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German Pages 442 [443] Year 1980
GERHARD OESTREICH
Strukturprobleme der frühen Neuzeit
Struk t urproble me der frühen Neuzeit Ausgewähl te Aufsä tze
Von
Gerhard Oestreich Herausgegeben von Brigitta Oestreich
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot. Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Buchdruckerei Bruno Luck. BerUn 65 Printed in Germany
© 1980 Duncker
ISBN 3 428 04635 8
Inhalt Einleitung ........................... ....................................................................................... ......
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Zur Historiographie ........... ....... ...... .............. .... ........ .......... ................. ..... .............. .......
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Dreißig Jahre Historiker ........................................................................................ Fritz Hartung als Verfassungshistoriker (1883-1967) .................................. Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland ........ .... ......... ........................... ... .......... ............ ........... ............ .......... Huizinga, Lamprecht und die deutsche Geschichtsphilosophie: Huizingas Groninger Antrittsvorlesung von 1905 ................................................... ;............
19 34 57 96
Otto Hintze. Tradition und Fortschritt .............................................................. 127 Zur Ständischen Verfassung ................................................................................... Ständestaat und Ständewesen im Werk Otto Hintzes .................................. Die Ständische Verfassung in der westlichen und in der marxistischsowjetischen Geschichtschreibung ...................................................................... Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519-1556). Kuriensystem und Ausschußbildung ........................ Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde. Die "Regierungsformen" des 17. Jahrhunderts als konstitutionelle Instrumente ................ Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: Ständische Verfassung, Landständische Verfassung und Landschaftliche Verfassung ..............................
143 145 161 201 229 253
Zur gesamt-geistigen Struktur der Epoche ....... .......... ..... .................... .................. 273 Fundamente preussischer Geistesgeschichte. Religion und Weltanschauung in Brandenburg im 17. Jahrhundert ............................................ Das politische Anliegen von Justus Lipsius' De constantia ... in publicis malis (1584) ... :............................................................................................................ Justus Lipsius als Universalgelehrter zwischen Renaissance und Barock Die antike Literatur als Vorbild der praktischen Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert .......................................................................................... Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat .................................................................................................................... Lohensteins Zeit und Umwelt .............................................................................
275 298 318 358 367 380
Bibliographie Gerhard Oestreich ............................................... ............................ 403 Personen- und Autorenregister ................................................................................ 430
Einleitung* Nach der großen Breitenwirkung, die der erste Band der ausgewählten Aufsätze von Gerhard Oestreich, unter dem Titel "Geist und Gestalt des friihmodernen Staates" 1969 erschienen, auch in die Nachbardisziplinen hinein erzielte - eine Übersetzung ins Englische befindet sich in Vorbereitung -, haben sich Verlag und Herausgeberin zur Zusammenstellung eines zweiten Bandes entschlossen. Er enthält die Abhandlungen zur Historiographie, neuere Aufsätze zur Ständischen Verfassung sowie die abschließenden Arbeiten zu Justus Lipsius wie allgemein zu dem zentralen Anliegen Gerhard Oestreichs, den Verlauf der frühneuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsentwicklung von den Denk- und Vorstellungsweisen her zu durchdringen und umgekehrt die jeweils führenden Staats- und Gesellschaftstheorien in ihrer aktuell-politischen und sozialen Bezogenheit herauszuarbeiten. In die Beobachtung der aus diesem wechselseitigen Prozeß resultierenden Veränderungen mündeten letztlich all seine Forschungen. Dabei sah er Staats- und Gesellschaftsentwicklung parallel zueinander verlaufen, die eine mit der anderen verbunden. Die Strukturveränderungen beider Bereiche im Zuge der sich entfaltenden Neuzeit faßte er unter dem fundamentalen Vorgang der Sozialdi:sziplinierung zusammen. Sozialdisziplinierung wollte er nicht nur als politische Disziplinierung, als Prozeß des politisch-staatlichen Geschehens verstanden wissen, sondern auch als gesellschaftlich-anthropologisches Phänomen, als Veränderung des Menschen in seiner Leistung, seiner Haltung und seiner Bewußtseinsstruktur. Diesen Wandel der Wertordnungen und Willensbildungen im gesamtsozialen Bereich sah er als Voraussetzung für die industrielle ebenso wie für die demokratische Entwicklung der frühen Neuzeit an. Ihm schien es geradezu symptomatisch, daß die Überwindung der Trägheit (inertia), die Erziehung zum Fleiß (industria) auch dem Namen nach ein neues Zeitalter heraufführen sollte: das IndustrieZeitalter. Es handelt sich um einen sehr komplexen Vorgang, der nach Oestreichs Meinung nicht auf eine Formel gebracht werden sollte oder kann: einerseits "um die Disziplinierung aller Schichten der Gesellschaft für die '" Soweit im Folgenden die Auffassungen und Zitate Gerhard Oestreichs nicht durch Anmerkungen belegt sind, stützen sie sich auf nachgelassene Texte und Notizen.
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Einleitung
politische Ordnung der korporativ-hierarchischen Ständegesellschaft wie der absolutistisch-hierarchischen Staatsgesellschaft", andererseits "um die Disziplinierung des Einzelnen für die gesellschaftliche Ordnung". Daher sah er in der Sozialdisziplinierung nicht nur eine Lebenseinheit im Absolutismus, sondern - mit Ausgangspunkt in der spätmittelalterlichen Stadt - eine Phase längerfristiger Entwicklung, eine Neuordnung des Zusammenlebens der Menschen im Gegensatz zur feudal-ständischen Gesellschaftsordnung des Mittelalters. Sozialdisziplinierung bedeutete ihm "in der Verbindung von Wertvorstellungen der hierarchischen Ordnung, der autoritären Führung und der disziplinierenden Anstrengung" einen allumfassenden Vorgang, einen höchst realen Grundfaktor der Kulturgeschichte der Menschheit. Dahinter steht keine Theorie eines unbedingt zwangsmäßig Geschehens, denn, wie er betonte, die Wirkung der beharrenden Kräfte dürfe in der Dynamik der Sozialdisziplinierung nicht unterschätzt werden. Trotzdem handle es sich um einen über Jahrhunderte sich erstreckenden Prozeß, der sich oftmals fast mechanistisch vollzogen habe. Während Norbert Elias dem Prozeß der Zivilisation nachging, dem Strukturwandel der oberen Schichten, der höfischen Gesellschaft als Spitze und Vorbild der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne des Verhaltens und zivilisatorischen Benehmens, ging Oestreich dem Prozeß der Regulierung und Disziplinierung möglichst breiter Schichten nach im Sinne der Sozialisation der Gesamtgesellschaft, des Zusammenlebens bei wachsender Bevölkerungs- und Siedlungsdichte (Urbanisation), des zunehmenden Verkehrs, der sich ausbildenden Organisationen und Institutionen in Stadt und Staat, Hof und Militär, Kirche und Schule, Kultur und Bildung, Gewerbe und Handel, Landwirtschaft und sich anbahnender Industrialisierung. Regulierung und Disziplinierung der Tätigkeit des Menschen in all diesen Bereichen bedeutet Strukturwandel größerer Massen der Bevölkerung und ihrer soziopolitischen Organisation. Der Gedankengang taucht ganz allgemein, wenn ich richtig sehe, zum erstenmal 1958/59 im Vortrag "Von der deutschen Libertät zum deutschen Dualismus 1648-1789" auf (gedruckt 1960)\ und zwar im Rahmen des damaligen Generalthemas der Vortragsreihe "Die deutsche Einheit als Problem der europäischen Geschichte" in der begrenzten Form von Disziplinierung und Subordinierung im Dienste der Vereinheitlichungstendenzen, der politischen Einheitsideale der Staatsmänner des absolutistischen Zeitalters2 • Der Begriff "Sozialdisziplinierung" begegnet wohl I Unter dem Titel "Reichsverfassung und europäisches Staatensystem 1648-1789" in: Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 235-252. Für Erstdruckorte vgl. hier und im folgenden die Bibliographie S. 403 ff. des vorliegenden Bandes. 2 a.a.O. S. 236 f.
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zum erstenmal in der Hamburger Antrittsvorlesung von 1962 "Strukturprobleme des europäischen Absolutismus" (gedruckt 196W. Beide Male wird der Disziplinierungsbegriff von Max Webers Rationalisierungsbegriff abgehoben. Zurück geht er auf den erweiterten Disziplinbegriff des Justus Lipsius, der der engen militärischen Disziplin die Ergänzung durch Übung, Ordnung und Selbstzucht gegeben hat (erster Aufsatz hierzu 1953)'. In immer weiterer Beschäftigung dann mit dem PoliceyBegriff der frühen Neuzeit entstanden schließlich die umfangreichen Vorarbeiten zur Frage der Sozialdisziplinierung, die er auf den Gebieten von Policey (= Stadt), Kirchenzucht, Recht, Wirtschaft, Militär, Staat und Gesellschaft sowie der politischen Theorien abzuhandeln gedachte. Ein eigenes Kapitel war den Unterbrechungen der Entwicklung vorbehalten. Die gesellschaftlichen Grundlagen in der frühen Neuzeit standen für Oestreich im Zeichen der Wandlung einer vom Feudalismus geprägten agrarischen Sozialverfassung einzelner isolierter Herrschaftszentren in ständischer Ordnung und Schichtung zu Staaten mit bürokratischen Institutionen, die auf zentraler Ebene zunehmend gestrafft, auf lokaler Ebene weiterhin gelockert erscheinen. Hinter den Institutionen die gesellschaftlichen Kräfte, die geistigen und wirtschaftlichen Antriebe intensiv sichtbar zu machen, sah er als Aufgabe der modernen Verfassungsgeschichte an. Denn die großen Wandlungen der frühen Neuzeit in Staat, Kirche, Wirtschaft, Heerwesen, in Wissenschaft und Kultur bestimmten auch die Verfassungsentwicklung. Die Entpartikularisierung verstreuter Machtzentren durch die Machtmonopolisierung, die Säkularisierung durch Enttheologisierung des soziokulturellen Lebens und durch die politische Entmachtung der Kirche, die Urbanisierung der agrarbedingten Wirtschaftsrnächte durch das Bürgertum waren für ihn drei solcher Beispiele. Die Entwicklung des "Landes" zum "Staat" vollzog sich vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in einem "gestreckten Prozeß" - ein Ausdruck, den er von anderen Vorgängen langsamer Entwicklung übernommen hatte. Standen sich im Anfang Landschaft als Vertretung des Landes und Landesherr als Inhaber der Herrschaft gegenüber, so erweiterte sich der Begriff des Landes zum Staat durch die realgeschichtliche Entwicklung des fürstlichen Zentralbeamtenturns zur umfassenden Staatsbürokratie, durch den Aufbau einer monarchischen Armee als Staatsinstrument. Die Verwissenschaftlichung des Regierens wie überhaupt vieler Tätigkeiten des Menschen, die zunächst den bürgerlichen Elementen zugute kam, trat hinzu. Damit kam auch die Politisierung der Gesellschaft in Gang. Der Begriff des Politischen dringt seit der zweiten Hälfte 3 a.a.O. S.179-197, speziell S. 187-196. , "Der römische Stoizismus und die oranische Heeresreform", a.a.O. S. 11-34.
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des 17. Jahrhunderts in der Gesellschaftslehre wie in der literarischen Kultur weiter vor. Das zeigt sich in der alten Gesellschaft der drei Stände ebenso wie in der neuen Gesellschaft des frühmodernen Staates, in seiner Bürokratie und seinem Offizierkorps. Die ausgedehnte internationale Erforschung der Ständischen Verfassung in Europa zeigt den Weg des frühmodernen Staates vom ständischen Staat zum monarchischen Staat als eine der wesentlichen Tendenzen der frühen Neuzeit. Nicht das Problem des Absoluten, wie es seit der liberalen Geschichtsschreibung mit ihrer Wortbildung "Absolutismus" in den Mittelpunkt gerückt wurde, charakterisiert die frühneuzeitliche Entwicklung, sondern das mit der Ausbildung der Monarchie und ihrer Herrschaftsinstrumente verbundene Streben nach innerer (und äußerer) Souveränität. Dies darf und kann nach Oestreichs Meinung nicht mit Absolutismus und einem vermeintlich unumschränkten Kampf gegen alle ständischen Bindungen und weiterexistierenden ständischen Korporationen und Rechte gleichgesetzt werden. Neben dem Fürstenstaat lebte der Ständestaat weiter. Beide zusammen bilden das, was wir im heutigen Wortsinn "Staat" nennen, wobei der Fürstenstaat zunächst nicht umfassend und überwölbend zu denken ist. Die immer stärker zunehmenden öffentlichen Aufgaben wurden teils durch den Ständestaat, teils durch den Fürstenstaat erfüllt, keineswegs allein durch die zivile und militärische Amtsträgerschaft des Monarchen. Entsprechend waren die Machtverhältnisse und die Machtbefugnisse gegenüber den einzelnen Schichten der Gesellschaft zwischen den beiden Halbstaaten geteilt. Der ältere Ständestaat ist auch im Zeitalter des Absolutismus auf den unteren Ebenen aktuell und lebendig gewesen. Damit blieb eine Verbindung erhalten zwischen der Epoche von Feudal- und Ständestaat und der modernen konstitutionellen Epoche des Repräsentativstaates parlamentarischer Vertretungskörper. Der Absolutismus wird von hier aus gesehen zu einem Zwischenstadium. Er hat namentlich im kontinentalen Bereich die moderne politische und ökonomische Entwicklung durch administrative Zentralisation und durch den Merkantilismus vorwärtsgetrieben. Es ist die Epoche der Intensivierung und Rationalisierung des staatlichen Betriebes und der damit zugleich eintretenden Stärkung des Staatsverbandes auf dem Kontinent, eine Entwicklung, bei der Oestreich die politisc..'1e oder kirchliche Sozialdisziplinierung als Fundamentalvorgang in Erscheinung treten sieht. Die Sozialdisziplinierung ist eng verbunden mit der Ausgestaltung des frühmodernen Staates und hängt bis zum Liberalismus mit einem weitgehend religiös motivierten Erziehungsprogramm zusammen. Im 15./16. Jahrhundert lautet das erklärte Staatsziel: Sorge für die Religion und die liebe Justiz, Nahrung für jeden, im 16./17. Jahrhundert: Policey und gute Ordnung, im 18., dem Jahrhundert der Aufklärung: Wohlfahrt aller, und im 19. Jahrhundert er-
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folgt schließlich die Trennung vom eudämonistischen Prinzip, die Freisetzung des wirtschaftlichen Bereiches und die Hinwendung zur Sozialpolitik. Der Wandel des Staatszieles bringt auch immer einen Wandel des Inhalts des Erziehungsprogrammes, beide sind auf das engste miteinander verwoben. Von ausschlaggebender Bedeutung war für Oestreich in betontem Bezug auf Otto Hintze auch immer die Lebensform der europäischen Staatengesellschaft, von der England dank seiner Insellage weniger abhängig war als die kontinentalen Staaten, das jedoch seinerseits ein fundamentales Interesse an der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der europäischen Kräfte zeigte. Die englische Inselsituation im europäischen Staatensystem hat die englische Sonderentwicklung im Zwischenstadium des Absolutismus vielfach begünstigt und gesteuert. Der Kontinent befand sich in einem permanenten Spannungsverhältnis auf Grund ständiger Rivalität der Staatsgebilde, in einem unaufhörlichen Wettstreit um erhöhte Machtgeltung. Rivalität und Konkurrenz führten zu gewaltigen Kraftanstrengungen im Innern mit finanziellen Belastungen zugunsten des Militärs als außen- wie innenpolitischen Machtinstruments, zur Anpassung der Struktur der Staatswesen an die inneren und äußeren Bedingungen ihrer politischen Existenz. In diesen inneren Umgestaltungen und äußeren Kämpfen, in denen die Stände sich den neuen Anforderungen zu widersetzen suchten, wurden sie in ihrer Mitsprache zurückgedrängt oder gar beseitigt. Die drei Haupttendenzen: Bürokratie, Militarismus und Merkantilismus, treten überall in Erscheinung, in ständisch organisiert gebliebenen wie in absolutistischen Staaten. Aber die Gewichtsverteilung stellt sich anders dar und ist daher entscheidend. So hat Oestreich immer wieder auch auf die außenpolitische Komponente der Entstehung des modernen intensiven, rationalen Betriebes in Gesetzgebung, Finanzgebarung und allgemeiner Landesverwaltung hingewiesen und den Anteil des Römischen Rechts an der Stärkung des herrschaftlichen, anstaltlichen Faktors im Staats- und Gesellschaftsleben betont. Gerhard Oestreich kam von der Germanistik und der Philosophie her. Für ihn war die Formulierung eines Gedankens oder eines wissenschaftlichen Befundes ein ästhetisch..Jdeskriptives Anliegen: das Bemühen um Vermittlung einer Erscheinung samt ihres Umfeldes mit Hilfe der ganzen Vielfalt an Beschreibungsformen, wie sie die deutsche Sprache bietet. Sein ständiges Feilen an den Formulierungen (das die Manuskripte fast unleserlich machte), kollidierte mit der von ihm je läng.er je mehr eingesehenen Notwendigkeit, die gefundenen Ausdrücke in ein logisches Schema einzuordnen und sie als Begriffe fortan ganz eindeutig zu verwenden ohne Rücksicht auf ihre Wiederholung, auf Klang und Rhythmus der Sprache. Es war nicht nur die Schwierigkeit der historisch sich wan-
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deinden Begriffsinhalte - auch sein Stilgefühl sträubte sich gegen die "Besetzung" vor allem gängiger Wörter, die ja dann als Ausdrucksformen in einem anderen Zusammenhang ausfallen und die Wortwahl verarmen. Was aber, wenn sie sich überhaupt als unersetzlich erweisen? Ein solches Beispiel ist das Wort "Staat",das bei Oestreich genauso schillernd ist, wie es in der frühen Neuzeit vorkommt, und das von ihm im Sinne eines Begriffes nicht eindeutig abgegrenzt verwendet wird. In den seltensten Fällen ist sein "Staat", "staatlich" usw. im heutigen Wortsinn gemeint. .A!uch hier waren seine Forschungen und Überlegungen, die er in der Verfassungsgeschichte in dem Satz zusammenfaßte: "Das Wesen des modernen Staates ist schwer in einer Definition einzufangen"S, noch nicht abgeschlossen. Der Staat war für ihn die "höchste Organisationsform menschlichen Zusammenlebens". Das Problem, sowohl die Kontinuität wie den historischen Wandel dieser Institution über Jahrhunderte zu erfassen und verständlich darzustellen, war ihm ständig bewußt. Um Dauer und Wandel des Begriffsinhaltes zu konkretisieren, bildete oder verwendete er schließlich Zusammensetzungen wie Finanzstaat, Domänenstaat, Steuerstaat usw., während er beim Wort Polizei die Abgrenzung zum heutigen Polizei-Begriff durch die Schreibwei:se "Policey" zu lösen versuchte. Fast die Hälfte der im vorliegenden Band vereinigten Abhandlungen gehört im engeren oder weiteren Sinne zur Historiographie, zur eigenen Standortbestimmung und der seiner Wissenschaft. Oestreichs Begegnung mit dem Werk Otto Hintzes ist von entscheidender Bedeutung für sein theoretisches Wissenschaftsverständnis geworden. Die ihm in Hintzes großen Rezensionsabhandlungen begegnende Diskussion über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, die Konfrontation des idealistischen Erbes mit der materialistischen Geschichtsphilosophie von Marx und Engels, die Neubewertung der Kollektivkräfte und -bewegungen durch die Kulturgeschichte, besonders in Karl Lamprechts Geschichtsschreibung, der Methodenstreit in der deutschen Geschichtswissenschaft, die Fragen von Gesetzen und Regelmäßigkeiten im historischen Ablauf 6 , all das weckte sein Interesse für den Umbruch des Geschichtsverständnisses, der mit dem Aufkommen der Soziologie in sehr vielfältiger Weise in den diversen Fachsparten einsetzte. Damals, um 1900, wurde bereits eine neue Begriffswelt lebhaft erörtert und geprägt, die uns noch heute beschäftigt. Man sprach vom Typus, vom S "Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches" in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Auf!. hrsg. von Herbert Grundmann, Bd. 2, Stuttgart 1970, S. 361 bzw. Bd. 11 der dtv-Taschenbuchausgabe, 3. Auf!. 1980, S. 12. 6 Vg!. seine Einleitung "Otto Hintzes Stellung zu Politikwissenschaft und Soziologie" in: Otto Hintze, Soziologie und Geschichte. Ges. Abhh. zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, 2. Auf!. Göttingen 1964, S.48*. .
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Zustand, von der gesetzmäßigen Entwicklung, von statistischen Methoden, von der Struktur und stellte die damit inaugurierten Inhalte, Begriffe und Methoden der Ereignishistorie und dem idealistisch orientierten Historismus gegenüber. Die damals vom "sozialwissenschaftlichen Flügel der deutschen Historie"7, vornehmlich von Lamprecht und Breysig betriebene Öffnung der Geschichtswissenschaft für die Forschungen der westeuropäischen Soziologie gelang auf der nationalgeschichtlichen Ebene nicht. Otto Hintze versuchte einen Brückenschlag und übernahm das, was er als Historiker anerkennen zu können glaubte. Er brachte die auf Bestimmung typischer Abläufe und Strukturen gerichtete Arbeitsweise der Sozialwissenschaften in die individualisierende Geschichtswissenschaft ein und schuf eine vergleichende Sozial- und Verfassungsgeschichte, die mit einer Typologie verbunden wurde. Typus-Begriffe, für die Hintze von Heinrich Maier den Begriff "anschauliche Abstraktionen" übernommen hatte, definierte Oestreich als "Kondensationen, Verdichtungen der für eine Zeit charakteristischen Erscheinungen, als reale Phänomene". Gegen Ende seines Lebens, nach den Erfahrungen eigener Forschung, Geschichtsschreibung und intensiver Beobachtung der modernen Theorie-Entwicklung der Geschichte schrieb er nieder: "Der Historiker muß angesichts der Vielfalt und Buntheit der Realität, ständig beherrscht durch das Individuelle, in Denken und Darstellung beweglich bleiben. Das Starre einer aufgestellten Regel, der gefundenen Gesetzmäßigkeit, der gezeigten Entwicklungstendenz wird immer wieder aufgehoben, durchbrochen, verändert durch die kleine Wirklichkeit, durch das Detail des geschichtlichen Lebensganges. Es bleibt bei den anschaulichen Abstraktionen, weiter läßt sich die Historie nicht vergewaltigen." Ungeachtet dieser Tendenzen hat er uneingeschränkt bejaht, daß die zu lange geübte Sicht von der zentralen Herrschaftssphäre aus zurückgetreten ist zugunsten des Interesses an den unteren Ebenen des Staatsund Gesellschaftslebens. Er sah auch dies als einen Umbruch an, den er in Forschung und Lehre mitvollzogen hat, ohne allerdings auf den Staat als Begriff und als politische Organisationsform verzichten zu wollen. Denn das Entstehen des Staates war ihm das gesellschaftspolitische Ereignis seit der frühesten Neuzeit. Im Kontext damit beschäftigte ihn die Geschichte der Menschenrechte fast 30 Jahre lang in immer neuen Ansätzen. Das ständige Ausgreifen des Staatlichen bestimmt die moderne Welt noch immer. Diese spezifische Form der organisatorischen Verfaßtheit der Gesellschaft ist aus einer der vielen möglichen zu der einen zwingenden Herrschaftsform geworden. 7 "Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland", in: HZ 208,1969, S. 363, jetzt hier unten S. 77.
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Da Oestreich immer bemüht war, das Ganze des historischen Prozesses zu um greifen, die unendliche Fülle bewegten Lebens miteinzufangen und möglichst weit über die Landesgrenzen zu blicken, war ihm die ausschließliche Beschäftigung mit der Sozialgeschichte - im propagierten Gegensatz zur politischen Geschichte - nur die Verlagerung des Übergewichts von einem Gebiet auf das andere und schien ihm der Gefahr ausgesetzt, zur Theorie der geschlossenen Gesellschaft zu werden. Erst die Synthese aller historischen Erscheinungen, die Berücksichtigung einer möglichst umfassenden Zahl von Gesichtspunkten führt an die Lösung der Frage heran, wie das Gegenwärtige geworden und worin es verankert ist. Als Beispiele seiner eigenen erzählenden Geschichtsschreibung liegen die beiden kleinen preußischen Biographien über den Kurfürsten Friedrich Wilhelm und König Friedrich Wilhelm 1. vor, die die biographische Betrachtung mit der strukturgeschichtlichen Erörterung zu verbinden suchen. Ein weiteres Beispiel, "Lohensteins Zeit und Umwelt", ist in diesen Band aufgenommen. Oestreich war sich darüber im klaren, daß sich die Haltung des Geschichtschreibers zur eigenen Gegenwart bei aller Bemühung um historische Objektivität in Fragestellung und Behandlung seines Gegenstandes niederschlägt, daß eine jede Generation dabei auch der Gefahr der Vereinseitigung immer erneut ausgesetzt ist8 • So zeige sich, wissenssoziologisch und ideologiekritisch gesehen, die moderne, betont linksintellektuelle Geschichtsschreibung und -forschung mit einem mehr oder weniger stark ausgeprägten antibürgerlichen Affekt, so wie sich einst die liberale von einer ausgesprochen antiabsolutistischen oder antistaatlichen und - weniger betont - die bürgerliche von einer antisozialistischen Tendenz habe leiten lassen. Dabei sah er die Geschichte der Geschichtsschreibung immer in Verbindung mit der realen politischen und kulturellen Entwicklung und damit dem gesamthistorischen Prozeß in Unterbrechungen, Umbrüchen, Umwegen und Wiederanknüpfungen unterworfen. Die hier vereinigten Aufsätze folgen dem Endmanuskript bzw. den letzten Druckfassungen. Wo nötig, ist in einer Fußnote zur Entstehung kurz etwas gesagt. Zum Nachweis der Druckorte wird auf die dem Band beigegebene Bibliographie verwiesen. Die Text- und Literaturergänzungen, die für die einzelnen Abhandlungen in Handschrift vorgefunden wurden, sind eingearbeitet. Hinzufügungen der Herausgeberin sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Das Register enthält außer den im Text vorkommenden Personennamen sämtliche im Anmerkungsapparat erwähnten Namen und Autoren, da mir von hier aus eine Erschließung 8 Vgl. seine Einleitung zu: Friedrich Wilhelm 1. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus, Göttingen 1977, S. 7.
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besonders des historiographischen Teils sinnvoller erschien als über ein Sachregister. Für das Mitlesen -der Korrekturen danke ich Herrn Robert Jütte. Dieser Band sei den Mitarbeitern und Seminarteilnehmern der Freien Universität Berlin, der Universitäten Hamburg und Marburg gewidmet, denn Wissenschaft ist für den Hochschullehrer ein ständiges Geben und Nehmen. Kochel am See, 2. Mai 1979
B.De.
Zur Historiographie
Dreißig Jahre Historiker* Es scheint mir stets eine eigenartige Situation zu sein, wenn der Historiker sich historisch darstellen soll, wenn seine wissenschaftliche Methode sozusagen auf ihn selbst angewendet wird. Aber der Gegenstand dieses Vortrages ist nicht die Person, sondern die Sache, nämlich der Wandel der Geschichte als Wissenschaft in den letzten 30 Jahren. Meine Generation, Jahrgang 1910, hatte im wesentlichen ihre akademischen Studien abgeschlossen, noch bevor die Auswirkungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik die Universitäten erfaßten. Im Vordergrund des Interesses stand damals nicht zuletzt die politische Geschichtsschreibung. ahne Zweifel hatte die alle Gemüter bewegende Frage der Kriegsschuld die nationale Geschichtswissenschaft nach 1919 in diese Richtung gewiesen, und die umfangreichen Quellenwerke der diplomatischen Aktenpublikationen Deutschlands, Frankreichs, Englands, Rußlands oder Österreichs boten auch dem jungen Forscher die einmalige Möglichkeit zum intensiven Studium der jüngsten Geschichte. Meine Dissertation war allerdings wesentlich trockeneren Fragen gewidmet. Ich habe längere Zeit im Preußischen Geheimen Staatsarchiv gesessen, um ein verfassungsgeschichtliches Thema der frühen Neuzeit zu bearbeiten, mit dem ich 1935 bei Fritz Hartung in Berlin promoviert wurde1 • Die ältere Generation meiner Lehrer stand fest in einem Traditionszusammenhang, der geprägt war durch die Auffassungen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Das vorherrschende Geschichtsbild war nationalstaatlich und europazentrisch bestimmt - aber nicht nur im deutschen Denken. Friedrich Meinecke, damals einer der führenden Berliner Historiker, ließ gerade 1936 sein großes Werk "Die Entstehung des Historismus" erscheinen, ein Höhepunkt der von ihm betriebenen und geförderten Ideengeschichte. Der Historismus als geistespolitische Bewegung hatte [* Im Winter 1965/66 fand eine Sendereihe im 2. Programm von Radio Bremen statt unter dem Titel "Wandel der Wissenschaft aus der Sicht einer Generation. Erinnerungen und Berichte". Der in dieser Reihe am 22. Februar 1966 gehaltene Vortrag ist, obwohl nicht für den Druck vorgesehen und dafür nicht überarbeitet, wegen seiner person- und zeitgebundenen Gedankengänge und Äußerungen hier aufgenommen worden.] P Der brandenburg-preußische Geheime Rat vom Regierungsantritt des Großen Kurfürsten bis zu der Neuordnung im Jahre 1651. Eine behördengeschichtliche Studie, Würzburg 1937. Der Anhang "Biographien der Räte oder Nachweis vorhandener" ist aus finanziellen Gründen ungedruckt geblieben.]
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Zur Historiographie
im 19. Jahrhundert der Geschichte einen Platz an der Spitze der Wissenschaften gesichert und zur historischen Rechtsschule, zur historischen Staatslehre, zur historischen Nationalökonomie geführt. Meinecke sah in ihm "die Anwendung der in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben"2. Die praktisch-methodische Leistung des Historismus bestand für den Geschichtsschreiber Meinecke in der Ersetzung einer älteren generalisierenden Betrachtung geschichtlichmenschlicher Kräfte durch die neue individualisierende Betrachtung. Als historisierende Weltanschauung und als philosophische Grundlage der Geschichtsschreibung jedoch war der Historismus nach dem 1. Weltkrieg überwunden und bestimmte die geistige Situation des Historikers nicht mehr. Die große Auseinandersetzung zwischen der vornehmlich individualisierenden Betrachtung und der die sozialen und ökonomischen Massenkräfte voll berücksichtigenden, eher typisierenden und generalisierenden Forschung war schon im Gange, allerdings mehr im Ausland als in Deutschland, wo die sublime Ideengeschichte im Sinne Meineckes vorherrschte. Da brachte der Nationalsozialismus eine mehr oder weniger sofort erkennbare Verengung der ForschungsfeJider in zwei Richtungen: Die offizielle Förderung wandte sich besonders der Vorgeschichte, der Volksund Rassengeschichte und ihren Fragestellungen zu. Gewiß konnte die Forschung auch auf den früheren Arbeitsgebieten weitergeführt werden, aber der offene Kampf gegen jede Form des Marxismus ließ alle bisher soziologisch oder ökonomisch ausgerichteten Arbeiten der Historiker verdächtig erscheinen und verdrängte sie schließlich zugunsten der Helden-, Staats- und Kriegsgeschichte, wie ein berühmter Historiker damals spöttisch bemerkte3 • Zu diesem Verlust an Breite auf den in Deutschland schon weniger gepflegten Forschungsfeldern trat der Verlust an persönlichen Beziehungen zu ausländischen Kollegen oder das Ausbleiben neuer Anknüpfungen für die junge Generation. Denn für Forschungen im Ausland und Besuche der dortigen Kollegen standen keine Devisen zur Verfügung. Der Krieg unterbrach 1939 den letzten Austausch und Kontakt. So wartete man nach 1945 besonders begierig auf das Bekanntwerden der ausländischen Forschung, auf den Einstrom historischer Literatur und erhoffte Anregungen, die nach der Überwindung der geistigen Absperrung eintreten würden. Aber zunächst einmal schien es ja keine deutsche Geschichte in Zukunft mehr zu geben. Eine Beschäftigung mit ihr im vierzonal geteilten Restgebiet diesseits von Oder und Neiße schien sinnlos zu sein. Und es ergoß [2 Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hrsg. und eingel. von earl Hinrichs (Werke Band IU), München 1959, S.2.] [3 Otto Hintze in einem Brief an Adolf Gasser, 23.2.1939.]
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sich über uns ein Strom von Literatur, der uns lehrte, daß die ganze deutsche Geschichte nur ein Irrweg gewesen sei. Gerade mein Forschungsgebiet, die neuere deutsche Geschichte, lag in dieser Kritik des Auslandes unter einem besonderen Trommelfeuer; Die immer wieder gezogene Linie von Luther über die Preußen Friedric...~ 11. und Bismarck zu Hitler bezeichnete den Weg des deutschen Verderbens, der unmittelbar in die Gaskammern von Auschwitz als zu seinem natürlichen Endpunkt führte. Die gleiche Auffassung wurde in der Tagespublizistik vertreten, ohne daß die auch zu einem Urteil berufene deutsche Historikerschaft damals hätte Stellung nehmen und die Gründe für und wider gerechter hätte abwägen können. Handelte es sich im Anfang allein um