mit seinen Studioinszenierungen und Stars, die seiner Meinung nach einen realistischen Film verhinderten.“ (Hohenberger 1988: 116f.)
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Film ist oder eine Theorie desselben aufstellen.12 Für die vorliegende Arbeit ist relevant, dass es hinsichtlich der Erzählstrategien im ethnologischen Film von Anfang an darum ging, das Verhältnis zur Realität oder die Möglichkeiten des dokumentarischen Erzählens zu hinterfragen. Es gab immer schon innovative Filmemacher, die neue Erzählstrategien entwickelt haben und so etwa Identifikationsmöglichkeiten, Imaginationsräume oder Reflexionen auf das Medium Film selbst schufen. Wie deutlich wurde, kann eine Abgrenzung zu verschiedenen Gattungen und auch eine Einordnung des Genres ethnologischer Film in die Gattung Dokumentarfilm für diese Arbeit nur bedingt sinnvoll sein. Also halte ich es in der Folge mit Frank Heidemann, wenn er zur Schwierigkeit der Bestimmung des ethnologischen Filmkorpus resümiert:
„ Als Annäherung kann man jedoch festhalten, dass der ethnologische Film den Korpus von Filmen umfasst, der von Ethnologen verantwortet wurde oder Eingang in die ethnologische Literatur oder Filmfeste gefunden hat.“ (Heidemann 2011: 259) Ethnologische Filmfestivals haben sich in meiner Recherche als besonders guter Seismograph für ein ethnologisches Filmschaffen herausgestellt und auch als Hinweisgeber13, welche Filme, wie Kull es oben bezeichnete, „[…] ihren Platz in der Ethnologie gefunden haben“ (Kull 2006: 21). Meine Forschung fand in den Jahren 2006 bis 2011 auf verschiedenen, in erster Linie europäischen ethnologischen Filmfesten statt, insbesondere auf dem freiburger film forum, dem Göttingen International Ethnographic Filmfestival, dem Ethnofilmfest München, dem viscuult – festival of visual culture (Joensuu/Finnland), dem Beeld voor Beeld Documentary Film Festival on Cultural Diversity (Amsterdam/ Niederlande), dem Festival International Jean Rouch (Bilan du film ethnographique, Paris/Frankreich) und, als amerikanisches und international sehr relevantes Festival, dem Margaret Mead Film and Videofestival (New York/USA). Zur Veranschaulichung der Spannbreite heutiger Programme auf Filmfestivals möchte ich zunächst exemplarisch auf das Meadfest eingehen, bevor ich im nächsten Unterkapitel zwei deutsche ethnologische Filmfestivals in Kürze aufgreife. Das Margaret Mead Film and Videofestival (Meadfest) in New York ist das älteste internationale Dokumentarfilmfest in den USA. Das Festival hat durch seinen Ort im American Museum of Natural History einen Raum gewählt, 12 | Weiterführende Literatur zur Geschichte des Dokumenarfilms z.B. Roth 1982. Zur Geschichte des ethnologischen Films, beispielsweise Petermann 1984. Und zur Theorie des ethnologischen Films: Hohenberger 1988. 13 | Darüber hinaus kann meiner Meinung nach auch jeder andere Film von ethnolo gischem Interesse sein, wie auch die vorliegende Arbeit zeigt. Doch durch das eindeutige „Label“, das auf diesen Festivals vergeben wird, gibt es einen guten Ansatzpunkt.
1. Zur Einführung
der eine spezifische Atmosphäre und damit möglicherweise eine sehr spezifische Erwartungshaltung hervorruft, die geprägt ist von Wissenschaftlichkeit und Präzision. Der vom Festival online gestellte Fragebogen aus dem Jahr 2012 mit den so genannten „Frequently Asked Questions“ ist sehr aufschlussreich hinsichtlich der Erwartungshaltung, die man beim New Yorker Publikum voraussetzt. Gleich die dritte Frage ist, ob das Festival nur wissenschaftliche oder ethnographische Filme zeige. Die Antwort ist klar: „Nein“, um weiter zu erläutern, dass es um ein breites Spektrum von Geschichten, Gemeinschaften und geographischen Orten gehe. Da stellt sich die Frage, was die Autoren des Fragebogens für ethnologisch halten, oder besser: Was sie annehmen, dass die Leser des Fragebogens für ethnologisch halten. Denn die Antwort ist nichtssagend, und dennoch scheint es von Bedeutung zu sein, sich so vom Label ‚nur-ethnologisch‘ zu befreien. Das Margaret Mead Film and Videofestival weist darüber hinaus explizit auf die Vielfalt der auf ihm gezeigten Filme hin. Im Jahr 2012 war das ‚Nicht-fiktionale‘ als verbindendes Element bei der Selbstbeschreibung auf der Homepage besonders augenfällig: „The Mead Festival screens a range of non-fiction films and videos including but not limited to: feature documentaries, short documentaries, indigenous works, community media, essay films, hybrid films, animation, and experimental non-fiction.“ (Meadfeast 2012: o.S.)
Drei Jahre später zeigt sich das Festival als vielfältig hinsichtlich Themen und Präsentationsformen aus. „This annual documentary film festival, founded in honor of anthropologist Margaret Mead, hosts movie screenings, video installations, conversations, and events that increase our understanding of the peoples and cultures that populate our planet.“ (Meadfest 2015: o.S.)
Die Programmierung des Mead Fest zeigt sich noch vielfältiger als es deutsche Festivals oftmals tun. Hier liefen Filme, die in Deutschland auf größeren Dokumentarfilmfesten laufen, wie Plug&Pray von Jens Schanze im Jahr 2010 (D 2010, R: Jens Schanze, L: 91 Min.) oder im Jahr zuvor Cooking History (A/SLO/CS 2009, R: Peter Kerekes, L: 88 Min.) von Peter Kerekes. Beide liefen auf dem Meadfest sogar als Eröffnungsfilme. In Deutschland wurden sie auf dem DOK.fest in München gezeigt, aber soweit mir bekannt, auf keinem deutschsprachigen ethnologischen Filmfest. Plug&Pray etwa lief in Deutschland zudem im Programm der Berlinale. Das Meadfest zeigt aber auch die Filme, die in jedem Jahr zu einer Art ethnologischem Kanon gehören und von einem ethnologischen Filmfest zum anderen „tingeln“. Das sind etwa außergewöhnliche Erstlingswerke wie Bride
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Kidnapping in Kyrgyzstan (KIR/UK/USA 2004, R: Petr Lom, L: 51 Min.) von Petr Lom oder die hier in dieser Arbeit noch zum Tragen kommenden Werke von David MacDougall und Kim Longinotto. Die im Verlauf dieser Arbeit analysierten hybriden Filme setzen sich von einem klassischen ethnologischen Filmrepertoire ab, das ebenfalls weiterhin stark auf diesen Festivals präsent ist. Um hier nicht den Eindruck zu erwecken, es gäbe nur noch „hybride Formen“ des ethnologischen Films, stelle ich nachfolgend exemplarisch die beiden Filmemacher David MacDougall und Kim Longinotto und ihre Arbeit vor, die ich schon nahezu als „Neue Klassiker“ identifizieren möchte.
1.4 „N eue K l assiker “ des e thnologischen F ilms : D avid M ac D ougall und K im L onginot to Zumindest für die beiden großen deutschsprachigen ethnologischen Filmfestivals, das freiburger film forum und das Göttingen International Ethnographic Film Festival lässt sich festhalten, dass in den 2000er Jahren Filme von David MacDougall und oftmals auch seiner Frau Judith MacDougall sowie Kim Longinotto gleichermaßen ausführlich gezeigt wurden. Das ist sehr augenfällig, da die Festivals sich sonst in ihrer Filmauswahl durchaus oft unterscheiden und andere Schwerpunkte setzen. Beide Festivals14 zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur Filme zu bestimmten Themenschwerpunkten zeigen, sondern in der Regel auch Podiumsdiskussionen und Workshops zu Fragen der Visuellen Anthropologie veranstalten. An diesen Orten wird also auch diskutiert und definiert, was ethnologischer Film sein kann und sein darf und dies zukünftigen Generationen der Visuellen Anthropologie mit auf den Weg gegeben. Das Göttinger Filmfest hatte in den letzten zehn Jahren Konferenzthemen wie „Participatory – What Does it Mean? Participatory Cinema, Participatory Video Under Consideration“ (2012), „Future Past: Cultural Heritage and Collaborative Ethnographic Film Work” (2010), „Ethics and Responsibilities in the Digital Era“ (2004) oder „Ethnographic Film Online“ (2002) (GIEFF 2012: o.S.). Die Themen zeigen, dass hier ein Verständnis vom ethnologischen Film zugrunde liegt, das von der Arbeit im Feld als Grundlage des Filmes ausgeht und mit der Überschreitung kultureller Grenzen zu tun hat. Die Filme, bei denen einen erheblichen Anteil studentische Produktionen ausmachen, sind überwiegend nach Regionen geordnet im Programm aufgenommen, also entsprechend der Arbeitsweise von
14 | Die Festivals finden im Wechsel statt: Bei geraden Jahreszahlen in Göttingen, bei ungeraden in Freiburg.
1. Zur Einführung
Ethnologen, die in der Regel auch einen regionalen Schwerpunkt haben. In der Selbstbeschreibung auf der Homepage heißt es: „The festival will be open to filmmakers as well as anthropologists in a wide sense of the term. It aims at screening new film productions made in a variety of styles and from as many different countries as possible. Organised as a Central European event, films from that area will be accepted with particular interest, so that the festival can successfully act as a forum for filmmakers and anthropologists from East and West. Furthermore, special emphasis will be placed on students’ entries by organising a competition in which a ‚Students’ Award‘ is given to the best student film. Entries for this competition must be made by filmmakers who were students at the time of the film’s production.“ (GIEFF 1993: o.S.)
Auch dieses Zitat verdeutlicht den wissenschaftlichen Anspruch. Das Festival hat darüber hinaus durch seine langjährige Nähe zum Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) stark die Wahrnehmung des ethnologischen Films mit geprägt. Ich würde sagen, dass es in Göttingen eine Tendenz dazu gibt, sich Filme von ihrer Produktionsseite her anzuschauen. Das heißt, es wird danach gefragt, wie und in welchem Kontext und vielleicht auch mit welchem Ziel die Filme gemacht wurden. Auf dem freiburger film forum gibt es kein übergreifendes Konferenzthema, sondern es werden mehrere Schwerpunkte gesetzt. So wurde etwa 2011 ein Panel zum Thema „Revolten in der arabischen Welt“ und ebenso ein Werkstattgespräch mit Michael Oppitz durchgeführt. Zwei Jahre zuvor waren „Arbeitsmigration und Kriegstrauma“ Gegenstand des Filmfestivals. Gleichzeitig werden dort gleichzeitig auch Retrospektiven von Filmemachern aus dem ethnologischen Kontext gezeigt. Hier ordnen sich die Filme den Themen zu. So ist die Erwartung in Freiburg eine andere als in Göttingen, wie auch die Selbstbeschreibung des freiburger film forums zeigt, die auf der Startseite der alten Homepage bis 2013 zu lesen war und nunmehr im Archiv zu finden ist: „Kultureller Austausch und intensive Gespräche zwischen Publikum und eingeladenen Gästen sind das Markenzeichen des freiburger film forums. Was 1985 als Festival des ethnografischen Films begann, hat sich zu einem der bedeutendsten Foren für den interkulturellen Dialog entwickelt und gehört zu den angesehensten Filmveranstaltungen dieser Art in Europa. Gerade der Werkstattcharakter und die überschaubare Größe dieses Festivals verleihen ihm seine besondere Intensität und ermöglichen Diskussionen, die es für Regisseure aus aller Welt attraktiv machen.“ (freiburger film forum o.J.: o.S.)
Meines Erachtens werden die Filme in Freiburg, anders als in Göttingen, eher von der Rezeptionsseite gedacht. Filme werden tendenziell – wie auch in dieser Arbeit – als Produkte kultureller Prozesse gesehen. Als kulturelle (oft künstle-
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rische) Produkte können Filme (auch im engeren Sinne ethnologische Dokumentarfilme) mit filmanalytischen Methoden untersucht werden, welche die Filme als eigenständige Werke betrachten und interpretieren. Um eine gültige Interpretation zu finden, muss dabei nicht auf Aussagen des Filmemachers oder den Produktionsprozess zurückgegriffen werden, sondern der Film als fertiges Produkt ist das Material der Analyse. Es lässt sich festhalten, dass sich der ethnologische (Dokumentar-)Film in Deutschland von Anbeginn an im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, zeitgenössischem Dokumentarfilm und fremdkulturellen bzw. regionalen Interessen bewegt hat. Zurück zu David MacDougall und Kim Longinotto, die auf beiden Festivals besonders präsent waren: Im Jahr 2000 lief in Göttingen Doon School Chronicles (AU 2000, R: David MacDougall, L: 140 Min.), welcher dann im darauffolgenden Jahr in Freiburg sogar zusammen mit DIYA (AU 2001, R: Judith MacDougall, L: 56 Min.), Lorang’s Way (AU 1979, R: David MacDougall/ Judith MacDougall, L: 70 Min.) und Takeover (AU 1979, R: David MacDougall/ Judith MacDougall, L: 87 Min.) zu einem deutlichem MacDougall-Schwerpunkt führte. War im Jahr 2002 in Göttingen nur einer von beiden zu sehen, nämlich Longinotto mit Runaway (GB 2001, R: Kim Longinotto/Ziba Mir-Hosseini, L: 87 Min.), der ein Jahr später auch in Freiburg lief, gab es im darauffolgenden Festivaljahr 2004 wieder Filme von beiden Filmemachern im Programm und zwar The New Boys (AU 2003, R: David MacDougall, L: 100 Min.) von MacDougall und The Day I will never forget (GB 2002, R: Kim Longinotto, L: 92 Min.) von Longinotto. Beide genannten Longinotto-Filme wurden in Freiburg im Jahr 2003 gezeigt. Auch 2006 waren in Göttingen beide Filmemacher wieder vertreten: MacDougall mit The Age of Reason (AU 2004, R: David MacDougall, L: 87 Min.) und Longinotto mit Sisters In Law (GB 2005, R: Florence Ayisi/Kim Longinotto, L: 104 Min.). Letzterer war 2007 in Freiburg zu sehen. Dort wurde in der nächsten Ausgabe dann Gandhi’s Children von MacDougall (AU/ IND 2008, R: David MacDougall, L: 185 Min.) genauso wie The Art of Regret (CHN/AU 2007, R: Judith MacDougall, L: 59 Min.) von Judith MacDougall gezeigt, und 2011 in Freiburg Pink Saris (GB/IND 2010, R: Kim Longinotto, L: 96 Min.) von Longinotto. In Göttingen lief The Art of Regret 2008 ebenfalls und im Jahr 2012 und 2012 Awareness von Judith und David MacDougall (AU 2010, R: David MacDougall/Judith MacDougall, L: 67 Min.). Keine anderen Filmemacher haben meines Wissens so viele Werke auf diesen beiden deutschsprachigen ethnologischen Filmfesten platziert wie Longinotto und MacDougall. David MacDougall ist vermutlich der prominenteste und auch produktivste zeitgenössische ethnologische Filmemacher, der auch selbst theoretische Schriften sowohl zum Film im Allgemeinen als auch zu seinen eigenen Arbeiten verfasst hat. Im Jahr 2001 hat das freiburger film forum David und Judith MacDougall bereits mit einer Hommage gewürdigt. Der bedeutende Einfluss der beiden
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Filmemacher auf die Visuelle Ethnologie wird schon allein beim Lesen des Programmheftes deutlich, in dem auch die Bedeutung des Mediums Film nach David und Judith MacDougall herausgestellt wird: „Film lässt sich weder mit Texten noch mit Abbildern vergleichen, denn er schafft, so Judith MacDougall, eine eigene Realität, die ohne den evokativen Akt des Filmsehens und -hörens nicht denkbar ist. Sehen und Hören, Offensichtliches und Subtiles, werden nicht separat erfasst, sondern fügen sich zu ganzheitlichen, aber durchaus ambivalenten Botschaften. Filme arbeiten wie der Alltag mit dem, was David MacDougall ‚soziale Ästhetik‘ nennt. Damit bezeichnet er jenen Aspekt der sozialen Erfahrung, der durch ästhetische Formen – jenseits von Mode oder Zeitgeist – vermittelt wird und schließt die Formen der Macht mit ein. Man sieht, ohne bewusst zu sehen, und somit werden Filme auch zu dem, was sie als ‚erweiterte Metaphern des Unsichtbaren‘ umschreiben.“ (Heidemann 2001: 8)
Laut Heidemann waren sie die ersten Dokumentarfilmer, die mit Synchronton und Untertiteln arbeiteten, um so die Stimmen der Protagonisten zu erhalten (ebd.). Damit waren sie ihren Zeitgenossen voraus. Heute ist es im ethnolo gischen Dokumentarfilm üblich und aus ethischen Gründen erforderlich, den Protagonisten ihre Stimme zu überlassen und nicht einen Kommentar darüber zu ‚stülpen‘. MacDougall äußerte sich in seinen Schriften auch immer wieder selbst zu der von ihm vertretenen Form des „observational cinema“ (MacDougall 1998; Grimshaw/Ravetz 2009). Hier geht es darum, eine fast schon emische Sichtweise durch lange Anwesenheit, wie etwa bei einer teilnehmenden Beobachtung, und das Einfühlen in die Lebenswelt der Protagonisten zu erlangen. Dies äußert sich im Filmbild unter anderem durch lange Einstellungen, den Respekt vor Realzeit und den Verzicht auf Wertung und Einschnitte. Als Beispiel für David MacDougalls Schaffen soll nachfolgend sein jüngstes Werk Gandhi’s Children herangezogen werden. Gandhi’s Children lief auf vielen ethnologischen und auch nicht ethnologischen Filmfestivals im Jahr seiner Veröffentlichung 200915: In dem Film begleitet MacDougall Jungen in einem Heim für Waisen und obdachlose Jugendliche in Neu-Delhi. MacDougall stellt seinem Film ein Zitat von Mahatma Gandhi voran:
15 | Auf dem Margaret Mead Film Film and Videofestival (Meadfest), auf dem London International Documentary Film Festival dem Festival International Jean Rouch, dem Munich International Documentary Film Festival (DOK.FEST ), dem freiburger film forum, dem Beeld voor Beeld Documentary Film Festival on Cultural Diversity, der Ethnocineca, den Days of Ethnografic Films, dem Brisbane International Film Festival, dem NAFA Film Festival und dem DocLisboa.
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Zwischen Dokumentation und Imagination „The greatest lessons in life, if we would but stoop and humble ourselves, we would learn...from the so-called ignorant children. –Mahatma Gandhi October, 1931“ (G andhi ’s C hildren 2008: 00:00:28)
Dazu vernehmen wir die Geräuschkulisse einer Halle voller Kinder, wie man sie in einem leeren Gebäude, einer Sporthalle oder Ähnlichem hören kann. In den ersten fünf Minuten des Films schlendern ‚wir‘ durch den ‚beginnenden Tag‘. Es ist diese schläfrige und angenehme Ruhe des Tagesbeginns, bevor der Alltag hereinbricht, die kühle, unaufgeregte Morgendämmerung. MacDougall filmt die Jungen, wie sie wach werden und sich erst noch orientieren müssen. Und er zeigt vor allem auch Räume und Symmetrien: die Schlafräume und das Treppenhaus genauso wie das Gebäude von außen, den Vorplatz oder die nahe gelegenen Häuser sowie die Weite. All das vermittelt ein Gefühl für den Raum und die Umgebung und lässt diese dadurch zunächst fast kulissenartig wirken. Hier zeigt sich MacDougalls Idee der Sozialen Ästhetik, bei der er davon ausgeht, dass sich Normen und Werte in Räumen widerspiegeln und materialisieren: „Das ästhetische Feld ist die physische Manifestation von Handlungen und Objekten einer internalisierten Ordnung, die sich in geschlossenen Anstalten [...] besonders deutlich abzeichnen.“ (Heidemann 2011: 261) Der Eindruck der Distanziertheit, der durch das Abfilmen des Raums hervorgerufen wird, ist allerdings vorbei, sobald der Fokus des Films auf die Kinder übergeht. Mit einer großen Vertrautheit tritt der Filmemacher in Beziehung zu den Protagonisten. Die unmittelbare, auch sehr körperliche Nähe innerhalb der ersten zehn Minuten des Films ist außergewöhnlich. Die Kamera (MacDougall) ist direkt dabei: Beim Waschen und Duschen, bei Toilettengängen und auch bei der kollektiven Bestrafung durch körperliche Gewalt von kleineren Jungen durch größere. Dabei wird deutlich, dass die Jungen die Kamera beziehungsweise den Kameramann durchaus wahrnehmen, sie schauen ihn beispielsweise während der ‚Bestrafung‘ an. Es wird aber ebenso deutlich, dass MacDougall sich als ‚Gegenüber‘ entzieht. Die Situation läuft so weiter, wie sie es wohl auch ohne Kamera getan hätte. Dies erzeugt die Erwartungshaltung beim Zuschauer, mit MacDougall in den nächsten drei Stunden in das soziale Gefüge und den Kosmos kleiner Jungen einzutauchen, die in einem Heim in Indien leben. Wie selbstverständlich werden wir in die Lebenswirklichkeit der Jungen mitgenommen: Wenn sie beim Arzt nach Hautkrankheiten untersucht werden, sich gegenseitig nach ihren Familien befragen oder Kricket spielen. Nach 25 Minuten ist ein relativ ereignisloser (im Sinne von handlungsarmer) Tag im Kinderheim vorbei. Der nächste Tag beginnt wieder mit Bildern von den schlafenden Jungen und diesmal mit dem Abwasser, das aus dem Gebäude rauscht. Der Morgen ist wie eine Zäsur. Heute sind wir mit den Betreuern in den Zimmern und wecken die Jungen. Wieder wird uns verdeutlicht, dass hier eine Erzie-
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hung unter den Jungen stattfindet, wenn sie sich gegenseitig dazu ermahnen, ihre Zimmer zu putzen. Dann kommen neue Jungen in dem Heim an, die laut der Aussage eines älteren alle am Bahnhof aufgegriffen wurden. Einige der Jungen weinen und sind äußerst aufgebracht, dass sie in das Kinderheim gebracht werden (Gandhi’s Children 2008: 00:29:30ff.). Die Männer versuchen, den Jungen zu erklären, dass es ihnen im Heim besser gehen wird: Sie bekommen Essen und saubere Kleidung. Einer der Jungen erklärt, dass es ihm gut gegangen sei und er jeden Tag Geld verdient habe, und macht deutlich, dass er nicht freiwillig in dem Heim ist. Wir sehen hier die betreuenden Männer bei der Arbeit, wie sie die Jungen beruhigen, soweit möglich ihre Personalien aufnehmen und ihnen erklären, dass sie zu jung zum Arbeiten seien und jetzt hier versorgt würden (ebd.: 00:37:15ff.). Die Situationen und die beteiligten Personen sprechen für sich, ohne dass Kontextualisierungen vom Bild ablenken: Nicht die Herkunft der Kinder, nicht das Vorkommen von Kinderarbeit, nicht der ‚Background‘ der Betreuer oder die Idee des Kinderheims. Es gibt ‚nur‘ die reine, beobachtende, ruhige Kamera David MacDougalls, die uns einen Ausschnitt aus dem Leben dieser Kinder präsentiert. Dabei verheimlicht uns die Kamera nichts: weder Tränen noch Streit noch Krankheit oder Schmutz. Und doch wirkt dabei alles ästhetisch und annehmbar, menschlich und natürlich. Hier zeigt sich die Besonderheit der filmischen Arbeit MacDougalls, die inzwischen als eine klassische Herangehensweise des ethnologischen Films gesehen werden kann. Sowohl sein Ansatz des „observational cinema“ als auch des „corporeal image“ werden hier auf eindrucksvolle Weise verdeutlicht.16 Die zweite Filmemacherin, deren Arbeit ich hier näher betrachten möchte, ist Kim Longinotto. Wie ein Blick in das Programm einschlägiger Festivals zeigt, ist auch sie auf diesen derzeit sehr präsent. Die Filmemacherin ist selbst keine Ethnologin und hat sich auch nie in dieser Richtung geäußert, aber aufgrund ihrer Themen und ihrer Art des Filmemachens steht sie durch ihre Präsenz auf einschlägigen Festivals stark im ethnologischen Diskurs. Zunächst ein Blick auf ihr Werk. Kim Longinotto ist eine sehr produktive und weltweit tätige britische Filmemacherin, die für ihre Filme mehrfach ausgezeichnet wurde, so beispielsweise für den Film Sisters in Law mit dem „Prix Art et Essai“ in Cannes im Mai 2005. Diesen Film möchte ich hier beispielhaft anführen. Sisters in Law beginnt mit einer dichten Atmosphäre: ein fröhlicher Gitarrenrhythmus, eine heitere Melodie und die Bilder von Wiesen, Bäumen und Gebäuden einer mittelgroßen und eher ländlich wirkenden afrikanischen Stadt. Die Musik ist fröhlich und trägt den Zuschauer förmlich in den Film hinein. Ein lächelnder Mann in Uniform parkt sein Fahrrad an einem großen Gebäude und geht hinein. Dort wechselt eine Frau in einem blau16 | Zur aktuellen weiterführenden Literatur siehe MacDougall 2015.
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en Kostüm mit frisierten halblangen kleinen Löckchen von flachen Schuhen in rote Pumps. Das Telefon klingelt und sie meldet sich mit: „Morning, Legal Department, Kumba.“ (Sisters in Law 2005: 00:01:09) Durch diesen Filmeinstieg werden die Zuschauer nicht nur atmosphärisch und ungefähr, sondern auch im Detail verortet. Wir befinden uns also in Kumba in Kamerun in einer Rechtsabteilung, so viel wissen wir nach der ersten Minute. Kurz vor der Einblendung des Titels betritt eine Frau im schwarzen Kostüm mit strengem Zopf und Brille den Raum, der Wachmann erhebt sich und grüßt sie. Sie schaut in die Kamera, geht dann ohne ein Wort weiter und setzt sich an den großen Schreibtisch – offensichtlich ist dies ihr Büro. Die Kamera folgt ihr und mit dem nächsten Schnitt zeigt sie ein Close-up auf das Gesicht dieser jungen Frau. Der Film steigt also direkt in einen Rechtsfall ein: Die junge Frau beschuldigt ihren Vater, ihr Kind in ihrer Abwesenheit an den Kindsvater abgegeben, möglicherweise verkauft zu haben, wie sich später herausstellt (ebd.: 00:01:4700:05:30). In der kurzen Sequenz von dreieinhalb Minuten entfaltet eine der Protagonistinnen ihre ganze Stärke und Autorität. Das alles wirkt atmosphärisch dicht, beeindruckend. Denn man fühlt unmittelbar, wie geladen und angespannt die Stimmung in dem Büro ist. Auf diese Weise werden sogleich viele gesellschaftliche Themen, die sich im Verlauf des Films entspinnen werden, mitthematisiert, wie etwa der Besitzanspruch der Männer auf Frauen und Kinder. Die Durchsetzungskraft der Juristin ist bemerkenswert und obwohl wir im Verlauf des Films weder ihren noch die Namen ihrer Kolleginnen erfahren, fiebern wir doch mehr und mehr mit ihr mit. Vermutlich auch, weil es in Fällen von Kindesmisshandlung und Vergewaltigung so offenbar ist, wer hier ‚gut‘ und wer ‚böse‘ ist. Und weil die Narben und Verletzungen teilweise selbst im Kamerabild zu sehen sind. Longinotto selbst zeigt sich davon überrascht, dass ihre Filme derart große Resonanz auch in ethnologischen Kreisen, das heißt auf ethnologischen Filmfesten, finden. Dabei entsprechen die Filme genau der Atmosphäre dieser Filmfeste und ihrer Haltung. Longinottos Filme zeigen nie Opfer, sondern starke Persönlichkeiten. „The common thread is that the women and children in my films are all outsiders. They appear to be the weak ones at first, but become stronger over the course of time. They break the rules.“ (Longinotto in: Cinema Delicatessen 2007: 8) Das fällt an ihren Filmen stark auf: Sie gibt den Protagonisten ihrer Filme eine Stimme. Auch die kleinen Mädchen, die Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sind, sind in ihren Filmen nicht nur oder nicht in erster Linie bemitleidenswerte Geschöpfe, sondern Mädchen, die stark sind, sich Hilfe holen und Hilfe annehmen, die kommunizieren und ihre Peiniger so nicht davonkommen lassen. Dieser Haltung folgt die Dramaturgie von Longinottos Filmen. Kim Longinotto und David MacDougall stehen somit für einen Stil, der durchaus das Dokumentarische in den Vordergrund rückt und nicht verneint.
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Denn natürlich sitzen auch diese Filmemacher allein im Schneideraum und nicht mit ihren Protagonisten zusammen. Zusammenfassend kann man dennoch sagen, dass beide Filmemacher sich durch einen besonders intimen und respektvollen Filmstil auszeichnen, der versucht, den Protagonisten auf besondere Weise eine Stimme zu geben. Dabei legen beide Filmemacher insbesondere Wert auf Nicht-Inszenierung. Es geht um eine authentische Darstellung der Ereignisse, die aber nicht auf Kosten der Protagonisten erfolgt, sondern mit ihnen zusammen. Die Filme sind hierbei in ihrer Kameraführung und in ihrem Anspruch durchaus unterschiedlich, wie die kurze Analyse gezeigt hat. MacDougall als Vertreter des „observational cinema“ und Longinotto als Vertreterin eines späten „direct cinema“ verfolgen zwar unterschiedliche ästhetische Strategien, haben aber eine ähnliche Vorstellung davon, was authentisch ist oder zumindest so wirkt. An der Prominenz von MacDougall und Longinotto lassen sich daher immer noch aktuelle Vorstellungen von ethnologischem Film ablesen. Doch wird dieser zunehmend durch neue Formen herausgefordert – die ja durchaus auch auf den erwähnten ethnologischen Filmfestivals sehr prominent diskutiert werden. So stellt sich die Frage, ob nicht auch der ethnologische Film im Allgemeinen sich immer stärker solchen Öffnungen zuwenden wird und die neuen Formen die vormalige Frage nach Authentizität ganz anders fassen werden. Deshalb wird die Frage nach Authentizität in den folgenden sechs Filmanalysen (siehe Kapitel 2-7) in Relation zu Wahrnehmung, Körperlichkeit und Erinnern sowie Zeitzeugenschaft gesetzt.
1.5 F ilmtheore tische A nsät ze Dieser Arbeit liegt ein phänomenologischer Ansatz zugrunde, der vor allem nach der sinnlichen Wahrnehmungserfahrung fragt und mit den Begriffen der Körperlichkeit und Wahrnehmung operiert. Ich versuche mich in diesem Sinne selbst an einer Entgrenzung und lege den Analysen meine eigene Wahrnehmung und Interpretation zugrunde. Durch diese vom Werk ausgehenden Analysen mit detaillierten Beschreibungen und der Selbstreflexion im Sinne einer Ethnologie nach der „Writing Culture-Debatte“17, will die Arbeit nicht nur 17 | Das Fach Ethnologie wurde seit den 1980er Jahren durch heftige, die Fragen der Repräsentation betreffende Debatten deutlich geprägt. Die unter dem Begriff Writing Culture zusammengefasste Diskussion untersuchte Spuren kolonialer Sichtweisen und Machtverhälnisse in den schriftlichen Hervorbringungen der Ethnologie; sie hinterfragte kritisch Strategien der Exotisierung des Fremden und stellte die selbstkritische Frage nach der Autorschaft und Autorität des Ethnologen im Feld. Mit Writing Culture rückte die Notwendigkeit der Selbstreflexion des Autors und des Hinterfragens des Repräsen-
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die Filme dem Leser nahe bringen, sondern auch den Analyseprozess möglichst transparent halten. Die komplexe ‚sinnliche‘ Ebene des Films wurde von der Filmtheorie lange Zeit vernachlässigt, da man sich auf das Visuelle im Film, sprich: auf den Blick konzentriert hat. So erläutern Thomas Elsaesser und Malte Hagener in ihrem Werk, das weit über eine Einführung zur Filmtheorie hinausgeht, wie das „okularzentrische[s] Paradigma“18 (Elsaesser/Hagener 2011 [2007]: 138) in phänomenologisch orientierten Filmtheorien zugunsten des Körpers als eine „vielschichtige, aber unteilbare Kommunikations- und Wahrnehmungsfläche“ (ebd.: 140) zurücktritt. Pionierin dieser Theorie ist die Amerikanerin Vivian Sobchack, die mit Carnal Thoughts (2004) eine bedeutende Arbeit vorgelegt hat (ebd.). Sobchack verdeutlicht durch Filmanalysen und die Reflexion ihrer eigenen körperlichen Wahrnehmungserfahrungen, welche körperlichen Reaktionen und damit Einschreibungen in ihrem Körper bei der Kinorezeption stattfinden, um das Ganze dann auf eine Metaebene zu heben. „The major theme of Carnal Thoughts is the embodied and radically material nature of human existence and thus the lived body’s essential implication in making ‚meaning‘ out of bodily ‚sense‘. Making conscious sense from our carnal senses is something we do whether we are watching a film, moving about in our daily lives and complex worlds, or even thinking abstractly about the enigmas of moving images, cultural formations, and the meanings and values that inform our existence.“ (Sobchack 2004:1)
Sobchack erweitert also die wissenschaftliche Reflexion der Kinoerfahrung, die sich lange primär auf ein intellektuelles, kognitives Erleben berufen hat, um die Dimension der körperlichen Wahrnehmung und Erfahrung. Sie bezieht sich hierbei auf Maurice Merleau-Ponty. „Film ist immer Ausdruck einer Erfahrung, der seinerseits erfahren wird, also wiederum zur Erfahrung eines Ausdrucks wird: ‚ein Ausdruck einer Erfahrung durch Erfahrung‘.“ (Elsaestationsprozesses der Ethnologie in den Fokus. Die reflexive Wende des Faches trägt ihren Namen nach einem Seminar und dem dazu erschienen Sammelband (Clifford/Marcus [Hg.] 1986). Zu Writing Culture siehe auch: Heidemann 2011: 111, 120-124. 18 | „Lange Zeit herrschte in der Filmtheorie ein okularzentrisches Paradigma, das solche Ansätze bevorzugte, die das Sehen ins Zentrum des Interesses stellten. Diese Dominanz nimmt ihren Ausgang in den 1920er Jahren, als Rudolf Arnheim die Gestalttheorie für das Kino nutzbar machte [...] und Béla Balázs die Bedeutung der Großaufnahme in den Mittelpunkt rückte [...]. Auch Sergej Eisensteins konstruktivistische Montagetheorien und André Bazins Vorstellung von der Realität als mehrdeutige, aber unteilbare Erscheinung des Seins, die ihre ontologische Grundform im Kino findet, sind auf das Auge als Organ der visuellen Wahrnehmung ausgerichtet [...].“ (Elsaesser/Hagener 2011 [2007]: 138)
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ser/Hagener 2011 [2007]: 148) Dabei verwendet Sobchack detaillierte Beschreibungen ihrer Rezeptionserfahrungen, die der selbstreflexiven Wahrnehmung und Beschreibung des Ethnologen im Feld sehr nahe kommen. Auch die Filmtheoretikerin Laura Marks, die mit The Skin of the Film (2000) eine Forschung zum interkulturellen (Essay-)Film vorgelegt hat und daher auch in den Kulturwissenschaften rezipiert wird, setzt auf detailreiche Beschreibungen. Dabei stellt Marks vor allem „unrepresentable senses“ wie Berührung, Geruch, Geschmack und Ton in den Filmen in das Zentrum ihrer Analyse (ebd.: xvi). Für sie ist die Haut des Films „eine Metapher, um die Art und Weise zu betonen, wie Film durch seine Materialität Bedeutung schafft, durch einen Kontakt zwischen Wahrnehmendem und dargestelltem Objekt“ (ebd. in Übersetzung zitiert nach Elsaesser/Hagener 2011 [2007]: 157). Dabei geht es Marks auch darum aufzuzeigen, wie über die Darstellung und Anregung der Sinne verkörperte Erinnerungen aktualisiert werden können. Hinzu kommt, so denke ich, die Frage: Ist das wirklich der Körper, der da reagiert? Sobchack und Marks leisten eine Vorreiterfunktion für die phänomenologisch orientierte Filmwissenschaft. Die Frage ist, ob, wie gemeinhin angenommen wird, körperliche Erfahrung wirklich so universal ist, dass sie die Repräsentationsmodi hinter sich lassen kann und das Modell der Repräsentation folglich nicht mehr greift. Gemeint ist damit, dass in dem Moment, in dem der Zuschauer nur noch körperlich/sinnlich wahrnimmt und nicht mehr intellektuell verarbeitet und Verweise aufnimmt, möglicherweise nicht mehr von Repräsentationen zu sprechen ist und Identifikation anders funktioniert als über Narration und Dramaturgie. Dies ist ein interessanter Ansatz. Er lässt sich aber gerade aus einer Ethnologie der Sinne heraus, die nach den Dominanzen der Sinneswahrnehmungen fragt und diese kulturell verortet, anzweifeln. Marks hinterfragt, was überhaupt Wissen in der jeweiligen Kultur ist, denn wenn wir über Erinnerung und damit über erinnertes Wissen sprechen, müssen wir uns auch die Frage stellen, was das genau heißt (Marks 2000:24). So wird Erinnern und Filmemachen meines Erachtens nach immer zu einem politischen Akt. Im Rahmen eines Dokumentarfilms können Akte der Zeugenschaft, des Erinnerns und der Politik stattfinden und reflektiert werden. Das ist immer dann von besonderem Interesse, wenn es sich entweder um vergangenes Wissen oder um das Wissen von Minderheiten handelt. Marks legt in ihrer Studie dar, wie Dinge und Körper Erinnerungen speichern, vor allem auch Erinnerungen an Wahrnehmungen und haptische Erfahrungen, ebenso wie beispielsweise Berührungen. Dabei beschreibt sie sehr detailliert Videoarbeiten, in denen Großaufnahmen von Hautflächen oder Handlungen, wie etwa das Lecken einer Decke, um der Handlung willen stattfinden. So findet eine haptische Erfahrung auch beim Rezipienten statt, laut Marks sozusagen ein taktiles Sehen. Die Autorin hält fest:
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Mit dem von Marks übernommenen Kontrast kalt/warm lässt sich die Entwicklung einer medientechnologischen Revolution und auch eine veränderte Sinneswahrnehmung und Körperwahrnehmung ablesen, die sich in den letzten zwei bis drei Dekaden vollzogen hat. Ohne romantisch klingen zu wollen, könnte man auch darüber nachdenken, ob es hier um eine Sehnsucht nach Körpererfahrung geht, die sich in metaphorischen Annäherungen an Technik/Film entlädt. Das Thema ‚Körper‘ ist in den letzten zwei Dekaden allgegenwärtig, in Alltagskultur und auch Wissenschaft. In der deutschsprachigen Filmwissenschaft möchte ich in diesem Kontext auf zwei neuere Werke verweisen, welche die aufgezeigten phänomenologischen Konzepte nutzbar machen und erweitern. Zum einen ist es die Studie Medienästhetik des Films (2011) von Thomas Morsch zur verkörperten Wahrnehmung im Kino, die unter anderem die Modelle von ‚Zuschauerschaft‘ hinter einer körperorientierten Rezeption hinterfragt. Zum anderen ist das Werk Global Bodies (Ritzer/Stiglegger 2012) zu nennen, in dem eine Analyse der Bandbreite von möglichen Körperdarstellungen und -wahrnehmungen vorgenommen wird. Sinnesorgane und Körpererfahrungen dominieren nicht nur die Filmwissenschaft, sondern auch zeitgenössische ethnologische Forschung. Mit Thomas Csordas (Csordas 1990: 5-47) wird der Körper als komplexer Konsument und Produzent von Kultur wahrgenommen, und somit als handelnder Leib (Heidemann 2011: 240f.; Schmitt 2012:29). Eng daran geknüpft sind die Vorstellungen davon, was wahrnehmbar ist, wie oben schon angedeutet wurde. Aus der Perspektive einer kritischen Ethnologie der Sinne ist in Frage zu stellen, inwieweit reines körperliches Wahrnehmen im Sinne von Marks und Sobchack möglich ist. Eine Möglichkeit, den Aspekt der Körperlichkeit unter einem weiteren Gesichtspunkt zu betrachten, erfolgt durch die Verwendung anderer Künste im Film, wie beispielsweise dem Tanz. Dahinter steht der Gedanke, dass die Körperlichkeit im Film durch den Tanz selbst schon in das Zentrum der Betrachtung rückt und somit reflektiert wird. Zudem spricht Tanz in Kombination mit Musik in der Rezeption besonderes verkörpertes Wissen an. Wer kennt es nicht, wenn der Fuß wie von alleine im Takt mitzuwippen beginnt, oder wenn der beobachtete Körper in eine Spannung geht und man schon fast automatisch die eigenen Muskeln mit aktiviert. Das Thema ‚Körper‘ ist auch in den vorliegenden ethnologischen (Dokumentar-)Filmen stark präsent, wird aber nicht immer so explizit thematisiert wie in den Tanzszenen. In anderen Filmen tritt Körperlichkeit dort in den Vor-
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dergrund, wo ein Auf brechen von dokumentarischer Repräsentation stattfindet: Etwa als Auseinanderklaffen von Schauspielerkörper und Quellentext oder dem Körper animierter Figuren und den ihnen verliehenen Stimmen, die sich aus Blogtexten speisen. In Filmen mit dokumentarischem Anspruch ist der Themenkomplex Körper und Erinnern häufig mit den Problemen von Zeugenschaft und Geschichte verbunden. In der wissenschaftlichen Rezeption der Filme geht es dann sowohl um die intellektuelle Einordnung von Ereignissen als auch weiterhin um das ‚Wahrnehmbar-Machen‘ mit filmischen Mitteln. Bald werden alle Zeitzeugen großer und tiefgreifender Ereignisse des 20. Jahrhunderts verstorben sein. Gleichzeitig wird durch die Digitalisierung und eben vor allem durch das Internet, Gegenwart stetig archiviert und dokumentiert. Geschichte wird also möglicherweise eine Umdeutung erfahren, in dem Sinne, dass Geschichte polyphoner wird. An dem hoch aktuellen Thema (Augen-)Zeugenschaft lassen sich außerdem allgemeinere Überlegungen zum Dokumentarischen anstellen, die insbesondere die aktuellen Veränderungen in der Medienlandschaft berücksichtigen. Durch die technischen Entwicklungen einerseits (Camcorder, Handys, Smartphones etc.) und die globale Verbreitung von Bildern, Daten und Tönen über das Internet andererseits ist eine dauerhafte und vor allem zeitgleiche Archivierung von Ereignissen möglich. Gleichzeitig sind diese medialen Artefakte jederzeit von vielen Orten abruf bar und weiter verarbeitbar. Dies verändert Notwendigkeiten von und für Geschichtsschreibung, den Umgang mit Quellen und die Definition von Zeugenschaft. Dabei sollte auch die bisherige Betonung des ‚Visuellen‘ (etwas bezeugen, das man gesehen hat) zugunsten anderer Sinne hinterfragt oder auch ergänzt werden. Die Filmanalysen in der vorliegenden Arbeit greifen demzufolge auf Überlegungen aus phänomenologischen Ansätzen wie denen von Sobchack und Marks zurück, insbesondere durch die explizite Berücksichtigung von sinnlicher Wahrnehmungserfahrung des Rezipienten und dem Umgang mit Körperlichkeit in den Filmen. Dabei werden diese theoretischen Konzepte nicht streng befolgt und es wird nicht versucht, sie zu be- oder widerlegen, sondern sie dienen meinem Blick auf die Filme als Anregung. Im Mittelpunkt der Analysen steht insbesondere die Frage danach, inwiefern die Grenzen des Dokumentarischen (als Repräsentation von Lebenswirklichkeit) in den Filmen ausgelotet oder überschritten werden – und inwiefern hier dennoch oder gerade deshalb von Authentizität gesprochen werden kann. Welche Rolle spielt also in den neuen Erzählstrategien der ethnologischen Filme die Imagination?
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2. P romised Par adise Der Film Promised Paradise (INO/NL 2006, R: L. Retel Helmrich, L: 52 Min.) wagt eine besondere Form der Entgrenzung: die zwischen der dokumentarischen Form des Films und der künstlerischen Form des Puppentheaters. Denn auch wenn im Film ein Blick auf das Puppenspiel als Theaterform geworfen wird, so wird viel mehr noch durch die besondere Narrativität und Dramaturgie umgekehrt ein Blick vom Theater auf den (Dokumentar-)Film geworfen. In dem Film Promised Paradise folgt der Filmemacher Agus Nur Amal, einem bekannten indonesischen Puppenspieler in Jakarta, der angesichts der weltweiten Terroranschläge, insbesondere des Anschlags auf die Discothek Sari Club in Bali 2002, die Hintergründe für die Bomben-Attentate beleuchten will. Wir sehen Agus Nur Amal in Jakarta bei seinem Puppenspiel, beim Besuch des von einem Anschlag zerstörten Gebäudes der australischen Botschaft und im Gespräch mit seinem Freund, dem Vagabunden Endang. Im Verlauf des Films reist Agus nach Bali, um dort mit dem im Gefängnis einsitzenden Terroristen Imam Samudra über dessen Motive zu sprechen. Der Film oszilliert zwischen der dokumentarischen Darstellung und künstlerischen Spielarten, die sich gegenseitig durchdringen und beleuchten. Mit dem Theater als filmisches Verfahren geht eine Konstruktion der Protagonisten Agus und Endang als Figuren einher, die jeweils viel Raum für Imagination lässt. Mit einer überzeugenden Montagetechnik und einem gezielten Einsatz des Tons verhandelt der Film so nicht nur die Themen Fundamentalismus und Terrorismus vor dem Hintergrund der politisch-religiösen Situation in Indonesien neu, sondern liefert auch einen medienkritischen Beitrag zum Bilddiskurs.
2.1 The ater als K atalysator für F ak t und F ik tion 2.1.1 Puppentheater Das Puppenspiel dient als Rahmung des Films, das heißt, die Handlung beginnt und endet mit der gleichen Einstellung: der abgefilmten Bühnensituation
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des Puppenspiels. So startet die Puppentheaterszene zu Beginn des Films mit der Überblendung des Testbildes1 in den Vorhang des Puppentheaters. Dieser besteht aus den gleichen nebeneinander liegenden Farbstreifen, aus denen auch das Testbild zusammengesetzt ist. Der Vorhang wird sodann langsam hochgezogen, bis Agus zu sehen ist (00:00:33-00:00:552). Dazu erklingt mit dem Erscheinen des tatsächlichen Vorhangs im Bild der Anfangssingsang „Bangeledangdang“ des Puppenspielers, der als seine Erkennungsmelodie fungiert. Auf der Informationsebene des Films erfahren wir durch einen Schriftzug links oben: „Agus Nur Amal -Puppeteer / Troubador-“ (00:00:53). Voll zu sehen ist Agus dann ab der 55. Sekunde des Films: Er schaut auf die Kinder, die vor seiner Bühne sitzen. Mittels Montage werden uns auch die Kinder gezeigt, die in freudiger Erwartung zu Agus blicken, während er sein Lied zu Ende singt. In der nächsten Einstellung sehen wir den Puppenspieler in Nahaufnahme. Er begrüßt sein Publikum mit „Dear audience[...]“ (00:01:01). Und zwar nicht nur – wie es zu erwarten wäre – das Publikum vor der Bühne, sondern auch das Publikum, welches den Film Promised Paradise rezipiert. Sein Blick wandert von den Zuschauern des Puppentheaters in die Kamera. Agus blickt uns direkt an. Es entwickelt sich also ebenfalls eine Beziehung zwischen dem Puppenspieler Agus Nur Amal und den Rezipienten des Films Promised Paradise. Diese Doppelung von Theater und Film wird durch das Setting seiner Puppentheaterbühne – einem überdimensionalen Fernsehapparat, vermutlich aus Pappkarton – unterstützt. So gelingt eine besondere Form der Inszenierung, ein Spannungsfeld zwischen Theater und Film beziehungsweise hier Fern sehen aufzubauen. In seinem Anfangsmonolog heißt es: AGUS: „Dear audience... This is Pmtoh TV... This is a fake TV and a real one too……because real people can sit in here. That means that your TVs at home are all fake... ...because there are no real people inside your TV. But inside this television...people are made of flesh and blood. It’s more realistic TV with real 3D effects. Am I right?-Yeah!“ (00:01:01-00:01:43) 3
1 | Ein Testbild ist ein Übertragungsbild (meist in Form einer geometrischen Figur oder wie hier als Farbspektrum), das in Sendepausen gezeigt wird. 2 | Soweit nicht anders gekennzeichnet beziehen sich sämtliche in diesem Kapitel aufgeführten und mit Zeitangabe versehenen Szenen/Dialoge auf den Film P romised Paradise . 3 | Die Zitate habe ich eins zu eins aus den englischen Untertiteln des Films übernommen. Die Untertitelung stammt von Martin Cleaver. Sobald im Singsang/Rezitativ gesprochen wird, sind die Untertitel kursiviert; sämtliche Auszeichnungen wurden bereits innerhalb des jeweiligen Originals verwendet. Dies gilt auch für die Auslassungszeichen in Form von Punkten, die für Kunstpausen und Verzögerungen stehen.
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Agus thematisiert damit einerseits sein ‚Puppentheater-Konzept‘, andererseits findet dadurch auf subtile Weise eine Verzahnung mit dem Dokumentarfilm statt, die bereits auf den besonderen Inszenierungscharakter des Films verweist. Das Theater wird von Agus im Vergleich zum Fernsehen als das ‚realere‘, das authentischere Medium eingeführt. Im Fernsehen gibt es keine ‚richtigen‘/ ‚echten‘ Menschen. Agus unterstellt in dieser Szene gleich zu Beginn, dass sein Puppentheater ‚echter‘ sei als der Film und dreht die – vor allem im Westen – übliche Auffassung von Theater und Film um, also dass Film das Medium ist, das durch seine technische Entwicklung, wie beispielsweise 3D, versucht, immer ‚echter‘, immer ‚realistischer‘ an die Wirklichkeit heranzukommen. Dagegen soll das Theater, vor allem das Puppen- und das Schattentheater, die wir in diesem Film zu sehen bekommen, von Haus aus ‚unrealistischer‘/‚künstlicher‘ sein und seinen Inszenierungscharakter nicht verdecken. Und trotzdem soll laut Agus gerade diese Kunstform kein ‚Fake‘ sein? Dieser Rollenwechsel von Film und Theater lässt sich durchaus als Medienkritik interpretieren, vor allem vor dem Hintergrund, das Theater und Dokumentarfilm beide dasselbe Thema im Verlauf des Films verfolgen werden, nämlich die Darstellung von Fundamentalismus und Terrorismus durch die Medien. Zunächst noch einmal zum Puppentheaterspiel von Agus: Seine Bühne ein Fernseher aus Karton, sein ‚Kostüm‘ ein bunt besticktes Hemd und ein ebensolcher Hut. Es werden sogleich Kriterien seiner Bühnenshow offenbar: monologischer Gesang und Interaktion. Agus wird als Troubadour ausgewiesen, wobei er auf zwei Arten mit seinem Publikum kommuniziert: zum einen durch den Gesang, der an ein Rezitativ beziehungsweise einen Sprechgesang erinnert, und zum anderen mittels kurzen Frage/Antwort-Dialogen mit dem Publikum. Mit diesen Kommunikationsmethoden wird eine interaktive Bindung zum Publikum hergestellt und sie werden noch verstärkt eingesetzt, wenn etwas ‚Außerplanmäßiges‘ geschieht und Agus improvisieren muss – beispielsweise wenn ihm sein Styropor-‚Fisch‘, den er zum Flugzeug umfunktionieren wird, aus der Hand fällt, und er jemanden bittet, ihm diesen zurückzugeben: „Where’s my fish? Someone pick it up please?“ (00:02:05); oder wenn er sein Publikum befragt: „And how many people died? – Many.“ (00:02:34) Hier wird der Ereignischarakter des Theaterspiels besonders deutlich. Der Unterschied zur Fernseh-/Film-Situation, die Agus selbst zu Beginn thematisiert hat, liegt also bei dem Ereignischarakter und der Definition als Theater-Situation: Es findet eine Interaktion mit dem Publikum vor der Bühne statt, das an einer Theateraufführung teilnimmt. Die Situation bekommt also einen Ereignischarakter, der sich durch eine Live-Situation und Interaktion mit dem Puppenspieler auszeichnet. Die Wechselwirkung findet an dieser Stelle nicht mit uns, dem Dokumentarfilm-Publikum, statt. Im Gegenteil: In dem Moment, in dem wir die Interaktion
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von Bühnengeschehen und Publikum durch den Blick der Kamera beobachten, sind wir uns der abgefilmten Situation umso bewusster. Der Film lässt den Filmzuschauer hier zunächst bewusst in dem Glauben, einen Dokumentarfilm zu sehen, der auf vermeintlich herkömmliche Weise Situationen aus der Lebenswirklichkeit eines Protagonisten, eines vermeintlich realen Menschen abfilmt. Das eigentlich interessante dabei ist nun, was passiert, wenn sich herausstellt, dass der Habitus des Puppenspielers und die Eigenschaften seiner Theaterkommunikation auf andere, nicht-theatergebundene Szenen ohne Bühnensituation und Bühnenpublikum übertragen werden. Wenn also die Begrüßung an uns, das Filmpublikum, doch weitergeführt wird. Das sind Szenen, in denen Agus zwar als Figur – das heißt in seiner Rolle als Puppenspieler – auftritt, und doch ganz er selbst ist. Das Umfeld ist aber kein Bühnenpublikum, sondern wird zum unwissenden Statisten seiner Performance. Und letztendlich werden wir, die Filmzuschauer, zu dem Publikum, das, wie in der abgefilmten Puppentheaterszene die Kinder und Erwachsenen, vor der ‚Puppenbühne‘ sitzt und mit dem Puppenspieler kommuniziert. Die Bühne ist dann nicht mehr ein Fernsehgerät aus Pappkarton, sondern unser Fernseh- oder Computerbildschirm oder die Kinoleinwand, auf der wir der Inszenierung zuschauen. Es gibt hierbei jedoch einen entscheidenden Unterschied: Gerade weil wir meinen, wir schauen uns einen Dokumentarfilm an, gibt es (zunächst) keine Absprache darüber, dass es sich hier um eine Bühnensituation handelt. Dies gilt es im Hinterkopf zu behalten. Die hier beschriebene Theaterszene zu Beginn des Films führt wie ein Prolog im Theater in die Themen des Stücks – also des Films – ein. Sie fungiert als Einführung in die drei Themenkomplexen von Promised Paradise: erstens, Medienkritik und Konstruktion von Realität durch Medien, einerseits immer wieder angesprochen durch die direkte verbale Thematisierung im Film, andererseits durch den bereits oben erwähnten medienkritischen Diskurs durch zum Beispiel Überlagerung von Bildschirm und Bühne; zweitens, Terror auf globaler (Osama bin Laden/11. September) und lokaler (Imam Samudra) Ebene und daraus hervorgehend, drittens, die Frage nach der Bedingtheit des islamischen Fundamentalismus. Das erste Thema wird im Verlauf des Films auf der Ebene der Formen und Verfahren verhandelt, die im Zentrum dieser Arbeit stehen. Das zweite Thema ist entscheidend für den Plot. Hier liegt die Motivation für Narration und Dramaturgie begründet. Das dritte Thema ist die eigentliche Story, die Geschichte hinter der Geschichte, um die es eigentlich geht. Diese hat letztendlich zu Form und Story des Films geführt hat, wie sich noch zeigen wird. Das vordergründige Thema, das die Story vorantreiben wird, ist das Töten von Menschen im Namen des Korans. Die Einführung zu diesem Thema und dessen aktuelle Anbindung findet thematisch über die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und über die Person
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Osama bin Laden statt. Agus erfüllt hier die Funktion eines Barden, eines Geschichtenerzählers mit dem typischen Gesang, aber darüber hinaus auch die eines Nachrichtensprechers im Fernsehen, der eine Informationsfunktion für sein Theaterpublikum übernimmt: AGUS: „We have some news for you. It happened to the tallest buildings in America. KINDER: „The WTC buildings.“ AGUS: „Right, the WTC. The WTC was suddenly… Where’s my fish? Someone pick it up please? Now I magically turn it into a plane. This is what happened. One morning a Boeing flew into the WTC. Bang! There was fire everywhere. The building burned down and collapsed. Crash! And how many people died?“ KINDER: „Many.“ AGUS: „More than 10,000 people died. Who got very angry with the ones who did it? Who got angry?“ KINDER: „Allah!“ AGUS: „Who got angry?“ KINDER: „Allah! “ AGUS: „Yes, Allah and America got angry and sent helicopters to Afghanistan. And who were they looking for? KINDER: „Osama bin Laden.“ AGUS: „Osama...Osama is asleep in here. And when the American planes arrived... he came to life!“ (00:01:47-00:03:16)
Er greift hier – für sein in erster Linie sehr junges Publikum – Weltgeschehen auf und visualisiert es komisch in der Manier eines Puppenspielers. Dass er ausgerechnet aus dem Fisch, der in der Geschichte als christliches Erkennungssymbol verwendet wurde und noch heute Symbolcharakter im Christentum hat, ein Flugzeug baut, das die Angriffe auf das World Trade Center nachstellt, wirkt dabei auf mich ironisch. Kontextualisierung und Bezugnahme zur tatsächlichen Lebenswirklichkeit seines Publikums in Jakarta finden über die lokalen Ereignisse – die Bomben attentate in Bali und den Anschlag auf die australische Botschaft in Jakarta – und die verknüpfenden Gedanken und Überlegungen von Agus statt. In seinem Puppenspiel geht es wie folgt weiter: AGUS: „Do you know the Bali bomber Imam Samudra and...what were the other names? So, do you know Imam Samudra and his gang? Yes, Osama is a friend of Imam Samudra. But he blew up a disco in Bali and you are disco dancing. Why do you dance?“ KINDER: „Because he needed a shit!“ AGUS: „And they keep shooting at him...but Osama keeps on dancing.“ (00:03:20-00:03:50)
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Er kommentiert die Ereignisse mit seiner eigenen humoristischen ironischen Art, indem er Verbindungen herstellt zwischen dem Bombenattentat in Bali und dem „disco dancing“ der Puppe herstellt, die allein schon eine gewisse Absurdität birgt. Agus stellt diese Absurdität heraus, indem er sie thematisiert und kontextualisiert. Ein Verfahren, das im Verlauf des Films noch häufiger aufgegriffen wird. Hiernach endet der erste Teil des Puppentheaters und wird erst am Filmende wieder aufgegriffen: Wir sehen Agus wieder in seinem Puppentheater, er trägt nun einen Militärhelm und hat die Osama bin Laden-Puppe in der Hand. Zu hören ist das Lachen des Publikums und die Musik der tanzenden Osama-Puppe. Agus nimmt den Helm ab, spricht die Puppe an und schimpft mit ihr: AGUS: „Oh my God, why your hair long, long, long like this?-Ah this is because this prophet Mohammed. Do you know prophet Mohammed? Oh yes, I am Moslem, you are not. Moslem is not terrorist! You are a terrorist. You don’t understand. Really. You have to understand about me. If you want to be a real terrorist…Now please dance again! Hurry up you! Dance! This is the right spririt! Yeah! Yeah!“ (00:50:14-00:51:13)
Er tauscht den Militärhelm, den er in dieser Szene trägt, mit seinem Hut und lässt langsam den Vorhang herunter, untermalt mit dem bekannten „Bangeledangdang“ des Puppenspielers, während die Puppe vor dem Vorhang noch weitertanzt. Und während schon die ersten Zeilen des Abspanns eingeblendet werden, hört man Lachen und Zwischenrufe aus dem Publikum und den immer leiser werdenden Gesang des Puppenspielers (00:51:13-00:51:37). Mit dieser Rahmung, mit den letzten Minuten und Agus’ Resümee – „Oh yes I am Moslem, you are not.“ – und dem direkten Blick in die Kamera bestätigt sich eine meiner Hauptthesen: Der gesamte Film ist ein inszeniertes Theaterstück für den Filmrezipienten.
2.1.2 Schattentheater Neben dem Puppentheater tauchen im Film immer wieder Ausschnitte, Vorbereitungen und Elemente eines modernen Schattentheaterstücks von Putu Wijaya auf, einem bekannten und sehr produktiven indonesischen Schriftsteller, Drehbuchschreiber und Theaterdirektor. Das Puppentheater, welches am Abend stattfindet, wird durch einen Schnitt jäh abgelöst von einer Szene am Tag. Damit ist klar: Wir befinden uns nun zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Ein Auto fährt an einem Gebäude vorbei auf ‚uns‘, sprich die Kamera, zu (00:04:03) und während der Kamerablick an dem Gebäude entlangschwenkt hört man die Theaterstimme einer Frau: „The world is full of violence. Humans make war in order to...“ Mit dem nächsten Schnitt sehen wir die Frau in der Halbtotalen, wie sie hinter einem Laken auf der Theaterbühne steht: „… create peace and keep
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it. Don’t they realise that ‚War‘ is the opposite of ‚Peace‘. Humans are afraid of war…but they make war with all their hearts.” (00:04:09-00:04:17) Dazwischen ein Schnitt auf Putu Wijaya, der Teile des Monologs wiederholt und die Anweisung gibt: „So you have to let the words take root in your mind.“ Und es ist, als würde diese Anweisung nicht nur der namenlosen Schauspielerin gelten, sondern auch uns, dem Filmpublikum. Der Satz klingt nach, gerade dadurch, dass daraufhin die bedrohliche Musik des Stückes einsetzt und wir sie vom Anfang des gesamten Films wiedererkennen. Auf dem großen Laken des Schattentheaters, durch das die Frau vorhin noch durchgeschaut hat, sind jetzt die Schatten eines stilisierten World Trade Centers zu sehen, beleuchtet in Rot und Blau, den Farben der US-amerikanischen Flagge, und unheimlich in ihrer Fragilität als Schatten. Dann sind die Umrisse eines Flugzeugs erkennbar, das in die Gebäude hineinfliegt, sowie rennende Menschenschatten. In die bedrohliche Musik mischen sich Sirenen und Schreie. Und damit bekommt die Musik plötzlich ‚ihr‘ Gesicht: der bedrohliche Klangteppich bezieht sich also auf den terroristischen Akt schlechthin, den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001. Dass der Film die Beziehung zu diesem historischen Ereignis auf einer abstrakten Theaterebene thematisiert und nicht durch eines der unzähligen Medienbilder von dem Ereignis darstellt, ist außergewöhnlich. Denn über die Berichterstattung und die zahlreichen Fernsehbilder könnte man auch einen direkten medienkritischen Diskurs führen. Doch gerade dadurch, dass dies in Promised Paradise nicht gemacht wird, wird vielleicht eine noch stärkere Kontextualisierung geschaffen. Denn so muss der Filmrezipient selbst die Leerstellen füllen und die Ereignisse in einen Zusammenhang bringen. Die Thematisierung des 11. Septembers findet – abgesehen von der anzunehmenden Kontextarbeit im Kopf der Zuschauer – also nur über die beiden aufgezeigten Theaterebenen statt. Motivartig wird das Schattentheater zu den Attentaten in New York immer wieder in den Film eingeflochten. Dadurch wird von der lokalen Verortung des Films in Jakarta und Bali eine globale Dimension der Thematik geschaffen, die so auch die Lebenswirklichkeit der Rezipienten betrifft. Auf diese Weise erreicht Promised Paradise eine stärkere Identifikationsfläche zwischen den auch westlichen beziehungsweise nicht-indonesischen Rezipienten und der Thematik Fundamentalismus/ Terrorismus. Hier wird eine globale Frage mithilfe einer sehr lokalen künstlerischen Darstellung verhandelt. In Bezug zu setzen sind nun die Szenen dieser ‚Theater-Wirklichkeit‘ mit den Nicht-Theater-Szenen im Film, die – wie oben bereits dargestellt – dennoch einen Inszenierungscharakter haben. Diese Inszenierung findet durch den Hauptprotagonisten Agus Nur Amal statt, den wir – dies mag vielleicht auf den ersten Blick kaum auffallen – nicht als Privatperson zu fassen bekommen, sondern immer in seiner Rolle als Puppenspieler. Der Protagonist Agus ist der Schlüssel zum gesamten Film.
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2.2 P rotagonisten 2.2.1 „Bangeledangdang“ Agus Nur Amal Agus Nur Amal wird von Anfang an nicht als (Privat-)Person, sondern als Puppenspieler eingeführt. So sind seine Eigenschaften vornehmlich jene eines Puppenspielers: Er kommentiert Ereignisse, ironisiert Situationen und zeichnet sich durch eine gewisse Situationskomik aus. Er arbeitet mit Täuschung und Illusion und hält im übertragenen Sinn die ganze Zeit die Fäden in der Hand. Dieser Charakter des Puppenspielers, diese in den ersten Minuten erworbene Kompetenz trägt den Filmrezipienten quasi auf der Schulter von Agus, das heißt mit seinem Blickwinkel durch den gesamten Film. Agus wird in seiner Rolle als Puppenspieler für das Publikum authentifiziert. Er wird als dramatische Figur präsentiert im Gegensatz zu Personen, die in einem Dokumentarfilm als sie selbst scheinbar nur abgefilmt werden. Als dramatische Figur außerhalb seiner Puppentheaterbühne wird er vor dem zerstörten Gebäude der australischen Botschaft (Jakarta, Oktober 2003) eingeführt. Auf der Tonebene mischt sich hier Agus’ Klagegesang mit der Musik von dem Theaterstück von Putu Wijaya: AGUS: „In this world, more and more people play with bombs. A bomb on the left, on the right, one behind, one in front. But why is it necessary? Oh world…We are very sad that so many people die time and again...to the great joy of the terrorists. World oh World you’ve become a barrel of dynamite.“ (00:06:44ff.)
Gegen Ende dieses Textes nimmt die Dramatik des Gesangs zu und die Musik hört auf. Agus endet mit dem „Bangeledangdang“ des Puppenspielers. Die Kamera geht mit, indem sie mit einem Close-up auf Agus hier endet, um dann nach hinten wegzuziehen und in die Halbtotale zu gehen. Ein Polizist kommt auf Agus zu. Dieser sagt in seiner ‚normalen‘, ‚alltäglichen‘, allerdings hier kaum hörbaren Stimme: „What did you say officer?“, um dann vermeintlich zum Officer, aber eigentlich beim Weggehen in die Filmkamera zu singen: „I wanted to express my sympathy but that is not allowed.“ Agus kommuniziert hier also nicht mit dem Officer, sondern eigentlich mit dem Filmpublikum, denn inhaltlich ergibt diese Aussage hier ansonsten keinen Sinn. Agus soll lediglich seinen Standort verändern. Seine ‚Anteilnahme‘ könnte er weiterhin ausdrücken. Wir befinden uns hier in der achten Minute des Films und bis zu diesem Zeitpunkt kennen wir Agus’ Stimme nur als Gesang. Im Verlauf des Films kommuniziert Agus ‚untheatral‘ fast nur mit Endang, dem Vagabunden, der in seiner eigenen Welt lebt und den Agus scheinbar ‚unter seine Fittiche genommen‘ hat. Dennoch dominiert er auch in dieser Szene – parallel zum
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alles bestimmenden Puppenspieler – das Gespräch und gibt vor, in welche Richtung es verlaufen soll. Zur Charakterisierung von Agus als der Dominante im Gespräch und derjenige‚ der die ‚Fäden in der Hand behält‘, möchte ich exemplarisch den Dialog mit „Jerry from Australia“ anführen, den er bei seinem Trip auf Bali offensichtlich zufällig auf der Straße kennenlernt. Man sieht einen kräftigen weißen Mann im ärmellosen T-Shirt, offensichtlich ein Tourist, auf einem Mofa sitzen. Er trägt noch seinen Helm, den er auch im Verlauf des Gesprächs nicht abnehmen wird (00:23:43). Der Mann ist im Gespräch mit einer kleineren balinesischen Frau, die in Shorts und bauchfrei vor ihm steht. Agus sehen wir mit einer kleinen sich drehenden Discokugel in der Hand. Er singt das „Bangeledangdang“ des Puppenspielers. Dann schaut Agus zu dem Mann hinüber und grüßt. Er geht zu ihm hin, spricht ihn in seinem Puppenspielergesang an und fragt den Touristen, woher er kommt. Die Frau sitzt inzwischen hinten dem Mann, der sich als Jerry aus Australien vorgestellt hat, auf dem Mofa. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen Agus und Jerry aus Australien, der ganz offen und zunächst unbeeindruckt auf Agus und seinen Gesang reagiert. Das Gespräch dreht sich um die Bedeutung eines T-Shirts, auf dem „Fuck terrorist“ steht. Agus bleibt die ganze Zeit in seinem puppenspielertypischen Singsang. AGUS: „… I have something I bought here in a shop. [zeigt ihm das T-Shirt] Look at this. Fuck terrorist.“ JERRY: „Fuck terrorism.“ AGUS: „But the same word ‚fuck‘ is making love. Making love or the fuck is making a baby. Make a baby… The terrorist can act here again. Maybe baby terrorists can act here again. So, do you understand this word?“ JERRY: „ Yes I do…I think. Yes…Yes I do.“ AGUS: „Thank you very much. Also you, madam. I hope you’ll be happy together tonight.“ JERRY: „I just met her.“ AGUS: „I know…So you’ll be happy in Bali. Enjoy Bali in the moon, the full moon.“ (00:24:35-00:26:10)
Agus führt hier den vermutlichen Sextouristen auf subtile Weise vor, indem er das Wort „fuck“ wörtlich nimmt und die Frage stellt, ob das nicht heißt, Sex zu haben und ein „Kind zu machen“. Kinder, die dann wieder auf Bali handeln („act“) können, möglicherweise als Terroristen. „To act“ heißt aber auch Theater spielen. Der Australier ist sichtlich verwirrt und komisch wirkt die Szene
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nur für das Publikum von Agus, in diesem Fall für uns, die Filmrezipienten. Jerry wird zu einem unfreiwilligen Mitspieler in Agus’ Performance, in der er, wie schon in der Puppentheaterszene am Anfang gezeigt, verschiedene Themen humoristisch verbindet, in diesem Fall Sextourismus mit Terrorismus. Über die Figur Agus wird die bereits beschriebene Theaterebene weitergeführt und wirkt dadurch, dass dies fast konsequent den ganzen Film durchgehalten wird, authentisch für den Zuschauer. Man wird sogar dazu verführt, die Figur als den eigentlichen Agus anzunehmen. So wie jede Figur, auch jede dramatische Figur, zugleich zum Teil der Schauspieler ist, ist die Figur des Puppernspielers Agus Nur Amal zum Teil die reale Person, jedoch nicht ausschließlich. Ich führe dies an dieser Stelle aus, weil der ethnologische Dokumentarfilm uns klassischerweise zumindest auch, wenn nicht sogar ausschließlich, den anderen Teil zeigen würde. Der Film würde uns, überspitzt formuliert, den Agus zeigen, der aus der Bühnensituation heraustritt und uns sowohl erzählt, was er während seiner Show gedacht hat, als auch, was seine Mutter davon hält. Genau das passiert in Promised Paradise jedoch nicht. Hier gibt es kaum Sequenzen, in denen Agus ‚untheatral‘ agiert. Nur eine Szene in der Mitte des Films sticht in dieser Hinsicht besonders heraus; hier muss Agus, dominiert durch andere Beteiligte, agieren: Wir befinden uns mit Agus vor der Eingangstür der Anstalt, in der der Attentäter Imam Samudra einsitzt. Agus wartet darauf, dass Wachpersonal bestechen zu können, um so eine Audienz beim Attentäter zu bekommen. Um ihn herum steht eine kleine Gruppe Menschen, die ebenfalls jemanden im Gefängnis besuchen möchte. Die Kamera geht dicht im Gedränge an Agus heran, so dass wir sein Gesicht im Detail sehen. Vor der Tür herrscht ein kleines Gedrängel: LEUTE: „Move...Don’t push in, I was first [...].“ [Gerangel an der Tür] MANN: „Who do you want to visit?“ AGUS: „I want to ask the bombers if they knew the tsunami would strike.“ MANN: „Wish them luck in their struggle.“ AGUS: „And with their execution.“ MANN: „They are wise men who don’t deserve to die. They can make bombs. We need that knowledge in Indonesia. Even our professors can’t make bombs. They should get a chance to teach us. It’s not about them but profiting from their knowledge.“ ANDERER: „You want to learn to commit terrorist acts?“ MANN: „How to make bombs.“ ANDERER: „You’re crazy.“ MANN: „In America they’d be heroes.“ AGUS: „They learned it from America.“ MANN: „That’s true.“ (00:17:09-00:18:25)
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Dass ein Namenloser seine Pro-Meinung zu den Bombenattentaten, äußert ohne dabei von Agus vorgeführt zu werden, entzieht sich völlig der sonstigen Gepflogenheiten und Inszenierungstechniken des Films. Muss dies als eine Inkonsequenz im Film gesehen werden? Es scheint zumindest so, denn weder Befürworter noch Opfer kommen ansonsten im Verlauf des Films zu Wort. Agus bewegt sich ansonsten einzig in ‚Bühnensituationen‘. Es wird ausschließlich eine Perspektive des Films gezeigt, nämlich jene der Figur Agus. Andere Perspektiven, schon allein andere unkommentierte Meinungen, sind in dem Konzept nicht vorgesehen. Besonders deutlich wird das Spannungsverhältnis von Inszenierung und Nicht-Inszenierung dadurch, dass die gespannte/uninszenierte Situation vor dem Gefängnis wieder aufgelöst wird, indem Agus direkt im Anschluss wieder in seinen Puppenspieler-Singsang fällt und seinen Unmut auf dem direkt neben dem Eingang liegenden Parkplatz zum Ausdruck bringt. Dies erneut als Monolog und mit Gesang: AGUS: „There’s just one question I want to ask Imam Samudra. Imam Samudra! I hope you can hear me! I’m out here and I’m not allowed in. It’s very difficult to meet someone like you. If I met you, I could find out if you were right or wrong.“ (00:19:26-00:19:54)
Agus, der Puppenspieler, wird nicht als Person greif bar, sondern bleibt nahezu während des gesamten Films die Figur des Puppenspielers. Lediglich die beschriebene Szene sowie wenige Szenen am Strand von Bali, wo er in den Sonnenuntergang schaut, lassen eine weitere Ebene erahnen. Selbst seine Gespräche mit Endang können bei genauer Betrachtung als dramaturgisch wohl platziert entlarvt werden. Ich möchte sogar behaupten, dass eine der Aufgaben des Protagonisten Endang ist, die Figur Agus noch glaubwürdiger zu gestalten. Wenn Agus in den vermeintlich dokumentarischen Teilen des Films trotzdem in der Rolle des Puppenspielers bleibt und wir als Filmrezipienten ganz offensichtlich seiner Performance beiwohnen, so stellt der Film hiermit das Konzept Dokumentarfilm infrage. Mehr noch wird uns die Theaterfigur als ‚echt‘ angeboten. Und es funktioniert: Die Perspektive von Agus Nur Amal, dem Puppenspieler, bietet Identifikationspotenzial für den Rezipienten. Erreicht wird dies vor allem, weil der Zuschauer bei den ‚unsichtbaren‘ Theaterszenen zum Mitwisser wird, weil er Agus’ Humor mit der Zeit deuten kann sowie die wahre Absicht seiner Handlungen kennt und in den Kontext des Films einordnen kann.
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2.2.2 „I didn’t like the girls, so I ran away.“ (Endang) Die Figur Endang schwankt zwischen Authentizität und Sinnbild, zwischen hartem Realismus und metaphorischer Figur. Der Vagabund, als der er in einer Einblendung bezeichnet wird, ist einerseits zwar schwierig zu greifen und verschwindet nahezu im Film, andererseits könnte man ihn aber auch als eigentlichen Dreh- und Angelpunkt desselben sehen. Endang wird eingeführt in einer Bar, wo er mit Agus sitzt und diesem erzählt, dass er während des Anschlags auf die australische Botschaft in einem Minibus saß und im Verkehrschaos feststeckte. Dieses Gespräch endet mit der Aussage von Agus, er sei froh, dass Endang nichts passiert sei, weil er ihn sonst vermissen würde und auch keinen „Joseph“ mehr für sein Theaterstück in der Koranschule hätte. Das Gespräch hat drei Funktionen: Erstens wird Endang und seine freundschaftliche Bindung an Agus eingeführt. Zweitens werden hier die Bilder von der zerbombten australischen Botschaft erläutert: Die Bilder, die wir bereits mit Agus gesehen haben, tauchen hier als Fernsehbilder in der Bar wieder auf. Drittens stellt der Dialog eine Überleitung zu der Szene in der Koranschule dar, in der Endang eigentlich charakterisiert und eine empathische Bindung zu ihm aufgebaut wird. Die Kamera kriecht ihm während seines Unwohlseins in dieser Szene bildlich unter die Haut. Ohnehin ist nur bei diesem Protagonisten diese kaum auszuhaltende Nähe der Kamera zu spüren. In der Montage werden Detailaufnahmen von Endang – seine Augen, seine Füße, seine Hände – immer etwas länger gezeigt als nötig. Hier wird seine Charakterisierung als Opfer auf der Ebene der filmischen Inszenierung aufgegriffen und fortgeführt. Die Charakterisierung von Endang findet auf der filmischen Ebene besonders in der bereits erwähnten Theaterstück-Szene statt. Endang soll die Hauptrolle in einem Theaterstück, dessen Proben von Agus geleitet werden, spielen, scheitert jedoch. Der Text des Theaterstücks entspricht inhaltlich der zwölften Sure des Korans. Agus steht inmitten der Koranschüler und erklärt: „The theme of the Koran story of the prophet Joseph...is one of forgiveness. Theatre is a great way to illustrate this theme. Today you will learn to make a play…“ (00:09:54) Eingeführt in die Szene werden wir, indem wir das Minarett der Koranschule zu sehen bekommen (00:09:41). Dann befinden wir uns in einem Raum. An einem Wasserbecken geht Endang vorbei, der in der vorherigen Sequenz eingeführt wurde. Endang soll in dem zu inszenierenden Theaterstück die Rolle des Joseph übernehmen; eine zunächst eher atypisch scheinende Besetzung, wie später selbst im Film noch thematisiert werden soll. Der doch deutlich ältere Endang soll den hübschen Joseph spielen, den zweitjüngsten Sohn Jakobs, dem von seinen missgünstigen Brüdern übel mitgespielt wird.4 Joseph ist aufgrund 4 | Kurzzusammenfassung: Im Mittelpunkt der Geschichte steht Joseph, der zweitjüngste Sohn Jakobs und zugleich dessen Lieblingssohn. Seine zehn Halbbrüder sind eifersüch-
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seiner Fähigkeit Träume zu deuten der Lieblingssohn seines Vaters und der Außenseiter unter seinen Geschwistern. Er entspricht nicht der Norm und wird daher zunächst zum Opfer. Auch Endang entspricht nicht der Norm und hat einen anderen Zugang zur Welt als üblich. Dadurch stößt er, wie sich zeigen wird, auf Ablehnung und wird zum Opfer. Agus geht im Kreis umher und er teilt an die zwölf- bis 14-jährigen Jungen und Mädchen den Text aus. KINDER: „Joseph came up to the king after he was released from prison. For seven years…-Joseph was the youngest son. Joseph’s ten brothers gathered….to deliberate about Joseph. Joseph’s ten brothers convinced their father…that one day they… They did not know how to tell this to their father…Joseph’s ten brothers returned to Egypt. And when the brothers arrived Joseph went…None of the advisors could explain the king’s dream…But there was a worker at the palace…Joseph was a young man and on this day…Let’s pick him up and throw him in the well.“ (00:10:50-00:11:41)
Die Kamera schwenkt auf Endang, der vor den Kindern steht. Close-up. Sie greifen Endang und tragen ihn zu anderen Kindern, die mit Tüchern die Zisterne darstellen. Gelächter und Tumult sind groß. Agus steht in der Mitte, die Kinder sitzen wieder am Rand, man beruhigt sich langsam. Agus dreht sich um die eigene Achse und geht zu einem wohlerzogen und etwas älter wirkenden Jungen, der ihn anspricht und dabei am Anfang verlegen lacht. JUNGE: „Jacob was the father, wasn’t he? And Joseph was the…I mean, the…Well, the most handsome son… Can’t we replace Endang with someone else?“ AGUS: „Okay. That’s fine.“ JUNGE: „Because Endang is-well…I mean, he’s too old for the part.“ AGUS: „So you want Joseph changed?“ JUNGE: „Yes, someone else.“ AGUS: „Endang you can play the father Father Jacob instead of Joseph.“ (00:12:18-00:13:14)
tig auf ihn, weil er nicht nur sehr begabt ist, sondern auch von seinem Vater bevorzugt wird. Sie werfen ihn in eine Zisterne und er kommt als Sklave nach Ägypten. Dort zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigt, wird er ins Gefängnis geworfen. Es offenbart sich seine Gabe der Traumdeutung und er sagt voraus, dass auf sieben fette Jahre sieben magere Jahre folgen werden und kann so Ägypten vor großem Schaden bewahren. Während ihm dadurch Reichtum beschert wird, leiden seine Brüder unter der Dürre. Nachdem er am Ende geprüft hat, ob seine Brüder sich zum Positiven verändert haben, verzeiht er ihnen und versöhnt sich mit diesen (Schimmel 2002 [1960]: S.226ff.).
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Die Kamera geht mit dem Blick des Jungen mit an das andere Ende des Raums, wo Endang steht. Agus kommt zentraler ins Bild, sein Blick geht in die gleiche Richtung. Es folgen Detailaufnahmen von Endangs Gesicht. Seine glasigen Augen treten deutlich in den Vordergrund. Im Hintergrund sitzen kichernde Mädchen. Dazu wird der bedrohliche Klangteppich aus dem Theaterstück zum 11. September eingefädelt. Das Kichern der Kinder tritt in den Hintergrund. Der Blick der Kamera bohrt sich in Endangs Gesicht, wir als Zuschauer kriechen förmlich unter seine Haut. Endang ist der Situation nicht gewachsen. Die Einstellung bleibt ein wenig länger als nötig auf ihm. So stellt sich bei mir als Zuschauerin ein körperliches Unwohlsein ein und damit eine starke Empathie. Die Szene in der Koranschule scheint vor allem eine Funktion zu haben: die Einführung einer metaphorischen Ebene für die Figur Endang und die Etablierung Endangs als Gegenspieler von Agus. In der Koranschule erliegt Endang einem Gefühl der Beklemmung, das sich durch die Kameraführung auf den Zuschauer überträgt und das er später auch selbst thematisiert: „It was taking too long...and I didn’t like the girls, so I ran away.“ (00:14:32) Weiter stellt er heraus, dass er nie mehr den Joseph spielen wird. Endang selbst führt die beklemmende Situation also auf die Zeit und auf die kichernden Mädchen zurück. Durch den dramaturgischen Auf bau und die Kameraführung wird nahegelegt, dass die insgesamt bedrohliche Atmosphäre von der ganzen Spielsituation ausgeht, vor allem durch den körperlichen Kontakt, das Werfen in den Brunnen sowie durch die Ablehnung Endangs in der Rolle des Joseph seitens der jungen Leute. Dies alles findet in zwei wesentlichen Kontexten statt: Zum einen einem religiösen Kontext – wir befinden uns in einer Koranschule und das Theaterstück bezieht sich auf eine Sure des Korans – und zum anderen handelt es sich hier um einen Theaterkontext. Schon in der nächsten Sequenz sieht man Endang vor der Koranschule. Er geht von der Schule weg und auf die Kamera zu, als wäre diese nicht vorhanden. Die Kamera geht ins Close-up, diesmal auf seine gehenden Füße. Aus der Ferne hört man schon das Rufen: Endang! Endang! Der bedrohliche Klangteppich aus der Endsequenz bleibt. Es findet aus dem Gefühl des Unbehagens folgender Dialog zwischen Agus und Endang statt, als die beiden wieder zusammentreffen: AGUS: „I looked everywhere for you.“ ENDANG: „It was taking too long…and I didn’t like the girls, so I ran away.“ AGUS: „You are quite a character Endang. I want to act in Bali. You want to come?“ ENDANG: „Bali is too far away for me.“ AGUS: „You can play Joseph again.“ ENDANG: „No never again.“
2. P romised Par adise [Agus lacht.] AGUS: „You don’t want to be Joseph any more?“ ENDANG: „No, I don´t want to do that again.“ AGUS: „But I will go to a Moslem school in Bali.“ ENDANG: „Bah, they’re all the same!“ AGUS: „You’re a good person, Endang.“ ENDANG: „You’re only teasing me!“ AGUS: „You are happy in your own world?“ ENDANG: „How many days will you be in Bali?“ AGUS: „A week?“ ENDANG: „That’s ok.“ AGUS: „But don’t be sad if others tease you when I’m gone. ENDANG: „Come on, let’s sit somewhere.“ AGUS: „Let’s get something to eat.“ [Sie lachen.] AGUS: „Looking for you makes me hungry.You’re my most loyal friend, Endang.“ ENDANG: „And a strange one. What else do you do in Bali?“ AGUS: „You’re my most loyal friend, Endang.“ ENDANG: „And a strange one. What else do you do in Bali?“ AGUS: „Many Things…“ ENDANG: „You go for the girls?“ (00:14:30-00:16:00)
Der Dialog verdeutlicht einerseits, wie hier Gespräche zwischen den beiden auch dramaturgische Funktionen übernehmen, um die Handlung zu erklären. Andererseits wird in diesem Gespräch die besondere Beziehung zwischen Agus und Endang charakterisiert. Interessant ist schon hier der Verweis auf die bereits erwähnte, aber erst später stattfindende Szene, in der Endang körperlicher Gewalt ausgesetzt wird. In der filmischen Chronologie ist diese nach der Straßenszene von Agus mit Jerry aus Australien angelegt und auch dort wird ein T-Shirt eine Rolle spielen. Agus kündigt in diesem Gespräch schon an, dass Endang sich nicht grämen soll, wenn andere ihn in seiner Abwesenheit ‚hänseln‘ werden: „But don’t be sad if others tease you when I’m gone.“ (00:15:30) Das mag ein dramaturgischer Kniff sein oder auch für die Gewohnheit stehen. Endang, der sich nicht der Norm entsprechend verhält, ist demnach öfter dem Spott seiner Umgebung ausgesetzt. „Der Cineast begleitet Agus auf der Suche nach Vergebung für dessen Glauben und hat dabei ein engagiertes Auge auf Indonesien, ein Land auf prekärer Gratwanderung, versinnbildlicht von Endang, einem Mann mit verwirrtem Geist, den Agus unter seine Fittiche genommen hat. Sobald man ihm den Rücken kehrt, gibt er sich der Gewalt hin, an die man sich überall gewöhnt hat.“ (Cinelibre o.J.: o.S.)
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Ob Endang sich der Gewalt tatsächlich ‚hingibt‘, ist zweifelhaft. Offensichtlich ist allerdings, dass er einer Gewalt ausgesetzt ist, die absolut sinnlos erscheint, eine Gewalt um der Gewalt willen. Hierzu die in diesem Sinne eindrücklichste Szene im Film: Endang sitzt auf einem Mäuerchen an der Straße (00:27:00). Genau vor ihm parkt ein Auto, ein junger Mann, auf dessen T-Shirt ist ein Peace-Symbol abgedruckt ist, steigt, gefolgt von weiteren Männern, aus dem Auto aus. Sie pöbeln Endang an, da er ihrer Auffassung nach nicht an der Stelle sitzen darf. Der Mann mit dem Peace-T-Shirt scheint der Anführer zu sein. Er geht aggressiv auf Endang los, seine drei Kumpanen folgen ihm, stoßen ihn: „You want a punch? … You want to be beaten to death?“ (00:27:47) Sie stoßen Endang erneut aus dem Bild der Kamera und entfernen sich immer weiter, die Kamera bleibt zurück. Mit dem nächsten Schnitt sehen wir parkende Autos und hören Straßengeräusche. Dahinter kommt Endang zum Vorschein, er scheint die Kamera nicht wahrzunehmen (0:28:13). Die Kamera macht eine Detailaufnahme von seinem Gesicht. Er hat eine Platzwunde unter dem Auge, blickt nach wie vor nicht in die Kamera, sein Gesicht scheint versteinert. Hören wir zur Großaufnahme der Platzwunde laut seinen Atem, so setzt beim nächsten Close-up von ihm die bedrohliche Musik des Theaterstücks ein, welche sich leitmotivisch durch den gesamten Film zieht. In der nächsten Einstellung regnet es und Wasser tropft an Sonnenschirmen herunter, unter denen vor allem Pärchen sitzen. Endang sitzt hinter einer Glasvitrine und die Kamera geht im Close-up in sein Gesicht, durch die Scheiben der Glasvitrine. Hierzu hören wir die bedrohliche Musik vom Anfang des Films. Die Musik wird lauter und es findet eine Überblendung zum Schattentheater von Putu Wijaya statt. Wir hören dazu Schreie aus der Theaterszene. Hier findet erneut eine Verknüpfung zur Theaterebene statt und möglicherweise eine Interpretation der gesehenen Gewalt als sinnlos. So wie terroristische Akte sinnlose Opfer fordern, so wird auch Endang zum Opfer sinnloser Gewalt. Endang ist dabei der absolute Gegenentwurf zu Agus. Er lebt in seiner eigenen Welt, nimmt keine Rolle an und ist dazu auch nicht fähig, wie schon gesehen. Er wird in jeder Situation des Films von außen dominiert. Das Paradoxe ist, dass Endang in seiner Verwirrtheit, in seiner Einfachheit und Opferrolle am Inszeniertesten erscheint. Man fragt sich oder vielmehr: man wünscht sich fast schon, dass seine Rolle nicht real sei. Sei es in dem Moment, in dem er verprügelt wird, in den Szenen, in denen er ziellos herumstromert, oder auch, wenn er sich von den Kindern in der Koranschule bedroht fühlt und die Kamera ihm gleichsam stark zu Leibe rückt. Dies ist – wie bereits angedeutet – größtenteils durch die Montage bedingt. Zusätzlich wird dies aber auch, dies ist deutlich geworden, durch den Kontrast der Figuren Agus und Endang erzielt. So entsteht eine paradoxe Situation: Der Held wirkt echt, obwohl es sich um eine Figur handelt, das Opfer dagegen ist echt, wirkt jedoch wie eine Imagination.
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2.3 M ontage Die oben ausführlich beschriebene Szene von Endang in der Koranschule hat bereits verdeutlicht, wie die Montage eine Figur charakterisieren und emotionalisierend auf den Rezipienten einwirken kann. Mit der Montage werden zudem unsere Sehgewohnheiten bedient, wobei wir kulturell bedingt manche Situationen im Film nur deswegen verstehen, weil wir sie erlernt haben. Beispielsweise gehen wir bei einem Schuss-/Gegenschussverfahren davon aus, dass die Protagonisten sich gegenübersitzen und miteinander sprechen. Dies wird besonders an der folgenden Sequenz deutlich, die nur durch ihre raffinierte Montage – sie sieht zunächst dokumentarisch aus, stellt sich bei näherem Hinsehen aber als durch Montage inszeniert heraus – wirkt. In dieser bemerkenswertesten und letztlich vielleicht auch charakteristischsten Sequenz im gesamten Film steht unser Protagonist Agus Nur Amal auf einem Marktplatz (00:19:54). Zunächst wirkt alles recht unscheinbar, wir hören einen Marktverkäufer rufen: „I sell good stuff cheap. Everything cheap!“ Die Kamera geht nah auf Agus und dann über den Boden auf die dort ausliegenden Waren und zeigt das bunt gemischte Angebot. Agus kommt wieder ins Bild: Er beugt sich über die Waren und bleibt bei einem Stapel DVDs und einem Buch hängen. Die Großaufnahme zeigt uns die Titel: „Islam corrects christianity“ und „Imam Samudra I fight terrorism“. Jetzt zoomt die Kamera auf die DVD, es findet eine Überblendung in das TV-Testbild statt, das gleich mit einem Schnitt übergeht zu dem Bild von Imam Samudra hinter Gittern. Dazu ertönt das „Bangeledangdang“ des Puppenspielers. Der gesamte Übergang dauert weniger als eine Minute, und sobald man Samudra sieht, erscheint die Einblendung: „Imam Samudra Bali bomber terrorist“ (00:20:41). Es ist Agus’ Singsang zu hören: „Here we are, Sheik Imam Samudra. I am honoured that I can finally meet the famous Imam.“ Mit dem Schnitt sehen wir Agus im Troubadour-Outfit. Erneut kommt der inhaftierte Terrorist ins Bild, der – scheinbar geschmeichelt – lächelt. Hier wird also eine Kommunikation, auch auf einer durch Körpersprache ausgedrückten emotionalen Ebene, zwischen den beiden suggeriert. Agus ‚singt‘ die nächste Frage: „Sheik, did you know that a tsunami washed over Aceh?“ und Imam Samudra antwortet: „Of course that is common knowledge.“ Und Agus fragt weiter: „But had you predicted it?“ – „Yes, but that’s too late now. That’s why every Moslem should read the Koran. The Koran answers all questions. Allah speaks about all ideologies, politics, economics, you name it. He covers every subject completely.“ Und Agus antwortet darauf: „Sheik, you are a wise man for me…because you had the courage to kill people with a bomb.“ (00:20:41-00:21:26) Allein an diesem Dialoganfang können wir die Absurdität der Kommunikation auf einer inhaltlichen Ebene erkennen. Die inhaltlichen Verbindungen, die hergestellt werden, wurden im Film vorher nicht thematisiert.
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Mit einem naiven ‚Dokumentarfilm-Blick‘ fällt der ‚Fake‘ – wenn ich ihn zunächst so nennen darf – der Szene zunächst nicht auf, wie ein Seminar mit 25 Studierenden der Ethnologie zur Visuellen Anthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, die den Film im Rahmen eines Seminars gesehen haben, gezeigt hat. So glaubten doch fast alle Studierenden, obwohl das bereits bekannte Testbild zu sehen ist, die Musik zur Bühnenshow erklingt und Agus im Rezitativ als Puppenspieler spricht, zunächst, es handle sich um ein wirklich stattfindendes Gespräch zwischen Agus und Imam Samudra – und nicht um eine zusammengeschnittene Szene von dem Video mit fingierter Fragen von Agus. Der Zusammenschnitt der auf dem Markt erworbenen DVD mit einem Interview Imam Samudras und die Passagen mit dem Puppenspieler Angus bedient unsere Sehgewohnheiten eines Interviews daher ist es so wirksam. Es ist durchaus interessant, sich den gesamten Dialog auch auf inhaltlicher Ebene anzuschauen. Denn es werden keine ‚wirklichen‘ Fragen gestellt beziehungsweise keine ‚Erklärungen‘ geliefert. Die kausalen Verknüpfungen werden lediglich durch Einblendung von Szenen auf filmischer Ebene geschaffen. Imam Samudra sagt: „But don’t see our Bali bombing in a narrow perspective. So not on a national or local scale. It’s a reaction to the crusades.“ (00:21:26) Und Agus’ daran durchaus logisch anschließende Frage ist: „But why Bali?“ Die montierte Antwort dazu lautet: IMAM: „If we hadn’t bombed the disco, we’d have lost our religious convictions. Man would grow too high mentally if Islam didn’t hinder him.The best defence is offence. The best defence is attack. That’s why we choose to bomb the Sari Club disco theque. 90% of the visitors were white heathens, our targets. We researched their language, habits and the time of attack. We wanted to avoid causing innocent victims. But there is also ‚human error‘. There isn’t an army in the world that doesn’t make mistakes. So we know there might be innocent victims. That’s how it works. What next?“ [lächelt] (00:21:45-00:22:48)
Dies ist das längste Statement Samudras von der DVD, das wir zu hören und zu sehen bekommen. Es ist zugleich die einzige ‚Erklärung‘ von Seiten der Täter, die wir überhaupt erhalten. Interessant ist, dass der Film die Aussage auf der filmischen Ebene stützt. Auf der Bildebene werden Bilder von weißen Männern mit Balinesinnen in einer Disco gezeigt. Agus ist vor Ort, die Kamera fährt in einer 180-Grad-Drehung um ihn herum und erzeugt so ein schwindelerregendes Eintauchen von Agus in die Situation (00:22:08). Die Situationen in den Discos sind eindeutig sexuell konnotiert. Die Kamera nimmt dies auf, indem sie an die verschiedenen Pärchen heranzoomt und Detailaufnahmen – beispielsweise von frei gelegten Oberschenkeln – zeigt. Sextourismus wird thematisiert und dar-
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über der Diskurs eines (post-)kolonialen Machtverhältnisses. Dieser Diskurs, der möglicherweise auch der Aussage von Imam Samudra zugrunde liegt, wird jedoch nicht explizit ausgesprochen. Es handelt sich um eine Interpretation auf filmischer Ebene. Hier wird ein Opfer-Gedanke bebildert, der auch über den Nebenprotagonisten Endang im Film visualisiert wird, wie sich bei der Analyse gezeigt hat. Dies wird allein über die filmsprachlichen Mittel, das heißt die Bebilderung von Nicht-Gesagtem, umgesetzt. Auf dieser Ebene bringt sich der Film selbst am stärksten ein. Diese Sequenz mit ihren verschiedenen Ebenen zeigt uns mit filmsprachlichen Mitteln, worauf an anderer Stelle mit den Theaterszenen hingewiesen wird: die Macht der Bilder, die sogleich als konstruiert enttarnt werden. Damit öffnet der Film einmal mehr einen Bereich des Unbestimmbaren, der die Bilder nicht nach unserem klassischen Verständnis von Fakt und Fiktion kategorisiert. Die Szene wird zudem einmal mehr als Bühne entlarvt, wenn das Bild von Imam Samudra auf unserem Bildschirm beziehungsweise der Kinoleinwand zum Bild von Imam Samudra im Fernsehgerät wird, dann verschwindet, das Testbild erscheint und die DVD aus dem Recorder fährt. Das von uns als ‚echt‘ wahrgenommene Gespräch ist eine Inszenierung in der Inszenierung. Hier stellt sich mir die Frage, warum diese Sequenz – sobald sie als Montage entlarvt ist – weniger realistisch oder vielmehr weniger ‚wahr‘ oder authentisch sein soll als der ganze Film. Was unterscheidet diese Szene von der Folgenden, in der Agus bei Leo Lumanto, einem paranormalen Berater, mit dem beim Attentat von Bali gestorbenen Freund von Imam Samudra Kontakt aufnimmt? Zumal in dieser Szene mit der Musik aus dem Schattentheater auch Elemente zu finden sind, die auf eine Ebene der Inszenierung verweisen mögen. Auch hier findet eine starke Anwendung der Montagetechnik statt, in der sich Elemente aus der oben beschriebenen Montageszene wiederholen. Interessant ist darüber hinaus, dass diese Szene und jene, in der Endang verprügelt wird, quasi von der Gefängnis-Gespräch-Szene umrahmt werden. Wir sehen Agus, wie er barfuß vor einem Glockenspiel sitzt und auf diesem spielt (00:39:50). Das Spiel stoppt und Leo Lumanto, der sich mit Räucherstäbchenrauch reinigt, kommt ins Bild. Zu sehen ist die Einblendung: „Leo Lumanto – Paranormal Advisor“. Die folgende Szene findet zunächst in absoluter Stille statt – als einzige außer dem montierten Gespräch mit dem Attentäter. Leo Lumanto ist sehr fokussiert und nimmt Kontakt mit der anderen Seite, dem Jenseits, auf. LEO: „What did you want to ask?“ AGUS: „Do the Bali terrorists get visited by their dead friends?“ LEO: „The terrorist Amrosi has had many visits from them. And also Imam Samudra. The suicide bombers still suffer every day. They want us to pray for them.
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Zwischen Dokumentation und Imagination They don’t even have contact with each other, let alone with the victims. There were three of them.“ AGUS: „So they aren’t in touch with each other.“ LEO: „Only one has come now. The others don’t want to.“ (00:40:20-00:43:23)
Agus kniet sich nun neben Leo und wird selbst auf die andere Seite geführt, um seine Fragen zu stellen, Leo hält seine Hand über seinen Kopf und weist ihn an, die Augen zu schließen „Come and sit beside me. You can feel it yourself now. Come and sit here.“ Im Hintergrund ist leise ein Singspiel zu hören. Hier setzt nun wieder die bedrohliche Musik aus dem Schattentheater zum 11. September ein. Es werden erneut die Bilder aus den Discotheken hinein- und dazwischengeschnitten: Agus, der verloren in der Disco steht und zusieht, wie ein Tourist eine Balinesin küsst. Dann sind wir mit dem nächsten Schnitt wieder bei Leo und Agus. LEO: „Now you hear his voice. Not with your ears but with your heart. If I ask you a question, you’ll reply spontaneously. Focus on him. Where is he from?“ AGUS: „From West Java.“ LEO: „What is his name?“ AGUS: „It sounds like Sukri…“ LEO: „Is he tall or short?“ AGUS: „He’s skinny.“ LEO: „Skinny and not very tall? Is his face damaged or intact?“ AGUS: „I can’t tell.“ LEO: „Ask him why he did the bombing.“ [Pause] AGUS: „He laughs…“ LEO: „Does he feel he commited a sin?“ [Pause] AGUS: „He’s silent.“ (00:43:35-00:45:03)
Das ist der Anfang der Séance, in der Agus Kontakt mit einem der verstorbenen Bombenattentäter aufnimmt. Seine Stimme ist monoton und hat einen völlig anderen Klang als sonst. Die Kamera bewegt sich minimal – wir sind mit dem Kamerablick vollständig auf die Szene konzentriert und dadurch quasi unsichtbar. Das Gespräch mit dem namenlosen Attentäter wird noch eine Weile weitergeführt, bis Leo Agus zurückholt und die beiden ein Gebet für die „Ungläubigen“ sprechen (00:47:00). Mit dem nächsten Schnitt sind wir wieder in dem Schattentheaterstück und sehen eine verschleierte Frau in Flammen stehen, dazu ertönt erneut die bedrohliche Musik.
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Im Film wird nicht angezweifelt, dass Agus tatsächlich Kontakt zu dem verstorbenen Attentäter und später zu dessen Frau hat. Im Verlauf seines Gesprächs mit beiden wird sich herausstellen, dass der Attentäter und auch seine Frau die Tat nicht bereuen. Agus ist nach der Séance erschöpft und betet gemeinsam mit Leo für die Sünder, die „nicht verstehen können“ (00:47:30). Diese Szene wird im Film nicht im Ganzen als inszeniert ausgewiesen und erfährt doch eine Brechung durch die Ebene der Musik und die hineingeschnittenen Szenen, die wie Rückblenden fungieren. Die Szene greift auf der inhaltlichen Ebene die Thematik der Religiosität auf, die Frage nach dem, was wir als real und wahrhaftig bezeichnen.. Im gesamten Film finden wir auf einer formalen Ebene Gegenüberstellungen von vermeintlich fiktionalen und faktualen Szenen, die sich in den von mir aufgezeigten Beispielen immer wieder in Sequenzen des Unbestimmbaren vermischen. Damit stellen diese Grauzonen das Perspektivische jeder Wahrnehmung aus und zweifeln Authentizität im Film an. Dies geschieht sowohl hinsichtlich des Themas – also der Frage nach Religion und der Auslegung ebendieser – als auch hinsichtlich der filmischen Darstellung.
2.4 R esümee : V om A uge zum O hr und unter die H aut Promised Paradise benutzt filmische Verfahren, um die Authentizität durch das bewegte Ton-Bild neu zu konstruieren. In dem Film werden sehr deutlich mehrere Wahrnehmungskanäle bedient. Auf der Hand oder vielmehr in der Ohrmuschel liegt ganz offensichtlich die bedeutende Rolle des Tons im Film, wie sich im Verlauf der Analyse mehrfach gezeigt hat. Zunächst zum Einsatz der Musik aus dem Schattentheaterstück von Putu Wijaya: Diese Musik ist das allererste, das wir von dem Film hören. Wir hören die Musik schon wenn in der sechsten Sekunde das Symbol von Helmichs Produktionsfirma SCARABEE films eingeblendet wird. Auf die Paukenschläge der Musik kommen die Einblendungen „Scarabeefilms and the Vrijzinnig Protestantse Radio Omroep present“ (00:00:16), dann mit dem nächsten Schlag: „A film by Leonard Retel Helmrich“ (00:00:23) und der Titel: Promised Paradise. Mit dem Ausblenden der Schrift klingt die Musik mit einem Triangelton aus und es setzt der Anfangsgesang „Bangeledangdang“ von Agus ein. Dann erst wird das Testbild in den Vorhang des Puppentheaters übergeblendet (00:00:48). Der Ton baut so bereits in den allerersten Sekunden eine Erwartungshaltung an den Film auf. Wir hören von Anfang an, dass es um etwas Bedrohliches, Mystisches und vielleicht ‚Fremdes‘ gehen wird. Die Musik gibt diese Erwartungshaltung vor, und so, wie wir im Verlauf des Films auf die Puppenspieler-Handlungen von Agus konditioniert werden, stellt diese Musik leitmotivisch immer wieder eine größere Dimension der Bedrohung her. Es scheint nur logisch, dass
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diese vom Gesang des Puppenspielers abgelöst wird, der sich Musik und Ton zu eigen macht, und damit auch die Handlung und die Perspektive des Films – ja man kann sagen, dass er sich den Film aneignet. Agus wird als Figur gerade durch die Abwesenheit seiner realen Person zum Sprachrohr, zur verkörperten Stimme. Ähnlich ist es in der Séance, in der Agus, angeleitet von Leo Lumanto, durch einen körperlichen tranceartigen Zustand zur reinen Stimme wird, nämlich der des verstorbenen Attentäters. Vielleicht ist es im übrigen Film, in dem er vordergründig als Figur des Puppenspielers agiert, der Film selbst mit seinen Einblendungen und Rückblenden, der ihn zur Stimme eines gläubigen Moslems macht, der kein Verständnis für Fundamentalismus und Terrorismus hat. Gerade die Absenz seiner Privatperson – wir wissen beispielsweise nicht, ob er regelmäßig betet oder generell ein islamgefälliges/religiöses Leben führt, wir kennen außer Endang keine Freunde, keine Familie von ihm, wir können uns kein Bild machen, wir bekommen lediglich eine Ahnung von ihm – könnte ihn zu einer reinen Imaginationsfläche machen. Wenn Agus als verkörperlichte Stimme zu begreifen ist, so wird dies durch den Gesang weiter verstärkt. Sicher ist der Einsatz des Gesangs in der Figur des Puppenspielers begründet: Agus Nur Amal singt nun einmal in seiner Bühnenshow. Aber es gibt auch Aufführungen von ihm außerhalb des Films, die ohne Gesang auskommen.5 Warum muss Agus im Film seine Fragen immer und immer wieder singend wiederholen? Beispielsweise auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis: „Imam Samudra! I hope you can hear me! I’m out here and I’m not allowed in. It’s very difficult to meet someone like you. If I met you, I could find out if you were right or wrong.“ (00:19:26) Ist es nicht so, dass Gesang eingängiger ist, dass er das Innerste des Menschen erreichen soll? Gesang und Wiederholung eröffnen einen anderen Zugang. Durch eine Entpersönlichung des Protagonisten und einer Verkörperlichung der Stimme wird ein Verfahren angewendet, das zudem die Künstlichkeit des Films deutlich ausstellt. Durch den besonderen Einsatz des Tons lässt sich Promised Paradise möglicherweise in eine Reihe von Dokumentarfilmen einordnen, in denen der Ton das Primat über das Bild übernimmt. Thomas Elsaesser sieht hier sogar einen Paradigmenwechsel: „Die technologische Fähigkeit, immer mehr klar definierte Töne und Geräusche fein säuberlich von einander zu trennen und sie trotzdem hör- und erkennbar mit Dialog und
5 | Einige sind auch auf der Social-Network-Plattform Youtube einzusehen. Beispielsweise: Dody DP-x studio 2012: PMTOH – BERITA BENCANA – SCENE 05. Hier spielen Erkennungsmelodien zwar auch eine Rolle, aber Agus spricht nicht im Singsang wie in dem Film.
2. P romised Par adise Musik zu verweben, wie es multi-track recording, Dolby, THX und andere Systeme oder digitale Software selbst im ‚independent‘’ Sektor ermöglichen, haben den Status des Tons als Teil des filmischen Vokabulars entscheidend erweitert. Es ergeben sich neue expressive Dimensionen, die es erlauben, Ton, Geräusch und auditives Ambiente mit einer als lebendig erfahrenen körperlichen Präsenz auszustatten, die über stereotype Wiedererkennung hinausgeht und dem Zuschauer andere Erfahrungsräume in sich selbst erschließen kann.“ (Elsaesser 2010:17)
In seinem Vortrag „Zwischen Abstraktion und Stofflichkeit: Ton Körper Stimme“, aus dem auch dieses Zitat stammt, spürt Elsaesser den Gründen für einen Paradigmenwechsel „weg vom Auge [...] hin zu anderen Sinnesorganen und dem Körper“ (ebd.: 2) durch das digitale Bild nach. Ich würde bei Promised Paradise nicht so weit gehen zu behaupten, dass sich hier bereits ein Paradigmenwechsel vollzogen hat, aber doch ist es bemerkenswert, dass auch dieser Film stark auf ein sinnliches Erleben beim Zuschauer abzielt, einerseits, wie aufgezeigt, durch den Ton und andererseits auch durch besonders eindringliche Bilder, wie in der Analyse zur Figur Endang beleuchtet wurde. Am wirkmächtigsten sind die Szenen, in denen zum eindrucksvollen Ton die eindrucksvollen Bilder hinzukommen, wenn die Kamera den Protagonisten ‚unter die Haut fährt‘ beziehungsweise zu Leibe rückt. Ich möchte noch einmal auf das Zitat von Leonhard Retel Helmrich, das diesem gesamten Kapitel vorangestellt ist, zurückkommen: „‚Realität ist sorgfältig konstruierte Wahrnehmung, die darauf wartet, als Lüge entlarvt zu werden‘ – mit solch messerscharfer Ironie kommentierte Leonard Retel Helmrich, Holländer mit indonesischen Wurzeln, seinen Promised Paradise.“ (Cinelibre 2015: o.S.6)
Worum geht es also wirklich in Promised Paradise? Um die Konstruktion von Wahrnehmung, wie Leonhard Retel Helmrich selbst geschrieben hat. Und dies wird anhand von zwei Leitthemen verhandelt: Konstruktion von Wirklichkeit in den Medien und Konstruktion eines religiösen Fanatismus durch Terroristen. In beiden Fällen geht es um Fragen der Deutung, der Umdeutung, der Deutungshoheit – um Interpretation und Wahrnehmung. Auf einer Metaebene wird dieser Diskurs auf den Zuschauer übertragen beziehungsweise auf das Verhältnis des Rezipienten zum Film. Durch die aufgezeigten filmischen Verfahren schafft der Film Grauzonen, Bereiche der Verschmelzung und des Unbestimmbaren, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Inszeniertem und Nicht-Inszeniertem. Die Transformationsprozesse von der vorfilmischen zur filmischen Realität werden ausgestellt und zur Reflexion 6 | Leonard Retel Helmrich zitiert nach Gero Krebs in: WOZ_Die Wochenzeitung.
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‚freigegeben‘. Dies geschieht gerade dadurch, dass der Film sich einer Kunstform bedient, welche die Übersetzungsprozesse ihrer Kunst nie verneint hat: dem Theater, das mit einer starken Stellung des gesungenen Wortes, des Tons verwoben wird. In Kombination mit der angewendeten und analysierten Montage des Films wird so der herkömmliche/klassische Begriff des ‚Authentischen‘ abgelehnt. Es wird ein neuer Begriff des Authentischen bevorzugt, der in der Fiktion liegt: Eine Haltung, die davon ausgeht, dass Authentizität durch Imagination entsteht. Der Film schlägt sich selbst mit seinen eigenen Waffen und das mit voller Absicht. Denn wie Lorenz Engell deutlich macht, sind ‚Dokumentationskraft‘ und ‚Fiktionskraft‘ im Film letztlich das Gleiche: „Alles, was den Film in besonderer Weise dazu befähigt, Realität zu dokumentieren und zu beglaubigen, Evidenz herzustellen und Augenzeugenschaft und Anteilnahme zu generieren, das ist auch im selben Maße dazu geeignet, Realität zu fingieren, Beglaubigung zu fälschen, Evidenz zu suggerieren, Augenzeugenschaft vorzutäuschen und Anteilnahme zu imaginieren. Die Abbildtreue des Films, die auf dem scheinbar bedingungslosen Automatismus seines Bildgebungsverfahrens beruht, seine Verfügung über gleich zwei Wahrnehmungskanäle, die einander ergänzen und bestätigen können; seine enorme Beweglichkeit im Raum, die dazu führt, dass die Aufzeichnungsapparatur denselben Raum durchziehen kann wie das Aufgezeichnete; seine Polyperspektivität in der Montage, die dazu genutzt werden kann, Bilder durch Bilder und Gegenbilder zu beglaubigen und zu kontrollieren, all das kann den Glauben an die Realität einer unabhängigen, objektiven und gegebenen Außenwelt ebenso nutzen und verstärken, wie es auch das Illusionspotential und -bedürfnis und die reine Imagination bedienen kann.“ (Engell 2007:15)
Der Film hat so als Medium etwas sehr Spezifisches, fast schon Unheimliches im Vergleich zu andere Kunstformen wie beispielsweise dem Theater und kann mit den gleichen Techniken Authentizität/Echtheit herstellen oder fälschen. Promised Paradise bestätigt dies auf seine ganz eigene Weise und regt dazu an, diesen Gedanken auf religiösen Fundamentalismus zu übertragen.
3. M aking of – K amik a ze Der Spielfilm Making of – Kamikaze (TUN/MAD/F/D 2006, R: Nouri B ouzid, L: 115 Min.) stellt ebenfalls auf eine sehr spezifische Art die Macht der Medien und Bilder infrage wie zuvor schon Promised Paradise. Darüber hinaus werden in dem Film Geschlechterrollen in der tunesischen Gesellschaft anhand von Sprache und Körperkonzepten thematisiert. Die Funktion, die bei Promised Paradise der Gesang des Puppenspielers übernimmt, kommt bei diesem Film dem Tanz zu. Die Hauptfigur Chokri, ein Tänzer, der von seinen Freunden und auch im Folgenden Bahta genannt wird, bringt seine Meinung über die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatland Tunesien über den Tanz zum Ausdruck. Sein Konflikt mit den vorherrschenden Vorstellungen vom ‚Mann-Sein‘, dem männlichen Körper und gesellschaftliche Erwartungen an Männer werden über den Tanz auf einer Metaebene diskutiert. In Making of – Kamikaze findet eine Entgrenzung innerhalb der Gattung des Spielfilms statt. Es handelt sich um ein Spiel mit Erwartungshaltungen der Rezipienten: Die Darsteller verlassen ihre Rollen und die Rezeption selbst wird zum Thema. Durch diesen Bruch mit der Rolle durch die Hauptfigur Bahta – dargestellt von Lofti Abdelli – wird hier eine Identifikationsfläche für die Rezipienten geschaffen. Dies ermöglicht wahrscheinlich einen besseren Zugang zu den schwierigen Themen Fundamentalismus und Terrorismus, die im Film von zentraler Bedeutung sind. Kurz zum Inhalt: Bahta, ein 25-jähriger Tunesier, ist arbeits- und perspektiv los. Er lebt in den Tag hinein und träumt davon, als Tänzer in Italien zu arbeiten, allerdings besitzt er keine Papiere für eine legale Reise nach Europa. Von der männlichen, von patriarchalen Strukturen geprägten Gesellschaft, die in ihm hegemoniale Männlichkeitsmodelle verwirklicht sehen möchte – und hier vor allem von seinem Vater – wird er als Nichtsnutz und Versager wahrgenommen, der die Schule und das Abitur nicht geschafft hat. Seine Tage verbringt er mit einer Jungenbande aus Breakdancern und Graffitisprayern, denen auch sein deutlich jüngerer Bruder (etwa zwölf Jahre alt) angehört. Eine liebevolle Beziehung pflegt Bahta zu seiner Mutter und zu seiner Freundin Souad, die ihn so akzeptieren, wie er ist. Dennoch ist seine Beziehung zu letzterer – nicht zuletzt aufgrund von Herkunftsunterschieden, Bahta scheint aus einer ärmeren Fa-
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milie seiner Freundin zu stammen – nicht frei von Eifersucht und Konflikten. Bahta sieht trotz der Bindung an Freundin und Mutter keine Perspektive in seinem Land und versucht Geld zu organisieren, um illegal mithilfe eines Schleppers das Land zu verlassen und in Europa als Tänzer Anerkennung zu finden. Im Hafen trifft der Protagonist regelmäßig Bruder Mongi, den Schlepper, der aber nicht zuletzt aufgrund des Irakkrieges Bahtas Hoffnungen nicht erfüllen kann. Gleichzeitig wird Bahta zunehmend in Probleme mit der örtlichen Polizei verwickelt. Er und seine Bande werden unter anderem wegen Taschendiebstahls festgenommen. Die Situation eskaliert, als er einerseits die Polizeiuniform seines Cousins entwendet und andererseits für einen Menschenauflauf vor dem Haus seiner Freundin sorgt. Da er nun dringend von der Polizei gesucht wird, flüchtet er und bestiehlt in der Hoffnung auf eine illegale Auswanderung nach Europa schließlich seinen Großvater, um den Schlepper Mongi zu bezahlen. In dieser scheinbar ausweglosen Situation wird er von einer fundamentalistischen Gruppe aufgegriffen, die ihm ein Versteck bei ihrem Anführer, einem Steinmetz, anbieten. Dieser versucht, Bahta für seine religiösen Ideen zu gewinnen und lehrt ihn den Islam. Dabei kommt es teilweise zu Verurteilungen von Bahtas ‚altem Leben‘. Als der Steinmetz auch noch den Tanz verdammt, steigt Schauspieler Lofti Abdelli (Bahta) aus seiner Rolle aus und will mit dem Regisseur Bouzid sprechen. Er beschwert sich darüber, dass er für die darstellende Rolle eines Tänzers gecastet wurde, nun aber einen Fundamentalisten spielen soll. Zurück in der Haupthandlung zweifeln die Islamisten an Bahtas Überzeugung und sperren ihn in eine alte Weinfabrik, wo er zur Besinnung kommen und geläutert seine Aufgaben wahrnehmen soll. Dort durchlebt er Fieberträume und findet diverse Dinge in seinem Gefängnis, darunter einen Sprengstoffgürtel. Als Bahta die Flucht gelingt, sucht er im Wahn seine Mutter und seine Freundin auf und verabschiedet sich von ihnen mit der Begründung, er wolle als Märtyrer sterben. Er verprügelt Fundamentalisten, liefert sich eine Verfolgungsjagd mit der Polizei und sprengt sich schließlich selber im Containerhafen – ohne andere mit in den Tod zunehmen – in die Luft. Im Folgenden soll mithilfe der Analyse des hier inszenierten Männlichkeitskonzepts der Frage nachgegangen werden, wie der Film das Phänomen, ‚wie ein junger Mann zum Selbstmordattentäter wird‘, umschreibt. Dabei ist interessant, dass die dem möglichen Attentäter und späteren Märtyrer zugrunde liegenden Ohnmachtsgefühle, die von den Fundamentalisten in Allmachtsfantasien umgeleitet werden sollen, ihre Manifestation durch Geschlechterkonstruktion finden. Es wird also besonderes Augenmerk auf die Beziehungen des Protagonisten Bahta gelenkt, um die Entwicklung der Geschichte nachvollziehbar zu machen. Darüber lässt sich dann, sobald es zum Illusionsbruch kommt, auch der Frage nachgehen, welche Identitätsfläche der Protagonist bie-
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tet. Hierbei soll insbesondere auch seine Eigenschaft als Tänzer berücksichtigt werden. Forschungsleitende Fragen sind: Welche Funktion hat das Making-of – also der Illusionsbruch? Welche Form der Entgrenzung lässt sich hier beschreiben und wofür steht sie? Welche Metaebenen verhandelt Bouzid mit seinem Film? Von dramaturgischem Interesse ist hierfür die inszenierte Parallelhandlung des Films. Der eigentliche Handlungsstrang, die Geschichte des Tänzers Bahta, der durch verschiedene Verstrickungen und jugendlichen Leichtsinn in die Hände von Fundamentalisten gerät, wird von drei Sequenzen unterbrochen, in denen Lofti Abdelli sich selbst als Schauspieler darstellt und damit die Rolle des Bahta und die gesamte Filmstruktur auf bricht. Es bietet sich an, differenziert auf die Frauen- und Männerrollen in dem Film einzugehen und zu überprüfen, wie in Making of – Kamikaze Entgrenzungen thematisiert werden und damit eine Gesellschaftskritik stattfindet. Auf den ersten Blick ist festzustellen, dass die beiden Hauptprotagonistinnen die starken Figuren darstellen, da sie sich nicht der Mehrheitsmeinung anschließen. Bahtas Mutter, dargestellt von Fatima Ben Saïdane, und seine Freundin Souad, dargestellt von Afef Ben Mahmoud, sind diejenigen, die dem Protagonisten ein Gegengewicht bieten zur Welt der Männer, in der er sich nicht wiederfindet. Beide Frauen zweifeln, zumindest zu Beginn der Handlung, weder ihn noch seine Männlichkeit an. Auch sind sie jederzeit bereit, ihm seine Gesetzeswidrigkeiten oder zwischenzeitliche Respektlosigkeit zu vergeben. Sie lieben ihn, so wie er ist, als Sohn, als Freund und als Tänzer. Die Konzepte Mann und Tänzer scheinen sich im Gegensatz dazu für die männliche erwachsene Dominanzgesellschaft auszuschließen beziehungsweise zu widersprechen. Hingegen werden die Konzepte Mann und Terrorismus scheinbar zusammengeführt, anscheinend ohne dass dabei ein offener Widerspruch entsteht. Diese Konzepte/Konstrukte des Films gilt es anhand der Figur Chokri/Bahta zu überprüfen.
3.1 E nt wicklung eines zerrissenen C har ak ters In Making of – Kamikaze ist die Frage nach der Männlichkeit und nach der Identität als Mann eines der zentralen Themen. Das ‚Mannsein‘ wird als Reifeprozess oder auch als ‚Belohnung‘ angesehen. Dabei gibt es verschiedene Kriterien, die der Protagonist Bahta als Prototyp der Figur, die als tunesischer Mann anerkannt werden will, zu bestehen hat. Ganz am Anfang steht der Respekt seiner Gruppe, der Gleichaltrigen, denen er seine Stärke und seine Führungsqualitäten beweisen möchte, sowie die Anerkennung seiner Freundin. Dabei werden das Verhältnis Mann/Frau, das Konfliktpotenzial im Geschlechterverhältnis und vor allem auch die Frage nach der Wahrnehmung von ebendiesem durch Außenstehende thematisiert. Diese Verhältnisse wer-
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den durch direkte Verbalisierungen aufgegriffen. Seinen Kumpel hat Bahta „beim Küssen“ beobachtet und er ‚zieht über ihn her‘ (00:01:34)1. Als dieser ihn dann aber im Gegenzug kompromittiert, geht das Temperament mit Bahta durch und er wird aggressiv. Im nächsten Schnitt ist Bahta wieder ganz ruhig: Er sitzt bei seiner Freundin Souad und deren kleiner Schwester auf der Fähre; es besteht ein sehr vertrautes Kommunikationsverhältnis (00:03:17). Beim Verlassen der Fähre fordern seine Kumpel ihn allerdings auf, seine Freundin nicht mitzubringen. Bahta hält das zuvor an Souad gegebene Versprechen (sie mitzunehmen) nicht ein und erklärt ihr, dass der Ort zu schmutzig für sie sei. Souad empfindet dieses Verhalten als Beleidigung, als Erniedrigung von ihrer Person vor seinen Freunden. Dies zeigt sogleich den konfliktbeladenen, rollenverunsicherten und leicht entzündlichen Charakter Bahtas, mit dessen Charakterisierung begonnen werden soll. Bahta wird mehr oder weniger als der Chef der Gang eingeführt. Er fährt das Lastenfahrrad, in dem zwei jüngere Jungen (einer von beiden wird später noch als sein Bruder identifizierbar) sitzen, und dominiert das Gespräch innerhalb der Gruppe. Er steht im Zentrum des Geschehens und auch im Zentrum des Bildes. Das Tempo seines Rades gibt auch die Bewegung vor. Er ist ein hitziger, fiebriger Charakter, der zugleich aber auch ruhige Seiten haben kann. Diese zeigen sich in erster Linie in Zusammenhang mit den weiblichen Figuren, aber auch mit seinem Cousin Rezgui oder seinem kleinen Bruder. Bahta wird in den ersten Minuten des Films bereits innerhalb der Clique und in seinen Beziehungen zu den Kumpels charakterisiert: JUNGE 1: „Gib mir den Pulli.“ JUNGE 2: „Kinder, seid Ihr bereit?“ KLEINERE JUNGS: „Wir sind bereit!“ JUNGE 3: „Leise, du brüllst immer!“ BAHTA: „Du machst mich irre. [Ausladende Handbewegung zu den kleinen Jungen vorne in seinem Lastenfahrrad, stupst ihn an] Sei ruhig! [Zu einem anderen älteren Jungen, recht aufgesetzt] Hör zu Magui, die Freundin von Seyf, die hat einen geilen Arsch. [Die anderen Jungs lachen und schauen Seyf an.] Ich habe ihn beim Küssen überrascht. Von Nahem hat sie einen Damenbart.“ [Die Jungen, vor allem die kleinen, lachen noch lauter.] MAGUI: „Und er hat keinen Bart.“ [Gelächter]
1 | Soweit nicht anders gekennzeichnet beziehen sich sämtliche in diesem Kapitel aufgeführten und mit Zeitangabe versehenen Szenen/Dialoge auf den Film M aking of – K amikaze . Die Rechtschreibung entspricht den deutschen Untertiteln im Film.
3. M ak ing of – K amik a ze SEYF: „Bahta, kannst was lernen, wenn ich küsse.“ BAHTA [von jetzt auf gleich aggressiv]: „Sag das nicht nochmal!“ [Steigt vom Rad ab und läuft verärgert Seyf hinterher.] JUNGE 2: „Bahta, reg dich ab.“ SEYF: „Bahta der Aufpasser!“ BAHTA [aggressiv]: „Mach nicht mehr solche Scherze mit mir.“ [Tritt mit dem Fuß gegen das Fahrrad.] LOCKENKOPF [zieht ihn weg]: „Lass uns jetzt üben!“ BAHTA: „Zeig ihm die Nummer! “ [Fasst sich an sein Geschlecht und tanzt einen Move, der an Michael Jackson erinnert.] JUNGE 2: „Stop! Stop!“ BAHTA [zum Lockenkopf]: „Beim Leben deiner Mutter, zeig’s ihm!“ JUNGE 2: „Sie werden vor Eifersucht platzen!“ JUNGE 1: „Wir werden sie schlagen und gewinnen.“ [Bahta hinzu mit Handstand] (00:01:04-00:02:30)
Er hat einen Charakter, der von Ausbrüchen und Stimmungsschwankungen gekennzeichnet ist, die für außenstehende Personen weder diegetisch noch extra-diegetisch, das heißt weder innerhalb der Erzählung für die anderen Figuren im Film, noch außerhalb der Erzählung für die Rezipienten situativ immer nachvollziehbar sind. Er ist vor allem von einem Gedanken beseelt: Er will das Land verlassen, nach Europa und in Freiheit leben. Das bedeutet für ihn konkret die Möglichkeit, als Tänzer zu arbeiten. So wird der Tanz zum Symbol für Freiheit und Demokratie. Bahta beansprucht Freiheit für sich, hat aber von Anfang an mit dem Freiheits- und Gleichberechtigungsanspruch seiner Freundin Souad ein Problem. Das mag, neben den gesellschaftlichen Geschlechterdifferenzen, daher rühren, dass sie – wie sich im Verlauf des Films zeigen wird – aus einer wohlhabenderen Familie stammt. Anhand der Figur Bahta wird, wie bereits angesprochen, das Konzept Männlichkeit in Tunesien verhandelt. Dabei verkörpern die anderen männlichen Protagonisten ebenfalls Stereotype, die vor allem an eine Idee von (willkürlicher) Macht geknüpft sind: Die Macht des Vaters/der Familie, die Macht der Polizei/des Regimes und die Macht der Religion und letztendlich die Macht der Anderen/des Schicksals dargestellt durch den Schlepper, der ihn nicht aus dem Land bringen kann. Damit sind vier Lebenskomponenten abgedeckt. Bahta selbst kämpft darum, als Mann in seiner Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Seine Umgebung aber sieht in ihm – trotz seiner 25 Jahre – ein Kind oder einen Taugenichts. Seine Impulsivität und seine innere Zerrissenheit werden im Verlauf des Films immer wieder offensichtlich, selbst im zweiten Teil, als er bereits unter dem Einfluss der Fundamentalisten steht:
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Zwischen Dokumentation und Imagination BAHTA: „Zündet mich an! Ich will den Beweis liefern!“ STEINMETZ: „Beruhige Dich mein Sohn.“ BILAL: „Wir wollen Dich nicht anzünden. Wir sind keine Feinde und wollen dir nicht wehtun.“ BÄRTIGER: „Bilal, setz Dich.“ BAHTA: „Bin ich kein Mann? Zündet mich an!“ STEINMETZ: „Bilal, lass ihn ein wenig in Ruhe. Er kämpft noch mit dem Kind in sich.“ (01:08:43-01:09:09)
Ruhig ist er lediglich in Szenen mit Souad oder seiner Mutter, die durch eine gewisse Intimität geprägt sind, wie gleich zu Beginn in der bereits beschriebenen Szene auf der Fähre. Hier werden stets auch gesellschaftliche Konventionen berücksichtigt. Es wirkt gleich alles viel intimer, es ist die intimste und unbeschwerteste Situation im ganzen Film, auch weil man als Zuschauer hier noch nicht weiß, worauf der Film hinausläuft. Der Zuschauer kann ebenso noch nicht absehen, welche Bedeutung die Drahtpuppe, die Bahta der kleinen Schwester seiner Freundin schenkt, noch haben wird. Am Ende des Filmes wird die Puppe das einzige sein, was nach seinem Selbstmordattentat im Containerhafen an ihn erinnert. SOUAD: „Hör auf sie zu quälen.“ BAHTA: „Lass das.“ SOUAD: „Deine Mutter hat sich über Dich beklagt.“ BAHTA: „Sie nennt mich den ‚Tanzverrückten‘.“ SOUAD [lacht liebevoll]: „Du machst alle verrückt.“ BAHTA: „Pass auf. Ich kann Dich entführen.“ SOUAD: „Du denkst wohl ich bin wie die Mädchen, die ihr in den Ruinen vögelt.“ BAHTA: „Das sind meine Kumpels. Ich decke sie nur.“ SOUAD: „Und trägst die Hochzeitskerze?“ BAHTA: „Klar, wenn ich eine Braut wie dich hätte.“ SOUAD: „Genug schöne Worte.“ BAHTA [zu der kleinen Schwester]: „Ich besuche Deine Schwester, um Dich zu sehen.“ (00:03-20-00:04:02)
Das ganze Gespräch ist sehr nah gefilmt, darüber liegt ein heiterer, liebevoller Grundton. Es besteht zunächst kein Grund, zumindest aus einer europäisch geprägten Rezeption heraus, infrage zu stellen, dass es dem Hauptdarsteller gut gehen müsste: Er hat Freunde, er hat eine Freundin, er hat Spaß, er hat Hoffnung. Im Verlauf des Films wird sich die innere Zerrissenheit Bahtas jedoch immer mehr offenbaren. Er weiß nicht, wo er hingehört, und sieht vor allem beruflich keine Perspektive. Bahtas Leben umfasst zwar die aufgezeigten Komponenten
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der Stabilität, dennoch sieht er sich vergeschlechtlichenden und generationalen Anrufungen ausgesetzt, die seine innere Zerrissenheit erklären. Er sehnt sich zugleich nach einem Platz und Ordnung: „Hätte ich nur deine Uniform.“ (00:24:20) Gleichzeitig kommt hier ein Ohnmachtsgefühl gegenüber einem Polizeistaat zum Ausdruck, der mit aller Härte gegen „nicht-konforme Personen“ wie Bahta und seine Freunde vorgeht. Das Bild des tunesischen Staates, das dieser Film zeichnet, soll an späterer Stelle noch diskutiert werden. Die Demoralisierung von Bahta findet etappenweise statt. Zunächst einmal der Konflikt mit der Polizei, dann die Entfremdung von der Freundin, seine Clique macht nicht mehr, was er will (00:14:42), und verspottet ihn. Es herrscht Frust und ein Machtgerangel in der Gruppe. Im nächsten Schritt bestiehlt Bahta seinen alten Großvater (Baba Jaloul) und wird von seinem Vater dabei erwischt, der ihn daraufhin mit einem Gürtel auspeitscht. Am nächsten Tag zettelt er aus Eifersucht einen Menschenauflauf vor Souads Haus an und wird verhaftet. Er stiehlt seinem Cousin Ragzui die Polizeiuniform, zieht diese an und stiftet damit Chaos, daraufhin klaut er seinem Großvater erneut das Geld. Diesmal muss er untertauchen. Die beiden bärtigen Männer vom Teehaus greifen ihn auf und bringen ihn zu ihrem Anführer, dem Steinmetz. Die Szene, in der Bahta mit der gestohlenen Polizeiuniform bekleidet sämtliche Regeln missachtet, ist ein Schlüsselmoment zum Verständnis der Figur. In dieser Szene wird sein Konf likt Freiheit respektive Unfreiheit thematisiert. Die Polizeiuniform wird zum Symbol der Ordnung eines korrupten Staates, der starre Konzepte von Macht, Männlichkeit und Weiblichkeit vorgibt. Der Staat/die Öffentlichkeit ist männlich/patriarchalisch geprägt, passend dazu spielt sich die Szene in einem Teehaus ab, in dem sich nur männliche Gäste befinden (00:25:08). Bahta stolziert wie ein Feldmarschall durch die Tischreihen und verschafft sich Gehör, dabei fixiert er nacheinander die Männer: BAHTA: „Disziplin! Kopf runter! Ich werde Ordnung schaffen. Guten Tag! Wasserpfeife aus dem Mund, Karten auf den Tisch! Etwas Respekt! Ein wenig Respekt vor der Uniform. Was für ein Aufzug? Ich kann Dich wegen ‚unkorrekter Kleidung‘ festnehmen. Gefängnis. Das Gefängnis ist ein Ort für jeden. Jeder hat ein Recht darauf. Du suchst das beste Delikt aus und ich schick Dich hin. Auf mich kann man sich verlassen.“ (00:25:19-00:25:52)
Er spricht einen Mann an: BAHTA: „Bandit? Hast Du etwas gegen Tänzer?“ MANN: „Ich weiß von nichts.“ BAHTA: „Ordnung! Das ist ein Rechtsstaat! Man hat Euch Demokratie gegeben. Was macht ihr damit? [zu einem Mann] Was hast Du damit gemacht?“
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Zwischen Dokumentation und Imagination MANN 2: „Ich habe nichts gemacht.“ BAHTA: „Wir wissen was Du treibst.“ [Pause und Close-up auf einen der späteren Fundamentalisten.] BAHTA: „Ich werde anständig sein. Ich gebe allen Pässe. Schluss mit der illegalen Emigration. Keiner möchte illegal abhauen. Morgen erhaltet ihr die Visa. Die Botschaft empfängt Euch mit offenen Armen. Macht Ihnen die Freude, nehmt Eure Visa und geht nach Europa. Da gibt’s Blondinen. Heiratet sie und regelt Eure Papiere. Aber keine Schwindeleien! Nichts davon, davon oder davon“ [macht ‚Halsabschneidergesten‘] MANN 3: „Danke Sohn!“ BAHTA: „Ich habe einen Einsatz. Auf Wiedersehen.“ [Bahta verlässt den Ort Michael-Jackson-Moonwalk-Moves ähnlich tanzend.] (00:25:53-00:27:04)
Diese Szene ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Sie symbolisiert oder externalisiert den inneren Konflikt Bahtas. Seine Zerrissenheit, sein Konflikt mit dem Land wird offenbar. Seinen ‚Auftritt‘ hat er zudem an einem Ort, an dem männliche Öffentlichkeit zelebriert wird, und zwar unabhängig vom sozialen Status, von Funktion oder religiöser Orientierung, wie man den unterschiedlichen Kleidungsstilen der Gäste entnehmen kann. Einem Ort also, der vermeintlich für Offenheit steht, wo aber vermutlich die eingefahrenen Machtstrukturen in Stammtisch-Manier fortgeführt werden. Es ist daher zunächst auf den ersten Blick nicht absurd, dass Bahta genau an diesem Ort, aus dieser Situation heraus die Fundamentalisten auf ihn aufmerksam werden und er von diesen quasi innerlich (Close-up auf den einen von beiden [00:26:14]) rekrutiert wird. Es ist einmal mehr ein Kniff von Bouzid zu zeigen, dass man den Umständen nicht trauen kann und nichts so ist, wie es scheint. Genauso wie dieser Polizist nur Schein ist, der sein Haar unter der Mütze versteckt hält und mit Tanzmoves das Teehaus verlässt. Gleichzeitig verwandelt Bahta hier erstmals seine Ohnmachtsgefühle in eine Allmachtsfantasie. In vergleichbarer Weise ließen sich auch die Handlungen von Selbstmordattentätern psychologisch deuten. Dem Steinmetz, dem Führer der Terroristen, wird Bahta aufgrund dieser Teehaus-Szene später jedenfalls als „mutig, aber gottlos“ angepriesen. Letztendlich markiert diese Szene einen der Wendepunkte, der entscheidenden „Turning Points“ der ganzen Handlung. Das unrechtmäßige Tragen der Polizeiuniform und die Angst vor entsprechender Sanktionierung zwingen die Hauptfigur dazu, unterzutauchen und sich dem Steinmetz anzuvertrauen. Bahta wird in der Folge mehr und mehr in die religiös-fundamentalistische Welt des Steinmetzes hineingezogen. Man gewinnt den Eindruck, dass Bahta sich einem inneren Zwang hingibt. Das lassen die fieberartigen Träume vermuten, die ihn zu begleiten scheinen, sobald er sich intensiv mit dem fundamentalistischen Gedankengut auseinandersetzt. Als er zum Steinmetz zurückkehrt und sich in der Nacht mit dem Material in dem „verbotenen
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Zimmer“ auseinandersetzt (ab 00:48:38), scheint ein Wandel in ihm vorzugehen. Warum dies geschieht, wird nicht ersichtlich. Zunächst sieht man ihn unbedarft spielend wie ein Kind. Er legt dann irgendwann eine DVD ein, auf der Szenen der Massaker in Sabra und Chatilla und vom Attentat auf das World Trade Center zu sehen sind sowie eine Ansprache von Osama Bin Laden, der Selbstmordattentate sowie die Ermordung eines „Ungläubigen“ preist. Bahta muss sich angesichts der Szenen übergeben. Er beginnt den Koran zu lesen und weint und friert. Es scheint so, als würde er einen inneren Kampf ausfechten und letztendlich verlieren (00:51:33). Am nächsten Tag betet und arbeitet er mit seinem „Meister“ zusammen, währenddessen werden ihm allerhand Glaubenssätze vermittelt: BAHTA: „Chef, erzähle mir vom Sieg des Islam.“ STEINMETZ: „Der Sieg des Göttlichen über den schwachen Menschen.“ BAHTA: „Hab ich nicht verstanden.“ STEINMETZ: „Gott schafft Dich nach seinem Willen. Gott hat uns geschaffen, um ihm zu gehorchen. Der Westen verteidigt seine Interessen gegen den Islam. Er zwingt uns seine Ansichten auf. Gegen unseren Willen. Er hat unser Land geplündert, uns erniedrigt. Uns in eine neue ‚Jahilia‘ versetzt.“ BAHTA: „Was soll ich tun?“ STEINMETZ: „Finde zur Religion zurück, lies das Wort Gottes und gehorche.“ BAHTA: „Wenn Gott allmächtig ist, warum löscht er dann die Ungläubigen nicht aus?“ STEINMETZ: „Gott ändert das Los eines Volkes nur dann, wenn sich das Volk selbst ändert […] Diese Welt ist ein Gefängnis für Muslime, und ein Paradies für Ungläubige. Alles Schlechte kommt von ihnen, der Tanz, die Kunst, Theater, Krankheiten wie Aids, Rinderwahnsinn.“ (00:51:00-00:53:25)
Die Ablehnung alles Weiblichen und des Tanzes bleiben für Bahta die ganze Zeit kritische Punkte, waren es doch gerade die Frauen, die seinem Leben Stabilität verliehen haben und ihn so angenommen haben, wie er war, wie sich bei den Konzepten der Weiblichkeit noch zeigen wird. Bahta bleibt bis zum Schluss jedoch unberechenbar, selbst in seinem religiösen Wahn für die religiösen Fanatiker. Es ist der Zwang der Unfreiheit, der sich in dem Charakter widerspiegelt. Vielleicht ist das das provokativste Moment des ganzen Filmes: Bahta ist nicht das ungeliebte Kind, das auf der Straße groß geworden ist und über Jahrzehnte mit religiösem Gedankengut infiltriert wurde. Nein, er ist der ‚normale‘ Junge von nebenan, der von einem besseren Leben träumt und durch banale Ereignisse in Konflikt mit der machthabenden Generation gerät. Die Stärke der Figur des Bahta liegt somit in ihrer Allgemeingültigkeit, die wenig an das spezifische Thema oder die Region geknüpft ist. Bahta könnte an vielen Orten,
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auch nicht arabischen, leben und in ähnliche innere Konflikte geraten. Das macht sein Verhalten sehr universal und bietet damit natürlich auch ein universales Erklärungsmuster. Die Figur verbliebe jedoch eine Schablone in der Neutralität, fände sie nicht eine zusätzliche Erweiterung im Making-of, die ihr eine zusätzliche Dimension verleiht. Auf der anderen Seite ist in der Figur eine massive Kritik an den hegemonialen Machtstrukturen/patriachalischen Gesellschaftsstrukturen in Tunesien, der Heimat des Regisseurs, beinhaltet. Diese Kritik wird anhand der anderen Männerfiguren des Filmes verhandelt, die in der Folge thematisiert werden.
3.2 K onzep te von M ännlichkeit als R eibungsfl äche für B ahta Der Film stellt vier (männliche) Machtgruppen aus Bahtas Leben vor: den Vater, die Polizei, den Schlepper sowie den Steinmetz und seine Handlanger. Alle vier Gruppen üben körperliche und seelische Gewalt gegen Bahta aus. Dabei bleiben sie Typen ihrer jeweiligen Funktion und werden kaum zu komplexen Charakteren. Das sieht man besonders eindrücklich an der Figur des Vaters.
3.2.1 Der Vater, Inszenierung von Sprachlosigkeit Der Vater wird von Anfang an negativ konnotiert dargestellt. In seiner Abwesenheit ist die Stimmung – zwischen Mutter und Sohn – locker und gelöst. Sobald er jedoch vor Ort ist, wirkt die Atmosphäre bedrückt und man vernimmt regelrecht ein Aufatmen, wenn der Vater die Familie nach einem kurzen Besuch wieder verlässt. So nennt Bahta seinen Vater distanzierend nach seinem Beruf den „Taxifahrer“ und meidet ein Zusammentreffen mit ihm. Der Vater hat es Bahta verweigert, ihm das Autofahren zu lehren – seinen eigenen Beruf und zentrales Merkmal innerhalb des Filmes. So bekommt eine zunächst scheinbar unwichtige Tatsache: a) der Vater ist Taxifahrer und b) er brachte Bahta nicht das Autofahren bei, noch immense Bedeutung. Die von dem Steinmetz später häufig artikulierte Anrufung „Du bist mein Sohn!“ ist von Bahtas Vater nicht zu hören, noch nicht einmal als Begrüßungsfloskel. Der Vater zeichnet sich durch absolute Sprachlosigkeit gegenüber seinem Sohn aus. Das einzige Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn findet statt, als Bahta nachts beim Stehlen des Geldes seines Großvaters von seinem Vater entdeckt wird (00:17:09). Doch findet auffälligerweise selbst in dieser Nacht keine Kommunikation zwischen den beiden statt. Der Vater schaut seinen Sohn an, er schreit nicht, er fragt nicht. Eindrücklich erscheint die Szene kurz bevor er seinen Sohn zur Strafe mit einem Gürtel verprügelt. Bahta steht im Dunkeln rechts vorne im Türrahmen, erst im zweiten Augenblick ist zu erkennen, dass
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der Vater hinten links im Raum sitzt und raucht. Es fällt kein Wort, die beiden Männer schauen sich nicht an. Beide wissen offensichtlich, was passieren wird, und es Bedarf weder des Zwangs noch des Widerstandes. Macht, Dominanz und Strafe sind zur Routine geworden, sie sind das einzige verbindende Moment zwischen den beiden, das einzige Moment des Aufeinandertreffens. Der Vater greift zur Wand und nimmt den Gürtel, der dort hängt. Bahta geht zum Tisch und stützt sich mit seinen Händen darauf. Der Vater schlägt ihn mit dem Gürtel auf den Rücken. Er fragt ihn weder, wofür er das Geld stehlen wollte noch stellt er weitere Fragen. Die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn ist eklatant. Der Sohn wehrt sich nicht, er jammert oder weint auch nicht, kein Wort kommt über seine Lippen, er zeigt keine emotionale Regung. Der Blick des Vaters lässt sich ebenso wenig deuten: Ist es Erschöpfung oder Enttäuschung über seinen missratenen Sohn, ist es Gleichgültigkeit angesichts des immer wiederkehrenden Moments der Bestrafung, dessen er schon längst überdrüssig zu sein scheint? Auch die Polizei beschränkt sich lediglich auf Strafe, genauso wie der Schlepper (in dem Moment, in dem nachgefragt wird), lediglich der Steinmetz scheint der verbindenden Worte mächtig zu sein. Das Verhalten der männlichen Figuren steht im Gegensatz zu den Handlungsweisen der Protagonistinnen. So ist es Bahtas Mutter, die in dieser Situation Emotionen zeigt. Geweckt von den dumpfen Schlägen erscheint sie im Halbschatten des Flures. Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht im Halbschatten (00:17:45), ihre mit Tränen gefüllten Augen zeigen ihren Schmerz, eine Mischung aus Trauer und Mitgefühl.
3.2.2 Die Polizei, Inszenierung von Organisation und Macht Auch die Polizei agiert in erster Linie gewalttätig. Auffällig ist zudem, dass es sich bei den Polizisten ausschließlich um Männer der Generation des Vaters handelt. Nur Bahtas Cousin Rezgui nimmt eine Sonderrolle ein. So wird die Dimension des Generationenkonflikts im Film besonders durch das Verhältnis der zwei größeren Gruppen gezeichnet: den Polizisten auf der einen Seite und den jugendlichen Rappern und Breakdancern auf der anderen Seite. Diese Männer tragen alle keine Uniform, auch hier kommt dem Cousin eine Sonderrolle zu. Es sei hier die Interpretation gewagt, dass damit eine Anspielung auf das ‚Spitzeltum‘ und die Allgegenwärtigkeit dieser Institution im Polizeistaat Tunesien rekurriert wird. Die erste Begegnung mit der Polizei findet bereits in den ersten zehn Minuten des Films statt: Die Jungen sind unter einer Brücke und veranstalten ein Tanzbattle, wie man es aus Gangsterfilmen kennt. Es ist der Ort, an den Bahta seine Freundin auf Drängen seiner Kumpel nicht mitgenommen hat. Sie wäre die einzige Frau gewesen, denn unter der Brücke sind nur Männer
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beziehungsweise Jungen. Bahta wirkt mit Abstand am Ältesten. Der kleine Bruder von Bahta steht währenddessen oben an der Brücke Schmiere: Zeigte der Film gerade noch Bahta beim Vollführen einer Art Schulterstand, so sind wir mit dem nächsten Schnitt oben bei seinem Bruder und teilen über dessen Schulter den Blick auf die Straße. So sehen auch wir den sich mit Blaulicht und Martinshorn nähernden Wagen. Die Kamerafahrt zeigt, den kleinen Bruder in Echtzeit begleitend, seinen Lauf entlang der Brücke. Er rennt die Treppenstufen herunter, um Bahta und damit die anderen Jungs zu warnen: „Bahta“ warnt er „Bahta!“, „Die Bullen!“. Aber Bahta flüchtet daraufhin nicht wie der Rest der Gruppe; er bleibt und erwartet die Polizisten, für die er kein Unbekannter ist. Der ältere Polizist sagt nun zum ersten Mal in dem Film zu ihm: „Du bist kein Mann!“ (00:08:09)2 und Bahtas Reaktion darauf ist ebenso eindeutig formuliert: „Gebt mir meinen Pass.“ Er, der den Militärdienst verweigert hat und in seinem Land nicht als Mann anerkannt ist, will ins Ausland, wo er glaubt, als Mann und als Tänzer seine Freiheit zu haben. In dieser Szene wird die Sonderrolle des Cousins, der gleichzeitig einer der Polizisten ist, zum ersten Mal deutlich. Er ist im Gegensatz zu seinen Kollegen ein junger Mann, kaum älter als Bahta, und er trägt Uniform. Er hat Respekt gegenüber den anderen, erfahreneren Polizisten, speziell gegenüber seinem Vorgesetzten, der Bahta gerade eine ‚Gardinenpredigt‘ hält. BRUDER: „Bahta, die Bullen kommen!“ [Und alle rennen weg.] BAHTA [schimpft ihnen hinterher]: „Hey, ihr Angsthasen! [zu dem anderen Anführer/ Helm]: Hast Du Deine Kumpels gesehen?“ ANFÜHRER/HELM: „Ich bin noch hier.“ BAHTA [in den Raum/zu den Polizisten]: „Rufe Rezgui her.“ POLIZIST 1 [packt Baghdas Bruder am Nacken]: „Ich will euch nicht mehr in Rades sehen! Sonst macht was ihr wollt. Dein Bruder ist meine Geisel. Sei ein Mann und unterschreibe das Papier.“ BAHTA: „Sag nicht noch mal ‚Sei ein Mann‘.“ POLIZIST 1: „Diese Graffitis bedeuten 6 Monate Knast!“ [Der Cousin kommt angelaufen.] BAHTA [wie ein trotziges kleines Kind]: „Rezgui, du bist Zeuge. [Zu Rezgui gewandt, dann zum Polizeichef gewandt] Gib mir meinen Pass und ich verschwinde.“ POLIZIST 1 [geht nah an Bahta]: „Du hast keinen Militärdienst gemacht. Du bist ein Versager. Du bist kein Mann!“
2 | Es scheint so, als wäre im Tunesischen „Du bist mein Sohn“, „Ich bin dein Sohn“ auch eine Art sprachliche Floskel. Wenn dem so wäre, würde sich hier Manifestation von Geschlecht und Gesellschaft durch Sprache wiederfinden (Butler 2012 [1990]: 49ff.).
3. M ak ing of – K amik a ze BAHTA: Sage das nicht mehr. Ich kein richtiger Mann? In Uniform würde ich hier alles regeln. POLIZIST 1 [zu Bahta]: „Ein ‚Tänzerlein‘ unter uns? Was wird man über uns sagen? [zum kleinen Bruder] Los, hau ab! Mach das nicht nochmal! [zu Bahta] Ich kann dich wegen den Handys festnehmen. Ich kriege dich. [zu Rezgui und Bahta] Deinen Cousin knöpfe ich mir vor. Den sollte man mal erziehen.“ BAHTA: „Nur zu, ich stehe vor Dir!“ POLIZIST 1 [zu Rezgui]: „Hast Du gehört?“ REZGUI: „Bahta, das reicht. Du machst mir Probleme!“ BAHTA [zu Rezgui]: „Rezgui, Du stellst mich hier vor meinen Freunden bloß? Ich werde in den Irakkrieg ziehen!“ POLIZIST 1: „Halt den Mund. Man hört Dich!“ REZGUI [zu Bahta bei Rausgehen]: „Sie werden mich entlassen.“ BAHTA: „Deine Uniform ist toll.“ REZGUI: „Sie ist mir zu schwer. Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden.“ BAHTA [zu seinem kleinen Bruder]: „Geh nach Hause und halt die Augen offen.“ BAHTA [vertraulich zu Rezgui]: „Cousin, ich brauch einen Pass!“ REZGUI: „Wohin willst Du mit diesem Krieg?“ BAHTA: „Nach Europa!“ REZGUI: „Nicht gerade ein passender Moment!“ BAHTA: „Sag nichts zu meiner Mutter!“ (00:07:30-00:09:15)
Was hier auffällig ist, genauso wie in einer späteren Szene vor Souads Haus, in der Bahta erneut mit der Polizei zusammentrifft, ist, dass Bahta nicht die Konfrontation mit der Polizei scheut. Im Gegenteil: Bei diesem ersten Zusammentreffen lässt er noch ‚den Chef raushängen‘ und ruft „Holt Rezgui her!“, bei dem zweiten Zusammentreffen kommt er freiwillig zurück – die Polizei hätte ihn vermutlich nicht zu fassen bekommen – und stellt sich seiner Verantwortung (00:22:50): Er lässt sich von ‚seinem alten Bekannten‘, den ihm nicht wohlgesonnenen Chef der örtlichen Polizei, verhaften. Die Beamten gehen nicht gerade zimperlich mit Bahta und seinen Freunden um. Die Jugendlichen werden im Polizeipräsidium an die Wand gestellt und ihnen werden Handys, Stirnbänder und alle jugendkulturellen Gegenstände abgenommen (00:23:27). Dabei herrscht ein harscher Ton: POLIZIST 1: „Spielt man den Helden? Der große tolle Typ? [anderer Polizist am Telefon: „Seid ruhig. Sie sind da.“] Führst Du mich an der Nase herum?“ POLIZIST 2: „Runter mit der Mütze! Die Tasche...Drehe Dich um. Runter mit der Kette. Arme hoch! Was ist das?“ BAHTA: „Che Guevara.“ POLIZIST 2: „Drei Handys?“
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Zwischen Dokumentation und Imagination BAHTA: „Sie gehören nicht mir.“ POLIZIST 2: „Wird geprüft. Komm her!“ POLIZIST 1: „Bist Du der Anführer? Spiel nicht mit den Gefühlen der Araber. Misch Dich nicht im Irak ein. Die Menschen leiden schon genug. Öl ins Feuer.“ BAHTA: „Bin ich etwa kein Araber?“ [Jetzt flippt der Polizist aus und schlägt ihn und schreit dazu.] POLIZIST 1: „Und wir, sind wir etwa keine Araber?“ BAHTA [schützt erst seinen Kopf mit den Händen]: „Lass mich! – [gibt dann die Schutzhaltung auf und wendet sich seinem Peiniger zu] Los schlage mich!“ POLIZIST 1: „Klar, ich werde richtig zuschlagen.“ (00:23:00-00:23:59)
Durch das sich anschließende Gespräch mit Rezgui (00:24:00ff.) wird offenbar, dass Bahta sich eigentlich keiner Schuld bewusst ist und man ihm vorwirft, Chaos in Rades gestiftet zu haben. Als Bahta in seinem Versteck bei Rezgui übernachtet, fällt ihm wieder die Polizeiuniform in die Augen. Wie schon vorher beschrieben, steht die Polizei für die staatliche, patriarchale Ordnungsmacht Tunesiens, die von Willkür geprägt ist. Indem der Cousin, der als einziger Uniform trägt, ein anderes Bild darstellt, kann man hier ein grundlegendes Einverständnis innerhalb des filmischen Systems mit der Ordnungsmacht annehmen. Vielleicht wird hier aber auch ein Diskurs über Kleidung geführt beziehungsweise vielmehr dieser Diskurs in der Gruppe der Polizei (die ja Uniform tragen kann) gebrochen. Alle im Film auftretenden männlichen Gruppen – Polizisten, Breakdancer und Fundamentalisten – teilen jeweils spezifische Kleidungscodes. So ist Kleidung auch ein weiteres Moment, an dem der Wandel der Hauptfigur verhandelt wird. Nachdem klar ist, dass Bahta die Flucht ins Ausland verwehrt wird und er in Ermangelung an Alternativen wieder beim Steinmetz unterkommt, sieht er verändert aus. Er hat sich – wie vom Steinmetz angewiesen – neue Kleidung gekauft und die Haare frisiert. Sein „Che-Guevara-Tuch“ wie es die Polizisten verächtlich genannt haben, hat er abgelegt, obwohl er noch zuvor in der Polizeistation geschworen hatte, genau das niemals zu tun. Er trägt einen Gebetskittel und die Haare kurz und gescheitelt. Bahta findet in der stillgelegten Weinfabrik allerlei verstecktes Zeug wie eine große Flasche mit giftigem Inhalt (deutlich erkennbar an dem aufgemalten Totenkopf), eine bunte Jacke und einen Sprengstoffgürtel. Ob die Dinge dort vergessen oder für ihn extra versteckt wurden, bleibt unklar. Die sechs Minuten im Film, in denen Bahta gefangen ist, sind auch quälerisch für das Publikum (01:32:56-01:38:43). Es ist unklar, wohin das Ganze führen wird und in welchem mentalen und geradezu fanatischen Zustand Bahta ist. Man wünscht sich bald, dass Schauspieler Abdelli wieder aus der Rolle aussteigt und dem Treiben ein Ende setzt, aber dies geschieht nicht. Stattdessen entdeckt Batha zufällig einen undichten Schacht und kann fliehen. Wir sehen wie Bahta, dem
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inzwischen ein Bart gewachsen ist, mit diesem seltsamen bunten Blouson und einem Rucksack mit Sprengstoffgürtel über ein gelbes Feld läuft und den Bus in die Stadt nimmt. Er versteckt den Rucksack in seinen Ruinen und rasiert sich (01:40:45f.) Hier werden Veränderungen der seelischen Verfasstheit also körperlich zum Ausdruck gebracht. Im Gegensatz dazu tragen die ‚Diener des Staates‘ noch nicht einmal Uniform und verwehren sich damit komplett (mit Ausnahme Rezgui) einer Zuschreibung von außen und einer speziellen Gruppenzugehörigkeit. Ich denke, dass hier der Widerspruch der staatlichen Gewalt vor dem Arabischen Frühling in Tunesien zum Ausdruck kommt.
3.2.3 Der Schlepper, Inszenierung von (enttäuschter) Hoffnung Der Schlepper, Mongi, ist eine überzeichnete (Kunst-)Figur. Bahta trifft ihn in einem Boot im Hafen mit einem Teeglas in der Hand. Er hat einen dicken runden Bauch der zwischen seinen Knien hängt, seinen runden Kopf hat er zum Schutz vor der Sonne mit einem Strohhut bedeckt. Er ist der Wächter über Bahtas Glück, ins Ausland zu kommen, und wirkt fast so wie eine Märchenfigur: BAHTA: „Bruder Mongi? Kiffst du?“ MONGI: „Halt die Klappe!“ BAHTA: „Ich hab nichts gesagt, niemand hat mich gesehen. Bringe mich mit der nächsten Ladung rüber.“ MONGI: „Bahta, Du bist nicht in Form, lass es! Das ist was für harte Männer.“ BAHTA: „Teste mich doch! Ich muss hier weg.“ MONGI: „Bahta, das ist zu hart für Dich.“ BAHTA: „Ich bin bereit. Ich schwöre es.“ MONGI [genervt]: „Gib mir Geld!“ BAHTA: „Geld?“ MONGI: „Das Geld ist nicht für mich, ich bin nur der Schlepper. Eine Brücke.“ BAHTA: „Morgen kriegst Du eine Antwort, mein Bruder. Gott segne Dich.“ MONGI: „Bahta! Mein Bruder. Schau mich an! ‚Schweigen‘.“ BAHTA: „Wie ein Grab. Wenn es sein muss, verstecke ich mich im Kamin.“ MONGI: „Haben andere versucht. Man hat sie verkohlt rausgeholt. Jetzt hau ab!“ BAHTA: „Mongi, Du bist ein Mann. Gott segne Deine Eltern. Der beste aller Männer!“ [Der Schlepper, Mongi, lacht. Bahta klettert zurück aus Mongis Boot auf den Steg und setzt sich auf sein Rad und fährt weg.] (00:11:50-00:13:00)
Bahta riskiert in der Folge viel, um an das Geld für die Überfahrt zu bekommen. Innerlich scheint er ohnehin alle Brücken schon abgebrochen zu haben und scheut daher auch nicht davor zurück, das Geld des Großvaters zu neh-
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men. Auch dem Rezipienten erscheint nun mehr und mehr Bahtas einzige Chance die „Flucht“ nach Europa zu sein. So ist es dramaturgisch geschickt gewählt, dass die zweite Begegnung mit dem Schlepper nach der ersten eingeschobenen Szene der Parallelhandlung folgt, in der sich, wie oben beschrieben, Abdelli beschwert, dass er einen Tänzer spielen wollte und nun bei Fundamentalisten gelandet sei. So verstärkt diese Parallelhandlung den Wunsch danach, dass Bahta seinen Weg nach Europa nehmen und dort Tänzer werden kann. Durch die Parallelhandlung, so die These, hat hier auch bereits die Identifikation der Rezipienten mit Bahta eingesetzt. So ist der Bruch umso stärker, als bei der nächsten Begegnung mit Mongi deutlich wird, dass keine „Überfahrten“ mehr möglich sind (00:45:37). Grund sei die politische Situation: „Die Italiener unterstützen Bush. Schärfste Abriegelung.“ (00:45:49) Bahta ist außer sich und kann diese neue Information nicht akzeptieren; er bedrängt Mongi. Dieser und sein Kollege schlagen Bahta in der Folge blutig und vertreiben ihn. Dies ist der zweite Wendepunkt in der Geschichte: Die Hauptfigur scheint keine andere Wahl zu haben, als sehendes Auges in ihr Verderben zu laufen.
3.2.4 Der Steinmetz und seine Handlanger, Inszenierung der Ideologie Die bärtigen Männer mit dem Gebetsfleck auf der Stirn haben Bahta zum ersten Mal ins Visier genommen, als er sich in der Teestube zum Irakkrieg geäußert hat. Auch der Tumult mit der Polizei ist ihnen nicht entgangen. Sie müssen Bahta erwartet haben, denn sie stehen schon vor Souads Haus und folgen dem Paar zu den Ruinen. Dort fangen sie Bahta ab und bringen ihn in „ein sicheres Versteck“ vor der Polizei, das heißt zum Steinmetz. Wie schon bei der Charakterisierung Bahtas aufgezeigt, haben sie ihn vor allem aufgrund seines Mutes ausgewählt. Bahtas durchgängige Ansprache als Versager wird hier also durch eine gegenteilige Anrufung durchbrochen. STEINMETZ: „Du hast nicht gesagt wo Du herkommst.“ BAHTA: „Ich weiss nur, wohin ich gehe.“ STEINMETZ: „Und wohin gehst Du?“ BAHTA: „Nach Europa.“ STEINMETZ: „Ich kenne da Leute. Aber das ist zu früh. Das ist Dein Bett. Du schläfst hier. – Setz Dich hin wie ein Mann.“ BAHTA: „Gute Nacht.“ STEINMETZ: „Komm her. Wohin gehst Du? Ich rede mit Dir wie mit einem Sohn. Ich weiss, dass Du ein richtiger Mann bist. Setz Dich. Fällst Du bei der ersten Prüfung durch? Warum suchen sie Dich?“ BAHTA: „Die Bullen? Sie suchen mich wegen...“
3. M ak ing of – K amik a ze STEINMETZ: „Du willst es mir nicht sagen. Glaubst Du ich lache darüber? Sie lachen über Dich, machen sich über Dich lustig. Du hast erstaunliche Energie. Mut. Enorme Fähigkeiten. Du kannst es weit bringen. Du verlierst Dich in Belanglosigkeiten. Folge mir. Du wirst es nicht bereuen. Du kannst weit kommen.“ (00:35:50-00:37:00)
Der Steinmetz setzt an drei Punkten an: Respekt, Fürsorge und Kommunikation. Die Macht des Wortes wird hier sehr offenbar. Er wird zudem als mystischer Mann eingeführt, der mit einem verheißungsvollen und beschwörerischen Unterton spricht. Er ist ein charismatischer Mann, der Regeln vorgibt und Versprechungen für die Zukunft macht. Bahta fühlt sich von dem Steinmetz angezogen und abgestoßen zugleich, was in seiner An- und Abwesenheit im Film gespiegelt wird. Er flüchtet immer wieder vor ihm und kommt doch zurück. Immerhin fragt der Steinmetz Bahta nach seinen Träumen, doch Bahta sagt, dass er keine Träume mehr hat und nur noch Tunesien verlassen möchte (00:39:00ff.). Der Steinmetz lehrt Bahta die Kunst des Gravierens und nebenher die Reinigungsrituale des Korans. Ein sich wiederholendes Thema ist hier auch die Unreinheit der Frau. Wirklich aus der Rolle fällt Bahta aber erst mit dem Satz vom Steinmetz: „...Natürlich, Du bist vom Teufel besessen. Der Tanz ist unrein. Tanz ist Sünde!“ (00:42:02) Hier steigt Bahta, das heißt der Schauspieler Lolfi Abdelli, aus der Rolle aus. Nachdem Bahta keine Hoffnung mehr hat, nach Europa emigrieren zu können, kehrt er nach einer Nacht im Freien zum Steinmetz zurück. Bahta hat nun ein verändertes Aussehen. Er trägt das Haar kurz und angelegt, trägt ein langes Hemd, die klassische arabische Kleidung. Der Steinmetz erwartet Disziplin und Ordnung. Bahta ist aus Ratlosigkeit und Heimatlosigkeit zurück gekommen: „Ich weiß nicht, wohin. Verflucht sei ihr Gott!“ (00:47:40), Steinmetz: „Spiel nicht den Idioten und benimm Dich.“ (00:47:52) Der Steinmetz ist der ‚Kopf‘ der Fundamentalisten, er ist derjenige, der Bahta einerseits vermeintlich so etwas wie Geborgenheit und einen Unterschlupf gewährt, andererseits aber einen perfiden Plan geschmiedet hat, um Bahta mit fundamentalistischem Gedankengut zu infiltrieren. Heißt es am Anfang noch, dass er das Handwerk des Steinmetz von seinem Vater erlernt hat, so stellt sich später heraus, dass er 1982 noch Lehrer war und mit 30 in den Vorruhestand geschickt wurde (00:59:04). „Sie schlossen mir die Türen zur Politik. Ich gehöre zum Dreck der Gesellschaft genau wie Du.“ (0:59:16) Der Steinmetz ist eine Verkörperung des fundamentalistischen Gedankenguts, das Sprachrohr für die Glaubensüberzeugung fundamentalistischer Gruppen, von denen Bouzid hier ein exemplarisches Bild zeichnet. Gute 20 Minuten im Film werden auf diese ‚Gehirnwäsche‘ verwendet. „Gott hat Dein Herz mit Glauben erfüllt, damit Du eine Bombe wirst.“ (01:14:00)
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Zum Schluss sagt sich Bahta doch noch von der Gruppe der Fundamentalisten, die er als seine Peiniger entlarvt, los; er greift beispielsweise den einen Handlanger noch mal an und verprügelt ihn (01:47:00). „Willst Du nicht mit mir zum Märtyrer werden? Willst Du nicht mit mir ins Paradies?“ Auf der Ebene der Haupthandlung, die hier ausführlich dargestellt wird, arbeitet der Film hinsichtlich der Konzepte von Männlichkeit hauptsächlich über eine sprachliche Ebene. Die Sprachlosigkeit des Vaters einerseits und die ‚verführerische Sprache‘ des religiösen Anführers andererseits stehen zueinander in Opposition. In der Zeichnung der gewaltbereiten, engen, patriarchalen Gesellschaftsstruktur wird so die Ohnmacht des Protagonisten zu seiner Wandlung genutzt. Dabei stehen alle körperlichen Eigenschaften der Figur Bahta wie der Tanz oder Gesang oder auch die angedeutete Masturbation unter der Dusche (01:19:50-01:20:20) für den Versuch einer Selbstermächtigung und einer Selbstbestimmtheit des Körpers, die nicht gewährt wird. Kleidung ist dabei äußerlicher Ausdruck seiner inneren Verfasstheit. Aus dieser Situation heraus schafft es nur der Schauspieler und nicht die Figur. Im Gegenteil: Die Figur scheint sich immer mehr in das System der Bilder, das heißt des Films und damit vielleicht auch der Medien, zu verstricken.
3.3 M edienkritik durch verdichte te M ontage Wir gehen an dieser Stelle zurück zu Minute 18, noch bevor Bahta die Polizeiuniform gestohlen hat, fliehen musste und dem Steinmetz in die Hände fiel. Es ist die Szene nachdem er von seinem Vater in der Nacht geschlagen wurde. Gerade waren wir noch im Halbdunkeln und konnten vielmehr über unsere Ohren die dumpfe und (schmerzhafte) monotone, routinierte, in der Stille ablaufende Bestrafung hören. Wie oben dargestellt, findet keine Kommunikation zwischen den beiden Figuren statt. Im Close-up haben wir die verzweifelten tränengefüllten Augen der Mutter gesehen (00:17:45). Mit dem Schnitt findet ein Wechsel von Nacht zu Tag statt, von Stille zu Ton. Interessanterweise ist das reflexive Moment hier ein Fernsehbeitrag und dazu sehen wir zunächst das Bild eines Jungen, in der Folge sind immer wieder andere Jungen im C lose-up zu sehen. Die Stimme eines Fernsehkommentators fragt: STIMME FERNSEHKOMMENTATOR: „Warum diese Erniedrigung? Ist das das Schicksal der Araber? Kriege, Unterdrückung, Niederlagen. Ist die Zeit der Niederlage nicht vorbei? Wann werden die Völker aufwachen? Bagdad, Symbol der arabischen Würde ist gefallen. Ist das Regime von Saddam oder Bagdad gefallen? Ab jetzt wird alles amerikanisch. Alles wird Amerikanisch. [...] Om Kasr leistete lange Widerstand. Bagdad wird Widerstand leisten, sich aus seinen Ruinen erheben.“
3. M ak ing of – K amik a ze BAHTA: „Unsere Hosen sind auch runter.“ KELLNER: „Hast endlich kapiert? Das ist Verrat.“ STIMME FERNSEHKOMMENTATOR: „Die Helden werden aus den Gräbern steigen, und Kampf und Widerstand lehren.“ BAHTA: „Nur Saddam gibt uns den Stolz zurück. KELLNER: „Man sagte das über Nasser. BAHTA: „Wer ist Nasser? Kenne ich nicht.“ STIMME FERNSEHKOMMENTATOR: „Bagdad wurde von allen Kulturen begehrt.“ BRUDER: „Bahta, ich habe ein Geheimnis.“ BAHTA: “Lass mich zuhören!“ BRUDER: „Ich sah Souad mit einem Araber. Der war richtig schnieke.“ BAHTA [außer sich]: „Und das sagst Du jetzt!“ BRUDER [rennt weg]: „Lass mich in Ruhe. Du wolltest, dass ich auf sie aufpasse.“ BAHTA: „Komm her. Erkläre mir.“ STIMME FERNSEHKOMMENTATOR: „Wo ist Eure Ehre? Wo ist Eure Würde? Welche Ernied gung?“ MÄNNLICHE STIMME: „Los, sag schon!“ STIMME FERNSEHKOMMENTATOR: „Es ist an der Zeit sich zu erheben. Man beschmutzt Eure Ehre. Reagiert!“ BAHTA: „Das ist das Chaos.“ MANN: „Lass uns zuhören.“ MANN 2: „Rede endlich!“ BAHTA: „Ein fürchterliches Chaos.“ KELLNER:„Bahta, lass die Leute zuhören!“ BAHTA: „Willst Du, dass ich hier Chaos anrichte? Man zieht mir die Hosen runter und ich soll schweigen? Soll ich ein Feigling sein? Man bringt uns hier in die Scheiße und wir sollen still halten? Kommt Freunde, wir sind keine Feiglinge. Das ist Landesverrat. Eine Erniedrigung.“ JUNGEN: „Wir halten zu Dir.“ (00:18:00-00:20:16)
Der Regisseur Bouzid deckt durch diese Montage auf der Tonebene den inneren Konflikt der Figur Bahtas auf und damit – so scheint es – einer ganzen Generation, wie man den angespannten und fast schon austauschbaren Gesichtern entnehmen kann. Er scheint zu fragen: Was passiert mit der Würde des Einzelnen, wenn das Land keine Würde mehr besitzt? Wenn das Arabisch-Sein an sich keine Würde mehr besitzt? Hier wird durch einen Fernsehbeitrag, der für das globale Weltgeschehen steht, ein politischer Diskurs eröffnet. Anspielungen auf den Irakkrieg gab es auch schon zuvor. Es ist eine kluge Strategie, die ‚Begegnung‘ resepektive die ‚Fixierung/Auserwählung‘ vor den Hintergrund weltpolitischer Ereignisse zu stellen, die das Verhältnis zwischen arabischen und amerikanischen Interessen
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verdeutlichen. Werden damit Erklärungen außerhalb der Figurenzeichnungen gesucht und außerhalb der Handlung angeboten? Auch hier scheint Bouzid zu sagen: Es ist nicht alles so, wie ihr meint, schaut genau hin und hört genau zu. Es findet hier eine sehr offensichtliche Vermischung von persönlichen Empfindungen und Verletzungen (der Vater hat Bahta geschlagen und erniedrigt, der jüngere Bruder berichtet davon, dass Souad sich mit einem „schnieken Araber“ getroffen hat) mit einem umfassenden politischen Kontext statt (die Demütigung der arabischen Welt durch den Einzug der Amerikaner in den Irak und hier speziell die Eroberung Bagdads). Interessant ist hierbei, dass der Regisseur diese Problematik bereits im ersten Fünftel des Films entfaltet. Schön ist, wie hier alle Faktoren zusammengeführt werden: alle Ebenen des Films und auch alle Ebenen in Bahtas Kopf. Das Resultat ist Chaos, zunächst in Bahtas Kopf, später auch in seinem Leben. Die Ziele der Fundamentalisten sind in diesem Sinne vielleicht auch als Chaos zu verstehen. Zumindest verfolgen sie das politische Ziel, die bestehende Ordnung umzukehren. Der Fokus soll an dieser Stelle noch einmal auf die Montagetechnik gelenkt werden, die hier vielleicht im klassischen Sinne keine Montage ist, da sie über den Ton stattfindet. Es werden zwar auch Fernsehbilder gezeigt, die jedoch nicht sinnhaft mit den anderen Bildern verknüpft werden. Es entsteht also keine Bildcollage, sondern eindeutig eine Toncollage. So rückt die Stimme vor allem in den Vordergrund, als es um Bahta dunkel wird. Das Dunkel wird visuell durch Licht und Schatten im Bild dargestellt (00:19:39) und das Chaos bricht in ihm aus, wie er auch verbalisieren wird. Bahta motiviert seine Freunde, auf die Straße zu gehen und sich gegen die Unterdrückung zu wehren. Die Stimme des Kommentators stiftet ihn vermeintlich dazu an. So redet er auch mit erhitztem Charakter wie folgt, während er die Gruppe der Jungen um sich versammelt und sich zu dem Haus von Souad aufmacht: BAHTA: „Habe nur zugeschaut, nichts getan. Wir sollen den Mund halten? Der Araber soll sich unterwerfen. Ich werde nicht schweigen. Ich jage alles in die Luft. Nicht mal mein Vater konnte mich stoppen. Er schlug mich, aber ich habe nie geweint. Wir lassen uns nichts gefallen. Keine Manipulation mehr. Du kennst mich, ich bin ein Mann. Du wirst sehen, zu was Bahta fähig ist. Keiner mischt sich ein.“ (00:20:22-00:20:56)
Hier kumulieren Bahtas Erlebnisse der ersten 20 Minuten des Films. Dabei vermischt er Aussagen des Fernsehbeitrags mit seinen eigenen Erlebnissen. Der Kommentar in dem Beitrag zum Irakkrieg fragt nach der „verlorenen Ehre und Würde“. Bahta, dem nunmehr alles aus den Händen zu gleiten scheint, setzt seinen wahrgenommen Ehrverlust durch Souad vermeintliches Fremdgehen gleich mit dem Verlust der „Ehre seines Volkes“. Das Interessante ist, dass er in dieser Situation nicht alleine ist, knapp 15 Jugendliche und junge
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Männer haben sich ihm und seinem Aufklärungsfeldzug angeschlossen (seine Kumpels und andere), um sich nicht weiter unterdrücken zu lassen. So ist ihr Ziel umso erstaunlicher, denn es ist keinesfalls eine öffentliche symbolische Demonstration gegen die Unterdrückung der Araber und auch nicht die Auflehnung gegen die Generation der Machthaber. Ihr Ziel ist das Haus seiner Geliebten Souad. Seine gekränkte Eitelkeit steht im Vordergrund, der er sich ganz unverblümt hingibt. Und so bekommt die Szene schon fast etwas Tragisch-komisches, als Bahta mit dieser großen Gruppe Männer vor Souads Tür steht und ruft: „Souad, ich muss mit dir reden!“ (00:21:08) Indem Bouzid das „Ehre“-Thema auf das Universalthema Liebe und Eifersucht überträgt, schafft er nun wieder Distanz zu der vorher dargestellten Problematik und öffnet den Charakter Bahtas. Aber die eigentliche Öffnung des Charakters findet noch auf weitere Weisen statt, wie im Folgenden gezeigt wird.
3.4 M aking - of als E rweiterung der F igur und R efle xion von K ritik Die besonders herausstechenden Szenen in dem Film sind die Szenen, in denen Lotfi Abdelli nicht Bahta sondern sich selbst als Lotfi Abdelli, den Schauspieler und Tänzer, spielt. Als das erste Mal die Handlung des Film unterbrochen wird, erlebt man noch einen Überraschungseffekt. Gerade hat der Steinmetz sein ‚wahres Gesicht‘, seine wahre Haltung offenbart, nämlich, dass Tanz für ihn Sünde sei. Er sagt, wie bereits oben bei der Charakterisierung des Steinmetzes aufgeführt, zu Bahta: „...Natürlich, Du bist vom Teufel besessen. Der Tanz ist unrein. Tanz ist Sünde!“ (0:42:02ff.). Plötzlich ist alles anders. Bahta dreht sich halb zur Seite und sagt auf Französisch: „Ich höre auf.“ (00:42:14) Seine Stimme ist völlig verändert. LOTFI ABDELLI/BAHTA: „Ich höre auf!“ LOTFI DZIRI/STEINMETZ: „Wie jetzt, ich höre auf?“ LOTFI ABDELLI/BAHTA: „Ich höre auf.“ [Das Licht geht an, das leise Summen der Kameras und der Strahler ist plötzlich zu hören, Lotfi Dziri/der Steinmetz schaut direkt in die Kamera.] STIMME: „Nouri, was geht hier ab? Lotfi hat die Szene abgebrochen.“ [Stimme von] NOURI BOUZID: „Wieso hörst Du einfach auf? Was geht hier ab?“ [Es entwickelt sich eine gereizte Stimmung zwischen den Schauspielern.] LOTFI ABDELLI: „Entschuldigung, er verdammt den Tanz und ich bin Tänzer.“ LOTFI DZIRI: „Ich habe nie gesagt, Du seist kein Tänzer. Aber das ist ein Film, kein Tanz.“ NOURI BOUZID: „Wir machen jetzt weiter.“ LOTFI ABDELLI: „Nein, ich höre auf.“ (00:42:14-00:42:44)
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Bahta alias Lotfi Abdelli bricht hier die vermeintlich fiktionalen Strukturen auf, weil er scheinbar selbst nicht mehr die Trennung zwischen Fakt und Fiktion, Rolle und Realität annimmt. Seine Aussage „Entschuldigung, er verdammt den Tanz und ich bin Tänzer.“ (00:42:33) zeigt dies ganz deutlich. Die Opposition, die eigentlich in der Handlung zwischen dem Steinmetz und Bahta auftreten müsste, wird aus dem ersten Handlungsstrang herausgenommen und in einen zweiten selbstreflexiven verpflanzt. Er steigt aus, er hört auf und verlässt das Setting. Die Kamera folgt ihm scheinbar unbemerkt und obwohl man ihn aufgrund der Lichtverhältnisse jenseits des Filmsettings im Bild nicht sehen kann, ist zu hören, wie Lotfi Abdelli zu sich selbst sagt: „Das ist kein Film. Das ist ein Witz.“ (00:42:45) So stehen wir plötzlich mit Lotfi Abdelli in der Maske, wo Souad alias Afef Ben Mahmoud sitzt und zurechtgemacht wird. Abdelli fragt den Regisseur Nouri Bouzid, ob er sich über ihn lustig machen will. Es wird die Vertrauensfrage gestellt, denn Abdelli stellt heraus, dass er als Tänzer engagiert wurde und sich nun in einer Situation in der Rolle konfrontiert sieht, wo Tanzen verachtet wird. Er fühlt sich da „von Bouzid in was reingezogen“ (00:43:40). Der wiederum stellt heraus, dass das die Meinung des Steinmetzes und nicht seine (Bouzids) Meinung ist. Hier werden Fragen nach Autorschaft, Fakt und Fiktionalität auf eine sehr plakative und doch auch ungewöhnliche Weise verhandelt. Was heißt das für den Film? Wo führt diese Entgrenzung den Film hin und wofür steht sie? Aus einer rein technischen Perspektive sieht es so aus, dass Bouzid hier vorgibt beziehungsweise eben als Regisseur Bouzid in dem Film so arbeitet, dass er die Schauspieler wohl im Unklaren darüber lässt, wie der Handlungsverlauf des gesamten Films ist und sie zu jeder Szene frei improvisieren können: NOURI BOUZID: „Und du, was machst Du mit diesem Film?“ LOTFI ABDELLI: „Ich?“ NOURI BOUZID: „Ich ließ Dich machen, was Du willst.“ (00:43:43-00:43:50) NOURI BOUZID: „Wir haben eine Vereinbarung.“ LOTFI ABDELLI: „Unsere Vereinbarung? Wir machen einen Film über einen Tänzer. Und jetzt bin ich mit einem Fundamentalisten, der mir das Tanzen verbietet. Pass auf! Das Spiel ist gefährlich.“ (00:44:00-00:44:12)
Die Tatsache, dass das Filmset im Film inszeniert wird, ist ausgesprochen kompliziert für den Rezipienten, denn durch diese doppelte Ebene der Fiktion wird der Bezugsrahmen zur Realität noch schwieriger. Auch ist es nicht unüblich, mithilfe dieser Technik nach Autorschaft und Ähnlichem zu fragen. So geht es um Aussage und Wirkung des Films. Der
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Schauspieler macht den Regisseur auf die Gefahren der Rezeption aufmerksam und hat auch persönlich kein Interesse an der Rolle. Auffallend ist hier die Parallelführung der Personenkonstellation: Wie die Figur im Film ist auch hier Souad – oder in diesem Fall die Darstellerin Afef Ben Mahmoud – der starke Gegenpol. Sie ist diejenige, die Abdelli gut zuredet und ihn daran erinnert, dass er „keinen Blödsinn machen soll und eben ein Schauspieler ist und kein Regisseur“. Abdelli widerfährt also auch hier ein Machtdiskurs. Die Frage ist, welche Wirkung hat dieser Illusionsbruch und warum nimmt der Regisseur ihn vor? Dabei dreht sich hier das Verhältnis vermeintlich um. Während Abdelli ‚vorgibt‘ (hier wird ja immer noch inszeniert!), die Handlung im Film, das heißt die Haupthandlung um den Tänzer Bahta zu hinterfragen, wird der Rezipient dazu gezwungen, die gesamte Filmhandlung und insbesondere das Making-of zu hinterfragen. Das zweite Mal steigt Abdelli gut zehn Minuten später aus der Szene aus. Es ist die Szene, in der der Steinmetz ihm von der Unterdrückung des islamischen Volkes erzählt und ihn beschwört, dass die Rache dafür folgen wird. Abdelli steigt aus, das Licht geht erneut an und er verlangt den Regisseur, das heißt Bouzid, zu sprechen (00:53:55). Abdelli möchte die Haltung Bouzins zum Islam erfahren. Er fühlt sich als gläubiger Muslim von den Interpretationen des Steinmetz in seiner Rolle angegriffen, genauso wie er als Schauspieler sich als Marionette in einem „gefährlichen Spiel“ fühlt (00:54:55). LOTFI ABDELLI: „Rufe den Regisseur.“ FRAUENSTIMME: „Meinst Du das ernst?“ LOTFI ABDELLI: „Ich drehe nicht mehr, wenn der Regisseur nicht mit mir spricht.“ FRAUENSTIMME: „Wir müssen drehen.“ LOTFI ABDELLI: „Ruf den Regisseur. Er soll mir seine Haltung dazu erklären. Sonst drehe ich nicht. Bin ich ihm egal oder was? Ich bin kein Spielzeug!“ NOURI BOUZID: „Was gibt’s?“ LOTFI ABDELLI [wütet in der Kulisse]: „Ich bin nicht sein Spielzeug!“ NOURI BOUZID: „Ja und? Du willst mich sprechen?“ LOTFI ABDELLI: „Dich sprechen? Du spielst ein gefährliches Spiel.“ NOURI BOUZID: „Warum gefährlich?“ LOTFI ABDELLI: „Ich bin Muslim. Alles was den Islam berührt, berührt mich. Du benutzt mich, um den Islam anzugreifen. Erkläre mir Dein Verhältnis zur Religion. Ich drehe nicht mehr, bis Du mir das erklärt hast. Ich bin nicht Deine Marionette. [Bouzid geht weg, Abdelli außer sich] Halte mich nicht für dumm. Erklär’s mir bitte.“ NOURI BOUZID: „Beruhige Dich.“ [Gesprächspause] NOURI BOUZID: „Hör zu, Lotfi. Vor dem Film habe ich den Koran gelesen. Auf Arabisch und Französisch. Im Koran findet man alles. Ein Sufi findet dort, was er liebt. Frieden und Liebe. Wer Krieg will, findet Verse, die vom Jihad sprechen. Vor allem aus den
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Zwischen Dokumentation und Imagination Zeiten der großen Eroberungen. Der Koran wurde zum Instrument der Eroberung. Wer vom Töten, vom Jihad spricht...Ich bin nicht einer von denen, die vor Ausländern von Frieden sprechen, vor Muslimen vom Jihad. Nein! Ich persönlich glaube, der Islam war zu seiner Zeit sehr nützlich. Heute müssen wir laizistisch sein. Den Koran als Glauben sehen, und ihn nicht dazu benutzen, Alltagsprobleme zu lösen. Das wäre sonst die Hölle. Wir können heute keinen Jihad machen...Ich möchte aufdecken, wie ein junger Mann wie Du manipuliert werden kann. Es geht nicht gegen Dich.“ LOTFI ABDELLI: „Ich habe nicht gesagt Du bist gegen mich. Auch nicht gegen den Islam. Wickle mich nicht ein, ich weiß nicht, was Du über den Islam denkst. Du kannst sagen, was Du willst, ich weiß nicht, was Du vorhast...“ NOURI BOUZID: „Ich möchte nicht, dass sich der Islam mit der Politik vermischt. Meine Position ist klar. Auch Christentum und Judaismus...dürfen sich nicht in Politik einmischen.“ LOTFI ABDELLI: „Wer bist Du?“ NOURI BOUZID: „Ich bin nur ein Individuum. Ich spreche für mich persönlich. Das ist meine Meinung. Du warst einverstanden, den Film zu machen, ohne zu wissen, was passiert, so wie im Leben. Du hast die Idee akzeptiert. Du warst wirklich sehr nett. Du hast mir vertraut. Vertraue mir weiterhin. Ich bin der Autor. Ich schätze Deine Einstellung, ich schwöre es beim Leben meiner Töchter. Aber vertraue mir. Ich bin nicht gegen den Islam, sondern gegen den Terror. Ich bin mit jedem Kampf gegen Besatzung einverstanden. Als politischer Kampf. Nicht im Namen des Islam. Benutze die Religion. Weshalb muss ich mich als Muslim schämen? Jeder hat seine Waffe.“ LOTFI ABDELLI: „Was ist dann Demokratie?“ NOURI BOUZID: „Demokratie ist, wenn Du mich den Film so machen lässt wie ich denke. In Ord n ung?“ LOTFI ABDELLI: „Du stellst mich da hin und ich bin in der Falle.“ NOURI BOUZID: „Vertraue mir. Du gehst ein Risiko ein. Trage es mit mir.“ (00:53:55-00:58:08)
Hier erläutert der Regisseur alleine in vier Minuten seine Auffassung und Einstellung zum Islam. Damit zeigt er sich einerseits (ungewöhnlich und wenig auf das Kunstwerk vertrauend) verantwortlich für die Handlung und Ereignisse („Ich bin der Autor“), andererseits distanziert er sich natürlich durch diesen Kunstgriff gleichzeitig vom Geschehen. Dadurch scheint er die Freiheit zu haben beziehungsweise sich selbst zu geben, in der Folge vertieft in die Materie einzusteigen. Jetzt folgen die knapp 20 Minuten, in denen der Steinmetz Bahta mit dem fundamentalistischen Gedankengut infiltriert. Sie arbeiten und beten erst in einer Halle, dann auf einem Friedhof oberhalb der Stadt. Bei dem Satz „Gott hat Dein Herz mit Glauben erfüllt, damit du eine Bombe wirst.“ (01:14:00) bricht Abdelli erneut ab. Der Regisseur Bouzid ist dieses Mal sogleich bei ihm. Abdelli ist nicht einverstanden damit, dass auf den Fundamentalismus jetzt eine Stufe weiter auch noch Terrorismus kommt.
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Abdelli äußert, dass das Thema Terrorismus nichts mit Tunesien zu tun hat und Bouzid deswegen zu Recht auch angegriffen werden könnte: LOTFI ABDELLI: „Alle werden Dich angreifen! Abgesehen davon, dass ich persönlich nicht einverstanden bin, es nervt mich. Ich sehe mich nicht als Fundamentalisten, auch nicht als Terroristen.“ NOURI BOUZID: „Hast Du Angst?“ LOTFI ABDELLI: „Klar habe ich Angst!“ NOURI BOUZID: „Wovor?“ LOTFI ABDELLI: „Ich spiele mit meinem Charakter.“ NOURI BOUZID: „Das ist eine Geschichte. Fiktion.“ LOTFI ABDELLI: „Du spielst mit mir und dem Publikum. Hast Du keine Angst? Die Intellektuellen werden dich angreifen. Die Gläubigen. Die Fundamentalisten, die Regierung. Alle werden Dich fertigmachen und mich mit.“ (01:14:45-01:15:20)
Auch hier ist erneut erstaunlich, dass der Schauspieler nicht differenziert zwischen sich als Person und der Rolle. Dies lässt ihn authentisch wirken und lenkt davon ab, dass auch diese Teile inszeniert sind. Abdelli macht seine Zweifel öffentlich und so wirkt er sehr sympathisch, wesentlich sympathischer als seine Rolle Bahta. Auch seine Stimme ist ganz verändert in der Rolle als Abdelli, wenn er etwa seine Zweifel äußert und berichtet, dass er schon seit vier oder fünf Nächten wegen der Rolle nicht mehr schlafen kann (01:16:10). Abdelli fragt sich, warum er sich terrorisiert fühlt, seitdem er mit Bouzid arbeitet. Bouzid führt als Erklärung an, dass er ein guter Schauspieler ist und somit komplett in der Rolle aufgeht. Abdelli spürt die Ängste, die Bahta hat (01:16:46). Das sieht Bouzid als eine Art Katharsis, die so zur Kunst gehört (01:17:09).
3.5 S pr ache -K örper und G esang -Tanz Der Film entwickelt auf der sprachlichen Ebene durch Dialoge und Sprach-/ Sprecheigenschaften der Figuren alle seine Thesen. Tunesien wird als eine Gesellschaft der ‚Sprachlosen‘ inszeniert. Darüber manifestieren sich Unterdrückung und Gewalt, die von einem patriachalischen System ausgeübt werden. Die Fundamentalisten, die das „Wort Gottes“ beanspruchen, haben dem etwas entgegenzusetzen. So kann Sprache (Verführung) die Ohnmacht der Jugend in eine Allmachtsfantasie überführen. Als Ausweg aus dem Dilemma zeigt der Film die Ermächtigung des Körpers, der durch Tanz und Gesang und letztlich durch den selbstbestimmten Tod sich dem entgegenstellt. Die Gegenüberstellung von Sprache und Tanz wird ebenfalls zum Thema in den Making-of-Se-
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quenzen, wenn Abdelli auf seine Eigenschaften als Tänzer verweist und deswegen die Haupthandlung abbricht und sie damit nicht vereinbar sieht. Gesang und Tanz stehen für die Selbstermächtigung der Figur Bahta. Indem man ihm den Tanz nimmt, nimmt man ihm die Perspektive, so eine der Botschaften des Films. Gleichzeitig verneint er mit dem Tanz das Männerbild beziehungsweise das Konzept von Männlichkeit der Gesellschaft, in der er als Tänzer keine Akzeptanz findet. So wird Tanz zum Ausdruck für ein anderes Männerbild und Bahtas Wunsch nach Freiheit. Gezeigt wird dies auch darüber, dass die Jungen Breakdancer sind, ein Tanz, der Ausdruck ist für (westliche) Subkultur und darüber auch schon eine subversive Kraft entwickelt. Genauso ist der Sprechgesang Bahtas im HipHop anzusiedeln. Auffällig in Making of – Kamikaze ist, dass Bahta in diese Art der Kommunikation zurückfällt, wann immer er nicht mehr ‚Herr seiner Sinne‘ ist – betrunken etwa, im Fieberwahn oder wenn er aufgrund seiner Isolation den Verstand zu verlieren droht. Betrunken im Hafen singt Bahta im Sprechgesang, ähnlich einem Rap in der Nacht sein Klagelied, nachdem deutlich wurde, dass eine Flucht nach Europa unmöglich ist. Dieses Lied singt in einem Sprechgesang nach Bahtas Tod in Auszügen sein kleiner Bruder. BAHTA: „Das Buch meines Lebens ist voller Worte, voller Schmerz, voller Konfrontationen. Böse Zungen sagen, Bahta sei verloren. Ich möchte Dir sagen... Bahta erträgt das Unglück ohne zu murren. Tränen aus Blut. Ich will es meinem Vater sagen, meinen Freunden und all denen, die mich in meinem Land verachten. Bahta gibt es. In Europa hält er durch. Bahta tanzt. Er nimmt seine Chance wahr. Auf Deine Gesundheit Scala. Auf Deine Gesundheit Europa. Auf euch, illegale Passanten. Auf das Meer [schreit es heraus]. Ich komme [schreit es heraus]. Ich bin ein Mann [schreit es heraus].“ (00:30:03-00:31:03)
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Als Souad, Bahtas Bruder und zwei seiner Freunde seine Leiche finden, ertönt der Gesang: „Sei was Du willst, aber sei ein Vaterland für uns.“(01:51:31) Am verkohlten Container finden sie die Drahtpuppe, die er für Souads Schwester gemacht hat und an der er stets gearbeitet hat, wenn er mit dem, was der Steinmetz gesagt hat, nicht einverstanden war. So ist es zum Schluss der kleine Bruder, der Bahtas Rap übernommen hat und skaliert: BRUDER: „Das Buch meines Lebens ist voller Schmerz und voller Albträume. Sie sagten Bahta sei verloren, aufmüpfig. Ich sage euch: Bahta leidet im Stillen...Ohne zu Murren. Tränen aus Blut. Ich will meinem Vater sagen, meinen Freunden, und all denen, die mich in meinem Land verachten... Ich will ihnen sagen: Bahta gibt es. Er hält durch. In Europa hält er durch.“ (01:52:09-01:52:50)
Er sitzt dabei in Bahtas Lastenfahrrad, das von Souad gefahren wird, ein paar der anderen Jungen begleiten sie. Dazu erklingt nach dem Sprechgesang des Bruders weiter das Lied „Oh Vaterland, sei wie Du willst,...aber sei ein Vaterland für uns“.
3.6 R esümee : I llusionsbruch als M öglichkeit für G esellschaf tskritik In der Analyse wurde die Inszenierung der Illusion und ihre Entgrenzung innerhalb der Gattung Spielfilm im Detail untersucht. Diese Form der Entgrenzung kann als ein Illusionsbruch innerhalb des Films gedeutet werden, der die Charakterisierung der Figur Bahta erweitert und eine Fähigkeit zur Identifizierung mit dieser Figur überhaupt erst ermöglicht. Dieser Ansatz ist vor allem beim Spielfilm als sinnvoll zu betrachten, da hier davon auszugehen ist, dass Illusion erzeugt wird. Nämlich die Illusion einer realen Welt, wenn man so will. Dabei ist festzuhalten, dass die Figur Bahta die einzige Figur im Film ist, die das Typenhafte überschreitet. Alle anderen männlichen analysierten Figuren stehen in erster Linie für Konzepte von Männlichkeit und ihre Ausprägung in der tunesischen Gesellschaft und sollen hier vor allem das Beziehungsgeflecht der Hauptfigur darstellen. Bouzid diskutiert durch ein mannigfaltiges Netz an Strategien zwischen Dokumentation und Imagination die zum Zeitpunkt des Films gegenwärtige Situation in Tunesien. Er zeigt auf, wie ohnmächtig die junge Generation ist
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und wie sehr sie sich nach Freiheit und Demokratie sehnt. Er zeigt ein durch Gewalt geprägtes, männliches Gesellschaftsbild, das den Nährboden bildet für fundamentalistisches Gedankengut, das so auch ‚ganz normale‘ Jugendliche wie Bahta, der im Prinzip austauschbar ist, zum Terroristen machen kann. Die Brisanz dieser ‚Anklage‘ reflektiert Bouzid in den Making-of-Sequenzen und hinterfragt damit zugleich Konzepte von Illusion und bietet den Rezipienten die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Schauspieler Lofti Abdelli. So erschafft er eine über das Land Tunesien hinausgehende Bedeutung für die Handlung. Mindestens findet hier eine Verallgemeinerung für den arabischen Sprachraum statt. Kinostart von Making of – Kamikaze war im Jahr 2006. Nur vier Jahre später hat die politische Realität mit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings in Tunesien gezeigt, mit welchen Gespür Bouzid hier die Situation im Land eingefangen hat. Es ist ein 26-jähriger arbeitsloser junger Mann namens Mohamed Bouzizi, der am 17. Dezember 2010 die so genannte Jasmin-Revolution in Tunesien ausgelöst hat. Er kaufte jeden Morgen Obst und Gemüse auf dem Großmarkt, um es – ohne Lizenz – am Straßenrand weiterzuverkaufen und hatte deshalb Schwierigkeiten mit der Polizei (Schmid 2011:15). „Auch an jenem schwarzen Freitag, dem 17. Dezember 2010, fuhr die Polizei vor – wie schon oft. Und wie jedes Mal fragte sie Bouazizi nach der Lizenz, die er – was sie wusste – nicht hatte, schubste seine Karre weg und beschlagnahmte, wie gewohnt, die elektronische Waage. Als er Einwände erhob, schlug ihm diesmal jedoch eine Polizistin ins Gesicht. Bouazizi wollte sich beim Gouverneur beschweren, wurde aber nicht vorgelassen. Eine halbe Stunde später übergoss er sich mit Benzin und zündete sich vor dem Amtssitz des Gouverneurs in aller Öffentlichkeit an.“ (Ebd.: 15f.)
Ein paar Wochen später starb der junge Mann an seinen Verbrennungen. Doch bereits zuvor war – trotz strenger Zensur – über soziale Netzwerke eine Masse an Protesten ausgelöst worden (ebd.: 16). Dieser reale junge Mann, diese Märtyrerfigur und die politischen Konsequenzen bis zum heutigen Tag in Tunesien (und der arabischen Welt) mit dem Sieg der islamistischen Partei Ennahda bei den ersten freien Wahlen 2011 werden verstehbar und fühlbar durch einen Film wie Making of – Kamikaze. Hier kann ein Film – ohne es explizit zu machen – durch die Wahl seiner filmischen Strategien wie aufgezeigt „das Andere“ (oder das Eigene durch die prozesshafte Veränderung der Hauptfigur) vermitteln. Und das tut Bouzid ohne Illusionen und den Schein zu vergessen, denn auch dieser Film ist – trotz aller Wahrhaftigkeit – natürlich nur eine Perspektive von vielen. Das verneint Making of – Kamikaze nicht und gehört deswegen zum innovativen Film im ethnologischen Filmkorpus.
4. N eukölln unlimited In dem Film Neukölln unlimited (D 2010, R: Agostino Imondi/Dietmar Ratsch, L: 96 Min.) spielt Tanz – wie auch schon bei Making of – K amikaze – eine wichtige Rolle. Auch hier werden Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit diskutiert und auch hier geht es um Identitäten und die Verquickung der persönlichen Biografie eines Einzelnen (oder drei einzelner Personen in diesem Fall) mit Politik oder politischen Realitäten. Einen Unterschied gibt es jedoch: Die Erzählweise dieses Filmes, der Ort und die Formen der Entgrenzung greifen die oben genannten Themen ganz anders auf als bisher gesehen. Das Interessante an diesem Dokumentarfilm ist, dass seine Figuren respektive seine Protagonisten sich nahezu wie in einem Hollywoodspielfilm entwickeln. Die dokumentierten Jugendlichen entsprechen Typen, die besonders häufig in den Medien inszeniert werden; dadurch erscheinen sie fast wie fiktive Figuren, deren Typus dem Zuschauer aus Medien und etwa Hollywoodspielfilmen bekannt ist. Die realen Jugendlichen werden dadurch tendenziell fiktionalisiert. Dabei entwickelt der Film diese Typen mithilfe von filmischen Strategien wie Animation und intertextuellen Zitaten sowie mit einer besonderen Präsenz des Körpers durch Tanz. Hier findet eine Rückbindung an das Thema Hiphop, Rap und Breakdance statt. Im Stil dieser Jugendkultur entwickelt der Film seine Protagonisten beziehungsweise lässt ihnen Raum zur Entwicklung und orientiert sich auf einer formalen Ebene zugleich an der Ästhetik dieser Jugendkultur. Das Bemerkenswerte ist, dass der (Dokumentar-)Film Neukölln unlimited die Protagonisten weder als Opfer stilisiert (im Stile eines gesellschaftskritischen Menschenrechtsfilms, ähnlich dem Sozialdrama) noch Helden eines dokumentarischen ‚Gangster-Ghetto-Films‘ aus ihnen macht, was bei der Thematik auch im dokumentarischen Sektor vorstellbar wäre. Stattdessen bietet der Film seinen Protagonisten eine Möglichkeit der Selbstinszenierung. Der Film schließt sich somit besonders in diesem Punkt an den Diskurs über Authentizität sowie Nähe und Distanz im Film an. So entsteht auch hier durch die filmischen Strategien eine paradoxe Situation: Obwohl der Film Klischees und Stereotype inszeniert und damit auf den ersten Blick Vorurteile bestätigt anstatt zu überraschen und sie abzubauen, findet trotzdem eine empathische Bindung
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an die Protagonisten statt und wird dem Rezipienten gleichzeitig eine Reflexion des Gezeigten ermöglicht und damit möglicherweise eine Sensibilisierung für die Situation von Migranten mit Duldungsstatus erreicht. Da der Film aufgrund der Thematik, der Hiphop-Kultur, besonders Kinder und Jugendliche ansprechen dürfte, ist eine Funktion dieses Ansatzes auch die Unterhaltung. Jugendliche werden durch Inszenierung, Musik und Körperlichkeit sicher einfacher an einen dokumentarischen Film herangeführt. Die Entgrenzung des Dokumentarischen führt in diesem Film zu einer empathischen Identifikation mit den Protagonisten und einer lebensbejahenden Haltung, die (vielleicht vor allem für Gleichaltrige) einen neuen Zugang zu einem politisch brisanten Thema wie dem des Duldungsstatus von Ausländern ermöglicht, das in diesem Film am Leben junger libanesischer Migranten in Berlin aufgezeigt wird. Durch die Thematisierung und Darstellung von Musik und Tanz wird hier in einem politisch interessierten dokumentarischen Film eine Körperästhetik geschaffen, die eher aus Musik-, Sport- und Tanzfilmen bekannt ist. Dabei kommen Hiphop und Breakdance eine besondere Bedeutung als Ausdruck einer hybriden Kultur zu. Meine These ist, dass der Film seine Thematik nicht auf einer intellektuell-dokumentarischen Ebene vermittelt, sondern auf einer körperzentrierten-sinnlichen Ebene. Eine Schlüsselfunktion ist hierbei den Tanzszenen und der Selbstinszenierung der Protagonisten zuzuordnen. So wird zugleich das Medium Dokumentarfilm reflektiert sowie darüber hinaus auch die Frage nach Möglichkeiten der ‚Integration‘ gestellt. Kurz zum Inhalt: Die Geschwister Lial (genannt Lulu), Hassan und Maradona Akkouch leben mit ihrer Mutter und den jüngeren Geschwistern in Berlin Neukölln. Hassan hat eine Aufenthaltsgenehmigung bis zu seinem Abitur, das zum Zeitpunkt des Films in einem Jahr sein wird. Lial hat eine Ausbildung begonnen und daher eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre. Der Status der Mutter und der jüngeren Geschwister wird als „Duldungsstatus“ benannt mit gleichzeitigem Hinweis darauf, dass man keine Möglichkeit sehe, wie sich das in absehbarer Zeit ändern könne. Dabei wird der Rezipient über die genauen Umstände völlig im Unklaren gelassen. Die Familie hat bereits eine Abschiebung erlebt (2004).1 Dieses traumatische Erlebnis, das vor dem Zeitraum, den wir im Film erleben, liegt, wird als Wendepunkt im Leben der Familie von Hassan und Lial beschrieben. Seitdem ist auch bei den Kindern die Angst vor Abschiebung real geworden und sie sind sich ihrer Situation bewusst geworden. Hassan beschreibt dies als das Ende seiner Kindheit. Die Szenen aus der Vergangenheit werden im Film mittels Animation verdeutlicht und über Hiphop-Songs der Geschwister
1 | Hassan zu Berlins damaligen Innensenator (2001-2011) Erhart Körting: „Sie haben mich 2004 abgeschoben, wär ich dort geblieben, wär ich jetzt wahrscheinlich tot nach den drei...äh...zwei Kriegen mit Israel und so...“ (00:39:30f.)
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und in Dialogen reflektiert. Die gemeinsame Leidenschaft der Geschwister ist Hiphop und Rapgesang sowie Breakdance und Freestyle/Streetdance. Der Tanz, vor allem Breakdance, Modern, Freestyle und ähnliche Richtungen, hat hier viele Funktionen. Der Film ist gerahmt von zwei Tanzbattles (Wettkämpfen), in denen jeweils einer der Brüder gewinnt. Zu Beginn des Films gewinnt der noch jung wirkende Maradona bei einer kleineren Breakdance-Veranstaltung und am Ende Hassan mit seiner Tanzformation FanatiX 2 bei einem großen Festival. Zwischen den Präsentationen dieser beiden Tanzveranstaltungen bekommen wir Einblick in das Leben der Geschwister und ihre Gedankenwelt, ohne dass dabei konkrete Handlungsstränge konsequent verfolgt werden. Es geht eher darum, einen Eindruck von den Personen zu vermitteln. Der interessanteste Charakter ist vielleicht Maradona, der sich im Verlauf der Dreharbeiten von einem schmal brüstigen Kind zu einem heranwachsenden Breakdancer entwickelt, der mit seiner libanesischen Migrationsgeschichte und dem Rebellieren gegen Regeln und Gesetze das Klischee eines solchen erfüllt. Dabei bleibt er dem Zuschauer aber von Anfang bis Ende sympathisch. Maradonas Mutter stellt zu den Eskapaden ihres Sohnes (Schulverweis, unerlaubter Waffenbesitz und Ähnliches, was aber alles nur angedeutet und nicht auserzählt wird) beschwichtigend fest: „Er will cool sein.“ (01:06:54)3 Maradona bekommt zunehmend Schwierigkeiten mit Schule und Gesetz, entscheidet sich dann aber – unter Einfluss seiner Geschwister – dafür, die Schule abzuschließen und Regeln sowie Gesetze wieder einzuhalten. Hilfsmittel und Symbol hierfür ist der Tanz, wie unten ausgeführt wird. Über die Charakterisierung von Hassan und Maradona, die mehr noch als Lial den Film dominieren, soll im Folgenden die Selbstinszenierung der beiden Jugendlichen dargelegt werden. Dabei werden Ausdrucksmittel wie Animation und Tanz einerseits thematisch hinsichtlich der Jugendkultur Hiphop befragt sowie ihre Bedeutung für den Film aufgezeigt. Daraufhin wird die Inszenierung der Körper in der Kombination mit dem Tanz genauer betrachtet.
2 | In der Selbstbeschreibung der Gruppe auf ihrer Myspace-Seite heißt es: „Die Urban Dance Crew FanatiX aus Berlin wurde 2007 gegründet und besteht aus den 6 Tänzern Boo, MiX, U-GiX, L-Cubano, Fresh-S-Kid und Iron-H. Die FanatiX präsentieren die Tanzstile Hip Hop, Newstyle, Popping, Locking, House und Krumping, sowie akrobatische B-Boy Elemente. Sie gewannen in der Vergangenheit bereits diverse Titel bei hochkarätigen Urban Dance Events, wobei besonders ihr Sieg in der Kategorie Hip Hop beim Juste Debout Germany 2009 und ihre anschließende Teilnahme beim Juste Debout International in Paris hervorzuheben ist, denn das Juste Debout ist die Weltmeisterschaft im Hip Hop Tanz und in diesem Bereich mit Abstand die Meisterschaft auf dem höchsten Niveau Weltweit.“ (FanatiX 2012: o.S.) 3 | Soweit nicht anders gekennzeichnet beziehen sich sämtliche in diesem Kapitel aufgeführten und mit Zeitangabe versehenen Szenen/Dialoge auf den Film N eukölln unlimited.
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4.1 E inführung der F iguren In der Folge wird die Darstellung der Brüder untersucht, um an ihnen die Verfahren der Stereotypisierung aufzuzeigen. Gleichzeitig sollen ihre körperliche Präsenz im Film sowie die Identifikationsflächen, die sie anbieten, erarbeitet werden. Die Protagonisten werden zu Beginn wie fiktive Figuren in den Film eingeführt. Nach einem kurzen Vorspiel in der Wohnung der Familie, in dem sich die Mädchen wegen des Putzens streiten und die Jungen sich die Zähne putzen und sich waschen, beginnt der Film aus dem morgendlichen familiären Chaos heraus mit einem nächtlichen Straßenbild von Neukölln (00:02:00). Nach der Einblendung des Titels befinden wir uns bei einem Breakdance-Battle. Hier werden nacheinander im Rhythmus der Filmmusik die Protagonisten vorgestellt. Hassan am Mikrofon, wie er die Tänzer ankündigt, Maradona beim Tanzen und Lial als Zuschauerin. Sie werden den Rezipienten regelrecht präsentiert. Dies geschieht dadurch, dass sie aus ihren Handlungen in ein Standbild gesetzt werden, das in ein an den Stil von Comiczeichnungen erinnerndes, nachgezeichnetes und neukoloriertes Bild der jeweiligen Figur überführt wird. Dazu wird in fließenden, ornamentalen, lateinischen Kleinbuchstaben, die an arabische Schriftzüge erinnern, der jeweilige Name eingeblendet. Das erinnert eher an den Anfang eines Spielfilms, auch wenn die Bildqualität auf einen Dokumentarfilm schließen lässt. So wird aber eine gewisse offene Erwartungshaltung provoziert. Dieser Anfang vermittelt einige Thematiken auf einen Blick: Jugendkultur, Hiphop und Breakdance, Selbstinszenierung und Unterhaltung, auch im Sinne von Entertainment, gemeint als Show (Performance). Der Bruch vom Breakdance-Battle hin zur nächsten Sequenz, in der man sich mit Hassan und Lial auf der Ausländerbehörde wiederfindet, ist besonders hart und unvermittelt. An diesem Punkt wird klar, dass es hier nicht nur um lockeres Entertainment oder die Darstellung einer Jugendkultur gehen wird, sondern um die gesellschaftlich-politische Situation der Jugendlichen. Das ist also die zweite Information, die wir über die beiden Protagonisten bekommen: Sie haben einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. Der Film entwickelt seine Figuren im Spannungsfeld von Breakdance und Ausländerbehörde.
4.1.1 Hassan – erzählte Animation als Strategie Hassan und Lial werden sofort mit dem Merkmal des ‚Ausländer-Seins‘ besetzt, und dessen stereotype, negative Bewertung als ein Zustand der Machtlosigkeit wird mit thematisiert. Sie befinden sich zusammen in der Ausländerbehörde und wissen nicht, wo sie hinmüssen (00:05:15). In der Folge bekommt Hassan eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr und Lial für drei Jahre. Hassan
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korrigiert die grammatikalischen Satzbaufehler seiner Schwester, während diese mit ihrer Mutter telefoniert (00:07:42). Schon hier muss man ein wenig schmunzeln, weil in diesem Moment so viele Bezüge mitschwingen: Die Konkurrenz unter den Geschwistern, Hassans Frustration darüber, dass seine Schwester den längeren Aufenthaltsstatus hat, genauso wie die Beziehung der Geschwister zur deutschen Sprache. Mit dem nächsten Schnitt setzt Musik ein (00:08:31), Hassan sitzt auf seiner Bettcouch mit einem MacBook, und kurz darauf hört man seine Stimme aus dem Off: HASSAN: „Da ich selber gerne rappe und meine eigenen Songtexte schreibe, hatte ich schon oft mit dem Gedanken gespielt, ein Buch zu schreiben. Nur hätte ich niemals daran gedacht, dass es meine eigene Geschichte sein könnte. Erst beim Schreiben wird mir bewusst, dass die Geschichte meiner Familie, die ich als normal empfunden habe, für andere Menschen kaum vorstellbar ist.“ (00:08:50-00:09:05)
Das Fenster ist gekippt, von außen dringt Straßenlärm herein. Hassan hat seinen Blick konzentriert auf den Computerbildschirm gerichtet, danach findet ein Schnitt in die Animation statt. Man sieht schemenhaft gezeichnet den Raum wieder, in dem Hassan ein paar Minuten zuvor noch erklärt hat, wer wo schläft. Am augenfälligsten ist das kleine Kinderbettchen.4 Hassan selbst ist als grob gezeichnete Figur in Erdtönen zu sehen (der Stil der Animation erinnert stark an den später in dieser Arbeit noch aufgegriffenen Film Waltz with Bashir [2008] von Ari Folman). Man ist mit Hassan sofort in der Geschichte. Durch seine spezifische Sprache mit leichtem Akzent wirkt alles gleich sehr persönlich. In der Animationssequenz wird die in der Vergangenheit liegende Abschiebung der Familie dargestellt. Und so wird dieser als Animation dargestellte Eingriff in das Leben der Familie, das Trauma der Abschiebung, zentraler Ausgangspunkt der Geschichte. Dies lässt die Behauptung zu, dass dieses Trauma der Aufhänger für die gesamte Motivation des Films ist. Das ist die Geschichte, die Hassan mit dem Film erzählen wollte: HASSAN: „Es war genau am Mittwoch, den 2. April 2003, Maradona hatte an diesem Tag seinen neunten Geburtstag. Es war ungefähr 5 bis 6 Uhr morgens, alle schliefen
4 | Das Thema Kindheit, spezifisch die Zerstörung der Kindheit, ist zentral in dem Film. Eine der Thesen ist: Ein Kind wird nachhaltig geschädigt, wenn es ein Abschiebungstrauma durchlebt, und wird allein dadurch möglicherweise schlechter integrierfähig. So erklärt zumindest Hassan im Verlauf des Films das „Abrutschen“ seines jüngeren Bruders.
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Zwischen Dokumentation und Imagination tief und fest in ihren Betten. [Poltern an der Tür.] Ich wurde sofort wach und noch bevor meine Mutter an der Tür war, wusste ich in diesem Moment, was los war. In dem Moment fühlte ich mich so, als hätte ich ein Herz aus Stein, ich zeigte keinerlei Gefühl, ich reagierte einfach wie eine Maschine. Ich weiß nicht warum, aber ich spürte keine Trauer, sondern eher so etwas wie eine Gleichgültigkeit. Durch die Tür hörte man eine Männerstimme. Kriminalpolizei Berlin, öffnen Sie die Tür! [...] Die Polizisten meinten auch, wenn ihr wollt, könnt ihr noch ein Spielzeug mitnehmen. Bei diesem Satz wurde ich richtig wütend, weil man sich in so einem Moment diesen Spruch sparen könnte. […].“ (00:09:18-00:10:30)
Im Folgenden beschreibt Hassan, wie die „Kriminalpolizei Berlin“ (00:09:48) die Familie abführt und zum Flughafen bringt. Die Mutter bekommt, wie Hassan erzählt, ihren ersten epileptischen Anfall. Hassan wird mit den Folgen der Abschiebung am Geburtstag des kleinen Bruders Maradona dann in der Folge dessen soziales Abrutschen und mangelnde Motivation erklären. Die Erinnerungen sind durchgehend unterlegt mit Animationen. Dem Text, also dem sprachlichen Ausdruck, von Hassan wird so eine Bebilderung gegeben, die seine Erinnerungen sichtbar macht. Die Mischung zwischen den Fakten oder Ereignissen und der persönlichen Empfindungsebene („In so einem Moment betest du zu Gott und bittest ihn darum, dass er einen Blitz schickt, um das Flugzeug einfach nur startunfähig zu machen.“ (00:14:36-00:14:38) ist typisch für Animationssequenzen, wie im Verlauf der Arbeit noch bei Iran: Elections 2009 (2010) und Waltz with Bashir zu sehen sein wird. Es geht darum, Persönliches, nicht Zeigbares wahrnehmbar und spürbar zu machen. Dafür bietet die Animation in Kombination mit dieser persönlichen, sprachlich geäußerten Innenschau eine Möglichkeit. Dabei kommt dem Erzähler (Hassan) hier Deutungshoheit zu, die dazu führt, dass die Zuschauer sich mit ihm identifizieren. So ist er auch derjenige, der über die anderen spricht. Er fragt sich, was mit seinen Geschwistern passiert, und wie sie dieses Trauma verkraften. So beschreibt er das Erlebnis als den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben. HASSAN: „Ich denke, dass jeder diesen Moment kennt, wo deutlich wird, dass man kein Kind mehr ist. Die Abschiebung hat mich aus der Kinderwelt herausgerissen. Ich konnte mit meinen 15 Jahren damit umgehen. Aber was passierte mit meinen Geschwistern? Konnten sie das verkraften? Konnten sie überhaupt damit umgehen?“ (00:14:48-00:15:00)
Interessant ist, dass ausschließlich Hassan in dem Film Animationssequenzen kommentiert oder in diese eingebunden wird. Damit dominiert er das Bild, welches von ihm selbst und der Familie beim Rezipienten im wahrsten Sin-
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ne des Wortes gezeichnet wird. Die Animation ist sehr einfach und dadurch sehr eingängig, es werden immer wieder Bezüge zur Gegenwart und zum Ort Neukölln hergestellt. Besonders eindrücklich wirken dabei die Übergänge von Animation zu Real und umgekehrt. Hierdurch wird ein starker Bezug zur gegenwärtigen Filmhandlung geschaffen, obwohl die Animation immer Vergangenes erzählt, da sie ausschließlich die erlebte Abschiebung zum Thema hat. Hassan erzählt die Ereignisse der Abschiebung in der beschriebenen animierten Sequenz aus seiner subjektiven Perspektive. Es findet hier eine Verknüpfung der Ausdrucksweisen satt. Sollte das (ursprünglich) ein Raptext werden? Ein Roman? Dabei beschreibt Hassan seine Gefühle fast poetisch, wenn er von einem „Herz aus Stein“ spricht und davon, dass er „keine Trauer, sondern eher so etwas wie Gleichgültigkeit“ spüre (00:09:44). Hier finden sich auf einer sprachlichen Ebene Anklänge an die Rap- und Hiphop-Sprache.5 Diese Wendungen und die Bildlichkeit der „Maschine“ (ebd.) würden auch in einen Songtext passen. Die Animationen sollen laut dem Audio-Kommentar der Regisseure auf der DVD eine Nähe zur Graffiti-Szene herstellen. Diese Verbindung erklärt sich für mich über den Erzählstil und die Art der Animation im Film jedoch nicht. Farbspektrum und Stil der Animationen erinnern eher an die gegenwärtige Art des Animierens, wie sie in Filmen wie Waltz with Bashir, Persepolis und auch neueren Filmen wie This ain’t California verwendet wird. Dabei wird viel mit Schatten und Licht gespielt und wenig ausgezeichnet, Stimmungen transportieren sich über teilweise symbolische Farbspektren, die einheitlich in den Bildern verwendet werden; es wird mit wenig Kontrast gearbeitet. So bleibt großer Raum für Identifikation und Imagination einerseits und andererseits kann der Zuschauer seine Konzentration auf den (gesprochenen) Text richten. In der gesamten Animation bleiben die Beamten im Gegensatz zu den Akkouchs gesichtslos. Sie bleiben augenlos, denn die Schatten ihrer Uniformmützen verdecken die Augen. Den Beamten ist dadurch ein wichtiges Merkmal von Individualität und emotionalem Ausdruck genommen. Dadurch wird die Identifikation der Rezipienten mit der Familie, deren Gesichter individuell erkennbar, aber einfach gehalten sind (Auge, Nase, Mund), gesteigert. Dadurch kann sich der Rezipient selbst darin erkennen, kann sich damit besonders einfach identifizieren. Dies hat auch Scott McCloud in Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst (2001 [1994]) gezeigt. 5 | Rap und Hiphop wird in dieser Arbeit synonym benutzt, da sie in der Rezeption von Nicht-Angehörigen dieser Jugendkultur und in der Medienrezeption ebenfalls häufig synonym verwendet werden, und ich hier nicht genauer auf Inhalte eingehe, sondern es mir um Stereotype geht, die – gerade beim Rezipienten – mit der Musikrichtung verbunden sind. Zur Hiphop-Forschung siehe unter anderem Klein/Friedrich (2003) und Mitchell (2001).
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Weitere animierte Abschnitte werden an anderen Stellen des Films eingeschoben und bebildern jeweils die Erzählungen von Hassans Stimme. Wenn er beispielsweise in einem Jugendclub in Berlin auf den damaligen Innensenator Erhart Körting trifft und sich von ihm nicht verstanden fühlt, so findet bei seiner Autofahrt im Anschluss direkt eine Visualisierung von Hassans Gedanken in einer animierten Sequenz statt (00:41:13). Die von Hassan empfundene Ungerechtigkeit wird durch die Bebilderung in der animierten Sequenz in greifbare Filmbilder überführt und dadurch Hassans Perspektive gestärkt. So wäre zu überlegen, ob die Bilder auch eine vermeintliche Objektivität bezwecken. Die animierten Bilder schaffen Fakten, was natürlich gleichzeitig einfach zu widerlegen ist, da in der Animation die Künstlichkeit eines Films nie verneint wird und damit natürlich auch die Subjektivität offensichtlich wird. Bei dieser starken Verquickung von realer Person und Innenschau durch Animation findet aber eine Verstärkung der Glaubwürdigkeit statt, denn die Animation ermöglicht die Sichtbarmachung innerer Vorgänge, die in einem konventionellen Dokumentarfilm nicht visuell, sondern nur über Sprache präsentiert werden können. Damit erschließt die Animation eine wichtige Dimension ihres Protagonisten und lässt diesen glaubwürdiger erscheinen. Dies ist noch stärker der Fall als bei einem komplett animierten Film (Waltz with Bashir) oder einem Film mit fiktiven Personen in der Animation (Iran Elections: 2009/The Green Wave). Gleichzeitig sind diese Filme Referenzpunkte für Neukölln unlimited. Auffällig ist die sand- und ockerfarbene Szenerie, die an ein Kriegsgebiet erinnert, mehr noch, da es so auch bei Waltz with Bashir aussieht, wo unter anderem der Libanonkrieg thematisiert wird. Ich sehe hier ein filmisches Zitat beziehungsweise, da es keine direkte Übernahme ist, einen deutlichen Verweis auf Waltz with Bashir. Hassan erzählt dazu, wie er sich im Libanon unwohl fühlte und einfach nur nach Hause wollte. Abgesehen davon bleibt Hassan selbst in der Animation wenig charakterisiert. Er wird eher darüber charakterisiert, dass er derjenige ist, der diese Erlebnisse erzählt und verarbeitet und auch etwa dem Innensenator vorwirft. Er ist der Macher-Typ und der Reflektierte unter den Geschwistern. Hassan stellt bereits selbst eine Verbindung zwischen dem Rap und der von ihm erzählten Geschichte her, wie oben angesprochen („Da ich selber gerne rappe und meine eigenen Songtexte schreibe, hatte ich schon oft mit dem Gedanken gespielt, ein Buch zu schreiben.“ [00:08:50]) So können Rapper in Anlehnung an den mündlichen Erzähler nach Walter Benjamin (Benjamin 1977 zit. nach Klein/Friedrich 2003: 66) eine intellektuelle und erzieherische Funktion als Geschichtenerzähler übernehmen, das heißt die Funktion, einen Wertekanon zu perpetuieren und lokale Gemeinschaft zu schaffen. Gleichzeitig kam man in bestimmten Hiphop-Kulturen auch andere Traditionen ausmachen, wie etwa die fahrender Sänger in der türkischen Hiphop-Kultur (Klein/Friedrich 2003: 66). Dabei hält Kayna fest, dass gerade
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durch den „hybriden Status“ von Migranten ermöglicht wird, eine „diasporische Identität“ zwischen „Tradition und Transfer, Authentizität und Synkretismus, Transkulturalität und Transnationalismus“ zu entwickeln (ebd.). Hier setzt auch Neukölln unlimited in der Figur des/mit der Person von Hassan an. Hassan übernimmt einerseits innerhalb seiner Familie und andererseits als Rapper und Hiphoper auf Demonstrationen und Festen die Funktion des Kommentators und des Erzählers, der auch seine eigene Erinnerung reflektiert. Wenn man so will, hat er sich der Sprache bemächtigt als Stellvertreter für seine Familie und in gewisser Weise geschieht diese Ermächtigung auch im Film. Das entspricht auch seinen anderen Funktionen im Film. In seinen weiteren Erscheinungen tritt er als Coach im Jugendclub auf oder auch als derjenige, der beurteilt, ob Post von den Behörden wichtig ist (Lial zu ihm: „Hier ist ein Brief von der Härtefallkommission. Ich weiß nicht, ob das wichtig ist oder nicht.“ [00:11:40f.]). In dem Gespräch zur möglichen Abschiebung aufgrund des Briefes (in dem Brief bekommen sie mitgeteilt, dass sie kein Aufenthaltsrecht bekommen) zeigt sich aber beispielsweise, dass er, mehr als seine Schwester Lial, die hier den Gegenpol bildet, stark emotional argumentiert: HASSAN: „Wenn meine Familie geht, geh ich auch. Scheißegal. Es gibt immer einen Weg zurückzukommen.“ LIAL (schnauft): „Aber ich denke mal so. Es gibt immer einen Weg die Familie wieder zurückzuholen. Das heißt nicht, dass du immer aufgeben musst und einfach mitgehen musst. Denn es wird so auch schwieriger für dich.“ HASSAN: „Zurückzuholen ist doch was anderes als hier zu bleiben.“ LIAL: „Ja man kann doch immer wieder probieren. Die Leute werden das doch s ehen. Deutschland sieht doch, dass man trotzdem kämpft, damit man wieder zurückkommt.“ HASSAN: „Das hab ich doch gerade gesagt. Es gibt einen Weg zurückzukommen. Also erst mal würd’ ich mit der Familie gehen.“ LIAL: „Das macht doch gar keinen Sinn, wenn Du dann mitgehst, wo ist denn dann Deine Hilfe. Womit willst du denn helfen?“ HASSAN: „Aber was soll ich hier allein?“ LIAL: „In dem Moment kannst du schon einen Plan machen in deinem Kopf beziehungsweise kannst du dir Gedanken machen, wie du deine Familie wieder zurückholst. Wie du welche Papiere erledigst, wie du das und das machst... weil wenn alle gehen, macht das keinen Sinn, dann kommt keiner mehr zurück.“ NURHAN: „Wann müssen wir denn gehen?“ MARADONA: „Gar nicht.“ [hoffnungsvoller Blick!] NURHAN: „Gar nicht?“ MARADONA: „Auch wenn die kommen... ich werf die ausm Fenster.“ (00:13:06-00:14:10)
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Der Familienmensch Hassan unterscheidet sich in seiner Inszenierung kaum vom Rapper Hassan, also von dem oben aufgezeigten Geschichtenerzähler, da er auch innerhalb der Familie derjenige ist, der kommentiert und eine Führungsrolle einnimmt. Damit bekommt er durchaus etwas ‚Unantastbares‘ und entspricht dem ‚edlen Helden‘ in einer Hollywoodgeschichte. Sein kleiner Bruder ist in dem Film als Gegenpol inszeniert.
4.1.2 Maradona – Selbstinszenierung eines Stereotyps Maradona wird im Gegensatz zu Hassan und Lial zu Beginn des Films in einem für ihn auch zunehmend problematischen Kontext gezeigt: in der Schule im Mathematikunterricht (00:05:16ff.). Zu dem Zeitpunkt des gefilmten Geschehens ist Maradona noch ein Kind etwa im Alter von zwölf Jahren, der zwar schon ein wenig den „Klassenclown“ mimt und Unruhe stiftet. Aber es handelt sich hier noch um eine ganz normale Unterrichtssituation. Einen sozialen Impetus bekommt die Szene dadurch, dass die Lehrerin mit den Schülern Hartz-IV-Sätze berechnet und ihnen vermitteln will, wie viel Geld ihnen rechtlich zusteht und wie viel sie von ihren Eltern bekommen sollten. Maradona macht deutlich, dass es für ihn wichtiger sei, wenn seine Mutter das Geld nutzt: „Hauptsache meine Mutter hat Geld.“ (00:06:15) LEHRERIN: „So, jetzt machen wir mal ein bisschen Mathe an der Tafel. Nämlich Folgendes [...].“ MARADONA [im Close-up]: „Oh ich kann nicht rechnen, ja, mein Kopf ist so. Ich bin verwirrt.“ LEHRERIN: „Ich glaube ja, dass eure Eltern, wenn die jetzt Hartz IV oder Ähnliches kriegen, pro Kind 247 Euro kriegen. Wie viel Euro sind das am Tag für ein Kind? [...] Es muss mal klar werden, dass eure Eltern Euch kein Geld von sich selber geben und drauf verzichten!“ MARADONA: „Hauptsache meine Mutter hat Geld. Deswegen sag ich immer, bevor ich sag: ‚Hast du für mich?‘ Wenn sie sagt: ‚Nein, ich hab nicht.‘ – Sag ich: ‚Okay!‘ Obwohl sie hat. Wissen Sie – aber sie braucht es.“ (00:05:16-00:06:22)
Das ist der erste Eindruck, den wir von Maradona nach seinem Sieg bei dem Breakdance-Battle bekommen. Danach erleben wir ihn als Schüler und als jüngeren Bruder seiner Geschwister. Während Hassan in der ersten halben Stunde des Films die Erinnerung an die Abschiebung wiederbelebt und hier auch deutlich macht, was für ein Schock das für den 9-jährigen Maradona gewesen sein muss, der an dem Tag auch noch Geburtstag hatte, rückt der inzwischen 15-jährige (zu Beginn der Dreharbeiten vermutlich erst zwölf Jahre alte) Mara-
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dona immer mehr in das Zentrum des Films. Er bietet wesentlich mehr Profil und Angriffsfläche als sein älterer Bruder, der immer mehr mit dem Finger auf seinen kleinen Bruder zeigt. Es wird darüber in der Dönerbude gescherzt, dass Maradona nur gut ist in der Schule der Straße, in den Fächern „Klauen“ und „Scheiße bauen“ (00:35:48ff.). Aus diesem Zitat wird deutlich, in welche Richtung Maradona sich entwickelt und auch dargestellt wird. Denn gleichzeitig zelebriert Maradona die Selbstinszenierung als Mitglied der „arabischen Community“, als Kleinkrimineller, Breakdancer und Gangmitglied besonders gut. Dabei werden Stereotypen in Aussehen und Verhalten reproduziert. Von der dicken Goldkette über das Pali-Tuch bis hin zur Gaspistole ist alles dabei. Gleichzeitig widmet Maradona sich auch immer mehr einem körperlichen Training und dem Auf bau von Muskeln. All das geschieht sicherlich nicht aufgrund des Films, aber wenn Maradona mit seiner Gang durchs nächtliche Neukölln flaniert und provokativ mit der Gaspistole an der Kamera vorbeizielt (00:56:50f.), dann findet hier schon auch eine Inszenierung für die Kamera statt. Vor allem, wenn Hassan gleichzeitig analysiert: HASSAN: „Meiner Meinung nach ist die Abschiebung erst mal der Hauptgrund gewesen, warum Maradona jetzt diese Entwicklung gemacht hat. Maradona hat sich von den Deutschen oder von der deutschen Gesellschaft so verstoßen gefühlt. Er hat sich einfach nicht mehr zu Hause gefühlt hier in Deutschland, und das hat sich auf sein Verhalten und auf seine Lebensweise ausgewirkt. Da er zu dieser arabischen Community gehören möchte, hat er sich auch das Ziel gesetzt, so zu sein wie die arabischen Männer, und das Problem ist in Deutschland, dass er keine guten Vorbilder hat, weil in den Medien wird halt nur darüber berichtet, was die Araber oder die Moslems halt machen, es wird dauernd über Terroristen geredet, dauernd darüber, was halt Schlechtes passiert, aber es wird nichts darüber berichtet, was überhaupt irgendwelche Araber auf der ganzen Welt für positive Dinge leisten.“ (01:09:03-01:10:02)
Hier wird deutlich eine Erklärung für das Verhalten gegeben, das außerhalb der Person liegt und auf das Trauma rekurriert, welches der Aufhänger für den gesamten Film ist. Die zweite Erklärung Hassans ist nämlich, dass Maradona keine positiven Vorbilder hat – und zwar deswegen, weil Araber und Muslime in der deutschen Gesellschaft und den Medien meist stereotyp und negativ dargestellt oder mit Terroristen gleichgesetzt werden. Hier wird also nochmals die Problematik von Vorurteilen explizit thematisiert und aufgezeigt, inwiefern die permanente Konfrontation mit Vorurteilen die Entwicklung eines Menschen, in diesem Fall Maradonas, negativ beeinflussen kann. Dabei nutzen die Filmemacher den Konflikt/die Konflikte (innerlicher, seelischer Natur genauso wie die nach außen mit seinem Umfeld geführten) des Jugendlichen für die Dramaturgie und den Spannungsbogen der Geschichte. Maradona rutscht im
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Verlauf des Films angeblich immer weiter ab, wie vor allem sein Bruder berichtet. Es kommt zum entscheidenden Gespräch zwischen den Brüdern, das stattfindet, weil Maradona erneut einen Schulverweis bekommen hat und die Schule wechseln muss. Der Konflikt der Brüder entlädt sich über eine scheinbar harmlose Diskussion über Noten. HASSAN: „Maradona, hast du deinen Brief bekommen schon vom Schulamt?“ MARADONA: „Weiß nicht.“ HASSAN: „Weißt nicht, auf welche Schule du kommst?“ MARADONA: „Ne, noch nicht.“ HASSAN: „Willst du die achte Klasse schaffen? Oder...“ MARADONA: „Schaff ich locker. Die achte Klasse, schaff ich locker.“ HASSAN: „Ja sagst du.“ MARADONA: „Als ob Vier schlecht ist. Was ist los mit dir?“ HASSAN: „Natürlich ist Vier schlecht.“ MARADONA: „Vier ist nicht schlecht, nein. Wenn ich eine Vier bekomm, bin ich wenigstens glücklich noch, dass ich keine Fünf bekommen hab.“ HASSAN: „Vier ist schlecht, Maradona.“ MARADONA: „Für mich ist Vier nicht schlecht. Was ist los mit dir... Vier ist nicht schlecht.“ HASSAN: „Maradona, Drei ist gut, ist okay...“ MARADONA: „Hauptsache... hör mal zu... Hauptsache ich bleib nicht sitzen.“ HASSAN: „Ja, dies, dies ist die Hauptsache. Aber was kommt danach? Dann sagst Du: Gut ich bin nicht sitzen geblieben. Ich hab Realschulabschluss mit 3,6 geschafft, was mach ich jetzt?“ MARADONA: „Was will ich jetzt machen? Ich hab Realabschluss. Was ist los mit dir?“ HASSAN: „Mit 3,6.“ MARADONA „Ja und.“ HASSAN: „Das ist nicht mehr so: ‚Ich hab Realschulabschluss, ich kann machen, was ich will’. Das ist: ‚Ich hab Realschulabschluss‘ – ‚Was ist Ihr Durchschnitt‘ – ‚3,6‘ – ‚Danke, nein‘.“ MARADONA: „Wenn einer keinen guten Eindruck hat, dann ist er immer nicht nett zu dir. HASSAN: „Das stimmt doch gar nicht.“ MARADONA: „Ich schwöre auf Allah. Ist so…ist so. Wenn ein Lehrer einen schlechten Eindruck hat, dann ist er nicht einmal nett zu dir.“ HASSAN: „Dann musst du dich doch bessern!“ MARADONA: „Wie denn?“ (01:10:10-01:11:16)
Hassan lehnt die verantwortungslose Haltung seines Bruders ab, obwohl er ihn permanent nach außen verteidigt. Das Gespräch schaukelt sich noch so hoch, dass Hassan seinem Bruder vorwirft, mit seinem kleinkriminellen Verhalten erstens den Aufenthaltsstatus der Familie zu gefährden (und natürlich
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auch seinen eigenen) und zweitens auch noch allen Menschen recht zu geben, die schlecht über ausländische Jugendliche sprechen und ihrerseits in Zweifel ziehen, warum die Jugendlichen in Deutschland bleiben sollen. Sein Bruder würde ja alle Vorurteile mit seinem Verhalten bestätigen. Insbesondere an der Person Maradonas wird eine Diskussion über das problematische Feld der Stereotype und Vorurteile angestoßen und innerhalb des Films explizit diskutiert. Hassan stellt im Verlauf des Films fest, dass Integration etwas damit zu tun hat, ob man für sich selbst beschließt, dass Deutschland das eigene Land ist. Er knüpft dies dezidiert an einen Prozess des Erwachsenwerdens: HASSAN: „Wenn man groß wird, muss man selber erst mal verstehen: Man ist kein Ausländer, man ist selber ein Deutscher. Und erst, wenn man das begriffen hat, dann wird die Integration ganz einfach. Weil du sagst: Das ist mein Land, das ist mein Land, ich lebe hier auch, ich will hier auch arbeiten und so. Dann versteht man bisschen andere Sachen [...].“ (01:13:40-01:14:00)
Darüber hinaus gibt Hassan der Coming-of-Age-Geschichte seines Bruders noch eine zusätzliche Dimension. Über den Tanz und die körperlich-sinnliche Erfahrung wird das Innenleben der Brüder visualisiert und nachvollziehbar gemacht. Tanz changiert in dem Film zwischen körperlichem Ausdruck innerer Gefühlslagen, Körperkunst und symbolischer Aufladung.
4.2 Tanz als A usdrucksmit tel und I nszenierung der K örper Die erste Tanzszene steht ziemlich zu Beginn des Films mit dem B reakdanceBattle. Hier ist der Tanz erst einmal noch nicht viel mehr als die Schaffung von Atmosphäre. Der Tanz (die Leidenschaft für den Tanz) ist, wie die Familie, für die drei Geschwister und Protagonisten des Films das verbindende Element. Am Anfang des Films wird dadurch aber auch eine gewisse Stimmung erzeugt, wie etwa in einem Sportfilm. Es geht um den Sportsgeist. Das Leben ist ein Battle, aber anders als im Sport (und im Tanz) wird sich zeigen, dass man (das heißt in diesem Fall die Geschwister Akkouch) nicht durch Fleiß und Disziplin und Training alles erreichen kann. Das erzählt der Film, während er gleichzeitig auch davon erzählt, dass Hassan und Lials sehr wohl davon überzeugt sind, dass man durch Fleiß und Training weiterkommen kann. Damit hat der Tanz eine symbolische Funktion: Er steht für unterschiedliche Lebensauffassungen, nämlich für die von Hassan und Lial einerseits und die vom Film in seiner Gesamtheit transportierte andererseits. Zudem dient der Tanz auch dazu die Rollen der drei Geschwister zu definieren und auszuarbeiten. Dabei ist besonders
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darauf zu achten, in welchem Kontext die Tanzszenen gezeigt werden, damit ihre jeweilige dramaturgische Funktion erklärt werden kann. In der zweiten Tanzszene findet die Charakterisierung von Lial statt. Nach der oben analysierten Erzählung von Hassan mit der Animation wird die Position von Lial innerhalb der Familie gezeigt. Das Mädchen sitzt im Flugzeug und erzählt, dass schon durch die Trennung der Eltern viel kaputtgegangen ist und sie Angst davor hat, dass sie die Familie verlieren könnte. Es findet ein Schnitt zum Tanztraining statt (00:15:45). Der Tanz wird nicht weiter erläutert, er fungiert eher als Kulisse. Nicht weiter erläutert wird etwa das – vielleicht ironische – Ende einer Tanzszene: „„Danke! Lulu! Sehr gut! Du kannst gehen.“ (00:18:42ff.). Hier wird auf der Ebene des Tanzes der innere Konflikt Lulus (Lias) mit der deutschen Gesellschaft und die Angst vor der Abschiebung verdeutlicht. Eine andere Tanztheater-Szene betrifft Hassan. Er tanzt in Paris mit einer internationalen Tanzgruppe in einem Tanzprojekt mit und unterhält sich mit einem älteren französischen Tänzer über sein familiäres Trauma der Abschiebung, das Ausländerrecht in Deutschland und seine Empfindung, dass Deutschland seine Heimat sei und er keinen Bezug zum Libanon habe. Der französische Tänzer erzählt, dass in Frankreich die Situation von Einwanderern und die rechtlichen Verfahren bei ungeklärtem Aufenthaltsstatus ganz ähnlich seien, um dann das Gespräch beschwichtigend zu beenden mit: TÄNZER: „Aber jetzt bist du ja Profi-Tänzer, mein Freund. Es kann dir alles scheißegal sein.“ [lacht] HASSAN: „Tanzen, um zu vergessen.“ (00:51:34-00:51:40)
Diese seelische Funktion, also die Verarbeitung von Trauma über Tanz und Ähnliches oder die Darstellung der Gefühle über den Körper, wird explizit thematisiert, wenn Maradona in einer Art Traumsequenz im Film auftaucht. Die Szene ist eingebettet in Maradonas Bericht, dass er beim „Supertalent“ von Dieter Bohlen nicht weiter gekommen ist (00:55:28ff.). Maradona erzählt, dass er enttäuscht und verärgert ist. Er blickt leicht abwesend. Es wird Maradonas Tanz einblendet. Mit nacktem Oberkörper vollzieht er zu einer orientalisch-meditativen Musik eine Art Ausdruckstanz (00:56:02ff.). Hier findet, tanztechnisch betrachtet, ein Bruch mit den anderen Tanzsequenzen statt, denn der Tanz bekommt in dieser Szene etwas sehr Spirituelles. Dies wird dadurch befördert, dass im Hintergrund so etwas wie eine Medi tationsmusik ertönt sowie durch das sphärische Einblenden, Verzögern und Doppeln der Moves. Es wird nicht deutlich, ob dies seine Performance beim „Supertalent“ war oder etwas anderes. Aber die Funktion innerhalb des Films Neukölln unlimited ist, nach all den negativen Erzählungen über Maradona,
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seine beginnende innere Wandlung zu thematisieren und den Rezipienten wieder näher an die Figur zu bringen. Durch die tänzerische Inszenierung des Körpers gewinnt Maradona Authentizität. Der Tanz wirkt paradoxerweise ‚echter‘ als die folgende Szene mit der Gaspistole. Diese Echtheit gewinnt die Tanzszene durch die suggerierte Intimität: Intimität wird zum einen durch den nackten Oberkörper transportiert, also auf einer körperlichen Ebene geschaffen, und zum anderen durch den Eindruck des Insichgekehrtseins von Maradona beim Tanz, also als innere, persönliche Intimität. So rückt der Faktor Inszenierung in den Hintergrund. Der Bruch ist nun ziemlich hart, wenn an diese Tanzsequenz eine Einstellung angeschlossen wird, in der Maradona mit einer Gaspistole ins Nichts (nicht sichtbar für den Zuschauer) schießt und danach in die Kamera grinst. Der ruhige, intime Moment wird beendet durch die Selbst-Inszenierung des „Gangster-Kids“. Diese hat aber durch die Montage und die vorhergehende Szene an Glaubwürdigkeit verloren, während die Person Maradonas durch den Tanz insgesamt an Glaubwürdigkeit gewonnen hat (00:56:54). Es folgen Szenen, wo die Jugendlichen ‚im Rudel‘ durch die nächtlichen Straßen Neuköllns laufen. Dazu ist bedrohliche, aufheizende Musik zu hören (besonders im Kontrast zu der spirituellen Musik vorher). Im Hintergrund werden zudem immer wieder Polizeisirenen hörbar. Öfter werden die Jugendlichen von unten gefilmt, die Dämmerung und die schlechten Lichtverhältnisse tragen zur unheimlichen Atmosphäre bei. Maradona wird mit der ‚Gang‘ charakterisiert. Die Gangmitglieder gehen in einen Keller und nehmen auf alten Sofas Platz. Maradona legt die Waffe auf den Tisch. Als Zuschauer ist man zunächst sehr irritiert, weil die Präsenz der Waffe eine Verbindung zu kriminellen Handlungen nahelegt und die Situation dadurch eine andere Konnotation bekommt. Die Irritation des Zuschauers wird dadurch verstärkt, dass die Bilder nicht von einem verbalen Kommentar erklärt werden. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine von den Jugendlichen als „Silvesterwaffe“ bezeichnete Waffe, und sie lachen darüber und spielen Karten. Es ist also keine funktionsfähige Waffe, aber die Irritation beim Zuschauer bleibt. Hier zeigt sich schön die Wirkung der (Selbst-)Inszenierung, wenn auf Klischeebilder und Vorurteile aufgebaut wird: Gang, Straße, Polizei, Waffe, Keller, ausländische Jugendliche. Die Hinterfragung der Stereotype und Vorurteile wird weitergeführt, indem mit dem nächsten Schnitt ein weiterer Bruch folgt. In der nächsten Szene wird Maradonas Kindlichkeit unterstrichen. Er scherzt mit seinen Schwestern und rülpst zur Belustigung aller mehrfach laut. Da wird sehr deutlich, dass er im Prinzip noch ein Kind ist (00:58:28ff.), was in starkem Kontrast zum vorherigen Machogehabe als Gangmitglied steht. Diese widersprüchliche Charakterisierung Maradonas, die Teil der Comingof-Age-Geschichte ist, wird fortgeführt. Maradona bekommt Ärger, weil er eine Waffe (einen Totschläger) mit an die Schule genommen hat; er hat deswe-
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gen einen Schulverweis und ebenso Hausarrest bekommen. In dem Gespräch mit der Mutter (die längste Szene mit der Mutter im gesamten Film) erklärt er, dass er einen Teleskopschlagstock mit sich herumgetragen hat, falls ihn auf dem Weg ein Nazi angreift. Die Mutter hat kein Verständnis für seine Argumente und macht ihm noch einmal deutlich, dass er jetzt Post von der Polizei bekommen wird und es sich auch negativ auf seinen Aufenthaltsstatus auswirken wird, wenn er Probleme mit der Polizei bekommt. Die Mutter spricht zum ersten Mal direkt mit dem Kamerateam und erzählt, dass es für sie ein Schock war, als der Brief von der Polizei ankam, und dass Maradona selber ganz genau wisse, dass das nicht gehe und man ihm nicht alles sagen müsse, weil er groß genug sei. Man merkt dem Gespräch sehr genau an, wie gern sie ihren Sohn hat, der im Sessel sitzt und währenddessen mit der kleinen Schwester spielt. Als er sich danach für eine Pro-Palästina-Demonstration anzieht, ja fast verkleidet, muss sie über ihn und sein Outfit lachen. Die Mutter nimmt den pubertierenden Sohn nicht ernst, er sich selbst jedoch sehr wohl (01:04:4001:07:18). Die letzte Viertelstunde des Films thematisiert die Veränderung von Maradona. Filmisch erzählt wird diese Umkehr über eine Videoaufnahme: Maradona ist als Kleinkind zu sehen, er zeigt seinem Vater, wie er tanzen kann (01:16:00ff.). Und Maradona sagt aus dem Off, während wir ihn beim Beten sehen: „Also ich hab jetzt den Punkt für mich erreicht, wo ich sage: okay. Jetzt muss ich aufhören. [...] Ich weiß, wenn was passiert, dann wird es schlimm sein.“ (01:16:25-01:16:32) Dann wechselt die Musik zu der Titelmusik und Maradona fügt hinzu: „Man muss sich auch ein richtiges Ziel setzen und das dann durchsetzen.“ (01:16:44ff.) Maradona beginnt also mit dem Training, und der Tanz wird für ihn so etwas wie der Kampf für Rocky Balboa.6 So finden sich in diesem letzten Teil des Films auch filmische Verweise auf Rocky (USA 1976, R: John G. Avildsen, L: 119 min), wie das immer wiederkehrende morgendliche Joggen (teilweise in Slow Motion) in der Großstadt mit anschließendem Trainieren. In mehr als zwei Minuten wird der Rezipient nur über Musik und Bild an sein filmisches Gedächtnis erinnert. Es wird ähnlich wie bei Rocky eine Zeitraffung beziehungsweise ein Vergehen von Zeit über den Wechsel der Jahreszeiten
6 | Rocky (1976) von John G. Avildsen ist mit Silvester Stallone in der Hauptrolle zum Kultfilm des Sport- beziehungsweise Boxerfilms avanciert. Der mittellose Boxer R ocky Balboa, der italienische Vorfahren hat, wird per Zufall aufgrund seiner Herkunft für einen Schaukampf gegen den Weltmeister ausgewählt. Er begreift dies als „Chance seines Lebens“ und investiert alles in die Vorbereitung auf den Kampf, aber nicht um des Sieges willen. Der Film wurde zum Symbol für Kampfgeist und ist zudem eine Aufsteigergeschichte.
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dargestellt. Dies geschieht nicht so konsistent wie in einem Spielfilm, aber Maradona joggt etwa einmal im Schnee und mit dem nächsten Schnitt im T-Shirt. Dazwischen macht er Liegestütze oder sonstige körperliche Übungen und tanzt. Die in den Vordergrund gerückte Konsequenz des Trainings von Maradona suggeriert eine andere Lebenseinstellung, zuvor nicht dagewesene Disziplin und Durchhaltevermögen – die Wandlung Maradonas im Tanztraining wird versinnbildlicht. Hier entspricht der Film in keinster Weise den üblichen Erzählverfahren des dokumentarischen Films. Es werden deutliche Bezüge zum Sportund Tanzfilm-Genre des US-Kinos hergestellt, Maradona wird in dem Film eher wie der Held eines Hollywoodfilms inszeniert. Hier liegt vermutlich außerdem eine Selbstinszenierung der Protagonisten vor. Sie setzt ähnliche Verfahren ein, wie die Selbstinszenierung von Mitgliedern der Hiphop- Community. Der Körper und dann später der tanzende Körper werden hier zum Symbol für Willenskraft und Durchhaltevermögen. Auf einer weiteren Ebene symbolisiert das disziplinierte körperliche Training den Wunsch, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Das erzählt der Film in erster Linie über eine körperzentrierte-sinnliche Ebene und nicht über Interviews, auch wenn Gesprächspassagen auch eine Rolle spielen. Die letzten 15 Minuten des Films werden sehr von der Bildgewalt dominiert. Es stehen die Breakdance-Meisterschaft, an der Maradona und Hassan teilnehmen, und am Ende die Streetdance-Competition in Berlin im Vordergrund. Hier gibt der Film dem Moderator des Festivals das letzte Wort und lässt ihn eine der zentralen Aussagen des Films formulieren: MODERATOR: „Berlin sieht so aus wie alles hier im Publikum. Wir sind eine Stadt, in der 180 Nationen, Menschen aus 180 Nationen zusammenleben. Wir sind eine Stadt, in der inzwischen jeder zweite Jugendliche Eltern hat, die im Ausland geboren sind. Wir sind eine kunterbunte Stadt, und die Frage ist: Warum geht es nicht immer so gut wie hier im Saal? Wir reden ja so viel: Was ist eigentlich die gemeinsame Sprache in der Stadt? Ich glaube, wir haben heute gesehen: Hiphop ist es and Streetdance ist es.“ (01:29:33-01:30:03)
Die Rede des Moderators unterstreicht eine weitere Funktion des Tanzes: über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg ein Mittel der Verständigung zu sein, das betont erneut die sinnlich körperliche Rezeption, die auch der Film anstrebt.
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4.3 R esümee : F ilm als R aum für I dentitätsverhandlung Neukölln unlimited erzählt auf eine wahrlich erfrischende Art und Weise die Geschichte von drei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Dabei stellt der Film dem Trauma der Abschiebung die Persönlichkeiten der Protagonisten gegenüber. Dies geschieht weniger auf einer intellektuell-reflexiven als auf einer körperlich-sinnlichen Ebene. Das ist unter anderem der Thematik sowie dem Vorführen von Tanz und Musik, das heißt konkret Hiphop, Rap, Breakdance und Streetdance, geschuldet. Neukölln unlimited ist eine Heldengeschichte. Der ‚Gegner‘ bleibt sehr unpersönlich, wird nie persönlich angreif bar und ist vielleicht das ‚Unsinnlichste‘, was man sich in unserer Gesellschaft vorstellen kann: die deutsche Bürokratie. Hinzu kommt die Wirkmacht der Re-Inszenierung respektive Hinterfragung von Stereotypen. Diese geschieht primär über die (Selbst-)Inszenierung Maradonas als ‚Gangster‘ und über eine explizite Thematisierung insbesondere im Text von Hassan. Darüber hinaus die inszenatorische Nähe zu Sportund Tanzfilmen. Hier werden interfilmische Bezüge angeregt. Die Nähe dient primär der Darstellung von Maradonas Wandlung und damit dem Spannungsbogen. In den Vordergrund treten daneben immer wieder tanzende Körper, die zumeist Hiphop oder Breakdance tanzen. Akrobatik und Coolness der Bewegung stehen dabei im Vordergrund. Vielleicht ist die Erzählweise dieses Films mit den verschiedenen Tanzformen selbst vergleichbar, da der Film weniger einen konsistenten Handlungsstrang oder eine konsistente Chronologie verfolgt (selbst einzelne Aussagen erscheinen manches Mal im Kontext unlogisch), sondern sich mehr auf eine körperliche Ausdrucksebene verlegt. In der Filmhandlung selbst dient Tanz den Personen als Mittel, um gesellschaftlichen Status zu erlangen und traumatisierende Erlebnisse zu verarbeiten. Als filmisches Mittel dient der Tanz dazu, die emotionale Seite von Personen zu zeigen (‚Traumsequenz‘ mit Vogeltanz von Maradona). Damit macht der Rückgriff auf Tanz es möglich, eine anders schwer darstellbare Dimension (die Innerlichkeit von Personen) darzustellen. Die Passagen, in denen Hassan erzählt, sind textlich am Rap orientiert und bildlich durch die Animation unterstützt. Diesen kommt auch in diesem Film die Aufgabe zu, das schwer Vorstellbare und Vergangene erzählbar zu machen. Hassan kommt hier die Funktion des Erzählers zu, die er als Rapper im Hiphop ebenfalls innehat. Der Erzähler ist stark beteiligt an der Konstitution und Selbstkonstruktion der Community, so wie Hassan hier an derjenigen seiner Familiengeschichte. Letztendlich ist der Film auch ein Film über Familie und Familienzusammenhalt. Es werden nie andere Personen befragt, sondern die Themen und die Kommentare entstehen beziehungs-
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weise erfolgen ausschließlich durch Familienmitglieder. Dadurch aber, dass die Protagonisten ihre Schilderungen, Ansätze, Meinungen im Gespräch mit ihren Freunden oder Familienmitgliedern entwickeln, hat man das Gefühl eines stimmigen Gesamtbildes. Das ist eine spezifische Technik, die häufig bei Porträts verwendet wird. Ich würde sagen, dass so eine „verdeckte Subjektivität“ in den Realszenen vorherrscht, im Gegensatz zur eindeutig subjektiven Realität in den Animationen. Meines Erachtens haben sich die Protagonisten den Film als Raum angeeignet, um ihre Anliegen unterhaltsam zu vermitteln. Das ist weniger ein Film über die Familie Akkouch als von der Familie Akkouch. Und so wird der Film zum Ort, an dem Identität konkret verhandelt und aufgezeigt wird. Vielleicht wird das Medium selbst, so wie möglicherweise auch der Tanz, nicht nur zum Mittel, um sich Heimat anzueignen, sondern zur Heimat selbst. Hier geht der Film über klassische Konzepte des Dokumentarischen hinaus und wird zum Raum der Entgrenzung. Damit eröffnet er ein Spannungsfeld zwischen Dokumentation und Imagination auf inhaltlicher und formaler Ebene.
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5. I r an : E lections 2009/The G reen W ave Iran: Elections 2009/The Green Wave (D 2010, R: Ali Samadi Ahadi, L: 52/80 Min.) von dem iranisch-deutschen Filmemacher Ali Samadi Ahadi ist eine Collage, ein Experiment, geschuldet der politischen Situation in seinem Heimatland, aus dem er als Kind nach Deutschland fliehen musste. Bekannt geworden ist Ali Samadi Ahadi mit seinem Dokumentarfilm Lost Children (D 2005, R: Ali Samadi Ahadi, L: 103 Min.) über Kindersoldaten in Uganda, mit dem er 2006 den Deutschen Filmpreis in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ gewann, und mit seiner Cultural-Clash-Komödie Salami Aleikum (D 2009, R: Ali Samadi Ahadi, L: 106 Min.), für die er 2009 auf der Berlinale den Preis der Deutschen Filmkritik in der Kategorie „Bester Debütfilm“ bekam. Der Regisseur hat demnach sowohl im dokumentarischen als auch im fiktionalen Sektor gearbeitet, bevor 2010 seine Fernseh- und 2011 seine Kinodokumentation Iran: Elections 2009/The Green Wave1 veröffentlicht wurden. Die 52-minütige Fernsehauskoppelung hatte am 16. Juni 2010 im Museum Ludwig in Köln Premiere; eine Woche später, am 22. Juni 2010, folgte die Erstausstrahlung im deutsch-französischen Fernsehprogramm auf Arte. Als Kinofilm kam der Film in einer 80-minütigen Fassung mit dem Titel The Green Wave Anfang 2011 in die deutschen Kinos. In Iran: Elections 2009/The Green Wave werden die Erlebnisse zweier fiktiver Protagonisten – Kaveh, ein 21-jähriger junger Mann, und die 23-jährige Azadeh, Medizinstudentin und Freiwillige in einem Wahlbüro von Mussawi 1 | Die deutsche Fernsehpremiere wurde mit dem Titel I ran : E lections 2009 ausgestrahlt; die Kinoversion kam mit dem Titel The G reen Wave auf den Markt. Die Filmversion, mit der ich im Folgenden vornehmlich arbeite, ist eine Aufzeichnung der Fernsehfassung I ran : E lections 2009. In Kenntnis der Kinoversion The G reen Wave kann ich sagen, dass nicht nur Technik und Dramaturgie übereinstimmen, sondern auch die zentralen Szenen identisch sind. In beiden Fällen beziehe ich mich auf die deutsche Version, in der die animierten Protagonisten Deutsch sprechen und bei der für die auf Persisch oder Englisch geführten Interviews mit Autoritäten deutsche Untertitel eingeblendet werden. Sekundärliteratur, wie Artikel, Pressematerialien etc., beziehen sich auf The G reen Wave , sind aber ohne Abstriche zu verwenden.
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– während der Grünen Revolution2 im Iran erzählt. Die Erzählungen und Erlebnisse dieser beiden Hauptfiguren speisen sich aus verschiedenen Blogeinträgen aus dem Iran vor, während und nach der Präsidentschaftswahl im Iran. Die beiden jungen Protagonisten stehen also symbolisch für eine junge Generation im Iran, die auf Veränderung mit der Präsidentschaftswahl gehofft hat und deren Enttäuschung sich später in Protesten manifestiert. Die Figuren werden in einer Collagetechnik animiert. Beide Figuren werden grob in einem Alltag verortet, erzählen aber vor allem von Erlebnissen und Begegnungen während dieser Zeit im Iran. Kaveh wird verhaftet, im Gefängnis Kahrizak misshandelt und später wieder frei gelassen. Azadeh sieht im Krankenhaus viele Menschen sterben und hat auch Kontakt zu Tätern; so zu ihrem Cousin, der als Milizionär für viele Verbrechen mitverantwortlich ist. Ziel dieses Kapitels ist es, anhand des Films Iran: Elections 2009/The Green Wave die filmische Strategie der Animation zu verdeutlichen sowie ein erstes Beispiel für die Verwendung und Bedeutung von Handyvideos im Dokumentarfilm aufzuzeigen.3 Daneben soll im Folgenden auch eine Diskussion zur gesellschaftlichen Bedeutung des „bewegten“ Bildes geführt werden. Das heißt auch, Fragen zur politischen Bedeutung von Bildern beziehungsweise Ton-Bildern zu stellen. Im Konzept und in den Bildern des Films greift Samadi Ahadi die Mediensituation im Iran während der Proteste im Sommer 2009 auf. Der Film hat nicht nur die politischen Wahlen und die Twitter-Revolution/Grüne Revolution im Iran zum Thema, sondern korrespondiert mit diesem Inhalt auch auf einer formalen Ebene. Es findet sich ein breites Spektrum an Quellen und Autoritäten: Talking Heads, Twitter-Nachrichten, Footage, Fernsehaufnahmen, Videos von Mobiltelefonen. Diese Zusammensetzung spiegelt die heterogene Infor2 | In dem Film I ran : E lections 2009 wird die Farbe Grün von Anfang an thematisiert. So fallen Kaveh Menschen in den Straßen auf, die sich „grün angemalt oder grün angezogen hatten“ (00:01:08ff.). Dabei wird deutlich gemacht, dass dies Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussawi sind. Dieser äußert sich in einer Szene, die ihn bei einer Rede zeigt, selbst zu der Symbolkraft der Farbe: „Der grüne Schal, den sie mir um den Hals gelegt haben, symbolisiert für mich eine besondere Verantwortung. Denn das ist die Fahne des Islam, und jeder, der diese Fahne trägt, hat eine schwere Bürde zu tragen.“ (00:02:50-00:03:24) Als nach den Wahlen vom 12. Juni 2009 Mahmud Ahmadinedschad als klarer Wahlsieger hervorgeht, vermuten Mussawi und seine Anhänger Wahlbetrug. Bei den darauffolgenden Protesten tragen wiederum viele Menchen einen grünen Schal. Auch im Zusammenhang mit Azadeh wird die Farbe oftmals aufgegriffen, so auch gleich bei Einführung der Protagonistin (00:01:45ff.) 3 | Dieses Thema wird auch in dem Film B urma VJ von Anders Østergaard aufgegriffen. Hier werden auch Ansätze zum Bürgerjournalismus und seiner politischen Bedeutung weiter ausgeführt.
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mationslage während der iranischen Proteste. Auch das im Sommer 2009 allseits bekannte Video von Neda Agha-Soltan4 wird gezeigt. Im Juni 2009 sprachen die Medien weltweit von einer ‚Twitter-Revolution‘ im Iran. Damit meinten sie die Organisation und mediale Verbreitung der iranischen Proteste über soziale Netzwerke im Internet. Dies war laut der Berichterstattung die einzige Möglichkeit, eine weltweite Öffentlichkeit beziehungsweise Internetgemeinschaft zu erreichen, während es im Land verschärfte Restriktionen für in- und ausländische Journalisten gab, die Berichterstattung untersagt wurde und einige Webseiten sowie SMS-Dienste gesperrt wurden. Heute können wir durch wissenschaftliche Arbeiten zu den Protesten im Iran einerseits ein differenzierteres Bild von den politischen Ereignissen und der medialen Situation im Iran zeichnen sowie andererseits weitere Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, den Arabischen Frühling, als weitere Referenzpunkte hinzuziehen. Die hervorstechendste Strategie des Films sind die beiden bereits erwähnten fiktionalen Protagonisten, deren Charaktere und Worte auf Blogeinträgen von jungen Iranern während der Wahlen und speziell während der Revolte danach basieren. Der Text, den Samadi Ahadi seinen Protagonisten in den Mund legt, besteht also aus Zitaten aus vielen verschiedener Blogs. Mit der Stimme einer Generation entwickelt der Regisseur so zwei authentische Lebensgeschichten vor dem Hintergrund des im Film thematisierten Zeitgeschehens. Diese filmische Strategie wird in der vorliegenden Analyse in Hinblick auf ihre Bedeutung für den Film, eine gesellschaftliche Entwicklung und einen interdisziplinären Bilddiskurs analysiert und interpretiert. Dabei wird das Phänomen des Bürgerjournalismus beleuchtet und es werden Internet-Videos und Blogs als Quellen für mediale Berichterstattungen hinterfragt. Diese Ansätze sowie Überlegungen zur Bedeutung einer Handyvideo-Ästhetik und einer Authentifizierung über den Ton leiten über zu theoretischen Überlegungen zu einer Körper- und Bildanthropologie, welche insgesamt eine weitere Facette neuer Strategien im dokumentarischen Film aufzeigen sollen. Dabei wird versucht, Überlegungen zur Wahrnehmung im Film auf eine breitere Diskursebene zum Thema Zeigen und Sehen, Nicht-Zeigen und Fühlen zu heben.
4 | Der Tod einer jungen Iranerin, Neda Agha-Soltan, während der Proteste wird mit einem Handy aufgezeichnet und in die Welt geschickt. Gleichzeitig wird eine Geschichte um das Opfer gewebt und verbreitet. Es soll sich um eine junge, nicht-politische Studentin handeln, die mehr oder weniger zufällig auf ihrem Weg zum Musikunterricht von skrupellosen Handlangern des Staates (Polizei/Militär) quasi wahllos niedergeschossen wird. Es wird eine Erzählung außerhalb des Bildes geschaffen, die ebenfalls über das Internet verbreitet wird.
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5.1 E xkurs : D ie „B loggernation “ Da sich der Film Iran: Elections 2009 stark auf Blogeinträge zur Zeit der Präsidentschaftswahl 2009 stützt, möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zu Thema „Bloggen“ im Iran vornehmen. In autoritären Herrschaftssystemen wie dem Iran, in denen öffentliche Kritik und freie Medienberichterstattung nahezu unmöglich sind, unterliegen Medien und somit auch das Internet Restriktionen. Dennoch bietet das Internet als „anarchisches Kommunikationssystem“ (Nasseri 2007: 22) im Gegensatz zu anderen Medien noch einen gewissen Spielraum für freie Meinungsäußerung und Informationsbeschaffung. Ein weiteres Merkmal des Internets ist seine Globalität, seine grenz-überschreitende Technik und damit die Überwindung von Staatsgrenzen, wie die im Film verhandelten Proteste verdeutlichen. Um die Informationslage im Iran während dieser Zeit auf den Punkt zu bringen, möchte ich Aydin Nasseri zitieren: „Die gesamten Bereiche des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen sowie öffentlichen Lebens werden durch islamische Vorschriften und Regeln eingeschränkt. Hinzu kommt das Feindbild vom Westen, welches in allen Massenmedien mittels staatlichen Dekrets reglementiert und propagiert wird. Die iranischen Machthaber haben sich zur Aufgabe gemacht, die Privatsphäre der Bevölkerung vor westlichen Einflüssen ‚zu schützen‘, indem sie den Besitz von Satellitenschüsseln verbieten sowie das öffentliche Leben durch die ‚Basijis‘ (Sittenpolizei) kontrollieren lassen. Zudem soll die staatliche Zensur in den Printmedien bewirken, dass keine Kritik am Staatswesen in die Öffentlichkeit vordringt […]. In diese streng nach islamischen Vorschriften geregelte Gesellschaft tritt das Internet als neues Informations- und Kommunikationsmittel hinzu und stellt der realen iranischen Welt eine virtuelle globale Welt gegenüber, welche nur schwer zu kontrollieren ist“ (Ebd.: 173)
Es formieren sich also unterschiedliche Informationskanäle mit unterschiedlichen Zielführungen, die zu Diskrepanzen zwischen den Informationen im Netz und denen der staatlichen Kontrolle führen. Denn die Medien werden, soweit möglich, vom Regime zu Zwecken der „Herrschaftslegitimation und -stabilisierung“ (Rawan 2000: 458f.) gelenkt. Reporter ohne Grenzen resümieren über den Iran: „In den acht Jahren der Präsidentschaft Mahmud Ahmadinedschads (2005-2013) sind – nach einer relativen Entspannung unter dem Vorgänger Mohammed Khatami – mehr als 200 Zeitungen geschlossen worden. Mehr als 300 Journalisten und Online-Aktivisten wurden willkürlich festgenommen, gefoltert oder zu lang jährigen Haftstrafen verurteilt.“ (Reporter ohne Grenzen 2014: o.S.)
So könnte das Internet zwar theoretisch eine globale, unzensierte Gegenöffentlichkeit darstellen, doch vor allem politische Inhalte werden im Iran auch dort
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zensiert. Hinzu kommt, dass in den strukturschwachen ländlichen Gegenden die Menschen nur schwer Zugang zum Internet haben. Damit ist das Internet nicht allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen gut im Iran zugänglich (Nasseri 2007:106) Besondere Bedeutung hat das Internet trotz aller Widerstände für zwei Gruppen: für kritische Journalisten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Journalisten sehen hier eine Möglichkeit freier und unabhängig von den systemkonformen anderen Massenmedien, das heißt vor allem durch den Schutz der Anonymität, über Missstände in ihrem Land zu berichten. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei Nichtregierungsorganisationen zu, da sich Teile der reformorientierten Bevölkerung zunehmend in diesen engagieren und diese sich im Netz organisieren und präsentieren (Nasseri 2007: 174f.). Es wird hier ein Stück Demokratie im Alltag gelebt, und es findet eine Vernetzung innerhalb der Bevölkerung statt. Aber auch darüber hinaus hat sich eine nicht zu verachtende Demokratiebewegung im Netz gebildet, die vor allem von der jungen Generation im Iran vorangetrieben wird. „Im September 2001 stellte Hossein Derakhshan5, ein junger iranischer Journalist, der kurz zuvor nach Kanada gezogen war, eines der ersten Internet-Tagebücher, ein so genanntes Weblog, in seiner Muttersprache Farsi ins Netz. Auf die Bitte eines Lesers hin erstellte Hossein außerdem eine einfache Anleitung auf Farsi, wie man einen Weblog führt. Zunächst nur das bescheidene Ziel verfolgend, anderen Iranern eine Stimme zu verleihen, rief er damit eine ganze Community ins Leben.“ (Alavi 2005: 11)
So der erste Abschnitt in Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs – Die junge persische Weblog-Szene von Nasrin Alavi. Mithilfe vieler Blogeinträge von teilweise sehr bekannten iranischen Bloggern – oftmals Journalisten und Aktivisten –, aber auch von Unbekannten und einem kontextualisierenden Begleittext gibt Alavi Einblick in die vielschichtige Bloggerszene des Iran. Laut Alavi ist im Jahr 2004 Farsi die vierthäufigste Sprache, in der Blogs verfasst sind. Sie spricht davon, dass auf „dem NITLE Blog Census von 2004 [...] mehr als 64.000 Blogs in Farsi [existieren] [...]“ (ebd.). Das Bloggen im Iran ist und war zumindest eine Möglichkeit, die strenge Zensur zu umgehen, und so haben neben ‚Normalbürgern‘, die öffentlich Tagebuch geführt haben, auch professi5 | Hier handelt es sich um den so genannten „Urvater“ der iranischen Blogszene Hossein Derakhshan. Derakshan, der die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt, wurde am 1. November 2008 bei der Einreise in den Iran verhaftet und zu 19 Jahren Haft verurteilt. Nach sechs Jahren wurde er 2014 begnadigt und aus der Haft entlassen. Weitere Informationen dazu: PEN-Zentrum Deutschland, http://www.pen-deutschland.de/ de/2014/11/25/iran-blogger-hossein-derakhshan-aus-der-haft-entlassen/, l etztmalig aufgerufen am 14.11.2015.
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onelle Journalisten ihre Reportagen ins Netz gestellt. Außerdem koordinierten politische Gruppen über Blogs ihre Aktivitäten (ebd.:12). Im Internet findet sich die Seite www.iraniansblogs.com6, die einen Überblick über englischsprachige Blogs von Iranern innerhalb und außerhalb des Landes bietet. Im Jahr 2015 steht der Iran laut „Reporter ohne Grenzen“ mit 16 inhaftierten Journalisten nach China (23 Inhaftierte) und Ägypten (21 Inhaftierte)7 an dritter Stelle des Barometers der Pressefreiheit. Zwanzig Bürgerjournalisten und Online-Aktivisten sind im Iran in Haft, das ist die zweite höchste Zahl hinter dem Spitzenreiter China mit 848. Am 14.07.2015 schreibt Reporter ohne Grenzen: „Der Iran betreibt eines der ausgefeiltesten Systeme der Internetzensur und -überwachung, das in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschärft wurde. Facebook, Twitter und YouTube sind offiziell blockiert. In Zeiten von Unruhen und Demonstrationen werden regelmäßig Internetseiten gesperrt oder der gesamte Internetverkehr – bei Bedarf auch das Mobilfunknetz – gedrosselt. Insgesamt sollen mehrere Millionen Webseiten blockiert sein. Als mittelfristiges Ziel propagiert die Regierung seit 2011 die Schaffung eines ‚halalen‘, vollständig staatlich kontrollierten Internets. Ende 2011 wurde eine Liste von 25 ‚Internet-Verbrechen‘ eingeführt, darunter etwa Aufruf zum Wahlboykott und Veröffentlichung von Oppositionslogos. Anfang 2012 wurden erstmals im Iran vier Internetaktivisten zum Tode verurteilt.“ (Reporter ohne Grenzen 2015: o.S.)
Zahlreiche Iraner nehmen diese Risiken in Kauf und schreiben offen im Internet über ihr Leben, über Repressalien und ihre politischen Interessen schreiben. So findet im Zeitalter des WEB2.0 verstärkt eine Form von Bürgerjournalismus statt. In der Zeit vor der Präsidentschaftswahl 2009 war die Bloggerszene im Iran, wie wir wissen, äußerst aktiv und „[…] wurde zu einem wichtigen Lebensnerv der Revolution“ (Presseheft The Green Wave 2010: 8). Der Film Iran: Elections 2009/The Green Wave ist ein Beleg dafür. Durch Blogs werden wir mit den Meinungen und Intimitäten von für uns im realen Leben zumeist nicht bekannten Menschen konfrontiert, die ihr Leben, ihr Wissen, ihre Empfindungen und ihre Erfahrungen mit uns teilen. Grundsätzlich hat man keine Möglichkeit, diese Informationen im Detail zu überprüfen. Aber mithilfe dieses intimem Schreibstils und der Möglichkeit, 6 | Letztmalig aufgerufen am 21.11.2015. 7 | Reporter ohne Grenzen 2015a: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/barometer/ 2015/journalisten-in-haft/, letztmalig aufgerufen am 21.11.2015. 8 | Reporter ohne Grenzen 2015b: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/barometer/ 2015/online-aktivisten-und-buergerjournalisten-in-haft/, letztmalig aufgerufen am 21.11.2015.
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unterschiedliche Perspektiven dieser Art zu einem Thema einzusehen, setzen sich so Details zu einem großen Bild wie Steinchen zu einem Mosaik zusammen. Im Fall einer politischen Bewegung kann dieser Mechanismus Bedeutung erlangen, wie im Iran geschehen. Dieses Phänomen einer Authentizität basierend auf Internetinformationen und Augenzeugenschaft kann die Bilder unserer Zeit und auch ihre politische Bedeutung verändern.
5.2 E xkurs : D er A r abische F rühling „Wir haben im Iran mehr als eine Rebellion erlebt. Es ist ein Erdbeben, eine demokratische Flutwelle, die unwiderruflich nicht nur die Zukunft des Iran, sondern des ganzen Mittleren Osten ändern wird.“ (00:48:02-00:48:17)9 So der Jurist Prof.Dr. Payam Akhavan gegen Ende des Films Iran: Elections 2009. Inwieweit die Ereignisse im Iran im Sommer 2009 tatsächlich Einfluss hatten auf die politischen Ereignisse in Tunesien im Dezember 2010 und darauffolgend in Ägypten, Algerien, Marokko, Libyen, Syrien, Libanon, Jordanien, Jemen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, ist unklar. In der deutschen Rezeption der Ereignisse wurde in der Regel keine Verbindung zwischen den Ereignissen im Iran 2009 und denen des arabischen Frühlings hergestellt. Eine Ausnahme wurde allerdings zum Kinostart von The Green Wave am 24. Februar 2011 gemacht. Und so hat es der Film am 23. Februar 2011 in die Tagesthemen ‚geschafft‘. Sprecher Tom Buhrow leitete den Beitrag zum Film wie folgt ein: „Und zum Ende unserer Sendung kommen wir noch mal auf die Freiheitsbewegung in der muslimisch geprägten Welt zurück. Ein Film erinnert jetzt an deren Auftakt vor zwei Jahren im Iran. Doch im Gegensatz zu der Jasmin-Revolution in Tunesien oder dem Sturz Mubaraks in Ägypten wurde die Grüne Revolution im Iran von den Schergen des Regimes Ahmadinedschads niedergeschlagen. Zumindest vorerst. Diese dramatischen Tage hat der in Köln lebende Regisseur Ali Samadi Ahadi in der WDR-Koproduktion The G reen Wave mithilfe von Filmen und Fotos von Demonstranten rekonstruiert.“ (Tagesthemen vom 23.02.2011, 23 Uhr: 00:25:02-00:25:34)
In dem Beitrag wird im weiteren Verlauf die politische Dimension des Films betont. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Quellenlage, das heißt auf die Blogs als Ursprung der Animation gelenkt.
9 | Soweit nicht anders gekennzeichnet beziehen sich sämtliche in diesem Kapitel angeführten und mit Zeitangabe versehenen Szenen/Dialoge auf den Film I ran : E lections 2009. Sofern eine deutsche Untertitelung vorhanden ist, entspricht der Text dieser.
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Die gleiche Sendung beginnt mit einem Beitrag zur Lage in Libyen. Der Beitrag wird visualisiert von unter anderem vermutlich Handyvideos, oben links im Bild erscheint dazu der Schriftzug: „Amateurvideo via Internet“. Dazu beginnt der Sprecher des Beitrags (Stefan Mayer) wie folgt: „Tausende aufgebrachte Demonstranten in Tripolis, der Hauptstadt des Landes. Es sind Amateuraufnahmen, überprüfen lassen sie sich nicht. Doch die Proteste werden offenbar selbst an Gaddafis Regierungssitz immer heftiger [...] Heimlich gedrehte Bilder zeigen, wie sie durch die Straßen patrouillieren [...].“ (Ebd.: 00:01:02-00:01:35) Heimlich gedrehte Bilder, die sich nicht überprüfen lassen und doch mehr Glaubwürdigkeit haben als die glatten Fernsehbilder, die wir sonst in den Nachrichten sehen. Auch wenn kenntlich gemacht wird, dass es sich um „unüberprüf bare Internet-Videos“ handelt, brennen sich die Bilder ins Gedächtnis, und die Quelle wird nicht unbedingt mit abgespeichert. Es wird durch diese Bilder, vornehmlich Internet-Videos, eine Öffentlichkeit geschaffen für die Bilder einer politischen Situation, die sich unmittelbar in das globale kulturelle Gedächtnis einprägen. Alle großen Nachrichtenagenturen der demokratischen Welt zeigen solche Bilder von Augenzeugen. So bekommen diese offenkundigen Augenzeugen und Internetaktivisten einen wichtigen politischen Status. Dabei findet eine neue Authentizität in der Bildsprache ihren Ausdruck: Das verwackelte Internet-Video erlangt – trotz seiner schwierigen Überprüf barkeit – einen hohen Wahrheitsanspruch. Im Iran haben solche Videos entscheidend die Medienmeinung mitgestaltet. Auch in Tunesien und Ägypten etwa spielten Internetaktivisten und die Verbreitung von Informationen und Protestvideos via Web eine große Rolle. Und zwar nicht nur während der Proteste, sondern auch schon vorher. Die engagierten Jugendlichen in Tunesien beispielsweise werden wie folgt charakterisiert: „Zudem sind die Protagonisten dieser Revolution gut ausgebildete Jugendliche beiderlei Geschlechts, oft dem Mittelstand angehörig, die in der Moderne ankommen wollen, nicht in der Vergangenheit. Über al-Dschasira, Facebook und Twitter wissen sie, was ein Gottesstaat bedeutet, wie verzweifelt ihre iranischen Altersgenossen gegen das Regime kämpfen.“ (Schmid 2011: 35)
Hier geht es darüber hinaus auch um die Verbreitung von Informationen via Netz. Von einer „elektronischen Revolution“ spricht gar Nordhausen, wenn er zur Lage in Ägypten resümiert: „Doch etwas hat sich geändert. Es hat zu tun mit dem Erfolg der aufständischen Tunesier, mit dem demografischen Wandel, der Herausbildung einer Zivilgesellschaft – und der elektronischen Revolution: Viele junge Leute, vor allem in den Metropolen, sind von den Verhältnissen angeödet, aber sie sind online, haben Mobiltelefone und Netbooks.
5. I r an : E lec t ions 2009/The G reen W ave Rund 17 Millionen Ägypter bewegen sich bereits im Internet, fünf Millionen sind bei Faceb ook registriert. Es ist ein junges Volk: Die Hälfte der offiziell 83 Millionen Einwohner sind unter 25 Jahren, viele haben Universitätsabschlüsse, aber keine Arbeit.“ (Nordhausen 2011: 38)
So unterschiedlich die politischen Situationen und gesellschaftlichen Bedingungen in den arabischen Ländern auch sind, so unterschiedlich die Auslöser für die Proteste und so unterschiedlich die Ziele der Proteste und auch die Reaktion der jeweiligen Machthaber und der Weltgemeinschaft, so findet sich eben doch eine Gemeinsamkeit in den Mitteln: Das Internet als eher demokratisch-anarchisches Medium wird genutzt, um Informationen und Bilder trotz politischer Unterdrückung einer Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei haben diese Blogs und Internetvideos eine neue Authentizität gewonnen, die sie aus ihrem Augenzeugen-Charakter generieren. Die mediale Verbreitung dieser Bilder führt zu einer veränderten Wahrnehmung von Bild und Ton, wie sich zeigen wird.
5.3 C oll age technik des F ilms Um den Strategien des Films in der folgenden Analyse folgen zu können, soll an erster Stelle eine detaillierte Beschreibung der ersten sechs Minuten der deutschen Fernsehfassung Iran: Elections 2009 stehen.10 Wir befinden uns mit Kaveh – einem der Protagonisten, der am Anfang des Films mittels Prolog in die Geschichte eingeführt wird – und seinem Freund sowie einer Frau und dem Taxifahrer im Taxi in einer animierten Sequenz. Die Insassen reden über die anstehenden Wahlen und schon hier wird das Thema der Wahlmanipulation angedeutet: Es werde dafür gesorgt, so die unbekannte Frau im Taxi, dass „genau der, den sie [die Machthaber, V.M.] wollen, aus den Urnen rauskommt. Das ist doch nicht richtig.“ (00:04:00-00:09:00) Darauf folgt ein Schnitt zu dem schiitischen Geistlichen Dr. Mohsen Kadivar. Das Interview mit Kadivar gestaltet sich wie ein klassisches Talking-Head-Interview, das durch das Setting wie ein Interview mit der Persönlichkeit eines großen Konzerns oder mit einem Politiker in einer großen Halle wirkt. Die Kamera wählt als Bildausschnitt eine Halbtotale und verleiht dadurch und zugleich durch die statische Position dem Interviewpartner Kadivar Autorität. Kadivar lässt keinen 10 | Da der Kinofilm erst während meiner Arbeit zu diesem in die Kinos kam, diente mir eine private Aufzeichnung der TV-Austrahlung als Grundlage für meine Analyse. Diese Aufzeichnung beginnt jedoch laut Protokoll erst nach ca. 5 Minuten Vorspann mit 00:00:00. Die erste Szene zeigt die animierte Taxifahrt des Protagonisten und beginnt mit den Worten der unbekannten Frau: „Zuerst suchen sie ihre Leute aus…“
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Zweifel an seiner Haltung: „In den ersten vier Jahren unter Ahmadineschad wurde der Iran vom Lumpenproletariat regiert. Man kann sogar von politischer Scharlatanerie im Namen der Religion sprechen.“ (00:00:10-00:00:27) Es ist festzustellen, dass mit der Einführung Mohsen Kadivar, der ersten Autorität im Film, eine politische sowie eine religiösen Stellungnahme zur iranischen Situation erfolgt. Diese entspricht der Haltung, mit der Mussawi seinen politischen Wahlkampf geführt hat. Im Wahlkampf wie auch im Film wurde beziehungsweise wird deutlich, dass es bei der Grünen Revolution nicht um eine Ablehnung religiöser Werte geht, sondern um eine Aufwertung demokratischer und menschenrechtlicher Werte. So ist auch die auf Kadivar folgende Interviewpartnerin, die Juristin und Friedensnobelpreisträgerin Dr. Shirin Ebadi, eine Autorität und schlüssig und aussagekräftig gewählt. Sie bringt die persönliche, die menschliche Dimension, die die politischen Umstände für die iranische Bevölkerung haben, ins Spiel: „Die Arbeitslosigkeit im Iran ist hoch, die jungen Leute haben es schwer wirtschaftlich gesehen.“ (00:00:2700:00:33) Die beide Interviewpartner stehen für eine politische Dimension der Ereignisse und für eine Verurteilung ebendieser aus menschenrechtlicher und religiöser Perspektive. Die darauffolgende Interviewpartnerin ist die Rechtsanwältin Shadi Sadr. Sie ist Exil-Iranerin, die – wie sich im Verlauf des Films zeigen wird – während der Ereignisse im Land war, verhaftet und verhört wurde und fliehen musste. Sie hat die Ereignisse ‚am eigenen Leib‘ miterlebt. Die Kamera emotionalisiert ihre Aussagen, indem bei ihr der Close-up gewählt wurde. Die Rechtsanwältin Shadi Sadr: „Ahmadineschad versprach dem Volk: mehr Wohlstand, Anteil am Profit der Erdölindustrie, mehr soziale Gerechtigkeit... Nichts davon wurde umgesetzt. Dafür hat sich die Situation verschlechtert bezüglich Demokratie, Freiheit und Menschenrechte.“ (00:00:33-00:00:53) Die letzte Beschreibung der Ausgangssituation im Iran in dieser Anfangssequenz bekommt der Zuschauer durch Mehdi Mohsen, einen Blogger und Journalisten, der vielleicht am meisten von all den gezeigten Personen für die Generation steht, die durch die animierten Figuren gezeigt werden soll. Er wird auf seinem Sofa vor seinem spärlichen Regal in der Halbtotalen gezeigt, so dass er sich fast im Raum und in dem Kamerabild verliert. Seine ersten Worte sind: „Die Regierung hat sich in alle Belange eingemischt, sogar den Zeitungen die Schlagzeilen diktiert. Eine beispiellose Unterdrückung in 30 Jahren Islamischer Republik.“ (00:00:53-00:01:03) Mit dem nächsten Schnitt befinden wir uns wieder mit dem animierten männlichen Protagonisten Kaveh im Taxi, der uns in einer Erzählerfunktion durch die Sequenz führt: KAVEH: „Unterwegs fielen mir junge und alte Menschen auf, Kinder mit ihren Eltern und Großeltern, die sich grün angemalt oder grün angezogen hatten; und je mehr wir
5. I r an : E lec t ions 2009/The G reen W ave uns dem Stadion näherten, umso zahlreicher wurden sie. Was ist da los, fragte ich meinen Freund.“ FREUND: „Mussawi hält dort eine Rede.“ KAVEH: „Antwortete er triumphierend.“ TAXIFAHRER: „Seinetwegen sind so viele Leute unterwegs, die kennen ihn doch gar nicht.“ (00:01:03-00:01:30)
Die Stimme des Protagonisten führt durch die Bilder und in die Ereignisse. Dabei stehen die Stimme, das heißt der Text, und die Bilder, das Gezeigte, in einem Spannungsverhältnis, das noch näher zu betrachten sein wird. An dieser Stelle zunächst nur eine Beschreibung: Es findet während der Überlegungen des Protagonisten eine langsame Überblendung zu einem Handyvideo – ein Video mit einer schlechteren Qualität – statt, in dem Menschen und Autos mit grünen Fahnen auf der Straße zu sehen sind. Es kommt auf der Tonebene eine vermeintlich „natürliche“ Soundkulisse hinzu: Straßensound, Stimmenwirrwarr, Autogehupe. Leise im Hintergrund beginnt eine der leitmotivischen klassischen Musiken. Dann wieder eine Blende in das Taxi und zurück. Die Musik im Hintergrund steigert sich, bis wir nach der Animation bei 00:01:30 eine Frontalansicht auf ein Plakat in einer professionell abgefilmten Realszene (vermutlich Fernsehmaterial) bekommen. Es ist das Gesicht von Mussawi. Die zweite animierte Figur wird, zunächst transparent, über das Videomaterial gelegt. Hier erscheint zudem eine Einblendung mit dem Schriftzug „BLOG 26.05.2009“ (00:01:45). An der Einführungsszene der zweiten Protagonistin, Azadeh, lässt sich deutlich die Collagetechnik aufzeigen. Während sie spricht, bewegt sich die Kamera innerhalb der abstrakt-statischen Animation, die immer wieder mit Realbildern verwoben wird. Im Hintergrund des gezeichneten Wahlbüros steht beispielsweise ein Fernseher, in dem wiederum Videomaterial aus dem Azadi-Stadion läuft, das wir später im Film zu sehen bekommen. Oder die animierte Protagonistin schaut aus dem Fenster und sieht eine „reale“ Demonstration auf der Straße. Azadeh spricht die Rezipienten direkt an, und es entwickelt sich ein Einblick in eine authentische exemplarische Biografie: AZADEH: „Ich heiße Azadeh, bin 23 Jahre und studiere Medizin im sechsten Semester in Teheran. Vor vier Jahren war ich politisch noch uninteressiert, aber die Ereignisse der letzten Jahre haben mich dazu gebracht, Position zu beziehen. Deshalb habe ich angefangen, als freiwillige Helferin in einem Wahlbüro von Mussawi zu arbeiten. Am Anfang kämpften wir dafür, dass die Leute sich überhaupt mit dem Programm von Mussawi auseinandersetzten. Ums Wählen ging es da noch gar nicht. Als wir die Sporthalle des Azadi-Stadions für unsere Kundgebung mieteten, hatten wir große
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Zwischen Dokumentation und Imagination Angst, dass wir den großen Saal nicht einmal zur Hälfte voll bekommen. Und dann kam der 23. Mai.“ (00:01:41-00:02:24)
Innerhalb dieser Sequenz steigert sich – nicht zuletzt durch die gewinnende Stimme der Schauspielerin Pegah Fereyduni – ein Spannungsmoment, das sich in der folgenden Sequenz mit einer leitmotivischen Fanfare und Originalaufnahmen aus dem Azadi-Stadion entlädt. Die schriftliche Analyse kann die Emotion, die hier auf der Soundebene aufgebaut wird, nur bedingt wiedergeben. Aber jeder, der einmal zu einer Großveranstaltung in einem Stadion war, weiß, wie sich dort Emotionen von zum Beispiel Hoffnung und Aufregung verdichten können. Der Film schafft es, diese Atmosphäre durch Musik, Bilder und Texte zu transportieren. So ist es auch dramaturgisch sehr geschickt gemacht, in dieser Stadionatmosphäre die beiden Protagonisten aufeinandertreffen zu lassen. Nicht in der Form, dass sie sich kennenlernen, sondern dass sie beide anwesend sind, so wie alle Mitglieder der Grünen Revolution. Und war es die Aufgabe der weiblichen Protagonistin, die Spannung aufzubauen, so verbalisiert der männliche Protagonist die Situation. Er gibt die Worte zum Geschehen: KAVEH:„Diese Kraft, diese Spannung, dieser Wille, sich gegen die Schmach der letzten Jahre der Enttäuschung und der Willkür einzusetzen, etwas ändern zu wollen, war überwältigend. Das riss jeden mit. An diesem Tag beschloss ich mitzumachen. Ich hatte meinen Glauben an die Menschen wieder gefunden.“ (00:02:32-00:02:50)
Auch dieser Abschnitt ist – wie sämtliche Texte der Protagonisten – einem Blogeintrag entnommen. Wir sehen zu Beginn die Einblendung „BLOG, 26.05.2009“ (00:02:37). Daraufhin bekommt „der Mann der Stunde“ selbst eine Stimme. Mussawi tritt im Stadion auf, und wir bekommen durch die Fernsehbilder einen Eindruck von ihm und seinem Wahlkampf. Mussawi wird ein grüner Schal umgelegt, und er sagt dazu die Worte: MIR HOSSEIN MUSSAWI: „Der grüne Schal, den sie mir um den Hals gelegt haben, symbolisiert für mich eine besondere Verantwortung. Denn das ist die Fahne des Islam, und jeder, der diese Fahne trägt, hat eine schwere Bürde zu tragen.“ (00:02:50-00:03:24)
Das nachfolgende Interview mit Prof. Dr. Payam Akhavan bringt erneut eine Autorität zurück ins Spiel. Mit Akhavan wird wieder ein Interviewpartner sehr staatsmännisch inszeniert, und die Platzierung des Anwalts in einem Büro erinnert an die üblichen Expertengespräche von Fernsehreportagen. Akhavan
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analysiert die Ereignisse von einem professionellen Standpunkt aus und versucht so, eine informierte und differenzierte Stellungnahme abzugeben: PAYAM AKHAVAN „Trotz des maroden Systems hofften viele, dass sie den Iran, indem sie an Wahlen teilnahmen oder jemanden aus dem Reformlager wählten, allmählich in eine positive Richtung lenken könnten.“ (00:03:24-00:03:39)
Diese ausgedrückte Hoffnung findet sogleich ihren Widerhall auf der Tonebene, auf der die Hoffnungsmelodie mit den Fanfaren erneut11 erklingt, begleitet von Bildern aus dem Stadion. Die Stadionszenen werden im Film zum Symbol des Auf bruchs und der Hoffnung. Eine weitere politische Ebene und damit auch eine weitere Autoritätsebene im Film wird durch die Darstellung der Ehefrau von Mussawi, Zahra Rahnavard, geschaffen. Ihren Einfluss erläutert die bereits aus den ersten Minuten bekannte Rechtsanwältin Shadi Sadr. Es war wichtig für Mussawis Kampagne, eine bedeutende Frau ‚mit im Boot‘ zu haben, die nicht als Ehefrau, sondern als eigenständige „mächtige Frau“ erscheint (00:03:49-00:04:09). Während und nach dem ‚Plädoyer‘ für Meinungsfreiheit von Zahra Rahnavard am Rednerpult im Stadion (00:04:0500:04:27) werden Close-ups von den Gesichtern junger Frauen gezeigt, und wieder erklingt dazu die Hoffnungsmelodie.12 Die Augenzeugenschaft der Exil-Iraner wird in den folgenden Interviewsequenzen weiter ausgebaut. Dabei wird Wert darauf gelegt, nicht ein individuelles Schicksal in den Vordergrund zu rücken, sondern das Ganze als ein Massenphänomen, ein gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben. Und das nicht nur auf inhaltlicher, sondern gerade und besonders auch auf bildlicher Ebene. Diese Verzahnung wird während der Sequenzen besonders deutlich, in der folgender Text gesprochen wird: MITRA KHALATBARI: „Vielleicht war es gar nicht wichtig, ob Mussawi Präsident werden würde oder Karroubi oder sogar Ahmadinedschad. Ich glaube, wichtig war, was vor den Wahlen passierte. Die Menschen hatten gelernt, wieder miteinander zu sprechen.“ 11 | Aus einem Gespräch mit Ali Samadi Ahadi auf dem Symposium der Dokumentarfilminitiative Töne sehen – Bilder hören. Die akustische Dimension des Dokumentarischen. Aktuelle Tendenzen am 16. und 17. September 2010 im Filmforum NRW in Köln habe ich erfahren, dass diese Musik die offizielle Musik des Wahlkampfes von Mussawi war. 12 | Das Thema Frauen wird abgesehen von dieser kurzen Passage nicht explizit in dem Film behandelt, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass im Iran und auch bei den späteren Revolutionen 2011 in den arabischen Ländern Frauen eine wichtige Rolle hinsichtlich der Mobilisierung spielten.
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Zwischen Dokumentation und Imagination MEHDI MOHSENI: „Du konntest immer mehr Menschen mit grünen Fahnen sehen und grünen Zeichen, die an Fenstern und Türen der Häuser und Autos hingen. Es hatte sich ein unaufhaltsamer Menschenfluss gebildet.“ AMIR FARSHAD EBRAHIMI: „Alle waren dabei: Märtyrerfamilien, Milizionäre, Anhänger der Hezbollah, Studenten und Revolutionsgegner, Leute, die noch nie gewählt hatten! Mussawi war eine Chance für die Islamische Republik, und alle standen hinter ihm.“ (00:04:27-00:05:30)
Dazu sehen wir immer wieder Bilder – entweder unklare, körnige Handyvideos oder Fernsehmaterial – von Protestströmen, Demonstrantenszenen, die Masse und Kraft transportieren. Es findet quasi eine Bebilderung des Gesagten statt. Diese Verzahnung der Bilder mit dem Text und untereinander ist besonders stark auch in der folgenden Collage vorzufinden, in der wieder animierte Bilder mit Realbildern abwechseln oder zu einem stimmungsvolle Gesamtbild verwoben werden. Hier steht besonders die Symbolkraft der Farbe Grün im Vordergrund, und spätestens jetzt wird auch der noch so unerfahrene Zuschauer bemerken, dass auch die Animation selbst in grüner Farbe gehalten ist, wenn die personifizierte, nicht anonyme Protagonistin Azadeh spricht (BLOG, 08.06.2009): AZADEH:„Ich liebe diese grünen Farben, all diese grünen Schals und Armbänder auf den Straßen. Sie bedeuten Gemeinschaft, Einheit. Bedeuten, dass die Leute nicht gleichgültig sind. Sie wollen abstimmen und zeigen, wie sie das Resultat von Lug und Trug honorieren, unabhängig davon, ob sie mit der Wahl etwas verändern oder einfach nur Nein zu Ahmadineschad sagen. Diese Farbe ist ein Zeichen von Anwesenheit, ein Zeichen für den nahenden Urnengang. Eine Farbe, die Wellen schlägt, die reizt, die begeistert für diese kleine Hoffnung, und so geben wir uns einen Wink des Vertrauens. Der Hoffnung auf Veränderung.“ (00:05.39-00:06:10)
Auch dieser Text stammt wieder aus einem Blog. Noch ein Wort zu der verwendeten Sprache, die – wie sich bei dem Symposium Töne sehen – Bilder hören. Die akustische Dimension des Dokumentarischen. Aktuelle Tendenzen, das am 16. und 17. September 2010 im Filmforum NRW in Köln stattfand, herausgestellt hat – in der deutschen Sprache recht poetisch, wenn nicht sogar pathetisch, klingt, und dadurch für einige deutsche Muttersprachler, so die Kommentare auf dem Symposium, unauthentisch wirkt. Der Regisseur Ali Sahmadi Ahadi erklärt dies durch die schwierige Übersetzbarkeit der poetischen persischen Sprache und damit, dass das Persische nun mal übersetzt so klingt. Diese Antwort des Regisseurs halte ich für etwas zu einfach und unterstelle ihm, dass es eine bewusste Entscheidung war, die Sprache im ‚persischen Stil‘ zu belassen aufgrund ihrer emotionalisierenden Wirkung mit
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gleichzeitigem Raum für Reflexion über das Wahrnehmen von ‚Fremdheit‘. Besonders die Passagen von Navíd Akhavan, der den männlichen Protagonisten spricht, scheinen sehr „überbetont“ zu sein – was aber unter anderem auch stark an dem Rezitationsstil des Darstellers liegt.13 Diese Art des Rezitierens stützt aber noch die Spannung zwischen Stimme und Bild, wie sich später zeigen wird. Die auf den Monolog der Protagonistin gelegten Bilder wechseln erneut zwischen animierten Szenen und Videomaterial. Während die Bilder in diesem Wechsel bleiben, kommt die Stimme von Prof. Dr. Payam Akhavan hinzu und verbalisiert das, was im Videomaterial bereits zu sehen war: „Millionen Menschen gingen auf die Straße für eine gemeinsame Sache.“ (00:06:15) Im Folgenden wird in der Animation mit Handyvideos und auch durch Interviews genauestens die Wahlsituation im Iran rekonstruiert. Der Film schildert chronologisch die Ereignisse: Wahl, Wahlmanipulation, Proteste, Niederschlagung und endet mit der Hoffnung auf eine andere Zukunft. In diesen ersten Minuten des Films wird nicht nur in die Thematik eingeführt und die Collagetechnik vorgeführt, sondern es wird auch die eindeutige Motivation des Films deutlich. An der politischen Positionierung des Films besteht von Anfang an kein Zweifel. So steht auch im Presseheft zu dem Film: „Ali Samadi Ahadis Dokumentarfilm ist eine hoch aktuelle Chronik der ,grünen Revolution‘, ein Denkmal für all jene, die an mehr Freiheit glaubten und dafür ihr Leben ließen. [...] Ali Samadi Ahadis Film ist ein Plädoyer für die Demokratie und für Zivilcourage.“ (Presseheft The Green Wave 2010: 5)
5.4 D as Z eigbare und das U nzeigbare 5.4.1 Animation Die augenfälligste filmische Strategie ist die Animation der zwei Protagonisten Azadeh und Kaveh. Um die animierten Figuren entspinnt sich jeweils eine persönliche Geschichte. Diese beginnt im Fall von Azadeh mit dem Text aus einem Blog vom 26.05.2009, wie bereits oben zitiert, mit: „Ich heiße Azadeh, bin 23 Jahre und studiere Medizin im sechsten Semester in Teheran [...].“ (00:01:41) Die animierten Sequenzen sind sehr schlicht gezeichnet und überwiegend in symbolischer Farbe gehalten. In dieser Sequenz sind sie in die grüne Farbe der 13 | Wenn man den Schauspieler aus anderen Filmen/Rollen kennt wie aus Salami A lei kum , der Cultural-Clash-Komödie von Samadi Ahadi, oder in seiner ersten großen Rolle in F remder F reund (D 2003, R: Elmar Fischer, L: 105 Min.) hört man, dass er dort ebenso spricht.
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Opposition Mussawis getaucht und werden teilweise mit dem Footagematerial collagenartig verwebt. Ali Samadi Ahadi antwortet in einem Interview auf die Frage, ob er die ‚starke Kraft‘ der animierten Bilder erklären kann, wie folgt: „Wir hatten uns entschieden, im Film mit Blogeinträgen zu arbeiten. Sie waren für mich die Dokumente, das Wichtigste. Deshalb habe ich die Bilder abstrakt gehalten. Durch die Abstraktion bekommen die Texte mehr Raum und können besser mit den Zuschauern kommunizieren. Das löst in ihrer Fantasie ganz andere Bilder aus, als wenn ich sie selbst geliefert hätte.“ (alverde 2011: 9)
Dieser These möchte ich im Folgenden nachgehen. Der Text der animierten Figuren stammt aus den Blogs, aus denen Ali Samadi Ahadi die Geschichten der beiden Protagonisten zusammengesetzt hat. Bevor ich auf den Text und das Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild genauer eingehe, möchte ich an dieser Stelle zunächst die Bilder näher betrachten. Als Technik für ihre Animation haben die Filmemacher den so genannten Motion Comic gewählt, das heißt eine Mischung aus dem klassischen Comic-Strip wie in Büchern und aus Animation. Die Bilder sind relativ grob und schemenhaft animiert und sehr flächig koloriert. Dadurch werden Schwerpunkte in den Bildern gesetzt, und es wird weitestgehend auf Details verzichtet – außer wenn Videomaterial hineinmontiert wird. Oft werden in den Bildern vor allem Gefühlszustände in Gesichtern transportiert, wie Freude, Überraschung, Entsetzen oder Angst. Das hat zwei Folgen. Die eine spricht der Regisseur, wie oben zitiert, selbst an: Die Texte bekommen mehr Raum. Wenn der Rezipient sich nicht auf das Bild konzentrieren muss und nicht ständig Details findet, das Auge also entspannt wird, kann die meiste Konzentration auf das Ohr übergehen. Dabei wirken die dargestellten Emotionen unterstützend für den erzählten Text. In den Fällen, wo Videomaterial collagenartig eingeflochten ist, fällt es leicht, sich im Bild eben auf dieses Material zu konzentrieren und damit dem Videomaterial, also „der Realität“ ins Angesicht zu blicken. Der gewisse statische Eindruck, den der Motion Comic bei Iran: Elections 2009/The Green Wave hervorruft, ermöglicht Leerstellen im Bild, die dem Panel-Wechsel von einem Bild in das nächste in einem Comic-Strip entsprechen. Es sind Leerstellen, die bei einem „flüssig“ animierten Film so nicht auftauchen. Diese Leerstellen und die Schlichtheit sowie die nur gelegentliche Verdichtung zu Realbildern ermöglichen dem Zuschauer eine starke Reflexion sowie Imagination. Sieht man sich die Leerstelle – in der Comicsprache ‚den Rinnstein‘ – zwischen zwei Panels, das heißt Bildern in einem Comicbuch an, dann wird deutlich, was an diesen Stellen passiert: Die menschliche Fantasie baut mithilfe dieser „Grauzone“ aus zwei separaten Bildern eine Geschichte, einen Gedankenfluss (Scott McCloud 2001 [1994]: 74).
5. I r an : E lec t ions 2009/The G reen W ave „Zwischen den beiden Panels ist nichts zu sehen, aber unsere Erfahrung sagt uns, dass dort etwas sein muss! […] Comic-Panels zerlegen Zeit und Raum zu einem abgehackten, stakkatohaften Rhythmus getrennter Augenblicke. Aber die Induktion ermöglicht es uns, diese Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren.“ (Ebd.: 75)14
Comic ist damit, um es mit den Worten McClouds zu sagen, „in einem sehr realen Sinn Induktion“ (ebd.). Beim Sehen eines Films operiert der Zuschauer auch immer mit Induktion im Sinne McClouds, jedoch sind die Leerstellen, auf welche die Induktion beruht, oftmals nicht optisch wahrnehmbar, weil die Bilder sich zu einer Bewegungsabfolge verdichten. Wenn sie wahrnehmbar werden, handelt es sich um gezielt gesetzte Stilmittel. Im Comic-Strip hingegen sind die Leerstellen immer sehr wahrnehmbar und ein grundlegendes Mittel des Mediums. Die Frage, was zwischen den Bildern passiert, ist ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, wie die Frage danach, was im Bild passiert. Denn die Zwischenräume füllt der Leser selbst und wird damit zum Komplizen des Autors. Scott McCloud macht dies sehr plakativ deutlich am Beispiel einer kurzen Bildstrecke, in der eine der Figuren im Zwischenraum, im „Rinnstein“(ebd.: 74) getötet wird. Auf dem einen Bild sehen wir, wie ein Mann eine Axt gegen einen anderen Mann erhebt. Im nächsten Bild sehen wir eine Skyline und hören beziehungsweise lesen einen Schmerzensschrei. „Sicher, ich habe in diesem Beispiel eine erhobene Axt gezeichnet, aber ich habe den Hieb nicht ausgeführt oder entschieden wie hart er war oder wer geschrien hat und warum. […] Das, liebe Leser, war ganz allein euer Verbrechen, und jeder von Euch hat es auf seine Art begangen. Ihr alle habt diesen Mord auf dem Gewissen. Jeder von Euch hatte die Axt in der Hand, und jeder von Euch hat auch zugeschlagen.“ (Ebd.: 76)
Auf die Zwischenräume kommt es also an, und wenn wir davon ausgehen, dass der Text, das heißt die Literatur, den meisten Zwischenraum lässt, am meisten Platz lässt für die Fantasie des Rezipienten, und der Film – und hier vor allem der „klassische“ Dokumentarfilm – am wenigsten Platz lässt, so arbeiten aber doch alle Medien mit diesem Kniff. Im Kontext von Iran: Elections 2009/ The Green Wave treffen die beiden Extreme aufeinander: Interviewpassagen, wie wir sie aus einem Dokumentarfilm mit wenig Zwischenraum kennen, und animierte Szenen im Motion-Comic-Stil mit viel Zwischenraum. Das ist einer der äußerst spannenden Punkte, und die Frage ist, wohin diese filmische Strategie führt. Mit dem Zwischenraum holt der Film den Zuschauer quasi ‚ins 14 | Das Zitat ist einem Comic entnommen und wurde in seinem grafischen Bild dem Fließtext angepasst, ohne die Hervorhebungen des Autors Scott McCloud. So auch in allen folgenden Zitaten aus dem Werk Scott McCloud 2001 [1994].
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Boot‘ und bindet ihn an die Geschichte, die er selbst mitimaginiert. Es wird im Folgenden in der einen oder anderen Art immer wieder um dieses ‚Mitimaginieren‘ gehen und vor allem um die Angebote hierfür und darüberhinaus, die der Film den Rezipienten macht. Mit dem Motion Comic befinden wir uns also zwischen zwei Formen: dem Comic-Strip einerseits und dem Film andererseits. Im Comic-Strip kann man davon ausgehen, dass je cartoonhafter ein Bild gezeichnet ist, also je einfacher und allgemeingültiger, desto größer ist das Identifikationsangebot für den Leser (ebd.: 37). Würden wir das Bild in einem Cartoon sehen würden, müssten wir also sagen, dass es nach Scott McClouds Theorie relativ wenig Identifikationsfläche bietet, da die Bilder auf Fotografien mit realen Menschen beruhen und diese dann abstrahiert und nachkoloriert wurden. Und bei den Großbildern respektive Nahaufnahmen sind die Schauspieler auch wirklich eindeutig zu erkennen. Andererseits muss man hier sehen, dass wir eben kein Buch vorliegen haben, sondern die Comics abgegrenzt von oder vereinigt mit Videomaterial und Interviews in einen Film eingebettet sind. Und im Vergleich zu einem Filmbild, das heißt Fotobild, sind die Comicbilder natürlich cartoonhaft und damit offener. Es ist eben alles immer eine Frage der Relation und daher lässt sich in diesem Fall schlussfolgern, dass der Motion-Comic-Stil eine Identifikation des Rezipienten mit den Protagonisten befördert. Die Perspektivenlenkung durch die Identifikation mit den fiktiven Protagonisten lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass jeder Film, sei er noch so ‚dokumentarisch‘, ein Geschehen aus bestimmten Perspektiven zeigt. Die Identifikation wird verstärkt durch die intimen und dramaturgisch aufgebauten Texte, die Stimme, die innere Stimme der Blogger und für uns als Filmrezipienten die Stimme der Protagonisten. Mit der Zeit baut sich ein empathisches Verhältnis zu den Charakteren auf, begünstigt durch eben die emotionalen und intimen Inhalte der BLOG-Texte. Die animierten Protagonisten haben die Gestalt von bekannten Schauspielern. Hierzu eine Stellungnahme und Beschreibung des Vorgehens vom Regisseur Ali Samadi Ahadi: „Nach der Recherche wurden aus den gesichteten Blogs 15 Beiträge verschiedener Blogger ausgewählt und zu Erlebnisbericht und Gedankenwelt zweier ‚fiktiver‘ Charaktere (Azadeh und Kaveh) verwoben. Die beiden in Deutschland sicher bekanntesten jungen Schauspieler iranischer Abstammung Navid Akhavan (als Kaveh) und Pegah Ferydoni (als Azadeh) liehen diesen beiden Studenten ihren Körper, ihr Gesicht und ihre Stimme. In mehrtägigen Fotosessions wurden Foto-Vorlagen aufgenommen, die unter der Leitung des Künstlers Ali Reza Darvish anschließend von einem zehnköpfigen Team nachgezeichnet und koloriert wurden.“ (Pressehef t The Green Wave 2010: 18)
Wenn wir die Personen der Schauspieler in der Animation erkennen oder wiedererkennen – nicht nur über die Stimme, sondern auch im Bild – dann findet
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etwas ganz Seltsames statt. Ich greife hier auf meine subjektive und sehr persönliche Rezeptionserfahrung im Kino zurück, als ich das Gesicht von Pegah Ferydoni als Azadeh erkannt habe. Besser gesagt: Ich habe sie nicht gleich erkannt, sondern es war vielmehr das Erahnen von etwas Vertrautem. Sie kam mir bekannt vor, so wie jemand, den man nur schemenhaft in der Ferne sieht und bei dem man sich erst einmal nicht sicher ist, ob und woher man die Person kennt; aber genau um diese Lücke zu füllen, fühlt man sich auf eine mysteriöse Art und Weise zu der in dem Augenblick eigentlich unbekannten Person hingezogen. Es ist ein Gefühl von Nähe zu jemand vermeintlich Unbekanntem da. Das entscheidende Moment ist hier das ‚Erahnen‘, das ‚Aufspüren‘ von etwas Vertrautem. Es ist nicht deutlich, nicht klar, sondern es passiert im Rezipienten selbst. Wir müssen es auch nicht klar und deutlich, das heißt ‚real’ sehen, denn in Iran: Elections 2009/The Green Wave sehen wir vieles auch ‚überreal‘, nämlich das Videomaterial und die Handyvideos. Etwas zu Erahnen (geistig) und zu Erspüren (körperlich) bindet zudem den Rezipienten viel stärker an den Film und lässt ihn die Geschichte wiederum ‚mitimaginieren‘. Diesen Gedanken werde ich weiter unten noch einmal detailliert aufgreifen. Der Film nutzt Animation also, wie hier aufgezeigt, einerseits dazu, Grauzonen aufzumachen, durch die Zwischenräume eine Beziehung zum Rezipienten aufzubauen und Vertrautheit erahnen zu lassen; andererseits dürfen wir die Hauptfunktion der Animation aber auch nicht aus den Augen verlieren. Der Grund, warum Ali Samadi Ahadi auf Animation zurückgegriffen hat, war, das Unzeigbare zeigbar zu machen. Das heißt, die Ereignisse überhaupt für das Medium Film präsentierbar zu machen. Dabei geht es etwa um Misshandlungsszenen im Gefängnis, aber auch um poetische Gedankenflüsse. Als besonders eindrückliches Beispiel soll an dieser Stelle die Gefängnisszene beschrieben werden, zunächst nur deren animierte Parts. Bei der genaueren Analyse des Texts soll dann der Verzahnung mit den Interviews auf den Grund gegangen und damit weiter der Collagentechnik nachgegangen werden. Die Gefängnisszene beginnt mit Kaveh, der abends in seinem Zimmer sitzt. Es ist dunkel. Man sieht zunächst nur eine Uhr im Hintergrund, die 20:50 Uhr anzeigt. Dazu die Einblendung: „BLOG, 23.06.2009“ (00:24:42) Wir bekommen eine Vogelperspektive auf den Raum, der nun in dunklem Grün gehalten ist. Kaveh sitzt auf seinem Bett, die Kamera fährt in einer Kreisbewegung hinunter auf den Protagonisten und dann von vorne in einem Close-up auf sein Gesicht, das halb im Schatten liegt. Er hält die Hände faustartig verschränkt an seinen Mund und stützt sich darauf, sein Blick geht ins Leere. Eine Denkerpose. Während der Text beginnt („Ich wurde am 8. Juli verhaftet, bin 21. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich wieder frei bin [...].“ [00:24:45ff.]) fährt die Kamera immer dichter auf das Gesicht zu. Der Schatten wird deckender und dunkler. Danach findet ein Schnitt zum Videomaterial statt. Es werden
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Straßenszenen von den Protesten gezeigt. Danach geht es wieder zurück in das ursprüngliche Bild. Die Sitzposition Kavehs hat sich nicht verändert, lediglich der Bildausschnitt. Das Videomaterial wird jetzt im Hintergrund hinter dem Protagonisten eingespielt, um den Erinnerungsprozess noch stärker zu visualisieren. Mit dem nächsten Schnitt befinden wir uns in der Erinnerung selbst – jetzt wieder als Animation – und sehen zunächst ein Detail: die gefesselten Hände des Protagonisten. Die Kamera zieht nach hinten weg und wir bekommen das Bild visualisiert, von dem er erzählt („Sie warfen uns in einen Bus voller verwundeter und verletzter Leute und brachten uns zu einem Polizeirevier.“ [0:25:32ff.]). In der darauffolgenden Szene sehen wir schemenhaft Menschen an einer Wand in einem engen Gang stehen; diese Bilder sind in einem an Zement oder Beton erinnernden dunkelgrauen Farbton gehalten. Es fällt so viel Schatten, dass wir kaum etwas erkennen können. So sind die Menschen an der Wand selbst auch nur Schatten und nur schemenhaft zu erkennen. Dann tritt jemand ins Bild. Die Beine, es sind die Aufseher, sind bis zur Mitte des Oberschenkels zu sehen. Sie wirken groß, mächtig und dunkel und sind in den Vordergrund gerückt. An ihrer Seite schwingt ein Schlagstock. Nach einem Schnitt befinden wir uns wieder im Zimmer des Protagonisten, der grüne Vorhang am Fenster flattert, und im Halbdunkel können wir jetzt das Bild eines kleinen lächelnden Jungen in geschmücktem Gewand erkennen (00:26:02). In der nächsten Einstellung haben wir die Vogelperspektive auf den Protagonisten, der auf seinem grün bezogenen Bett sitzt und den Kopf in die Hände stützt. Hier kommt jetzt die Interviewstimme von Mohsen Kadivar15 hinzu, der von den Toten und Misshandelten im Zuge der Proteste berichtet (00:26:08). Es findet ein Schnitt zu ihm im Interview statt. Danach befinden wir uns mit dem Protagonisten in der Dunkelheit, das einzige Licht ist ein schmaler Lichtschein, der aus einem Spalt in der Wand kommt. Wir sehen, dass es ein winziges Fenster in einem Gebäudekomplex ist. Es kommt ein weiterer Lichtstrahl hinzu, ein Bus fährt auf das Gelände zu. Man hört das Knattern seiner Motoren. Die Einblendung: „BLOG, 28.07.2009“ (00:26:42) Der Bus fährt auf das Gelände: Wir können noch eines seiner Rücklichter sehen und dass Menschen aussteigen, während sich die Tür der Einfahrt wieder schließt und wir (zunächst) draußen bleiben. Es ist wieder alles in dem schon bekannten zementgrauem Ton gehalten. Die Menschen sind ganz schwarz in der Dunkelheit. Dann knallt das Tor zu und wir sind mit dem Protagonisten im Gefängnis und sehen die Reihe laufender Beine bis zu den Knien, wie sie langsam in das Gebäude gehen. Mit dem nächsten Schnitt sind wir wieder zurück im Close-up auf den Protagonisten Kaveh, wie er in seinem Zimmer 15 | Siehe zu den Interviewpartnern die Beschreibung der ersten sechs Minuten des Films. Hier wurden die Autoritäten bereits vorgestellt.
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sitzt und seinen Kopf auf die zur Faust gefalteten Hände stützt. Er verschwindet nunmehr fast ganz im Schatten seines dunklen Zimmers, in dem er sich an die Ereignisse erinnert (00:27:00). Mit dem Satz „Es war unvorstellbar“ findet wieder ein Schnitt statt, und die Kamera zeigt einen dreckigen Boden, auf den Regen prasselt. Sie führt uns am Boden entlang in ein Gebäude. Alles sieht grob und schmutzig aus. Dann schwenkt die Kamera hoch und gibt den Blick frei auf einen endlos scheinenden, in der Dunkelheit verschwindenden Gang, der allein durch zwei nackte Glühbirnen beleuchtet zu sein scheint. Man kann zu beiden Seiten Türen erahnen, sicher ist das aber nicht. In das Grau der Betonwände mischt sich ein holzfarbenes Braun. Die Kamera fährt den Gang entlang. Mit dem nächsten Schnitt finden wir uns in absoluter Dunkelheit wieder. Wir erahnen Körper und sehen dunkelrote Flecken, die sofort die Assoziation zu Blut hervorrufen (00:27:19). Die Kamera fährt durch den Raum und zeigt unbestimmte Körper mit Blut bedeckt. Dann erkennen wir in der Masse den Protagonisten Kaveh. Wir erahnen Angst und Entsetzen in seinem Blick. Danach sehen wir wieder nur Dunkelheit und Blutflecken, die immer größer werden. An dieser Stelle kommt die Stimme von Payam Akhavan hinzu, der die Misshandlungen und Tötungen im Gefängnis Kahrizak bezeugt (00:27:45ff.). Wir bleiben mit der Stimme noch eine Weile in der dunklen Zelle, bis es einen Schnitt auf Akhavan in der Interviewsituation gibt, um am Ende seines Statements wieder in der Zelle zu sein und unzählige gedrängte Körper mit hängenden Köpfen in der Dunkelheit mehr zu erahnen als zu sehen. Wir blicken wieder in das verschreckte Gesicht Kavehs und plötzlich fällt ein brauner Lichtschein in sein Gesicht, das nun wie versteinert wirkt. Die Kamera folgt mit einem Gegenschuss seinem Blick und wir sehen, was er sieht: Einen im Türrahmen lauernden Mann mit Taschenlampe und Knüppel, der das Gesicht zu einer Fratze verzogen hat. Der Raum wird nun in braun-gelbes Dunkel gehüllt. Schuss auf die Fratze, Gegenschuss auf das versteinerte Gesicht Kavehs. Dann ein Close-up auf eine Hand mit Wasserschlauch und ein gewaltiger Wasserstrahl, der die Menschen wie Vieh abspritzt, und Körper, die schützend ihre Hände vor sich halten. Alles nur schemenhaft zu erkennen. Mit dem nächsten Schnitt sehen wir Kaveh wieder auf seinem Bett sitzen, aber das Setting ist nicht mehr grün, sondern jetzt rot koloriert. Dann Schnitt auf das Interview mit dem ehemaligen Milizionär Amir Farshad Ebrahimi (00:28:42). Mit dem nächsten Schnitt sind wir wieder zurück in der Zelle und werden Zeuge der Ereignisse. Das Signalrot der Blutspritzer springt uns förmlich entgegen. Wenn wir dann mit einem erneuten Schnitt zurück mit Kaveh in seinem wieder grünen Zimmer und somit aus der Erinnerung geflohen sind, würde das Grün ungemein beruhigend wirken, was aber durch die auf Kaveh fallenden Schatten der schlagenden Männer verhindert wird; die Erinnerung ist doch nicht abgeschüttelt.
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Danach sind wir zurück in der Interviewszene mit Amir Farshad Ebrahimi (00:29:06) und beim nächsten Schnitt wieder mit Kaveh im Zimmer. Er sitzt wie ganz zu Beginn auf dem Bett, hält jetzt allerdings seinen Kopf gänzlich in die Hände gestützt, und sein Gesicht verschwindet völlig in der Dunkelheit. Es ist nicht mehr zu erkennen (00:29:14ff.). Er erzählt weiter von seinen Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis und wir sind wieder mit ihm in der Zelle mit den Fratzen in der bräunlichen Färbung. Immer wieder sehen wir Blutspritzer. Immer wieder macht die Kamera Drehungen in dem überwiegend statischen Bild. Ein Gefühl von Beklemmung und Schwindel begleitet die Szenen. Kaveh erzählt von den Brutalitäten und den Misshandlungen. Wir sehen das leere Gesicht eines Toten, der an die Wand geschmettert wird. Wir sehen einen Jungen, der nackt aus der Zelle geführt wird. Eine Hand hält ihn fest im Nacken (00:30:12), der Aufseher faucht: „Wenn ihr auch nur einen Ton von euch gebt, stecken wir euch diese Stöcke in den Arsch.“ Dann fällt die Tür zur Zelle mit einem Knall zu (00:30:15-00:30:18). Es wird für einen Augenblick ganz schwarz. Mit dem nächsten Schnitt sind wir wieder kurz im Interview mit Amir Farshad Ebrahimi, der von den Misshandlungen in den Gefängnissen berichtet. Sogleich sind wir wieder zurück im Gefängnis und werden mit dem nackten Jungen in einen Raum geführt. Die Tür öffnet sich langsam, und im Hintergrund ist, zunächst nur schemenhaft, ein Mann mit nacktem Oberkörper zu erkennen. Der Junge steht mit gefesselten Händen im Raum, sein Blick ist nicht zu deuten. Dann hört man die bedrohliche fremde Stimme „Du wolltest wissen, wo Dein Wahlzettel ist, komm ich zeig es Dir!“ Wie im Schuss/Gegenschuss-Verfahren wird mehrfach abwechselnd das Gesicht des Jungen und das Gesicht des Peinigers gezeigt, der seine Hand auffordernd erhoben hat (00:30:38). Dann knallt das Gesicht des Jungen auf den Tisch (00:30:40) und im nächsten Bild sehen wir von der Seite zwei Paar hintereinanderstehende Beine und eine blaue Boxershorts, die wie ein rasend-schneller Farbhüpfer in dem statischen Bild die hinteren Beine hinuntergleitet (00:30:41), begleitet von einem hohen bedrohlichem Piepston. Anhand dieser Bilderfolge, deren Ablauf an den oben gezeigten Stills nachvollzogen werden kann, lässt sich noch einmal verdeutlichen, wie die Imagination des Zuschauers die Lücken zwischen den Bildern füllen muss. Die Animation im Film weist kaum mehr Bewegung auf als Stills von den betreffenden Szenen. Es werden ‚Rinnsteine‘ gelassen, Leerräume, die gefüllt werden müssen oder durch den Text aufgefüllt werden. Gleichzeitig wurde deutlich, wie durch die Animation Wechsel der Perspektiven möglich werden. Gerade befinden wir uns noch mit Kaveh in der Gefängniszelle, kurz darauf sind wir Zeugen im Verhörraum mit dem nackten Jungen. Einmal stehen wir mit der Kamera vor verschlossener Gefängnistür, dann nehmen wir die Perspektive beim Gang in das Gebäude ein. Die Kameraführung in
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der Animation ist sehr vielfältig und wechselt von der subjektiven Kamera zur „klassischen“, beobachtenden Kamera. Genauso wie der Kamerablick wechselt, wechselt auch die Perspektive in der Erzählung, am augenfälligsten wird dies durch den Wechsel in die Interviewpassagen. Im Anschluss an die oben beschriebene „Verhörszene“ in der Animation sind wir schon wieder im Interview mit Amir Farshad Ebrahimi und hören: „Manchmal benutzten sie Flaschen, häufig Schlagstöcke oder auch ihr Geschlechtsorgan.“ (00:30:43-00:30:47) Unsere Imagination wird mit der ‚Realität‘ aufgefüllt, durch sie bestätigt. Nach dem nächsten Schnitt sind wir wieder mit Kaveh in der Dunkelheit der Zelle. Er hält die Hände ratlos vor den Mund und richtet seinen Blick flehentlich gen Himmel (00:30:50), während er weiter davon berichtet, wie die Mitgefangenen in der Zelle starben. Mit dem nächsten Schnitt ist es hell und wir sehen einen Pick-up in die Wüste fahren (00:31:15), aus dem ein nackter Kaveh mit zerbrochener Brille geworfen wird und auf dem gelben Boden liegen bleibt, selbst im gleichen Gelb koloriert (00:31:28). Die letzten animierten Bilder zeigen Kaveh, wie er selbst sagt: „...mitten im Nirgendwo“. Es ist deutlich geworden, wie der Film auf der Bildebene vorzugsweise mit Stimmungen und Andeutungen arbeitet. Licht und Schatten sind zentrale Techniken in der Animation, um Stimmungen zu verdeutlichen. Sie unterfüttern den zu hörenden Text – die innere Stimme des Protagonisten, hier entnommen aus zwei Blogeinträgen (vom 23.06.2009 und 28.07.2009) und die Interviews der Autoritäten – mit Emotionen. Dabei bietet die Animation im Motion-Comic-Stil Freiräume, die mit der eigenen Fantasie zu füllen sind. Natürlich ist diese Fantasie durch Bilder und Text gelenkt, doch bleibt genug Raum, um die eigene ‚grausame Vorstellung‘ hinzuzufügen und damit subjektiv die Ereignisse zu rekonstruieren und die Geschichte des Films fortzuschreiben. Neben dem Text sind es Musik und Geräusche aus dem Off, welche die Bildabfolge untermauern und Spannungsmomente auf bauen, beispielsweise wenn in Momenten, wo die Gefangenen auf ihre Peiniger treffen, ein Paukenschlag zu hören ist, Türen lautstark ins Schloss fallen und der Kamerablick ‚draußen‘ oder zurück bleibt oder die Vergewaltigungsszene von einem hohen tinnitusartigen Pfeifton begleitet wird. Damit werden im Text erzählter Inhalt und animierte Bilder weiter verstärkt, und die Atmosphäre und Stimmung, die durch Farbwahl und Licht und Schatten aufgebaut wird, unterstützt. Lediglich die Interviewsequenzen mit den Autoritäten bleiben ‚sauber‘ und geräuschfrei. Ihre Kommentare erinnern uns – die Rezipienten – immer wieder daran, dass das, was wir sehen, kein fiktiver Comic-Splatter-Film sein soll, sondern Bezüge zu einer sehr realen Geschichte hat. Neben diesem ‚Realitäts-Check‘ bieten sie Raum für Entspannung und Reflexion. Dass die Blogs die wichtigste
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Quelle für Ali Samadi Ahadi sind und er diese Quelle davor bewahren möchte, in Unglaubwürdigkeit abzurutschen, gelingt ihm mit dem Videomaterial und durch die inhaltliche Auswahl des Textes in Verzahnung mit den Interviews der Autoritäten sowie durch die Perspektivlenkung. Die Gefängnisszene wird aus der Perspektive Kavehs erzählt mit seiner ‚inneren‘ Stimme der Erinnerung, das heißt den vom Schauspieler gesprochenen Blogtexten, die in der fiktiven Geschichte des Films Kavehs Gedanken/Erinnerungen sind. Die Perspektive ist also zum einen retrospektiv (es wird etwas Vergangenes erzählt); zum anderen ist sie ‚subjektiv‘, da Kaveh als Augenzeuge von Geschehnissen erzählt, die er erlebt hat. Gleichzeitig gibt es aber auch eine ‚allwissende Kameraführung‘, die uns in Räume bringt, in denen Kaveh gar nicht anwesend ist. Hinzu kommt auf der Textebene, dass trotz der subjektiven Erzählung seine eigenen Gedanken und Gefühle und das, was ihm selbst widerfährt, eher am Rande thematisiert wird. Im Vordergrund steht, was er und andere (die Interviewpartner) beobachtet haben. So gesehen haben wir hier wieder eine Perspektive, die von außen kommt aber gleichzeitig auf Augenzeugenschaft verweist. Die Gefühle und körperlichen Schmerzen werden durch die Verwebung der Ebenen beim Zuschauer selbst erzeugt. Hier kommt die Imagination des Rezipienten als Co-Autor zum Tragen. Dieser Ansatz ist im Folgenden auch am Text zu überprüfen.
5.4.2 Text Schon bei der einführenden Beschreibung der ersten sechs Minuten von Iran: Elections 2009 wurde deutlich, dass die Protagonisten mit ihrer inneren Stimme, die einen aus den Blogeinträgen zusammengesetzten Text vorträgt, durch die Filmszenen führen. Der Text, der den Protagonisten die Stimme gibt – oder dem die Animation Körper verleiht – bildet zusammen mit dem Videomaterial (Fernsehaufzeichnungen, Handyaufnahmen) die authentische Basis des Films. Das sind die Quellen, mithilfe derer Ali Samadi Ahadi die Ereignisse aus dem Sommer 2009 im Iran erzählen kann. „Doch sehr bald war klar, dass wir dafür eine besondere Erzählsprache finden mussten, denn für die Geschehnisse, die hinter uns lagen, gab es nur bruchstückhafte Bilder in schlechter Qualität der Handys oder Bilder aus den Archiven, die nur fragmenthaft die Situation abdeckten. Ein reenactment kam für mich nicht in Frage. Zumal es klar war, dass ich, solange dieses Regime im Iran regierte, nicht mehr in den Iran reisen konnte. Iran ist eine Bloggernation. Tausende junger Menschen schreiben ihre Gefühle, das, was sie bewegt, in ihre Blogs. Wenn ich also nicht mehr im Iran drehen konnte, die Menschen nicht mehr interviewen konnte, wären genau diese Blogs die richtigen Quellen, um an die inneren Stimmen der Leute heran zu kommen.“ (Presseheft The Green Wave 2010: 10f.)
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Die Grüne Revolution im Iran wurde in den (westlichen) Medien, wie bereits erwähnt, auch Twitter-Revolution genannt. Auch wenn die Proteste sicher nicht allein via Twitter organisiert wurden, da damit keine so hohe Zahl an Menschen hätte erreicht werden können, so entspricht es durchaus den Tatsachen, dass viele Iraner, einschließlich des Präsidentschaftskandidaten Mussawi, über Twitter und Social Networks kommunizierten. Als ausländische Journalisten das Land verlassen mussten und eine Nachrichtensperre verhängt wurde, wurden die Informationen aus dem Internet für In- und Ausland wichtiger. Welche Bedeutung Weblogs für die jungen, demokratisch orientierten Bevölkerungsanteile im Iran haben, wurde bereits aufgezeigt. Hier soll nun auf ihre Verwendung im Film genauer eingegangen werden. Es gibt Passagen, in denen der Blogtext quasi für sich stehen könnte und die Animation lediglich ein Bild liefert, das möglichst wenig vom Text ablenkt und das Gesagte höchstens illustriert. Hier stehen Gefühle und eine eindeutige subjektive Perspektive in Text und Kameraführung im Vordergrund. Dies geschieht beispielsweise beim ersten Auftreten Kavehs nach der Gefängnisszene. Er sitzt in einem Auto, erinnert sich an seine Kindheit und reflektiert dadurch die gegenwärtige Situation. Die Animation ist wie gewohnt statisch und überwiegend in Brauntönen gehalten, in den Erinnerungssequenzen kommen Lilatöne hinzu. Wir sehen Kaveh als Kind vor einem Fahrrad stehen, wir sehen ihn bei der Autofahrt. Mehr passiert in der Animation nicht. Begleitet wird die Sequenz am Anfang kurz von einer ruhigen, viel Raum lassenden Musik, hin und wieder kommen Autofahrgeräusche hinzu. Dann aber sind wir ganz beim Text und hören nichts anderes (00:38:02ff.), bis sich nach und nach wieder ein Geräuschteppich dazu mischt. „BLOG, 21.06.2009“ KAVEH: „Meine Mutter sagte ‚Männer weinen nicht‘. Damals war ich neun Jahre alt und wollte ein Fahrrad, das sie sich nicht leisten konnte. An dem Tag habe ich auf sie gehört, habe meine Brust rausgestreckt und aufgehört zu weinen. Meine Tränen habe ich mit dem Saum ihres Tschadors abgewischt, damit die anderen nicht sehen, dass ein Mann weint. Aber heute mit 21 Jahren habe ich wieder geweint. In der Modadus allee16 habe ich geweint, laut und so heftig, dass ich das Auto am Straßenrand anhalten musste. Zu meinem Pech war ich nicht weit von einer Taxihaltestelle entfernt. Zwei von ihnen rannten auf mein Auto los, eine ältere Dame und ein Mann. Der Mann schaute mich verächtlich an und ich konnte in seinem Blick lesen: Schau dir die heutigen Männer an. Sie heulen wie Mädchen. Die Frau aber stieg ein und streichelte mich mütterlich.“ 16 | Ob der Straßenname hier richtig wiedergegeben wird, muss offenbleiben, da dieser nur schlecht zu verstehen ist.
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Zwischen Dokumentation und Imagination FRAU: „Mein Sohn ist auch in Deinem Alter. Was ist passiert? Hast Du schlechte Nachrichten bekommen?“ KAVEH: „Ich weiß es nicht. Mir war einfach danach. Ich konnte mich einfach nicht zurückhalten, vielleicht ist es wegen der Situation dieser Tage, vielleicht wegen der Demütigungen, die mir in diesen Tagen widerfahren sind, vielleicht wegen Neda, die auf der Straße getötet wurde. […] Vielleicht wegen unserer Heimat. Vielleicht weil ich gestern gespürt habe, wie viel Hass meine Mitbürger in sich tragen. Vielleicht auch aus Angst. Angst verhaftet zu werden, Angst vor den Knüppeln, Angst davor mit der Flut der Verhaftungen weggespült zu werden. Als ich sie anschaute, sah ich, dass sie auch weinte. Ich fragte sie nicht warum. Ich nahm sie mit bis zu ihrer Arbeit. Wir sprachen kein Wort. Absolute Stille, bis wir uns verabschiedeten. Vielleicht aus Angst, dass wir wieder anfangen zu weinen. Meine Mutter hat mich reingelegt, damit ich auf das Fahrrad verzichte, aber heute habe ich wegen meiner Unfreiheit geweint. Ich bin voller Kummer wegen ihrer- meinet- und unseretwegen aber noch mehr.“ (00:38:02-00:41:00)
Dies ist ein typischer Blogeintrag mit dem intimen Gedanken eines Menschen, der seine Situation reflektiert. Es ist im Prinzip das, was man eigentlich seinem Tagebuch anvertrauen würde. Hier wird die gesellschaftliche und politische Dimension, die jeder biografischen Beschreibung innewohnen kann, deutlich. Der Autor des Blogs erzählt nur von sich und gleichzeitig doch von einer ganzen Generation, von einer politischen Gegenwart und der Situation in seiner Gesellschaft. Der vorliegende Blogtext eröffnet einen ganzen Kosmos an Gedanken über Geschlechterbilder, Generationenkonflikte und die Repressalien eines Regimes, während er auf der Textoberfläche sehr persönliche Ereignisse schildert. Es gibt eine Stelle in dieser Sequenz, an der wir mit dem authentischen Videomaterial, das heißt hier mit einem Handyvideo, konfrontiert werden. Es ist das bekannteste Handyvideo der Proteste im Iran, das bereits angesprochene Video, welches den Tod von Neda Agha-Soltan zeigt (00:39:46). Verankert in der Realität und damit zusätzliches Gewicht bekommt der Blogtext hier durch das Videomaterial. Es gibt aber auch Stellen, bei denen sich der Text trotz subjektiver, intimer Perspektive den Filmrezipienten entzieht. Im Folgenden soll das Beispiel von oben erneut aufgegriffen und die Gefängnisszene als Text wiedergegeben werden, so dass sich nach und nach ein Gesamtbild ergibt und zu sehen ist, welche Informationen den Blogs entnommen wurden. Die Gefängnisszene beginnt, wie bereits beschrieben, mit Kaveh, der abends in seinem Zimmer sitzt. Es erscheint die Einblendung im Bild: „BLOG, 23.06.2009“17 (00:24:42), und damit ist die Quelle des folgenden Textes bekannt. 17 | Wie kann das sein, dass ein Blog vom 23.06.2009 beginnt mit den Worten: „Ich wurde am 8. Juli verhaftet...“? Hier liegt der Fehler wahrscheinlich im gesprochenen
5. I r an : E lec t ions 2009/The G reen W ave KAVEH: „Ich wurde am 8. Juli verhaftet, bin 21. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich wieder frei bin. An dem Tag war ich zusammen mit einem Freund auf dem Motorrad unterwegs, und mein Freund filmte mit seinem Handy, als wir plötzlich von [nicht verständlich] in Zivil angegriffen wurden und zusammengeschlagen wurden. Sie warfen uns in einen Bus voller verwundeter und verletzter Leute und brachten uns zu einem Polizeirevier. Ich war so verprügelt worden, dass ich nicht mitbekam wohin. Dann reihten sie uns an einer Wand auf. Mein Freund und ich standen nebeneinander. Ein stämmiger [nicht verständlich] in Zivil kam und zerrte jeden zweiten aus der Reihe raus. Und warf sie wieder in den Bus. Seitdem habe ich nichts mehr von meinem Freund gehört.“ MOHSEN KADIVAR: „Es stimmt: Wir haben 70 Tote zu beklagen. Es stimmt: mehr als 150 Leute sitzen im Gefängnis. Es stimmt: sie werden gefoltert.“ (00:26:08f.) PAYAM AKHAVAN: „Wir kennen den Fall Amir Javadifar, 24 Jahre. Sein Körper wurde seiner Mutter ohne Finger- und Fußnägel übergeben. Schädelbruch...“ (00:26:17f.)18
(BLOG, 28.07.2009 [00:26:44]) KAVEH: „Sie brachten mich gemeinsam mit einem Haufen anderer Leute zum K ahrizak Gefängnis. Es war unvorstellbar. Allein in dem Raum, wo sie uns hineinwarfen, waren zweihundert Leute eingesperrt. Alle waren verletzt. Das Wimmern der Leute füllte den ganzen Raum. Ich fragte mich, was sie uns noch antun werden. Vielleicht bringen sie uns morgen vors Gericht. Wir hatten nicht mal Platz zum Sitzen. Alle Wände waren blutbeschmiert. Plötzlich fingen einige an zu schreien und zu weinen. Einer war gestorben. Die Stimmen kamen vom Ende des Raumes.“ (00:26:46f.) PAYAM AKHAVAN: „Wir wissen von vielen unterschiedlichen Quellen, von Zeugen, die das Gefängnis Kahrizak überlebten, dass Menschen in extrem überfüllten Zellen auf kleinstem Raum eingesperrt wurden. Dies geschah nicht aus Platzmangel, sondern mit der Absicht, Menschen unter inhumanen Bedingungen festzuhalten. Man enthielt ihnen Nahrung und Medizin vor.“ (00:27:45f.) KAVEH: „Plötzlich stürmten die Wächter in Zivil herein und zerschlugen die Lampen. Und begannen in der absoluten Dunkelheit uns zusammenzuschlagen.“
Text (da JuNi und JuLi so ähnlich klingen), eine absichtlich falsche Angabe ist nicht zu vermuten. 18 | Mit dem nächsten Schnitt befinden wir uns wieder, wie oben beschrieben, in der Animation. Der Bus fährt auf das Gefängnisgelände und es erscheint die Einblendung: „BLOG, 28.07.2009“ (0:26:42).
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Zwischen Dokumentation und Imagination AMIR FARSHAD EBRAHIMI, ehem. Milizionär: „Ein Freund erzählte, dass viele hinfielen und man über ihre Körper stieg, während man weiter prügelte. Man stieg einfach über ihre Körper.“ (00:28:42f.) KAVEH: „Sie schlugen wahllos auf die Leute ein. Eine halbe Stunde lang schlugen sie uns zusammen. Einige fielen ins Koma oder verloren ihr Leben. Ich konnte das alles nicht glauben.“ AMIR FARSHAD EBRAHIMI: „Manchmal sprühten sie Tränengas in die Zelle.“ (00:29:06f.) Kaveh: „Zordargh19, der scheinbar deren Chef war, hub den toten Körper hoch und knallte ihn gegen die Wand.“ (00:29:14f.) ZORDARGH: „Wir haben euer Todesurteil. Wenn Ihr Glück habt, werdet ihr nicht wie dieser Hurensohn sterben. Wenn ihr bis morgen überlebt, habt ihr Schwein gehabt. Ihr seid Moholeb. Wisst ihr was ein Moholeb ist? Sag, was ein Moholeb ist!“ (00:29:20f.) KAVEH: „Der Junge winselte ‚Ich weiss es nicht‘. Und Zordargh begann ihn zusammenzu schlagen.“ (00:29:36f.) ZORDARGH: „Du weißt es also nicht? Los sag’s... sag’s: Moholeb ist der Ungläubige. Ist der Satan.“ KAVEH: „Er schlug ihn so lange zusammen, bis der Junge ohnmächtig wurde. Als einige protestierten, schlug er sie auch, bis sie zusammenfielen und sich nicht mehr bewegten. Dann zerrte er einen Jungen raus.“ (00:29:49f.) ZORDARGH: „Wenn Ihr auch nur einen Ton von Euch gebt, stecken wir Euch diese Stöcke in den Arsch.“ AMIR FARSHAD EBRAHIMI: „Man hatte sie dorthin gebracht, nur um sie zu quälen. Keiner von ihnen wurde verhört.“ 00:30:21f.) MANN: „Du wolltest wissen, wo Dein Wahlzettel ist, komm ich zeig es Dir.“ (00:30:37f.) AMIR FARSHAD EBRAHIMI: „Manchmal benutzten sie Flaschen, häufig Schlagstöcke oder auch ihr Geschlechtsorgan.“ (00:30:43 f.) KAVEH: „Bis zum Morgen starben in der Zelle mindestens vier Leute. Nicht ein einziger von uns war unversehrt geblieben. Entweder hatten sie blutverschmierte und verkrustete Gesichter wie ich oder geschwollene Augen. Viele hatten gebrochene Arme und Beine. Einige Tage später warfen sie mich und einige Andere in einen Pick-Up 19 | Ob der Name hier richtig wiedergegeben wird, muss offenbleiben, da dieser nur schlecht zu verstehen ist.
5. I r an : E lec t ions 2009/The G reen W ave und führten uns raus. Ich wurde ohnmächtig. Als ich zu mir kam, war ich mitten im Nirgendwo.“ (00:30:50f.) (00:26:46 -00:31:33) 20 AMIR FARSHAD EBRAHIMI: „Es liegen Beweise vor, dass der damalige Teheraner Staatsanwalt, Said Mortazavi, als juristische Instanz den Befehl dazu gegeben hatte, und Oberbefehlshaber Radan die Verantwortung für Kahrizak trug. Sie müssen also vor Gericht aussagen, wer die Schläger waren.“ (00:31:45-00:31:59) PAYAM AKHAVAN: „Die heutigen Machthaber im Iran werden sich für ihre Taten verantworten müssen. Ihre Verbrechen sind dokumentiert und aufgezeichnet. Der Tag wird kommen, an dem sie sich rechtfertigen müssen.“ (00:32:00-00:32:14)
Mit 00:32:14 endet die Sequenz, und die Musik wechselt. Wenn man sich den detailiert aufgezeigten Text ansieht, wird klar, dass man die Fakten auch in zwei Sätzen zusammenfassen könnte. Stattdessen bietet der Film einen Erlebnisbericht. Jemand erzählt davon, was ihm passiert ist, das gibt dem Gesagten Nachdruck. Glaubwürdigkeit bekommt der Text zudem dadurch, dass der Name von einem der Peiniger genannt wird. Der Blog selbst ist an sich sehr nüchtern und unemotional geschrieben, vermutlich deswegen, weil es sich um erlebte Folter und Misshandlungen handelt. Das Nüchterne, auf die Fakten beschränkte ist für die erzählenden Opfer vielleicht der einzige Weg, das Erlebte überhaupt mitteilen zu können. In der ‚Leerstelle der Emotionen‘ setzt der Film in Bild und Ton an. Durch das Zusammenspiel von allen Ebenen – das heißt dem Blog, dem Bild, der zweiten Textebene (also den Interviewsequenzen), den Geräuschen und der Musik – wirkt das Gefüge beeindruckend, emotionalisierend und damit nachvollziehbar. Auch im Text ist der Perspektivenwechsel augenfällig: Durch die Interviewpassagen wird die subjektive Perspektive des Blogs verallgemeinert und untermauert („es gibt Beweise“). Gleichzeitig ist es in den Blogtexten so, dass Kavehs eigene Gedanken und Gefühle und das, was ihm selbst widerfahren ist, eher am Rande vorkommt (zum Beispiel „Ich konnte das alles nicht glauben.“). Im Vordergrund steht, was er beobachtet; so gesehen ist es in Bezug auf die Mitgefangenen und vor allem den Jungen ebenfalls eine Perspektive ‚von außen‘ und wirkt so zunächst distanzierend. Kaveh beschreibt nur äußerlich, was passiert, aber nicht die Schmerzen, Gefühle etc. der Gefangenen – die imaginiert der Zuschauer dazu, und zwar vor allem durch die Animation. Der 20 | Diese Zeitangabe entspricht der gesamten Sequenz. Die Zwischenzeitangaben dienen dazu, den Rhythmus nachzuvollziehen.
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hohe Grad an Abstraktion, den ich aufgezeigt habe, kommt hier zum Tragen: Die Leerstellen, die das Bild eröffnet. Sowohl der ‚nüchterne‘ Text als auch die ‚schlichte‘ Animation schaffen einen relativ hohen Abstraktionsgrad, der die Imagination der Zuschauer fördert. Einerseits wird der Zuschauer durch die Perspektivführung Augenzeuge und andererseits entzieht sich ihm gleichzeitig permanent das Geschehene. Dadurch ergibt sich paradoxerweise eine besonders intensive und zugleich verstörende Wirkung mit gleichzeitiger Möglichkeit zur Identifikation. Auch mithilfe der Videoaufnahmen arbeitet der Film mit dieser äußerst spannenden und besonderen filmischen Strategie der Mischung zwischen Augenzeugenschaft (dem Zeigbaren) und dem was nur angedeutet wird oder sich dem Zuschauer bewusst entzieht (dem Unzeigbaren).
5.4.3 Videomaterial und Sound Das Videomaterial in dem Film speist sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Einerseits handelt es sich um Handyvideos, wie das bekannte, schon mehrfach erwähnte Neda-Video, andererseits um Fernsehaufnahmen von Protestzügen oder Ansprachen. Die Qualität der Videos ist sehr unterschiedlich, sie reicht von sehr körnigen, schemenhaften, verwackelten Handkameraaufnahmen bis hin zu professionellen, stechend scharfen Camcorder- oder Kameraaufnahmen von Fernsehteams. Letztere Aufnahmen halten keine Überraschungen bereit. Sie fungieren als Futter für die erzählten Ereignisse und bebildern beispielsweise die Versammlung im Azadi-Stadion (00:02:52ff.), die anfänglichen Demonstrationen vor den Wahlen (00:05:03ff.) oder die Verkündung der Wahlergebnisse im Fernsehen (00:11:49ff.). Aus einer film- und bildanalytischen Perspektive interessanter sind die Handyvideos und Amateuraufnahmen, die vor allem die Repressalien nach den Wahlen dokumentieren. Es handelt sich um Aufnahmen, die von den Menschen auf der Straße mit ihren Handys gemacht wurden, nachdem die ausländischen Journalisten das Land verlassen mussten. Diese Videos wurden über Youtube und Social-Network-Plattformen (oftmals anonym) im Internet gepostet und haben so ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Es sind die Videos, die heute kaum mehr aus einer Berichterstattung über ähnliche Protestbewegungen in autoritären Regimen wegzudenken sind, wie sich auch bei den Erläuterungen zum Arabischen Frühling gezeigt hat. Diese Amateurvideos verändern die politische Öffentlichkeit und unser globales kulturelles Bildgedächtnis. Sie sind aus unserem täglichen Bildkonsum nicht mehr wegzudenken und finden ihre Plattform vor allem im Netz, aber auch im Fernsehen. Als Quelle lassen sie sich nur sehr schwer überprüfen und dokumentieren doch Ereignisse wie aktuell die Proteste und teilweise Kriegssituationen
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in Ländern, zu denen Journalisten schwer Zugang haben.21 Die Filme zeugen von den Ereignissen, sie sagen: Wir sind dabei! Schaut her! Wir zeigen euch, was hier bei uns passiert! Oft geht es dabei – und das ist nicht unwichtig, wenn man die politische Dimension von Bildern berücksichtigt – um Demokratiebewegungen. Die Bilder finden durch das anarchische Medium des Internets wieder zu einer gewissen Freiheit und können durch ihre Weiterverbreitung in anderen Medien wie Fernsehen (oder auch als Still in Zeitungen) symbolischen Charakter erlangen wie das Neda-Video. Das Bild der sterbenden Neda wurde zum Symbol für die Unterdrückung und die Verbrechen des iranischen Regimes an seinem Volk. Auch – und das ist ein Rückkopplungseffekt – für das Volk selbst.22 Neben den Bildern bekommt auch der Ton eine neue Dimension in diesen Handyvideos. Wenn im Film diese als Zeugnisse der Brutalität eingesetzt werden, rückt die Tonebene verstärkt in den Vordergrund. Man kann das Geschehen optisch manchmal nur erahnen, man sieht das Bild einer Wackelkamera, verschwommen und mit undeutlichen Bildern, aber man hört sehr deutlich Schreie und Stimmen. Wie im Fall des Neda-Videos: „Neda, hab keine Angst! Neda, bleib bei uns! – Drück auf ihre Brust! Neda, bleib bei uns!“ (00:39:4600:39:58)23 Dazu Geschrei, Gekreische und Gewimmer von mindestens einem Mann und einer Frau. Der Originalton, der unsaubere Originalton hat den Weg zurück in unser Ohr gefunden. Ein Ton, den man eigentlich nur hört, wenn man dabei ist. An die ‚grausamen‘ Fernsehbilder sind wir gewöhnt, nicht aber daran, die Töne und Geräusche von Ermordungen/von Sterbenden und ihren Angehörigen hören zu können. Teilweise können wir in den im Film verwendeten Handyvideos gar nicht erkennen, was da gerade passiert. Wir hören aber beispielsweise dumpfes Rumpeln und eine Stimme, die sagt: „Schlagen sie ihn nicht.“ (00:14:35) Das Bild lässt also wieder eine Leerstelle, eine Grauzone, die wir mithilfe des Tons und unserer Fantasie zu einem Ganzen imaginieren. Diesen ‚Originalton‘ zu hören, so meine These, sind wir in dokumentarischen Bildern (damit sind in diesem Fall auch Nachrichtensendungen gemeint) noch nicht gewohnt; hier wird gegen unsere bisherigen ‚Hör‘-Gewohnheiten verstoßen. 21 | Ein weiteres Beispiel sind die Proteste im September 2007 gegen das Militärregime in Birma. Mit dem Film B urma VJ von Anders Østergaard wird diesem Phänomen innerhalb dieser Arbeit noch ein ganzes Kapitel gewidmet. 22 | Friedensnobelpreisträgerin Dr. Shirin Ebadi im Interview: „Sie [die westlichen Regierungen, V.M.] sollten sich bei jedem Vertrag, den sie mit dem Iran schließen, an das Gesicht von Neda erinnern, die auf der Straße getötet wurde.“ (00:37:36ff.) 23 | In den Aufnahmen wird Persisch gesprochen, ich entnehme hier und im Folgenden die Übersetzung der Untertitelung.
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Somit wird der Zuschauer durch den Ton (und aber auch durch das wackelige, aus subjektiver Perspektive gefilmte Handybild) in die Situation eines Zeugen (wenn nicht gar eines Betroffenen) gerückt; die Distanz, die wir zum Beispiel bei einer professionell gefilmten Nachrichtensendung/Reportage über solche Geschehnisse einnehmen, ist plötzlich nicht mehr möglich, wir werden viel direkter in das Geschehen hineingezogen. Das liegt einerseits daran, dass wir in Fernsehaufnahmen in dieser Intensität nicht den Ton zu hören bekommen, andererseits aber auch am Zeitpunkt des Filmens. Hier sind wir direkt beim ‚Akt des Tötens‘ dabei und nicht nur bei der Dokumentation der Leichen. Auch das ist eine Perspektivverschiebung, die sich auf den Ton, das Bild und unsere Wahrnehmung auswirkt. Hier wird uns eine Wirklichkeit präsentiert, die wir inhaltlich und ästhetisch so aus dem ‚normalen‘ Fernsehbericht und Dokumentarfilm nicht kennen. Es erinnert uns eher an fiktionale Formate. Das Horror-Genre im Spielfilm arbeitet schon lange mit dieser Kombination aus unklarem Bild und betontem Ton. Seit dem Film Blair Witch Project (USA 1999, R: Daniel Myrick/Eduardo Sánchez, L: 81 Min.)24 wissen wir, wie die Kombination von authentischem Tonmaterial und Wackelkamera bedrohlich, weil so real wirken kann. Diese Wirkung wird verstärkt, wenn (auch nur angebliche) Realität wiedergeben wird. Einige Szenen aus Iran: Elections 2009 könnten, was die Ästhetik betrifft, genauso gut in einem Horrorfilm wie Blair Witch Project verwendet werden. Doch hier ist das „Project“ bittere Realität, zumindest haben wir dieses Abkommen mit dem Dokumentarfilm geschlossen, und die Interviewsequenzen erinnern uns immer wieder daran. Dennoch ins Detail: Nach fast 15 Minuten werden wir im Film das erste Mal mit unklarem, verwackeltem Handymaterial direkt konfrontiert. Wir sehen schemenhaft und verschwommen Menschen auf einem Dach herumlaufen und hören Gewehrschüsse (00:14:29ff.). Menschen unten auf der Straße laufen scheinbar in Panik davon und drängen sich hinter einen Häuservorsprung, auch die Person mit der Kamera. Von dort aus wird ein Teil der Straße weitergefilmt: Man sieht undeutlich, wie Menschen rennen, stürzen und auf dem Boden liegen bleiben. Dazu hören wir weiter Schüsse und Schreie. Dann wechselt das Bild: Mit dem Schnitt ist es dunkel, wir sehen noch schemenhafter Menschen in eine Richtung laufen und wir sehen im Bild die Einblendung „Studentenwohnheim Teheran“ (00:14:52). Das Stimmengewirr, die Schreie und Zurufe werden lauter. Wir sehen sehr undeutlich, wie ein Mensch über den Boden gezogen wird, quer durch den Bildausschnitt und aus ihm heraus. 24 | Das Besondere bei B lair W itch P roject war zudem, dass die Zuschauer im Unklaren gelassen wurden, ob es sich um einen dokumentarischen Film handelt. Es ging also darum, durch diese Stilmittel Realität vorzutäuschen. Der Film läuft unter der Genrebezeichnung Mockumentary.
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Zwei Stimmen lösen sich mit ihrem Geschrei aus der Masse, wir hören sie sehr deutlich, sehr nah. Dann eine Stimme, die aufgeregt und dicht neben dem Mikro (vielleicht der Filmende) sagt: „Schlag ihn nicht, schlag ihn nicht.“ (00:16:47) Dann sehen wir sehen nur Menschenrücken, und erst kurz darauf wird der Blick auf einige junge Männer, die auf dem Boden sitzen, freigegeben, dann auf Menschen, die sich flach auf den Boden gelegt haben und teilweise die Hände schützend über den Kopf halten. Das Bild ist dunkel und grobkörnig, der Klangteppich bleibt verwirrend und undeutlich. Dann kommt die klare Interviewstimme von Payam Akhavan hinzu: „Das Regime reagierte charakteristisch: mit Gewalt.“ Im Verlauf dieses Satzes wechselt das Bild zu der Interviewsituation (00:15:16-00:15:19). Ein paar Minuten später sind wir wieder bei dem Videomaterial (00:19:02). Nun bekommen wir auch eine Hand zu sehen, die mit einem von ihr gehaltenen Handy aus einem Fenster die Menschenmasse auf der Straße filmt. Wir sehen sozusagen kurz eine der Quellen. Wir hören unklare Protestrufe, dann wieder Gekreische (00:19:34), dazu sehen wir Menschen rennen. Dazwischen kommen Interviewfetzen in Bild und Ton mit den uns bekannten Augenzeugen (hier: Mitra Khalatbari und Amir Farshad Ebrahimi), welche die Situation auf den Straßen beschreiben, als würden sie aus einem Kriegsgebiet berichten. Es sind ganz kurze Passagen, immer wieder durchsetzt mit Handymaterial und der entsprechenden Sound-Kulisse. Dann sind auch wieder Schüsse (00:20:12) zu hören, hinzu kommen Akkordschläge einer Musik. Im verwackelten, grob pixeligen Bild ist eine blutige Hand zu sehen. Dann undeutlich Menschen, die hin und her rennen, und ein Menschenkörper, der weggetragen wird. Über alles schiebt sich jetzt auf der Tonebene ein lautes Atmen von jemandem, der rennt. Ein Atmen, das Filme wie Blair Witch Project (00:20:25) und ähnliche Horror-Inzenierungen benutzen, um eine charakteristische Art der Authenzität von Augenzeugen-Aufnahmen zu erzeugen. Hier ist eine starke Eindrücklichkeit der Bilder über den Ton festzustellen, die Aufnahmen wirken durch ihre authentische Sound-Kulisse, die dem blanken Horror entsprungen zu sein scheint, noch bedrohlicher. Schüsse, Gekreische, undeutliche Rufe, Atmen und dazu ein Bild, in dem wir nur schemenhaft Dinge erkennen können, also nicht wirklich genau sehen, was passiert, aber doch eine Ahnung haben, wenn etwa eine blutige Hand ins Bild kommt und ein Körper über den Boden geschleift wird. Verstärkt werden diese anonymen Zeugnisse von Augenzeugenschaft durch die Interviews mit den Autoritäten, die ihre eigenen Erfahrungen weitergeben. Gleichzeitig erlösen sie uns von diesen unglaublichen Bildern und vor allem von den Tönen, die – ähnlich wie die Animationen – den Rezipienten mit voller Konzentration auf Auge und Ohr körperlich erstarren lassen. Die Bilder des Videomaterials müssen wir, wie die der Animation, über den Sound
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und die Interviewsequenzen zusammenfügen beziehungsweise weiterschreiben. Und wieder wird mit den Interviews Raum für einen „Realitäts-Check“ geboten. Raum, Abstand von den Grausamkeiten zu nehmen und zu überlegen, was das Gesehene und Gehörte bedeutet. Eine Distanz, die vorher völlig verloren gegangen ist. Ein weiteres Beispiel soll diese Collagetechnik noch einmal verdeutlichen (00:36:20ff.): Ein ohrenbetäubendes Gekreische aus Originaltönen steht im Vordergrund, dazu wackelige Bilder von der Straßenschlacht und gleichzeitig die Stimme der Friedensnobelpreisträgerin Dr. Shirin Ebadi: „Was im Iran passierte, ist eine massive Verletzung der Menschenrechte.“ Dann sekundenlang, gefühlt aber stundenlang, und begleitet von völlig undeutlichen Bildern, in denen nichts wirklich zu sehen ist, wieder ein ohrenbetäubendes Gekreische und Gejammer. Es hört sich so an, als würden unmittelbar vor unseren Augen mehrere Menschen brutal ermordet, aber wir sehen nichts. Darauf wieder Dr. Shirin Ebadi: „Und wenn die Europäer behaupten, dass ihnen Menschenrechte wichtig sind, dann müssen sie diese Werte für alle Gesellschaften wollen, auch für den Iran.“ (00:36:41-00:36:52) Hier findet die Wirkung ganz klar über den Ton statt. Er sticht durch das Ohr direkt ins Herz, man möchte sich die Ohren zuhalten. Es lässt sich aber keine direkte inhaltliche, logische Zusammengehörigkeit zwischen dem Geschrei und den Bildern ausmachen. Der Zusammenhang wird allein durch den Kommentar von Shirin Ebadi hergestellt. Es ist nicht von ungefähr, dass im Anschluss an diese körperlich den Rezipienten ‚angreifenden‘ Szenen die Tatenlosigkeit der Europäer angeprangert wird. Man fühlt sich unmittelbar schuldig, so als hätte man ein Verbrechen beobachtet oder gehört, es nicht erkannt oder nicht gesehen und auf jeden Fall nicht eingegriffen. So, wie ein paar Sekunden vorher geschehen. Der Zuschauer verliert die Distanz zum Gesehenen, er vergisst, dass es ein Tausende von Kilometern entferntes und vergangenes Geschehen ist, das er auf dem Fernsehbildschirm oder der Kinoleinwand präsentiert bekommt, und fühlt sich unmittelbar in das Geschehen hineingesogen, als wäre er direkt dabei. Welche Wahrnehmungen durch das Videomaterial, die Vorherrschaft des Tons und die oben beschriebenen Bild- und Textebenen verändert werden, soll nochmals tiefergehend betrachtet werden, dabei werden (zunächst einmal versuchsweise) die Begriffe Körper und Stimme nutzbar gemacht.
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5.5 R esümee : I magination des S chrecklichen Schon in den vorangegangenen Analysen wurde angedeutet, wie die filmischen Strategien auf die Sinne und die Körperlichkeit der Rezipienten abzielen. Dabei wurde zwischen Animation, Text, Videomaterial und Sound unterschieden. Es liegt eine Trennung von Körper und Stimme als filmische Strategie in Iran: Elections 2009/The Green Wave vor. Damit ruft der Film verstärkt körperliche Wahrnehmungen beim Rezipienten hervor, so eine meiner Thesen. Ich möchte an dieser Stelle zunächst kurz von meiner subjektiven Wahrnehmung der oben detailliert beschriebenen Szene, der ‚Gefängnisszene‘, ausgehen: Die Szene ist sehr dunkel gehalten, braun-orange gezeichnete Körper finden sich zusammengedrängt im Bild. Es entsteht von Anfang an ein Gefühl der Orientierungslosigkeit – auch in der Dunkelheit des Kinosaals, ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Farbpunkte, die Schemen in den Bildern zu erkennen. Die Schemen der Menschen sind in der Zelle sehr dicht gedrängt. Ein Gefühl der Beklemmung und des Unwohlseins befällt mich. Plötzlich ist der fremde Mensch neben mir im Kinosessel, den ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte, viel zu nah an mir, an meinem Körper. Außerdem fühle ich mich in meinem eigenen Kinosessel eingeklemmt, in den ich mich paradoxerweise aber immer tiefer hineindrücke. Dann die Fratzen der Aufseher, die eine wahnsinnige Brutalität transportieren. Ich bekomme eine Gänsehaut. Die signalroten Blutspritzer stechen richtig ins Auge. Ich halte den Atem an. Wenn der abgemagerte Junge, der noch wie ein Kind aussieht, in den Verhörraum geführt wird, und das Bild zeigt, wie er nackt auf den Tisch gedrückt wird, und der Aufseher die Hose hinunterlässt, wird mir schlecht und ich möchte den Blick abwenden. Mein ganzer Körper ist angespannt. Die Spannung entsteht zusätzlich auch durch die neutrale Beschreibung der Situation durch den Protagonisten Kaveh. Es ist wie oben angeführt eine recht neutrale und überwiegend gefühlsarme Beschreibung durch den Protagonisten, als würde man etwas Alltägliches beschreiben, was es aber de facto ja nicht ist. Diese Nüchternheit des Textes und dazu der Motion Comic, das heißt die Schlichtheit der Animation, lassen viele Leerräume zum Imaginieren. Stimme und Körper sind hier und auch in allen anderen Animationen auf einer visuellen Ebene voneinander getrennt: Es bewegen sich keine Münder, die Animation bleibt statisch. In der beschriebenen Szene erzählt der Protagonist, was geschieht, und dadurch, dass es ‚nur‘ erzählt wird, kann er nicht eingreifen. Er konnte, auch als er in der Situation war, aus der er berichtet, nicht eingreifen, aber über die Trennung von Stimme und Körper wird dies auf einer weiteren Ebene vermittelt. In einem Re-Enactment hätte man vermutlich Dialoge geschrieben und die Schauspieler diese sprechen lassen, in einer ‚klassischen Dokumentarfilm-Szene‘ wäre es ohnehin so gewesen, dass Körper und Stimme in der Vereinigung einer Person eine Einheit bilden.
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Den Erzähler/die Innenschau gibt es dort in dieser Form nicht: Die Kamera ist Augenzeuge, und damit sind wir Augenzeugen. Wir können sehen, was passiert, oder glauben zumindest sehen zu können, was passiert. Aber hier ist die Stimme die „Augenzeugin“, das, was erzählt wird. Der Text ist der Augenzeuge, und wir können das sehen, was unserer Fantasie entspringt, angeregt durch sehr körperliche, grobe Bilder, die einem Horror-Comic entsprungen sein könnten. Und die Stimme hat keinen Einfluss auf die Bilder, weder zum Zeitpunkt des ‚Erlebens‘ noch auf die Bilder, die gezeigt werden. Denn die Figur spricht nicht, der Körper spricht nicht, sondern er ist und das ist hier ein wichtiger Punkt im Vergleich zu ‚klassischen‘ Dokumentarfilmen oder auch anderen Filmen, in denen in der Regel eine Einheit von Körper und Stimme vorliegt.25 Die Trennung von Körper und Stimme in dieser Form ist eine besondere filmische Strategie, geschuldet einer besonderen Quellenlage. Es sei an dieser Stelle nochmals hervorgehoben, dass der Stimme die Bilder, das heißt die Körper gegeben wurden und nicht wie üblich den Bildern die Stimme. Die Stimme wurde dabei aus den Blogeinträgen generiert und die animierten Körper/Personen visualisieren das Erzählte. Wir haben in dem Film drei Formen von dargestellter – also wahrzunehmender – Körperlichkeit: erstens, die Körper zu den Blogtexten, wie eben beschrieben. Also die inneren Stimmen, denen durch die animierten Figuren quasi ein künstlicher Körper gegeben wird. Körper und Stimme bleiben hier getrennt und werden nicht zu einem Ganzen. Wie in der Analyse aufgezeigt, werden die Blogtexte mit der Animation illustriert und Emotionen hervorgerufen. Aber im Stil des Motion Comic ‚sprechen‘ die Figuren nicht, sie bewegen nicht ihren Mund, und es wird keine Illusion von der Zusammengehörigkeit von Körper und Stimme angestrebt. Ebenso finden kaum Dialoge zwischen den animierten Protagonisten statt. Die Trennung von Körper und Stimme, deren Nicht-Zusammengehörigkeit entsteht auch durch die immer wieder auftauchenden Einblendungen der Quellenangabe („BLOG x.x.xx“), die daran erinnern, dass wir es hier mit einer um die Quellen herum gestalteten, fiktiven Konstruktion zu tun haben. Aber trotzdem geben die animierten Protagonisten der Stimme, das heißt den Texten einen Körper. Eine Stimme ohne Körper würde im Film als nicht echt wahrgenommen werden 25 | Wenn jetzt der Einspruch kommt, dass es durchaus Dokumentarfilme mit Erzählerstimme gibt, so muss entgegnet werden, dass das zwar stimmt, aber hier – so meine Erfahrung – die Fälle anders gelagert sind. Nämlich entweder, dass wir einen ‚allwissenden‘ Erzähler/Filmemacher/Autor/Journalisten haben, der die Situation erläutert und beschreibt und damit den eigentlichen Protagonisten die Stimme nimmt, oder wir einen Protagonisten haben, der uns von sich beziehungsweise der Situation erzählt und den wir dann durchaus als sprechende Person zu sehen bekommen und normalerweise auch in der Handlung.
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und wäre nicht nachvollziehbar und schon gar nicht nachfühlbar. Paradoxerweise kann man diesen Effekt der Nicht-Wahrnehmbarkeit und damit Nicht-Körperlichkeit durch einen künstlichen/fiktiven Körper umdrehen: Wie aufgezeigt, bietet gerade der animierte Protagonist/Körper eine Identifikationsfläche. Zweitens gibt es im vorliegenden Film Körper, sehr reale Körper in den Handyvideos und im Footagematerial, die vor allem durch ihre körperliche Präsenz wirken, unabhängig von ihren Stimmen. Diese Körper sind real und doch auch oft nur schemenhaft zu erkennen. Auch wenn wir herausgearbeitet haben, dass sie gerade mit oder durch Töne, das heißt auch menschliches Geschrei et cetera, wirken, erscheinen sie im Bild doch in der Regel stimmlos, da man den einzelnen Körpern keine einzelnen Stimmen zuordnen kann. Wir nehmen auch hier Körper und Stimme getrennt voneinander wahr und fügen sie erst wieder in der Rezeption zusammen. Gerade die versehrten, verletzten und angegriffenen Körper sowie der tote Körper von Neda wirken beispielsweise besonders körperlich und damit eindringlich. Drittens sind im Film die Körper der Talking Heads, der Interviewpartner, zu sehen. Sie haben die meiste Autorität und das wenigste Potenzial zum ‚Nachfühlen‘, gerade auch durch die starke und eindeutige Verbindung von Köper und Stimme. Hier sehen und hören wir die Menschen in einer Eins-zu-eins-Situation. Sie sitzen oder stehen, blicken in die Kamera und geben ihre Statements. Wie aufgezeigt, bieten sie dadurch Möglichkeiten zur Überprüng der Realität und zur Reflexion. Woher kommt also die Wirkung und die Eindrücklichkeit einer filmischen Strategie, die auf der Trennung von Körper und Stimme beruht? Eine Technik, die uns doch eher aus dem Spielfilm und hier vielleicht aus dem Horrorgenre vertraut ist. Die verstärkte Wahrnehmung findet zwar zunächst auf einer ersten Rezeptionsebene statt, das heißt das Wahrnehmen des Schreckens, die emotionale Übernahme des Geschehens, wie oben durch meine subjektive Empfindung beispielsweise der Gefängnisszene beschrieben. Aber dann wird die Wahrnehmung auf einer zweiten Rezeptionsebene durch das Bewusstsein und durch die Reflexion, die Erkenntnis, die Bewusstmachung erweitert: Dies alles ist „wirklich“ geschehen, und es muss mir in dieser fiktiven/imaginierten Form gezeigt werden, weil es ohne die Kamera als Zeuge geschehen ist. Und wenn etwas wirklich schlimm ist heutzutage, dann doch die Verwehrung der Dokumentation, dann doch das Bewusstsein darüber, dass es Situationen respektive Verbrechen gibt, wo keine Kamera dabei sein kann. Was ist also schlimmer als die grausamen Handyvideos von der Straße? Zu wissen, dass etwas passiert, was ebenso grausam, wenn nicht noch grausamer ist, und ich kann mich noch nicht einmal mit meinen eigenen Augen oder Ohren davon überzeugen. Denn der Blick auf etwas hat ja durchaus auch immer etwas
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Erlösendes. Dabei muss unterschieden werden zwischen den Dingen, die gar nicht gezeigt werden können (und hier dann beispielsweise nur erzählt oder als Animation dargestellt werden) und dem Nicht-Sichtbaren, das außerhalb des Bildes liegt, weil es entweder nicht im Bild gezeigt wird oder das Bild abgeschnitten wird. So wie in dem Videomaterial deutlich wurde. Die Eindringlichkeit wird dadurch erzeugt, dass wir etwas nicht sehen, aber dafür hören können, und das, was wir hören können, so überaus real ist. Es geht auch hier um das Erahnen von etwas, was wir mit unserer Imagination auffüllen müssen, obwohl wir das Material vor Augen haben. Aber dadurch, dass es eine überaus schlechte Qualität hat, sind die Dinge nicht wirklich zu sehen. Erahnen, Aufspüren, Nachfühlen, Mitschreiben – das alles sind Begriffe, die häufig bei der Analyse von Iran: Elections 2009/The Green Wave gefallen sind. Und sie beziehen sich in der Regel auf das Bild, nicht auf den Ton. Die Stimme, die Geräusche, der Sound – sie sind klar in ihrer Aussage, nur das Bild verunsichert. An dieser Stelle sollte – wie auch in dem Kapitel zum Film Promised Paradise von Leonard Retel Helmrich – noch einmal die Überlegung angestellt werden, ob der Ton das Primat über das Bild übernimmt. Zeigt nicht gerade Iran: Elections 2009/The Green Wave, dass sich über den Ton neue Wahrnehmungsräume für die Rezipienten ergeben? Und zwar nicht, wie von Thomas Elsaesser erläutert, durch die neuen technischen Möglichkeiten des Tons (Elsaesser 2010), der dazu in der Lage ist, körperliche Präsenz zu schaffen26, sondern vielmehr durch seine Ursprünglichkeit, einerseits hier als Originalton von Handyvideos und andererseits als Text. Bei Iran: Elections 2009/The Green Wave handelt es sich um einen Dokumentarfilm, der auf besondere Weise die Gleichzeitigkeit von Ereignis und dessen Verarbeitung und Archivierung aufzeigt. Dabei diskutiert der Film die Frage nach der Authentizität der Quellentexte, indem er die Differenz von Text und Stimme thematisiert. Anonyme Blogeinträge erhalten durch die bekannten Stimmen von Schauspielern ein emotionalisierendes Moment, das ergänzt wird von Inszenierungen in Bild und Ton. Auf der Bildebene schafft die Technik der Animation Leerstellen, die – wie die Comictheorie belegt – den Rezipienten zum Co-Autor werden lässt und starke Imaginationsräume eröffnet. Diese Imaginationsräume ermöglichen ein Nachvollziehen und Erleben der dargestellten Ereignisse. Die subjektiv körperliche Erfahrungsebene der Blogger, die vormals schriftlich vermittelt wurde, überträgt sich durch die filmischen, audiovisuellen Strategien auf die subjektive körperliche Erfahrungsebene der Rezipienten. So wird Zeugenschaft zu einem in der Rezeption entstehendem Faktum/Moment, das erst durch die filmische Verarbeitung eine traumatische Situation für Nicht-Beteiligte erfahrbar machen kann. Der Film 26 | Vgl. hierzu auch „Vom Auge zum Ohr und unter die Haut“ in Kapitel 2.
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setzt nämlich dort an, wo die Sprache ‚versagt‘, das Schreckliche nicht benannt werden kann. Iran: Elections 2009/The Green Wave hat damit aus den Augenzeugenberichten ohne vorhandenes Bildmaterial eine kohärente und wahrnehmbare Geschichte entwickelt. Diese wirkt gerade dadurch authentisch, dass sie ihre vielfältigen Strategien nicht verneint.
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6. E xile F amily M ovie Auch Exile Family Movie (A 2006, R: Arash T. Riahi, L: 94 Min.) steht für eine neue Tendenz im dokumentarischen Film, nämlich die Entgrenzung des Privaten durch eine (kollektiv-)autobiografische Erzählweise. Was diesen Film mit den anderen Filmen in den vorangegangenen Detailanalysen eint, ist die Eigenschaft, das Medium Film an sich zu reflektieren und die Beziehungen zwischen Filmemacher und Gefilmten sowie Film und Rezipienten offenzulegen. Allerdings findet hier auf der formalen Ebene keine Entgrenzung in einem inszenatorischen oder filmtechnischen Sinne statt, so wie es bei den vorrangegangen Filmen beschrieben wurde, sondern es handelt sich vielmehr um eine Entgrenzung auf einer inhaltlichen Ebene, wie in der Folge aufzeigt wird. Kurz zum Inhalt des Film: Der Film handelt von der Familie Riahi, der Familie des Regisseurs Arash T. Riahi. Er lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in Österreich, nachdem seine Eltern mit den Kindern, in den 1980er Jahren, der Filmemacher war damals zehn Jahre alt, als politische Flüchtlinge aus dem Iran fliehen mussten. Seitdem halten sie Kontakt via Videobotschaften und Telefonaten, später auch via Skype mit ihrer Großfamilie, die sich im Iran, in Schweden und in den USA aufhält. Innerhalb von zwölf Jahren (1994-2006) dokumentiert Riahi Besuche von der iranischen Verwandtschaft in Wien, seine Besuche bei Verwandten in den USA, Gespräche seiner Eltern über die Flucht aus dem Iran und sonstige Gespräche der Kleinfamilie in Österreich über den Umstand, getrennt von der Großfamilie zu sein. Auch ein geheimes Familientreffen in Mekka, wo mehrere Mitglieder zusammenkommen, dokumentiert er für den daheimgebliebenen Vater. So entsteht ein liebevolles Porträt einer Großfamilie, die sich aufgrund der politischen Umstände im Iran oftmals nur mittels der genannten Medien nah sein kann. Dieser Film war zu großen Teilen ursprünglich nicht für ein Publikum außerhalb seiner Familie gedacht. Er sollte vielmehr eine Art Familienarchiv ideoarchiv‘. sein, ein privates Fotoalbum beziehungsweise ein ‚hauseigenenes V Verschiedene Bilder im Film erfüllen den Zweck, ein anderes Mitglied der Familie über Ereignisse und Befindlichkeiten zu informieren. Der Vater des Filmemachers kann im Nachhinein über die Filmbilder beispielsweise das geheime Familientreffen in Mekka nachvollziehen. Der Film macht so die Mög-
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lichkeit, Erinnerung sowie Nähe und Intimität über das Bild herzustellen, zum Thema. Es wird implizit die Frage gestellt, ob es reicht, sich zu schreiben, sich Filme zu schicken und zu skypen, um sich als Familie zu fühlen – ohne dass körperliche direkte und ständige Nähe möglich ist. Hier steht die Verknüpfung zwischen Medium und Emotionen im Vordergrund. Das ist ein Thema, das fast alle Familien mit Migrationgeschichte betrifft, und letztendlich ein Thema, das jeder nachvollziehen kann, der schon einmal von einem ihm nahestehenden Menschen durch eine große räumlich-geografische Distanz getrennt war. Darüber hinaus diskutiert der Film interkulturelle Beziehungen zwischen den Familienmitglieder und mögliche Identitätskonflikte einzelner Familienmitglieder1. Die Riahis sind also keine ‚gewöhnliche‘ österreichische Familie, die einfach nur ihre Urlaubsvideos festhalten will. Zumindest entspricht dies nicht dem Bild der Familie, das wir vermittelt bekommen. Da der Film seine Entgrenzung auf einer inhaltlichen Ebene erfährt, ist es sinnvoll, diese Analyse nach inhaltlichen Themenblöcken im Film zu strukturieren. Der Film verfolgt mehrere Themen, die alle anhand der eigenen Familiengeschichte erzählt werden. Im Prinzip liegt eine Dreiteilung vor: Im ersten Drittel des Films werden wir in die Familiengeschichte und in die aktuelle Familiensituation eingeführt. Dabei wird deutlich, wie sehr die Familie und einzelne Familienmitglieder unter der räumlichen Trennung leiden. Hier wird auch stark das Medium Film reflektiert. Im Vordergrund steht eindeutig der Vater, der seine Situation als Intellektueller und politischer Gefangener im Iran darlegt. Zwei Besuche von Verwandten in Österreich in den Jahren 1994 und 1998 werden thematisiert. Nach einer knappen halben Stunde beginnt der zweite Teil im Jahr 1999 am Flughafen in Wien. Die Familie bricht auf, um in Mekka ‚als Pilger getarnt‘ Verwandte zu treffen – bis auf den Vater, der die Reise für zu gefährlich hält. Hier steht vor allem die Schwester, die als Österreicherin in Saudi-Arabien Probleme mit der Rollenverteilung von Mann und Frau hat 2 , im Vordergrund sowie die interkulturelle Begegnung, vor allem zwischen den Frauen. Im drit1 | Dabei gibt es verschiedene Stoßrichtungen, wie diese Beispiele andeuten sollen: Die Schwester, die sich als Österreicherin fühlt und Schwierigkeiten hat sich mit der iranischen Tradition anzufreunden, oder aber auch die Cousine, die aus dem Iran nach Kanada auswandert und sich dort zunächst unwohl fühlt. 2 | Beispielsweise sagt Azy beim Essen in einem Kentucky-Fried-Chicken-Lokal, wo sie das Kopftuch abnehmen darf: „Endlich konnte ich meine Kopfbedeckung heruntergeben, damit meine Haare frei sind. Ich hasse diese Regeln in diesem Land und ich hasse auch die Männer, die nicht mit mir reden, weil ich eine Frau bin.“ (00:36:4900:37:02) (Soweit nicht anders gekennzeichnet beziehen sich sämtliche in diesem Kapitel aufgeführten und mit Zeitangabe versehenen Szenen/Dialoge auf den Film E xile Family M ovie.)
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ten Teil des Films werden weitere Entwicklungen aufgezeigt, also beispielsweise, dass der Großvater stirbt und die Großmutter eine Greencard bekommt und bei der Tante in den USA leben kann. Oder auch, dass der Vater beginnt, seine Erlebnisse von Gefängnis und Folter nach 26 Jahren aufzuschreiben, Besuch von weiterer Verwandtschaft in Wien, aber auch banalere, kleine Dinge wie die Installation von Skype auf den Rechnern und eine Skype-Konferenz der Frauen bei einer Tasse Tee. Letzteres verortet die Protagonisten in der Gegenwart und thematisiert von sich aus erneut „Alltag“. Die Handlungsstränge des Films erzeugen von sich aus wenig Spannung, dennoch ist man die ganze Zeit vom Geschehen gefesselt. Als Zuschauer hat man die Möglichkeit, mit dem Filmemacher und seinen Geschwistern auf Spurensuche zu gehen und die Familie kennenzulernen. Dabei lebt der Film einerseits vom Charisma seiner Protagonisten, andererseits aber auch von dieser spezifischen Form der autobiografischen Erzählung, die ganz klar den Zeitgeist trifft. Immer mehr Filme werden aus einer autobiografischen Perspektive erzählt; dabei ist es auffällig, dass besonders Filmemacher mit Migrationsgeschichte familiären Themen nachgehen. Weitere Beispiele hierfür sind Alias von Jens Junker (D 2009, R: Jens Junker, L: 90 Min.) oder Sergej in der Urne von Boris Hars-Tschachotin (D 2010, R: Boris Hars-Tschachotin, L: 110 Min.). Die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen verschwimmen. Oft ist unklar, ob (Groß-)Eltern und Geschwister zu ausgestellten Objekten oder Mitstreitern werden beziehungsweise es vorher waren. Der Filmprozess ist Teil einer Identitätssuche und versucht Fragen zu beantworten, die sich die jungen Filmemacher hinsichtlich ihrer Herkunftsgeschichte stellen. Hier findet eine filmische Form des autobiografischen Schreibens statt. Das Verhandeln der eigenen Identität in medialen Formaten, die Verschiebung von der Privatheit zur Öffentlichkeit, eine Authentifizierung durch die Offenlegung des Narrationsprozesse sind Strategien des gegenwärtigen Medienzeitalters, das durch Soziale Netzwerke und Youtube im digitalen Zeitalter geprägt ist.
6.1 B eziehungsebenen im F ilm Exile Family Movie begint mit einer ungewöhnlichen Kameraperspektive. Ein Junge und ein Mädchen sitzen an einem Tisch und schauen direkt in die Kamera. Die beiden umarmen sich und der Junge sagt: „Das ist meine Schwester Azy. Ich bin Arman.“ (00:00:16) Arman sagt weiterhin: „Ihr müsst uns alle in Österreich besuchen kommen!“ Unter dem Tisch kommt jemand hervorgekrochen und stellt sich selbst vor: „Ich bin der dritte Mann.“ Und: „Hallo ich bin Arash. Ihr kennt mich ja.“ (00:00:30) Die drei haben offensichtlich Spaß und lachen sehr viel, doch ihr Blick führt auch immer wieder ein wenig suchend, vielleicht auch entschuldigend, aus dem Bild heraus. Sie befinden sich also
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nicht alleine in dem Raum mit der Filmkamera. Die Präsenz weiterer Personen wird spürbar. Und diese Präsenz weiterer „Personen“ und, wenn man so will, weiterer „Rezipienten“ des Filmbildes ist in dem Film sehr häufig spürbar. Es gibt keinen kohärenten Kreis von Rezipienten und daher kann es auch nicht die eine Form von Rezeptionsangebot geben. Das wird bereits in diesen ersten Minuten im Film offen gelegt. Nach der ‚Vorstellungsrunde‘ wird abgeblendet in ein Schwarzbild und Musik setzt ein. Dazu erscheint der Schriftzug des Titels und eine Stimme ist zu hören: „Bevor dieser Film beginnt, muss ich Sie auf einige Dinge vorbereiten. Die folgenden Bilder werden Sie in diesem Film wohl am häufigsten zu sehen bekommen.“ (00:00:32-00:00:35) Darauf folgt ein kurzer Zusammenschnitt von Bildern mit sich küssenden Menschen. Die Küsse werden auf die Wange oder auf die Stirn gegeben, zur Begrüßung oder zum Abschied. Dazu hört man laute Kussgeräusche. Weiter heißt es: „Es gibt Dinge, die in diesem Film nicht gesagt werden können.“ (00:00:48) Als Beleg dafür folgt nun ein Zusammenschnitt von Bildern, in denen Menschen die Kamera, also quasi unseren Blick, „wegschieben“ und es werden Kommentare, wie etwa „Film nicht so viel!“ (00:00:49), geäußert. Weiter: „Und die meisten Bilder in diesem Film waren ohnehin nicht für Ihre Augen bestimmt, sondern für die meiner Verwandten im Iran.“ Es ist der Regisseur Arash T. Riahi, der hier die Rezipienten (das Publikum, das nicht seine Familie ist) direkt anspricht. So wird einerseits eine große Nähe hergestellt, die andererseits im gleichen Zuge mit der Aussage gebrochen wird, dass die Bilder nicht für die Augen der Rezipienten bestimmt waren. Das macht neugierig und erzeugt eine gewisse Spannung, denn natürlich gehört jeder gerne zu den ‚Auserwählten‘, die einen Blick hinter die Kulissen werfen dürfen. Wir befinden uns also nach der Titeleinblendung und den beschriebenen Sequenzen wieder beim Ausgangsbild, die drei Geschwister sitzen am Tisch und schauen in die Kamera. Die Musik hat sich inzwischen gesteigert. Dazu sagt Riahi nun direkt in die Kamera und blickt damit die Rezipienten direkt an: ARASH: „Unser Leben hier läuft sehr gut und wir sind glücklich. Das einzige Problem ist, dass unsere Familie nicht bei uns ist. Ich muss sagen, je älter ich werde, desto mehr wird die Tatsache, nicht bei euch und in meiner Heimat sein zu können, zu einem immer größeren Problem. Und wenn ich jetzt Videos von euch sehe, muss ich weinen, weil ich sehe, wie wir miteinander über die Kamera reden. Und obwohl ich Film liebe, wäre es besser, wir würden uns richtig in die Augen sehen können.“ (00:01:00-00:01:22)
So wird bereits zu Beginn des Films eine ganze Reihe an Themen genannt, die in dem Film diskutiert werden, wie Familie, Heimat, Nähe und Distanz. Zugleich wird ein Diskurs über Nähe und Distanz auch auf der filmisch-formalen
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Ebene geführt. Das Filmbild zeigt uns Einstellungen, die wir – vor allem in ihrer Intimität – nicht im dokumentarischen Film gewohnt sind. Dadurch wird auch auf dieser Ebene gleich zu Beginn die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in dem Film aufgeweicht und thematisiert. Dem Rezipienten werden Bilder gezeigt, die nicht für ihn bestimmt sind. Das widerspricht eigentlich jeder Logik und scheint doch genau den Zeitgeist zu treffen. 3 Die politische Ebene kommt durch den Umstand, dass die Familie nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen in diesem Zustand der Trennung lebt, hinzu. Nach den oben veranschaulichten Begrüßungen sieht man Straßen- und Landschaftsszenen inklusive einer Schafherde. Eine eindeutige Identifizierung ist für einen Ortsunkundigen zunächst nicht möglich. In jedem Fall sieht es nicht nach einer österreichischen Landschaft aus. Vielleicht sind wir im Iran? Oder woanders? Dazu ist wieder Riahis Stimme zu hören. Er erzählt, wie seine Familie 1983 als politische Flüchtlinge aus dem Iran fliehen musste. Mit folgendem Ausspruch nimmt er direkt Bezug zum Filmbild: „Kurdische Schlepper brachten uns über diese Berge in die türkische Stadt Van.“ (00:01:50f.) Im Hintergrund läuft weiterhin Musik und wir wissen nun durch den Text und Straßenschilder, dass wir mit dem Filmemacher in der Türkei sind. Dann sieht man, wie Riahi seinen Vater anruft und ihn darüber informiert, dass er fast an der iranischen Grenze steht. Wir hören den Vater über die Freisprechfunktion. Er fordert seinen Sohn auf: „Und komm zurück nach Österreich, so schnell wie möglich!“ (00:o3:16)4 Der hier detailreich aufgeschlüsselte Anfang des Films entspricht einer klassischen Exposition im Drama5, die handelnden Personen werden vorgestellt und bereits alle wichtigen Beziehungen (und damit auch unterschwellige Konflikte) werden angedeutet. Erzähler im Film – und damit eine der zentralen Identifikationsfiguren – ist Arash T. Riahi. Er führt von Anbeginn durch den Film und wird als Filmemacher und Sohn thematisiert. Seine Beziehungen sind es, die 3 | So beobachtet man heutzutage einen unübersehbaren Trend zur Selbstpräsentation, gerade im Internet und in autobiografischen Darstellungen. Viele Informationen über Menschen sind ‚abrufbar‘ ohne ihr Dazutun und man hat den Eindruck, dass das Private und das Öffentliche immer mehr zusammenfließt. Am deutlichsten wird dies bei Personen, die ohnehin im öffentlichen Leben stehen, wie beispielsweise bei Politikern, aber auch im Rahmen unzähliger Videotagebücher auf Youtube, etwa von Jugendlichen, die von ihrer ersten Liebe berichten, aus der Schule erzählen oder Styling-Tipps geben. 4 | Hierbei handelt es sich um eine der wenigen Szenen, die wirklich inszeniert wirken. Arash T. Riahi berichtete bei dem Filmscreening auf dem Ethnofilmfest in München 2007, dass sehr wenige Szenen und zwar in erster Linie die Telefongespräche nachinszeniert wurden, da er bei den Telefonaten seiner Mutter mit seiner Tante selbst nicht anwesend war. 5 | Zum Drama siehe Poetik von Aristoteles und Das Drama von Manfred Pfister.
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die Dokumentation der verschiedenen Handlungsstränge lenken. Aus diesem Blickwinkel steht die Beziehung zu seinen Eltern und hier vor allem zu seinem Vater im Vordergrund. Es wird also auch eine Vater-Sohn-Geschichte erzählt: VATER: „Arash, es wäre besser, wenn du mit diesen Dokumentarfilmen über die Familie aufhörst und dich mit kreativeren Themen und gesellschaftlich relevanten Filmen beschäftigst. Das ist sehr wichtig.“ ARASH: „Okay, nach diesem Film.“ VATER [lacht]: „Nach diesem Film? Salman Rushdie hat mal gesagt: ‚Wenn du schlechte Literatur machen willst, arbeite autobiografisch!‘“ (00:04:04-00:04:19)
Aber darüber hinaus ist es eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, wie bereits der Titel besagt. Es ist ein Film, in dem das Thema interkulturelle Begegnung innerhalb einer Großfamilie erzählt wird. Riahi hat enge Beziehungen zu seinen Geschwistern, seinen Großeltern, vor allem dem Großvater, seinen Verwandten in den USA und einer seiner Cousinen aus dem Iran, die später mit ihren Kindern nach Kanada emigriert. Beziehungen und Handlungsorte außerhalb der Familie spielen keine Rolle und werden nicht thematisiert.6 So wird durch die Beziehungen ein abgeschlossener Kommunikationsraum geschaffen, der in dem Sinne nur durch den nichtfamiliären Rezipienten durchbrochen wird. Hierbei steht natürlich die Bedeutung des Films als Kommunikationsmedium im Vordergrund.
6.2 K ommunik ation im und durch den F ilm Arash T. Riahi präsentiert Videonachrichten7 als gängige Kommunikationsform. Da sie auf gewisse Art und Weise der Ausgangspunkt dieses Films sind, oder zumindest seine Inspiration, soll nachfolgend auf die Videonachrichten als Kommunikationsmittel und als dramaturgisches Element des Films eingegangen werden. Der Erzähler Riahi erläutert: „Die Jahre vergingen, nach und nach kannten wir die Verwandten aus dem Iran nur mehr aus Briefen, Telefonaten und Videonachrichten.“ (00:05:33-00:05:41) Interessant ist hierbei, dass der Regis6 | Zwei Mal sieht man die Familie außerhalb des ‚familiären Raums‘ und zwar einmal die Mutter in der Grundschule, in der sie arbeitet, und einmal die Eltern und die Schwester in dem Moment, in dem diese von der Universität ihre Urkunde für den Doktor der Medizin überreicht bekommt. 7 | Gemeint sind hiermit Nachrichten, die auf VHS-Kassetten verschickt wurden und damit natürlich auch für einen spezifischen Zeitraum stehen.
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seur sich dafür entscheidet, die Filme in einem Fernsehgerät zu zeigen. Die Tatsache, dass es sich um Röhren-Fernseher und keine Flachbildschirme handelt, zeigt neben den VHS-Kassetten die Zeit an: Das sind die 1990er Jahre. Die Filme sind wahrlich Videobotschaften über die Erinnerungen, die gegenwärtig bleiben sollen. In einem Video sagt eine Frau beispielsweise: „Wir schicken dir diesen Film aus dem Iran. Wir wollen uns einige Erlebnisse aus deiner Kindheit wieder in Erinnerung rufen und dir senden.“ (00:06:04-00:06:16) Die Filme (und auch Briefe) werden genutzt, um Erinnerungen und Emotionen zu teilen, so wie die Eltern später auch ihrer Tochter erklären: „Wenn wir das lesen, werden unsere ganzen Erinnerungen wach und laufen wie ein Film vor unseren Augen ab. Natürlich werden wir dadurch auch traurig.“ (00:07:38-00:07:42) Das Video, das sich Riahis Vater von einem seiner Neffen anschaut, zeigt, dass Videos nicht als adäquater Ersatz für Face-to-face-Kommunikation wahrgenommen werden. Der Neffe äußert sich darin direkt zu der Situation ihrer Beziehung: NEFFE: „Lieber Onkel, jede emotionale Verbindung braucht bestimmte Grundvoraussetzungen und das Wichtigste dabei ist die Nähe zueinander. Ehrlich gesagt kann ich im Bezug auf Sie nicht sagen, dass ich Sie vermisse, denn ich kenne Sie überhaupt nicht. In Wirklichkeit wünsche ich mir einen Onkel, den ich kenne und verstehe, und umgekehrt. Ihr seid in einigen Dingen übervorsichtig. Ist das wirklich nötig? Wenn ja, würde ich gerne den Grund wissen...“ (00:18:40-00:19:16)
Riahi selbst ist daraufhin gehend im Bild und erklärt für die Kamera, wo man sich befindet und was man vorhat. Er sagt: „Wir werden auch alles für Vati aufnehmen, wenn uns die Araber lassen.“ (00:30:08) Genauso spricht die Schwester Azy im nächsten Bild in die Kamera und erläutert, dass sie sich ihrer Meinung nach schon sehr verändert hat, was sie damit begründet, dass sie nun ein Kopftuch und ein Kleid tragen muss. Der veränderte Adressat ist spürbar, es ist, als hätte sich eine vierte Wand aufgetan und der Film bekommt nun auch einen Rezipientenkreis außerhalb der Familie. Der Bildausschnitt ist professioneller, der Ton ist besser und es werden andere Dinge erzählt (00:30:50ff.). Es wird das kommentiert beziehungsweise beschrieben, was im Bild zu sehen ist. Dabei wird niemand direkt angesprochen, sondern die Kamera ist der Adres sat. Der große Unterschied ist zudem die Bewegung und die Handlung. Da die Handlung sehr greif bar ist, können die Geschehnisse gut kommentiert werden. Im Gegensatz zu den erzählten Erlebnissen aus der Vergangenheit geschieht jetzt etwas: Die Familie ist in Mekka und begegnet sich dort leibhaftig. Dieser Teil entspricht also vielmehr einer ‚klassischen‘ Dokumentation. Der Kameramann begleitet die Familie bei ihrer Reise nach Mekka. Diese Bilder sind genauso in Bewegung wie die Personen. Spannung entsteht dadurch, dass
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niemand weiß, was passiert, und die Österreicher, so könnte man annehmen, sich vermutlich schwer tun mit den Verhaltenskodices der arabischen Welt. So folgt Riahi nach der Ankunft in Saudi-Arabien mit der Kamera seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Bruder auf dem Weg ins Hotel. Währenddessen äußert die Mutter, dass sie sich fühle, als käme sie von „einem anderen Planeten“ (00:32:08). Im Hotel diskutieren die Geschwister dann den Umstand, dass die Schwester ihr helles Haar nicht auf der Straße zeigen darf, weil sie sonst alle Probleme bekämen (00:33:30ff.). Es scheint so, als würde sich die Diskussion durch die Anwesenheit der Kamera hochschaukeln, vor allem deswegen, weil Riahi sich filmend aus dieser zurückhält. Riahi beteiligt sich am wenigsten inhaltlich an der Diskussion, wird aber von seinen zwei diskutierenden jüngeren Geschwistern immer wieder auffordernd angeschaut und so sprechen sie ihn an und schauen immer mal wieder ‚provozierend‘ in die Kamera. Die Kamera wird hier durch Blicke und den Gesprächsverlauf thematisiert. Und so ist die Diskussion, die inhaltlich irgendwann ‚ins Leere läuft‘, auch dann beendet, als Riahi sich nicht mehr zurückhalten kann und anfängt zu lachen.
6.3 R efle xion auf das M edium F ilm Eine weitere Reflexionsebene auf das Medium Film findet durch Tante Moti statt, die sich seit 17 Jahren, seit sie in den USA lebt, regelmäßig die US-amerikanische Seifenoper mit dem Titel The Young and the Restless 8 ansieht (00:10:17). Sie sagt dazu in die Kamera, dass sie die Serie seit 17 Jahren verfolgt und diese sie an ihre „seltsame Familiengeschichte“ erinnert (00:10:20): MOTI: „Sie ist auch wie eine Seifenoper mit all den unglaublichen Dingen, die passiert sind. Das ist sehr ähnlich wie diese Serie. Zum Beispiel Billy und Mack erfahren in der Hochzeitsnacht, dass sie Cousins sind. Wenn wir wegen der Probleme, die wir mit diesem Regime haben, nie wieder zurückkehren können, kann uns auch so etwas passieren wie in der Serie. Die Familie oder die Kinder würden sich irgendwo treffen und vielleicht mögen. Und wenn wir nicht aufpassen, kann es schon passieren, dass sie heiraten ohne zu wissen, dass sie Cousins ersten oder zweiten Grades sind. Jedes Mal, wenn ich die Serie verpasse, glaube ich, es ist auch was in unserer Familie passiert, das ich verpasst habe. Deshalb muss ich es immer sehen.“ (00:10:26-00:11:26)
Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die „Tante aus Amerika“ einerseits ein gewisses Ami-Klischee erfüllt – als die perfekt frisierte und manikürte 8 | Erstausstrahlung der Fernsehserie war der 26.03.1973; S chat ten der L eidenschaf t, so der deutsche Titel, läuft in den USA bis heute.
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Dame auf der Couch, die sich regelmäßig Seifenopern ansieht – und andererseits neben der parasozialen Interaktion9 auch noch ihre eigene Familiengeschichte in der Serie gespiegelt sieht. Aus filmanalytischer Sicht ist interessant, dass Riahi sich dafür entscheidet, Ausschnitte der Serie im Zoom abzufilmen (00:11:26) und darauf die Tante erläutert, dass sie hofft, mit einem gewissen Dr. Yazdi den Iran ‚zu befreien‘. So sieht sich die Tante Videobotschaften eines Dr. Yazdi an, der eine friedliche Revolution im Iran durchführen will und mit seinen Gefolgsleuten tanzend durch die Straßen ziehen möchte, damit alle Exil-Iraner zurückkehren können. Die Tante wartet auf den Tag der friedlichen Revolution. Man hat den Eindruck, dass sie ihr Leben auf der Couch vor dem Fernsehen verbringt, um wahlweise eine Soap Opera, Videos oder Fernsehbeiträge von Dr. Yazdi iahis (00:15:44) oder Videobotschaften ihrer Familie anzusehen. An Arash T. R Tante Moti lässt sich gut zeigen, wie das Fernsehbild und die Videobotschaft ein parasoziales Umfeld auf bauen können, in dem zwischen fiktionalen Personen (Schauspieler der Soap Opera) und realen Personen (Verwandte aus dem Iran und Österreich) nicht mehr unterschieden wird und die emotionale Bindung der Rezipientin (Tante Moti) zumindest im Film gleich erscheint. In diesem Kontext ist der ‚Prophet‘, der Befreier des Iran, Dr. Yazdi, der sich später im Film als Hochstapler herausstellt, natürlich eine besonders interessante Erscheinung. Seine Videobotschaften scheinen genau an dem Gefüge Film-Sehnsucht-Heimat anzusetzen und so besondere Überzeugungskraft zu gewinnen. Da die Videobotschaften selbst leider nur als kleine Bilder im Fernsehgerät zu sehen sind, kann ich diesen Punkt nicht vertiefen, möchte ihn aber insbesondere hinsichtlich anderer angesprochener Videobotschaften 10 in dieser Arbeit nicht unerwähnt lassen. Ferner findet die Reflexion auf das Medium Film auch in einigen Szenen statt, die in Mekka entstanden sind. Durch das explizit heimliche und versteckte Filmen wird automatisch auf das Medium Film und auch seine Wirkmacht verwiesen. Wenn Riahi beispielsweise die betenden Pilger in Mekka heimlich filmt und man die Stimme seiner Mutter hört, dass sie aufgrund der Überwachungskameras Angst hat, entdeckt zu werden (00:34:28), fühlt man sich sogleich unbehaglich. In dem Bild sind auch noch irgendwelche Schatten von der Jacke oder dem Umhang zu sehen, hinter der er den Camcorder versteckt hält. 11 Auch hat man das Gefühl und hat es auch so gelernt, dass es nicht ‚rich9 | Zu „Parasoziale Interaktion“ siehe Mikos 2003: 171 ff. 10 | Gemeint sind die Videos von Imam Samudra (P romised Paradise) oder Osama Bin Laden (M aking of – K amik aze). 11 | Die Darstellung von heimlichen Filmen und die Gefahren des Filmemachens ist explizites Thema in der im nächsten Kapitel folgenden Analyse zu B urma VJ – R eporting F rom A C losed C ountry.
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tig‘ ist, an einem heiligen Ort zu filmen. Diese Aufnahmen in Mekka sind zudem ein weiterer schöner Hinweis darauf, wie sich der Film von der Erinnerung an Familienbesuche hin zu einem Filmprojekt gewandelt hat. Diese Bilder sind für den in Wien gebliebenen Vater sicher von geringstem Interesse, gerade durch die insgesamt kritische Haltung der Familie gegenüber der stark gelebten Religiosität. Auch die Kamera als ‚Teil von‘ Riahi selbst wird thematisiert. Er wird, wie bereits aufgezeigt, mit der Kamera als Diskussionspartner in einen Streit der Geschwister integriert. Wenn er zu sehen ist, dann bewusst von seiner Seite aus gewählt. Nur einen Moment im Film gibt es, wo dies offensichtlich nicht der Fall war: So ist es die Großmutter, die in die Kamera blickt und ihn auffordert: „Gib mir jetzt die Kamera, damit ich dich endlich filmen kann.“ (01:06:18) R iahi erwidert: „Großmutter, die große Filmemacherin.“ Dabei ist er sichtlich unsicher, selbst in den nahen Fokus seiner Kamera gerutscht zu sein. Natürlich war es dann aber die Entscheidung im Schnitt diese Szene und diese Form der Selbstreflexion im Film zu lassen. Am Ende des zweiten Teils, also am Ende der Mekkareise, thematisieren sich die Geschwister inklusive des Filmemachers noch einmal selbst. Sie küssen ironisch ein dickes Buch, verabschieden sich und sagen, dass sie wieder ins Exil flüchten. Die letzten Minuten im Film in Mekka gehören dem kleinen Großcousin, dem Sohn der Cousine Gohdsi, der als Halbwaise aufwächst, weil sein Vater im Iran aus ungeklärten Gründen erschossen wurde. Riahi filmt sich zusammen mit dem kleinen Jungen im Spiegel, der äußert, dass er glücklich ist „einen neuen Bruder gefunden zu haben und dann auch noch einen mit Glatze“ (01:14:38). Danach verabschiedet sich die Familie voneinander. Nun beginnt der letzte Teil des Films, den man auch als eine Art Nachwort sehen kann. Wir befinden uns nun im Wohnzimmer der Familie in Wien (01:18:13) und sehen im Fernseher Filmaufnahmen aus Mekka. Arash T. Riahi sagt als Sprecher dazu: „Zurück in Wien konnte mein Vater aus unzähligen Stunden Videomaterial aus Saudi-Arabien das Familientreffen miterleben.“ Hier wird offensichtlich, dass das Filmen, wie vertiefend aufgezeigt werden soll, konkrete Funktionen hat.
6.4 E rinnern im und durch den F ilm Es gibt relativ früh ein Bild, das die ganze Kraft des Films bereits in sich trägt. Wir befinden uns im Jahr 1994, wie wir durch eine Einblendung erfahren, und Arash T. Riahi muss sich selbst erläutern, damit man ihn erkennt: „Damals hatte ich noch Haare.“ (00:11:54) Es ist das erste Mal nach der Flucht zehn Jahre zuvor, dass die Großeltern nach Österreich reisen, um ihre Familie zu sehen. Der Besuch wird mit der Kamera dokumentiert, um ihn möglichst lange in Er-
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innerung zu behalten. Die Familie umarmt, drückt und küsst sich mehrfach vor der Kamera. Wir sehen hier einen sehr taktilen Umgang miteinander und er wird fast ebenso intensiv und taktil, wenn nicht sogar ein bisschen amateurhaft festgehalten. Ein Bild ist besonders eindringlich: Der Großvater liegt erschöpft und glücklich auf dem Bett und blickt direkt in die Kamera. Hier wird die Kamera fast so etwas wie die Umarmung des Enkels. Es scheint fast, als würde sich die grobe, raue Haut des alten, gütig wirkenden Mannes in die Grobkörnigkeit des Kamerabildes übertragen. Es scheint, als bestünde das ganze Bild aus diesem Mann und diesem Körper, als wäre dieses Bild der Versuch, ihn für immer so festhalten zu wollen und der Sterblichkeit entgegenzuwirken (00:14:21). Es ist auch der Großvater, der sich zu einem späteren Zeitpunkt beglückt über die Filmaufnahmen äußert. Er hat das Gefühl, dass er über diese über seinen Tod hinaus bei seiner Familie bleiben kann, sagt er zu seinem Enkel: GROSSVATER: „Ich bin dir sehr dankbar.“ ARASH: „Warum?“ GROSSVATER: „Weil du dich an mich erinnerst, mich filmst und so später etwas von mir übrig bleibt.“ ARASH: „Du wirst immer da sein.“ (00:49:00-00:49:22)
Es hat den Anschein, dass Riahi vor allem seinem Großvater, der am Ende des Films nicht mehr leben wird, sozusagen ‚unter die Haut kriechen‘ möchte. Wenn er singt, geht er ganz nah an ihn heran (01:08:21). Hier versucht der Film, Nähe und Intimität zu konservieren. Es gibt eine weitere Situation, in der ganz klar ist, dass der Film ein Erinnern an den Großvater bewusst im Auge hat. Die Großeltern sitzen auf der Couch und vermutlich Arman Riahi12, der Bruder des Filmemachers, fragt sie, ob sie sich lieben und wie sie sich damals kennengelernt haben. Die Großmutter war 13 Jahre, als sie Riahis älteste Tante Moti geboren hat, und der Großvater 25 Jahre. Die Großeltern amüsieren sich, denn so direkt werden sie das vermutlich selten gefragt: ARMAN: „Hast du Großmutter schon mal gesagt, dass du sie liebst?“ GROSSVATER: „Schon oft.“ [Die beiden sitzen Händchen haltend nebeneinander auf der Couch.] ARMAN: „Wie? Küsst du sie oder was tust du?“ [Der Großvater lacht auch.] GROSSVATER: „Ich streiche über ihren Hals und über die Ohren.“ 12 | Man sieht den Wechsel der Kameraführung nicht, aber die Stimme des Fragenden klingt hier anders. Ich meine, es ist Arman.
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Zwischen Dokumentation und Imagination ARMAN: „Kann ich mal sehen?“ [Die Großeltern streichen sich gegenseitig über den Kopf] ARMAN: „Großmutter, wie alt warst du, als ihr geheiratet habt?“ GROSSMUT TER: „Als ich deine Tante Moti bekommen hab, war ich gerade 13.“ ARMAN: „Großvater, wie alt warst du?“ GROSSVATER: „Ich war 25 Jahre alt.“ GROSSMUT TER: „100!“ [Sie lachen.] GROSSMUT TER: „Großvater war ein fescher Typ, ich hab ihn nur wegen seines Aussehens geheiratet.“ [Sie schaut verschmitzt. Arman lacht.] ARMAN: „Woher hast du gewusst, dass sie die Frau deines Lebens ist?“ GROSSVATER: „Weil sie eine gute Familie hatte.“ [Die Großmutter beugt sich rüber und flüstert ihm etwas ins Ohr. Er lächelt verschmitzt.] GROSSVATER: „Ich...“ ARMAN: „Was?“ [Großmutter flüstert ihm noch mal ins Ohr.] GROSSVATER: „Ich hab sie ihretwegen geliebt.“ [und grinst] (01:05:07-01:06:13)
Mit dem Großvater am Ende des Films stirbt auch in gewisser Weise das Familienoberhaupt der iranischen Großfamilie. So klingt es immer mal wieder an, aber nun kann die Familie sich unter anderem mit dem vorliegenden Film an ihn erinnern und auch an seine Vorstellung von Familienzusammenhalt, die im Film thematisiert wird. Der Film als Gedächtnis der Familie Riahi. Eine andere Form des Erinnerns, die gezeigt wird, besteht darin, dass der Vater sich durch den Film beziehungsweise die Dreharbeiten an verschiedene Dinge aus seiner Zeit im Iran erinnert. So erzählt er von einem Kinderbuch, dass es in der Schah-Zeit verboten war (das moderne Märchen Der kleine schwarze Fisch, von Samad Behrangi), während er die Aquariumsfische seines Sohnes füttert (00:14:44-00:15:23). Es ist spürbar und wird durch die Einleitung „Mir ist noch eingefallen“ angedeutet, dass der Vater sich extra für den Film erinnert, um die Geschichte zur Handlung und auch zur Erklärung beizutragen. Dadurch macht er die Situation, das eigene Verhalten und das Thema begreif bar – in erster Linie für seine Kinder, die nur das Leben in Österreich kennen. „Wegen Bücherlesen ins Gefängnis zu kommen, das glaubt dir in Europa keiner.“ (00:15:23) Auch wenn sich – wie aufgezeigt wurde – der Filmstil im zweiten Teil wandelt, so ist es doch so, dass in dem Moment, in dem Riahi mit der Kamera das Hotelzimmer mit all seinen Verwandten aufsucht, die Kamera für den Moment völlig unwichtig wird. Die Tür zu einem Hotelzimmer mit der
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Nummer 104 öffnet sich und es herrscht absoluter Tumult (00:37:25). Menschen stehen dicht gedrängt, die Kamera nimmt formlose Körperteile in Tüchern auf und es herrscht ein gewisser Lärmpegel. Menschen liegen sich schluchzend in den Armen und drücken sich. Die Situation wirkt beinahe stärker als im klassischen „observational cinema“, denn die Kamera ist hier einerseits vermeintlich unsichtbar und nicht explizit thematisiert, aber andererseits als Teil Riahis ebenfalls ein Teil des Familientreffens. Die Aktivität des Filmens tritt gleichzeitig in den Hinter- und in den Vordergrund.
6.5 R esümee : E ntgrenzung des P rivaten Zweifelsohne ist der ganze Film politisch. Das Thema an sich ist politisch, ebenso wie die einzelnen Argumentationslinien. Die Entgrenzung des Privaten und des Politischen lässt sich besonders gut an der Generation des Filmemachers aufzeigen. Zwar ist der Vater als politischer Flüchtling und ehemaliger Gefangener derjenige, der die explizit politischen Statements von sich gibt: „In der dritten Welt bist du als Intellektueller immer politisch.“ Die Figuren, die wirklich politisch argumentieren und an denen politisch argumentiert wird und auch interkulturelle Konflikte innerhalb einer Familie verhandelt werden, sind aber die Schwester des Filmemachers, Azy, und der amerikanische Cousin Masood. Beide stehen für besonders hybride Identitäten, die sich innerhalb des Films reflektiert (die Schwester) oder unreflektiert (der Cousin) Differenzen zu den kulturellen Differenzen und ihrer eigenen Rolle darin äußern. Hierzu einige Beispiele: Masood erfüllt, ähnlich wie seine Mutter Moti mit den Soap Operas, Klischees einer amerikanischen Gesellschaft. Masood fährt große und schnelle Autos, hat eine Stretch-Limousine in der Garage stehen, steht Zuhause auf dem Lauf band und erledigt dabei ‚Geschäftliches‘ am Mobiltelefon. In seinem Garten baut er ein Schild auf, mit dem er die Wahl von George W. Bush unterstützt. Seine Verwandtschaft lädt er in Mekka zu McDonalds ein. Er hat auch einen starken amerikanischen Slang, wenn er versucht persisch zu sprechen, und ihm fallen oft die Worte nicht ein: MASOOD: „Ich werde heute Nacht Gott für all meine Sünden, die ich in den letzten 22 Jahren in den USA begangen habe, um Vergebung bitten. Ask for redemption.“ ARASH: „Wie viele Jahre denkst du, wird das dauern?“ MASOOD: „Oh this gonna take on beyond redemption.“ [Es wird über die Erlösung hinaus dauern. Übersetzung V.M.] (00:53:12-00:53:28)
Masood steht hier schon eher für einen sehr klischeebehafteten Unterschied zwischen den beiden Kulturen, in denen er sich laut eigener Aussage bewegt.
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So erklärt er seiner Tante aus dem Iran auch, dass es zwar in den USA auch ‚schlechte Menschen‘ gäbe, aber prozentual weniger als im Iran. Seine Logik ist so über-amerikanisch, dass sie schon fast wieder komödiantisch wirkt. Bei der Schwester und den Frauen im Film im Allgemeinen findet die Auseinandersetzung mit den Kulturen auf einer anderen Ebene statt. Hier wird unter anderem die Rolle der Frau im Islam und in der arabischen Gesellschaft thematisiert. Sehr aufschlussreich ist diesbezüglich ein Gespräch, das die Schwester mit Tanten und Cousinen führt. Mit zwei älteren Tanten bespricht sie das Thema ‚Frauen und Bildung und Religion‘, da sie nicht nachvollziehen kann, dass die Tante damit zufrieden ist ‚nur‘ den Koran zu lesen (00:55:54ff.); mit anderen Tanten spricht sie darüber, dass sie nicht heiraten will, aber sich vorstellen kann, Kinder zu bekommen. Das stößt auf großes Interesse bei den Tanten: TANTE 1: „Wir wollen uns hinsetzen und ihr [gemeint ist Azy, V.M.] einfach eine halbe Stunde zuhören. Wir haben sie gefragt, ob sie keinen Mann will. Sie hat gesagt, sie mag nicht heiraten, aber Kinder will sie. Das war interessant und hat uns gefallen. Wenn du das im Iran sagst, heißt das:“ [Die eine macht eine Kopf-ab-Geste.] TANTE 2: „Dein Tod ist sicher.“ (00:40:47-00:41:24)
In dieser Folge diskutieren die Frauen die unterschiedlichen Gepflogenheiten der Liebe und Ehe in Österreich und im Iran. Dabei geht es um vergleichende Unterschiede zwischen dem Iran und anderen Ländern. Durch die Migrationsgeschichte der Familie und die Tatsache, dass der Vater darunter leidet, nicht mehr in sein Land zu können, hinterfragen die Geschwister das Leben im Iran. AZY: „Wie ist euer Leben im Iran? Seid ihr glücklich oder denkt ihr auch manchmal an ein Leben im Ausland?“ TANTE: „Unser Leben im Iran ist nicht schlecht und ich glaube, wir wären im Ausland nicht so glücklich. Deine Eltern wären auch nicht gegangen, wenn sie eine andere Wahl gehabt hätten. Wir wollen nur, so wie in anderen Ländern, mehr Freiheit, nicht in Bezug auf Dinge wie das Kopftuch, das ist uns gleich. Es geht um Freiheit in anderen Belangen, die Freiheit im Denken, freie Meinungsäußerung, dass unsere Kinder problemlos studieren können, was sie wollen. Aber momentan läuft es anscheinend so wie in Zeiten des Schahs, als man nicht ohne weiteres seine Meinung sagen konnte.“ AZY: „Ist es jetzt schlechter als früher?“ ARASH: „Tante, sage nur Dinge, die dich nicht in Gefahr bringen können.“ TANTE: „Glaubst Du, es ist schlecht, was ich jetzt gesagt habe?“
6. E xile F amily M ovie AZY: „Naja, wir wissen nicht, wie genau das im Iran genommen wird, was man sagen darf und was nicht.“ ARASH: „Du hast jetzt niemanden beschimpft.“ TANTE: „Nein, hab ich nicht.“ AZY: „Du hast nur die Wahrheit gesagt.“ TANTE: „Ich sagte nur, dass wir den Iran lieben und dort bleiben wollen. Ich glaube nicht, dass man mich deswegen bestrafen wird. Das ist nichts Schlechtes.“ (01:03:31-01:04:51)
Hier wird über das Thema Zensur innerhalb des Films reflektiert. Der Film sehr hat eine politische Dimension und Arash T. Riahi verheimlicht weder innerhalb des Films noch bei öffentlichen Screenings, dass das Wichtigste bei der Auswahl der Sequenzen war, seine Familie im Iran nicht zu gefährden 13 . Im letzten Teil des Films beginnt der Vater, seine Memoiren zu verfassen, und fragt seinen Sohn, ob er sich vorstellen kann, dass er jetzt nach 26 Jahren erst dazu kommt, seine Erlebnisse, die er im Gefängnis gemacht habe, aufzuschreiben (01:19:15). Die Frage seines Sohnes, was er die ganzen Jahre denn gemacht habe, beantwortet der Vater damit, dass die „Probleme des Lebens“ dazwischenkamen und er erzählt eigentlich noch mal alles, was vor den 26 Jahren passiert ist, dass er im Gefängnis war und sie sich verstecken mussten, dann die Flucht mit den kleinen Kindern nach Österreich. Hier wird das Ausmaß und der lähmende Charakter des Traumas sehr deutlich (01:20:20). Der Vater lebt quasi immer noch in den 1980er Jahren im Iran, ohne dass ein wirklicher Reflektions- oder Loslösungsprozess eingesetzt hätte. Jetzt, auf Anreiz des Films, beginnt er damit, seine Erlebnisse aufzuschreiben. „Diese Erlebnisse aus dem Gefängnis sollte jeder niederschreiben, denn das ist Teil der Diktatur unseres Landes.“ (01:20:20ff.) Der Film thematisiert auf vielfältige Weise die traumatischen Erlebnisse der Generation der Eltern des Filmemachers. Weniger aber in der Form, dass es darum geht, Vergangenes zu erzählen, sondern vielmehr in der Art und Weise, dass Riahi genau hinschaut und ,zeigt, wie das Erlebte die Gegenwart bestimmt, und zwar die Gegenwart über Generationen hinweg. Hierfür zeigt der Film verschiedene Perspektiven der Familienmitglieder, indem er sich den Lebensweisen der Einzelnen nähert, wie diese Analyse aufgezeigt hat. Dabei hinterfragt Riahi nicht zuletzt aus einer persönlichen Motivation heraus, was es heißt, mehrere kulturelle Identitäten zu haben und sich damit auseinanderzusetzen. So stellt er an das Ende des Films die Familienmitglieder, die gerade ‚frische Exil-Iraner‘ sind. Seine Cousine Gohdsi, die mit ihren beiden Kinder, einem Jungen und einem Mädchen im Teenageralter, nach Kanada ausgewandert ist. Es ist deutlich zu merken, dass die Mutter (Cousine) nicht 13 | Beispielsweise beim Ethnofilmfest in München 2007.
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sehr glücklich ist in Kanada und sich schwer zurechtfindet in der fremden Gesellschaft. Ihre Kinder hingegen sind sehr positiv, vor allem ihre Tochter. Die Mutter wirkt sehr ernüchtert, während sie Folgendes in die Kamera sagt: GOHDSI:„Jetzt bin ich hier in Kanada glücklich. Anfangs war es sehr schwer, weil wir niemanden kannten bis auf einen befreundeten Rechtsanwalt, der unsere Umsiedlung organisierte. Wir wussten nichts über Kanada. Aber jetzt bin ich zufrieden. Inzwischen war ich wieder mehrmals im Iran und habe gesehen, dass die Probleme dort sehr groß sind. Deshalb bin ich sehr glücklich, dass ich mich dafür entschieden habe, die Kinder hierher mitzunehmen.“ GOHDSIS TOCHTER: „Jeden Morgen küsse ich sie und bedanke mich bei ihr.“ (01:29:18-01:29:50)
Und die Kinder küssen sie dann in der Tat. Damit ist Riahi mit dem Film noch auf einer anderen Ebene wieder in der Gegenwart angekommen: Das Erleben von Migration und die Auseinandersetzung von den unterschiedlichen Identitäten wird in seiner Familie weiterhin ein Thema bleiben und sich in den nächsten Generationen fortsetzen. Vielleicht, so könnte man imaginieren, machen seine Großcousine und sein Großcousin „später“ mal einen Film über die Geschichte ihrer Familie und die Auseinandersetzung von der kanadischen Kultur mit der iranischen. Einige der letzten Bilder sind einer Skype-Konferenz gewidmet, an der in den USA, in Kanada, Österreich und dem Iran lebende Familienmitglieder beteiligt sind. Arash T. Riahi diskutiert auf inhaltlicher und formaler Ebene den Themenkomplex Migration-Identität-Hybridität in einem sehr persönlichen Film. Dabei legt er vielfältige Perspektiven offen, die gleichsam einen Generationenkonflikt spiegeln. In filmischer Auseinandersetzung mit seiner Familie wird das dargestellte private Leben zu einer politischen Aussage. Film und die mediale Vermittlung hinterfragt Riahi in Bezug auf Nähe und Distanz und reflektiert daraus auf das Medium Film an sich. Die autobiografische Perspektive des Filmemachers steht für einen neuen Trend der Archivierung von Gegenwart und Aufarbeitung von Geschichte. Es wäre in weiteren Schritten zu überlegen, ob sich hier in diesen Formaten eine neue Form von ‚oral history‘ etabliert.
7. B urma VJ: R eporting from a C losed C ountry Der Film Burma VJ: Reporting From a Closed Country (DK 2008, R: A nders Østergaard, L: 84 Min.)1 bricht, anders als die vorrangegangenen Filmanalysen, nicht mit unseren Sehgewohnheiten. Im Gegenteil: Hier werden unsere aktuellen Sehgewohnheiten in Bezug auf klassische Dokumentarfilme und Nachrichtensendungen vorgeführt. Vorgeführt bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein Beispiel für einen möglichen Produktionsprozess offengelegt wird. Das heißt jedoch nicht, dass diese Produktionsprozesse oder Bilder im Film gleichzeitig reflektiert werden. Der Film zeigt die moderne Form des Videojournalismus und eine mögliche Form der Verbreitung dieser Bilder lediglich auf, hinterfragt dabei die Form des Dokumentarischen jedoch nicht kritisch. Interessant ist hierbei, dass Burma VJ unsere Sehgewohnheiten als globale Phänomene präsentiert und auf diese Weise ein hochaktueller Diskurs über Authentizität geführt wird. Das Authentische des Films sind das Footage-Material und die Ebene des Tons. So sind Teile des Audiomaterials und einige Handlungen im Film inszeniert, ohne dass dies deutlich gemacht wird. Gleichzeitig beanspruchen die Filmemacher durch die Verwendung von Footage und Einblendungen mit Verweisen auf Ort und Zeit einen journalistischen Wirklichkeitsanspruch. Damit wird Authentizität suggeriert. Burma VJ erfreute sich vermutlich nicht zuletzt aufgrund der damaligen Aktualität des Themas kombiniert mit dieser vermeintlichen Authentizität einer sehr breiten, medialen Rezeption, so wurde der Film zwei Jahre nach seinem Erscheinen im Jahr 2010 für einen Oscar in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ nominiert. Hier weist der Film bereits in Richtung der ‚Mainstream‘- Filme, welche im folgenden Kapitel eine Kontextualisierung der Filmanalysen leisten sollen. Burma VJ spielte hohe Summen an den Kinokassen ein und hat prominente Fürsprecher wie beispielsweise Richard Gere. Auch die Vermark1 | Im Original als: B urma VJ: R eporter i et lukket land (DK: 2008, R: Anders Østergaard, L: 84 Min.). Auf Englisch: B urma VJ: R eporting from a closed country und auf Deutsch: B urma VJ: B erichte aus einem verschlossenen L and. Die mir vorliegende DVD von dogwoof (2009) trägt den englischen Titel und so wird er in dieser Arbeit verwendet.
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tung und damit in einem nächsten Schritt die Rezeption des Films hebt sich somit von den fünf zuvor analysierten Filmen ab. Dies liegt wohl weniger im Thema (wie suggeriert wird) als vielmehr in der Machart begründet. Hier lassen sich die Authentifizierungsstrategien aufzeigen, die unbemerkt im Mainstream angekommen sind. Burma VJ ist außerdem ein wertvolles Dokument, um Fragen hinsichtlich der Gleichzeitigkeit von Geschichte und Gegenwart im Zeitalter der ‚globalen Dauer-Dokumentation‘ zu untersuchen und zu hinterfragen. Dabei geht es auch um den Zeugnischarakter von Footage und die Frage, inwiefern Bild und Ton einen Augenzeugen brauchen, um authentisch zu sein oder möglicherweise einfach nur noch wahrgenommen zu werden. In der Flut des allgegenwärtigen Bild-Materials müssen die Bilder einen Weg finden sich abzusetzen. Der Film von Anders Østergaard legt Zeugnis ab über die Härte einer Militärdiktatur. Gleichzeitig ist er Zeugnis einer „dokumentarischen Revolution“2: Diesen Begriff Østergaards möchte ich aufgreifen, um damit bereits an dieser Stelle deutlich zu machen, dass für ihn und die anderen an dem Film beteiligten Personen zwar die Pressefreiheit und der Demokratie- respektive Freiheitswunsch der Bevölkerung von zentraler Bedeutung sind; ihnen jedoch auch eine explizite Demonstration von filmischen Techniken und eine Methode, also auch eine Revolution im Dokumentarischen, ein Anliegen ist. Es geht in diesem Film folglich auf mehreren Ebenen um die Art und Weise, wie dokumentiert wird und damit um die Bildproduktion. Es bleibt zwar offen, ob der Regisseur selbst diesen Ausdruck in doppeldeutiger Weise intendiert hat, jedoch ist zum Beispiel aufgrund des expliziten Einsatzes des Tones davon auszugehen. Relevant sind dabei Bilder, die eingehen in die Weltpolitik und den Wandel, dem diese globalen Bilder unterliegen. So zeigt der Film am Beispiel birmanischer Videojockeys (VJs), die unter Einsatz ihres Lebens ‚verbotene Bilder‘ in ihrem Land aufnehmen und in die Welt verbreiten, wie diese Revolution der Bilder funktioniert. Zugleich behandelt der Film ein konkretes (dokumentiertes) politisches Ereignis: Die Proteste während der so genannten Safran-Revolution in Birma 2007. Es ist (wieder) ein Film über den Wunsch nach Freiheit, nach Demokratie und gleichzeitig ein Film, der ‚seine Bilder befreit‘ und uns die Macht der Bilder zeigt. Der Film verbindet damit explizit das ‚Wie‘ mit dem ‚Was‘, also die Form mit dem Inhalt, die filmischen Strategien mit dem Thema. Kurz zum Inhalt des Films. Joshua, ein Videojockey, berichtet mithilfe von Archivbildern über die politischen Ereignisse in Birma im August 19883, als die birmanische Militärdiktatur die durch eine schlechte wirtschaftliche Si2 | „Doch aus der Tradition der Videoaktivisten wird eine dokumentarische Revolution, angeführt von engagierten skandinavischen Filmemachern.“ (DOK.fest 2009: o.S.) 3 | Zur Geschichte Birmas siehe beispielsweise: Steinberg 2010.
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tuation ausgelösten Unruhen gewaltsam niederschlug. Dabei wird nicht die politische Situation im Detail erklärt, sondern lediglich gezeigt, dass hier die Demokratiebestrebungen unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit blutig niedergeschlagen wurden. Die Politikerin Aung San Suu Kyi, die als Parteivorsitzende der Nationalen Liga für Demokratie als Sicherheitsrisiko galt, wurde unter Hausarrest gestellt. Nach der kurzen Darlegung der Geschichte des Landes, beschreibt der Erzähler die Situation so, dass seit 1988 die Bevölkerung eingeschüchtert ist und Hoffnungslosigkeit vorherrscht: „There is just... darkness.“ (00:05:01)4 Joshua kämpf als Videojockey der Democratic Voice of Burma (DVB), ein von birmanischen Auswanderern betriebenes Reporternetzwerk, das unzensierte Informationen über das Militärregime und die politische Opposition in Birma einer internationalen Öffentlichkeit zugänglich zu machen will, unter diesem Eindruck für eine langsame Demokratisierung des Landes. Er und die anderen Videojockeys wollen die ‚Machenschaften‘ der Militärdiktatur publik machen, um damit auch Druck von außen zu erzeugen. Joshua drückt dies allerdings gemäßigter aus, indem er sagt: „At least I can try to show that Burma is still here.“ (00:05:15) Es ist eine schwierige und illegale Arbeit, bei der die Videojournalisten ihr Leben riskieren. Das Footage-Material müssen sie aus dem Land schmuggeln, ihre Kameras verstecken. Die eigentliche Handlung beginnt – aus der Retrospektive von Joshua erzählt – am 15. August 2007, an dem Tag, als es in Birma aufgrund plötzlich steigender Benzinpreise, die eine Existenzbedrohung für die arme Bevölkerung darstellten, zu großen Demonstrationen kam. Angeführt wurden diese zunächst vom Militärregime tolerierten Protesten von buddhistischen Nonnen und Mönche, was zur Bezeichnung Safran-Revolution (aufgrund ihrer roten Gewänder) geführt hat. Das Vorgehen des Militärs am 25. September 2007 gegen die Demonstranten führte zu massiven Unruhen in der damaligen Hauptstadt Rangoon. Nach seiner kurzzeitigen Verhaftung im Zuge dieser Unruhen verlässt Joshua das Land, um von Thailand aus die übrigen Videojockeys zu koordinieren. In dem Film werden die Proteste zunächst der Mönche, dann der gesamten Bevölkerung bis hin zu den in erster Linie studentischen Protesten Ende September 2007 (01:12:32) erzählt und bebildert. Dabei werden Geschichten von der Organisation der Proteste genauso erzählt wie deren blutige Niederschlagung durch das Militär. Hier schließt sich für den Erzähler wieder der Kreis zum Jahr 1988. Rangoon befindet sich in einer Art Kriegszustand. Letztendlich führt die Verfolgung der Mitglieder von Democratic Voice of Burma während der Unruhen zur Auflösung der Organisation. Zu dem Zeitpunkt ist ein weiterer Videojournalist namens Ko Maung schon nicht mehr telefonisch 4 | Soweit nicht anders gekennzeichnet beziehen sich sämtliche in diesem Kapitel aufgeführten und mit Zeitangabe versehenen Szenen/Dialoge auf den Film B urma VJ.
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erreichbar. Joshua muss ebenfalls untertauchen, weil die Geheimpolizei die Zentrale der Reporter ausfindig gemacht hat. Der Film besteht zu großen Teilen aus den Camcorder-Aufzeichnungen, also dem Footage-Material der birmanischen Videojockeys. So wird in den Produktionsangaben unter der Rubrik „Kamera“ „Birmanische Videojockeys“ geführt. Zusätzlich gibt es einen namentlich genannten Kameramann (Simon Plum), der die Szenen von den Videojockey und von den Bildern im Bild aufgenommen haben wird. Die Anonymisierung des Footage-Materials der Videojockeys ist vermutlich einerseits zum Schutz der beteiligten Personen vorgenommen worden. Andererseits – so die Interpretation – findet hier eine Loslösung des Bildmaterials vom Autor oder Kameramann und damit aus einer technischen Perspektive des Camcorders statt. Das entspricht wiederum der Idee einer freien Informationsgesellschaft. Die Bilder bekommen ihre Referenz nicht durch den Videojockey, das heißt den Autor, sondern durch das Dargestellte und das Zeitgeschehen. Es wird im Film selbst der ‚Ablauf‘ der Nachrichtenkette gezeigt. Hier steht also ein ganz spezifischer Ereignischarakter des Bildes im Vordergrund und die reine Botschaft des ‚Zeigen-Wollens‘, vielleicht auch des ‚Auf-zeigens‘ wird deutlich. Um den Entgrenzungen und den Methoden im Film auf die Spur zu kommen, wird Burma VJ vor allem unter folgenden Gesichtspunkten beleuchtet: Dramaturgie unter besonderer Berücksichtigung des Tons, die Installation respektive Inszenierung eines Protagonisten als Erzähler und die Materialität des Bildes, die einen globalen Charakter bekommt.
7.1 D r amaturgie unter besonderer B erücksichtigung des Tons Gleich im Vorspann wird auf der visuellen sowie auf der auditiven Ebene das Thema und damit auch das Prinzip des Films offengelegt. Wir vernehmen Klangschalen, deren Klänge sich auf eine gewisse Art spannungsgeladen anhören. Dann ist das Aufziehen eines Reißverschlusses überdeutlich zu hören, gefolgt von dem eher leisen technischen Piepen des An- oder Ausschaltens eines technischen Gerätes wie etwa eines Camcorders. Das dominante Geräusch ist jedoch eindeutig der Reißverschluss. Dieses Geräusch stellt Nähe her: Einen Reißverschluss können wir normalerweise nur hören, wenn wir uns in seiner unmittelbaren Nähe befinden. Man muss sich das Geräusch auf jeden Fall sehr bewusst machen, sobald weitere Geräusche hinzukommen. Sehen können wir den Reißverschluss oder zumindest die Bewegung des Öffnens und Schließens auch aus der Ferne, doch hören können wir ihn nicht. Das Spiel von Nähe und Distanz wird hier über Ton und Bild gespielt und geschickt inszeniert. Der Ton führt den Zuschauer sehr nah an den Protago-
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nisten oder vielmehr an die Kamera heran. Das ist ein bemerkenswerter Dreh, da über den Ton (Ohr, Reißverschluss) eine Nähe zum Blick (Auge, Kamera) geschaffen wird und nicht – wie gewöhnlich – umgekehrt. Denn das, was wir sehen, ist entfernt von uns, von der Kamera und von unserem Protagonisten. Hierin lässt sich möglicherweise erneut der von Elsaesser vorgeschlagene Paradigmenwechsel erkennen, der bereits in der Analyse von Promised Paradise angesprochen wurde (Elsaesser 2010:17). Er geht davon aus, dass in Zukunft das Bild dem Ton nachfolgt und nicht umgekehrt. Dass der Film anfängt, die Thematik des „Recording“, des Aufnehmens von Bildern auf diese Weise zu erzählen, liegt nur teilweise im Thema begründet. Es muss zwar aus der Ferne gedreht werden, da das Filmen aufgrund der politischen Situation ein Risiko birgt und im Verborgenen stattfinden muss. Deswegen ist ein distanzierter Standpunkt geradezu lebensnotwendig, aber der Blick auf das Geschehen müsste nicht distanziert sein. Doch obgleich die Kamera mithilfe des Zooms ein nahes Bild aus der Ferne aufnehmen könnte, ist es ohne Hilfsmittel nicht möglich, auch den Ton aus der Ferne zu nehmen. Deswegen ist die Überinszenierung des Tons aus der Nähe durchaus logisch, um die Situation zu vermitteln. Schließlich ist das, was wir hören, wiederum sehr speziell: das Atmen und das Geräusch des Herzklopfens, aber auch das leise Piepen der Kamera und das Geräusch des Reißverschlusses. Kombiniert mit dieser Authentizität der Bilder aus der Ferne bekommt der Film eine besondere Spannung, die sich durchgängig hält. Die Spannung liegt zudem darin begründet, dass wir diese Art des Tons aus dem fiktiven Horrorfilm kennen und das Herzklopfen somit überdeutlich eine Fiktionalität mit Spannungsbezug ausstellt. Hier wird dieses „Spannungsmoment“ mit der Aufnahme von Bildern für Nachrichtensendungen kombiniert. Es verdeutlicht zugleich das Risiko, dass die birmanischen Videojockeys eingehen, um diese Bilder zu bekommen. Ich möchte diesen Aspekt konkret erläutern: Wir sehen in der Szene einen Menschen vor einem Gebäude stehen und ein Transparent hochhalten – ein einsames, stummes und deutliches Symbol des Protestes. Dann hören wir einen Reißverschluss und sehen, wie eine Kamera aus einer Tasche genommen wird. Hände halten diese Kamera, schalten sie an und klappen den Display auf, in dem wir das Bild des Protestes sehen. Dieses Prinzip – das Bild des Camcorderdisplays im Bild, also ein Bild im Bild in einer Pseudo-Livesituation – wird mehrfach wiederholt. Es wird damit deutlich gezeigt, dass nur ein Ausschnitt der Situation im Display eingefangen werden kann und so ist es auch ein Verweis auf den Ausschnitt, den die Filmkamera von Burma VJ einfängt (00:01:21). Hier wird also schon auf der visuellen Ebene eine gewisse Materialität des Bildes ausgestellt. Gleichzeitig findet aber auch fast so was wie eine ‚Echtheitsprüfung‘ oder sagen wir ruhig ‚Echtheitsvorführung‘ statt, die durch die Installation des Erzählers eine interessante dramaturgische Verquickung erfährt.
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Im Filmbild sehen wir ein Motiv, das sich im ausgeklappten Bildschirm eines Camcorders wiederfindet. Wir sehen also eine Doppelung des Filmausschnitts. Es wird uns suggeriert, dass eine dokumentarische und hier auch eine authentische Aufnahme des Geschehens gezeigt wird. Denn schließlich stimmen die Bilder unseres Filmbildes und die des Camcorders ja überein. Es wird zwar deutlich, aber nicht bewusst, dass nur ein Ausschnitt der Ereignisse gewählt wird. Auch hier sehen wir nicht, was außerhalb des Filmbildes passiert, auch wenn man durch diese Doppelung das Gefühl einer Öffnung über die Bildgrenzen hinaus bekommt. Gleichzeitig wird der Fokus vom Filmbild weg auf den Ton gelenkt, wenn wir nun die Erzählerstimme vernehmen und damit diejenige Person, die im Bild die Camcorder-Aufnahmen macht, wahrnehmen: JOSHUA: „When I pick up the camera, maybe my hands are shaking. I may have a heavy heartbeat. But after shooting for a little while, it is OK. I have nothing in my mind. I have only my subject. (You know) I just shoot.“ (00:00:54ff.)
Die Obsession für das Filmen des Protagonisten wird hier ebenso transportiert wie die Gefahr, in welche sich der Filmende begibt. Das Filmen wird hier nicht nur als Handlung, als Prozess, sondern vielmehr als obsessiver Akt, als Berufung und – wie sich später zeigen wird – als politisches Statement, als Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie ausgestellt. Wir werden eingeführt in den Berufsethos der dem Film letztendlich auch den Namen gebenden Vereinigung der birmesischen Videojockeys. In Burma VJ bleiben die Videojockeys jedoch nicht anonym, so wie es in ihrem Alltag alleine schon aus Selbstschutz geschieht, sondern sie bekommen einen Namen und damit ein ‚inneres Gesicht‘. Wir sehen Joshua, den Erzähler, (oder auch später Ko Maung) zwar nicht ins Gesicht, aber durch seine Stimme, sein Profil, seine Hände und auch seine Bilder bleibt er, der uns durch den Film führt und in seine Welt einführt, nicht gesichtslos. Zumindest nicht in der Bedeutung, dass wir als Zuschauer keine Nähe zu ihm auf bauen oder uns mit der Situation nicht identifizieren könnten. So gelingt dem Film der Spagat, einerseits für die Thematik des Films zu sensibilisieren und auf der anderen Seite bei einer Art professionellen Darstellung von Weltgeschehen zu bleiben. Der Film ist so gesehen kein Dokumentarfilm über das Filmen und es ist auch keiner über die Proteste in Birma. Möglicherweise lässt er sich als ein Dokumentarfilm über das Filmen – verkleidet im Gewand einer Dokumentation über den birmesischen Protest 2007 – charakterisieren. Zugleich beschreibt er aber auch eine Heldengeschichte: Ein Mann, eine Kamera, ein Handy und ein Moped beziehungsweise viele Männer, viele Kameras und eine Internetverbindung. Vielleicht ist es auch ein Film über globale Vernetzung und die Manipulierbarkeit der Medien oder es ist ein Beitrag über den Umgang mit Bildern in
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einem autokratischen Staat. Vielleicht ist es auch insebesondere ein Film, der uns auf inhaltlicher und formaler Ebene an die Kraft der Symbole erinnert, an die Kraft der Bilder, und vor allem auch an die Kraft des Tons. Die Safran-Revolution begleiten, wie generell alle Proteste und politischen Bewegungen, symbolische Handlungen, wie die mit dem Boden nach oben getragene Schale ein Symbol dafür ist, dass die Mönche keine Opfergaben/ Almosen der Militärs mehr entgegennehmen wollen, wie im Film erläutert wird (01:25:47). Hinzu kommen gewaltige Bilder wie die roten Gewänder, die gerade in der Massenbewegung sehr wirkungsvoll sind, und auch die spirituellen Gesänge und Geräusche. Auf der filmischen Ebene werden solche symbolträchtigen Bilder und Geräusche auf eine weitere (Meta-)Ebene gehoben. Das ‚Spezielle‘ hierbei ist, dass diese so gewählt sind, dass sie das Medium Film beziehungsweise die Besonderheit des Films benötigen, um Symbolkraft zu entfalten. Es sind hier nämlich kleine, teils sogar geheime oder auch alltägliche Gesten und Geräusche: Das Knistern einer Tasche, das Öffnen und Schließen eines Reißverschlusses, das Klingeln eines Telefons, der ausgeklappte Camcorder-Bildschirm, das beim Tippen entstehende Tastaturgeräusch, eine Busfahrt. Diese Alltäglichkeiten werden durch filmische Mittel (Zoom, Kombination mit und Verstärkung durch Sound, dramaturgische Platzierung) symbolisch aufgeladen. Elsaesser hielt in einem Vortrag bei der Tagung Töne sehen – Bilder hören. Aktuelle Tendenzen. Die akustische Dimension des Dokumentarischen5 hierzu fest: „Man könnte in diesem Zusammenhang von ‚aural objects‘ sprechen, d.h. von Geräuschen oder Tönen, die nicht nur ganz konkrete Dinge assoziieren, sondern im Verlauf eines Films wie Orientierungshilfen den Weg oder den Sinn markieren. Ein solches ‚aural object‘ findet man z.B. in dem schon erwähnten Burma VJ. Immer wenn wir daran erinnert werden sollen, wie gefährlich es ist, mit dem Camcorder auf die Strasse zu gehen und wie wichtig es ist, die Kamera in einer Tasche zu verstecken, hört man den Ton eines auf- oder zugezogenen Reißverschlusses. Dieser Ton wird so zum konkreten Emblem, ein auraler Körper, durch den sich die Thematik des Films immer wieder bündelt und die Aufmerksamkeit fokussiert.“ (Elsaesser 2010:15)
So wird beispielsweise öfter die Innenansicht einer Tasche oder Tüte auch mit dem entsprechenden Knistern und dumpfen Laufgeräuschen kombiniert. Als Motiv im Film wird diese Taschen-Sequenz immer dann eingeblendet, wenn es besonders spannend wird und Gefahr lauert. Dieses Motiv wird durchgängig im Film verwendet und kommt zu einer besonderen Eindringlichkeit ge-
5 | Symposium der Dokumentarfilminitiative am 16./17. September 2010 im Filmforum NRW, Köln.
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gen Ende des Films, wenn die Kamera in der Tasche versteckt wird, Schüsse und das Rennen und Atmen einer Person dazu zu hören sind (01:14:58 ff.). Der Zuschauer kann nicht mehr sehen, was passiert, und stellt sich deshalb schlimmste Szenerien über die Geräusche vor dem Hintergrund der kriegsähnlichen Zustände, die er im Verlauf des Films über das Footage-Material gesehen hat, vor. Man hört noch, dass Leute in LKWs einsteigen sollen, und die entsprechenden Motorgeräusche, womit direkt eine Assoziationskette, die sich mit den Begriffen Abtransport, Lager, Folter, Vernichtung umreißen lässt, hervorgerufen beziehungsweise angestoßen wird. So wird über den Ton eine Reihe von Bildern aus dem Bilderpool des kulturellen Gedächtnisses (nach Assmann 2006 [1999]) wachgerufen. Vermutlich handelt es sich bei diesen letzten zentralen Momenten des Films um authentische Aufnahmen von einem Videojockey, der im Film Ko Maung genannt wird und via Handy erzählt, was er gerade sieht und was um ihn herum passiert (01:15:42 ff.). Dazu wird ein Bild von Joshuas zeitgleicher Aufnahme dieses Gesprächs eingeblendet. Und so hören wir Schüsse fallen und zu einem schwarzen Bild letztlich eine Stimme, die in weiter Ferne sagt: „Get that guy! he [sic!] is a reporter!“ (01:16:05) Dann bricht die Verbindung ab, symbolisch dargestellt auf einer tonalen Ebene durch das Tuten eines Telefonhörers, der aufgelegt wird. Die Szene ist auf der visuellen Ebene eindeutig inszeniert: Völlig unabhängig davon, dass selbst die einfachsten Handys eine Aufnahmefunktion haben, wird deutlich, dass die Einblendung der Aufnahme-Szene dafür gedacht ist, der Handlung Authentizität zu verleihen und dem Rezipienten zu verdeutlichen – eventuell auch vorzugaukeln –, dass man Originalmaterial zwar nicht sehen, sehr wohl aber hören kann. Entscheidend für das Verständnis dieser Art der Inszenierung ist die Tatsache, dass der Film Burma VJ eben nicht für die anderen Videojockeys gemacht wurde, sondern für ein Weltpublikum. Diese Videojockeys sind Journalisten, sie suchen die Öffentlichkeit. Zentral ist dabei, wie man emotional wie intellektuell eine Weltöffentlichkeit erreicht. Darum geht es auch den Videojockeys mit ihren Bildern: Sie wollen mit diesen die Welt erreichen, die Nachrichtenzuschauer in ihrem Land genauso wie in den westlichen (und damit politisch einflussnehmenden!) Ländern. Dieser Aspekt ist im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage nach den formalen Ebenen und nach der Symbolkraft im ethnologischen Dokumentarfilm wichtig. Nicht nur die politische Protestbewegung muss eine Symbolkraft, einen Wiedererkennungswert entwickeln, um die Leute mitzureißen und zu vereinen. Die Bilder müssen diese Symbolkraft ebenfalls ausstrahlen – für die Nachrichtenagenturen oder auch die weltweite Verbreitung über das Internet, und ebenso, wenn sie sich in das Weltgeschehen einmischen oder einen Platz im kulturellen Gedächtnis finden wollen, um langfristige Veränderungen hervorzurufen:
7. B urma VJ: R epor ting from a C losed C oun t ry „Es bestehen enge Wechselbeziehungen zwischen den Medien und den Metaphern des Gedächtnisses. Denn die Bilder, die von Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern für die Prozesse des Erinnerns und Vergessens gefunden wurden, folgen jeweils den derzeit herrschenden materiellen Aufschreibesystemen und Speichertechnologien.“ (Assmann 2006 [1999]: 149)
Demnach kommt besonders, wie oben dargestellt, symbolisch aufgeladenen Motiven eine wichtige Funktion zu, um Ereignisse in das kulturelle Gedächtnis zu übertragen. „Über die gemeinsamen Symbole hat der einzelne teil an einem gemeinsamen Gedächtnis und einer gemeinsamen Identität.“ (Ebd.:132) Verstärkt wird so ein Wahrnehmungsprozess filmimmanent durch die Narration und den dramaturgischen, möglichst spannungsgeladenen Aufbau: Deutlich dramaturgische Funktion innerhalb des Films haben auch die nachinszenierten Szenen. Dieser Aspekt soll anhand der Figur Ko Maungs verdeutlicht werden. Ko Maung wird als Haudegen, als Held, als Vaterfigur und als eine Art Leader für den Erzähler und Protagonisten Joshua eingeführt. Mit Joshua identifiziert man sich – aber Ko Maung bewundert man. Er bringt das Filmische in den Film, das ‚Übermenschliche‘, das, wonach wir uns sehnen, was wir verehren. Nahezu jeder von uns ist gelegentlich verärgert oder deprimiert. Doch Ko Maung zeigt diese Gefühle nicht, wie Joshua bewundernd erzählt. Das erste Auftreten Ko Maungs ist verbunden mit einem inszenierten Gespräch zwischen ihm und Joshua, das vermutlich so stattgefunden hat, auch wenn diese Annahme nicht überprüf bar ist. In dem Gespräch wird einerseits die Motivation der Videojournalisten thematisiert, sowie andererseits der Hoffnung auf Veränderung Ausdruck gegeben: JOSHUA [als Erzähler]: „Ko Maung is a persistent person. He is rarely upset or depressed. He is strong.“ JOSHUA: „Sometimes I don’t see the point of what we are doing. We try so hard and we don’t change a thing.“ KO MAUNG: „Nonsense. Our job is important. You can’t expect a scoop on CNN. That’s childish. What matters is to keep telling the truth about our country.“ JOSHUA: „But everything stays the same.“ KO MAUNG: „Don’t be too sure. People have had enough. They’re ready for change. JOSHUA: „People are scared. It’s in their blood. How long have you been fighting the generals?“ KO MAUNG: „19 years.“ JOSHUA: „That is a long time.“ KO MAUNG: „Exactly. That’s the whole point. You should listen to what the Buddha says. Don’t be greedy. Be patient. Things will happen, brother.“ (00:07:32-00:08:35)
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Die Szene wirkt, als wären wir bei einer geheimen Sitzung anwesend. In einem riesig wirkenden Raum sitzen sich Joshua und Ko Maung in der Ecke auf dem Boden gegenüber. Zwischen ihnen stehen Kerzen, an der Wand hängt ein Schwarz-Weiß-Plakat von Buddha. Ko Maung und die gesamte Szene wirken sehr inszeniert. Daher stellt sich die Frage, warum die Filmemacher diese Szene für besonders relevant halten. Ich denke, hier wird eine Art von Selbstinszenierung/Selbstvergewisserung verdeutlicht. Schon vor dieser Sequenz haben wir vom Erzähler erfahren, dass Ko Maung für seine Aktivitäten bereits eine Gefängnisstrafe absitzen musste: „There is a whole group of us in Rangoon. We are all facing the same problems – but Ko Maung looks at it differently – even though he’s already spent 12 years in prison. He is a special guy. He doesn’t seem to mind.“ (00:07:06ff.) In der Sequenz, in der wir ihn kennenlernen, haben wir Teil an einer sehr intimen Situation. Ko Maung wird in der Folge zweimal eingesetzt, um deutlich herauszustellen, dass es sich um eine gefährliche und gleichzeitig wichtige Situation handelt. Er steht für die Risikobereitschaft, den Kampfgeist und für die höheren Ziele der Gruppe. Und er steht für Heldentum. In der sich zuspitzenden politischen Krise wird er zu einem der vermissten Reporter von Democratic Voice of Burma. Aufgrund seiner Erfahrung aus Zeiten der Studierendenproteste des Jahres 1988 sind ihm die Wege und Abläufe innerhalb der Stadt bekannt. So ist er es, der Joshua die Lage während der Studierendenproteste schildert und damit die Koordinierungsstelle von The Democratic Voice of Burma trotz heikler Umstände informiert. Von ihm bekommt Joshua am Ende des Films keine Nachrichten mehr, was nahe legt, dass er verhaftet wurde. Wir werden über den Verbleib von Ko Maung völlig im Unklaren gelassen; dem Zuschauer wird verdeutlicht, dass Tod oder Verhaftung wahrscheinlich sind. Doch Ko Maung ist vermutlich eine Kunstfigur, erschaffen, um die Videojockeys bewundern zu können. Vielleicht gibt es einen Ko Maung, vielleicht gibt es viele, aber er wird vermutlich nicht derjenige sein, dessen Gesicht wir in den nachinszenierten Szenen sehen und der sich am Ende des Films nicht mehr meldet. Das zeigt einmal mehr, wie hier Inszenierung greift und Realität gestaltet. Dazu ist auch die Tatsache zu zählen, dass dieser Punkt unklar bleibt und nicht filmintern zu lösen ist.
7.2 D ie I nstall ation eines P rotagonisten als E rz ähler Für die Analyse von besonderem Interesse ist neben der Inszenierung von Ko Maung die Installation des Protagonisten Joshua, der in erster Linie als Erzähler fungiert. Besonders eindrücklich ist seine Position als Erzähler aus einer Form der Augenzeugenschaft heraus bei gleichzeitiger Anonymität. Das ist
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eine Form der Erzählweise, die – so die These bereits bei der vorrangegangenen Analyse des Films Exile Family Movie – in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Der Erzähler wirkt hier nicht authentisch, weil er in der Öffentlichkeit bekannt ist und beispielsweise als Politiker oder Star Autorität besitzt, sondern er ist ein anonymer Aktivist. Folglich steht nicht seine persönliche autobiografische Geschichte im Vordergrund, sondern die Sache, das heißt in diesem Fall The Democratic Voice of Burma, für die er einsteht. Die Stimme des Erzählers führt den Zuschauer durch den Film und verleiht dem Gesehenen Authentizität. Zu sehen bekommen wir den Protagonisten lediglich von hinten oder schemenhaft, wenn er selbst auf sich im Videomaterial verweist. Auch durch einen ganz einfachen Umstand wird Nähe zu den nicht-birmanischen Rezipienten geschaffen: In seiner Erzählerfunktion spricht Joshua – anders als in Telefongesprächen und Dialogen – Englisch. Dabei sind seine Aussagen häufig pathetisch und sehr ehrenvoll, womit er ganz in seiner Rolle als Videojockey bleibt. Joshua: „I feel I want to fight for democracy.“ (00:03:54) Die Bilder im Film sind zunächst stark an Joshua geknüpft. Man sieht seine Hände an der Kamera, hört seine Gedanken, erfährt, welche Ängste er hat und welche Zweifel. So denkt er zum Beispiel nachts darüber nach, ob jemand gesehen haben könnte, dass er gefilmt hat (00:06:40). Damit wird eine starke Identifikationsfläche geboten, obwohl gleichzeitig etwas Unauthentisches mitschwingt. Im Prinzip erzählt Joshua das Geschehene aus der Erinnerung heraus „I remember 15. August [...]“ (00:10:47) und kommentiert damit die Ereignisse im Nachhinein. Dies soll den Bildern Authentizität verleihen, für eine schlüssige Geschichte sorgen und eine Art von Identifikationsfläche bieten. Es kann jedoch angenommen werden, dass dieser Film an sich seine Wirkung aus dem Bildmaterial zieht und keine Rahmengeschichte gebraucht hätte, da wir eine starke Form von Materialität und Wirkkraft haben, worauf nachfolgend näher eingegangen werden soll.
7.3 D ie M aterialität des B ildes Die Materialität des Bildes ist eines der Themen dieses Films. Es wird auf der ästhetischen Ebene geführt, wenn man das so sagen kann. ‚Materialität‘ wurde hier als Begriff gewählt, weil sich auf die formale/filmanalytische Ebene bezogen wird und damit eine Erweiterung der Wahrnehmung von Bild als Material bezweckt wird. Bereits im Vorspann des Films (siehe oben) wird durch den Wechsel zwischen dem Filmbild und einem Bild, in dem der Camcorder und das Filmbild zu sehen sind (also wie Theater im Theater), auf das Bild als Material verwiesen. Die Materialität des Bildes wird als Produktionsprozess im Film auf der visuellen und der tonalen Ebene thematisiert, beispielswei-
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se wenn die Piep- und Klickgeräusche des Camcorders sowie die Spulgeräusche zu hören sind. Dies wird auch auf der visuellen Ebene erfahrbar: Das Bild scheint statisch zu sein, bevor man über die Rückkopplung beziehungsweise durch die Verbindung zum Ton begreift, dass es sich um einen Spulvorgang handelt (00:06:25-00:06:28). Das Filmbild an sich wird thematisiert: etwa durch mehrere Blacks im Film, die dann inhaltliche, metaphorische Aussagen unterstreichen wie etwa: „There is just..darkness.“ (00:05:01) Wenn die Bilder angehalten werden und es zeitgleich klingelt (00:06:35), wird auf eine ganz spezifische Weise auf die Materialität verwiesen und die zukünftige Bilderfolge angedeutet. Dazu erklingt Joshuas Stimme: „In 1988 I was just a little boy. But that’s when everybody in Burma got into the streets.“ (00:02:35-00:02:42) Hier ist es wieder der Erzähler Joshua, der die Bilder verortet. Abgesehen von der Jahreszahl geschieht dies jedoch so unkonkret, dass die eigentliche Information „es handelt sich hier um Vergangenheit“ genügt, denn das ist das Interessante: Die heutigen Bilder – im Sinne von heutig in der filmischen Realität – sehen nicht anders aus bis auf eine Tatsache, die besonders ausgestellt und medial ausgeschlachtet werden wird: Die Beteiligung der Mönche an den Protesten. Die Mönche werden zunächst als Bilder eingeführt (00:21:41). Sie sind auf dem Bildschirm in einem Filmbearbeitungsprogramm mit Timecode zu sehen. Das ist eine ungewöhnliche Wahl, zumal das Material alleine schon durch die karminrote ‚Anordnung‘ – hervorgerufen durch die Mönchsroben – visuell sehr wirkungsvoll ist. Durch dieses Ausstellen der Bilder als Material, auch in ganz emotionalen Momenten, wenn etwa die Mönche im Protestzug mitmarschieren und die Reporter von Democratic Voice of Burma diese Information erhalten, findet auf eine gewisse Art eine Distanzierung zu dem Material statt. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um eine Authentifizierung durch den auf diese Weise explizit gemachten Footage-Charakter, der sich ebenso in den Fernsehbeiträgen und Kommentaren hierzu, die im Film integriert sind, wiederfindet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Proteste der Mönche, die wie die meisten Straßenszenen mit Mini-DV gefilmt sind, immer wieder in ein Spannungsfeld gesetzt werden zwischen der Ausstellung des Bildmaterials, sei es in einem Fernsehbeitrag oder in der Bearbeitung am Computerbildschirm. Hinzu kommt stets ein besonderer Einsatz des Tons. So wie das Handy als Motiv für Joshua und die Mitarbeiter von Democratic Voice of Burma eingesetzt wird, so wird das Motiv der Mönche naheliegend durch die Klangschalen gegeben. Hinzukommt im späteren Verlauf der Kommentatorentext von ausländischen Pressemitarbeitern.
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7.4 R esümee : E rweiterung von F ootage -M aterial durch den Ton Das Authentische in dem vorliegenden Film ist das Footage-Material, das aber seine Nachhaltigkeit vermutlich erst durch die Aufladung mit stark symbol trächtigen Ton-Motiven und einer emotionalisierenden Rahmenhandlung (Joshua und Ko Maung) erhält. Die Geschichte und die zentralen Figuren Joshua und Ko Maung wirken ohne das Material beinahe künstlich, aber in Kombinationen lassen sie einen authentischen Augenzeugenbericht erscheinen. Damit führt der Film implizit einen Diskurs um die Formen und Möglichkeiten der derzeitigen Dokumentation von gegenwärtiger Geschichte und politischen Ereignissen und ihren Eingang in das kulturelle Gedächtnis. Dabei zeigt der Film glaubwürdig, dass Footage-Material aus einem Krisengebiet mit beschränktem journalistischem Zugang ein wichtiges Informationsmittel ist, um globale Geschichten zu erzählen und letztlich Weltpolitik durch die Macht der Bilder und des Tons mit zu beeinflussen. Der Film thematisiert die Vorreiterfunktion der Videojournalisten und die technischen Möglichkeiten, wenn es ganz am Ende des Films in einer Einblendung heißt: „Meanwhile, ordinary citizens all over Burma have been inspired by the reporters to keep the world informed.“ (01:24:36) Dabei sei herausgestellt, dass in diesem Film vor allem dem Ton eine große Bedeutung zufällt. Hierüber werden Nähe und Intimität zum Geschehen hergestellt. Burma VJ ist ein Dokumentarfilm, der bis auf die gezeigten Grenzüber schreitungen insgesamt eher den klassischen Formaten entspricht. Der Film legt zum Beispiel offen, dass er einen Erzähler installiert und mit diesem durch den Film führt. Die Nachinszenierungen vieler Szenen zugunsten der Handlung werden den Rezipienten jedoch nicht verdeutlicht. Dadurch, dass er gleichzeitig aber das Medium Film ausstellt und die Materialität der Bilder thematisiert, ist Burma VJ ein eindrückliches Beispiel dafür, welche Mischformen zwischen den Formaten möglich sind. Mit seiner Machart und dem Fakt, dass er in den USA sehr erfolgreich in den Kinos gelaufen ist, bietet er daher die Überleitung zu den jetzt folgenden ‚Mainstream‘-Dokumentationen.
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8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
In diesem Kapitel wird ein Kontext für die ethnologischen Dokumentarfilme gegeben und aufgezeigt, dass Strategien, die im ethnologischen Feld benutzt werden, auch im (Doku-)Mainstream vorkommen. Auf filmanalytischer Ebene werden Strategien aufgezeigt, die Gemeinsamkeiten und Parallelen zu dem vorher Erarbeiteten zusammenfassend beleuchten. Dazu werden im Folgenden filmische Strategien, die in den Detailanalysen der ethnologischen Dokumentarfilme als aktuelle Trends herausgearbeitet wurden, anhand einzelner, breit gewählter Filmbeispiele zusammenfassend zugespitzt. Hierzu wird gezielt auf Filme zurückgegriffen, die nicht dem Bereich ethnologischer Film angehören, sondern die in den letzten Jahren als populäre Dokumentarfilme in Kino, Fernsehen, auf Festivals und im Internet bekannt geworden sind. Diese Ausweitung des Blicks auf (Dokumentar-)Filme über den ethnologischen Bereich hinaus soll verdeutlichen, dass die herausgearbeiteten Erzählstrategien allgemeine Trends in der audiovisuellen Darstellung repräsentieren. Der ethnologische Dokumentarfilm führt kein abgeschlossenes ‚Eigenleben‘ im spezialisierten ethnologischen Diskurs, sondern situiert sich auch im breiteren Feld Film, durch dessen Entwicklungen er geprägt ist und das er gleichzeitig durch seine Innovationen mitgestaltet. Ein Charakteristikum eint die Filme, die nachfolgend besprochen werden: Sie gelten als dokumentarisch, loten durch ihre innovativen Verfahren die Grenzen des Genres Dokumentarfilm aber auf je eigene Art und Weise aus. Die steigende Popularität dieser besonderen Dokumentarfilme zeigt, dass die Beliebtheit des Dokumentarischen über Genregrenzen hinweg zunimmt. Spielfilmproduktionen wie der Baader Meinhof Komplex (D 2008, R: Uli Edel, L: 150 Min.) werben mit ihrem dokumentarischen Charakter für authentischen Anspruch. Es gibt eine neue Wahrnehmung und auch Erzählstärke von hybriden Formen wie dem dokumentarischen Animationsfilm. So war Waltz with Bashir von Ari Folman nicht nur ein Publikumsmagnet, sondern wurde auch von der Kritik hoch gelobt. Ein Kinodokumentarfilm wie Neukölln unlimited arbeitet mit einer Mischung aus dem klassischen Dokumentarfilmrepertoire kombiniert mit Ani-
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mation und inszenierten Filmzitaten aus bekannten Spielfilmen. Diese Produktionen, die sich angesichts der allgegenwärtigen Bilderflut etwas trauen und Geschichten erzählen, die anders sind, suchen und finden entweder Themen, die den Zeitgeist treffen, oder erzählerische Strategien, die sie von der Flut der Bilder abgrenzen. Dabei gibt es Beispiele von populären Erstlingswerken wie auch Filme etablierter Regisseure, die immer wieder auf sich aufmerksam machen. Über eine Millionen Zuschauer ziehen regelmäßig die Filme von Michael Moore und Wim Wenders, der 2012 mit seinem Film pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren für den Oscar nominiert war, in die Kinos. Geht es bei Wenders um die produktive Vermarktung von zwei Namen (Wenders und Bausch) und die Verführung mit Themen wie Musik und Tanz – oder geht es nicht vielmehr darum, dass Wenders den Trend der körpernahen Inszenierung erkannt hat und erfolgreich umsetzt? Sicher hilft das Thema Tanztheater die künstlerisch-affektive Ebene des dokumentarischen Erzählens aufzuspüren und exemplarisch nachvollziehbar zu machen. Und zwar in einer ähnlichen Stärke, wie es der animierte Dokumentarfilm Waltz with Bashir schafft, der gerade in der Darstellung der erinnerten Kriegserlebnisse des Protagonisten eine Bildsprache entwickelt, die mehr als eindrücklich ist. Anhand von so unterschiedlichen Dokumentarfilmen wie pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren und Waltz with Bashir gehe ich hier zum einen dem ästhetisierenden Trend im Dokumentarfilm noch einmal zusammenfassend nach. In diesem Zusammenhang müssen Überlegungen zu neuen Techniken im Dokumentarfilm wie 3D und Animation, die sich als neue Filmsprache für den Dokumentarfilm anbieten, erfolgen. Diese speziellen Techniken sind aber nur Ausdruck eines Trends, der auch schon in Kinodokumentarfilmen mit herkömmlicher Technik zu beobachten ist. Zum anderen lassen sich, wie aufgezeigt, unterschiedliche Strategien feststellen, die bereits seit ein paar Jahren im Dokumentarfilm entwickelt, ausprobiert und angewendet werden. In der Folge wird schlaglichtartig anhand der Filme Waltz with Bashir, Persepolis, Die Reise der Pinguine, pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren, Unser täglich Brot, The Other Chelsea, und Aghet – ein Völkermord aufgezeigt, wie aktuelle Erzählstrategien in Kino und Fernsehen aussehen, und zwar unabhängig von einem ethnologischen Kontext. Dabei wird deutlich, dass es um viel mehr geht als um Technik: Es geht um die Diskurse, die die Filme auf formaler und inhaltlicher Ebene führen1.
1 | Weiterführende Überlegungen zu Waltz with B ashir wie zu U nser täglich B rot und pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren – im Kontext von zwei weiteren Filmen – D ie H öhle der vergessenen Träume (CDN/USA/F/D/GB 2010, R: Werner Herzog, L: 95 Min.) und W ork H ard P lay H ard (D 2011, R: Carmen Losmann, L: 94 Min.) – in: Marlog 2013: 347-355.
8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
8.1 A nimation : Waltz with B ashir und P ersepolis In den vorrangegangenen Analysen habe ich den Film Waltz with Bashir immer dann erwähnt, wenn Animation eine der filmischen Strategien war. Dieser sehr persönliche Antikriegsfilm von Ari Folman wird etikettiert als erster animierter Dokumentarfilm in Spielfilmlänge und war im Jahr 2009 in der Kategorie „Bester Ausländischer Film“ für den Oscar nominiert. Der Film spielt zur Zeit des Libanonkrieges 1982 und thematisiert vordergründig die Ereignisse in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila, bei denen phalangistische Milizen ein Massaker unter palästinensischen, muslimischen Flüchtlingen, überwiegend Zivilisten, anrichteten (Marlog 2013: 348f.). Ich möchte hier von einem semi-biografischen Film sprechen, da Folman dort seine eigene Geschichte als 19-jähriger Soldat im Libanonkrieg 1982 reflektiert und damit seine Augenzeugenschaft besagter Ereignisse. Und nicht nur das: Auf der Suche nach seiner Erinnerung setzt er sich mit den verschiedenen Ebenen des Erlebten auseinander und verfolgt dabei verschiedene Fährten, um seiner Erinnerung auf die Spur zu kommen. In dem Film wird inhaltlich wie formal Erinnern und Trauma aufgrund von Kriegserlebnissen behandelt: autobiografische Erinnerungen genauso wie die Idee eines kollektiven Gedächtnisses. In Waltz with Bashir gibt es beispielsweise Bilder, in denen Kinder und Alte auf LKWs verladen und abtransportiert werden. Der erzwungene Transport von Hilflosen auf der Ladefläche eines LKWs sind Bilder, die nicht nur in Deutschland in ein kollektives Gedächtnis eingebrannt sind. Es ist klar, was solche Bilder bedeuten. (Teilweise) animierte Dokumentarfilme treffen den Zeitgeist, indem sie ihre Konstruiertheit und ihr Design nicht leugnen. Darüber hinaus bekennen sie sich eindeutig dazu, dass Filmemachen immer ein künstlicher Prozess ist, der beeinflusst wird vom persönlichen Bilderpool der Filmschaffenden sowie der Filmkonsumierenden. Sie arbeiten mit Imagination, wie gerade bei Waltz with Bashir ganz deutlich wird. Darüber hinaus bergen sie für die Zuschauer die Möglichkeit, sich mit den Protagonisten zu identifizieren und gleichzeitig über deren individuelle Geschichte hinaus allgemeine Reflexionen zum Thema anzustellen. Die Rezipienten können in die Illusion regelrecht eintauchen, aber durch das Spiel mit Bildern aus dem kollektiven Gedächtnis beispielsweise kann genau diese Illusion in Reflexivität münden. Und zwar hinsichtlich der erzählten Geschichte ebenso wie hinsichtlich des Filmemachens und der Bilderproduktion im Allgemeinen. Der Film Waltz with Bashir nutzt wie Iran: Elections 2009/The Green Wave und Neukölln unlimited Animation einerseits dazu, das Unzeigbare zeigbar zu machen. Ereignisse und innere Vorgänge, für die es kein dokumentarisches Bildmaterial gibt, wie etwa Gefängnisszenen oder historische Geschehnisse und ganz prominent die oben angesprochenen Erinnerungsvor-
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gänge und die psychische und kulturelle Verarbeitung von Traumata, können durch den Einsatz von Animation filmisch dargestellt werden. Zum anderen ist Animation eine starke Möglichkeit, eine Identifizierungsfläche zu schaffen. Die Perspektivenlenkung durch die Identifikation mit den fiktiven Protagonisten lenkt erstens die Aufmerksamkeit darauf, dass jeder Film, sei er noch so ‚dokumentarisch‘, Geschehen aus bestimmten Perspektiven zeigt, und zweitens rückt das Überindividuelle des Themas stärker in den Vordergrund. Die Personen wirken vor allem durch den Kontext des Films authentisch. Wir wissen zwar, dass Folman Interviews mit seinen tatsächlichen Kameraden führt, dennoch präsentiert der Film uns keine runden Charaktere mit Tiefe, sondern vielmehr ‚flache‘ Typen von jungen Männern, die aus dem einen oder anderen Grund im Krieg waren. Sie werden nicht zu Individuen, sondern bleiben anonym, auch wenn wir ihre Namen kennen. Auch die Art, wie die Figuren animiert sind, entspricht diesem Ansatz: mit ein paar Strichen gezeichnet, auf das Wesentliche reduziert. Aber gerade diese Vereinfachung, diese Typenhaftigkeit, macht es dem Rezipienten leichter, sich in die Figuren hineinzudenken und sich mit ihnen zu identifizieren. Wie der Comic-Theoretiker Scott McCloud in seinem Werk Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst (2001 [1994]) aufzeigt, kann man sich mit schemenhaft gezeichneten Figuren besonders identifizieren. Das funktioniert ebenfalls im Bewegtbild, wie in Iran: Elections 2009 oder auch in Neukölln Unlimited aufgezeigt wurde (Marlog 2013: 348f.). Ein weiterer Film, den ich an dieser Stelle nennen möchte, da er ebenfalls ähnliche Strategien und eine schemenhafte Darstellung verfolgt, ist Persepolis von Marjane Satrapi (F 2007, R: Marjane Satrapi, L: 96 Min.). Auch hier handelt es sich um einen semi-autobiografischen Film, auch hier geht es um die Verarbeitung von Trauma und um das Erinnern. Die Autorin verarbeitet ihre Kindheit und die Wahrnehmung von Unterdrückung im Iran bis hin zur Auswanderung als Jugendliche nach Europa. Diesem Film lagen die Comicromane der Autorin und Regisseurin zugrunde. Das heißt, die Comictheorie lässt sich hier auf eine erweiterte Art und Weise bestätigen. Mit dieser Vereinfachung tritt für den Rezipienten zunächst „das Fremde“, „die fremde Kultur“ des Dargestellten in den Hintergrund, wodurch eine stärkere Allgemeingültigkeit in der Rezeption möglich wird. Vielleicht erklären sich unter anderem so auch internationale Erfolge dieser Formate. Waltz with Bashir und Persepolis stehen beide für zeitgenössische animierte Dokumentarfilme, die vor allem durch das Element der Autorschaft, d.h. durch ihre Regisseure und deren explizit ausgestellter Augenzeugenschaft, besondere Authentizität erlangen.
8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
8.2 Ü berinszenierung : D ie R eise der P inguine und U nser täglich B rot und pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren Auf einen weiteren Oscar-Gewinner der letzten Jahre möchte ich gerade deswegen genauer eingehen, weil er für eine eher ungewöhnliche und spezielle Art der Tierdokumentation steht: Luc Jacquet. In Die Reise der Pinguine zeigt der Tierfilmer Paarungszyklus und Aufzucht der Jungtiere von Kaiserpinguinen in der Arktis, wobei Überinszenierung und Entfremdung als Stilmittel eingesetzt werden. Im Folgenden soll nur den Anfang des Films kurz skizziert und dann einen kleinen Ausblick auf weitere relevante Aspekte gegeben werden. Die Eislandschaft, die im ersten Bild des Filmes zu sehen ist, sieht aus wie ein fremder Planet. Das Bild dominieren unwirkliche Farben 2 und den Ton die sehr emotionalisierende Musik von Emilie Simon. Der Film verfolgt eine Strategie, die ebenfalls für einen neuen Zeitgeist steht: Über die sehr poetischen Bilder, die die dargestellte Landschaft verfremden, und über die äußerst emotionsgeladene Musik werden das emotionale und ästhetische Empfinden des Zuschauers angesprochen. So kann sich beim Betrachter gleich zu Beginn des Films ein Moment der Erhabenheit einstellen. Die auf diese Weise ästhetisiert dargestellte Welt wirkt dadurch gleichzeitig fremd auf den Betrachter, und zieht diesen letztlich in ihren Bann. Das Interessante ist nun, dass dieses Konzept nicht nur auf der Bildspur, sondern auch auf der Audiospur verfolgt wird, und zwar nicht nur, wenn Musik erklingt. Auf der Audiospur liegen auch der Schrei des Kaiserpinguins und das Knarzen und Knistern des Eises, das Pfeifen des Windes und alle anderen Natur- und Tiergeräusche, die so perfekt und rein klingen, als kämen sie direkt aus dem Hörspielstudio und wären synthetisch hergestellt. Auch die Bilder sehen nicht natürlich aus, sondern die Farben leuchten besonders türkis, besonders weiß und besonders glänzend. Es wirkt nicht nur nachkoloriert, sondern auch unnatürlich und dadurch fantastisch. Mit dieser Überinszenierung wird paradoxerweise der Effekt einer Natürlichkeit und Authentizität geschaffen, wie wir sie sonst in Tierfilmen nicht erleben. Hier wird nachvollziehbar, wie Überinszenierung als Strategie eingesetzt werden kann. Durch eine Überinszenierung im Dokumentarfilm auf visueller und auditiver Ebene kann paradoxerweise ein realistischerer respektive authentischerer Eindruck von ‚Realität‘ stattfinden.
2 | Es gibt jedoch auch Szenen, die in natürlicher Weise koloriert sind, beispielsweise wenn die Pinguin-Weibchen zurück zur Kolonie kommen (D ie R eise der P inguine 2005: 00:51:00ff.).
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Genauso ungewöhnlich und überzeichnet ist die Darstellung der Pinguine innerhalb dieses Gesamtkonzepts. Ihnen wird eine Stimme gegeben: Eine männliche und eine weibliche, ohne dass den beiden Stimmen jeweils ein konkretes Tier zugeordnet wird – die Pinguine sind für den ungeübten Betrachter ohnehin nicht auseinanderzuhalten. Durch die Stimmen findet eine Personalisierung von zwei Tieren statt. Die Unbestimmtheit der Protagonisten trägt ebenfalls zur Authentizität bei, denn im Prinzip ist den Rezipienten (ab einem bestimmten Alter) klar, dass Pinguine nicht sprechen können, und wir die Gedanken von Tieren und Menschen nicht hören können. Und da der Kaiserpinguin auch keinen Sexualdimorphismus hat, kann man die Tiere weder als einzelnes Individuum noch nach dem Geschlecht als männlich oder weiblich unterscheiden. Die so frei schwebenden Stimmen, die sich mitunter ergänzen oder übereinander liegen und in einer Art poetisch sprechen (vermutlich der Übersetzung aus der Originalsprache Französisch geschuldet), führen vor Augen beziehungsweise in unser Ohr, wie intensiv eine autobiografische Perspektive wirken kann. Vor allem in Kombination mit einer guten Story, die große Themen wie etwa hier die Frage nach Leben und Tod verhandelt. So führt ein Pinguin-Film vor Augen, wie Identifikation funktioniert, und welche Rolle dabei die Story und die Art der Erzählung haben. Der Zuschauer identifiziert sich mit den durch die Stimmen repräsentierten Protagonisten, obwohl er die einzelnen Pinguinindividuen nicht auseinanderhalten kann und diese in einem surreal anmutenden, sehr fremdartigen Setting platziert sind. Hier findet in einer stark ästhetisierenden Tierdokumentation eine Vermenschlichung der Pinguine durch filmästhetische Mittel statt, die aus den Tieren Identifikationsfiguren macht. Findet in Die Reise der Pinguine eine Vermenschlichung der Tiere statt, geschieht in dem mehrfach prämierten Film Unser täglich Brot von Nikolaus Geyrhalter, ein Film über die Lebensmittelproduktion der Industrienationen, das Gegenteil: eine Entmenschlichung und eine komplette Technisierung von Menschen und Tieren. Küken landen auf dem Fließband und werden wie seelenlose Dinge behandelt. Sie werden im Produktionsablauf aussortiert nach dem Kriterium „unversehrt“ oder „versehrt“, ohne dass in irgendeiner Form thematisiert wird, dass es sich hierbei um Lebewesen handelt (Marlog 2013: 350f.). Durch die ausschließlich kommentarlose Beobachtung der landwirtschaftlichen Prozesse, vor allem der Schlachtprozesse, erreicht Nikolaus Geyrhalter mit genau gegenläufigen Strategien einen ähnlichen Effekt wie der Film Die Reise der Pinguine. Hier wird von der Nahrungsmittelproduktion, an deren Ende der westliche Konsument steht, ein Bild gezeichnet, dass diese wie einen Vorgang auf einem fremden Planeten wirken lässt. Auch sind Sound und Filmmusik sehr eindringlich. Besonders die Musik von Jun Miyake aus dem Album Stolen from Strangers (2011) wirkt hier sehr eindringlich. Somit findet sich auch hier eine Überinszenierung, eine Art von Verfremdung, die den Rezipienten mit Auge und Ohr an das Werk fesselt.
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Hier haben sich also zwei Dokumentarfilme durch besondere Ansprache von Auge und Ohr von der Flut der Bilder abgesetzt und damit ihren Rezipientenkreis gefunden sowie eine Möglichkeit, zum einen eine fremde Lebenswirklichkeit (Fortpflanzung und Aufzucht der Kaiserpinguine) zu vermitteln und zum anderen eine vermeintlich vertraute Wirklichkeit (Nahrungsmittelproduktion) so zu verfremden, dass sie dadurch überhaupt wahrgenommen wird. pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren, der Dokumentarfilm von Wim Wenders über die Tänzerin Pina Bausch und ihr Tanztheater in Wuppertal, geht noch eine Stufe weiter, unter anderem durch die Verwendung von 3D-Technik. In diesem Film stehen Körper und ihre Beziehungen im Vordergrund, wobei die Beziehungen zwischen den Menschen in erster Linie getanzt werden. Beim Zuschauer wird durch die 3D-Technik eine starke Nähe zu den Körpern der Protagonisten aufgebaut (ebd.: 352). Damit zeigt sich hier ganz deutlich, wie wirkungsvoll ein Film sein kann, wenn Inhalt und Form so passgenau zusammenkommen. Tanz ist hier die Verkörperung von Rhythmus, Musik, Emotionen. Es werden keine Fakten und Informationen über Pina Bausch und ihr Tanztheater aufgezeigt, sondern es werden Beziehungen (in erster Linie zu Pina), Emotionen und vielleicht auch Persönlichkeiten getanzt. Hier zeigt sich in einer zugespitzten Weise das Prinzip, das auch schon in Neukölln unlimited verdeutlicht werden konnte: Durch eine körperlich-sinnliche Erzählweise mithilfe von Tanz können intellektuell-reflexive Narrationen problemlos in den Hintergrund treten. Der Körper steht im Vordergrund, nicht nur als Ganzheit, sondern vor allem im Detail. Damit geht es in diesem Film insbesondere um eine Haltung und um einen Ansatz, der allen filmischen Darstellungen ebenso innewohnt wie dem Tanz, und den Pina Bausch im Film selbst so treffend zum Ausdruck bringt: PINA BAUSCH: „Es kommt natürlich vor, dass es Situationen gibt, wo man nichts mehr sagen kann. Wirklich sprachlos ist. Das ist ja alles nur ein ahnbar machen. Auch wenn ich Worte benutze, geht es ja gar nicht um die Worte, sondern um was ganz Bestimmtes ahnen zu lassen. Und ich glaube, da fängt dann auch der Tanz wieder an.“ (pina – tanz t, tanz t sonst sind wir verloren 2011: 00:08:46-00:09:08)
Alle aufgezeigten und noch aufzuzeigenden filmischen Strategien setzen in gewisser Hinsicht an diesem Punkt an. Es geht darum, das darzustellen, wofür es keine Sprache, so wie Pina Bausch herausstellt, oder auch keine Bilder gibt. Dabei kann es sich um ganz konkrete Situationen – wie etwa die in anderen Filmen besprochenen Gefängnisszenen – handeln, oder aber auch wie in diesem Beispiel: um Emotionen, zwischenmenschliche Beziehungen, dem Sein in der Welt. Die Kunst ist, eine Art und Weise des Erzählens zu finden, die diese Ebenen für einen Rezipienten authentisch erfahrbar und nachvoll-
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ziehbar macht. Und genau diese Erfahrung ermöglicht das Tanztheater von Pina Bausch aber auch der Film pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren wie auch alle anderen hier vorgestellten Filme, weil sie Strategien entwickelt haben, solche Ebenen zu erzählen.
8.3 U nterhaltung als S tr ategie : The O ther C helsea – E ine G eschichte aus D onezk Ich möchte hier einen Ansatz skizzieren, der exemplarisch ist für eine junge, frische Art des Fernsehdokumentarfilms, in der man dennoch deutlich die Einflüsse der letzten Jahre spüren kann und in der ein Michael Moore genauso seine Spuren hinterlassen hat wie ein poetischer Spielfilm à la Die fabelhafte Welt der Amélie (F/D 2001, R: Jean-Pierre Jeunet, L: 122 Min.). Dabei steht die Frage nach den erzählerischen und dramaturgischen Qualitäten im Vordergrund. Es ist ein Beispiel dafür, wie Politik und Unterhaltung in einer leichten und anschaulichen Erzählweise zusammenfallen können: Der Film The Other Chelsea – Eine Geschichte aus Donezk (D 2010, R: Jakob Preuss, L: 87 min), der unter dem Motto „Das Runde ins Eckige“ in der Sendereihe Das kleine Fernsehspiel (11.06.2012) ausgestrahlt wurde. The Other Chelsea ist ein Film, der für eine neue und inzwischen schon fast etablierte Erzählart im aktuellen deutschen Dokumentarfilm steht – eine Erzählart, die sich aus der Entgrenzung der Filme in den letzten Jahren ergeben hat. Solche Beiträge versuchen sich von traditionellen Erzählformen abzusetzen und haben damit wieder eine neue Tradition begründet, die sich aus ihren spezifischen Erzählstrategien speist. Noch werden diese Formate vor allem im Rahmen zum Beispiel von Das kleine Fernsehspiel oder auf Filmfestivals gezeigt. Dies könnte sich allerdings zu einem übergreifenden Trend entwickeln. Die Filme benutzen Elemente modernster Bilddesign-Technik einerseits und kombinieren diese andererseits mit einem gewissen Retro- oder auch Nostalgie-Image. Da ‚flutscht‘ zwar der Knetgummiknubbel in der schicksten Landkartenanimation durch die Gegend, aber es muss eben Knetgummi sein. Die Figuren sehen aus wie ausgeschnitten oder sind nur ganz simpel animiert. Vordergründiges Thema von The Other Chelsea ist der in Donezk (Ukraine) ansässige Fußballklub Shaktar (auch: Schachtjor) Donezk, dessen Aufstiegsgeschichte erzählt wird. Der Titel spielt auf den englischen Fußballklub FC Chelsea an, der am 1. Juli 2003 von dem russischen Milliardär Roman Abramowitsch gekauft wurde; dieser hat als Mäzen seitdem mehr als 600 Millionen Euro in neue Spieler investiert. In der Wahl des Titels und in dem vordergründigen Thema verbergen sich also mehrere Bedeutungsebenen. Doch das Entscheidende ist, dass nicht explizit erzählt wird, sondern Rückschlüsse auf
8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
die politischen Umstände und den Fußballclub dem (mündigen) Rezipienten überlassen werden. So werden die Fußballspiele nur aus der Ferne und anhand von Standbildern erzählt, bieten aber zugleich Raum, einerseits über das Gezeigte und Gehörte zu reflektieren und andererseits auch politische Inhalte zu transportieren. Fußball entspannt die Menschen und es ist ein Handlungsstrang mit einer natürlichen Dramaturgie (Siegen oder verlieren sie?!), der Emotionen hervorruft und bekannte Themen anspricht. Das Fußballthema macht den Film damit unterhaltsam und sorgt für die angesprochene Lockerheit der Erzählweise. Die Animationen des Filmemachers laden zu Assoziationen ein. Man hat das Gefühl, bereits Bekanntes wiederzuerkennen. Ist das nicht wie ein selbst gebasteltes Brettspiel oder ein Puppenhaus, wobei Figuren aus Pappe gebastelt wurden, denen die Köpfe aus Fotografien aufgesetzt sind? Es hat jedenfalls etwas Kindliches, Verspieltes, Zauberhaftes an sich, und das macht vielleicht die politische Realität so ertragbar beziehungsweise auch so erzählbar. Dazu tragen auch die lebensfrohen und selbstbewussten Protagonisten bei. Das Interessante an The Other Chelsea ist, dass hier ein politisches Thema angesprochen wird, das man auch sehr direkt und ganz anders erzählen könnte: „Preuss macht keinen Fußballfilm, der Autor hat gar keine Bilderrechte. Also behilft er sich mit Knetmasse und Animation, mit Spielfotos und Spielfreude. Putzig wirkt das nicht, so wenig wie das übrige Arrangement der Themen und Figuren. Preuss‘ Introspektion der Oben-und-unten-Strukturen kommt leichtfüßig daher. Der Zuschauer wird informiert, und er wird unterhalten.“ (Grimme Institut 2012: o.S.)
Der Regisseur thematisiert innerhalb des Films auch sein Verhältnis zu den Protagonisten. Aufsteiger Kolja beispielsweise sagt bei einer Fahrt in seiner Limousine zum Filmemacher: „Ruhe, Jakob, ich muss mich vorbereiten!“ (The Other Chelsea 2010: 00:20:15) Damit macht er diesen Protagonisten nicht unbedingt sympathischer, sich aber genauso wenig. Auch Gespräche, die außerhalb des Filmprozesses stattfinden, werden so thematisiert: „Kolja war sich nach dem Gespräch nicht mehr sicher, ob er sich richtig ausgedrückt hatte. Er bat mich klar zu stellen, dass er eine Bestrafung durch die Justiz meint.“ (Ebd.: 00:34:28-00:34:39) Der Effekt ist eindeutig: Der Rezipient fühlt sich erstens voll informiert, schon fast als Bestandteil einer Art investigativen Reportage (ihm werden keine Informationen vorenthalten) und zweitens bekommt er das Gefühl vermittelt, dass trotzdem alle Wünsche der Protagonisten berücksichtigt werden. Da ist es dramaturgisch klug, Aussagen im Film zu lassen, mit denen die Protagonisten nicht einverstanden oder bei denen sie unsicher waren, und diese nachher zu kommentieren. Das zeigt uns bestimmte Aspekte des Filmprozesses auf. Wir kennen diese Strategie auch von Michael Moore in einer noch deutlicheren Weise: In Bowling for Columbine (CDN/USA/D 2002,
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R: Michael Moore, L: 120 Min.) tröstet er vor der Kamera etwa die weinende Lehrerin der Columbine Highschool, anstatt die Szene herauszuschneiden. So etwas schafft nur vermeintlich Nähe zwischen Filmemacher und Protagonisten, denn in Wahrheit schafft es Nähe zwischen Filmemacher und Rezipienten. Hierbei handelt es sich um Inszenierungsstrategien. Abgesehen von diesen Selbstthematisierungen hat The Other Chelsea eine sehr entspannte Art, mit seinen Protagonisten umzugehen. Preuss zeichnet letztere alle gleichermaßen respektvoll. Die Fußballberichterstattung findet mittels Radiomoderation und eine dazu gemischte Stadiongeräuschkulisse statt. Dadurch, dass der Fußballklub tatsächlich in verschiedenen Turnieren immer weiterkommt, wird ein Spannungsbogen aufgebaut. Man fiebert als Rezipient mit den Protagonisten des Klubs mit, obwohl ja eigentlich andere Themen verhandelt werden, wie etwa die Vermischung von Politik und Fußball und die Investition in den Verein statt in Arbeitsplätze. Dieses Spannungsverhältnis erzählt Preuss scheinbar nebenher, wenn zum Beispiel in einer Szene die Arbeiter beklagen, dass die Regierung nichts für den Bergbau tut, sich die Regierenden jedoch selbst kleine Schlösschen bauen, oder wenn in einer anderen Szene Kolja beim Kauf der Ausstattung für sein neu erworbenes Haus begleitet wird. Politische Themen wie die Situation in der Ukraine werden anhand des Fußballklubs Shaktar Donezk und einer Handvoll lebensfroher Protagonisten auf eine unterhaltsame Weise erzählt. Die animierten und collagenartigen Parts und die Filmmusik schaffen Raum zur Reflexion und ziehen den Zuschauer in den Rhythmus und in die Ästhetik des Films hinein. So wie einige der Protagonisten der „guten alten Zeit unter Väterchen Russland“ hinterher trauern, so vermittelt die Gestaltung der ‚Zwischenspiele‘ mit Knetgummi-Animationen schon fast etwas Nostalgisches.3 Dabei stehen ebenfalls Fragen nach der Position des Filmemachers selbst im Fokus, nach dem Verhältnis von Film und Rezipient und nach dem Verhältnis von Film und Protagonist. In der Machart des Films wird implizit thematisiert, wer hier die Interpretationsmacht über das Gezeigte hat: Der Filmemacher, der entscheidet, was überhaupt gezeigt wird, die dargestellten Protagonisten, denen Gelegenheit gegeben wird, über ihr Leben zu reflektieren. Teilweise deutlich geführt werden diese Diskurse im nächsten Beispiel Aghet – ein Völkermord. Gleichzeitig entspricht die Dramaturgie dieses Films aber einem Blockbuster-Dokumentarfilm. Was ich damit meine, wird sich im Folgenden zeigen.
3 | Das Ganze ist auch irgendwie eine Art von Fabelhaf te W elt der A melie-Ästhetik oder anders: die 2000er Ästhetik.
8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
8.4 D istanzierende D arstellung : A ghet – ein Völkermord Der Film Aghet – ein Völkermord zeigt wiederum eine ganz andere mögliche Verfahrensweise für einen dokumentarischen Film, der mit einer Spiellänge von 90 Minuten ausschließlich für das deutsche Fernsehen produziert wurde. Wie Waltz with Bashir und Iran: Elections 2009/The Green Wave verarbeitet der Film historische Ereignisse – mit dem Unterschied, dass hier nicht die Perspektive eines Zeitzeugen eingenommen wird. Der Film thematisiert den Völkermord an den Armeniern durch die Jungtürken während des Ersten Weltkrieges. Die Besonderheit bei diesem Film ist, dass der Regisseur Eric Friedler hierfür ein neues Verfahren entwickelt hat, um die historischen Ereignisse emotionalisierend auf den Rezipienten zu übertragen. Das Verfahren ist auf den ersten Blick sehr einfach: Friedler lässt sehr bekannte deutsche Schauspieler Berichte und Briefe von Zeitzeugen vorlesen. Es ist eine Ablehnung des Re-Enactments und der historischen Inszenierung und zugleich eine Offenlegung der für einen Dokumentarfilm geleisteten Archivarbeit. Der Film stellt das Wort, das heißt die schriftliche Quelle über das Bild. Das ist in dieser Form für eine Fernsehproduktion sehr neu und wurde – auch wegen der heiklen Thematik – mit dem Grimme-Preis (2011) gewürdigt. Der Film beginnt zunächst klassisch wie eine brisante politische Dokumentation mit eindrücklicher Musik, professionellen Bildern und Politikern beziehungsweise Funktionären, die sich in der Öffentlichkeit (Parlament und/ oder Fernsehansprache, vermutlich Archivmaterial) zu dem Thema äußern. So beginnt eine große Dokumentation, quasi der Hollywood-Blockbuster einer Fernsehdokumentation: adrenalinanregende, emotionalisierende Musik, Politiker, die in einer fremden Sprache (in der Regel Englisch) mit professionellen Stimmen sprechen, schnelle Schnitte, Perspektivenwechsel, eine Erzählerstimme (mit dem Charakter einer Kommentatorenstimme), die die Situation erläutert, zu Bildern von Politikern beim Empfang und Bildern von aufgebrachten Menschen mit nationalen Flaggen oder Männern, die Plakate von Wänden reißen. Diese Bilder schaffen visuell eine Stimmung zwischen Aggressivität auf der einen und Macht beziehungsweise politischer Contenance auf der anderen Seite in Interviewausschnitten von Experten und Machthabern. Dabei werden Personen des „politischen Lebens“ auch ohne Einblendung ihrer Namen und Funktionen gezeigt, darunter Personen wie Barack Obama, Recep Tayyip Erdoğan oder Cem Özdemir. In den ersten zehn Minuten des Films wird der Konflikt um den Völkermord an den Armeniern entfaltet, der darin besteht, dass – so die klare Aussage des Films – die Türkei bis heute den Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg leugnet. Dabei sind die Bilder strategisch montiert. Wenn Özdemir sagt, „Es ist das letzte große Tabu der türkischen Politik. Das heißt, dass die
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Herrschenden offensichtlich Angst haben, dass ihre Bevölkerung diese Dinge erfährt“ (Aghet – ein Völkermord 2010: 00:01:15) und gleich darauf Bilder von einer Demonstration gezeigt werden, bei der Menschen von der Polizei brutal niedergeknüppelt werden, so werden hier Inhalt und Bild auf eine sehr rezeptionslenkende Weise verknüpft. Darüber wird die Stimme von Erdogan gelegt, bevor er selbst ins Bild kommt: „Sowas wie ein Genozid liegt unserer Gesellschaft fern. Wir werden einen solchen Vorwurf niemals akzeptieren.“ (Ebd.: 00:01.25) Als Gegenstimme hören wir Obama, der den Genozid bestätigt. Nach der Einblendung des Titels bei Minute zwei wird die Musik zurückhaltender und getragener, aber das Prinzip bleibt gleich. Ein allwissender Erzähler führt mit mächtiger Stimme sogleich in die Thematik ein und lässt auch keinen Zweifel an seiner Position. Jetzt werden auch die Namen und Funktionen der „Talking Heads“ eingeblendet wie des türkischen Journalisten Aydin Engin, der beispielsweise als erstes die schon oft gehörte dramatische Phrase ausspricht: „Die Büchse der Pandora wurde geöffnet...“ (Ebd. 00:03:13) In den ersten zehn Minuten wird so ein ‚Feindbild‘ aufgebaut, nämlich die türkische Regierung, repräsentiert durch Regierungschef Erdogan und seinen Stellvertreter, die mit eindeutigen Aussagen zitiert werden und (damit filmisch) dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Türkei immer noch den Genozid verschweigt. Wir kennen solche Aufmachungen von Michael Moores Film Fahrenheit 9/11 (USA 2004, R: Michael Moore, L: 122 Min). Der Zuschauer wird nicht im Zweifel gelassen über den Auftrag, den sich der Film gestellt hat. „Da ist die Rede von abgeschlachteten Christen, von abgeschlachteten Armeniern. Auf welcher Grundlage wird so etwas behauptet? Es ist absolut inakzeptabel, ohne Beweise die Türkei zu beschuldigen, 1915 sei ein solches Massaker geschehen. Und wenn es noch so häufig behauptet wird, wir werden das niemals akzeptieren. Kommen Sie und legen sie ihre Beweise vor, dann werden wir auch Rechenschaft über unsere Vergangenheit ablegen, und das sage ich ganz offen und klar.“ (A ghet – ein Völkermord 2010: 00:09:57-00:10:26)
So formuliert Regierungschef Erdogan bei einer nicht näher angegebenen politischen Rede. Dieses Zitat ist der Ausgangspunkt für den Film. Es wird filmisch ganz deutlich gemacht, dass dieser Film die Beweise für den Genozid an den Armeniern liefern kann, will und wird. Diese Beruhigung (das heißt es werden Beweise für ein Unrecht dargelegt) spiegelt sich sogleich in der Entspannung in der Musik wider. Der aus filmanalytischen Gesichtspunkten spannendere Part beginnt in der anschließenden Szene. Es wird eine Schwarzblende gezeigt und die Musik wechselt in ein leichteres, hoffnungsvolles Thema. Die Kamera fährt in
8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
der Vogelperspektive erst durch eine Glastür und dann durch eine Tresortür in einen sterilen weißen Gang. Dann im Archivraum fährt die Kamera an den schweren Metallregalen entlang. Dazu erfahren die Zuschauer, dass im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin Briefe und Notizen von Diplomaten und Ärzten lagern. Diese Dokumente wurden, laut Erzähler, lange zurückgehalten, um der Türkei nicht zu schaden (ebd.: 00:11:00). Wir befinden uns also in besagtem Archiv. Und diese Dokumente sind der Beweis für den Völkermord: „Aufzeichnungen auf längst vergilbtem Papier, deren Verfasser seit Jahrzehnten tot, 95 Jahre nach dem Völkermord werden ihre Aussagen noch einmal zu hören sein, geben Schauspieler diesen Zeitzeugen erstmals wieder eine Stimme.“ (Ebd.: 00:11:37-00:11:51) Die Musik steigert sich nach dieser Aussage bis zu einem finalen Tusch. Die imaginierte Bühne ist frei und der Vorhang öffnet sich. Tatsächlich öffnet sich die Fluchttür einer Hinterbühne oder Lagerhalle, eine schwere Brandschutztür, über der ein Piktogramm zur Kennzeichnung eines Notausgangs angebracht ist. Diese Tür geht auf – unterstützt von der Musik – und ein Mann im schwarzen Anzug betritt den Raum (ebd.: 00:11:50). Er läuft an der Kamera vorbei ohne sie zu beachten und als er nur noch im Profil von der Seite zu sehen ist, erscheint links die Einblendung „Hanns Zischler“ (ebd.: 00:11:58). Erfahrene Fernsehzuschauer haben ihn ohnehin schon erkannt und vor allem bereits seine Stimme vernommen: DAVIS: „Ich musste unserer Botschaft nicht nur über eine der tiefgreifendsten Maßnahmen berichten, die jemals von einer Regierung veranlasst worden waren, sondern auch über eine der größten Tragödien der menschlichen Geschichte.“ (Ebd.: 00:11:58)
Hanns Zischler geht weiter und auf einen Stuhl zu, der im Scheinwerferlicht aufgebaut ist. Der Blick wird freigegeben auf das, was der Zuschauer sonst nicht sieht: Eine Filmset-Szenerie in einem hallenartigen Raum, Scheinwerfer, dahinter Stühle, auf denen Menschen sitzen. Aber die volle Konzentration richtet sich dann auf den sitzenden Zischler, wie er synchron den letzten Abschnitt spricht, dazu die Einblendung „als Leslie A. Davis Amerikanischer Konsul“ (ebd.: 00:12:04). Danach betritt Friedrich von Thun die Halle, der ebenfalls im Gehen gefilmt wird und mit einer noch enttarnenderen Kameraperspektive, die ihn von hinten bis zum Stuhl begleitet. Der Effekt ist, dass der Zuseher ganz bei der Stimme ist, ganz beim Text. Die Vergegenwärtigung der Annahme einer Rolle, das gemeinsame Begeben in ein Setting, der bewusste Akt der Stimmgebung ist ganz präsent. Die Schlichtheit der Kleidung, der Ernst in der Stimme, der Wechsel von der Einstellung auf das Setting zum (halben) Close-up auf den Schauspieler konzentriert die Stimmung ungemein. Es erinnert an eine Traueransprache, wenn
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sich plötzlich alles auf eine Person konzentriert, am Grab, die ernst die letzten Wahrheiten vorträgt. Damit vollzieht sich ein kompletter Stimmungswechsel im Film. Nichts vom Blockbuster-Dokumentarfilm zwischen Fahrenheit 9/11 und ZDF History ist mehr zu spüren. Das hier ist etwas sehr K onzentriertes, etwas, das einen sehr eigenen und wahrhaftigen Charakter bekommt. Hier kommen mehrere Dinge zusammen, wie Stimme, Text und Persönlichkeit. Das Besondere ist, dass die Schauspieler ja keine Rolle spielen, sondern mit ihrer Persönlichkeit einen Text darbieten. Hier wird nur minimal gespielt, wodurch sich auf sehr eindrückliche Weise das Funktionieren von Empathie und das Spannungsfeld zwischen Körper und Stimme zeigt, da die Schauspieler hier nicht ihre Körper, sondern nur ihre Stimmen zum Einsatz bringen. Das wird besonders offensichtlich, als in einem Zwischenspiel Bilder aus einer Froschperspektive zu sehen sind: Bilder auf eine Stadtsilhouette mit davor laufenden, nahezu durchsichtigen Menschen. Aus Mangel an Bildmaterial werden heutige Filmaufnahmen zu Schatten beziehungsweise zu ‚Quasi-Schatten‘ der Vergangenheit gemacht. So gesehen arbeitet der Film viel mit Klischees oder mit Bildern, die man schon einmal gesehen zu haben meint – genauso auch die Phrase „Büchse der Pandora“. Es mag sein, dass dieser Eindruck der Klischeehaftigkeit daher rührt, dass diese Verbrechen an der Menschlichkeit so unglaublich sind, dass das Vokabular und auch die Bilder nicht ausreichen, um sie auszudrücken. Hier sehen wir also eine weitere Verfahrensweise, um Trauma zu bearbeiten, und es findet auf einer gewissen Ebene eine Anlehnung an Neukölln unlimited statt, der seinerseits ebenfalls mit Stereotypisierungen arbeitet, oder auch mit den dargestellten Animationsfilmen, die auch auf eine künstliche Art und weise Träume verhandeln. Zurück nun aber zum ‚Spezialkonzept‘ von Aghet – ein Völkermord: Die Stimme von Hanns Zischler hat zu diesen Schattenbildern bereits eine starke Glaubwürdigkeit und Autorität. Meines Erachtens wirkt der Einsatz der Schauspieler glaubwürdiger als ‚echte‘ Zeitzeugen. Es ist die Wirkmacht der puren Stimme, die Ich-Perspektive und dazu die unbestimmten Bilder, die den Raum lassen, sich zum einen zu vergegenwärtigen, woher der Text kommt, und sich zum anderen auf den Text zu konzentrieren. Sobald man Zischler sieht, wird die Betroffenheit durch seine dezente Darstellung noch verstärkt. Er schaut nicht in die Kamera, setzt Kunstpausen und Blicke (falls doch dann) gezielt ein. Obwohl kein historisches Bildmaterial vorhanden ist, werden Pausen mit Bildern gesetzt, die Sehnsuchtsmaterial wie das Meer, Schiffe oder den Himmel beinhalten. Hierbei handelt es sich um Bilder, die einerseits einen Freiraum lassen und das Gehirn das verarbeiten lassen, was es gerade gehört hat. Andererseits sind dies auch Bilder, die man so schon einmal gesehen hat: Die Menschen werden nach wie vor als Schatten gezeigt oder etwa als Mann, der hinter einer Glasfront steht und auf das Meer, in die Ferne schaut. Das sind Bilder von Menschen, die sich erinnern.
8. Fazit I: Entgrenzungen im populären (Dokumentar-)Film
Gleichzeitig steht die hier gezeigte Schönheit der Region im Widerspruch oder zumindest im starken Kontrast zu den Gräueltaten, die eben in jener Region passiert sind. Im vorgelesen Text wird berichtet, wie Alte, Lahme und Kranke, Mütter und Säuglinge brutal ermordet werden. Die Konzentration des Zuschauers wird hier vermutlich nicht von den visuellen Eindrücken, den ruhigen und bekannten Bildern, in Anspruch genommen, und kann sich deshalb verstärkt der auditiven Dimension, also dem Text, zuwenden. Die Musik hat eine ähnlich beruhigende und zurückhaltende Funktion, ebenso wie eine verbindende. Sie liegt ganz ruhig unter dem Bericht von Hanns Zischler alias „Leslie A. Davis Amerikanischer Konsul in Harput, 1914-1917“ (ebd.: 00:14:09) und wird fortgesetzt, wenn der Text vorbei ist und die Bilder kommen. Aghet – Ein Völkermord ist ein geeignetes Beispiel, um zu verdeutlichen, wie eine authentische neue Erzählweise respektive der Umgang mit Zeitdokumenten gehandhabt und wie damit eine akribische Recherchearbeit innovativ präsentiert werden kann. Gleichzeitig verdeutlicht der Film, wie trotzdem stark manipulierende, klassische und herkömmliche Strategien verwendet werden können, wie oben aufgezeigt: schnelle Zusammenschnitte von Leichenbergen in Schwarz-Weiß, dazu bedrohliche Musik (ebd.: 00:29:00) und ein allwissender Erzähler. Es findet eine starke Distanzierung zum Thema statt bei gleichzeitiger Emotionalisierung. Stark berührend wirkt dann die finale Emotionalisierung in der letzten Viertelstunde des Films (ebd.: 1:17:00ff.). Es werden Überlebende des Genozids gezeigt, die etwa 100 Jahre alt sind. Sie strahlen Alter und Würde aus und personifizieren die Vergangenheit und ihre Augenzeugenschaft, als wären diese Menschen der allerletzte Beweis, die lebenden Dokumente, dass all das geschehen ist. Aber sie bleiben stimmlos und namenlos. Auch Waltz with Bashir braucht die Augenzeugen in den letzten Minuten des Films. Es sind Archivaufnahmen von den klagenden Frauen, die um ihre Angehörigen nach dem Massaker trauern. So wird in den letzten Minuten von Aghet – ein Völkermord noch die historische Bedeutung dieser Leugnung des Genozids für den Holocaust und die Wirkung bis heute hervorgehoben. Die aufgezeigten Beispiele haben verdeutlicht, welche Spielarten und Entgrenzungsstrategien im Film- und Fernsehdokumentarfilm eingesetzt werden und wie dort ebenfalls Diskurse um Authentizität, Imagination und Wahrnehmung geführt werden. Durch die neuen Erzählstrategien werden die Sehgewohnheiten des Zuschauers durchbrochen und reflektiert. Dieses wird im folgenden Fazit ausgeführt.
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9. Fazit II: Authentisches Erzählen durch Reflexion und Imagination
In der Schlussbetrachtung werden die behandelten Filme mit ihren Themen und Strategien zusammengeführt. Ziel war es, neue Erzählstrategien im ethnologischen (Dokumentar-)Film aufzuspüren und zu beschreiben. Dabei wurde der Fokus auf Filme gelegt, die sich durch besondere, auffallende Erzählweisen von den klassischen Formaten absetzen. In den Detailanalysen (Kapitel 2 bis 7) hat sich gezeigt, dass die Entgrenzungsstrategien eine explizite Reflexion auf das Medium Film beinhalten, sobald sie andere Kunstformen einsetzen wie Schatten- und Puppenspiel (Promised Paradise) oder Tanz und Gesang (Neukölln unlimited, Making of – Kamikaze). Das Puppenspiel etwa wurde von Agus Nur Amal dafür eingesetzt, nicht nur sein reales Gegenüber, sondern vor allem auch die Medien Film und Fernsehen an sich kritisch zu hinterfragen und zu kommentie ren. Film im Allgemeinen zielt aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften normalerweise darauf ab, Realität zu inszenieren und zu dokumentieren. Allerdings zeigt unter anderem der Puppenspieler, dass diese Eigenschaften (Realität abbilden und gleichzeitig Illusion schaffen) nicht genuin mit dem Medium Film zusammenhängen müssen, nur weil sich der Film beispielsweise in seiner dokumentarischen Form selbst als Dokumentation inszeniert und nicht auf den Filmprozess an sich reflektiert. Im Gegensatz hierzu stehen Kunstformen wie Theater und Tanz, die nur in viel geringerem Maße eine Vortäuschung von Realität vornehmen können und trotzdem mit Illusion und Imagination arbeiten. Diese Kunstformen werden in den analysierten Filmen verwendet, um Gefühle authentisch zu vermitteln. Wenn etwa jemand Angst tanzt, wird auf einer künstlichen und hier auch körperlichen Ebene eine Form der Vermittlung für dieses Gefühl gefunden (Neukölln unlimited, pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren). Dies ist eine Möglichkeit, den Rezipienten in das Geschehen hineinzuziehen und Emotionen nachvollziehbar zu machen. So werden Gefühle, Ereignisse und Themen durch künstlerische Darstellungsweise im Körper des Rezipienten real wahrnehmbar.
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Animation entfaltet ihre Wirkkraft in allen analysierten Filmbeispielen dadurch, dass sie Künstlichkeit ebenfalls nicht überdeckt und Räume für die Imagination in der Rezeption bietet. Dabei ist sie besonders dazu geeignet, traumatische Erfahrung aus einer subjektiven Perspektive herauszulösen und so nachvollziehbar zu machen. In Neukölln unlimited liegt die traumatische Begebenheit in der Vergangenheit und handelt von der Abschiebung der Familie Akkouch aus Deutschland zurück in den Libanon. Die Kinder sind zu diesem Zeitpunkt jünger als 15 Jahre und fast alle in Deutschland geboren. Hassan, der älteste Sohn der Familie, schreibt die Geschichte der Abschiebung auf, die er als Wendepunkt in seinem Leben empfunden hat. Seine Niederschrift wird zu einem von ihm selbst gesprochenen Kommentar für gezeichnete, bewegte Bilder (Animation), welche die Ereignisse visualisieren. Er wird so zum Erzähler seiner Familiengeschichte aus seiner jugendlichen, subjektiven Perspektive. Dadurch, dass nur wenige Einzelheiten erzählt, im Detail dargestellt beziehungsweise visualisiert werden, erhält die Familiengeschichte eine Allgemeingültigkeit. Durch diese zwei Faktoren wird hier dem Rezipienten ermöglicht, die Leerstellen mit seiner Imagination zu füllen und sich in die Erlebnisse der Familie einzufühlen. Dieser Effekt wird auch bei Iran: Elections 2009/The Green Wave durch eine ähnlich schlicht wirkende Animationstechnik, die des Motion Comic, hergestellt. Hier verweist die Animationstechnik selbst auf einen Zwischenraum zwischen Fotografie und gezeichnetem Bild. Anders als bei den rein gezeichneten Bildern in Neukölln unlimited findet hier jedoch durch die Collagen von Realbildern und gezeichnetem Comic-Strip zusätzlich eine Verortung der Ereignisse im Realbild, im fotografischen Bild statt. Die Figuren sind ganz fiktiv, das heißt, sie haben nicht eine Person (wie Hassan in Neukölln unlimited) als Referenz, sondern sie geben mehreren Stimmen einen Körper. Diese Stimmen werden aus Augenzeugenberichten der iranischen Revolution generiert. Alles zusammen macht die politischen Ereignisse erfahrbar, ohne dass Einzelschicksale dargestellt sind. Die Allgemeingültigkeit wird aufgehoben durch den Raum und die konkreten politischen Ereignisse im Iran, auf die sich der Film auch mit Footage-Material und Handyvideos bezieht. Die aufwendigsten und professionellsten Animationstechniken werden in den ausschließlich animierten Dokumentarfilme Waltz with Bashir und Persepolis verwendet. Hier kommt eine subjektive autobiografische Perspektive mit der Rolle des Filmemachers zusammen, das heißt, der Hauptprotagonist im Film stellt die Person des Regisseurs dar. Aus seiner Perspektive erzählen die Filme persönliche Erinnerungen. Auch hier wird dem Zuschauer durch schlichte Zeichnung Identifizierung und Imagination ermöglicht. Hier bekommt der Begriff der Augenzeugenschaft eine neue Dimension, da allein die Quelle, das heißt der Zeuge, für das in der Animation dargestellte (und nicht mit Filmmaterial belegte) Erlebnis bürgt, beziehungsweise Zeugnis da-
9. Fazit II: Authentisches Erzählen durch Reflexion und Imagination
von ablegt. Dabei trifft der Begriff Augen-Zeugenschaft teilweise nur bedingt zu. Denn es lässt sich feststellen, dass der Ton immense Bedeutung hat, da er die Erlebnisse der Protagonisten für die Rezipienten erfahrbar machen kann. Der Ton ruft beim Zuschauer Gefühle hervor, die denen des sich erinnernden Protagonisten ähneln. Gleichzeitig kann die Animation im Falle eines Augenzeugenberichtes ein Ventil dafür sein, den Mechanismus der Verdrängung und die Sprachlosigkeit zu durchbrechen (Iran: Elections 2009/The Green Wave). Wie sich gezeigt hat, wird für die Animation meist eine einfache, schlichte Form der Darstellung gewählt, die menschlichen Figuren und Gesichter sind meist mit erkennbaren, aber wenigen und wenig spezifischen Merkmalen ausgestattet. Deswegen kann eine verstärkte Konzentration auf das Gesagte und auditiv Erzählte stattfinden. Eine Dominanz des Tons lässt sich auch in anderen Filmen ausmachen (Promised Paradise, Burma VJ, Die Reise der Pinguine). Dabei fallen dem Ton durch seine technischen Möglichkeiten immer öfter ‚Authentifizierungsaufgaben‘ zu. Beispiele hierfür sind die besondere Reinheit des Tons in Die Reise der Pinguine, in dem etwa das Knacken des Eises oder das Aufspringen der Eierschale überdeutlich zu hören sind, auch wenn es in der Realität niemals möglich wäre, diese Geräusche so deutlich wahrzunehmen. Damit wird paradoxerweise eine besondere Authentizität erzeugt. Etwas Ähnliches passiert in Burma VJ, wo die Fokussierung auf ein Geräusch wie das Öffnen und Schließen eines Reißverschlusses oder das Piepsen eines Camcorders darüber hinaus Nähe zur Perspektive der Erzählerfigur Joshua herstellt. Hier wird also über den Ton eine besondere Nähe und Intimität zum Geschehen geschaffen, unabhängig davon, was im Filmbild passiert. Das Filmgeschehen wirkt durch die Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit des Tons authentisch. Der Ton schafft Authentizität selbst dann, wenn das Filmbild gleichzeitig wenig Authentizität transportiert, etwa weil im Bild nichts zu sehen ist (Iran: Elections 2009/ The Green Wave), aus großer Ferne gefilmt wird (Burma VJ) oder die Bilder sehr künstlich wirken (Die Reise der Pinguine, Waltz with Bashir). Bei den analysierten Filmen, die mit Tanz und Gesang arbeiten, tritt die Ebene des Tons eher wieder hinter die des Bildes zurück (Neukölln unlimited, Making of – Kamikaze). Die Bildebene ist hier wieder wichtiger, weil der Körper im Tanz eine zentrale Rolle einnimmt. Dafür, dass der Körper in den Vordergrund rückt, gibt es unter den Filmen einige Beispiele. Körperlichkeit wird durch besonders intensiv gefilmte Bilder transportiert. Das können extreme Nahaufnahmen sein, wo nahezu jede einzelne Hautpore erkennbar wird (Exile Family Movie, Promised Paradise), oder Aufnahmen, in denen der trainierte Körper (Neukölln unlimited, pina – tanzt, tanzt sonst sind wir verloren) oder der leblose Körper (Iran: Elections 2009/The Green Wave, Burma VJ) ausgestellt wird. Hier kann die explizite Körperlichkeit des Film bildes in eine körperlich-sinnliche Erfahrung der Filmsituation vom Filmkör-
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per auf den Rezipientenkörper übergehen. Das führt ebenfalls zu einer gesteigerten Empathie und Identifizierung mit Personen und Themen. Einen ähnlichen Effekt hat die Erzählperspektive, wenn sie eine autobiografische, subjektive Perspektive einnimmt, das heißt besonders dann, wenn Filmemacher und Erzähler identisch sind, ein und dieselbe Person sind (Waltz with Bashir, Persepolis, Exile Family Movie). Der Rezipient hat dadurch verstärkt das Gefühl, unmittelbar wahrzunehmen und zu erleben, was der Filmemacher erlebt. Gleichzeitig wird ihm aber deutlich gemacht, dass es sich hier eben nur um eine Perspektive auf die Ereignisse handelt, die keine Allgemeingültigkeit beansprucht. Das wird besonders klar, wenn es sich um persönliche Themen wie die eigene Familiengeschichte handelt (Exile Family Movie). Die politische Dimension hinsichtlich Fragen zu Migration und interkultureller Begegnung wird in diesem Film auf einer privaten Ebene erzählt. Hier begibt sich der Filmemacher auf die Suche nach seiner eigenen Identität beziehungsweise der seiner Familie. Dies wird umgesetzt, indem er beispielsweise mit der Kamera Erinnerungen seines Vaters an Vergangenes provoziert (Exile Family Movie). So wird der Film selbst zum Raum, in dem Identität verhandelt wird. Einen ähnlichen Effekt hat die Selbstinszenierung der Protagonisten in Neukölln unlimited. Auch hier wird der Film selbst zum Raum, in dem die Identitäten der Jugendlichen verhandelt werden. Dabei wird trotz Rückgriffen auf Stereotype und mediale Vorbilder ein hoher Grad an Authentizität erreicht. Tanzformen wie HipHop und Breakdance, die hier zur Charakterisierung benutzt werden, stehen als Tanzformen exemplarisch dafür, dass es hier um Selbstkonstitutionen und die Performanz innerhalb der Gesellschaft geht. Die Filme setzen dabei aber auch da an, wo es visuell schwierig ist zu erzählen, was die Protagonisten bewegt, was sie erlebt haben oder hatten und wie sie sich selbst in der Welt verorten. In den Filmen mit Tanzsequenzen werden so unterschiedliche Themen wie Auflehnung gegen gesellschaftliche Strukturen und Geschlechterrollen (Making of – Kamikaze) oder Integration und Coming-of-Age (Neukölln unlimited) behandelt. Wenn der Tanz zusätzlich in Traumsequenzen oder irrealen Settings stattfindet, verstärkt sich dieser Effekt (Neukölln unlimited). Hier ermöglicht die Entgrenzung in der filmischen Erzählweise eine sinnlich-körperliche Nachvollziehbarkeit der Ereignisse und der Gefühle der Protagonisten. So wird für die Rezipienten durch diese eigentlich fiktionalen, künstlichen Techniken eine intensivere Möglichkeit der Identifizierung mit den Protagonisten geschaffen. Wie aufgezeigt wurde, zielen viele der Techniken auf Imagination und Identifizierung ab. Im Gegensatz zu Techniken des klassischen Dokumentarfilms wie beobachtende Kamera oder Interviews, machen es die neuen Erzählstrategien möglich, einen Raum des ‚Mitfühlens‘ und ‚Wahrnehmens‘ zu schaffen. Die Filme benutzen Techniken, die es ermöglichen, Gefühle der Protagonisten und ihre Umstände nachvollziehbar zu machen. Dabei sollen die Er-
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eignisse selbst aber durchaus authentisch vermittelt werden. Effekte, die die Sinneswahrnehmung ansprechen und Imagination hervorrufen, rücken diese Filme zwar in die Nähe des Spielfilms, aber zugleich wird keine fiktive Realität geschaffen. Dies wird durch die permanente Selbstreflexion der Filme verhindert. Sie dient dazu, die Realität Film bewusst zu machen und den dokumentarischen Anspruch, der in allen Filmen (außer Making of – Kamikaze) vorhanden ist, zu betonen. Die Entgrenzungen finden in so offensichtlicher Manier statt, dass kein Zweifel über ihre Inszeniertheit besteht (Marlog 2013:354). In diesem Sinne verstandene Imagination ermöglicht eine Authentizität des Films, die eindringlicher auf den Rezipienten wirkt als der gewöhnliche Dokumentarfilm. Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Bewegung sich ebenfalls von der entgegengesetzten Seite beschreiben lässt. Wenn der dezidiert fiktionale Film, der eine fiktive Realität darstellt, diese durchbricht, wie in Making of – Kamikaze gesehen, findet durch den Illusionsbruch eine stärkere Identifizierung statt. Der Trend im Spielfilm, dokumentarische Elemente einzubauen, ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Auch hier wird in den Filmen nach Möglichkeiten gesucht, authentisch zu erzählen. Allerdings sind dabei in beiden Fällen, Dokumentarfilm wie Spielfilm, die Verfahren in der Regel meist deutlich zuzuordnen hinsichtlich eines realen Referenzgebers. Der Rezipient kann also einordnen, ob die Ereignisse in Wirklichkeit stattgefunden haben oder nicht. Anlässlich eines aktuellen Films aus dem Jahr 2012 mit dem Titel This Ain’t California (D 2012, R: Marten Persiel, L: 99 Min.) ist die Diskussion um Wahrheit und Fiktion, Dokumentation und Imagination im Dokumentarfilm in den deutschen Medien neu aufgeflammt. Der Film von Marten Persiel erzählt die Geschichte einer Skaterszene in der DDR in den 1980er Jahren. Dabei greift der Film auf klassische Authentifizierungsstrategien wie den Einsatz von angeblichen Archivaufnahmen und Footage zurück, ohne kenntlich zu machen, dass dieses Material nachgedreht wurde. Auch die im Film dargestellten Protagonisten sind nur teilweise reale Personen, ein Großteil wurde von Schauspielern dargestellt, was ebenfalls nicht kenntlich gemacht wird. Die Spiegel Online-Autoren Hannah Pilarczyk und Peter Wensierk fragen provokativ in ihrem Artikel Auf der schiefen Bahn (17. August 2012) danach, wie es soweit kommen konnte, dass ein in ihren Augen eher dem „Imagefilm“ zuzuordnender Film als Dokumentarfilm von der Deutschen Film- und Medienbewertung das Prädikat „besonders wertvoll“ bekommen konnte. Ebenso gewann der Film viele Preise in der Kategorie Dokumentarfilm vom Dialogue-en-Perspective-Preis auf der Berlinale bis hin zum Preis in jener Kategorie auf dem Cannes Independent Film Festival. Interessant ist vor allem, wie der Film die Geister scheidet und auch, wie unterschiedlich stark die Bilder als inszeniert erkannt werden oder nicht. Die Bundeszentrale für politische
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Bildung widmete dem Film mit Kinostart am 16. August 2012 bereits am 28. desselben Monats ein Spezial, in dem sie die Zwiespältigkeit des Films thematisiert. So heißt es: „Denn die vermeintliche Dokumentation ist, ohne dies je im Film kenntlich zu machen, zum Großteil inszeniert. Die erzählte Geschichte ist, gleichwohl auf Recherchen basierend, von den Filmschaffenden erdacht. Deshalb und wegen etlicher Unklarheiten hinsichtlich der Materiallage fühlen sich die einen massiv getäuscht und werfen der Regie ‚Geschichtsklitterung‘ vor. Andere schätzen wiederum die filmischen und erzähle rischen Qualitäten von ‚This Ain‘t California‘ und drücken ein Auge zu oder stören sich erst gar nicht an dem undurchschaubaren Mix von Fakten und Fiktion.“ (Taylor 2012: o.S.)
Anhand dieses Konflikts soll am Ende dieser Arbeit deutlich werden, dass die Frage nach Fiktion und Authentizität, nach Entgrenzungsstrategien und ihrer Anwendung noch nicht beantwortet ist. Regisseur Marten Persiel und Produzent Ronald Vietz verstehen die Aufregung um ihren Film nicht, denn sie würden ja schließlich „gefühlte Wahrheit“ erzählen. Der Produzent Ronald Vietz äußert sich in einem Interview dazu wie folgt: „Wir wollen beim Dokumentarfilm das ‚Film‘ größer schreiben als das ‚Dokumentar‘. Um das wiederzugeben, wie es damals war, sind natürlich auch die Fakten wichtig, aber vor allem die Tatsache, dass man es vom Gefühl her trifft. Wir haben uns darauf konzentriert, die gefühlte Wahrheit zu zeigen und dadurch eine hohe erzählerische Dichte erzeugt.“ (Ziemann 2012: o.S.)
Der Erfolg von This Ain’t California gibt ihnen Recht. Es scheint ein Bedürfnis zu geben, Geschichten so nachvollziehbar und sinnlich-erfahrbar zu erzählen, wie es dieser Film tut. Die vom Film referierte Realität lässt sich nachvollziehen und durch Imagination werden die Rezipienten stärker in den Film involviert als es bei gewöhnlichen Dokumentarfilmen der Fall ist. Diesen Effekt haben auch die Analysen der vorliegenden Filme mit ihren spezifischen Erzählstrategien gezeigt. Allerdings ist die Frage, ob sich ein Rezipient nicht sogar stärker – und das würde meinen Ergebnissen entsprechen – auf das Imaginieren einlässt, wenn er sich die ganze Zeit sicher ist, dass er im Kern Realität erzählt bekommt beziehungsweise wenn es ihm ermöglicht wird, die verschiedenen Strategien zu identifizieren. Hier werden die Filme dann auch ihren politischen Aussagen gerechter, da sie den Rezipienten ein Einfühlen in die dargestellte Welt auch über den Film hinaus ermöglichen und damit die Reflexion der gesellschaftlichen und politischen, dem Film zugrundeliegenden Themen auch außerhalb des Films ermöglichen. Der Rezipient kann so einerseits Umstände nachvollziehen, sich andererseits aber ein „eigenes Bild
9. Fazit II: Authentisches Erzählen durch Reflexion und Imagination
machen“. Hier können ethnologische (Dokumentar-)Filme, die mit Entgrenzungsstrategien arbeiten und diese offenlegen, kulturelle Prozesse darstellen, erläutern und reflektieren und einen wichtigen Beitrag für eine zeitgenössische Visuelle Anthropologie leisten. Solche Filme sind notwendig, machen sie doch gewisse Erlebnisse und gesellschaftliche Phänomene einem größeren Rezipientenkreis überhaupt erst wahrnehmbar.
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10. Filmografie Aghet – Ein Völkermord: D 2010, Regie: Eric Friedler, Länge: 90 Min. Alias: D 2009, Regie: Jens Junker, Länge: 90 Min. Awareness: AU 2010, Regie: David MacDougall/Judith MacDougall, Länge: 67 Min. Blair Witch Project: USA 1999, Regie: Daniel Myrick /Eduardo Sánchez, Länge: 81 Min. Bowling for Columbine: CDN/USA/D 2002, Regie: Michael Moore, Länge: 120 Min. Bride Kidnapping in Kyrgystan: KIR/UK/USA 2004, Regie: Petr Lom, Länge: 51 Min. Burma VJ: Reporting from a Closed Country: DK 2008, Regie: Anders Østergaard, Länge: 84 Min. Chronique d’un été (Paris 1960): F 1961, Regie: Jean Rouch/Edgar Morin, Länge: 85 Min. Cooking History: A/SLO/CS 2009, Regie: Peter Kerekes, Länge: 88 Min. Dead Birds: USA 1963, Regie: Robert Gardner, Länge: 85 Min. Der Baader Meinhof Komplex: D 2008, Regie: Uli Edel, Länge: 150 Min. Deutschland. Ein Sommermärchen: D 2006, Regie: Sönke Wortmann, Länge: 110 Min. Die fabelhafte Welt der Amélie: F/D 2001, Regie: Jean-Pierre Jeunet, Länge: 122 Min. Die Höhle der vergessenen Träume: CDN/USA/F/D/GB 2010, R: Werner Herzog, Länge: 95 Min. Die Reise der Pinguine: F 2005, Regie: Luc Jacquet, Länge: 82 Min. Doon School Chronicles: AU 2000, Regie: David MacDougall, Länge: 140 Min. Diya: Au 2001, Regie: Judith MacDougall, Länge: 56 Min. Exile Family Movie: A 2006, Regie Arash T. Riahi, Länge: 94 Min. Fahrenheit 9/11: USA 2004, Regie: Michael Moore, Länge: 122 Min. Fremder Freund: D 2003, Regie Elmar Fischer, Länge: 105 Min. Gandhi’s Children: AU/IND 2008, Regie: David MacDougall, Länge: 185 Min.
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Christoph Ernst, Heike Paul (Hg.) Amerikanische Fernsehserien der Gegenwart Perspektiven der American Studies und der Media Studies September 2015, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-1989-8
Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch 2014, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-1091-8
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Henrike Hahn Verfilmte Gefühle Von »Fräulein Else« bis »Eyes Wide Shut«. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2481-6
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Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino 2013, 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9
Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema 2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)
Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014
Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.
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