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German Pages 218 [224] Year 1992
B E I H E F T E
ZU
editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER
Band 3
Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission fur die Edition von Texten der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Lothar Mündt, Hans-Gert Roloffund Ulrich Seelbach
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit: Beiträge zur Arbeitstagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit / hrsg. von Lothar Mündt ... Tübingen: Niemeyer, 1992 (Beihefte zu Editio ; Bd. 3) NE: Mündt, Lothar [Hrsg.]; Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit; Editio / Beihefte ISBN 3-484-29503-1
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck, Darmstadt
Inhalt
Vorbemerkung
IX
I. Probleme der Relevanz von Varianten und Lesarten bei der Edition von Texten des 15. -17. Jahrhunderts
Hans-Gert Roloff Zur Relevanz von Varianten und Lesarten
2
Ferdinand van Ingen Die Edition von Jacob Böhmes "Aurora" und die Bedeutung eines Variantenapparats
15
Rolf Tarot Ein Diskussionsbeitrag
26
L
Franz Simmler Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht
36
II. Probleme der Kommentierung
Hcms-Gert Roloff Fragen zur Gestaltung von Kommentaren zu Textausgaben der Frühen Neuzeit
130
Gerhard Speilerberg Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins im Rahmen der "Bibliothek deutschen Klassiker"
140
VI Andräs Vizkelety Zum Kommentar der Ausgabe der Werke von Wolfhart Spangenberg Diskussionsprotokoll {Jörg Jungmayr, Lothar Mündt) Kommentar-Empfehlungen für Editionen von Texten der Frühen Neuzeit
154 159
161
III. Computergestützte Textdatenverarbeitung im Bereich der Literatur der Frühen Neuzeit
Ulrich Seelbach Avancinis "Pietas victrix". Werkstattbericht zur Erstellung einer computerunterstützten Edition
168
Stefan Gippert Frühneuhochdeutsch auf dem PC
178
Diskussionsprotokoll {Walter Delabar, Michael Schulte)
182
IV. Probleme der neulateinischen Edition
Lothar Mündt (in Verbindung mit der Kommission Frühe Neuzeit der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition) Empfehlungen zur Edition neulateinischer Texte Diskussionsprotokoll {Ulrich Seelbach)
186 191
VII V. Berichte über laufende Vorhaben und editorische Desiderata zur Literatur der Frühen Neuzeit
Rolf Tarot Probleme der Erfassung und Edition von Gelegenheitsschriften
194
Marian Szyrocki Werden die Bestände der Universitätsbibliothek Wroclaw gerettet?
198
Annegret Haase Probleme der Textedition von Meisterliedern des 15. - 17. Jahrhunderts
200
Ulrich Seelbach Projektbericht: Johann Fischart. Kritische Gesamtausgabe der Werke
205
Teilnehmer der Tagung
213
Vorbemerkung
Auf ihrer Arbeitstagung im Februar (8. - 11.) 1990 hat die Kommission ßr die Edition von Texten der Frühen Neuzeit der 'Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition' fünf Problembereiche des Editionswesens der Mittleren deutschen Literatur behandelt, und zwar: 1. Probleme der Relevanz von Varianten und Lesarten bei der Edition von Texten des 15. - 17. Jahrhunderts; 2. Probleme der Kommentierung; 3. Computergestützte Textdatenverarbeitung im Bereich der Literatur der Frühen Neuzeit; 4. Probleme der Edition neulateinischer Texte; 5. Berichte über laufende Vorhaben und editorische Desiderata zur Literatur der Frühen Neuzeit. Das Tagungsprogramm umfaßte neben Referaten intensive Arbeitsgespräche zu den Komplexen 'Varianten', 'Kommentierung', 'Textdatenverarbeitung* und 'Edition neulateinischer Texte'. Zum Abdruck kommen hier die Referate in ihren z.T. umfänglichen Ausarbeitungen als Ergebnisse der Tagung und als Beiträge zur laufenden Diskussion über editorische Probleme von Texten der Frühen Neuzeit. Die 'Kommentar-Empfehlungen' für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit hat die Kommission auf ihrer Arbeitssitzung in Basel (März 1990) einstimmig gebilligt. Die Tagung fand an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Germanistik, statt und wurde von der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin finanziell unterstützt. Beiden Institutionen gilt der Dank der Teilnehmer und des Veranstalters der Arbeitstagung für die Förderung. H.-G. R.
I. PROBLEME DER RELEVANZ VON VARIANTEN UND LESARTEN BEI DER EDITION VON TEXTEN DES 15. - 1 7 . JAHRHUNDERTS
2 Hans-Gert Roloff
Zur Relevanz von Varianten und Lesarten
i.
In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten ist die Zahl der Editionen von Texten der Frühen Neuzeit in erfreulichem Maße kontinuierlich angestiegen, so daß es in der Tat seine volle Berechtigung hat, auch den Bereich des Editionswesens der mittleren Periode als ein eigenständiges editionswissenschaftliches Gebiet anzusehen, das sich sowohl von den Editionsverfahren der Mediävistik als auch von denen der neueren Zeit in einer Reihe von spezifischen Eigenheiten unterscheidet. Da der Bedarf der historischen Disziplinen an edierten Texten dieser Periode noch keinesfalls gesättigt ist, liegt es auf der Hand, über Prinzipien und Möglichkeiten der Edition von Texten der Frühen Neuzeit Überlegungen anzustellen und über deren Brauchbarkeit und philologisch-wissenschaftliche Konsequenzen zu diskutieren. Eines der gravierenden Probleme bei der Edition von Texten der Frühen Neuzeit ist das der 'Varianten' bzw. 'Lesarten'. Es handelt sich dabei weniger um die Behandlung der 'Autor-Varianten' bzw. der 'autorisierten Varianten' als um jenen hohen Anfall von 'Überlieferungsvarianten', die von der Textkonstituierung wegführen zu Fragen des Sprachverhaltens in den Medien (Handschrift bzw.Druck) und zu Fragen nach ihrer editorischen Relevanz.1 Überblickt man die anfallenden Varianten im Bereich von Texten der Frühen Neuzeit, so läßt sich rein statistisch feststellen, daß auf etwa fünf Autor-Varianten 1
Im Hinblick auf eine intendierte Vereinheitlichung in der Terminologie, wie sie insbesondere mit Rücksicht auf die internationale Kooperation von Winfried Woesler vorgeschlagen wird, kann man die Bezeichnungen (1) Varianten = Veränderungen gegenüber einer Textfassung durch den Autor selbst oder Änderungen von anderen, mit denen sich der Autor nachweislich identifiziert hat, (2) Lesarten = Änderungen gegenüber einer Textfassung, die nicht vom Autor herrühren und durch Eingriffe von Abschreibern, Korrektoren,Bearbeitern, Setzern usw., also durch die Überlieferung zustandegekommen sind zu einem einheitlichen Begriff Variante mit den qualifizierenden Zusätzen zusammenfassen: 1. Autor-Variante oder autorisierte Variante 2. Überlieferungsvariante
Zur Relevanz von Varianten und Lesarten
3
95 Überlieferungsvarianten kommen. Gewiß gibt es Autoren, etwa Erasmus oder Luther, die ihre Texte immer wieder bearbeitet und verändert haben und somit für mehr oder weniger gewichtige Autor-Varianten gesorgt haben. Bei Luthers 'Neuem Testament' machen z.B. die Varianten ein Viertel des gesamten Textes aus. Würde man die Varianten der Überlieferung des Neuen Testaments allein aus dem 16. Jahrhundert zu registrieren versuchen, so käme man auf ganz andere Zahlen. Die Ursache für diese extrem hohe Anzahl von Überlieferungsvarianten liegt in den Distributionsvorgängen des fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Es handelt sich bei diesen Überlieferungsvarianten um ein MedienProblem und gleichzeitig auch um ein editorisches Wertproblem im Hinblick auf den einzelnen Text. Grundsätzlich sind es drei Verfahrensweisen bei der Distribution von Texten dieser Zeit, die zu dieser gesteigerten Überlieferungsvarianz führen: 1.
Eine Handschrift wird abgeschrieben: das geschieht nie buchstabengetreu, sondern meist unter Veränderung einzelner Laute, Formen und Wörter. Der Befund der Überlieferungsvarianten steigert sich, wenn die Handschrift in einem anderen Mundartgebiet abgeschrieben wird oder wenn sie zu späterer Zeit kopiert wird, abgesehen davon, daß dabei in den Text durch Ergänzungen und Tilgungen eingegriffen werden kann.
2.
Eine Handschrift wird in einen Druck umgesetzt: das zeigt zum Teil tiefgreifende sprachliche wie strukturelle Redaktionsarbeiten, die eine Fülle von Überlieferungsvarianten hervorrufen.
3.
Ein gedruckter Text wird in einem anderen Mundartgebiet und/oder zu späterer Zeit neu gesetzt, ohne daß gravierend in den Text (Wortschatz,Syntax) eingegriffen wird: auch hier ist die Zahl der Abweichungen zwischen Druckvorlage und ausgeführtem Druck sehr hoch.
Für einen großen Teil der Texte der Frühen Neuzeit gilt, daß sie diesen drei schematisierten Überlieferungsvorgängen unterliegen, bzw. sie in sich kombinieren. Versucht man, die Überlieferungsvarianten zu erfassen, kommt man zu enormen Materialhalden. Es sind aber Materialien, die mit dem Autor und der Textgenese nichts mehr zu tun haben. Freilich weiß jeder Editor, daß sich alle diese Überlieferungsvarianten irgendeinem sprachhistorischen Kriterium subsumieren lassen und daß sie deshalb von linguistischem Signalwert sein können. Was anfällt, sind in der Regel vor allem Abweichungen im graphischen, lautlichen, grammatisch-formalen Bereich. Dazu kommen unterschiedliche Behandlungsarten in der Getrennt- bzw. Zusammenschreibung von Composita. Der Variantenbereich von Wortstellung, Syntax und Semantik ist meist nicht so stark ausgeprägt.
4
Hans-Gert Roloff
Fragt man nun nach dem Wert der beiden Varianten-Typen für die Textgeschichte, so ergibt sich, daß die Autor- oder autorisierten Varianten von Interesse und Bedeutung für die Genese bzw. weitere Bearbeitungen des Textes durch den Autor sind. Im Umfang sind sie aber insofern begrenzt, als sie höchstens die Überlieferung zu Lebzeiten des Autors zu berücksichtigen haben und auch in diesem Bereich nur autorisierte Textausgaben. Liegt hingegen keine ausdrücklich nachgewiesene oder begründet erschlossene auktoriale Überarbeitung vor, so müssen alle weiteren sprachlichen Unterschiede der nach der editio princeps folgenden Drucke auf Fremdeinfluß - Redakteur, Drucker, Korrektor, Schreiber zurückgeführt werden. Für die Textkonstituierung sind diese Varianten irrelevant, allenfalls im Ausnahmefall bei verderbter Überlieferung der Erstausgabe können sie als zeitlich dieser nahestehende Emendationsmöglichkeit Verwendung finden. So haben bei nicht auktorial gesicherter Überlieferung die registrierbaren sprachlichen Unterschiede der der editio princeps nachfolgenden Drucke eines Textes nur Aussagekraft für den weiten Raum der Druckersprachen. Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß ein umsichtiger Editor unter dem Gesichtspunkt der Varianz seine Aufmerksamkeit auf alles richten wird, was zur Konstituierung u n d zur Überlieferungsgeschichte des Textes im Hinblick auf mögliche relevante historische Aussagen zum Text wesentlich ist. Dazu rechnen in erster Linie alle Zeugnisse der Überlieferung des Textes, die vom Autor konzipiert, beeinflußt oder unter seiner Aufsicht und mit seinem ausdrücklichen Einverständnis geschrieben bzw. gedruckt wurden. Allerdings zeigt die Erfahrung, daß die Praxis gerade im Bereich der mittleren Periode anders war. Für die meisten Textausgaben dieser Zeit läßt sich eine eindeutige Autorisation nicht feststellen. Editoren begnügen sich mit einer mittelbaren Autorisation, und zwar dergestalt, daß man vom Erstdruck ausgeht und weitere Drucke, die zur Lebenszeit des Autors erschienen sind, als möglicherweise von ihm beeinflußte berücksichtigt. Da nur ein geringer Teil der Autoren dieser Zeit selbst Korrektur der Drucke gelesen hat, entsteht schon hier die Frage, ob der Sprachstand des Erstdrucks überhaupt mit dem der auktorialen Satzvorlage identisch ist oder ob nicht schon hier seitens des Druckers gewisse Usancen, Nachlässigkeiten, Fehler eingedrungen sind. Dies ist eine nicht ungefährliche Grundposition, denn sie öffnet möglichen 'Geschmacksentscheidungen' des Editors Tor und Tür. Andererseits läßt die mögliche Konservierung offensichtlicher Druck- bzw. Textfehler keinen Editor schlafen. Im Hinblick auf die erforderliche Funktionalisierung der Varianten beider Typen ergibt sich ein gewisses editorisches Dilemma. Das ganze Spektrum der Autorvarianten zu berücksichtigen, dürfte selbstverständliche Editorenpflicht sein, denn von diesen Varianten können Signale für die Textgenese bzw. für die weitere Textgeschichte ausgehen, die wiederum für die Textexegese von Gewicht sind. Anders aber verhält es sich mit den nicht autorisierten Schreiber- oder Druckervarianten, deren Funktionalisierung nur einen Sinn ergibt, wenn der Editor
Zur Relevanz von Varianten und Lesarten
5
Service-Dienste für die Sprachwissenschaft leistet. Es scheint, daß unter diesem Gesichtspunkt die differenzierteren philologisch-wissenschaftlichen Auffassungen im Editionswesen und in der Sprachwissenschaft auseinanderdriften und nicht mehr sinnvoll aufeinander zu beziehen sind. Die konkrete Frage geht darauf hinaus, ob der Editor bei Berücksichtigung und Registrierung der breiten Massen der Überlieferungsvarianten einen Beitrag zur Darstellung des Sprachzustandes in frühneuhochdeutscher Zeit leistet, oder ob seine Materialaufhäufungen der Schreiber- oder druckersprachlichen Varianz unfruchtbare Halden sind, deren sich die moderne Sprachwissenschaft gar nicht bedienen kann, da sie nach anderen wissenschaftlich-philologischen Verfahrensweisen die Sprache der Frühen Neuzeit darstellen will. Dies ist eine zentrale Frage, die der Klärung, mindestens der Diskussion bedarf, da die editionstheoretischen Forderungen gerade im Hinblick auf diese Überlieferungsvarianten unterschiedliche Aspekte aufweisen.
II.
Die Editoren von Texten der Frühen Neuzeit haben sich seit der intensivierten Beschäftigung mit der Literatur der mittleren Periode dazu verpflichtet gefühlt, möglichst viele 'Überlieferungsvarianten' über die Apparate der Ausgaben zu transportieren - für wen, fragt sich?! Daß dieser Typ von Varianten in Hinblick ihrer Verwendbarkeit für die Textexegese wenig oder gar nichts erbrachte, war ersichtlich, doch - so eine Editorenmaxime - der Herausgeber dürfe sich "von seiner Verpflichtung zur Dokumentation der Überlieferung " nicht dispensieren.2 Sicherlich kann die genaue Sichtung von sprachlichen Abweichungen zwischen zwei und mehr Überlieferungsträgern wichtige Indizien für eine genaue Bewertung der Überlieferungslage geben, aber zu diesem Zweck brauchte man die Abweichungen nur zu systematisieren und aus dem Befund die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Tarot hat jedoch den Überlieferungsvarianten noch eine weitere philologische Funktion zuerkannt: "Die Varianten - auch der unrechtmäßigen Ausgaben sind aber nicht nur für die Überlieferungsgeschichte von Interesse, sie sind gleichzeitig sprachhistorische Zeugnisse".3 Als sprachhistorische Zeugnisse sind diese Überlieferungsvarianten als gutgemeinte Bausteine für das zu errichtende große System der frühneuhochdeutschen Schreiber- und Druckersprachen gedacht. Die Frage ist, ob dieses Material von der Sprachwissenschaft aufgenommen und
2
3
Rolf Tarot, Die Edition von Texten des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. v. Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 383. Tarot, vgl. Anm. 2, S. 383.
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Hans-Gert Roloff
weiterverarbeitet wird. Die Plädoyers für diese Verfahren, die von Werner Besch und Oskar Reichmann 1976 bzw. 1978 veröffentlicht worden sind, zielen auf eine mehr oder minder starke Berücksichtigung der Überlieferungsvarianten ab. Besch hat in seiner sprachwissenschaftlichen Korrektur der Editionsprinzipien der BucerAusgabe der Hoffnung "auf eine weit höhere Zahl sprachwissenschaftlich auswertbarer Editionen" Ausdruck gegeben.4 Das bezieht sich allerdings auf einen "vorlage-nahen Text", wie er für sprachwissenschaftliche Untersuchungen verschiedener Art erforderlich ist.5 Gegen diese prinzipielle Forderung wird man auch seitens der Literaturwissenschaft keine Einwendungen machen. Sie ist in den letzten Jahrzehnten von den Editoren in den wissenschaftlichen Ausgaben von Texten der mittleren Zeit im großen und ganzen befolgt worden. Besch hat in seiner Korrektur der Variantenbehandlung in der Bucer-Ausgabe für eine stärkere Berücksichtigung der grammatischen und lautlichen Varianten plädiert, um Material für regionale und dialektale Unterschiede herauszubekommen, sich jedoch gegen die Aufnahme graphischer Unterschiede ausgesprochen. Aber er hat nicht das Problem der Überlieferungsvarianten in der Chronologie der Textgeschichte und deren Relevanz für die Sprachwissenschaft diskutiert. Auch er geht in seinem Kriterienkatalog davon aus, daß "posthume Nachdrucke" 'in der Regel' nicht berücksichtigt werden sollten. Das ist insofern überraschend, als er andererseits nicht auf die autorisierten Varianten abgehoben hat, sondern die sprachwissenschaftliche Bedeutung der Abweichungen auf den Lebenszeitraum des Autors bezogen hat. Dagegen läßt sich einwenden, daß die sprachliche Entwicklung im Bereich der Überlieferungsvarianz völlig unabhängig vom Lebensrahmen des Autors ist. Insofern dürften sprachliche Modifikationen in Handschriften und Drucken, die eine Generation nach dem Tode des Autors publiziert worden sind, sehr viel aussagekräftiger für die Veränderungen der sprachlichen Usancen sein, als etwa eine Varianz im Abstand von zwei oder drei Jahren während der Lebenszeit des Autors. Das bisher ungelöste Problem für viele Texte, die eine lange Überlieferungsgeschichte haben, ist, daß die sprachlichen Abweichungen nur den Veränderungsprinzipien der Überlieferungsvarianz entsprechen, also für die Textkonstituierung und für die Textgeschichte kaum eine Bedeutung haben. Wenn der Editor aber von der Sprachwissenschaft in die Rolle des Zulieferers von Schreiber- oder druckersprachlichem Material verwiesen wird, so müßte die Sprachwissenschaft genaue Kriterien angeben, nach denen das Abweichungsmaterial klassifiziert und systematisiert werden sollte. Das ist in dem Ansatz von Besch nicht deutlich herausgekommen. Wenn Besch überdies in der Behandlung der Varianz zu einem Kompromiß aus Rücksicht auf andere Disziplinen geneigt ist
4
5
Werner Besch: Zur Edition von deutschen Texten des 16. Jahrhunderts. In: Alemannisches Jahrbuch 1973/75, S. 411. Besch, vgl. Anm. 4, S. 409.
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Zw Relevanz von Varianten und Lesarten
und keinen Maximalkatalog sprachlicher Detailwiedergabe "fordern möchte", so dürfte die Ausgabe umso weniger zuverlässig für die sprachwissenschaftliche Auswertung werden. Die Editoren dürften jedoch mit Besch insofern d'accord gehen, als die von ihm erhobenen sprachwissenschaftlichen Ansprüche an die Textwiedergabe volle Berücksichtigung finden sollten. Aber das Problem des "außerordentlichen Arbeitsaufwandes"4 liegt gerade in der Zusammenstellung des Materials der Überlieferungsvarianten, für das allem Anschein nach wenig Auswertungschancen seitens der Sprachwissenschaft bestehen, dessen Arbeitsaufwand demnach in keinem Verhältnis zum linguistischen Effekt steht. Zweifellos dürfte bei dem bisherigen Verfahren, Überlieferungsvarianten zu notieren, entscheidend sein, was in den Variantenverzeichnissen nicht berücksichtigt wird. Damit tritt eine vom Editor vorgenommene Selektion ein, die schließlich den sprachhistorischen Benutzer zur Skepsis zwingen dürfte, abgesehen von den unterschiedlichen Kritierien, unter denen das Material präsentiert wird. Beschs 'Reduzierung und Konzentrierung'7 schmälert in gewisser Weise die sprachwissenschaftliche Brauchbarkeit und stellt die weitere Verwendung des Materials wiederum in Frage. Oskar Reichmann hingegen plädiert für ein "philologisch begründetes Auswahlverfahren" der zu berücksichtigenden Varianten.8 Aber auch er gibt keinen Hinweis auf die chronologische Begrenzung der zu berücksichtigenden Überlieferung. Er empfiehlt, "ein System graphematischer Einheiten, das in der Lage ist, die oft als verwirrend empfundene Fülle von Varianten in einen Beschreibungszusammenhang zu bringen", zu entwickeln.9 Aber diese Forderungen an den Editor, eine systematisch geordnete Übersicht über die graphischen Usancen der Handschriften und Drucke zu bieten, zielt auf eine akribische dokumentarische Beschreibung des schriftsprachlichen Zustande des einzelnen Überlieferungsträgers vor oder nach dem edierten Grundtext und auf eine systematische komparatistische Darstellung der schriftsprachlichen Verhaltensweisen im Rahmen der Überlieferungsgeschichte des einzelnen Textes ab. Der Aufwand an Arbeitszeit hierfür dürfte in allen Fällen enorm sein, denn die Usancen der Schreiber- und druckersprachlichen Verfahrensweisen differieren auf der graphischen und morphologischen Ebene, im Bereich der Dubletten und der Kompositaschreibung vom 15. bis 17. Jahrhundert in sehr starkem Maße, abgesehen davon, daß kaum ein Text ein konsequentes Schreibsystem aufweist, was die systematische Dokumentation wiederum partiell aufsplittet. Leider hat auch Reichmann keine Vorschläge für die zeitliche Begrenzung der Auswertung gemacht. So wünschenswert es wäre, bis zum Zeitpunkt um 1700
6 7 8
9
Besch, vgl. Anm. 4, S. 394. Besch, vgl. Anm. 4, S. 402. Oskar Reichmann: Zur Edition frühneuhochdeutscher Perspektiven. In: ZfdPh 97 (1978), S. 354. Reichmann, vgl. Anm. 8, S. 354.
Texte.
Sprachgeschichtliche
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Hans-Gert Rolaff
voranzuschreiten, so sind diesem Ziel von der Arbeitskapazität und vom Nutzen her Grenzen gezogen. Zweifellos ist Reichmanns System einleuchtend, aber in vollem Umfang sind seine Forderungen nur im Ausnahmefall praktizierbar. Es ist allerdings denkbar, daß ein EDV-orientiertes Editionsverfahren diese Fragen programmieren kann und entsprechend die Belege auswirft. Niemand dürfte die Wichtigkeit der Fragestellung Reichmanns für die allmähliche materiale Erarbeitung des Frühneuhochdeutschen verkennen, aber sind diese Forderungen allein von den Editoren noch zu leisten? Bietet sich hier nicht die bessere Möglichkeit an, derartige Probleme gesondert in systematischer und zweckorientierter sprachhistorischer Verahrensweise zu behandeln - auf der Basis der von den Editoren eruierten Textgeschichte? Gegenüber den linguistischen Maximalforderungen von Oskar Reichmann zeichnen sich die von Gerhard Müller veröffentlichten "Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte" (1981)10 durch nüchterne editorische Pragmatik aus. Die Empfehlungen haben sich, obwohl Germanisten an der Diskussion um die Kriterien teilnahmen, nur kurz zum Problem der Variantenberücksichtigung geäußert, und zwar allgemein dahingehend, daß Varianten "nur festgehalten werden, wenn es sich dabei um sachlich oder sprachlich bedeutsame Abweichungen handelt".11 Liegen "Entstehungsvarianten" vor, so sollen sie, "sofern sie inhaltlich relevant sind", "in den textkritischen Apparat aufgenommen" werden.12 "Überlieferungsgeschichtliche Varianten sollen [...] nur dann aufgenommen werden, wenn dadurch Veränderungen des Sinnes dokumentiert werden", worunter hier "lexikalische oder syntaktische Varianten" verstanden werden und zu deren Spezifizierung angegeben wird: "Wortwahl, Wortbildung, Wortfolge, Casus, Numerus, Tempus".13 Was aber, wenn es heißt "orthographische und sprachliche Varianten werden in der Regel nicht einzeln verzeichnet", mit diesen sprachlichen Varianten gemeint ist, bleibt unklar. Nicht bedacht worden ist auch hier, bis zu welcher zeitlichen Grenze Überlieferungsvarianten zu berücksichtigen wären. Im ganzen sind diese Empfehlungen recht vage und verraten den interdisziplinären Kompromißcharakter. Immerhin ist festzuhalten, daß diese gezielte Selektion von Varianten, die "Veränderungen des Sinnes dokumentieren", für sprachwissenschaftliche Erhebungen nicht mehr als exemplarisch-zufällige Relevanz bietet und eigentlich nur auf die Bedürfnisse der Textexegese Rücksicht nimmt. Setzen wir den theoretischen Hinweisen zur Orientierung noch ein Verfahren der Praxis gegenüber: die 'Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. 10
11 u 13
Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte der 'Arbeitsgemeinschaft auBeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen'. In: Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 299 - 315. Empfehlungen 1981, vgl. Anm. 10, S. 301 f. Empfehlungen 1981, vgl. Anm. 10, S. 303. Empfehlungen 1981, vgl. Anm. 10, S. 303 f.
Zur Relevanz von Varianten und Lesarten
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Jahrhunderts', die nunmehr in 140 Bänden vorliegen. Im Rahmen dieser Edition waren fast alle Herausgeber mit dem Problem der Variantenbewältigung konfrontiert; dabei handelte es sich vornehmlich um Überlieferungsvarianten, da nur im Ausnahmefall ein Nachweis der Autorisierung zu erbringen ist. Die in den 60er Jahren angesetzten Editionsprinzipien der ADL tendierten wie die späteren theoretischen Ansätze auf die Berücksichtigung von semantischen, syntaktischen, grammatisch-formalen und lautlichen Abweichungen der für die Textgeschichte wichtigen Überlieferungsträger. Eine pragmatisch orientierte Grenze wurde mit dem Todesjahr des Autors gezogen. Diejenigen Überlieferungsträger, die nach diesem Zeitpunkt erschienen, werden im Rahmen der Überlieferungsgeschichte als Zeugen der Sprach-und Geschmacksgeschichte einer allgemeinen Beschreibung und Würdigung unterzogen. Trotz dieser Beschränkung haben sich bei einzelnen Editionen Variantenhalden ergeben, die bei den Herausgebern und bei der Kritik auf Bedenken im Hinblick auf ihre Nützlichkeit und Sinnfälligkeit gestoßen sind.14 Wenn, um nur bei einem statistischen Beispiel zu bleiben, auf 317 Seiten edierten Textes (Oktav) 150 Seiten Varianten kommen, erhebt sich in der Tat die Zentralfrage nach der linguistischen Auswertung dieses Materials. Kann der Sprachwissenschaftler dieses Material in jedem Zustand verwerten, oder muß er ein spezifisches System der Angaben vorfinden - und wenn ja, welches? -, um das Material überhaupt übernehmen zu können? Derartige Bedenken tauchen in letzter Zeit bei Editoren und bei Editionskritikern immer häufiger auf und bedürfen der Diskussion., Das Meinungsbild in dieser Frage ist bisher in theoretischer wie praktischer Hinsicht noch völlig unentschieden. Eine sinnvolle Abklärung der Probleme ist aber an der Zeit, da sich in den letzten Jahren innerhalb des Editionswesens die Akzente von der Variantenaufbereitung sehr stark zur Texterschließung, d. h. zur Kommentierung, verlagert haben. Beide Verfahren erfordern einen erheblichen Einsatz an Arbeitskraft und ökonomischen Investitionen, so daß der Idealfall einer totalen Edition, die beide Gesichtspunkte in extenso berücksichtigt, nur in ganz seltenen und lohnenden Ausnahmefällen realisierbar ist.
III.
Aus dieser Situation heraus lassen sich für die Variantenapparate von Editionen der Frühen Neuzeit eine Reihe von Fragen formulieren, deren Beantwortung nicht
14
Hans-Gert Roloff: Zu den Editionsvorhaben der Forschungsstelle für Mittlere Deutsche Literatur. In: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Band 4: Neue Technologien und Medien in Germanistik und Deutschunterricht. Tübingen 1988, S. 123 131.
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Hans-Gert Roloff
unwesentlich für die künftige Gestaltung von wissenschaftlichen Ausgaben dieser Periode sein dürfte. Die Grundfrage, was an Veränderungen, die sich zwischen zwei oder mehr Überlieferungsträgern desselben Textes feststellen lassen, aufzunehmen ist, involviert die Frage nach der Herkunft und dem Verursacherprinzip dieser Abweichungen oder Veränderungen. Je nachdem, wer in dieser Zeit an den Veränderungen beteiligt ist, ergibt sich für die Abweichungen ein besonderer Wert. Gehen die Veränderungen nachweislich auf den Autor zurück, so haben sie großes Gewicht; gehen sie auf einen Abschreiber, Redakteur oder den Setzer bzw. Drucker zurück, so können sie das Interesse der Historiker u.U. im Hinblick auf Rezeptionsmodalitäten des eigentlichen Textes ansprechen oder auch, was am häufigsten der Fall sein dürfte, als Ausdruck eines anders oder mindestens modifiziert strukturierten Sprachbewußtseins bzw. Sprachverhaltens der Textdistributoren angesehen werden. Die Auflistung dieser Überlieferungsvarianten ist das eigentliche Problem der Variantenverzeichnisse bei Texten der Frühen Neuzeit, denn mit ihrer vollständigen oder selektiven Auswahl ist zwar auf meist mikroskopartige Weise der Veränderungsvorgang dokumentiert, aber welche Aussagen lassen sich dadurch für den Text als solchen machen? Mit anderen Worten: wer zieht einen Nutzen aus diesen Veränderungen? Für die Exegese des Textes kommt erfahrungsgemäß bestenfalls nur über den Seitenaspekt rezeptionsgeschichtlicher Art etwas heraus, aber dafür ist der ganze Aufwand nicht nötig. Der Literarhistoriker, der die Überlieferungsgeschichte eines Textes erfassen will, bedarf zwar der dokumentarischen Information über die Überlieferungsgeschichte des einzelnen Denkmals und dessen mögliche markrostrukturelle Veränderungen, sofern sie vorliegen. Für den Sprachhistoriker hingegen können auch die kleinsten Elementarteilchen eines sprachlichen Modifizierungsvorganges, der sich unter den Händen verschiedener Textdistributoren vollzieht, sprachgeschichtliche Signale sein, die er zu systematisieren weiß und in größere Zusammenhänge einordnen kann. Für ihn ist bei der Dokumentation der Überlieferungsvarianten entscheidend, daß er das Material vollständig vorgelegt bekommt, daß die Aufnahmen sich nicht nur auf semantische, grammatisch-formale, lautliche Abweichungen beschränken, sondern daß er auch die Mikrostrukturen der Gedankenführung, die sich möglicherweise sogar in der Varianz der Interpunktion kundtun, rekonstruieren kann und daß er auch im Hinblick auf bestimmte Rezeptionseigentümlichkeiten die Unterscheidungen in der Graphie der verschiedenen Distributoren zur Hand hat. Das kann aber eine Edition heute aus Gründen des Umfangs, des Arbeitsaufwandes und der Kosten für die Drucklegung derartigen Materials nicht mehr leisten, abgesehen von den spezifischen Kriterien, die die moderne Linguistik für die Erfassung detaillierter Sprachstrukturen entwickelt hat und die nicht unbedingt jedem Editor, wenn er nicht ausgesprochener Linguist ist, in den Details vertraut sind. Die früher kultivierte Haldenbildung dieses Materials mit der utopischen Hoffnung, daß die Sprachhistorie aus diesem Material denn doch noch
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das Gesamtsystem des Frühneuhochdeutschen schaffen könnte, hat bisher keinen Erfolg gezeitigt, der diesen Arbeitsaufwand rechtfertigte. Hinzu kommt noch ein besonderer Erschweraisgrad für die Edition von Texten dieser Frühen Neuzeit insofern, als nur im Ausnahmefall Autographen, autorisierte Apographen oder autorisierte Drucke vorliegen. In fast allen Fällen stehen wir beim einzelnen Text vor einem Sprachzustand, der nur m ö g l i c h e r w e i s e eine Identität zwischen Autor und Drucker besitzt, aber ebenso auch differieren kann. Hinter diese Grenze läßt sich rebus sie stantibus nicht zurückgehen. Auch bei der Editio prineeps haben wir es im Grunde genommen konkret mit dem Sprachzustand zu tun, den der Drucker bzw. die Druckergesellen und ggfs. der Korrektor der Druckerei dem Text aufgeprägt haben. Wird dieser Text zur Satzvorlage weiterer Ausgaben in seiner Zeit, so erfährt der ursprüngliche Sprachzustand abermals Veränderungen durch die Distributoren und wird im Hinblick auf die Vorlage und andere weitere Drucke mehr oder weniger variant. Das ist ein allgemeines Phänomen der Zeit, das insbesondere bei den deutschsprachigen Texten begegnet; bei lateinischen Texten dagegen läßt sich eine sehr starke Vorlagentreue konstatieren, die nur gelegentlich durch die üblichen Druckfehler gestört wird. Vom Problemfeld dieser Überlieferungsvarianten aus könnte man zu der Entscheidung kommen, daß der philologisch-wissenschaftliche Wert einer Edition frühneuhochdeutscher Texte in der Konstitution des abgedruckten Textes besteht, nicht aber in der Fleißarbeit, sämtliche Überlieferungsvarianten zu registrieren. Daß diese Textkonstitution so beschaffen sein muß, daß sie allen an diesem Text interessierten Historikern gerecht werden muß, liegt auf der Hand. Auch der Sprachhistoriker muß im wissenschaftlich edierten Text eine zuverlässige Grundlage für seine weiteren Arbeitsschritte haben. Doch sind das im Detail gesehen wiederum sehr komplizierte Probleme, die in anderem Zusammenhang mit Fragen der Textkonstitution zu diskutieren sind. Die Edition eines Textes der Frühen Neuzeit wird nicht dadurch in ihrer wissenschaftlichen Brauchbarkeit eingeschränkt, daß der Editor die Überlieferungsvarianten, sieht man einmal vom semantischen Bereich ab, in nicht autorisierten Handschriften oder Drucken außer Betracht läßt. Was er stattdessen zu liefern hat, ist eine Charakterisierung der weiteren Überlieferungsträger zum edierten Text, um damit verläßliche Hinweise für die Text- und Rezeptionsgeschichte zu bieten. Gleichwohl wird man die bisher vorgenommenen umfangreichen Kollationen der Überlieferungsvarianten nicht für unnütze Fehlleistungen halten, sondern aus ihnen den Eindruck gewinnen können, wie die Distributoren mit deutschsprachigen Texten in der Frühen Neuzeit umgegangen sind. Aber dieser Eindruck bedarf keinesfalls der immer wieder erneuten Bestätigung und Perpetuierung durch den Editor. Sieht man sich einmal eine Reihe von Überlieferungsvarianten an, wie sie in unseren Ausgaben bisher verzeichnet worden sind, so entsteht sehr rasch der Eindruck, daß im Grunde genommen immer wieder die gleichen sprachlichen Ver-
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änderungsphänomene konstatiert werden. Sie sind ohne Relevanz für den edierten Text - ausgenommen in jenen seltenen Fällen, wo sie für die Emendation verwendet werden könnten. Sie bestätigen vielmehr den vielschichtigen und lebendigen sprachlichen Prozeß und einen mehr oder weniger regionalen, offizinalen oder individuellen Umgang mit dem Sprachgut. Allerdings darf man der Zeit nicht den Vorwurf der Sorglosigkeit machen, dagegen stehen gewisse prinzipielle Veränderungsstrategien bei der Textdistribution. Sie sind in anderen Zusammenhängen höchst interessant, nicht aber in Hinblick auf den zu edierenden Text. Die folgenden, aus Editionen exemplarisch herausgegriffenen Überlieferungsvarianten dürften am besten die mit ihnen verbundene Problematik erkennbar machen:
kum ] kaum fruintlich ] freundlich find ] feindt uff ] auff nit ] nicht im ] ime denn ] dann frumb ] fromb künig ] könig kummen ] kommen wird ] werd pleppert ] plappert Würt ] Wirt erkaufft ] erkauffet
gaht ] geht solle ] solle schmirtßte ] schmertzte purgim ] purgiren bauren ] baurn bechwereten ] beschwerten habest ] habst andern ] anderen gegünt ] gegünnet dennocht ] dennoch warde ] ward abend ] abent eine ] ein erdulden ] erdulten ersten ] erster löschet ] leschet Hertz ] Hertze
under ] unter must ] muste edlen ] edelen vil ] vile solt du ] soltu do ] da czu dem ] czum geleich ] gelich dilgen ] dilchen bevelhe ] bevelch gefirmt ] gefirmbt süsser ] siesser lamp ] lamb wor ] war draus ] daraus Glück ] Glücke
Achtet man überdies auf die Qualität von Apparaten mit Überlieferungsvarianten, so wird die Sache problematisch, wenn Herausgeber offensichtliche Schreib- oder Satzfehler des kollationierten Textes berücksichtigen. Sie haben im Sinne der funktional-gebundenen Varianz keinen Aussagewert, können höchstens bezeugen, daß der Drucker mehr oder weniger sorglos gearbeitet hat. Damit gehören diese Abweichungen in den Bereich der Exemplarbeschreibung der einzelnen Überlieferungsträger. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Inkonsequenz in den sprachlichen Umsetzungsverfahren der Distributoren. Es begegnet sehr häufig, daß einzelne Varianzen nur partiell durchgeführt worden sind. Ein Beispiel dafür: in der Kollation zweier Texte begegnet achtzehnmal die Variante Sunnen] Sonnen, daneben aber stehen sieben Fälle, in denen Sunnen nicht zu Sonnen verändert wurde. Katastrophal ist es auch bei der Verwendung des Wortes dann mit der Veränderung zu denn. Auch diphthongierte und undiphthongierte Schreibungen
Zur Relevanz von Varianten und Lesarten
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wechseln häufig. Dieser Befund spricht gegen eine detaillierte Systematisierung der Varianten, wie sie etwa Oskar Reichmann vom Herausgeber fordert. Mehr als das sattsam bekannte Phänomen des sprachlichen Mischtextes kommt dabei dann doch nicht heraus. Das Mischungsverhältnis sprachgeschichtlich richtig einzuschätzen und in den Gesamtzustand des Frühneuhochdeutschen einzuordnen, ist aber Aufgabe des Sprachhistorikers, nicht des Editors.
IV.
Die hier skizzierten Probleme der Varianten von Texten der Frühen Neuzeit lassen es sinnvoll erscheinen, den editorisch schwer greifbaren Komplex der Überlieferungsvarianten vom Blickpunkt der Überlieferungsgeschichte des Textes her und nicht von dem der sprachwissenschaftlichen Dienstleistung zu konzipieren. Der Herausgeber von Texten der Frühen Neuzeit sollte im Hinblick auf die Überlieferungsvarianz nicht länger Zulieferer von historischem Sprachmaterial für die Linguisten sein, denn der leider geringe sprachhistorische Effekt steht - von Sonderfällen einmal abgesehen - in keinem Verhältnis zu dem damit verbundenen Aufwand. Die ideale Synthese von Literaturwissenschaftler und Sprachwissenschaftler in der Person des Editors ist heute im Zuge der Spezialisierungen und vielschichtigen Problematisierungen auch bei den Betrachtungs- und Verfahrensweisen der philologischen Disziplin nicht mehr möglich - vielleicht war sie es auch nie. Je weiter die Bedeutung der Literatur für die Historie steigt, desto höher sind die Ansprüche an den Editor als Dokumentator und Kommentator, d.h. als jene wissenschaftliche Instanz, die gerade das Material zu ergründen und bereitzustellen hat, das den edierten Text in sein geschichtliches Umfeld integrieren läßt und die Grundlagen für die historische Problematisierung der Texte durch die Literarhistorie bietet. Daß der edierte Text philologisch-wissenschaftlich so konstituiert wird, daß er den Anforderungen sprachgeschichtlicher Forschung entspricht, ist schlicht eine Selbstverständlichkeit für wissenschaftliche Ausgaben. Darüberhinaus beginnt für den Editor aber der Aufgabenbereich, die Überlieferungsgeschichte darzustellen, in deren vielfältigem Spektrum u.a. auch sprachliche Abweichungen und Modifikationen der überlieferten Textzeugen eine systematische oder pauschale Darstellung, nicht aber in Form eines Variantenapparates, finden werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre auch die Forderung, die Überlieferungsgeschichte des Textes mindestens bis an seine erste wissenschaftliche Edition heranzuführen, nicht unbillig, da damit gewisse Phänomene der Rezeptionsgeschichte des Textes zutage gefördert werden könnten. Insofern erübrigte sich auch die notwendig pragmatisch
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Hans-Gert Roloff
orientierte Diskussion, welche Begrenzung für die Fixierung der Überlieferungszeugnisse anzusetzen wäre und wieweit sie philologisch noch angemessen ist. Ein allgemeiner Konsens besteht unter den Editoren, daß Textveränderungen (Konzeption, Bearbeitung, Korrektur), die nachweislich auf den Autor zurückgehen oder von ihm veranlaßt wurden, Vorrang haben und nach textkritischen Kategorien zu berücksichtigen sind. Wieweit dabei Selektionen zutreffend sind oder nicht, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Ist die Textverantwortlichkeit des Autors nicht nachweisbar, bestenfalls nur indirekt erschließbar, sind die Veränderungen als Überlieferungsvarianten zu behandeln und unter rezeptionsgeschichtlichem Aspekt der gesamten Textüberlieferung in die Ausgabe einzubringen. Variantenselektion bei sich ändernder Semantik und systematische Deskription des geschichtlich bedingten Zustandes der überlieferten Textzeugen treten an die Stelle von linguistischen Variantenhalden. Die durch diese Minderung der Uberlieferungsvarianten freigesetzten Kapazitäten des Editors lassen sich sinnvoller für die Erschließung der Texte durch Kommentare einsetzen. Die Wendung in der Editionswissenschaft zum historischen Kommentar verspricht einen höheren Nutzen der Edition für weite interdisziplinäre Benutzerkreise.
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Ferdinand van Ingen
Die Edition von Jacob Böhmes "Aurora" und die Bedeutung eines Variantenapparats
i. Die Morgen-Röte ist das bekannteste Werk Jacob Böhmes. Sie wurde und wird immer wieder gelesen, sie hatte, zum Teil bis heute, eine enorme Ausstrahlung, auch unter denjenigen, die sich nicht zu den "Erweckten" rechnen wollen. Böhmes Ruhm gründet sich in der Hauptsache auf dieses Buch. So ist es erklärlich, daß es immer auf dem Markt blieb, nicht zuletzt in der Form der ersten Gesamtausgabe von 1682 und der auf diese zurückgehenden von 1730, die seit einigen Jahren als photomechanischer Nachdruck vorliegt. Daneben gab es popularisierende, gekürzte Ausgaben, seit kurzem auch eine vollständige, sprachlich modernisierte, die Gerhard Wehr im Rahmen seiner Böhme-Studienausgabe publizierte. Die älteren Gesamtausgaben bringen überhaupt keinen Kommentar; die Edition von Wehr bringt nur gelegentlich ein erklärendes Wort, aber dafür enthält sie eine ausführliche und hilfreiche Einleitung. Allen Ausgaben gemeinsam ist, daß sie grundsätzlich textkritische Probleme mit Stillschweigen übergehen. Eine Ausnahme macht die 1963 erschienene große Ausgabe von Werner Buddecke, in der die Morgen-Röte nach der Handschrift gedruckt wurde. Die Handschrift galt als verschollen, wurde aber in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts von Wilhelm Goeters wieder aufgefunden und gelangte 1953 in den Besitz von Buddecke, der den berühmten Erstling zusammen mit einigen kleineren Handschriften nach dem Urtext veröffentlichte. Buddecke wollte nicht nur die ursprüngliche Fassung konservieren, er wollte vor allem restaurieren, d.h. den Urtext in seiner ursprünglichen Gestalt wiederherstellen. Der nahezu sakrosankte Charakter von Böhmes sorgfältig geschriebenen Worten führte zwangsläufig zu einem negativen Urteil über diejenigen, die nach Böhmes Tod das Werk zum Druck befördert haben:
Die Bearbeiter der drei genannten Editionen [1656, 1682, 1730] sind dem Urtext mit unterschiedlicher Genauigkeit gefolgt; vor allem haben sie Böhmes Sprachform und Schreibweise dem Gebrauch ihrer Zeit entsprechend umgebildet. [...] Nicht gescheut haben sie sich [...], Buchstaben, Silben und Worte zu ergänzen, die Böhme im Arbeitseifer oder durchaus bewußt fortgelassen hat. Es tut seinem Stil schon Abbruch, wenn man dem Präsens der lebendigen Schilderung die Endung des Präteritums anhängt. Eine förmliche Entstellung aber ist es, wenn, was nicht selten geschieht, Buchstaben geändert, nämlich mundartlich bedingte Vokale
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Ferdinand van Ingen in die im Hochdeutschen gebräuchlichen umgewandelt werden (z.B. Velcker in Völcker). [...JLaufend [...] wurden Zeichen [...] ergänzt, geändert oder auch ausradiert.1
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Fragen, die sich aus solchem rückrestaurierenden Verfahren ergeben, zur Diskussion zu stellen. Wohl aber interessiert einen neuen Editor, ob das Urteil über die entstandenen Varianten im Druck von 1656 in allen Fällen gerechtfertigt war. Man mag Eingriffe in den Lautstand bedauern, aber anders verhält es sich mit den geänderten Tempusformen. Buddecke meinte hierin eine philologische Sünde gegen den Stilwillen des Autors zu sehen, - "dem Präsens der lebendigen Schilderung die Endung des Präteritums" anzuhängen, heißt ja, das 'historische Präsens' rückgängig machen. Auch wer von anderen Vorentscheidungen ausgeht als Buddecke, möchte es genauer wissen: geht es ihm doch gerade um die solcherart inkriminierte Druckfassung. Die Böhme-Edition, die im Rahmen der Frühe-Neuzeit-Editionen des Klassiker Verlags erscheinen wird, orientiert sich im Gegensatz zu Buddeckes Ausgabe nicht an der Handschrift.2 Diese war in den vergangenen Jahrhunderten nur ganz Wenigen zugänglich, die Neuedition basiert auf einer Druckfassung aus Böhmes Zeit, und zwar mit der Begründung, daß die schon im 17. Jahrhundert ungewöhnliche Breitenwirkung eben durch eine gedruckte Fassung erreicht wurde. Wenn man sich aus rezeptionshistorischen Überlegungen heraus für eine zeitgenössische Buchausgabe statt der Handschrift als Grundlage einer Edition entscheidet, hat das selbstverständlich Konsequenzen für die Probleme der Textkritik und des textkritischen Kommentars, in der Hauptsache also für die Beurteilung und Wertung der Varianten. Zu weiterer Information über diese Druckfassung ist noch folgendes nachzutragen: Vor der ersten Gesamtausgabe von 1682 erschien die Morgen-Röte in zwei stark voneinander abweichenden Fassungen. Die erste wurde 1634 veröffentlicht. Dieser Editio princeps folgte 1656 eine andere, die sich als verbesserte Ausgabe des Textes, ja als einzige rechtmäßige und auf den Handschriften beruhende Wiedergabe von Böhmes Text versteht. Am Schluß der "Vorrede der Liebhaber" äußert sich der Herausgeber unmißverständlich: "[...] haben wir nicht ruhen kön-
1
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Buddecke im Nachwort zur Aurora-Ausgabe, in: Jacob Böhme, Die Urschriften. 1. Band, Stuttgart 1963, S. 351. Die ideale Möglichkeit einer synoptischen Textwiedergabe unter Einbeziehung der Handschrift konnte leider nicht realisiert werden. Der Verlag sah sich außerstande, dem dahingehenden Wunsch des Herausgebers zu entsprechen. Andererseits ist Buddeckes Ausgabe der Handschrift zuverlässig und in den größeren deutschen wie ausländischen Bibliotheken zugänglich. Die Entscheidung zugunsten einer Druckfassung aus dem 17. Jahrhundert wird also kaum Folgen für den philologisch interessierten Benutzer haben, um so mehr als die handschriftliche Fassung des Böhme-Textes, die als die Urfassung gilt, im textkritischen Kommentar der Neuedition berücksichtigt wird.
Die Edition von Jacob Böhmes "Aurora"
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nen/ es dahin zu bearbeiten, das [...] die seelige MORGEN-RÖTE [...] in öffentlichen druck nach inhalt des Manuscripti (weil die zuvor im druck vorhandene dieser nicht beykommen) gelangete [...]" - Die dritte Einzelausgabe von 1676 ist hier ohne Belang. Die erste Gesamtausgabe greift denn auch nicht auf die Editio princeps, sondern auf die Ausgabe von 1656 zurück, und diese bildet auch die Grundlage der Klassiker-Edition. Damit wird zum erstenmal Böhmes Hauptwerk, in (relativ) zuverlässiger Gestalt, in der Druckfassung des früheren 17. Jahrhunderts zugänglich gemacht. Das hat übrigens für den nicht im Umgang mit älteren (und zudem inhaltlich sehr komplizierten) Texten vertrauten Leser den großen Vorteil, daß er nicht durch Böhmes Schreibeigenheiten irritiert wird, die ihm den Zugang sehr erschweren. Das ist nicht nur eine Frage der Sprachform, sondern vor allen Dingen des Schriftbildes, weil Böhme bei Zusammensetzungen Vorsilbe und Stammwort getrennt zu schreiben pflegt und das Stammwort großschreibt. Die Druckfassung von 1656 verfährt in dieser Hinsicht "leserfreundlich", übrigens ohne dem Urtext in gravierender Weise Gewalt anzutun. Was hat es denn mit Buddeckes Vorwürfen auf sich, die Bearbeiter hätten dem Stilwillen des Autors zuwider gehandelt, indem sie aus einem historischen Präsens ein verflachendes Präteritum machten? Es geht dabei wohlgemerkt nicht um eine durchgehaltene Präsensform, der Autor scheint in einem Satz, der insgesamt Vergangenheitscharakter hat, zwischen Präsens- und Vergangenheitsform hin und her zu springen: also kostete (U kostet) ein böser Quell den andern/ davon ward der gantze corpus also gar grimmig/ dann die hitze war [...]. Weil dann nun [...] vertrocknet war/ so fuhr die bittere qualität/ (welche von [...] entstanden und gebohren ward als sich das Liecht anzündete (U anzinded)/ [...] auf [...] als wolte sie den Leib zerstören/ wütete und tobete (U wittet md Tobed) als die ärgste Gifft. 3
So gibt es ca. über hundert Fälle, die Buddecke im kritischen Apparat auflistet. Schon statistisch gesehen gibt zu denken, daß es sich ausnahmslos um schwache Verben handelt; es findet sich kein einziges Mal eine solche von unberufener Hand vorgenommene Verschiebung ins Präteritum bei einem starken Verb. Es kommt hinzu - wie aus dem Beispiel ersichtlich -, daß Böhme häufig eine Form mit d schreibt ('Tobed" statt "tobet"). Alles zusammen führt mich zu der Hypothese, daß hier mundartliche Eigentümlichkeiten Böhmes vorliegen, und zwar apokopierte Formen beim Verb. Sie kommen auch (aber seltener) im Präsens vor ("leucht" statt "leuchtet"). In den genannten Fällen würde es dann überall um eine Verbform gehen, die nicht als praesens historicum, sondern als dialektales Präteritum aufzufassen ist. Görlitz
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Mit U wird die Urtext-Ausgabe (s. Anm. 1) bezeichnet.
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Ferdinand van Ingen
liegt in einer sprachgeschichtlich interessanten, äußerst "bewegten" Ecke. Im Wortschatz mischt sich Lausitzisches mit schlesischem Wortgut, konsonantisch aber gehört das Gebiet eher unter oberdeutschen Einfluß. Von daher wäre die Apokope nicht ganz unwahrscheinlich. Was andererseits stutzig macht, ist die Präsensform beim Hilfsverb (sollen, wollen), wofür der Druck von 1656 ebenfalls die Präteritalform einsetzt. Dafür ein weiteres Beispiel: Darumb sprach Gott: es rewet mich/ daß ich die menschen gemacht habe und erregte (U erreged) die Natur/ das alles fleisch starb/ waß im trocken lebete (U lebed)/ biß auf die wurtzel und stam/ der blieb stehen: und hat hiemitte den wilden bäum gedftnget und angerichtet/ daß derselbe solte besser früchte tragen. Aber alß derselbe wieder grünete (U gruned) [...]. Als aber Gott sähe/ daß der Mensch also in seiner erkäntnuß erstorben war/ bewegete (U Beweged) er die Natur abermahl/ und zeigete (U zeiged) den Menschen/ wie [...] sie [...] in dem guten leben selten (U sollen)! und ließ feur auß der Natur fallen/ und zündete (U änded) an Sodom [...]. Alß aber der Menschen blindheit überhande nahm/ und sich Gottes geist nicht wolten (U wollen) lehren lassen/ gab er jhnen gesätze [...]/ wie sie sich halten solten (U sollen)/ und bestetigte (U bestetiged) die...
Hier muß natürlich ein Fachmann das entscheidende Wort sprechen. Aber sollte meine Hypothese stimmen, so ist dem Druck von 1656 nur eines anzulasten, nämlich daß die mundartlichen Verbformen verhochdeutscht werden. Das bedeutet keineswegs ein Negieren des Stilwillens und dessen Eigentümlichkeiten. Das ist, wenn man diesen Druck einer Neuedition zugrunde legt, schon von Bedeutung. Denn ein Druck, der wichtige Stilelemente verunstaltet, miißte, auch wenn er im übrigen den Vorzug verdiente, in diesem Punkt schon eingehender kommentiert werden. Wie die Dinge liegen - ich gehe vorderhand von der Richtigkeit meiner Hypothese aus ist am Kommentar der Edition, in dem Buddeckes Urtext-Edition natürlich berücksichtigt wird (außerdem mit Rückgriff auf die in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel befindliche Handschrift) folgendes abzulesen: Im Vergleich zur Edition von 1656 zeigt der Urtext einen Autor, der jenseits von Gut und Böse der Grammatik bei Verben die Form schreibt, die er spricht, so daß im Tempus Unklarheiten auftreten können. Beispiele: döned vnd schallet/ 1656 töhnete und schaltete wittet vnd Tobedf 1656 wütete und tobete anzindet/ 1656 anzündete verachten/ 1656 verachteten dint/ 1656 dienete beweget vnd Riiged/ 1656 bewegete und rügete glaubed/ 1656 glaubete schemed/ 1656 schämete
Ähnlich bei Verben mit Stamm auf -t, auch hier eine Apokope:
Die Edition von Jacob Böhmes "Aurora"
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leucht/ 1656 leuchtet tracht/ 1656 trachtet.
Gleichermaßen unbekümmert wird bei Pluralformen des Substantivs verfahren: freude/ 1656 freuden frucht/ 1656früchte (und umgekehrt) krafft/ 1656 kräffte Bildnis/ 1656 Bildnisse
Daneben stehen dialektale Formen, die Böhme wohl nicht als solche erkannt hat und die im Druck von 1656 ersetzt werden: schmunck für Schmuck, wie schmüncken (schmincken) für schmücken verlasch für verlosch flü für Flöh Rüge und rügen für Ruhe bzw. ruhen eickel für eckel Homut für Hochmuth
Dann darf natürlich "bloe" und "blaue" wie "gele" für "gelbe" nicht vergessen werden. Der vielleicht deutlichste Fall ist die häufig auftretende Form "löbliche", für die der spätere Druck sinngemäß "liebliche" bringt. Zweifellos hat die Druckfassung richtig entschieden. Ein Beispiel möge genügen für alle Fälle, die verglichen wurden. Die Natur habe, so heißt es in der Vorrede, zwei Qualitäten in sich: "eine liebliche/ himlische und heilige/ und eine grimmige/ höllische und durstige". Zur Opposition himmlisch/höllisch hätte lieblich/grimmig einen Sinn, nicht aber - wie im Urtext - löblich/grimmig. Böhme dürfte bei der Niederschrift seiner gesprochenen Sprache so etwas wie 'leblich' gesagt haben, das er dann für die Schrift zu 'löblich' gerundet hat. In anderen Fällen schreibt er eine entrundete oder eine umlautslose Form, die 1656 jeweils verhochdeutscht erscheint: "listert/lustert" für "lüstert", "hellisch" für "höllisch". Ferner herrscht beim Umlaut im Urtext Zweifel. Häufig steht "sänffte" neben "sanffte", "drücket" neben "drucket", "härtigkeit" neben "hartigkeit", wo der Druck 1656 manchmal und nicht konsequent um einen Ausgleich bemüht ist. Noch einmal: solche Eingriffe sind zu bedauern (von heutigem Gesichtspunkt), aber gravierend sind sie kaum. Es geht außerdem um relativ wenige Stellen, die bei der sonstigen Unsicherheit des schreibenden Böhme in Fragen der Orthographie und dergleichen kaum ins Gewicht fallen. Die Edition von 1656 bleibt, aufs ganze gesehen, sehr dicht am Originaltext, während die Gesamtausgabe 1682 sich etwas weiter vorwagt. Hier werden dann alte ei-Lautungen im Partizip modernisiert: 1656 "entscheiden"/ 1682 "entschieden". Auch die Form "streit" (Urtext) wurde erst 1682 durch "stritt" ersetzt. Allerdings war der Druck von 1656 hier schon zögernd vorangegangen: das alte "scheidlich" (U) war schon zu "schiedlich"
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Ferdinand van Ingen
geworden. Die Ausgabe von 1676 arbeitete der Gesamtausgabe vor. Im allgemeinen jedoch entfernt sich die Gesamtausgabe 1682 weiter vom Original. Die alte Form "rechen" wird 1682 durch "rechnen" ersetzt, es werden auch vereinzelt Umlaute eingesetzt. Kurz: es erfolgt eine behutsame Modernisierung. Aus guten Gründen war der frühere Druck konservativer, auch dort, wo eine Korrektur nahegelegen hätte, die 1682 tatsächlich zu Buche schlägt, - aber nicht überall zugunsten des Verständnisses. Dafür nur ein Beispiel, aber ein sprechendes. Sowohl der Urtext wie der Druck von 1656 haben das Wort "uhrplitzlich", 1682 wurde es dann in "urplötzlich" umgeändert. Grimms Wörterbuch informiert darüber, daß die Form "plitzlich" in Anlehnung an "plitz/blitz" in älterer Sprache vorkommt. Böhme dürfte deswegen hier mit Bedacht die i-Form gewählt haben "als ein Liecht in ihm gebohren war im Hertzen/ und seine Quellgeister uhrplitzlich mit dem hohen Liechte inficiret oder umfangen worden [...]" - wenige Zeilen später erscheint der Blitz: "der gewaltige und groß helle plitz/ welcher im süssen wasser in der Hitze war auffgegangen". Aus solchen Überlegungen heraus ist die Entscheidung für die Ausgabe von 1656 gefallen; sie ist, wie ich meine, wohlüberlegt und begründet. Das Variantenverzeichnis dokumentiert die hier in aller Kürze vorgetragenen Abweichungen gegenüber dem Urtext und der ersten Gesamtausgabe, zur Überprüfung und zur Belehrung. Der Variantenapparat dokumentiert also nicht nur, er demonstriert in gleichem Maße.
II. Sind die Ausgaben von 1656 und 1682 textkritisch durchaus von hohem Interesse, so ist dagegen die Editio princeps von 1634 lediglich texthistorisch von Belang. Da es sich um eine Be- und Umarbeitung handelt, namentlich im Sinne einer Kürzung von als überflüssig erscheinenden Textteilen, erwies sich eine lückenlose Verzeichnung der Varianten schlechterdings als unmöglich. Sie wurde nicht versucht, denn sie wäre wenig sinnvoll. Ich begründe das folgendermaßen: Ein Textvergleich der Einzelausgaben aus dem 17. Jahrhundert macht bald deutlich, daß der Herausgeber der Editio princeps den Böhme-Text - stellenweise nicht verstanden und nach eigenem Ermessen abgeändert hat, wobei ihm z.T. sinnwidrige Konjekturen unterlaufen sind; - stilistisch bearbeitet hat. Beide Ursachen bzw. Gründe einer Textänderung sind im Variantenapparat zu berücksichtigen, denn hier liegen nicht Druckervarianten vor, sondern bewußt vorgenommene Eingriffe in den Text. Sie gehören demnach zur Textgeschichte.
Die Edition von Jacob Böhmes "Aurora"
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Versuch einer Typologie der Varianten 1634 1. Kontraktionen zum Zweck der Kürzung Die Editio princeps überspringt häufig größere Passagen, die dem Herausgeber für den Zusammenhang nicht als notwendig erschienen. Beispiele dürften sich erübrigen. Weit zahlreicher sind die Fälle, wo die Editio princeps einige wenige Sätze ausläßt und ohne Überleitung anknüpft. Nicht selten entstehen so Aussagen, die den ursprünglichen Textsinn verdunkeln oder entstellen: Auch so unterscheidet Christus hiemit seinen himmlischen Vater von dem Vater der Natur/ welcher ist die Sternen und elementa, dieselben seind unser Natürlicher Vater [...] von welchem wir unser speis und nahrung nehmen. Er ist [...] darumb unser himlischer Vater/ daß unsere sehle sich stets nach jhm sehnet und jhn begehret/ ja sie dürstet und hungert stets nach Jhm. Den leib hungert und dürstet nach dem Vater der Natur/ welches seind die Sternen und elementa, und derselbe Vater speiset und träncket ihn auch. Die Sehle aber dürstet nach dem himlischen heiligen Vater/ und er speiset und träncket sie auch mit seinem H. Geiste und freuden=quall. Ausgabe 1634: [...] auch so vnterscheidet hiemit Christus seinen Himlischen Vater vom Vatter der Natur/ welcher ist die Stern vnd Elementen [...] von welchen wir vnser Speise vnd Nahrung haben/ dem Leibe dürstet nach dem Vatter der Natur/ der jhn speiset/ vnd trencket jhn auch mit dem H. Geist vnd Frewdenquall.
2. Streichung zur Vermeidung von Redundanz Dazu ist zu sagen, daß in den meisten Fällen die Textänderungen zum Verlust des charakteristischen Stilmittels der Wiederholung einzelner Worte und Begriffe führt. Darin drückt sich auch das Bemühen aus, vermeintlich rein schmückende Wörter zu streichen, wie z.B.: je größer und älter > je älter viel grüne Zweiglein > Zweiglein.
Solches mag als unwichtig anmuten, ist es aber nicht. Denn Böhmes Diktion ist bewußt langsam, behutsam, umsichtig und ums Detail bemüht. Streichung auch vermeintlich unwesentlicher 'Zutaten' bedeutet einen Stilverlust; der Text erhält eine andere Stillage, die ihm nicht gut bekommt: Es zeiget und weiset der geist hell und klaar/ das für erschöpfung der Engel das göttliche Wesen mit seinem auffsteigen und qualificiren sey von ewigkeit gewesen/ und auch in der Schöpfung der Engel sey blieben/ wie es noch auch auf heute ist/ und wird auch in ewigkeit
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Ferdinand van Ingen also bleiben. Der locus oder der orth und räum dieser weit/ sampt dem creatürlichen himmel/ den wir mit unsern äugen sehen/ so wol der locus der orth der Erden und Sternen/ sambt der tieffe ist ein solch forma gewesen/ wie es noch heute [...]
Ausgabe 1634: Das Göttliche wesen ist vor erschaffung der Engel von ewigkeit her gewesen/ vnd wird auch in ewigkeit also bleiben/ wies auff heut ist: Der ort aber vnd räum dieser Welt sampt dem creatürlichen Himmel/ den wir mit äugen sehen/ so wol der locus der Erden vnd Sternen sampt der tieffen ist in solcher form gewesen/ wie auff heut [...]
3. Andere Satzordnung als stilistischer Korrekturversuch Günstiger Leser/ Ich vergleiche die gantze Philosophiam, Astrologiam und Theologiam sampt jhrer Mutter einem köstlichen Baum der in einem schönen Lustgarten wechst. Nun giebt die Erde/ da der Baum inne stehet/ dem Baum immer Safft/ davon der Baum seine lebendige qualität hat: der Baum aber in sich selbst wechst von dem Safft der Erden/ und wird groß/ und breitet sich aus mit seinen ästen. Nun gleich wie die Erde mit ihrer krafft an dem Baum arbeitet/ daß derselbe wachse und zunehme/ also arbeitet der Baum [...] Ausgabe 1634: Ich vergleiche die gantze Philosophiam, Astrologiam vnnd Theologiam, sampt ihrer Mutter einem köstlichen Baum in eim Garten. Nun gibt die Erde/ darin derselbe stehet/ jmmer zu Safft/ davon er seine lebendige qualitet hat/ er aber wächset in sich selber vom Safft der Erden/ wird groß vnd bekompt äste: Gleich wie nun die Erde am Baum arbeitet mit jhrer Krafft/ daß er möge wachsen/ Also arbeitet der Baum [...]
4. Verdeutlichende Zusätze Das ist hier weniger von Interesse.
5. Unbegründete Eingriffe Beispiele erübrigen sich, weil eine gewissenhafte Wiedergabe des Originaltextes offensichtlich nicht angestrebt wurde.
6. Das Ersetzen von typischen 'Fachbegriffen' Böhmes durch andere [...] also auch ist das haupt des Menschen/ wie der himmel. Gleich wie im himmel alle eräffte sänfftig und lieblich/ darzu freudenreich seind und qualificiren/ also seind im häupt oder hirn des Menschen/ alle eräffte sänfftig und freudenreich.
Die Edition von Jacob Böhmes "Aurora"
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Ausgabe 1634: also ist auch das Haupt des Menschen/ in dessen Hirn alle Kräffte sind.
7. Textänderungen aufgrund von mangelndem Verständnis bzw. von Lesefehlern Hier häufen sich die Varianten, die oft der Komik nicht entbehren. Das ist aber auch der einzige heitere Effekt, den die Bearbeitungsweise des Textes durch den ersten Herausgeber beim Leser hervorruft. So zahlreich sind die Fälle, daß man leicht seitenlang Beispiele anführen könnte. Schon eine bescheidene Blütenlese zeigt, wie sorglos und verständnislos mit Böhmes Text verfahren wurde: 1656 trauere haus saame krönet knarrest auffsteige verneinte Thränen=Saamen Zorn = Hauß mit dem Liebe=Geist tantzet Porten der Liebe
1634 trewes hauß Schnee kennet kirrest abe steige vermeynete thewren Samen Zehrenhause mit dem Leibe/ Geist trotzet Porten der Hellen
Die ungemein häufigen Fälle von Kontraktionen stellen zusammen mit den falsch bzw. nicht verstandenen oder verlesenen Wörtern den Hauptbestand der Varianten der Editio princeps. Der Variantenapparat hat das Wichtigste zu dokumentieren, und zwar nicht um eines billigen Lacheffektes willen, sondern aus textgeschichtlich interessierenden Gründen.4 Rezeptionshistorisch ist die Editio princeps - und sind somit deren Varianten von großem Interesse. Zweierlei läßt sich daran ablesen: 1. Der erste Herausgeber zeigt sich mit Böhmes Begriffssprache wenig oder gar nicht vertraut. Zehn Jahre nach Böhmes Tod wurde die Morgen-Röte gedruckt, sie erhielt schon hier den Haupttitel "Aurora". Adriaan van Beyerland kam erst 4
Es ist wohl damit zu rechnen, daß dem Herausgeber/Bearbeiter eine Abschrift von Böhmes Handschrift vorgelegen hat, die ihrerseits eine Fehlerquelle darstellte.
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Ferdinand van Ingen
(frühestens) 1642 in den Besitz der Handschrift, die Heinrich Prunius von dem Dresdener Hausmarschall Georg von Pflug aus Posterstein zum Geschenk empfangen hatte. Was inzwischen mit ihr geschehen war, läßt sich bis heute nicht rekonstruieren. Jedenfalls war der Bearbeiter, dessen verunstaltete Arbeit 1634 an die Öffentlichkeit gelangte, kein in Böhmes Denkwelt Eingeführter. Wir wissen weder, wer er war, noch was ihn bewogen hat. Möglich ist allerdings, daß er - oder seine 'Hintermänner' - sich von dem inzwischen einsetzenden Ruhm des 'Teutonicus Philosophus Jacob Böhme" (so das Titelblatt) einen Bucherfolg, sprich: gutes Geld erhoffte. 2. Der erste Herausgeber hatte ebensowenig einen Blick für die Eigenart von Böhmes sprachlicher Formulierung und Ausdrucksweise. An der Art der vorgenommenen Textkorrekturen läßt sich ablesen, daß er ebenfalls bemüht war, den Kern der Aussage wiederzugeben und ihn von allem Beiwerk freizumachen. Dabei übersah er, daß die Bearbeitung, die auf das Reduzieren von Böhmes vergleichender Bilderwelt ausgerichtet war, die Aussage im Grunde verfälschte, weil sie ihren wesentlichen Inhalt einbüßte: Wan man nun betrachtet die gantze Natur und jhre eygenschafft/ so siehet man den Vater: wan man anschawet den himmel und die Sternen/ so siehet man seine ewige krafft und Weisheit. Also viel Sternen unter dem himmel stehen/ die doch unzehlig und der vernunfft unbegreifflieh/ auch ein theil unsichtlich seind/ also viel und mancherley ist Gottes des Vaters krafft und Weisheit.
Aus diesem charakteristischen Vergleich, der die Eigenschaften Gottes aus den Naturdingen erkennen will, wird nur ein blasser, kurzer Satz: So mancherley Sternen sind/ so mancherley ist Gottes Krafft und Weißheit.
Die Beispiele ließen sich ohne jede Mühe mehren. Aus allem geht hervor, daß die Prägnanz von Böhmes Sprache verlorengegangen ist, jedes 'Glätten' und Polieren macht aus ihr einen zweiten Aufguß von umlaufenden Gedanken und Vorstellungen. Liest man die Textausgaben von 1656 und 1634 nebeneinander, verstärkt sich mit jeder Seite der Eindruck, daß der Bearbeiter der Editio prineeps an der charakteristischen Ausdrucksweise Böhmes - die ihn doch nach einem provokanten Wort Lichtenbergs zum "größten deutschen Dichter" macht - gar nicht interessiert gewesen ist. Er dürfte diese im Gegenteil für unbeholfen und ungefügig gehalten haben. Sicher ist, daß er glaubte Böhmes Gedanken in ihrer ursprünglichen Sprachgestalt einem gebildeten Publikum nicht zumuten zu können: Er stilisiert zum Zweck einer besseren Lesbarkeit. Tappen wir hinsichtlich seiner Motive im Dunkeln, so steht doch soviel fest: Böhme war für den verantwortlichen ersten Bearbeiter kein großer Autor, und sein Werk war alles andere als 'sakrosankt'.
Die Edition von Jacob Böhmes 1Aurora"
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Deshalb gebührt dieser Edition ein Platz in der Wirkungsgeschichte des Textes. Der Variantenapparat der Neuedition hat diesen Umstand zu berücksichtigen und dieses erste Zeugnis einer - nach heutigem Maßstab wie nach Meinung des Veranstalters der zweiten Ausgabe - verfehlten Rezeption nach Möglichkeit zu dokumentieren.
26 Rolf Tarot
Ein Diskussionsbeitrag
Seit geraumer Zeit stellt die moderne Textologie eine Forderung an die Editoren, die meines Wissens bisher unwidersprochen hingenommen wurde. Ich zitiere diese Forderung nach der von Siegfried Scheibe und seinen Mitarbeiterinnen herausgegebenen Einführung in den Umgang mit Texten: Aufgabe und Zweck des Variantenverzeichnisses in Editionen neuerer Autoren ist es also, die Abweichungen der relevanten Textfassungen gegenüber einem Bezugstext darzustellen, und zwar so eindeutig, daß jederzeit der gesamte Text aller in dieser Weise verzeichneten Textfassungen vom Benutzer abgelesen und rekonstruiert werden kann. Auf diese Weise sind neben dem Edierten Text alle weiteren überlieferten relevanten Textfassungen vollständig in der wissenschaftlichen Edition enthalten und relativ leicht zu benutzen. 1
Es geht um folgendes Problem: Nach dieser Forderung soll "der gesamte Text" vom Benutzer "abgelesen und rekonstruiert werden können", d.h. alle relevanten Textfassungen sollen "vollständig" enthalten sein. Wie sieht das für einen Text der frühen Neuzeit aus? Ich möchte das an einem Beispiel illustrieren und wähle als Hauptherausgeber der historisch-kritischen Anton Ulrich-Ausgabe für diesen Zweck die ersten sechs Druckseiten aus dem ersten Band von Anton Ulrichs "Römischer Octavia" in der Ausgabe Β (Braunschweig 1712).2 Für das Variantenverzeichnis beschränke ich mich auf die Varianten der Erstausgabe Α (Nürnberg 1677).3 Insgesamt wären in der historisch kritischen Ausgabe die Varianten von drei Nürnberger Ausgaben zu verzeichnen.
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Vom Umgang mit Texten. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Von Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Ute Motschmann. Berlin/DDR: Akademie Verlag 1988, S. 104. Die | Römische | Octavia | Auf Veranlassung | Einer Hohen | Königl. Printzeßin | Nach dem ehmaligen Entwurff geändert und | durchgehends vermehret | Nunmehr von neuem aufgelegt. | Mit Römis. Kayserl. und Königl. Spanischen Majest. wie auch | Hochfürst 1. Braunschw. Lüneb. allergnädigsten | Privilegiis. | Braunschweig / | Gedruckt und verlegt durch Johann Georg Zilligern | Hochfürstl. privileg. Hof-Buchdr. 1712. (Exemplar: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: Lo 75.7). Octavia | Römische Geschichte: | Der | Hochlöblichen | Nymfen-Gesellschaft | an der Donau | gewidmet. | Vignette \ Nürnberg/ | In Verlegung Johann Hoffmann/ | Buchund Kunsthändlers, j Gedruckt bey Johann-Philipp Miltenberger. | Anno Μ DC LXXVII. (Exemplar: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: Μ 1347 a).
Ein Diskussionsbeitrag
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Der Text umfaßt im Originaldruck 199 Textzeilen, die Anordnung der Varianten erfordert fast den gleichen Umfang. 1. Feststellung: Ein Blick auf das Verhältnis von Text und Variantenapparat zeigt, daß bei Erfüllung der von der Textologie geforderten Rekonstruktion der Ausgabe Α der Umfang um ca. 100% steigt, d.h. wir haben bei 199 Textzeilen insgesamt 372 Varianten, d.h. wir müssen für die 918 Druckseiten des ersten Bandes mit einem Gesamtumfang des ersten Bandes von ca. 1800 Seiten rechnen. Bei Verzeichnung aller drei Nürnberger Ausgaben nach diesem Prinzip wäre mit ca. 2800 Seiten für einen von insgesamt sechs Bänden der Ausgabe zu rechnen. 2. Feststellung: Von den insgesamt 372 Varianten sind nur 31 Wortvarianten, d.h. 8,3 %. Alle anderen Varianten sind Varianten der Orthographie - 329 (88%) - und der Interpunktion - 14 (3,7 %) -, die für einen Rekonstruktionsversuch allerdings unentbehrlich sind. 3. Feststellung: Die zweite Feststellung zeigt, daß bei Texten der frühen Neuzeit mit ihrer nicht normierten Orthographie und Interpunktion der Anteil der zu verzeichnenden Orthographievarianten unverhältnismäßig hoch ist. Die für den Wandel der Texte zwischen 1677 (A) und 1712 (B) interessanten Wort- und Textvarianten ertrinken förmlich in der Flut derjenigen Varianten, die nur aus Gründen einer Rekonstruierbarkeit der Ausgaben verzeichnet werden müssen. Frage: Wollen wir das? Fazit für die historisch-kritische Anton Ulrich-Ausgabe: Eine Befolgung der von der Textologie gestellten Forderung würde die Finanzierung dieser Ausgabe unmöglich machen. Der Hauptherausgeber darf sich vielleicht damit beruhigen, daß Anton Ulrich kein "neuerer" Autor ist.
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ROm schwebte nun zwischen Furcht und Hoffnung/ des unerträglichen Jochs einmahl entledigt zu werden/ welches die Grausamkeit des Nero ihm aufgebürdet: weil/ nicht allein des Cajus Julius Vindex Abfall in Gallien/ ob der gleich sein Leben darüber eingebüsset/ und des Sergius Sulpitius Galba Verhältniß in Hispanien/ diesem Wfitherich den Untergang drohete/ sondern auch der Himmel selbst/ durch erschreckliche Wunderzeichen zu verstehen gäbe/ daß er ermüdet wäre/ so äusserster Bosheit ferner zuzusehen/ und/ daß das Ende vom Stamm=geschlechte des grossen Augustus/ mit diesem unartigen letzten Zweige/ erfolgen solte. Der Livia Lorbeer=Hain war verdorret/ der bisher so manche Ehrenkrohn den Kaysern auf das Haupt gegeben; Von den Hünern/ die sie so fleißig in ihrem Hause zu Veji hegen lassen/ war keine Bruth mehr vorhanden; So trüge sich auch gantz Rom mit der Zeitung/ daß das Donnerwetter/ zu ungewöhnlicher Zeit/ den Kayser=Bildnüssen auf der Kayser=Burg/ die Häubter ab= und Kayser Augusto das Zepter aus der Hand geschlagen. Jederman deutete dieses alles auf den Untergang dieses Durchlauchtigsten Stammes: dessen Manns= Nähme in dem Nero/ in welchem er nur noch allein bestünde/ nicht mehr geliebet wurde/ weil er so gar aus der Arth geschlagen/ daß man an ihm keine von den Tugenden seiner Vorfahren erblickte/ aber wohl einen Zusammenfluß aller Lästere mit Furcht und Abscheu ersähe/ und die verfluchte. In solcher trübseligen Zeit/ befände sich zu Rom der König Tyridates von Armenien/ und zwar in der Vorstadt auf den Mayerhofe des Cäsonius Severus/ der von seinem ersten Erbauer noch den Nahmen führete: allda er/ neben dem Vasaces seinem Feld=Herrn und vertrautsten Rath/ seine Zeit nicht ohne grosse Verwirrung zubrachte/ weil zugleich sein jetziger Zustand/ und seine Liebe/ ihm Tag und Nacht die Gedancken erfüllete/ und sein wunderbahres Verhängnüß betrachten machte. Die liebliche Frühlingszeit lockte ihn eines Morgens aus seinem Zimmer/ aus welchem er/ seith seiner Daherkunft/ noch nie gekommen war. Es entfinge ihn sofort ein schöner Garten/ der ihm so viele Seltenheiten zeigte/ daß er selbigen fähig fände/ seine Traurigkeit damit zu kürtzen/ und daraus einige Belustigung zu schöpfen. Dieses Haus und Garten/ so oben auf dem Berge Vaticanus belegen/ gäbe dem Gesichte das ausgebreitete Rom/ mit allen seinen Burgen/ Tempeln/ Renn= und Schau=plätzen/ Lustgärten/ Palästen/ Triumph=bögen und Ehrenseulen/ in angenehmer Fernung/ auf einmahl zu betrachten. Man konte/ von dreyen Seiten/ durch die Spatziergänge/ die Stadt vor sich sehen; auf der vierdten Seite aber fiele eine so wunderschöne Feldgegend mit Lusthäusern/ Wiesen/ Meyereyen und Teichen in die Augen/ daß kein Mahler dergleichen zu ersinnen/ noch durch seinen Pinsel vorzustellen vermögend. Hiernächst liesse sich auch im Garten des Künstlers Hand bewundern/ indem eine grosse Menge von Marmornen Bildern die Seiten der < 3 > Spazier=wege bedeckte:
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da so wohl die Vielheit/ als die Kunst/ das Auge in eine vergnügte Entzückung brachte. Alle alte Römische Helden waren daselbst vorgebildet/ wie auch die berühmteste Weibespersohnen/ die von etlichen hundert Jahren her eine Zierde des Staats gewesen. Diese Frauenbilder machten den Tyridates fürwitzig/ sich umzusehen/ ob er unter so vielen Schönheiten nicht etwan auch seine Neronia finden möchte. Es war aber sein Fleiß vergeblich: massen ihme nichts vorkäme/ das dieser Himmlischen Schönheit wäre zu vergleichen gewesen. Er tadelte demnach den Unfleiß des damahligen Besitzers von diesem Garten/ daß der nicht fortgefahren hätte/ gleich wie sein Vorgänger mit den erstem gethan/ die letztere Römische Heldinnen in diese Bilder = reihe zu versammlen. Dann er erlernte aus den Unterschriften/ daß sie alle in den Vor=Zeiten gelebet. Er fände die Clelia/ Emilia/ Virginia/ und Lucretia/ die Vestalinnen/ Tucia/ Claudia/ und viel andere/ die noch im Aufwachsthum des Römischen Staats geblühet und gelebet hatten. Gleichwohl betrachtete er diese Römerinnen mit sonderbahrem Fleiß/ vermeinend/ unter denselben seiner Neronia Vor=Eltern anzutreffen/ und sie aus einiger Aehnlichkeit zu erkennen. Es war aber diese seine Mühe gleichfalls vergeblich/ und er fände keine Gleichheit mit seiner Schönen: als wie er auch sonst von ihr nichts erfahren konte. Gleichwie nun seine Augen/ durch solche schöne Belegenheit des Orths/ und durch so künstliche Wercke des Meisters/ ergetzet wurden/ also fanden auch die andern Sinne ihre Vergnügung: indem das Gehör/ durch die viele Wasserfälle und das liebliche Gesäusel der Springbrunnen erquicket/ der Geruch und Geschmack aber durch die herfürsprossende Blüthen und Frühlingsblumen gelabet wurde. Es hatte zwar Tyridates/ zu Ecbatana und Babel die fürtrefflichste Gärten gesehen: jedennoch dünckte ihn/ die Annemlichkeit dieses Orths gienge allen Morgenländischen weit vor/ indem er hier alles beysammen fände/ was in Parthien Stückweise zu sehen war. Weil er sich nun gerne der betrübten Gedancken entschlagen wolte/ als wandte er alle seine Aufmerckung auf das/ so ihm fürkame. Vasaces/ der ihn begleitete/ war wohl zufrieden/ daß sich einmahl etwas zeigete/ so seinen König/ auf etliche Stunden/ von seiner immer anhaltenden Betrübnis abzuwenden fähig; dieserwegen halffe er fleißig darzu/ daß Tyridates alle Winckel des Gartens durchgienge: Und wann er spührte/ daß ihm das vor Augen liegende Rom in Gedancken vertieffen wolte/ weil er seine Neronia darinn anwesend wüste/ wiewohl ihm ihr Zustand verborgen war/ finge er gleich ein Gespräche an/ von dem zierlichen Anbau dieses Gartens/ womit er dann seinen Herrn wieder zu sich selbst brachte/ und seines quälenden Anliegens ihn vergessen machte. Sie kamen/ unter andern/ in verschiedene Cabinette/ so hier und dar in die Ecken des Gartens vertheilet/ und meistens mit sehr künstlichen Gemählden angefüllet waren. Eines derselben/ etwas grösser als die andern/ zeigete sich inwendig mit weissem Marmor gantz glatt überzogen; Weil nun Tyridates ohngefehr etliche Schrifften gewahr wurde/ die in der Marmornen Wand eingegraben waren/ als verursachte die Begierde selbige zu lesen/ daß sowohl er als Vasaces etwas näher hinzu traten/ da sie dann nach genauerer Besichtigung fanden/ daß es
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Reimen waren/ unter dehnen die erstem/ so ihnen vor Augen kamen/ also lauteten:
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Dido kont noch ihre Liebe dem Eneas tragen für/ Und ihn zum erbarmen treiben. Aber ach! dis fehlet mir. Bin ich nicht beklagens werth/ mehr als sie/ da meine Schmertzen Tyridates weder weiß/ noch auch nehmen kan zu Hertzen? Es konte der König von Armenien diese Reimen nicht auf sich ziehen/ ob er gleich darinn seinen Nahmen fände: weil vor der Zeit ein Parthischer Printz dieses Nahmens gelebet/ auf den er solche Klagen gestellet glaubte. Doch ward er hierdurch begieriger/ auch die folgende Zeilen zu lesen/ welche er dieses Innhalts fände: Was solt mir sein Wissen nützen/ wann er lachet meiner Noth? Doch so könt ich/ gleich der Dido/ dann erwählen auch den Tod/ Und stets seine Grausamkeit ihm verweisen/ auch darneben/ Wieder seinen Willen selbst/ ihme im Gedächtnis schweben. Aber nun/ nun muß ich sterben/ ohne daß er je wird inn/ Daß ich seines Helden = Ruhms Ehrerin gewesen bin. Doch/ käm über kurtz und lang/ wann mit Echo ich verschwinde/ Tyridates noch hieher/ wünsch' ich/ daß er dieses finde. Diß mein Zeugnis soll er lesen/ daß in ungemeiner Treu Ich gewesen bin die Seine. Ich gesteh' es ohne Scheu: Tyridates hat allein meine Freyheit können binden. So Neronia sich ließ von den Parthen überwinden. Keine angenehmere Bestürtzung hätte den Armenischen König überfallen können/ als eben diese/ da er eine so unvermuthete Erklärung von seiner schönen Neronia zu sehen bekäme. Seine Hoffnung Lesse ihn nicht mehr zweiffein/ daß hier/ die Nahmen/ Tyridates und Neronia/ ihm und seiner unbekanten Schönen gelten würden. Er eröfnete diese seine Gedancken dem Vasaces: welcher/ wann er schon anders geglaubet hätte/ dannoch seinem Herrn in dieser Sache/ die seine Ruhe befördern konte/ würde beygefallen haben. Demnach stärckte er ihn in seiner süssen Einbildung/ und sagte: wie daß sonder Zweiffei die Neronia würde bereuet haben/ daß sie ehmahls dem Könige einen so grausahmen Abschied gegeben hätte. Wann schon die Reue hierüber sich bey ihr eingefunden/ versetzte der verliebte Tyridates/ so kan ich doch nicht glauben/ daß/ da sie meine hefftige Liebe zur Gnüge gewust/ sie dannoch ihr solte eingebildet haben/ ich würde an ihr/ sie verachtend/ zum Eneas oder Narcissus werden. Sie hat wiederredte Vasaces/ da sie Ew. Majest. alle Hoffnung benommen/ wol fürchten müssen/ ihre Bezeugung werde/ nicht allein die Vergessenheit/ sondern auch die Verachtung/ zur gerechten Rache/ nach sich gezogen haben. Wann diesem also wäre/ sagte Tyridates/ so thut mir warlich die Himmlische Neronia groß Unrecht/ daß sie ein solches von mir gedencken mögen. Aber Vasaces! ich sorge/ meine Schöne wisse nichts von diesen
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Reimen/ und dfincket mich/ ich kenne ihr Gemfith viel zuwohl/ als daß ich eine so heftige Aenderung von ihr vermuthen könne. Ach nein! führe er seufzend fort/ je mehr ich es erwege/ je unmöglicher kommt mir vor/ daß Neronia dieses geschrieben habe. Ich finde nichts in diesen Reimen/ das mit meinen vorigen Begebenheiten fiberein komme. Sie wfirde ja meiner Liebe und ihrer ehmahligen Strenge erwehnet haben/ wann sie die Verfasserin dieser Klagschrifft gewesen wäre. Er überläse hierauf die Zeilen nochmahls/ und verwirrete sich je länger je mehr darfiber: in welchem Zustande ihn fast der Tiberius Alexander angetroffen/ wann nicht Vasaces/ jenes Ankunfft ersehend/ seinen Herrn angemahnet hätte/ gegen diesem Römer seine Unruhe zu verbergen/ und sich fröhlich zu erzeigen. Tyridates thäte solches/ so gut er konte/ und grfissete diesen Ritter/ nach seiner angebohrnen Leuthseeligkeit. Selbiger entschuldigte sich hingegen gar hoch/ daß er den König von Armenien so lange allein gelassen hätte: ffirschützend/ wie daß man in Rom ein grosses Fest der Minerva zu Ehren feyrete/ welches schon fünf Tage gewähret/ da er bey den Opfern aufwarten müssen. Diesen Abend sagte er ferner/ wird der Kayser dem König von Armenien zu wissen thun/ warum sie sind in Italien beruffen worden: und glaube ich nicht/ daß die Ursach so geringe sey/ daß der grosse Tyridates seine übernommene Bemühung bereuen müsse. Um dem Kayser in allem gefällig zu erscheinen antwortete Tyridates/ habe ich seinen Befehl gantz gerne erffillen wollen. Ihr aber/ mein Freund! dafern euch die Ursache bekant ist/ würdet mich höchlich euch verbinden/ wann ihr mir solche zu meiner Nachricht entdecken woltet. Tiberius Alexander zöge hierfiber die Schultern/ und sagte: Es wfirde unbillig seyn/ wann der König von jemand anderem/ als dem Kayser selbst/ erffihre/ was dißfalls vor der Hand wäre. Tyridates wolte hierauf nicht ferner in ihn dringen/ zumahl ihm auch seine zuvor zugestossene Abentheur mehr/ als dieses/ in den Gedancken läge: wiewohl er leicht vermuthen konte/ daß ihm etwas von sonderbahrer Wichtigkeit vor=seyn mfiste. Sie giengen hierauf zur Mittagsmahlzeit: worbey man den König/ auf des Nero Verordnung/ allerherrlichst bedienete/
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Varianten der Ausgabe A 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 16/17 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 41/42 42 43 44 46
Erster Theil.] Die Römische Octavia. | Ersten Theils/ | Das Erste Buch. A furcht A hoffnung A jochs A einmal A grausamkeit Α aufgebürdet:] aufgebürdet; A abfall A leben Α Verhältnis A wütrich Α Untergang A wunderzeichen A äuserster Α boßheit Α und/] auch Α ende A stammgeschlechte A lezten Α zweig A Lorbeerhain A Kaisern A haupt Α gegeben;] gegeben. A hause A brut Α vorhanden;] vorhanden. A zeitung A donnerwetter A ungewönlicher Α zeit A Kaiser-bildnisen A Kaiser-burg Α häupter A Kayser] Kais. A zepter A hand A Untergang Α durchleuchtigsten A stammes A Manns = Nähme] manns-name/ A geliebt A art A tugenden Α vorfahren A wol Α Zusammenschluss Α lästere A furcht Α Abscheu A zeit A vorstadt A Maiehof Α der] so A erbauer A namen Α führte A alda A feld-herrn A raht Α zeit A Verwirrung Α zustand A A tag A nacht A gedanken Α erfüllte Α wunderbares Α Verhängnis A frttlingszeit Α morgens A zimmer Α seit A daherkunft A entfienge A so viele] soviel angenehme Α Seltenheiten A traurigkeit A belustigung A den A berg A gesichte A bürgen A tempeln Α renn- und Schauplätzen Α lustgärten Α palästen A triumph-bögen A ehrenseulen A angenemer A fernung Α einmal A dreien A seiten Α spaziergänge A vierten A seite Α ein Α wunderschöne] angeneme A feldgegend A lusthäusern Α wiesen A meyereyen A teichen A augen A mahler A zu fehlt A pinsel Α vorzustellen vermögend] vorstellen könte A ließe Α garten Α künstlers A hand A mänge Α marmornen A bildern A seiten A spazirwege A sowol A vielheit A kunst A Auge ... brachte] aug entzucken muste A helden Α wie fehlt A berümte Weibspersonen A huntert Α jähren A zier A des] dieses A staats A sovielen Α Schönheiten A
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fleiß A himlischen A Schönheit Α unfleiß A damaligen Α besitzen Α garten Α hatte A gleichwie A vorfahrer Α erstem] vorigen A letzere A bilder-reihe versamlen Α Unterschriften A vor-zeiten A Vestalinnen/] Vestalinnen Α vielandere A aufwachstum A staats Α gelebt A Gleichwol A sonderbarem Α fleiß A Vor-Eltera] vorfahrinnen Α ähnlichkeit A mühe A gleichheit Α schönen A äugen Α belegenheit A ortes A werke A meisters A andere Α sinne Α Vergnügung Α gehör Α wasserfälle A gesäusel Α Springbrunnen A geruch A geschmack A blüten Α frülingsblumen A Babel] Babel/ Α gärten A jedannoch A annemlichkeit A orts A morgenländischen Α indem] weil A Stückweise] vertheilt Α gern A gedanken A als fehlt Α aufmerkung A wol Α einmal A zeigete/ so] gefunden hatte/ das Α stunden Α immeranhaltenden A betrübnis Α abzuwenden fähig;] abwenden konte. A Dieserwegen Α hälfe A darzu A winkel A gartens Α spürte A äugen A ligende Α gedanken A vertieffen A gespräche A anbau Α gartens Α womit er dann] der A herrn A anligens A Cabinete A ecken Α gartens Α verteilet Α meist Α gemälden A Eines] Aber eines Α etwas] zwar A inwendig fehlt A Weil ... fanden] Es hätte ihre genaue aufmerckung nicht an sich gezogen wan nicht Tyridates ungefähr/ etliche Schriften mit einem griffet in dieses marmor eingegraben/ ersehen hätte. Dieses machte so wol ihn/ als den Vasaces fürwitzig/ von den Schriften etwas zulesen; und fanden sie/ nach genauer besichtigung A reimen Α dehnen] deren Α ersten A äugen A liebe A diß A wehrt Α schmerzen A herzen A reimen A namen Α fände] läse Α zeit A namens Α klagen A Zeilen A innhalts A wissen A noht A doch A erwehlen A tod A
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Rolf Tarnt und Α stäts A grausamkeit A wider Α willen Α gedächtnis A daß A heldenruhmes A ehrerin A treu A ich Α seine Α scheu A freiheit A bestflrzung A unvermutete Α erklärung A hoffnung Α zweifeln A namen Α schönen A eröffnete A gedanken A herrn A sache Α ruhe A beigefallen Α stärkte A süßen A einbildung A zweifel A dem Könige] seinem König Α grausamen Α abschied Α hatte A reue A versetzte ... Tyridates] (versetzte der verliebte Tyridates) A häftige Α liebe A gnüge A gewust A hat ... Vasaces] hat/ (wiederredte Vasaces) A Ew. Majest.] E. Maj. Α hoffnung A bezeugung A Vergessenheit Α Verachtung A räche A Wan Α wäre ... Tyridates/] wäre / (sagte Tyridates) A himlische Α unrecht A gedencken mögen] vermuten dörfen Α Aber Vasaces] Aber/ Vasaces Α schöne A reimen A dfinket Α gemüt A zuwol Α ich] sie A häftige Α änderung Α ihr] mir Α vermuten Α können Α führe ... fort/] (führe er seufzend fort) A erwäge A komt A reimen A begebenheiten Α liebe A ehmaligen A strenge Α Verfasserin A klagschrift A zeilen Α nochmals Α verwirrte A zustand A wan A ankunft A unruhe Α frölich Α zeigen A grüßete A angebornen A leuthseligkeit A lang A großes Α fest Α ehren A feirete Α tage A opfern Α Abend ... ferner/] Abend (sagte er ferner) A Kaiser A ursach Α gering Α sei A bemühung Α müste A Kaiser Α antwortete Tyridates/] (antwortete Tyridates) A befehl A gern Α freund Α ursach A nachricht Α schultern A kaiser A hand Α wäre] ist A zumal A abenteur A
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gedanken A wiewol Α vermuten A sonderbarer Α Wichtigkeit A mttste] würde A mittagsmalzeit A worbei A Verordnung Α bedienet A
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Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht
1. Einleitung: Diplomatischer Abdruck oder Normalisierung In den letzten Jahren sind die Fragen der Grundsätze von Editionen wieder stärker in den Vordergrund getreten. Sie haben sogar dazu geführt, eine Textologie als eigene wissenschaftliche Disziplin zu fordern und von der Literaturwissenschaft zu trennen. 1 Die Abgrenzung von der Literaturwissenschaft hängt damit zusammen, daß Editionsprinzipien vor allem im Zusammenhang mit historisch-kritischen Ausgaben reflektiert werden und solche Ausgaben nur zu solchen Autoren angefertigt werden, an deren Werken ein ästhetisches Interesse besteht. Diese Ausgaben werden gewöhnlich von Literaturwissenschaftlern betreut, deren unterschiedliche Erkenntnisinteressen zu verschiedenartigen Editionsverfahren geführt haben, ohne einen Grundkonsens zu ergeben. Fast immer stand im Vordergrund des Interesses die Herstellung eines Textes, der dem Willen des Autors entsprechen sollte. 2
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Siegfried Scheibe: Zum Verhältnis der Edition/Textologie zu den Gesellschaftswissenschaften. Mit einem Anhang: 25 Thesen zur Textologie. In: Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 158-166, hier S. 161; Siegfried Scheibe: Von den Erfordernissen und den Zwecken der Textologie. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Berlin 1988, S. 13-30, hier S. 22, 26. Damit folgt S. Scheibe terminologisch der russischen Wissenschaft, in der der Terminus Textkritik durch den der Textologie ersetzt wurde; vgl. Konrad G6rski: Zwei grundlegende Bedeutungen des Terminus 'Text'. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 337-343, hier S. 337. — Ausdrücklich dagegen wendet sich Karl Konrad Polheim: Ist die Textkritik noch kritisch? In: Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Berlin, New York 1985, S. 324336, hier S. 324, Anm. 2. Hans Zeller: Textkritik. In: Literatur II. Zweiter Teil. Hrsg. von Wolf-Hartmut Friedrich und Walther Killy. Frankfurt/M. 1965, S. 549-563, hier S. 549, 558; Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: Edition und Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5, 1975, Heft 19/20, S. 105-126, hier S. 113. Zur Definition der Autorisation Rolf Tarot: Editionsprinzipien für deutsche Texte der Neuzeit. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. von Werner Besch,
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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Dieser Wille war und ist in unterschiedlichem Maße zugänglich. Bei Texten des 18. bis 20. Jahrhunderts existieren gewöhnlich Originale in der Form von Handschriften oder gedruckten Erstfassungen und Ausgaben letzter Hand,3 während bei Texten des 14. bis 17. Jahrhunderts Autographe relativ selten sind,4 so daß der Autorwille aus verschiedenen Handschriften und Drucken herzustellen war. Vor allem bei fehlenden Autographen wurden von den Editoren Texte nach sehr subjektiven und häufig nicht nachvollziehbaren Kriterien erstellt.3 Doch auch sonst entstanden oft sog. "unhistorische Mischtexte", die von H. Kraft6 mit Recht kritisiert werden, weil sie den Blick auf die "Faktizität der Texte" und die "Geschichtlichkeit der literarischen Werke" verstellen. Die neue und bewußte Hinwendung zur Historizität der Texte ist keine "Ablehnung des Textes als eines gültigen dichterischen Kunstwerkes",7 sondern deren Anerkennung in ihren Präsentationsformen; sie kann geradezu als Antwort auf die sich anbahnende Konstitution einer eigenen editionswissenschaftlichen Teildisziplin angesehen werden, die Texte auch so edieren will, daß sie die Grundlage "für Forschungen in den verschiedensten gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen"8 bilden können. Mit der Hinwendung zur Historizität der Texte wird in der Literaturwissenschaft die Wende zur 'historischen Treue' vollzogen, die in der historischen Sprachwissenschaft teilweise schon früher einsetzte' und deren Ergebnis für eine Edition der diplomatische Abdruck eines handschriftlichen, aber auch gedruckten Textzeugen
Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. Erster Halbband. Berlin, New York 1984 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 2.1), S. 703-711, hier S. 707. Zur Gegenüberstellung von Autorwille bzw. Autorintention und Autorisation und zum Problem der passiven Autorisation Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten, vgl. Anm. 1, S. 45-89, hier S. 56, 59 f. 3 Rolf Tarot , vgl. Anm. 2, S. 703. 4 Rolf Tarot: Probleme der Edition von Texten des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Texte und Varianten, vgl. Anm. 1, S. 371-384, hier S. 371; Hans-Gert Roloff: Probleme der Edition barocker Texte. In: Quellen der Barockforschung. Symposion in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 11.-13. September 1972. Frankfurt/M. 1972 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. 4,2), S. 24-69, hier S. 30, 56. 5 Rolf Tarot, vgl. Anm. 2, S. 703. 6 Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhem Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt 1990, S. 28 f., 39. So bereits Hans Zeller 1965, vgl. Anm. 2, S. 560; Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten , vgl. Anm. 1, S. 1-44, hier S. 42. 7 Karl Konrad Polheim , vgl. Anm. 1, S. 326. 8 Siegfried Scheibe 1987 , vgl. Anm. 1, S. 162. ® Friedrich Wilhelm (Hrsg.): Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahre 1300.IIV. Lahr 1932-1963, hier I, S. X; III, S. XXI; Rudolf Schützeichel: Historische Treue bei historischer Wort- und Namenforschung. In: Festschrift für Karl Bischoff zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Günter Bellmann, Günter Eifler, Wolfgang Kleiber. Mit einem Titelblatt und 22 Karten im Text. Köln-Wien 1975, S. 217-231; Rudolf Schützeichel: Althochdeutsches Wörterbuch, 4. Aufl. Tübingen 1989, S. XXV.
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ist, weil nur so alle im Medium der Überlieferung vorhandenen Informationen erhalten bleiben und einer sprachwissenschaftlichen Auswertung zugänglich sind.10 Dies gilt für nicht-literarische Überlieferungen ebenso wie für literarische, die einen ästhetischen Anspruch besitzen. Nur normierenden Editionen ist der "Schein zeitentrückter Monumentalität und Objektivität"11 zu nehmen. Bereits die Herstellung eines lesbaren und für die Vervielfältigung geeigneten Textes ist eine Leistung des Editors, weil vor allem die handschriftlichen Überlieferungen zum Teil nur schwer zu entziffern sind und ihre Entzifferungen ein hohes Maß an Handschriftenkenntnissen voraussetzen und ohne Verstehen des Textsinns nicht möglich sind. Selbst bei genauester Handschriftenkenntnis bleiben noch einzelne Unsicherheiten, die die Unterscheidungen einzelner Graphe wie und , von Majuskeln und Minuskeln (vgl. Beispiele 84-90), von diakritischen Zeichen und von Zusammen- und Getrenntschreibungen betreffen. Über alle diese Leseentscheidungen hat ein Editor Rechenschaft abzulegen, und es ist daher dem Urteil nicht zu folgen, das einen diplomatischen Abdruck "nicht gerade für eine philologische Gipfelleistung" hält." Die Leistung der Herstellung eines lesbaren, vervielfältigbaren und anderen Wissenschaftlern mit anderen Erkenntnisinteressen ohne Informationsverlust zugänglichen Textes ist kein "Sieg der Materie über den Geist";13 dieser Leistung können ja weitere philologische Leistungen hinzugefügt werden, deren Bedeutung anders gewichtet werden kann. Diese Leistungen können einmal sehr stark textbezogen sein und einen Text präsentieren, der den diplomatischen Abdruck verbessert und offensichtliche Fehler und evtl. Textverderbnisse korrigiert; sie können auch darin bestehen, daß Annäherungen an ein nicht mehr vorhandenes Original vorgenommen werden. Daneben kann es sich um mehr die Textherstellung begründende und das Textverständnis stützende Leistungen handeln, indem dem Text eine Einleitung, ein kritischer Apparat, ein Glossar und evtl. verschiedene Register beigefügt werden.14 Für einen Sprachwissenschaftler, der eine Edition benutzen will, ist das primäre Interesse auf den Text ausgerichtet, den er mit seinen spezifischen Methoden analysieren möchte, ohne an nicht mehr zu korrigierende Vorentscheidungen eines Editors gebunden zu sein, die manchmal
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Franz Simmler (Hrsg.): Aus Benediktinerregeln des 9. bis 20. Jahrhunderts. Quellen zur Geschichte einer Textsorte. Heidelberg 1985 (Germanische Bibliothek. Neue Folge. 7. Reihe: Quellen zur deutschen Literaturgeschichte), S. 9. Karl Stackmann: Über die wechselseitige Abhängigkeit von Editor und Literarhistoriker. Anmerkungen nach dem Erscheinen der Göttinger Frauenlob-Ausgabe. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 112, 1983, S. 37-54, hier S. 54. Werner Schröder: Editionsprinzipien für deutsche Texte des Früh- und Hochmittelalters. In: Sprachgeschichte , vgl. Anm. 2, S. 682-692, hier S. 685. So aber — jedoch im Hinblick auf dokumentierende Editionen deutlich einschränkend — Karl Konrad Polheim, vgl. Anm. 1, S. 336. Oskar Reichmann: Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sprachgeschichte, vgl. Anm. 2, S. 693-703, hier S. 698.
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nur aus einer schon vorhandenen Editionspraxis genommen und nicht weiter reflektiert werden. Unter sprachwissenschaftlichen Aspekten haben alle synchron vorhandenen Textzeugen den gleichen Wert,15 weil sie einen sprachlichen Zustand, einen Text in Funktion darstellen, aus dem die Einheiten des sprachlichen Systems ermittelt werden können. Dies gilt auch für zeitlich aufeinander folgende Textexemplare, aus denen Sprachwandelphänomene hergeleitet werden können. Daher braucht der Sprachwissenschaftler einen historisch in konkreter Kommunikation verwendeten und nicht einen ahistorischen, kontaminierten, idealen, dem Autorwillen subjektiv angenäherten Text.16 Über einen solchen Text hinausgehende Verständnishilfen werden unter sekundärem Aspekt vom Sprachwissenschaftler gern angenommen; dies gilt auch für Hinweise auf Fehler und evtl. Textverderbnisse, doch müssen diese streng vom edierten Text geschieden sein, weil die Markierungen von Fehlern, z.B. bei hapax legomena, vom Erkenntnisstand des Editors abhängig sind und nicht frei von falschen Beurteilungen sein können. Das Editionsverfahren des diplomatischen Abdrucks steht allen Editionsverfahren diametral gegenüber, die Normalisierungen vornehmen, weil jede Normalisierung einen Informationsverlust bedeutet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Normalisierung textintern durch eine Variantenbeseitigung bei sonstiger Beibehaltung sprachlicher Eigentümlichkeiten entsteht, ob sie die Folge von Übertragungen gegenwartssprachlich vorhandener präskriptiver Nonnen auf frühere sprachliche Zustände mit Gebrauchsnormen, also deskriptiven Normen, ist oder ob sie aus dem Bemühen um die Herstellung eines dem Autorwillen entsprechenden Textes entstanden ist, wenn ein autorisiertes Textexemplar nicht existiert. Seit K. Lachmanns Editionen mhd. Epik hat das Bemühen um einen Text, der dem Autorwillen nahe kommt, innerhalb der Germanistik die Editionspraxis literarischer Texte ohne Originalüberlieferung sehr stark beeinflußt.17 Diese Praxis wird noch heute
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Helmut Krause: Variantenprobleme. In: Werkstattgespräch 'Berliner Ausgaben'. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt/M., Las Vegas 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte. 9), S. 189-202, hier S. 192. So auch als Voraussetzung einer historisch-kritischen Edition Wilhelm G. Jacobs: Textüberlieferung und historisch-kritische Edition. Typen von Editionen. In: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Hrsg. von Walter Jaeschke, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Klings und Heinrich Schepers. Hamburg 1987, S. 21-26, hier S. 22.
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So auch im Hinblick auf verschiedene Fassungen literarischer Werke Hans Zeller 1975, vgl. Anm. 2, S. 116; Norbert Oellers: Angleichung, Normalisierung, Restitution. Die Editio hybrida als Schicksal der deutschen Klassiker? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), Sonderheft, S. 29-42, hier S. 41 f.; ausdrücklich zustimmend Karl Konrad Polheim, vgl. Anm. 1, S. 329. Zu den Voraussetzungen dieser textkritischen Methode Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln, Graz 1964, S. 240-267, hier S. 246 f. Zur Rolle K.
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explizit von W. Schröder gegen andere Vorgehensweisen verteidigt, wenn er "die versuchsweise Rekonstruktion des Originals" bei sog. "großer Dichtung" als "unverzichtbar" erklärt und fordert, daß die Editionsgrundsätze "dem Anspruch der Dichtung vorrangig Rechnung zu tragen" haben.18 Wenn gegen eine begründete Skepsis19 die Annäherung an ein ehemals vorhandenes Original eine Aufgabe literaturwissenschaftlicher Textherstellung bleibt, dann sollte dieses Ziel neben einem diplomatischen Abdruck einer Leithandschrift oder einer editio princeps und nicht als Ersatz für einen solchen angestrebt werden. Wird nur ein erschlossener Text geboten, der über den kritischen Apparat nicht oder nur bedingt auf tatsächliche Überlieferungen zurückgeführt werden kann, dann entsteht ein unhistorischer Mischtext im Sinne von H. Kraft, der die Faktizität der Textexemplare verletzt und - von der literaturwissenschaftlichen Kritik abgesehen - für sprachwissenschaftliche Untersuchungen nicht brauchbar ist. In einem solchen Falle existiert eine ausschließlich literaturwissenschaftlichen Erkenntniszielen dienende Edition, deren Berechtigung nicht durch einen zusätzlichen Verweis auf andere Benutzergruppen einschließlich der Sprachwissenschaftler zu begründen ist.20 Für die prinzipielle Beurteilung jeder Normalisierung als Informationsverlust und als Enthistorisierung einer Überlieferung ist es unerheblich, aus welchen Gründen sie vorgenommen wird. Von vornherein außerhalb einer wissenschaftlichen Kritik stehen solche Normalisierungen, die in Veröffentlichungen erscheinen, die sich an ein breites Lesepublikum wenden und der Tradierung von kulturell hochgeschätzten literarischen und sprachlichen Überlieferungen dienen, weil sie keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben wollen oder können. Bei einer
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Lachmanns Peter F. Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts. In: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloqium 1966. Hrsg. von Peter F. Ganz und Werner Schröder. Berlin 1968, S. 12-30. Werner Schröder, vgl. Anm. 12, S. 686 f. Positiv zu Normierungen weiterhin Karl Stackmann, vgl. Anm. 17, S. 253 f.; Winfried Woesler, Textkritik (Edition). In: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Hrsg. von Diether Krywalski. München 1974, S. 471-476, hier S. 473. Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. 28), S. 108; Joachim Bumke, Titurelüberlieferung und Titurelforschung. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 102, 1973, S. 147-188, hier S. 185. Zum Problem eines unfesten Archetypus Karl Stackmann, vgl. Anm. 17, S. 248; Klaus Grubmüller: Edition. In: Reallexikon der Germanistischen Altertumskunde, VI. Berlin, New York 2. Aufl. 1986, S. 447-452, hier S. 451; Georg Steer: Textgeschichtliche Edition. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh, Redaktion: Hans-Jürgen Stahl. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen. 19), S. 37-52. Zur Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Literatur- und Sprachwissenschaftlern Hans Zeller: Für eine historische Edition. Zu Textkonstitution und Kommentar. In: Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel, 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur. Berlin, New York 1985, S. 305-323, hier S. 318.
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wissenschaftlichen Edition aber stellt sich die Frage der Notwendigkeit und NichtNotwendigkeit von Normalisierungen ganz anders, und die evtl. vorgenommenen Normalisierungen unterliegen einer wissenschaftlichen Kritik unter Berücksichtigung der generellen Anforderungen an Editionen und der selbst formulierten Erkenntnisziele.21 Unter einer wissenschaftlichen Edition wird dabei mit O. Reichmann22 ein Editionstyp verstanden, "der an Universitäten, Hochschulen, Akademien, Forschungsinstituten oder gleichrangigen Einrichtungen von akademisch geschulten Benutzern oder einschlägig interessierten und spezialisierten Nicht-Akademikern mit dem Zweck vertreten wird, bestimmte historische Sachverhalte, darunter kommunikationsgeschichtliche, so objektiv wie möglich zu dokumentieren, Materialien für ein ebenfalls möglichst objektives historisches Verständnis dieser Sachverhalte bereitzustellen, um diese damit im Sinne des Ideals wertfreier Nachzeichnung in die wissenschaftsgeschichtliche Tradition des jeweiligen Faches einzubringen." An diesen Editionstyp ist zu denken, wenn bisher unbekannte, ungedruckte und unzugängliche Texte der Frühen Neuzeit publiziert werden, um die Grundlage für eine literatur- und sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem in der Forschung bisher vernachlässigten Zeitraum bereitzustellen. Für solche Texte ist das breitere Publikumsinteresse gering, die Auflagenhöhe ist relativ begrenzt, das rein wissenschaftliche Interesse steht im Vordergrund und sollte sich daher auch in der Editionspraxis auswirken. Im folgenden geht es einmal darum, die Notwendigkeit von diplomatischen Wiedergaben zu begründen, indem aus Handschriften und Drucken Informationen gegeben werden, die die Grundlage für sprachwissenschaftliche Untersuchungen von den Makrostrukturen bis zu den Phonemen bilden und die in Editionen und theoretischen Ausführungen unbeachtet blieben oder durch Normalisierungen nicht mehr erkennbar waren. Die Beispiele stammen aus der nicht-literarischen deutschsprachigen Regula Benedicti-Tradition23 und aus der literarischen Tradition des 21
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Zu den Aufgaben einer historisch-kritischen bzw. einer wissenschaftlichen Ausgabe, die die Grundlage aller folgenden Ausgaben zu bilden hat, Siegfried Scheibe, vgl. Anm. 6, S. 9-11; Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 32, 41. Zur Forderung, "das System der historisch-kritischen Ausgabe von Grund auf neu zu überdenken" Walter Müller-Seidel: Kritische Aspekte der Herausgabe wissenschaftlicher Texte. In: Edition et Manuscrits. Probleme der ProsaEdition. Akten des mit Unterstützung des Centre National de la Recherche Scientifique und der Deutschen Forschungsgemeinschaft veranstalteten französisch-deutschen Editorenkolloquiums Paris 1983. Hrsg. von Michael Werner und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt/M., New York, Paris 1987 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte. 19), S. 242-251, hier S. 250. Zu den Ausgabetypen Waltraud Hagen: Von den Ausgabetypen. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann, vgl. Anm. 1, S. 31-54. Vgl. Anm. 14, S. 693. Franz Simmler: Zur deutschsprachigen handschriftlichen Überlieferung der Regula Benedicti. In: Regulae Benedict! Studia. Annuarium Internationale 16, 1987 (recte 1990), S. 137-204.
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frühneuhochdeutschen Prosaromans "Die schöne Magelona",24 weil dazu in Berlin Sammlungen der Überlieferungen existieren, die mit den vorhandenen Editionen verglichen werden können, und weil zu einzelnen Aspekten bereits umfangreichere Detailuntersuchungen vorliegen, die das hier exemplarisch Gebotene weiter absichern können. Mit diesen Befunden werden zum anderen solche Aussagen zur Editionstheorie und Editionspraxis konfrontiert, die weiterhin für Normalisierungen in mehr oder weniger beschränktem Umfang eintreten, indem sie einzelne Aspekte als sprachwissenschaftlich irrelevant erklären und dazu eine teilweise nicht haltbare Unterscheidung von grammatisch relevanten und orthographisch irrelevanten Varianten vorlegen, die wiederum die Editionswissenschaft beeinflußte.25 Schließlich wird für spezifisch literarische Überlieferungen, bei denen ein Original nicht vorhanden ist und das Bemühen um einen dem Autorwillen möglichst nahe kommenden Text weiter bestehen bleibt, ein praktisches Verfahren vorgeschlagen, das den Bedürfnissen von Literatur- und Sprachwissenschaftlern gerecht zu werden versucht. Um einen Nachvollzug sprachwissenschaftlicher Auswertungen und eine Kontrolle der Editionspraxis zu ermöglichen, werden in einem Anhang Abbildungen von Handschriften und Drucken beigegeben. Sie sind so umfangreich, daß vor allem die Ausführungen zu den bisher kaum untersuchten Makrostrukturen überprüft werden können. Die Asbacher Benediktinerregel aus der Mitte des 13. Jahrhunderts fällt zwar aus dem Rahmen von Texten der Frühen Neuzeit heraus. Dennoch wurde sie aus zwei Gründen, einem editionstheoretischen und einem sprachhistorischen, einbezogen: Zu ihr existiert eine Edition, die sich an diplomatischen Kriterien der Textedition orientiert, weshalb sie nicht veraltet ist; sie ermöglicht sogar die Erkenntnis von Makrostrukturen, obwohl diese nicht zu den Erkenntnisinteressen bei der Abfassung der Edition gehörten. Unter sprachgeschichtlichem Aspekt dient dieser Text dazu, unterschiedliche systematische Strukturen in der Syntax einschließlich der Interpunktion bzw. in der Phonologie
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Franz Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen in der Tradition des frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Deutsche Sprachgeschichte. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Festschrift fflr Johannes Erben zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Besch. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1990, S. 187-200; Franz Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung. Sprachliche Veränderungen in der Stoffgeschichte und ihre Rückwirkungen auf Textsortendifferenzierungen. In: Daphnis 20,1991, S. 457-486. Werner Besch: Zur Edition von deutschen Texten des 16. Jahrhunderts. In: Alemannica. Landeskundliche Beiträge. Festschrift für Bruno Boesch zum 65. Geburtstag. Bühl/Baden 1976 (Alemannisches Jahrbuch 1973/75, Herausgeber Alemannisches Institut Freiburg/Breisgau), S. 392-411, besonders S. 395-397; Empfehlungen zur Edition frühneuzeitlicher Texte der 'Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen'. In: Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 299-315, besonders S. 299, 301, 305 f.
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einschließlich der Orthographie aufzuzeigen, um die Notwendigkeit ihrer Beachtung auch in Texten der Frühen Neuzeit zusätzlich zu begründen. Aus der Magelone-Überlieferung und der deutschsprachigen Regula BenedictiTradition werden folgende zusammenhängende Textteile aus jeweils zwei Textexemplaren abgebildet: Von der Magelone-Handschrift Veit Warbecks von 1527 Titelblatt, Incipit-Formel, Vorspann und die beiden ersten Kapitel (Tafel 1-7);26 vom ersten Druck der gleichen Überlieferung, der 1535 durch Heinrich Steiner in Augsburg erfolgte, Titelblatt, Sendbrief, Vorrede und die ersten beiden Kapitel (Tafel 8-14),27 von der Asbacher28 und der Trierer Benediktinerregel29 aus dem 13. bzw. 15. Jahrhundert jeweils der Prolog und die Kapitel 1-3 (Tafel 15-20 bzw. 21-29). Soweit es möglich ist, werden in den im folgenden behandelten Beispielen Textstellen aus diesen Textteilen einbezogen; es wird dann in Klammem auf die Abbildungen verwiesen. Den Bibliotheken und ihren Leitern danke ich sehr für die Erlaubnis zur Wiedergabe der originalen Überlieferungen.
2. Sprachlich relevante Faktoren und Editionstheorie und Editionspraxis 2.1 Makrostrukturen und ihre Repräsentationstypen Die Abhängigkeit editionstheoretischer Aussagen vom gerade erreichten Erkenntnisstand und die damit zusammenhängende Editionspraxis der Normalisierung zeigt sich in besonderer Weise bei den Makrostrukturen und ihren Repräsentationstypen. Makrostrukturen sind "textinterne, aus Ausdrucks- und Inhaltsseite bestehende satzübergreifende Einheiten der langue, die gegenüber anderen satzübergreifenden Einheiten und hierarchisch gesehen kleineren Einheiten wie Satztypen eine distinktive Funktion besitzen und bei ihrem Auftreten mit ihnen zusammen größere Einheiten der langue, nämlich Textsorten, konstituieren, wobei sich je nach extern gewähltem Medium von Handschrift, Typoskript oder Druck
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Tafeln 1-7. Das Exemplar befindet sich in der Forschungsbibliothek Gotha (Schloß Friedenstein, Ο - 58 Gotha), Signatur: Chart. Β 437. Tafeln 8-14. Benutzt wurde das Exemplar der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg (Postfach 11 19 60, Schaezlerstr. 25, 89oo Augsburg 11), keine spezifische Signatur. Zum Druck vgl. (Paul Heitz — Fr. Ritter), Versuch einer Zusammenstellung der deutschen Volksbücher des 15. und 16. Jahrhunderts nebst deren späteren Ausgaben und Literatur. Hrsg. von Paul Heitz und Fr. Ritter. Straßburg 1924, Nr. 354. Tafeln 15-20. Benutzt wurde das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Postfach 150, Ludwigsstr. 16, 8000 München 34), Signatur: Cgm 91. Tafeln 21-29. Benutzt wurde das Exemplar der Stadtbibliothek Trier (Weberbach 25, 5500 Trier), Signatur: Hs 1256/587 4°.
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verschiedene Realisierungsformen ergeben können".30 Zu den Makrostrukturen gehören Initiatoren, Terminatoren, Kapitel, Absätze, Abschnitte, die in textsortenspezifischen Ausprägungen auftreten.31 Als solche sind sie erst seit dem Aufkommen der Textlinguistik in Deutschland nach 1964 Gegenstand von Untersuchungen; ihre Ermittlung bei Texten der Frühen Neuzeit ist noch jünger. Daher gibt es zu ihnen in der Editionstheorie kaum Aussagen. Lediglich bei W. Besch32 findet sich der Hinweis, daß "auch Rubrizierung, Absatztechnik, Zeilenanfang, Zeilenende und Majuskelverwendung" eine "Gliederungsfunktion im Text" haben bzw. haben können, doch führt dieser Hinweis nicht zu Konsequenzen in der Editionspraxis. Diese wird vielmehr im Hinblick auf die Makrostruktur des Absatzes von Übertragungen gegenwartssprachlicher Verhältnisse auf die Texte der Frühen Neuzeit bestimmt. Die Übertragungen beruhen auf einem individuellen Sprachgefühl, weil sich selbst Anweisungen zur Textgestaltung mit wenigen formalen Ausführungen begnügen.33 So versucht J. Bolte34 in seiner Magelone-Ausgabe nach der Gothaer Handschrift "die Übersichtlichkeit durch häufigere Absätze" zu erhöhen, obwohl er sonst die Handschrift "buchstäblich getreu" wiedergeben will. Damit führt er ein Gliederungsprinzip ein, das in der Handschrift nicht existiert und verstellt den Blick für drei grundlegende Aspekte: Erstens ist das entscheidende textgliedernde Prinzip in der Handschrift die Kapitelfolge, deren Textfunktion darin besteht, eine fortlaufende Kontinuität der Hand-
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Franz Simmler: Makrostrukturen in lateinischen und deutschen Textüberlieferungen der Regula Benedicti. In: Regulae Benedicti Studia. Annuarium Internationale 14/15,1985/1986 (recte 1988), S. 213-305, hier S. 213 f.; dort auch zu anderen Makrostruktur-Begriffen und zu weiterweisender Literatur. Zur Terminologie Franz Simmler: Die politische Rede im deutschen Bundestag. Bestimmung ihrer Textsorten und Redesorten. Göppingen 1978 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 245), S. 29-44. — Zur Begründung des Ansatzes von langue-Einheiten Franz Simmler: Zur Fundierung des Text- und Textsorten-Begriffs. In: Studia Linguistica et Philologica. Festschrift für Klaus Matzel zum sechzigsten Geburtstag überreicht von Schülern, Freunden und Kollegen. Hrsg. von Hans-Werner Eroms, Bernhard Gajek, Herbert Kolb, Heidelberg 1984, S. 25-50. Vgl. Anm. 25, S. 407. Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Hrsg. von der Dudenredaktion. Auf der Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln. 19. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 1986 (Duden. 1), S. 18 zur Abschnittsgliederung; Duden. Satz- und Korrekturanweisungen. Richtlinien für die Texterfassung. Mit ausführlicher Beispielsammlung. Hrsg. von der Dudenredaktion und der Dudensetzerei, neu bearbeitete Auflage von Friedrich Wilhelm Weitershaus. 5. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 1986 (Duden-Taschenbücher. 5), S. 15-19, 5861, 119. Johannes Bolte (Hrsg.): Die schöne Magelone, aus dem Französischen übersetzt von Veit Warbeck 1527. Nach der Originalhandschrift hrsg. von Johannes Bolte. Weimar 1894 (Bibliothek älterer deutscher Übersetzungen. 1), S. XLIII.
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lung zu sichern.35 In diese Textfunktion sind die 31 Kapitelüberschriften einbezogen: (1)
Wie eins mals ein Tornier geschach/ durch die Edeln freyherren/ des graffen/ auß beuelhe/ des selbigen/ (fol. 2V; vgl. Tafel 2)
Sie sind syntaktisch jeweils gleich strukturiert, bestehen aus einem selbständig gebrauchten modalen Adverbialsatz und enthalten allgemein bleibende temporale Angaben. Im Medium der Handschrift werden die Überschriften durch ein Merkmalbündel aus vorausgehender Leerzeile, aus einer 2-3-zeiligen Initiale beim ersten Wort und aus einer 1 «-2-zeiligen Initiale beim ersten Wort nach der Uberschrift hervorgehoben. Dieses Merkmalbündel bildet einen Repräsentationstyp, der in Opposition zu anderen zeitgleichen Repräsentationstypen in anderen Textsorten steht und der in die Makrostruktur der Kapitel integriert ist. Die Überschriften haben die Funktion, Spannung zu erzeugen, auf die Einlösung der Spannung im folgenden Kapitel zu verweisen und eine chronologische Abfolge des Erzählten zu sichern. Die Einführung von Absätzen nach gegenwartssprachlichen Prinzipien läßt es zweitens nicht zu, zeitgenössische Prinzipien der Absatzstrukturierung und ihre Funktionalität zu erfassen. So verzeichnet J. Bolte36 zwar in einem Anhang die Abweichungen des ersten Magelone-Drucks von 1535 durch Heinrich Steiner in Augsburg, geht aber auf die Realisierungsformen von Absätzen überhaupt nicht ein, obwohl solche vorhanden sind. D.h. daß das eigene Sprachgefühl bei der Textgliederung bedenkenlos über zeitgenössische Textgliederungsprinzipien gesetzt wird. Absatzgliederungen kommen im ersten Druck an insgesamt fünf Stellen vor: (2) (3) (4) (5) (6)
Vber das so dienet diß bfichlein auch dazä (Sendbrief; vgl. Tafel 9) Dann es ist kein tochter also hochgeborn auff erden/ (Kap. 10) Ο allmlchtiger ewiger gfittiger Gott/ ich beuilch dir sie inn deynen schütz vnd schirm/ (Kap. 16) / vnnd verbracht also ihr gebeth. Ο Allmlchtiger ewiger Got Jesu Christe/ (Kap. 19) Ο Mein Gott das ist vnnser sündenn schuldt/ (Kap. 19)
Die Absätze werden drucktechnisch durch den Einzug von zwei Buchstaben markiert. Sie haben jeweils die Textfunktion, einen neuen Erzählteil einzuleiten. Solche Erzählteile sind die Angabe einer weiteren Begründung für die Anfertigung des Prosaromans (2), ein Liebesgeständnis (3), eine Bitte um Schutz für die Geliebte (4), ein Gebetbeginn (5) und eine erneute Anrufung Gottes (6).
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Hierzu und zu den weiteren Ausführungen Franz Simmler 1990, vgl. Anm. 24, S. 173 f. Vgl. Anm. 34, S. 74 - 87.
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Der Verzicht auf die Aufnahme von Makrostrukturen kennzeichnenden Repräsentationstypen in den kritischen Apparat führt dazu, daß drittens weder die Geschichte einzelner Makrostrukturen geschrieben werden kann noch solche Entwicklungen nachgezeichnet werden können, die zu Veränderungen von Makrostrukturen, ihrer Kombinationen und schließlich daraus folgend zur Konstituierung neuer Textsorten bei gleicher Stofftradition führen.37 So läßt sich anhand der Magelone-Drucke zeigen, daß bei der Makrostruktur der Absätze zunächst das Erzählteile markierende Prinzip weiter ausgebaut und dann um ein chronologisches Prinzip erweitert wird, das jeweils neue Zeitabschnitte in der Chronologie des Erzählens hervorhebt: (7) (8)
Als sie nun gen hof kamen/ danckt jn der König (Kap. 11, 1548, Nr. 360)38 Da antwort jr der Ritter/ vnd sprach/ (Kap. 7, 1548, Nr. 360)
Die Zeitabschnitte können durch einen Temporalsatz in präpositiver Position (7) oder durch eine temporale Angabe in Erststellung (8) markiert sein. Die beiden Prinzipien zur Absatzmarkierung führen mit 33 Absätzen zu einer ausgebauten und zeitgenössischen Makrostruktur. Diese ist jedoch hierarchisch an die übergeordnete Makrostruktur des Kapitels gebunden, die die Gesamtstruktur des Prosaromans in höherem Maße prägt. Die Veränderung der Makrostruktur der Kapitel Ende des 16. Jahrhunderts führt zur Entstehung einer neuen Variante in der Tradition des Mageionenromans. Sie zeigt sich im Sammelband "Das Buch der Liebe" von Sigmund Carl Feyerabend aus dem Jahre 1587 und in einem Leipziger Druck von 1595 des Druckers Vincentius Strach und seines Verlegers Nicol Neriich und besteht aus einer Vergrößerung der Kapitelanzahl von 31 auf 42 Kapitel. Die Neugliederung entsteht dadurch, daß einzelne Kapitel, vor allem gegen Ende des Prosaromans, in mehrere aufgeteilt werden, um die Spannung zu steigern. In Bezug auf den Autorwillen, der im Autograph und im ersten Druck Steiners sichtbar wird, bedeutet dies zunächst eine Fortentwicklung der in diesen Textexemplaren enthaltenen Prinzipien zur Textgliederung, zugleich aber eine starke Entfernung vom Autorwillen. Es entsteht eine Variante, die zwar den Umgang des 16. Jahrhunderts mit einmal geschaffenen Texten zu charakterisieren vermag, die aber zugleich nicht mehr dem Autorwillen entspricht. Wenn eine Edition einen Text herstellen will, der den Autorwillen wiedergeben soll, braucht diese Variante nicht mehr berücksichtigt zu werden. Sie ist zwar für Fragen der Textrezeption und für die Ermittlung der Geschichte von Makrostrukturen weiterhin ein wichtiges Dokument, zur Textherstellung trägt sie jedoch nichts mehr bei. Aufgrund des besonderen Umgangs mit Texttraditionen im
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Dazu ausführlich und mit entsprechenden Textsortendefinitionen Franz Simmler 1991, vgl. Anm. 24. Die Angabe der Nummer bezieht sich auf Paul Heitz — Fr. Ritter, vgl. Anm. 27.
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16. Jahrhundert liegt rund 50 Jahre nach dem Erstdruck und rund 60 Jahre nach dem Autograph ein Textzeuge vor, der sich vom Autorwillen so weit entfernt hat, daß er im Variantenapparat nicht mehr aufgeführt werden muß. Sollte sich dieser Befund anhand der Magelonetradition auch bei anderen Überlieferungen bestätigen, ergibt sich eine systematische Möglichkeit, sog. 'Variantenhalden' im kritischen Apparat, die "keiner Disziplin so recht nützen",39 zu vermeiden: Im Variantenapparat werden nur noch solche Textzeugen verzeichnet, die für die Ermittlung des Autorwillens relevant sind. Textzeugen, die lediglich für die weitere Textrezeption wichtig sind, werden nur noch in der Einleitung mit exakter Angabe von besitzender Bibliothek und gegenwärtig gültiger Signatur aufgeführt, so daß an der Rezeption und an der Textgeschichte Interessierte die notwendigen Angaben vorfinden und sich Grundlagen für ihre Erkenntnisinteressen zusammenstellen können. Die Arbeit kann durch die Editoren zusätzlich erleichtert werden, wenn sie die von ihnen als besonders wichtig erkannten Textzeugen in einer Auswahl in einem Anhang diplomatisch wiedergeben. Die Textauswahl muß dabei so umfangreich sein, daß alle sprachlichen Merkmale einschließlich der Makrostrukturen erkannt werden können, und darf keine Auslassungen enthalten, sondern muß einen fortlaufenden Textausschnitt bieten. Aufgrund der Arbeiten am frühneuhochdeutschen Prosaroman dürften Initiatoren (Titelblatt, Begleitbriefe, Vorreden) und ein Kapitel, d.h. ca. 30-50 Druckseiten, ausreichend sein. Grundsätzlich andere Repräsentationstypen von Makrostrukturen zeigen sich in der deutschsprachigen Regula Benedicti-Tradition. Sie ergeben eine hierarchische Anordnung der Makrostrukturen Kapitel, Absatz und Abschnitt, die in textsortenspezifischer Weise die Textsorte der Ordensregel charakterisiert und die über 1200-jährige Tradition dieser Textsorte prägt.*1 Die Repräsentationstypen bestehen wie im friihnhd. Prosaroman aus Merkmalbündeln, die innerhalb jeder Handschrift klare Oppositionen mit mindestens einer differentia specifica bilden und so auf die distinktiven Einheiten der Makrostrukturen verweisen. In der Asbacher Benediktinerregel sind u.a. folgende Repräsentationstypen zu erkennen:41 (9)
Von d' munich geflachten. Ez ift offenbar daz vir geflxhte d' munich fin. (Am Rand als Kapitelzählung; Ε in Ez = l^-zeilige Initiale) (Kapitel 1,1: vgl. Tafel 17) (10) (Am Rand ) DEr abte der (Spatium bis zum Zeilenrand für die Überschrift, die aber nicht eingefügt wurde) wirdec ift uoifin dem klofter. (D in DEr = 2-zeilige Initiale) (Kapitel 2.1; vgl. Tafel 18)
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Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 400. Zur Geschichte und zu allen Repräsentationstypen Franz Simmler, vgl. Anm. 30, passim. Vgl. Tafeln 15-20 und den diplomatischen Abdruck von Prolog und Kapitel 1-3 bei Franz Simmler, vgl. Anm. 10, S. 48-54.
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.DA von fwenne iman enpfaeht (Spatium von acht Buchstaben bis < d der tot.>, das zur vorhergehenden Zeile gehört, was durch die dorthin geführte obere Schleife des Segmentierungszeichens signalisiert wird.) abtef namen. (D in DA = 2-zeilige Initiale) (Kapitel 2,11; vgl. Tafel 18) .Alliv dinch div er lert finen ivngern wid'wartic fin. (Kapitel 2,13; vgl. Tafel 18)
Die Merkmalbündel bestehen aus Überschriften und spezifischen Kombinationen interpungierender, orthographischer und hervorhebender Mittel. Die Makrostruktur der Kapitel wird durch ein Bündel aus Überschrift + Kapitelzählung + Initiale beim ersten Wort nach der Überschrift signalisiert (9). Gelegentlich kann eine Überschrift vergessen worden sein, doch weist der dafür freigelassene Platz auf sie hin (10). Manchmal folgt auf die Initiale beim gleichen Wort noch eine Majuskel (10). Bei der Makrostruktur der Absätze fehlen Überschrift und Kapitelzählung, dafür kommt als interpungierendes Mittel der Punkt auf der unteren Zeile in Verbindung mit dem orthographischen Mittel Initiale + Majuskel beim folgenden Wort und dem hervorhebenden Mittel eines Spatiums vor (II).42 Die Makrostruktur des Abschnitts, die aus ein bis zwei Gesamtsätzen besteht, wird durch die Kombination eines Punktes auf der unteren Zeile und einer Majuskel beim folgenden Wort signalisiert (12); das orthographische Mittel der Initiale tritt nicht auf, ebenso fehlen hervorhebende Mittel wie ein Spatiengebrauch.43 Die Textfunktion der Kapitel besteht darin, die Grundlagen und Regeln des Zusammenlebens der Mönche festzulegen. So zeigt das Kapitel 1 die verschiedenen Arten der Mönche auf, um aus ihnen die gewünschte auszuwählen (9). Das Kapitel 2 behandelt die Eigenschaften des Abtes (10). Die Textfunktion der Absätze besteht aus einem Zusammenwirken eines inhaltsseitig-identifizierenden Merkmals mit einer kommunikativ-differenzierenden Funktion. In (11) ist das inhaltsseitig-identifizierende Merkmal die Vorbildwirkung des Abtes, die kommunikativ-differenzierende Funktion besteht in der Hervorhebung. Die Textfunktion der Abschnitte zeigt sich in einer Spezifizierung des inhaltsseitig-identifizierenden Absatzmerkmals und der kommunikativ-differenzierenden Absatzfunktion; in (12) besteht die Spezifizierung von Vorbildwirkung und Hervorhebung in der Forderung, Lehren und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Obwohl C. Selmer44 in Anlehnung an F. Wilhelms Corpus-Ausgabe seinem Ziel "all normalizing of the texts has been carefully avoided" und "all the peculiarities
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43 44
Zu weiteren Repräsentationstypen und ihren Variationen Franz Simmler, vgl. Anm. 30, Tabelle 10, S. 264. Zu weiteren Typen Franz Simmler, vgl. Anm. 30, Tabelle 14, S. 285. Carl Selmer (Ed.): Middle High German Translations of the Regula Sancti Benedicti. The Eight Oldest Versions. Edited with an Introduction, a Latin-Middle High German Glossary and a Facsimile Page from Each Manuscript. Cambridge/Massachusetts/USA 1933. (Old German Prose Documents. 1), S. 11 und S. 129-166 zur Asbacher Benediktinerregel.
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of the handwriting have been faithfully reproduced" weitestgehend nahe kommt und auch Initialen verzeichnet, führt seine Editionspraxis dennoch nicht zur Erkenntnis der Makrostrukturen Absatz und Abschnitt, weil bei Analysen von handschriftlichen Befunden interpungierende, orthographische und hervorhebende Mittel jeweils getrennt behandelt wurden,45 ohne ihr textinternes Zusammenwirken in Repräsentationstypen und die so markierten distinktiven Einheiten zu erkennen. Die in C. Selmers Edition durch die Initialenwiedergabe enthaltene Information geht in der Edition von E. Petri44 völlig verloren. Die Editorin erwähnt zwar "die zweizeiligen Initialen, die zu Beginn des deutschen Kapiteltextes und bei Absätzen innerhalb einiger Kapitel stehen", führt sie aber in ihrer Textwiedergabe nicht mehr auf, weil sie "von einer diplomatischen Übertragung" absieht, da es ihr Ziel ist, den Text "nicht nur kundigen Handschriftenlesern vorzulegen, sondern allen, die sich mit Inhalt und Sprache beschäftigen wollen".47 Die Wiedergabe der Initialen hätte aber die Lesbarkeit des Textes weder für Wissenschaftler noch für weitere Adressaten in irgendeiner Weise negativ beeinflußt,48 sondern hätte zur Erkenntnis von Übereinstimmungen im Absatzgebrauch im Vergleich zu den von C. Selmer edierten Textexemplaren der Regula Benedict! führen können.4'
2.2 Syntaktische Strukturen und Interpunktion Wie bei den Makrostrukturen ist auch bei der Wiedergabe der Interpunktion die Abhängigkeit vom Erkenntnisstand offensichtlich. Während aber Hinweise auf Makrostrukturen häufig überhaupt nicht erkannt werden, sind den Editoren dagegen die anderen interpungierenden Mittel in Texten der Frühen Neuzeit durchaus bekannt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, greifen sie jedoch bedenkenlos in die Interpunktion ein. Auf diese Weise wird es einmal unmöglich, zeitgenössische Interpunktionsregeln zu erkennen und die Geschichte der Interpunktion bis zu der in der Gegenwartssprache üblichen zu schreiben. Zum anderen werden durch die Übertragungen gegenwärtig gültiger Interpungierungen auf
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Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 1979 (Grundlagen der Germanistik. 24), S. 30, 102, 214-218, 237, 246 f. Edda Petri: Eine mittelhochdeutsche Benediktinerregel. Hs. 1256/587 (Anfang 15. Jh.) Stadtbibliothek Trier. Edition, Lateinisch-Mittelhochdeutsches Glossar, MittelhochdeutschLateinisches Glossar. Hildesheim 1978 (Regulae Benedicti Studia. Supplementa. 6). Edda Petri, vgl. Anm. 46, S. 5, 9. Vgl. die gemeinsamen Textteile in der Edition Edda Petris, vgl. Anm. 46, S. 15-25 mit der diplomatischen Wiedergabe bei Franz Simmler, vgl. Anm. 10, S. 80-88 und den Tafeln 21-29. Vgl. Tafeln 15-20 mit Tafeln 21-29; ferner die Ausführungen zu der Makrostruktur des Absatzes in Franz Simmler, vgl. Anm. 30, S. 262-276 mit Tabelle 10, dort unter den Siglen JJ und PP.
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historische Überlieferungen Auswertungen syntaktischer Strukturen erschwert und in einigen Fällen sogar unmöglich gemacht. Letzteres gilt besonders für die Ermittlungen von Gesamtsatzstrukturen und ihren Textfunktionen; aber auch Stellungsregularitäten von Teilsätzen innerhalb von Gesamtsätzen sind so nur durch die Brechung von Editorenentscheidungen zu erfassen. Erschwert werden Aussagen zu den Serialisierungsregeln von Satzgliedern und Satzgliedteilen innerhalb von Teilsätzen. Der Editionspraxis wird durch einzelne editionstheoretische Ausführungen Vorschub geleistet. So referiert W. Besch50 zunächst die "Editionsgrundsätze für die deutschen Schriften Martin Bucers", durch die die Interpunktion "der heute gebräuchlichen möglichst angeglichen", Satzgefüge jedoch, "soweit tunlich, beibehalten" werden. Entsprechend werden im textkritischen Apparat "Unterschiede der Interpunktion" nicht berücksichtigt. Anschließend nimmt W. Besch ausführlich zu diesen Grundsätzen Stellung.51 Obwohl er weiß, daß "gravierende Sinnentstellungen durch moderne Interpunktion vorkommen können", spricht er sich für eine "Angleichung an die heute gebräuchliche Interpunktion" aus, die dazu führen solle, den "Sinn der Textvorlage adäquat" wiederzugeben. In die gleiche Richtung weist das Argument einer besseren Lesbarkeit "für einen weiteren Benutzerkreis", wobei er unter Lesbarkeit "vor allem leichtere und präzisere Sinnerfassung" versteht.52 Die Argumentation hat theoretische und praktische Schwächen. Theoretisch unzureichend ist der Hinweis, daß es bei der Interpunktionsangleichung um bessere Sinnerfassung gehe. Es geht bei Interpungierungen nicht um eine generelle Erfassung eines Textsinns, sondern um die Erfassung von Satzinhalten und syntaktischen Strukturen, die in spezifischer Weise am Aufbau eines Textsinns beteiligt sind. Wenn für die Erschließung des Textsinns bei Autoren wie Heine, Kafka und Kleist der Interpunktion und den durch sie signalisierten syntaktischen Strukturen eine spezifische Funktion zuerkannt wird,53 dann kann eine solche Funktion bei anderen Autoren und anderen, auch nicht-literarischen Textsorten nicht
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Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 395-397. Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 406 f. Ebenso Empfehlungen, vgl. Anm. 25, S. 306 Punkt 5.8. Dazu Marianne Bockelkamp: Heine et 'sa' ponctuation. In: Edition und Interpretation/ Edition et Interpretation des Manuscrits Litteraires. Akten des mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Centre National de la Recherche Scientifique veranstalteten deutsch-französischen Editorenkolloquiums Berlin 1979. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt/M., Las Vegas 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte. 11), S. 182-193; Hans Böhm: "Bey einem Buche wie dieses, sollte dem Drucker jedes Comma heilig seyn." Zur Edition der Lyrik in der Heine Säkularausgabe. Ein Arbeitsbericht, Zeitschrift für Germanistik 2, 1981, S. 88-95; Malcolm Pasley: Zu Kafkas Interpunktion. In: Euphorion 75, 1981, S. 474-490; Helmut Sembdner: Kleists Interpunktion. Zur Neuausgabe seiner Werke, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 6, 1962, S. 229-252.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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einfach und ohne Nachweis54 als irrelevant erklärt werden. Die syntaktischen Strukturen sind am Aufbau eines Textsinns ebenso beteiligt wie Makrostrukturen und lexikalische, morphologische und phonologische Merkmale. Ihre spezifische Leistung wird aber nur erfaßt, wenn ihre textinternen Oppositionen ermittelt und nicht durch Übertragungen gegenwärtiger Interpungierungen verdeckt werden. Das praktische Argument einer besseren Lesbarkeit durch die "Überführung eines ungewohnten (befremdlichen) Redegliederungssystems" in ein vertrautes55 erweist sich als Scheinargument, weil es bei lexikalischen und morphologischen Unterschieden nicht zu Angleichungen an die Merkmale der Gegenwartssprache führt. Es beruht vielmehr auf einem Desinteresse an syntaktischen Untersuchungen unter Einschluß der Interpunktion. Dies zeigt sich einmal in der stereotypen Wiederholung der Forschungsmeinung, daß sich in den Interpunktionszeichen der Texte der Frühen Neuzeit "das ältere mehr rhetorische System" zeige, das sich "gegen das neuere mehr grammatische" abhebe. Zum anderen zeigt es sich in der Auffassung, daß die meisten Editionsbenutzer "an der inhaltlichen Aussage und nicht an der Geschichte der Interpunktion" interessiert seien. Hier fehlt ein Gespür dafür, daß die syntaktischen Strukturen in ihrer Spezifik nicht in einem beliebigen Umfang und einer beliebigen Abfolge zur Konstituierung einer Textsorte und zum Aufbau eines Textsinns beitragen. Das fehlende Interesse an syntaktischen Fragestellungen zeigt sich schließlich in dem Vorschlag, denjenigen, der "Interpunktion und damit auch syntaktische Segmentierung älterer Texte erforschen" wolle, "im Sinne einer vernünftigen Interessenabwägung" auf "die Vorlagentexte selbst" zu verweisen.54 Ein solcher Vorschlag ist unakzeptabel und auch ökonomisch nicht zu vertreten. Von einem syntaktisch interessierten Benutzer kann nicht verlangt werden, daß er die Arbeit des Editors wiederholt und die gleichen Kosten der Materialbeschaffung wie dieser trägt; durch einen solchen Vorschlag stellt ein Editor seine Arbeitsweise selbst in Frage. Selbst wenn einem diplomatischen Abdruck im Hinblick auf die Edition aus im einzelnen zu begründenden Aspekten nicht gefolgt wird, muß eine Edition so viele zeitgenössische syntaktische Informationen vermitteln, daß ein an Syntax interessierter Benutzer, aus dem bereits bearbeiteten Material für seine Erkenntnisinteressen gezielt auswählen und notfalls für weiterreichende Untersuchungen gezielt eigene Vorlagen bestellen kann. Die editionstheoretischen Ausführungen zu syntaktischen Strukturen und ihren Interpunktionen haben in der Editionspraxis ihren Niederschlag gefunden. So stellt J. Bolte57 ganz selbstverständlich fest, daß "nur die Interpunktion" bei seiner
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55 54 57
Zur Notwendigkeit eines Nachweises auch bei Interpungierungen Hans Werner Seif fert, vgl. Anm. 19, S. 54, 108. Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 406. Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 406. Vgl. Anm. 34, S. XLIII.
Franz Simmler
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Textwiedergabe "modernisiert" sei, und E. Petri58 paßt "die Interpunktion weitgehend heutigen Normen" an, "um das Textverständnis zu erleichtern", hält sich also an das oben angeführte editionspraktische Argument. Beide Editionen verstellen den Blick für zeitgenössische Interpungierungsregeln, die sich aus textinternen Oppositionen gewinnen lassen. Dies soll an ausgewählten Beispielen demonstriert werden, bei denen zunächst die Edition wiedergegeben wird, der dann der handschriftliche Befund folgt. Bei der Magelone-Überlieferung wird in einzelnen Fällen auch der Erstdruck einbezogen:59 (13)
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[3a] Die freyherren vnd Edeln des lands hielten eins tags einen Tornier, in welchem der Petter den preys erlanget vor allen andern, wie woll vill frembder vnd geübter Ritter auch dar bey waren, welche all nach gehaltem Tomier von dem graffen geehret wurdenn von wegen feines Sons. Dan fein gerucht weyt erichol], wie feins gleichen nicht were, vnd redten alio mancherley vntter ein ander. Infonderheit ließ fich einer vernemen von der Schonen Magelonna, des konigs zfl Naples tochter, deren gleichen nicht folt gefunden werden von fchonheit vnd tugent; es vbten fich auch vill jn ritterfpilen jr domit verhoffendt zugefallen. Vnd es begäbe [3b] fich eins tags, do kam einer zfl dem Peter vnd faget jm alfo: "Ir folten wandern vnd die weit fuchen vnd euch vben in ritterfpilen, domit ir weitter bekant wurden; onzweyfell, fo ir mir alfo volgeten, wurden Ir einen fchonen bulen vberkommen." Da folchs der Peter vernam, die weyl er auch vor von der fchonen Magelonna gehört, fetzet er jm felber fur in feinem edeln hertzen, fo er mochte laub haben von vatter vnd mutter, zfl volgen vnd die weit zfl erfaren. (J. Bolte 1894, S. 4) Die freyherS vnd Edeln/ dec lando hielten eino tage einen Tornier/ in welchem der Petter den preyo erlanget/ vor Stilen andern/ wie woll vill frembder/ vnd geiibter Ritter auch dar bey waren/ welche all/ nach gehaltem Tornier/ von dem graffen geehret wurdenn/ von wegen feineo Sons / dan fein gerächt weyt erfcholl/ wie feino gleichen nicht were/ vnd redten alfo mancherley vntter ein [ZR] ander/ Infonderheit ließ sich einer verneine/ von der Schonen Magelonna/ dea konigo zu Naples tochter/ deren gleichen nicht folt gefunden werden/ von fchonheit und tugent / Eo vbten fich auch vill jn ritterfpilen/ jr damit ver* hoffendt zu gefallen/ Vnd eo begäbe [3b] fich eino tags / do kam einer zfl dem Peter/ vnd faget im alfo/ Ir folten wandern/ vnd die weit fuchen/ vnd euch vben/ in ritterfpilen [ZR] damit jr weitter bekant wurdet/ onozweyfell/ fo ir mir alfo volgeten/ wurden jr einen fchonen bulen vber*komen/ Da folcho der peter ver[ZR]nam/ die weyl er auch vor/ von der fchonen Magelonna gehört/ fetzet er jm selber f ü r / in feine edeln hertzen/ fo er mochte laub haben/ vö vatter vnd Mutter/ zü volgen/ vnd die weit zu erfaren/ (fol 3r, 3V; vgl. Tafel 2, 3)
Vgl. Anm. 46, S. 9. In eckigen Klammern stehen Zusätze der Herausgeber, bei Johannes Bolte Hinweise auf die Manuskriptseiten; in der diplomatischen Wiedergabe ist ZR = Zeilenrand, * = explizit vorhandenes Trennungszeichen.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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Im Hinblick auf Gesamtsatzstrukturen ist festzustellen, daß J. Bolte in zwei Fällen gegen den handschriftlichen Befund Gesamtsatzbegrenzungen vornimmt (Zeilen 4, 8). In drei Fällen (Zeilen 6, 9, 12) legt er die Gesamtsatzbegrenzungen in Übereinstimmung mit der handschriftlichen Überlieferung fest. An allen Stellen kennt die Handschrift jedoch nur eine Interpungierungsnorm, nämlich die Verbindung von Virgel + Majuskelgebrauch beim folgenden Wort, die textintern eindeutig auf Gesamtsatzgrenzen hinweist und eine Opposition zum Typus Virgel + Minuskelgebrauch bildet. Da der Typus Virgel + Majuskel in der Gegenwartssprache nicht existiert, wird er von J. Bolte durch den gegenwartsprachlichen Typus Punkt + Majuskel ersetzt. Eine bessere Lesbarkeit wird dadurch jedoch nicht erreicht. Gravierender ist aber der Eingriff in die vom Autor gewollte syntaktische Struktur: So macht J. Bolte aus dem ersten Gesamtsatz der Handschrift, der aus sieben Teilsätzen besteht, zwei Gesamtsätze aus vier bzw. drei Teilsätzen (Zeile 1-6). Aus den folgenden beiden Gesamtsätzen aus jeweils zwei Teilsätzen (Zeilen 6-9) macht J. Bolte einen aus vier Teilsätzen aufgebauten Gesamtsatz, indem er das in der Handschrift überhaupt nicht vorkommende Interpunktionszeichen des Semikolons (Zeile 8) einführt. Es ist offensichtlich, daß auf diese Weise keine zeitgenössischen Gesamtsatzstrukturen erkannt werden können und Aussagen über die Anzahl der Teilsätze, ihre Reihenfolge, ihre Hierarchie und ihr Zusammenwirken beim Aufbau parataktischer, hypotaktischer und parataktisch-hypotaktischer Strukturen nur noch durch die Brechung der Editorentscheidungen möglich sind. Die Entscheidung des Editors verstößt in den beiden angegebenen Fällen zwar gegen die Gesetzmäßigkeit der Handschrift, sie ist jedoch nicht so willkürlich, daß sie zu abwegigen syntaktischen Strukturen führt. Dies liegt daran, daß es sich um parataktisch-hypotaktische Gesamtsatzstrukturen handelt und die unterschiedlichen Interpungierungen an den Stellen erscheinen, an denen innerhalb des Gesamtsatzes ein weiterer Hauptsatz auftritt, vor dem prinzipiell verschiedene Interpungierungen möglich sind. Entscheidend kann aber nicht das gegenwartssprachlich geprägte Sprachgefühl des Editors sein, sondern der sich in textinternen Oppositionen zeigende Wille des Autors. Niemandem fiele es ein, die umfangreichen Gesamtsätze in den Werken Thomas Manns in mehrere einzelne Gesamtsätze aufzulösen; bei Texten der Frühen Neuzeit scheinen keine Bedenken zu existieren. Unter syntaktischen Aspekten erweisen sich die sog. Lesehilfen J. Boltes nicht nur als sprachwissenschaftlich unhaltbar, sondern sogar als Eingriff in den Satzsinn und zum Teil in den Textsinn. So wird mit dan (Zeile 4) ein kausaler Teilsatz angeschlossen, der eine Begründung für die vorher genannte große Anzahl der Turnierteilnehmer liefert und die überragende Stellung Peters zusätzlich innerhalb eines Gesamtsatzes unterstreicht. Der Zusammenhalt dieses Gesamtsatzes wird noch dadurch erhöht, daß vor dem Verbum finitum redten (Zeile 5) das Subjekt vill frembder/ vnd geübter Ritter (Zeile 2-3) aufgrund der Vorerwähntheit elliptisch ausgelassen ist und solche Erscheinungen der Elliptizität vorwiegend innerhalb von Gesamtsätzen vorkommen. Mit Infonderheit (Zeile 6) beginnt ein neuer Gesamt-
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satz, der die Gestalt Magelonas besonders hervorhebt. Beide Hauptfiguren werden in den beiden ersten Gesamtsätzen in ihrer Ausnahmestellung aufeinander bezogen; damit wird eine Personenkonstellation aufgebaut, die bereits in den Initiatoren vorhanden war und die die ganze Handlungsstruktur des Textes bestimmt. Dazu leistet die Syntax durch die Gesamtsatzstrukturen einen Beitrag, der durch Editoreneingriffe teilweise verdeckt wird. Die Vereinheitlichung der Interpungierungen durch J. Bolte führt ferner dazu, daß ein weiterer Typus zur Markierung von Gesamtsatzgrenzen überhaupt nicht erkannt werden kann: (15) !"Da folches Fetter von vatter vnd mfltter gehört, danckt er jnen beyden auffs vnderthenigst. [Absatz] In dem nam in fein fraw mfltter auff ein ortt vnd gab im drey koftlich vnd hupfche ringe, welche eins greifen gelds gefchatzt waren. Alls er die [7a] felbigen empfangen, (J. Bolte 1894, S. 6) (16) :Da folcheo Petter von vatter und Mfitter gehört/ danckt er jnen beyden auffo vnder[ZR]thenigft: In dem nam in fein fraw Mfltter/ auff ein ortt/ vnd gab im drey koftlich/ vnd hupfche ringe/ welche eino groffen geldo gefchatzt waren: Alle er die [7*] felbigen empfangen/ (fol. 6", T; vgl. Tafel 6)
Es handelt sich um den Typus Kolon + Majuskel, der von J. Bolte durch den Typus Punkt + Majuskel wiedergegeben wird. Manchmal verbindet er damit eine Absatzmarkierung (15), obwohl textintern keine Opposition vorhanden ist (16). Wiederum ist ein Typus zu erkennen, den es in der Gegenwartssprache nicht gibt, in der das Kolon primär eine andere Funktion erhalten hat. Innerhalb der Handschrift kommt das Kolon noch in einem anderen Merkmalbündel mit anderer distinktiver Funktion vor: (17) .Vnnd es begäbe fich eins tags, das er [4a] fandt vatter vnd mfltter bey ein ander allein fitzen, gedachte er, da vmb laube zfl bitten, fiell auff beyde feine knye vnd fprach zfi jnen: "Gnediger her vatter, auch Gnedige fraw Mfltter, Ich bitte euch vnderthenigklich mir alls ewerm gehorfamen Son zflzflhoren. Ich fich [...] (J. Bolte 1894, S. 4) (18) /Vnnd ee begäbe fich eino tago/ dao er [41] fandt vatter vnd Mfltter bey [ZR] ein ander allein fitzen/ gedachte er/ da/ vmb laube zfl bitten/ fiell auff beyde feine knye/ vnd fprach zfl jnen: Gnediger her vatter/ auch Gnedige fraw Mfltter/ Ich bitte euch vnderthenigklich/ mir alio ewerm gehorfafflC Son zfl zflhoren/ Ich fich [...] (fol. 3V, 4r; vgl. Tafel 3)
Das Merkmalbündel besteht aus verbum dicendi + Kolon + Majuskel und dient der Einleitung der direkten Rede, die wegen der Valenz des Verbs als Ganzes als Ergänzung des übergeordneten verbum dicendi zu werten ist. Durch das nie
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fehlende verbum dicendi ergibt sich eine klare Opposition zum Typus Kolon + Majuskel und eine darauf gegründete Funktionsdifferenzierung. Die direkte Rede wird ferner durch einen Pronominawechsel und kontaktbezogene Parenthesen signalisiert; die von J. Bolte eingeführten Anführungszeichen sind zur Identifizierung einer direkten Rede in Texten der Frühen Neuzeit nicht notwendig. Zur Kennzeichnung einer direkten Rede wird handschriftenintern noch ein zweiter Repräsentationstyp, nämlich verbum dicendi + Virgel + Majuskel, verwendet (Beispiel 14, Zeile 10). Beide Typen sind textintern in etwa gleich häufig und repräsentieren zwei zeitgenössische und funktional eindeutige Möglichkeiten zur Markierung einer direkten Rede. Ihre Rückführung auf einen einzigen und dazu noch gegenwartsprachlichen Typus verhindert die Erkenntnis von systematischen frühnhd. Interpungierungsregeln. In einzelnen Fällen führt die Verwendung gegenwartssprachlicher Interpungierungen sogar dazu, Gebrauchsnormen des Frühnhd. zu verletzen: (19)
. Saget der Peter dem herolt: "Du folt fagen dem konig, deinem herrn, vnd jn bitten von meinen wegen, er wolle kein vngefallen dar ab haben, Γο ich jm meinen namen zä wiffen verhalte. Dan ich hab es gelobet, keinem menfchen zä bekennen, wie ich heiffe. Doch [10b] Tage dem konig alio, ich fey ein armer edelman auß Franckreich vnd fäche die weit, von junckfrawen und frawen preys vnd lob zfi erlangen." Alio kam der herolt widder zä dem konig vnd zeiget jm an, was er von Peter gehört vnd erfaren hatte. (J. Bolte 1894, S. 9)
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: Saget der Peter dem herolt/ Du folt fagen dem konig/ deine hern/ vnd jn bitten/ von meinen wegen/ er wolle kein vngefallen dar ab haben/ fo ich jm meine name zä wiffen verhalte/ dan Ich hab eo gelobet keine menfchen zä bekenne/ wie jch heiffe/ doch [ΙΟ*] fage dem konig alfo: Ich sey ein armer Edelman/ auß franckreich/ vnd fuche die weit/ von Iunckofrawen vnd frawe/ preyo vnd lob zu erlangen/ Alfo kam der herolt widder/ zu dem konig/ vnd zeiget jm an/ wao er von peter gehört/ vnd erfaren hatte: (fol. 101, 10v)
So führt J. Bolte bei einer indirekten Rede innerhalb einer direkten Rede die gegenwartssprachliche Regel Komma + Kleinschreibung ein, während textintern als Gebrauchsnorm verbum dicendi + Kolon + Majuskel vorhanden ist. Im vorliegenden Textexemplar werden also direkte und indirekte Rede in gleicher Weise interpungiert; ihre Unterscheidung erfolgt durch die finite Verbform im Indikativ ( f o l t ) bzw. Konjunktiv (fey) und noch nicht - wie in der Gegenwartssprache - durch die Interpunktion. Die direkte Rede wird von J. Bolte gegen den handschriftlichen Befund in drei Gesamtsätze aufgeteilt (Dan, Doch). Dadurch erhalten die einzelnen Teile ein größeres Gewicht, als ihnen in der Handschrift zukommt, in der die ganze direkte Rede nur aus einem Gesamtsatz besteht und die Funktion hat, den König zu beruhigen.
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Die bereits aufgeführten Beispiele reichen aus, die Interpungierungsregeln bei Teilsätzen zu ermitteln, die zu Gesamtsätzen verbunden sind. In (14) werden die Teilsätze durch den Typus Virgel + Minuskel voneinander abgegrenzt und zugleich von den Repräsentationstypen für Gesamtsätze abgehoben. J. Bolte (13) ersetzt einmal diesen Typus durch denjenigen aus Komma + Kleinschreibung und führt den Typus Semikolon + Kleinschreibung (Zeile 8) gegen den handschriftlichen Befund ein. Da J. Boltes zwei Typen nur einem Typus in der Handschrift entsprechen und zwei verschiedene Funktionen in der Gegenwartssprache besitzen, wird ein unbegründeter Eingriff in den Satzinhalt und weiter in den Textsinn vorgenommen. Während sich J. Bolte bei der Einführung des Typus Komma + Kleinschreibung bei hypotaktischen Strukturen mit Nebensätzen, die durch Konjunktionen oder Pronomina eingeleitet werden, noch an der Handschrift orientiert, ist dies bei parataktisch mit der Konjunktion vnd verbundenen Teilsätzen nicht mehr der Fall. In Beispiel (13 f.) läßt er bei gereihten Hauptsätzen (Zeile 9, 10 (2x)) und gleichrangigen Nebensätzen (Zeile 15) das Komma weg, obwohl in der Handschrift konsequent der Typus Virgel + Minuskel erscheint (vgl. weiter Beispiele 16, 18, 20). Er folgt damit einer gegenwartssprachlichen Norm, die bei gereihten Hauptsätzen und fehlendem Subjekt im zweiten Teilsatz eine Kommasetzung untersagt, verkennt aber die frühnhd. Gebrauchsnorm, die die Teilsätze in jedem Fall durch den Typus Virgel + Minuskel begrenzt, ob eine Ellipse des Subjekts aufgrund einer Vorerwähntheit vorliegt oder nicht. Die konsequente Kennzeichnung der Teilsätze in der handschriftlichen Überlieferung gilt auch für Infinitiv- und Partizipialsätze, während sich J. Bolte - selbst nach gegenwartssprachlichen Normen - inkonsequent verhält. So setzt er beim Infinitivsatz, der durch von junckfrawen eingeleitet wird (19), ein Komma, nicht aber bei dem durch mir alls eingeleiteten (17). Beim Partizipialsatz, der mit jr domit beginnt (Beispiel 13, Zeile 8), verzichtet er ebenfalls auf eine Interpungierung. Noch stärker als bei Gesamtsatz- und Teilsatzstrukturen weicht J. Bolte von den Interpungierungen innerhalb der Teilsätze ab, die Satzglieder und Satzgliedteile kennzeichnen. So läßt er in Beispiel (13 f.) nach den Verbformen erlanget (Zeile 2), wurdenn (Zeile 4), vememen (Zeile 6), werden (Zeile 7), vben (Zeile 10), /etzet ... für (Zeilen 13 f.) und haben (Zeile 14) keine Interpungierung zu, obwohl in der Handschrift konsequent eine Virgel gesetzt ist. Diese Virgel hat jedoch eine Funktionalität, denn sie kennzeichnet ein aus der Satzklammer ausgeklammertes Satzglied. Alle Ausklammerungen haben zunächst die syntaktische Funktion, das betreffende Satzglied besonders hervorzuheben. Sie besitzen darüber hinaus jedoch noch eine textuelle Funktion. Diese zeigt sich besonders dann, wenn der Nukleus des ausgeklammerten Satzgliedes - wie bei Magelonna (Zeile 6) — durch ein post-
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nukleares Genitivattribut und einen Attributsatz erweitert wird. Die Ausklammerung und die damit verbundenen Attribuierungen erlauben eine Linearität der Informationsvermittlung, die bei einer Aufnahme des Satzgliedes in die Satzklammer nicht zu erzielen wäre. Gelegentlich werden durch Virgeln auch andere Satzglieder innerhalb der Teilsätze markiert, ohne daß dies in J. Boltes Edition verzeichnet ist. Die Virgeln erscheinen vor den Satzgliedern von der fchonen Magelonna (Beispiel 14, Zeile 13), auff ein ortt (16) und ζύ dem konig (20) bzw. nach den Satzgliedern da (18) und von Iunck*frawen vnd fräwe (20), d.h. sie heben das letzte bzw. erste Satzglied innerhalb eines Teilsatzes besonders hervor. Sowohl für Ausklammerungen als auch für erste bzw. letzte Satzglieder innerhalb von Teilsätzen kennt die Gegenwartssprache keine Interpungierungen, während solche im Frühneuhochdeutschen vorhanden sind. Eine Übertragung gegenwartssprachlicher Interpungierungsregeln auf Texte der Frühen Neuzeit läßt in diesen vorhandene Gebrauchsnormen unbeachtet. Innerhalb der Satzglieder finden sich Interpungierungen mit Hilfe der Virgel bei einzelnen Satzgliedteilen. So werden durch vnd verbundene pränukleare Adjektivattribute in vill frembder/vnd geübter Ritter (14) bzw. in drey koftlich/ vnd hüpfche ringe (16) durch eine Virgel verbunden. Eine solche Regel ist in der Gegenwartssprache nicht vorhanden, aber im Frühnhd. - wie bei der Reihung gleichrangiger Teilsätze — erkennbar. In gleicher Weise werden durch vnd verbundene substantivische Nuklei durch eine Virgel zusätzlich als gereiht gekennzeichnet, wenn die Nuklei pränukleare Attribute bei sich haben: (21) (22)
, es werd ewer ehr vnd mein groffer nutze fein. (J. Bolte 1894, S. 5) / eo werd ewer ehr/ vnd mein groffer nutze fein/ (fol. 4', vgl. Tafel 3)
Nur gelegentlich erscheint die Virgel vor vnd, wenn die Nuklei keine Attribute besitzen: (23) (24)
, damit er laub von vatter vnd mutter erlangte, (J. Bolte 1894, S. 4) / damit er laub von vatter/ vnd Mutter er*langete/ (fol. 3V; vgl. Tafel 3)
Viel häufiger fehlt in solchen Fällen die Virgel (vgl. Beispiel 14, Zeilen 1, 8, 14).
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Werden mehrere Nuklei unter Einschluß sog. Doppelformen60 gereiht, wird die Aufzählung - anders als in der Gegenwartssprache - durch eine Virgel abgeschlossen, eine Gebrauchsnorm, deren Systemhaftigkeit von J. Bolte nicht erkannt wird: (25)
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. So haitu gott lob von reichthumb vnd ehren in waffen vnd ritterfchafft, adelheit, freuntlicheitt und fchonheit fo gnug als kein Furft difer weit; (J. Bolte 1894, S. 5) / So haftu gott lob/ von reichthumb vnd ehren/ in waffen vnd ritterafchafft/ adelheit/ freuntlicheitt/ vnd fchonheit/ fo gnug/ alo kein Furft difer weit/ (fol. 5r, vgl. Tafel 4) , hatte der konig fampt feinem gemahell vnd tochter, auch andern junckfrawen vnd frawen zfl morgen geffen. (J. Bolte 1894, S. 7) / hatte der konig fampt feine gemahell/ vnd tochter/ auch andern Iunckfrawen vnd frawen/ zu morgen geffen: (fol. 8")
Bei der Aufzählung von drei oder mehr Nuklei wird der letzte Nukleus mit vnd angeschlossen, jedoch steht vor dieser Konjunktion — anders als in der Gegenwartssprache - gewöhnlich die Virgel (26). Bei kontaktbezogenen Parenthesen, deren Nuklei attributiv erweitert und durch vnd verbunden sind, wird - wie in Beispiel (22) — vor die Konjunktion eine Virgel gesetzt: (29) (30)
. Darvmb, mein allerliebfter herr vatter vnd fraw [4b] Mätter, (J. Bolte 1894, S. 5) / Darvmb mein allerliebfter her vatter/ vnd fraw [4*] Mätter/ (fol. 4r, 4V; vgl. Tafel 3, 4)
Wenn die Konjunktion fehlt, zeigt sich die Virgel ebenfalls (Beispiel 18). In Übereinstimmung mit der gegenwartssprachlichen Norm setzt J. Bolte in diesem Falle ein Komma, während er es vor vnd wegläßt und das Erkennen einer relativ einheitlichen Gebrauchsnorm des Frühneuhochdeutschen verhindert. Eine Virgel läßt sich schließlich noch bei postnuklearen Genitiv- und Präpositionalattributen erkennen. Entsprechende Genitivattribute sind dea landa (Beispiel 14, Zeile 1) und dea koniga zu Naplea tochter (14, Zeile 7); ein Präpositionalattribut wird von auß franckreich (20) gebildet. Insgesamt wird ein Interpunktionssystem im Frühnhd. sichtbar, das sich zwar in einigen Gebrauchsnormen von den Interpungierungsregeln der Gegenwartssprache
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Dazu Werner Besch: Zweigliedriger Ausdruck in der deutschen Prosa des 15. Jahrhunderts, Neuphilologische Mitteilungen 65 (1964), S. 200-221; Werner Besch: Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. München 1967 (Bibliotheca Germanica. 11), S. 336.
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unterscheidet, wie dieses aber syntaktischen und nicht etwa rhetorischen Prinzipien folgt. Es wurde bisher wegen der vorgeführten Editionspraxis, wegen vorschneller Urteile im Hinblick auf seine sog. Ungeregeltheit, wegen der überwiegenden Berücksichtigung von Grammatikeraussagen im Hinblick auf von ihnen erkannte, vermutete oder gewünschte Normen und wegen eines Verzichts auf empirische Analysen nicht entdeckt. Als hinderlich erwies sich auch die isolierte Betrachtung der Interpungierungen, während sie doch erst in Merkmalbündeln zusammen mit orthographischen Merkmalen und lexikalischen und morphologischen Mitteln eine distinktive Funktion besitzen. Selbstverständlich gibt es auch schlecht oder gar nicht interpungierte Textzeugen, doch die vorhandenen Textzeugen mit einer textinternen Systematik müssen in Editionen so zugänglich gemacht werden, daß eine Ermittlung der Normen Textexemplar für Textexemplar, Textsorte für Textsorte, Schreibdialekt für Schreibdialekt und Zeitabschnitt für Zeitabschnitt möglich wird und eine Geschichte der deutschen Syntax unter Einschluß der Interpunktionsgeschichte geschrieben werden kann. Eine besondere Rolle können dabei Texttraditionen spielen, die über mehrere Jahrhunderte reichen, in den Medien Handschrift und Druck vorkommen und eine größere regionale Verbreitung besitzen, weil mit ihrer Hilfe wechselnde Interpungierungsnormen bei gleicher Funktionalität leichter erkannt werden können. Eine Gegenüberstellung von Handschrift und Druck ist bei der MageloneÜberlieferung möglich, da die Übersetzung Veit Warbecks die Vorlage für den ersten Druck Heinrich Steiners aus dem Jahre 1535 bildete. Da anhand des ebenfalls von Steiner hergestellten Drucks von 1537 bereits eine umfangreiche syntaktische Analyse vorgelegt wurde,61 braucht hier nur auf einige wenige Beispiele eingegangen zu werden, um die Variabilität der Repräsentationstypen für syntaktische Strukturen kurz zu demonstrieren. Als Repräsentationstypen für Gesamtsätze kommen Virgel + Majuskel bzw. Punkt + Majuskel vor: (31) (32) (33)
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. Ehs Sbetenn fich auch vil inn Ritterfpilenn/ (Kapitel 1, Seite Aj/b, vgl. Tafel 12; Beispiel 14)62 / Da folchs der Peter vername (Kapitel 1, S. Aj/b, vgl. Tafel 12; Beispiel 14) / Da folchs der Petter von vatter vnnd mätter geholt/ (Kap. 2, S. Aiij/a, vgl. Tafel 13; Beispiel 16)
Franz Simmler: Syntaktische Strukturen im Prosaroman des 16. Jahrhunderts Die Schön Magelona. In: Sprachwissenschaft 8,1983, S. 137-187. Da keine Seitenzählung existiert, wird nach den originalen Blattsignaturen zitiert, die aus Großbuchstaben und römischen Zahlen bestehen. Die nach einem Schrägstrich hinzugefügten Buchstaben a bzw. b verweisen auf Vorder- und Rückseite der Blattzählung. Auch die Zählung der Kapitel wurde dem Original hinzugefügt.
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Franz Simm ler (34) (35)
. Inn dem nam jn feyn fraw mäter auff ein o i t / (Kap. 2, S. Aiij/a, vgl. Tafel 13; Beispiel 16) / Als er die felbigen enpfangen (Kap. 2, S. Aiij/a, vgl. Tafel 13; Beispiel 16)
Der Typus Virgel + Majuskel tritt an gleichen Stellen wie im Autograph auf (32) oder ersetzt den Typus Kolon + Majuskel (33-35). Der Typus Punkt + Majuskel kommt anstelle der Typen Virgel + Majuskel (31) bzw. Kolon + Majuskel (34) vor. Die Ersetzungsmöglichkeiten in einem synchronen sprachlichen Zustand zeigen einmal die verschiedenen synchron vorhandenen Möglichkeiten auf, von denen Schreiber und Drucker in unterschiedlichem Maße Gebrauch machen können. Sie stützen darüber hinaus die Ermittlungsmöglichkeiten von friihnhd. Interpungierungsnormen und erweitern die Möglichkeiten des kontrastiven Sprachvergleichs, der aber immer textintern zu beginnen hat. Sind die Gebrauchsnormen textintern ermittelt, können auch Unterschiede in der Gesamtsatzbegrenzung zwischen Vorlage und Druck festgestellt und auf teilweise andere Auffassungen in Bezug auf die syntaktische Präsentation des Erzählstoffes zurückgeführt werden. Zugleich lassen sie Schlüsse über den Grad der Gestaltungsmöglichkeiten der Drucker in Bezug auf ihre Vorlage zu. So legt Steiner in (36) (37)
. Dann fein gerächte weyt erfchall/ (Kap. 1, S. Aj/a, b; vgl. Tafel 11,12; Beispiel 14) inn funderheit ayner ließ fich vernemenn (Kap. 1, S. Aj/b; vgl. Tafel 12; Beispiel 14)
andere Gesamtsatzgrenzen als Veit Warbeck fest, ohne jedoch gegen Prinzipien der Gesamtsatzmarkierungen zu verstoßen. In Beispiel (37) fehlt sogar ein Interpungierungszeichen, das im Druck von 1537 als Virgel erscheint: (38)
/ inn fonderheyt einer ließ fich vernemen (Kap. 1, S. A j / b ) "
Wie im Autograph ergeben die textinternen Oppositionen klare Kennzeichnungen der Gesamtsätze. Nur gelegentlich kommt der Typus Virgel + Majuskel an Stellen vor, wo wegen der Abfolge Nebensatz + Hauptsatz keine Gesamtsatzgrenze liegen kann: (39)
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[ZR] Als Peter folchen willen feines vatters vnd mflter ver[ZR]merckt/ Ift er feer erfch locken/ (Kap. 1, S. Aij/b; Tafel 13)
Dazu die Faksimile-Ausgabe Magelona. Die Schön Magelona. Ein fast lustige vnd kurtzweilige Histori vonn der schönen Magelona. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann. Hildesheim, New York 1975 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe A 6).
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht (40)
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Als der Gtaff vnnd Greffin folchenn fürfatz vnnd willen/ jres Suns vernamen/ Wuften Tie nicht (Kap. 2, S. Aiij/a; Tafel 13)64
In vergleichbaren Konstruktionen erscheint sonst der Typus Virgel + Minuskel: (41)
Da folchs der Petter von vatter vnnd mfitter gehoTt/ danckt jnen bayden auffs vnderthenigft. (Kap. 2, S. Aiij/a; Tafel 13; Beispiel 16)
Dieser letzte Typus besitzt die höchste Frequenz. Ob daraus auf eine generelle Fehlerhaftigkeit der Verwendung des Typus Virgel + Majuskel bei einer Teilsatzmarkierung in (39) und (40) geschlossen werden kann oder ob hier mit einer nur noch eingeschränkt verwendeten friihnhd. Regel zur besonderen Markierung des Hauptsatzes bei präpositivem Temporalsatz zu rechnen ist, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Auf keinen Fall reichen die Beispiele (39) und (40) aus, von einer ungeregelten Interpunktion im Erstdruck zu sprechen, denn die Typen Virgel + Majuskel und Punkt + Majuskel fuhren in über 90 Prozent aller Fälle zu widerspruchsfreien Festlegungen von Gesamtsatzgrenzen. Der Typus Kolon + Majuskel läßt sich jedoch auch im Erstdruck belegen: (42)
/ zum andern mal rflfft der herolt auß be'velh des Kttnigs/ wa ein ander were der luft hett ein fpyeß zä buchen der folt auff die ban ziehen: Als folchs der Peter vernam/ zoch er auff die ban wider den kün[ZR]nigifchen/ (Kap. 3, S. Aiiij/b) 65
Wie im Autograph (fol 9r), wo der gleiche Typus an dieser Stelle erscheint, liegt hier eine Markierung der Gesamtsatzgrenze vor. Der Ersatz des Typus Kolon + Majuskel an den anderen Stellen zeigt jedoch, daß dies nicht die einzige Funktion sein kann. Vielmehr besteht eine weitere Funktion darin, eine Schlußfolgerung anzuzeigen; dies ist von der Handlungsstruktur her besonders begründet, da Peter einen nicht durch eine Einwirkung eines Gegners hervorgerufenen Sturz des Heinrich von Crappana rächt, was ihre spätere Freundschaft begründet. Die neue Funktion entwickelt sich aus der älteren Funktion der Gesamtsatzbegrenzung und setzt textintern eine neue Oppositionsbildung zwischen Typen, die auf einen Gesamtsatz verweisen, und solchen, die Gesamtsätze innerhalb von Texten nach Prinzipien von Schlußfolgerung oder Begründung66 verbinden, voraus. Solche Entwicklungen in der Interpunktion und Funktionsverschiebungen lassen sich nicht
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Das < A > in ALs ist eine dreizeilige Initiale. So auch im Druck von 1537, vgl. Franz Simmler, vgl. Anm. 61, S. 160, Beispiel (22). Franz Simmler, vgl. Anm. 61, S. 161, Beispiel (25).
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Franz Simmler
erkennen, wenn Übertragungen gegenwartssprachlicher Interpungierungsregeln auf Texte der Frühen Neuzeit vorgenommen werden. Von der sprachwissenschaftlich besonders relevanten Ermittlung von Interpungierungsnormen, ihrer Verteilung auf verschiedene syntaktische Strukturen und ihrer Geschichte abgesehen, bilden erst sie eine gesicherte Grundlage, um Textfunktionen einzelner syntaktischer Strukturen zu erkennen, was eine sprachwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Relevanz besitzt. Eine besondere Textfunktion besitzen Temporalsätze und Temporaladverbien in Spitzenposition, Teilsätze mit verbum dicendi und direkter Rede in Endposition und die lineare und überwiegend parataktisch angeordnete Abfolge von Teilsätzen innerhalb von Gesamtsätzen. Auf diese Weise wird eine chronologisch geprägte Erzählfolge aufgebaut, bei der das Zeitgerüst jedoch nicht spezifiziert ist, sondern nur in allgemeiner Weise eine zeitliche Abfolge signalisiert. Diese besonders häufigen syntaktischen Strukturen korrespondieren mit Beobachtungen zu den Makrostrukturen, zur Lexik und zur Handlungsstruktur und Personenkonstellation. Sie bilden mit diesen textuelle Merkmale und konstituieren die Textsorte 'frühnhd. Prosaroman'; und die Umgestaltungen dieser Merkmale führen bei gleicher Stofftradition zur Konstituierung der Textsorte 'Erzählung".67 Grundsätzlich andere und teilweise gleiche Repräsentationstypen zeigen sich in der deutschsprachigen Regula Benedicti-Tradition. Sie sind für das 15. Jahrhundert an einer Handschrift und einer Inkunabel bereits ausführlich dargelegt worden.68 Daher ist es hier möglich, eine Konzentration auf Interpungierungen von Gesamtsätzen und ihren Teilsätzen vorzunehmen. Dabei wird von der Asbacher und Trierer Benediktinerregel ausgegangen, ehe auf weitere interpungierende Gebrauchsnormen hingewiesen wird. Um einen leichteren Vergleich zu ermöglichen, wird jeweils von der gleichen Textstelle, dem Prologabschnitt 17, ausgegangen. Er besteht aus zwei Gesamtsätzen innerhalb einer direkten Rede, wobei die Gesamtsätze aus drei bzw. vier Teilsätzen aufgebaut sind: 67
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Franz Simmler 1991, vgl. Anm. 24. — Zur Weiterwirkung einzelner Merkmale in Volksmärchen Franz Simmler: Zur Syntax von Volksmärchen. Untersuchungen zu Frequenz und Distribution von Satztypen und ihrer Relevanz für den Schulunterricht. In: Sub tua platano. Festgabe für Alexander Beinlich. Kinder- und Jugendliteratur. Deutschunterricht. Germanistik von Dorothea Ader [u.a.]. Emsdetten 1981, S. 361-389. — Zu Unterschieden zwischen Volks- und Kunstmärchen Franz Simmler: Syntaktische Strukturen in Kunstmärchen der Romantik. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue, III. Tübingen 1986, S. 66-96. Franz Simmler: Zur Valenz und Distribution von Verben in einer deutschen Benediktinerregel des 15. Jahrhunderts. Forschungsüberblick, methodologische Überlegungen und empirische Analyse. In: Albrecht Greule (Hrsg.): Valenztheorie und historische Sprachwissenschaft. Beiträge zur sprachgeschichtlichen Beschreibung des Deutschen. Tübingen 1982 (= Reihe Germanistische Linguistik. 42), S. 129-183, hier S. 152-162; Franz Simmler: Satztypen im ältesten deutschen Benediktinerregel-Druck. In: Regulae Benedicti Studia. Annuarium Internationale 12 (1983, recte 1985), S. 121-140.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht (43)
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. Wilt dv haben daz war vn daz ewige leben, fo ent'halt din zvnge von vbele. din lephfe daz fi niht reden honchvft. Ker dih von vbel. tV daz gVt. fV*che vrid vn volg im nah. (F. Simmler 1985, S. 48 f.; vgl. Tafel 16)" Wiltu hauen dz wer[SpR]liche vn dz ficherliche leüen/ So hude dyne zünge vflr vfiele vn d^ne gleffere vur lofheyde keze dich aue von d' bofheyde/ vfi dü das gflde/ vn fuche den vriden/ vfi folge yme na/ (F. Simmler 1985, S. 81; vgl. Tafel 22)70 Wiltu haven daz werliche unde daz sicherliche leven, so hude dyne zunge vur uvele unde (dyne) gleffere vur losheyde. Kere dich ave von der bosheyde unde du das gude unde suche den vriden unde folge yme na. (E. Petri 1978, S. 16)
In der Asbacher Benediktinerregel aus der Mitte des 13. Jahrhunderts kommen die Repräsentationstypen Punkt + Majuskel und Punkt + Minuskel in einer klaren Abfolge und Distinktivität vor. Der Typus Punkt + Majuskel signalisiert dabei eindeutig eine Gesamtsatzbegrenzung. Der Typus Punkt + Minuskel weist im zweiten Gesamtsatz, der aus vier parataktisch gereihten Imperativsätzen besteht, auf die Teilsatzbegrenzungen hin. Vor dem letzten mit vnd angeschlossenen Teilsatz wird kein Interpungierungszeichen gesetzt. Im ersten Gesamtsatz weist der Punkt vor Γο auf ein Teilsatzende hin. Nicht ganz einfach zu deuten ist der Punkt vor din lephfe. Da sich das Pronomen fi auf din zvnge und din lephfe zugleich bezieht, dürften din zvnge und din lephf e gemeinsam das von enthalten abhängige Akkusativobjekt bilden, wobei die beiden Nuklei des Akkusativobjekts durch ein präpositionales Satzglied von vbele voneinander getrennt sind. Der Typus Punkt + Minuskel hat dann die Funktion, den von din zvnge getrennten Satzgliedteil zu markieren. Der durch die Konjunktion daz eingeleitete letzte Teilsatz besitzt in diesem Falle kein eigenes Interpungierungszeichen; die Kennzeichnung durch die Konjunktion hat zu genügen. Syntaktisch könnte vor din lephfe jedoch auch eine Teilsatzgrenze angenommen werden; doch das setzte die Annahme einer Verbalellipse des Verbum finitum enthalt aufgrund seiner Vorerwähntheit voraus. In diesem Falle bestände der erste Gesamtsatz nicht aus drei, sondern aus vier Teilsätzen; vor dem letzten durch daz eingeleiteten Teilsatz existierte aber auch bei dieser Interpretation kein eigenes Interpungierungszeichen. Andere Interpungierungsnormen zeigen sich in der Trierer Benediktinerregel aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts; eine Nähe zu denen der Magelone-Überlieferung ist gegeben. Wiederum werden die Gesamtsatzgrenzen recht eindeutig markiert. Vor Wiltu ist zwar kein Interpungierungszeichen vorhanden, doch genügt das in 69
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Zitiert wird nach dem diplomatischen Abdruck bei Franz Simmler, vgl. Anm. 10; auch bei Carl Selmer, vgl. Anm. 44, wird die Interpunktion relativ handschriftengetreu — bis auf den Ansatz eines Punktes in der Zeilenmitte — wiedergegeben. SpR = Spaltenrand.
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Franz Simmler (46) / So fprichet he zu dir (F. Simmler 1985, S. 81; vgl. Tafel 22)
vorausgehende verbum dicendi, um den Beginn einer direkten Rede und damit in dieser den Beginn eines Gesamtsatzes zu signalisieren. In anderen Beispielen besteht der Typus aus verbum dicendi + Virgel + Majuskel: (47) / Nu vragen wir vnfen heie myt deme pphete/ Here (F. Simmler 1985, S. 81; vgl. Tafel 22)
Der Typus ohne Virgel ist aber ebenso eine Gebrauchsnorm wie deijenige mit Virgel. Von den Kennzeichnungen der direkten Rede abgesehen, wird eine Gesamtsatzbegrenzung gewöhnlich durch den Typus Virgel + Majuskel signalisiert (47). Der mit So (44) beginnende Teilsatz scheint dagegen zu sprechen, doch wird hier wie bei den Beispielen (39) und (40) durch den Typus Virgel + Majuskel der Beginn des Hauptsatzes markiert, der auf einen präpositiven Nebensatz, hier einen Konditionalsatz, folgt. Keine Interpungierung zeigt sich vor ke7e. Da keze ferner mit Minuskel realisiert ist, kann die ganze direkte Rede nur als ein einziger Gesamtsatz aufgefaßt werden. Die von E. Petri vorgenommene Zerlegung in zwei Gesamtsätze ist textintern unbegründet (45). Die vor vn du, vn f uche bzw. vn folge vorhandene Interpungierung ist durch die Verwendung des Typus Virgel + Minuskel konsequent und trennt die Imperativischen Teilsätze voneinander ab. Dagegen entspricht die bei E. Petri fehlende Interpunktion bei den gereihten Imperativsätzen noch nicht einmal gegenwartssprachlichen Interpungierungsregeln. Das Fehlen einer Virgel vor vn dyne gleffere dürfte durch die Ellipse des vorerwähnten Verbum finitum hude bedingt sein und - wie in der Gegenwartssprache — eine stärkere Zusammengehörigkeit der beiden so verbundenen Teilsätze signalisieren. Andere interpungierende Gebrauchsnormen können in folgenden Überlieferungen nachgewiesen werden:71 (48) Wilt dv haben daz war vnd daz ewige leben, so enthalt din zvngen von vbele. din lephse daz si niht reden honchvst. Cher dich von vbel. tV daz gvt. s&che vrid vnd volg im nach. (Nr. 2, Ρ 17)72 (49) Wilt du han daz gverre vnd daz ewige leben · so inthebe din zvngun fon dim vble. vnd din lespe. das si nvt redin die fachust; dv brich dich fon dim vble. vnd tVe daz
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72
Da es hier nur um syntaktische Prinzipien der Interpunktion geht, sind verschiedene s- und r-Graphien vereinheitlicht und diakritische Zeichen weggelassen worden, Abkürzungen wurden aufgelöst. Zitiert wird hier und im folgenden nach der Numerierung der handschriftlichen Überlieferungen bei Franz Simmler, vgl. Anm. 23, und der in modernen Editionen üblichen Abschnittszählung; Ρ = Prolog.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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gVte. dv voirsche nach dim fride vnd nachfolge ime. (Nr. 24, Ρ 17) Wil du haben daz ware vnd daz ewige leben · so svvige dine zvngin von vbile • vnd dine lephese en sprechen nit dechein vveichin. Bekere dich von vbele * vnd tfl daz gät. vorsehe nach dem vride · vnd volge oveh dem vride. (Nr. 31, Ρ 17) wil dw haben das war vnd ewig leben; enthalt dein czung von vbel vnd dein lebsen das sy nicht reden geuSrlichait; eher dich ab von vbel/ vnd volbring das guet Erfarsch den frid/ vnd volg im; (Nr. 26; Ρ 17)73 Wildu haben das war ewig leben · wer deiner czungen von dem übel · vnd dein lebsen das sy nicht gefär reden Cher dich von dem pösen · vnd thue recht Suech den frid · vnd volg ym nach (Nr. 32, Ρ 17)74 Wilt du das war vnd ewig leben haben · so czwing dein zung von vbel/ vnd dein lebszen/ das sie nit reden trugnusz Cher von vbel/ vnd tw gwczs · Such den frid vnd volig ym nach/ (Nr. 4, Ρ 17) Wildu das war vnd ewig leben haben: so wer deiner zungen von dem vbel: vnd deinen lebsen das sy icht vnkunst reden. Cher von dem vbel/ vnd thue das guet: suech den frid/ vnd volg im nach. (Nr. 36, Ρ 17) wilt du haben wäres vnd ewigs leben; verpeut dein czungen von vbel • vnd deine leffiez das sy nit reden geuSrlichait; keer dich ab von vbel · vnd tft das g ä t / ervar den frid vnd volg im; (Nr. 45, Ρ 17) Wildw haben das war vnd ewig leben · bezwing dein zung vnd vbel · vnd dein lebsen • das sy nit reden betriegumb · kher ab von dem p6sen • vnd thue das guet oder recht • suech den frid · vnd volg ymme nach · (Nr. 75, Ρ 17) So du wild haben das war vnd ewig leben So enthalt dein Zungen von dem posn vnd deine lebsen das sy nit betrug reden/ Wendt dich vom posn vnd thue guts · Suech fridn vnd folg Im nach (Nr. 6, Ρ IT)75 Wann du wilt haben das wahr vnd ewig leben/ so behttt din zungen vor übel/ vnd dine leftzen das sy nit betrug reden/ Wich ab von dem bösen vnd thfl göts/ sfleh den friden vnd volg im nach/ (Nr. 22, Ρ 17)
Die Beispiele (48) bis (50) stammen aus Handschriften des 13. Jahrhunderts, die Beispiele (51) und (52) aus dem 14., die Beispiel (53) bis (56) aus dem 15. und die
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75
Das ist mit einem senkrechten Strich in Rubrum hervorgehoben. Die Majuskeln und sind durch einen senkrechten Strich in Rubrum hervorgehoben. Die Majuskel des W und dreimal die des S sind durch einen senkrechten Strich in Rubrum besonders markiert.
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Franz Simmler
Beispiele (57) und (58) aus dem 16. Jahrhundert.74 Im 13. Jahrhundert überwiegen deutlich solche Repräsentationstypen für syntaktische Strukturen, an denen ein Punkt in der Zeilenmitte oder auf der unteren Zeile beteiligt ist. So weist in (48) der Typus Punkt (unten) + Majuskel auf Gesamtsatzbegrenzungen hin, während der Typus Punkt (unten) + Minuskel die Teilsatzbegrenzungen markiert. Auf die Fernstellung von din lephse und die Möglichkeit, vor einer subordinierenden Konjunktion kein Interpunktionszeichen zu setzen, wurde ebenso bereits hingewiesen wie auf die Gebrauchsnorm, bei gereihten gleichrangigen Teilsätzen vor der Konjunktion vnd kein Interpunktionszeichen zu verwenden, um den Abschluß der Aufzählung und eine stärkere Bindung an den vorausgehenden Teilsatz zu signalisieren.77 In (49) besteht die Opposition zwischen Gesamtsatz- und Teilsatzmarkierungen aus der Gegenüberstellung der Typen Punkt (unten) + Majuskel bzw. Punkt (unten) + Minuskel und Punkt (Mitte) + Minuskel. Zusätzlich kommt der Typus Semikolon + Minuskel vor; er markiert eine Teilsatzbegrenzung und zugleich wie in der Gegenwartssprache - einen etwas größeren Sinneinschnitt, ohne jedoch bereits eine Gesamtsatzgrenze zu begründen. Anders als in (48) ist vor der Konjunktion das ein Interpunktionszeichen gesetzt, wodurch eine weitere Gebrauchsnorm sichtbar wird. Zugleich wird durch diese Interpungierung die Zuordnung von vnd din lespe zu din zvngun und die Bildung eines einzigen Satzgliedes weiter abgesichert. In (50) weisen die Repräsentationstypen Punkt (unten) + Majuskel bzw. Punkt (Mitte) + Minuskel bzw. Punkt (unten) + Minuskel auf die Begrenzungen von Gesamtsätzen bzw. Teilsätzen hin. Zwischen den Typen Punkt (Mitte) + Minuskel bzw. Punkt (unten) + Minuskel besteht teilweise bei parataktischen Reihungen eine charakteristische Verteilung; der erste Typus wird verwendet, wenn die Reihung asyndetisch erfolgt, der zweite Typus tritt bei syndetischer Reihung mit der Konjunktion vnd auf. Gleichzeitig werden durch die Konjunktion vnd die Teilsätze inhaltsseitig näher miteinander verbunden; der Typus Punkt (unten) + Minuskel hat dadurch eine Funktion, die der Verwendung eines Semikolons in der Gegenwartssprache entspricht. Die Interpunktion vor vnd dine lephese und das Fehlen einer Konjunktion daz weisen darauf hin, daß dine lephese ein eigenes Satzglied bildet, das von sprechen abhängig ist und nicht von swigen; zugleich ergibt sich dadurch ein anderes Textverständnis. Etwas andere Interpungierungsmittel treten vor allem zur Gesamtsatzbegrenzung im 14. Jahrhundert auf. In (51) und (52) erfolgt die Gesamtsatzmarkierung durch den Typus Majuskel + Rubrumauszeichnung. Die Rubrumauszeichnung besteht aus einem senkrechten Strich in Rubrum, der durch die Majuskel oder direkt neben sie gezogen wird; ein zusätzliches Interpunktionszeichen wird nicht 76 77
Franz Simmler, vgl. Anm. 23, unter der jeweiligen Nummer. Vgl. die Ausführungen nach den Beispielen (45) bzw. (47).
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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verwendet. Die Teilsätze sind dagegen wieder mit Interpungierungsmitteln versehen. Zu ihrer Kennzeichnung kommen in (51) die Typen Semikolon + Minuskel und Virgel + Minuskel vor, in (52) wird der Typus Punkt (Mitte) + Minuskel verwendet. Die direkte Rede wird so in (51) in zwei Gesamtsätze zerlegt, wobei die Grenze vor erforschen verläuft und die Suche nach dem Frieden syntaktisch besonders hervorgehoben ist. In (52) besteht die direkte Rede aus drei Gesamtsätzen. Weitere Repräsentationstypen zur Gesamtsatzbegrenzung sind im 15. Jahrhundert vorhanden. In (53) werden Gesamtsätze durch die Typen Punkt (Mitte) + Majuskel und ausschließlich durch Majuskelgebrauch ohne weiteres Interpunktionszeichen markiert. Auf die Teilsätze wird durch die Typen Punkt (Mitte) + Minuskel und Virgel + Minuskel hingewiesen, wobei vor mit vnd gereihten Teilsätzen der Typus Virgel + Minuskel stehen oder fehlen kann, so daß sich eine gewisse Variabilität innerhalb der Gebrauchsnormen ergibt. In (54) signalisiert der Typus Punkt (unten) + Majuskel die Gesamtsatzbegrenzung, während die Typen Kolon + Minuskel und Virgel + Minuskel auf Teilsätze hinweisen. In (55) erfolgt der Hinweis auf Gesamtsätze durch den Typus Semikolon + Majuskel; die Typen Semikolon + Minuskel, Punkt (Mitte) + Minuskel und Virgel + Minuskel kennzeichnen Teilsatzgrenzen. In (56) sind die Typen Punkt (Mitte) + Majuskel bzw. Punkt (Mitte) + Minuskel zur Markierung von Gesamtsätzen bzw. Teilsätzen eingesetzt. Im 16. Jahrhundert treten noch andere Repräsentationstypen auf. In (57) werden Gesamtsätze durch die Typen Punkt (Mitte) + Majuskel + Rubrumauszeichnung, Virgel + Majuskel + Rubrumauszeichnung und Majuskel + Rubrumauszeichnung hervorgehoben. Die Teilsätze werden nur in einzelnen Fällen markiert. So erfolgt eine Kennzeichnung des Hauptsatzes nach dem präpositiven Nebensatz mit Hilfe des Typus Majuskel + Rubrumauszeichnung, während durch vnd parataktisch verbundene Teilsätze kein Interpunktionszeichen erhalten. In (58) kommen die Typen Virgel + Majuskel bzw. Virgel + Minuskel zur Kennzeichnung von Gesamtsätzen und Teilsätzen vor; mit vnd gereihte Teilsätze zeigen keine Interpungierung. Neben Überlieferungen und Interpungierungen, die am Aufbau von syntaktischen Repräsentationstypen beteiligt sind, lassen sich auch solche ohne Interpunktionszeichen nachweisen: (59)
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wild dw das war vnd ebig leben so wer deiner czungen von dem vebel vnd deinen lebsen das sy icht reden arg list Cher uon dem ubel vnd twe das gut suech den frid vnd uolg ym nach (Nr. 85, Ρ 17)78
Die Majuskel C ist durch einen senkrechten Strich in Rubrum hervorgehoben.
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Franz Simmler (60) Wiltu das war vnd das ewig leben haben so behüte dein zungen von dem vbel vnd deine leffs reden kain schmerczen Ker von dem vbel vnd thu das gut Suach den frid vnd volg im nach (Nr. 5, Ρ IT)79 (61) Wiltu haben daz war vnd ewig leben Were diner zungen vor dem vbel vnd dinen lefftzen von der vntruwen rede Vnd kere von dem ubel Vnd thä daz gät Vnd erforsche den frid Vnd volge im nach (Nr. 92, Ρ 17) (62) Wiltu daz ware vnd das ewige leben haben so behüt din zungen vor dem vbel vnd dinen leffs das sie iht reden die vnkust ker von dem vbel vnd tu das gut such fride vnd volg im nach Vnd wen (...) (Nr. 23, Ρ 17)80
Die Überlieferungen ohne Interpunktionszeichen kommen schwerpunktmäßig im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts vor. Dennoch lassen sich aus ihnen einzelne syntaktische Aussagen gewinnen, weil der Majuskelgebrauch - wie in der Kombination mit interpungierenden und hervorhebenden Mitteln — nicht ungeregelt ist. So weisen die Majuskeln in (59, 60, 62) in Verbindung mit einer Rubrumauszeichnung auf den Beginn von Gesamtsätzen hin. Die Teilsätze sind jedoch überhaupt nicht markiert und müssen textintern aus den finiten Verbformen, den Erscheinungen der grammatischen Kongruenz und Rektion und kontrastiv durch Vergleiche zu den übrigen Überlieferungen mit Interpungierungen abgegrenzt werden. In (61) ist eine Unterscheidung von Gesamtsätzen und Teilsätzen textintern nicht möglich, da die Majuskeln zwar generell auf Teilsatzgrenzen hinweisen, aber nicht auf ihre spezifische Verbindung zu Gesamtsätzen. Selbst bei solchen Überlieferungen sollte der Handschriftenbefund in Editionen wiedergegeben und auf Einführungen gegenwartssprachlicher Interpunktionsregeln verzichtet werden, weil sich auch in ihnen Gebrauchsnormen dokumentieren. Zu Einsichten in Kontinuitäten, Frequenzverlagerungen und Funktionsveränderungen führt die Berücksichtigung der Drucktradition bis zur Orthographischen Konferenz von 1901, die eine überregionale Varietät, die Schriftsprache, unter orthographischen und - eingeschränkter - interpungierenden Aspekten schuf: (63) Wann du wilt haben das wahre vnd ewige leben/ so behfit dein zung vor vbel/ vnd deine leffzen/ daß sie nit betrug reden. Weich ab von dem bfisen/ vnd thä gfits: such den friden/ vnd folg jhm nach. (B 78, 1574, Ρ 17)81
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Die Majuskeln W, K, S sind durch zusätzliche senkrechte Striche in Rubrum gekennzeichnet. Die Majuskeln W und V sind mit senkrechten Strichen in Rubrum versehen. Die Sigle Β + Nummer verweist auf die Bibliographie von Jean D. Broekaert: Bibliographie de la Regle de Saint Benoit. Editions Latines et Traductions imprimees de 1489 ä 1929. Description diplomatique. 1239 Numeros, 1.1489-1750, II. 1751-1929. Roma 1980 (Studia Anselmiana. 77-78). Zusätzlich sind das Erscheinungsjahr des Drucks und die Prologstelle angegeben.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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(64) wiltu daß waher vnd ewige Leben haben/ so zäume deine zung vom bösen/ vnnd deine lefftzen daß sie kein betrug reden: weiche ab vom bösen vnnd thue daß gute: suche den Frieden vnd jage im nach. Vnd wann (...) (B 320/1, 1650, Ρ 17) (65) wilst du das wahre vnd ewige Leben haben/ so zlume deine Zung vom bösen/ vnd deine Lefftzen/ daß sie kein Betrug reden: weiche ab vom bösen vnd thue das gute: suche den Friden vnnd jage jhm nach. Vnd wann (...) (B 368, 1670, Ρ 17) (66) Wilt du das wahre und ewige Leben haben/ so zäume deine Zung vom bösen/ und deine Lefftzen/ daß sie kein Betrug reden/ weiche ab vom bösen und thue das gute: suche den Frieden und jage ihm nach. (B 517,1718, Ρ 17) (67) Wann du ein wahrhafftes, und ewiges Leben verlangest, so Psal. 33. zähme deine Zung von dem Bösen/ und deine Leffzen/ daß sie keinen Betrug reden. Weiche ab von dem Bösen/ und thue Gutes: suche Frieden/ und jage ihm nach. (B 593, 1749, Ρ 17) (68) Zähme deine Zunge vor dem Bösen. Und deine Leffzen/ daß sie keinen Betrug reden. Weiche ab von dem Bösen/ und thue Gutes. Suche den Frieden/ und jage ihm nach. (B 601/2, 1751, Ρ 17) (69) Wilst du zu disem wahren und ewigen Leben gelangen; so hfite deine Zung vor Bösen, und deine Leffzen sollen nichts arglistiges aussprechen: Meyde das BÖse, und wircke Gutes; suche den Frieden mit Begierd und Beharrlichkeit. (B 606, 1753, Ρ 17) (70) Wann du ein wahrhafftes, und ewiges Leben verlangest, so Psal. 33. Zähme deine Zung von dem Bösen, und deine Lefzen, daß sie keinen Betrug reden. Weiche ab von dem Bösen, und thue Gutes: suche Frieden, und jage ihm nach. (B 637, 1768, Ρ 17) (71) wenn du nach dem wahren Leben, das ewig währet, verlangest, so enthalte dich vor bösen Reden, und laß keinen Betrug aus deinen Lippen kommen; meide das Böse und δ be das Gute; suche den Frieden und strebe nach ihm. (B 684, 1791, Ρ 17) (72) Wenn du willst das wahre und ewige Leben haben, so "bewahre deine Zunge vor dem Bösen, und deine Lippen, daß sie nicht Betrug reden. Wende dich von dem Bösen und thue das Gute; suche den Frieden und jage ihm nach. (Am Rand: Desgl. [= (Psalm 33,)] V. 14.15) (B 736/7,1836, Ρ 17) (73) Wenn du das wahre und ewige Leben erlangen willst, so enthalte deine Zunge vom Bösen, und deine Lippen von betrüglichen Reden. Weiche vom Bösen, und thue Gutes. Suche den Frieden, und bestrebe dich ihn beizubehalten. (B. 761, 1847, Ρ 17) (74) Willst du das wahre und ewig dauernde Leben besitzen, so halte deine Zunge ab vom Bösen und lasse deine Lippen nicht arglistig reden; wende dich ab vom Bösen und thue das Gute; suche den Frieden und folge ihm nach! (B 919, 1891, Ρ 17) (75) Wenn du das wahre und ewige Leben erlangen willst, so bewahre deine Zunge vom Bösen und laß deine Lippen nicht Trug reden; wende dich ab vom Bösen und thue das Gute; suche den Frieden und strebe ihm nach. (B 933, 1894, Ρ 17)
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Wie in den Handschriften des 16. Jahrhunderts, so überwiegt in den Drucken im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts die Verwendung der Virgel, die in einzelnen Repräsentationstypen seit dem 14. Jahrhundert regelmäßig nachzuweisen ist. Gegenüber den Handschriften wird in den Drucken auf den Typus Virgel + Majuskel zur Markierung von Gesamtsatzgrenzen verzichtet; es findet sich nur noch der Typus Punkt + Majuskel in dieser Funktion (63). Der Typus Virgel + Minuskel wird weiterhin zur Kennzeichnung von Teilsätzen verwendet. Der Typus Kolon + Minuskel ist wie im 15. Jahrhundert (54) ein Mittel zur Teilsatzbegrenzung, erhält aber neben dieser sekundären, eine neue primäre Funktion, nämlich Schlußfolgerungen zu signalisieren (63). Genau die gleichen Repräsentationstypen wie in den Drucken im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts treten in den Drucken des 17. Jahrhunderts (64 f.) und Anfang des 18. Jahrhunderts (66) auf. Auch ihre Funktionalität ist dieselbe. Insgesamt wird durch die Drucke im 17. Jahrhundert und Anfang des 18. Jahrhunderts die Variabilität der Repräsentationstypen mit gleicher Funktionalität, die aus dem 15. und 16. Jahrhundert tradiert sind, reduziert und im Hinblick auf den Typus Kolon + Minuskel in der Funktionalität spezifiziert. Mitte des 18. Jahrhunderts taucht das Komma neben der Virgel auf (67). Das Komma steht einmal nach einem präpositiven Konditionalsatz vor so und zum anderen vor der Konjunktion und bei gereihten Adjektivattributen. In der ersten Funktion der Teilsatzbegrenzung ersetzt es zusammen mit der Minuskelschreibung den Typus Virgel + Minuskel (63-66) der Drucke bzw. den gleichen Typus (58) und die Typen Virgel + Majuskel (44), Punkt (unten) + Minuskel (43, 48), Punkt (Mitte) + Minuskel (49, 50, 52, 53, 56), Semikolon + Minuskel (51, 55), Kolon + Minuskel (54) und Majuskel und Rubrumauszeichnung (57) aus den handschriftlichen Überlieferungen. In der zweiten Funktion der Reihung von Satzgliedteilen wird vom Typus Komma + Minuskel die Funktion des Typus Virgel + Minuskel (14,16) übernommen. Aus dieser Interpungierungstradition ergibt sich erstens, daß das Komma als Interpungierungsmittel auf die Virgel zurückgeführt werden kann. Zweitens ist festzustellen, daß im Druck von 1749, der in Fraktur gesetzt ist, Komma und Virgel nebeneinander vorkommen. Daher kann selbst innerhalb der Druckgeschichte die Verwendung von Virgel oder Komma nicht einfach mit einer Schriftart, der Fraktur oder Antiqua, in Verbindung gebracht und als mechanischer Wechsel interpretiert werden.82 Drittens wird nicht erst seit der Verwendung des Kommas ein Interpungierungssystem verwendet, das auf syntaktischen Prinzipien beruht und demjenigen gegenübersteht, das mit Hilfe der Virgel ausgedrückt wird und rhetorische Prinzipien der Textgliederung ausdrücken soll. Syntaktische Interpungierungsprinzipien begegnen in der hier aufgeführten Texttradition seit dem 13. Jahrhundert, reichen in der lateinischen Texttradition bis ins Ende des 8.
82
Zur Problematik bereits Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 62.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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Jahrhundert zurück83 und werden mit der Annahme rhetorischer Gliederungsprinzipien nicht adäquat erfaßt. Die antike Triade "tiefer Punkt (comma) für die kurze Pause, mittelhoher Punkt (colon) für die mittlere Pause, hoher Punkt (periodus) für das Satzende"84 wird in der Karolingerzeit durch ein anderes Interpungierungssystem abgelöst, das auf der Beachtung syntaktischer Strukturen beruht, und in dieser Tradition stehen die hier behandelten Texte der Frühen Neuzeit. Neben dem Typus Komma + Minuskel ist Mitte des 18. Jahrhunderts zur Begrenzung von präpositiven Teilsätzen noch der Typus Semikolon + Minuskel (69) vorhanden. Dieser Typus verliert im Laufe des 18. Jahrhunderts diese Funktion und wird ganz durch den Typus Komma + Minuskel ersetzt (70 f.), der danach im 19. Jahrhundert eine ausschließliche Geltung erhält (72 f.). Durch diesen Ersatz erfährt der Typus Semikolon + Minuskel in anderen syntaktischen Umgebungen eine Funktionsspezifizierung: Während er vom 14. bis Mitte des 18. Jahrhunderts die generelle Funktion der Teilsatzbegrenzung hatte und in einigen Fällen zusätzlich die sekundäre Funktion der Markierung eines größeren Sinneinschnitts innerhalb eines Gesamtsatzes übernahm, erfolgt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Konzentration nur auf die zweite Funktion. Aus einer sekundären wird eine primäre Funktion, mit der dann unter sekundärem Aspekt auch eine Teilsatzmarkierung - und nicht etwa eine Gesamtsatzbegrenzung — gekoppelt ist. Der Typus Kolon + Minuskel behält im 17. Jahrhundert seine beiden nebeneinander und kombiniert auftretenden Funktionen der Teilsatzbegrenzung und des Signalisierens von Schlußfolgerungen bei (64 f.). Im 18. Jahrhundert wird die Funktion der ausschließlichen Teilsatzmarkierung aufgegeben, wodurch die Funktion, gleichzeitig Teilsätze und Schlußfolgerungen zu kennzeichnen, in den Vordergrund tritt (66 f., 70). Durch den Typus Kolon + Majuskel wird gelegentlich neben dem Typus Punkt (unten) + Majuskel auf eine Gesamtsatzbegrenzung hingewiesen (69). Bei den mit und verbundenen gleichrangigen Teilsätzen kommt vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Variabilität in der Gebrauchsnorm vor, da ein Interpungierungsmittel gesetzt werden (63,67-70,73) oder fehlen kann (64-66, 72, 74 f.); gelegentlich sind beide Möglichkeiten in einem Gesamtsatz zugleich vorhanden (71). Insgesamt wird eine immer stärkere Annäherung an ein Interpungierungssystem sichtbar, das dem der überregionalen Schriftsprache der Gegenwart entspricht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist dieser Zustand in einzelnen Drucken fast erreicht. So entspricht Beispiel (71) bis auf das fehlende Komma vor durch die Konjunktion und verbundenen Imperativsätzen der gegenwartssprachlichen Norm. In keinem Druck ist aber die 1901 geschaffene Norm schon vollständig realisiert,
83 84
Franz Simmler, vgl. Anm. 30, S. 223-230 (Tabelle 5), 258 f. mit weiterweisender Literatur. Bernhard Bischoff, vgl. Anm. 45, S. 214.
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obwohl klare Gebrauchsnormen zu erkennen sind. Werden jedoch die gegenwartssprachlichen Normierungen auf die Texte der Frühen Neuzeit übertragen, dann können weder spezifische Gebrauchsnormen erkannt noch die Geschichte der Interpungierungsmittel innerhalb von Repräsentationstypen und deren Rückwirkungen auf syntaktische Strukturen aufgezeigt werden.
2.3 Lexik und Groß- und Kleinschreibung Die Großschreibung einzelner Wörter folgt in Texten der Frühen Neuzeit anderen Gebrauchsnormen als in der Gegenwartssprache, in der die Großschreibung mit der Wortart des Substantivs verbunden ist. Um Gebrauchsnormen erkennen zu können, muß die textinterne Verteilung der Großschreibung in jedem Textexemplar beachtet werden. Dabei sind zu unterscheiden 1. Großschreibungen in Verbindung mit Makrostrukturen wie Initiatoren (u.a. Titelblatt), Kapiteln einschließlich ihrer Überschriftformen und Terminatoren; 2. syntaxrelevante Großschreibungen in Verbindung mit interpungierenden und hervorhebenden Mitteln und teilweise auch ohne sie; 3. Großschreibungen ohne Bezug zu Makrostrukturen und zur Syntax. Nur die letzte Gruppe ist für die Ermittlung wortartbezogener Gebrauchsnormen relevant, weil keine Beteiligung an anderen Funktionen existiert. Für die Ermittlung der Geschichte der Großschreibung sind zwei Entwicklungsetappen besonders wichtig. Die erste reicht von den Anfängen bis zu den ersten Versuchen normativer Setzungen durch Grammatiker des 16. Jahrhunderts. Die zweite zeigt die Wechselwirkung von Gebrauchsnormen und normativen Setzungen vom 16. Jahrhundert bis zur Fixierung einer präskriptiven und überregionale Geltung erhaltenden Norm im Jahre 1901. Der Einschnitt zwischen den beiden Etappen ist vermutlich die durch Servais Kruffter im Jahre 1527 verfaßte Rhetorik mit dem Titel "Schryfftspiegel", in der er den Majuskelgebrauch in zwei Fällen fordert, am Satzanfang und bei nomina propria, speziell bei den Eigennamen der Ruf- und Familiennamen. Um den Einfluß und die Reichweite solcher Regulierungsversuche beurteilen zu können, muß zunächst beachtet werden, daß erste Grammatikeraussagen erst rund 80 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks einsetzen, von der Jahrhunderte alten Handschriftentradition ganz abgesehen. Daher sind bereits Gebrauchsnormen vorhanden, ehe das Bemühen um einheitliche Verfahrensweisen beginnt. Ferner ist zu berücksichtigen, daß die präskriptiven Normen nicht alle bereits zeitgenössisch üblichen Großschreibungen erfassen und daß die Grammatiker noch nicht in der Lage sind, den Satz näher zu definieren und syntaktische Strukturen nach Gesamtsätzen, Teilsätzen, Satzgliedern und Satzgliedteilen zu unterscheiden oder exakte Wortartendifferenzierungen vorzulegen. Daraus ergibt sich, daß die häufig geübte Praxis der (fast alleinigen) Berücksichtigung zeitgenössischer Aussagen zur
Prinzipien der Edition aus sprachwbsenschaftlicher Sicht
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Auffindung von Gebrauchsnormen zugunsten konkreter Untersuchungen aufzugeben ist. Die fehlende Untersuchung von Gebrauchsnormen führt zu unhaltbaren Aussagen wie der, daß "die Majuskel als Anfangszeichen eines Satzgebildes [sie!] [...] erst im 2. Viertel des 16. Jahrhunderts" fest werde, und die bei Grammatikern wie M. Fabian Frangk (Orthographia Deutsch, Wittenberg 1531) und Valentin Ickelsamer (Die rechte weis auffs kürtzist lesen zu lernen, Marburg 1527, 2. Aufl. 1534; Teutsche Grammatica, o.O. ca. 1534, 3. Aufl. Nürnberg 1537) fehlenden Ausführungen zum Majuskelgebrauch begünstigen Urteile, nach denen im Frühnhd. ein "zügelloser, wild wuchernder Gebrauch der Majuskel" vorliege.85 Bezogen auf die Fixierung des Majuskelgebrauchs auf die Wortart Substantiv, kann eine solche Forderung erstmals 1596 bei Joh. Becherer in der lateinisch geschriebenen Grammatik "Synopsis grammaticae tam Germanicae quam Latinae et Graecae" nachgewiesen werden. Sie erscheint ferner bei M. Stephan Ritter 1616 in der lateinisch geschriebenen "Grammatica Germanica Nova" und in der Publikation "Deutsche Grammatica oder Sprachkunst" von Johann Girbert aus dem Jahre 1653.M Durch die Festlegung, daß Substantive generell groß zu schreiben seien, verlieren Majuskeln in Verbindung mit interpungierenden und hervorhebenden Mitteln einen Teil ihrer besonderen Hinweisfunktion, so daß es zu Auswirkungen auf die Bildung von Repräsentationstypen für syntaktische Strukturen kommt. Diese Zusammenhänge gilt es ebenso darzustellen wie das Zusammenwirken von deskriptiven und präskriptiven Normen, und dazu können entsprechend genaue Editionen von Texten der Frühen Neuzeit einen Beitrag leisten, wenn sie auf Normierungen verzichten. In der Editionstheorie ist dazu inzwischen ein Bewußtsein vorhanden. So fordert W. Besch87 mit Recht, "die Regelungen der Editionstext-Vorlage ohne Eingriffe zu übernehmen", und wendet sich damit gegen eine Editionspraxis, in der die Majuskel konsequent bei Völker-, Länder-, Orts-, Gewässer- und Personennamen, bei Monats- und Festnamen, bei Siglen für Titel und Anredeformen, beim Namen Gottes und bei allen als Eigennamen gebrauchten Gattungsnamen erscheint, weil
85
Helene Malige-Klappenbach: Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen. In: Burckhard Garbe (Hrsg.): Die deutsche rechtschreibung und ihre reform 1722-1974. Tübingen 1978 (Reihe Germanistische Linguistik. 10), S. 142-159, Zitate S. 143,145. Zur Problematik ferner Dirk Josten: Sprachvorbild und Sprachnorm im Urteil des 16. und 17. Jahrhunderts. Sprachlandschaftliche Prioritäten, Sprachautoritäten, Sprachimmanente Argumentation. Bern, Frankfurt/M. 1976 (Europäische Hochschulschriften Reihe I. Deutsche Literatur und Germanistik. 152); Materialien zur historischen entwicklung der gross- und kleinschreibungsregeln. Hrsg. von Wolfgang Mentrup. Tübingen 1979 (Reihe Germanistische Linguistik. 23); Wolf gang Mentrup: Die Groß- und Kleinschreibung im Deutschen und ihre Regeln. Historische Entwicklung und Vorschlag zur Neuregelung. Tübingen 1979 (Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache Mannheim. 47).
86
Helene Malige-Klappenbach, vgl. Anm. 85, S. 151 f. Vgl. Anm. 25, S. 404.
87
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eine solche Regelung "weder dem neuhochdeutschen Gebrauch" entspricht noch "eine bestimmte Phase der Schreibentwicklung" repräsentiert. Bei einer sprachwissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der Großschreibung einzelner Wortarten müssen aber gerade Phasen der Schreibentwicklung erfaßt werden können. Einführungen nicht vorhandener Gebrauchsnormen lassen weder eine Darstellung von aufeinander folgenden Phasen zu noch können wegen der Postulierung eines einheitlichen Sprachzustandes Variabilitäten in den Gebrauchsnormen und ihre Grenzen erkannt werden. Gerade die Variationsbreite bei der Herausbildung von Gebrauchsnormen und die Frequenzverschiebungen innerhalb vorhandener sprachlicher Möglichkeiten ergeben aber einen besonderen Einblick in potentielle Möglichkeiten der Sprachveränderung, in Sprachwandeltendenzen und führen zu einer besseren Beschreibung von Sprachwandelphänomenen. Für den Sprachwissenschaftler ist daher die konsequente Setzung einer Variante in einer Edition, auch wenn es die häufigste ist, ein Informationsverlust, der ihm das Erkennen von Sprachwandelphänomenen erschwert. Solche Informationsverluste finden sich in der Edition des Mageionenromans durch J. Bolte bei nomina propria und nomina appellativa, obwohl eine orthographisch genaue Wiedergabe vorliegen soll. Dies kann unter Rückgriff auf bereits behandelte Beispiele illustriert werden. In Beispiel (13 f.) entspricht die Wiedergabe der nomina propria Magelonna, Naples und der nomina appellativa Edeln, Tornier, Ritter, Sons dem Handschriftenbefund. Bei den nomina propria Peter und Franckreich hält sich J. Bolte jedoch nicht an die Handschrift. Das nur einmal vorkommende Franckreich zeigt in der Handschrift eine Minuskel (19 f.); die sechs Pefer-Belege sind viermal mit Majuskel und zweimal mit Minuskel realisiert (13-16,19 f.). Bei den nomina appellativa wird der einmal belegte edelman gegen die Handschrift klein geschrieben (19 f.) und damit eine nicht vorhandene Opposition zu Edeln hergestellt. Das in der Aufzählung vatter vnd mutter zweimal vorhandene nomen appellativum mutter zeigt gegen die Handschrift eine Minuskel (13 f., 15 f.). Auf diese Weise entsteht eine Opposition zur Anrede Gnedigefraw Mütter (17 f.), die nicht gerechtfertigt ist. Aus J. Boltes Edition kann folgendes Ergebnis hergeleitet werden: Bei den nomina propria werden Rufnamen, Orts- und Ländernamen konsequent groß geschrieben. Von den nomina appellativa werden einige für die Handlung besonders wichtige Substantive groß geschrieben, bei Edeln, edelman begegnet eine nicht näher begründbare Variation. Das nomen appellativum mutter wird nur in der Anrede groß geschrieben und damit unter kommunikativem Aspekt als Anrede besonders markiert, während es außerhalb der Anrede in den erzählenden Teilen klein geschrieben und daher nicht besonders hervorgehoben wird. In Wirklichkeit ergibt sich aus der handschriftlichen Überlieferung ein anderer Befund, nach dem sowohl nomina propria als auch nomina appellativa in ihrem Majuskelgebrauch auf das zunächst textsortenabhängige Prinzip der Hervorhebung zurückgehen, wobei ihre syntaktischen Umgebungen eine zusätzliche Rolle spielen.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschafllicher Sicht
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Hervorgehoben werden einmal nomina propria, vor allem Rufnamen und Ortsnamen. Ebenfalls durch Majuskelgebrauch hervorgehoben werden nomina appellativa, die auf den Adel und seine besonderen Beschäftigungsformen verweisen (,Edeln, Edelman, Ritter, Tornier) und die die besonderen Verwandtschaftsbeziehungen ausdrücken (Mutter, Son), wobei es keine Rolle spielt, ob diese als Anredenominative in der direkten Rede, der Figurensprache, oder in dem erzählenden Teil, in der Autorensprache, vorkommen. Dies wird an weiteren Stellen deutlich, wo sich J. Bolte gegen die Handschrift für eine Minuskelwiedergabe entschieden hat: (76)
Dar auff fein vatter alio faget: "Liebfter fon, (...) (J. Bolte 1894, S. 6) (77) dar auff fein vatter alfo faget: Liebfter Son / (...) (fol. 6r; vgl. Tafel 5) (78) welchem zä gefallen der konig beftalt hatte einen tornir (oder ftechen) (J. Bolte 1894, S. 7) (79) welchem zu gefallen der konig beftalt hatte eine Tornir (daneben am Rand: oder ftechen) (fol. T\ vgl. Tafel 7) (80) ob auch die frembden zfl torniren (oder ftechen) zflgelaffen wurden. (J. Bolte 1894, S. 7) (81) ob auch die frembden/ zS Torniren zS gelaffen wurden/ (neben dem unterstrichenen Wort am Rand: oder fteche) (fol.. T; vgl. Tafel 7)
Der Majuskelgebrauch ist jedoch mit diesen generellen Aussagen noch nicht vollständig erfaßt: Das Nebeneinander von Groß- und Kleinschreibung bei Peter weist auf eine noch nicht völlig gefestigte Tendenz hin. Zusätzlich zeigt sich eine distributionelle Besonderheit bei solchen Satzgliedern, die zwei der sonst hervorgehobenen Wörter enthalten. In den Formen Die freyhetfn vnd Edeln (14)M, vatter und Mütter (14; ebenso 16, 18) und Edelman/αύβ franckreich (20), Iunckffrawen vndfräwe (20), Edel vnd vnedell (fol.. 7r; Tafel 6) scheint die Großschreibung eines Wortes zu genügen, um das ganze Satzglied besonders hervorzuheben. In diesen Befund ordnet sich auch die Verbindung von Rufname und Herkunftsname/Familienname ein, was J. Bolte nicht wiedergibt: (82) (83)
88
mit namen her Heinrich von Crappana genant, (J. Bolte 1894, S. 7) mit name her heinrich von Crappana genant/ (fol.. T- Tafel 7)
Das D ist als zweizeilige Initiale realisiert.
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Während in den bisher behandelten Fällen die Lesung als Majuskel in der handschriftlichen Überlieferungen relativ problemlos möglich ist, kann die Großschreibung des Personalpronomens Ir in der direkten Rede auf einer Schwierigkeit der Unterscheidung von Majuskel und Minuskel beruhen, obwohl durch die Hervorhebung des Anredenominativs Gnedigefraw Mütter (17 f.) auch eine bewußte Regelung durch J. Bolte vorliegen könnte. In den Belegen (84) (85) (86) (87) (88) (89) (90)
wurden Ir (Beispiele 13 f.) wie Ir mich bißher erzogen (J. Bolte 1894, S. 4) wie jr mich bißher erzogen (fol.. 4r; vgl. Tafel 3) Ir wollen mir (J. Bolte 1894, S. 5) jr wollen mir (fol.. 4V; Tafel 4) In dem werdet Ir mir (J. Bolte 1894, S. 5) In dem werdet jr mir (fol.. 5"; Tafel 5)
liegt jeweils das Graph , eine Minuskel, vor, die sich handschriftenintern deutlich vom Graph , einer Majuskel, unterscheidet. Die Edition J. Boltes führt dagegen zum Ansatz einer Großschreibungsregel des Anredepronomens in der direkten Rede, die in der Handschrift nicht vorhanden ist. Bereits die Analyse der Magelone-Handschrift Veit Warbecks von 1527 führt zur Erkenntnis von Gebrauchsnormen, die Servais Kruffter in seiner im gleichen Jahr veröffentlichten Rhetorik nicht erfaßt und die er präskriptiv zum Teil verändern möchte. Die Geschichte der Großschreibung von nomina appellativa läßt sich - wenigstens zum Teil - anhand der Prologstelle aus der Regula Benedicti-Tradition nachvollziehen (Beispiele 48-75). Eine erste Großschreibung eines hervorgehobenen Wortes findet sich in der Regelüberlieferung von 1534 im Substantiv Zungen (57). Obwohl in dem Beispiel (63) keine Großschreibung eines Substantivs vorkommt, ist eine solche doch schon vorhanden, jedoch ist die Bindimg an besonders hervorzuhebende Wörter immer noch gegeben, wie eine Zusammenstellung der Wörter mit Majuskelgebrauch aus dem Prolog ergibt: (91)
(92)
Maister, Vatter, Gehorsam, Künig, Herr, H. Schrifft, Kirche, Tod, Mensch, Gott, Glauben, Reich, Tabernackel, Prophet, H. Berg, Bruder, Name, Apostel, Euangelium, Ermanung, Büß, Himmelreich, Schäl, Liebe, Maisterschafft, Kloster (B 78, 1574) zä dem GÖtlichen liecht, die Gfitliche stimm, vorberaitung des Euangelischen frids, mit dem Kttnigklichen Propheten (B 78, 1574)
Hervorgehoben werden Substantive, die sich auf den Begründer der Regel, auf Gott, auf die Bibel, die im Kloster lebenden Personen und die zentralen Begriffe des Klosterlebens beziehen. Die Wörter Tod, Reich, H. Berg, Name, Ermanung,
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Bdß und Schäl erfahren nur dadurch eine Großschreibung, weil sie sich auf gleiche außersprachliche Realitäten beziehen {Reich, Himmelreich und H. Berg) bzw. mit den Zentralbegriffen in Verbindung stehen, indem sie Voraussetzungen und Konsequenzen für eine Entscheidung zum Klosterleben nennen. Aus den gleichen Gründen erfolgt eine Großschreibung der Adjektive in (92). Im Jahre 1650 sind schon weitere Substantive in die Großschreibung einbezogen (64), ohne daß in allen Textvorkommen eine Hervorhebungsfunktion zu begründen ist. Die ergibt sich auch aus der Gesamtanzahl von substantivischen Wortformen des Prologs; von den 206 Wortformen werden 92 mit Majuskel und 114 mit Minuskel realisiert. Bereits im Jahre 1670 ist die Großschreibung der Substantive weitestgehend durchgeführt (65).89 Von den gegenwartssprachlichen Regelungen weichen einmal die deadjektivischen Substantive vom bSsen, das gute (65) ab. Sie werden konsequent klein geschrieben: (93)
was du gutes anfangest (B 368, 1670, Ρ 4)
Dies gilt auch für die mit nichts und etwas verbundenen deadjektivischen Substantive: (94) (95)
wir verhoffen/ daß nichts vnmiltes/ hartes/ oder schweres wird gefunden werden. (B 368, 1670, Ρ 46) etwas strengeres (B 368, 1670, Ρ 47)
Schwankungen in der Orthographie begegnen nur an zwei Stellen: (96) (97) (98)
haben wir gehöret vnd vernommen den Weeg vnd weiß/ darinn zu wohnen: (B 368, 1670, Ρ 47) von wegen vnser BSßheit (B 368, 1670, Ρ 5) vmb vnser bSßheit (B 368, 1670, Ρ 7)
Daher kann bereits knapp 20 Jahre nach Johann Girberts Forderung der Substantivgroßschreibung ihre Durchführung festgestellt werden, die sicher auch auf Gebrauchsnormen beruht und nicht ausschließlich eine Wirkung der präskriptiven Norm ist. Seit 1749 läßt sich die Großschreibung der deadjektivischen Substantive belegen (67-75); allerdings wird die Kleinschreibung nach nichts noch beibehalten:
89
Dazu und zu den folgenden Beispielen die diplomatische Wiedergabe des Prologs in: Franz Simmler, vgl. Anm. 10, S. 135-139.
78
Franz Simmler (99)
es solle in selbiger nichts allzuhartes oder schweres verordnet werden (B 606, 1753, Ρ 46; vgl. Beispiel 69)
Insgesamt zeigt sich eine Entwicklung von der textsortenabhängigen Hervorhebung einzelner Wörter durch einen Majuskelgebrauch bis zur Kennzeichnung einer Wortart mit Hilfe der Großschreibung, was mit einer Variantenreduktion und Funktionsspezifizierung bei den Repräsentationstypen für syntaktische Strukturen verbunden ist. Dieser Zusammenhang und der hier nur skizzierte Entwicklungsprozeß der Substantivgroßschreibung sind im einzelnen noch näher zu beschreiben, indem verschiedene Textsorten und Schreibdialekte einbezogen werden. Editionen von Texten Früher Neuzeit, die nicht normalisieren, können dazu Grundlagen bereitstellen.
2.4 Morphologie (Flexions- und Wortbildungsmorphologie) und die Unterscheidung von grammatischen und orthographischen Varianten Da zu den historischen Sprachstufen des Deutschen zahlreiche Grammatiken vorhanden sind, die die Morphologie behandeln, ist die Bedeutung von morphologischen Varianten den Editoren durchaus bewußt, so daß sie versuchen, sie bei ihrer Textwiedergabe zu berücksichtigen. Unterschiedliche Auffassungen in der Editionstheorie ergeben sich bei der Unterscheidung von sog. grammatischen und orthographischen Varianten, bei den Graden der Wiedergabe von Kürzeln und Abkürzungen oder ihrer Auflösung und bei der Berücksichtigung von Trennungszeichen, Zeilenrand und Formen der Getrennt- und Zusammenschreibung. Die Unterscheidung von grammatischen und orthographischen Varianten ist unter sprachtheoretischen Überlegungen vordergründig. Sie setzt einmal einen engen Grammatikbegriff voraus und unterstellt, daß es orthographische Realisationen gebe, die keine grammatische Relevanz besitzen. Wenn es jedoch die Aufgabe der Grammatik ist, die Einheiten der langue einer Einzelsprache zu ermitteln, dann reicht ihr Phänomenbereich von den Phonemen bis zu den Textsorten. Die Phoneme aber können in einer ausschließlich schriftlich fixierten Sprachstufe wie dem Frühneuhochdeutschen nur aus den allein vorhandenen Einheiten der parole, den Buchstaben, d.h. Graphen, ermittelt werden, und eine Beschreibung ist erst dann vollständig, wenn alle Einheiten der parole Einheiten der langue zugewiesen werden. Insofern gibt es überhaupt keine Graphe ohne eine grammatische Relevanz. Doch selbst wenn ein enger Grammatikbegriff verwendet und mit der Existenz von sprachlichen Zeichen verbunden wird, d.h. mit der Beschreibung der Morpheme beginnt, selbst dann gibt es noch keine Graphe ohne grammatische Relevanz: Da die Morpheme als sprachliche Zeichen aus einer Einheit aus Ausdrucks- und Inhaltsseite bestehen und die Ausdrucksseite aus Phonemen gebildet wird, die wiederum von Graphen repräsentiert werden, sind die Graphe
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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an der Konstitution der Ausdrucksseite von Morphemen beteiligt. Erst wenn Morpheme ausschließlich inhaltsseitig definiert werden, d.h. die Ausdrucksseite vernachlässigt wird, könnten grammatisch irrelevante "Unterschiede lediglich orthographischer Art"'0 angesetzt werden, jedoch ist dann ein Widerspruch zur Definition sprachlicher Zeichen offensichtlich.'1 Daher wird im folgenden die Unterscheidung von grammatischen und orthographischen Varianten nicht weiter beachtet, sondern es wird nur noch von Wörtern und Morphemen bzw. einzelnen Morphemtypen als Einheiten der Morphologie ausgegangen. In der Flexionsmorphologie führt die in Editionen praktizierte exakte Wiedergabe des Befundes in der Vorlage zu Einsichten in der Anzahl und Frequenz von Allomorphen, die gemeinsam ein Morphem konstituieren. So können zur Kennzeichnung des Genitivs Singular Maskulinum und Neutrum beim unbestimmten Artikel und bei den Possessivpronomina in den beiden ersten Kapiteln von Veit Warbecks Magelone-Handschrift aus der Edition und der Handschrift folgende Belege zusammengestellt werden: (100) eins tags (3x); eins grollen gelds (J. Bolte 1894, S. 4-6; vgl. Tafeln 2-7) (101) feines Sons, feins gleichen, feines hinweg ziechens, deines vattern, deines hinwegziehens, feins vattern, meins hinweg ziehens (J. Bolte 1894, S. 4-6; vgl. Tafeln 2-7)
Für den unbestimmten Artikel ergibt sich aus dieser Beleglage der Ansatz eines Morphems {s}. Die sog. "synkopierte Endungsvariante -s" gilt hier ausschließlich und liegt nicht nur "in etwa einem Drittel der Belege des Typs auf -(e)s" vor.®2 Für die Possessiva können die beiden Allomorphe {s} und {as} fast in gleicher Frequenz ermittelt werden; das Allomorph {as} überwiegt im Verhältnis von 4 : 3. Es ist also nicht so, daß "die Variante -es überall die dominierende" ist und im Mitteldeutschen "rund drei Viertel aller Belege" und im Gesamtoberdeutschen "etwa zwei Drittel der Belege" ausmacht.93 Für den unbestimmten Artikel bestätigt sich der Befund im ersten MageloneDruck von 1535, während sich für die Possessivpronomina ein anderes Ergebnis ergibt: 90 91
92
93
Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 397. Dazu Franz Simmler: Morphologische Grundlagen zur Beschreibung althochdeutscher Schreibdialekte. In: Althochdeutsch. In Verbindung mit Herbert Kolb, Klaus Matzel, Karl Stackmann hrsg. von Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach, Lothar Voetz, I. Heidelberg 1987, S. 114-146, hier S. 117 f. und 127 f. mit weiterweisender Literatur. So Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur Laut- und Formenlehre hrsg. von Hugo Moser, Hugo Stopp (t) und Werner Besch, VII. Maria Walch, Susanne Häckel, Flexion der Pronomina und Numeralia. Heidelberg 1988 (Germanische Bibliothek. Erste Reihe. Sprachwissenschaftliche Lehr- und Elementarbflcher), § 61.2, Anm. 8. Maria Walch, Susanne Häckel, vgl. Anm. 92, § 40.2, Anm. 10.
80
Franz Simmler (102) feines Suns, Seins gleychens; feynes hinwegk ziehens, deynes Vatters, deines hinwegziehens, feines vatters, meines binwegziehens (Kap. 1-2, S. Aj/a-Aij/b; vgl. Tafeln 11-14)
Bis auf einen Beleg mit dem Allomorph {s} kommt ausschließlich das Allomorph {as} vor. Die exemplarische Behandlung eines Relationsmorphems ergibt, daß die Darstellung der Flexionsmorphologie in den Grammatiken noch nicht abgeschlossen ist und deren Befunde um Unterschiede in einzelnen Textsorten und ein teilweise unterschiedliches Verhalten in Handschriften und Drucken zu erweitern sind. Eine Erweiterung der Kenntnis von Variabilität und Komplexität im Frühneuhochdeutschen ist aber nur möglich, wenn textintern vorhandene Variabilitäten in Editionen nicht zugunsten des häufigsten Allomorphs ausgeglichen werden. Obwohl in einzelnen Editionen eine exakte Wiedergabe der Vorlage angestrebt wird, zeigen sich im Hinblick auf die Wortbildungsmorphologie normalisierende Tendenzen, ohne daß dies in der Edition irgendwo vermerkt ist. Selbst wenn dies auf offensichtlichen Schwierigkeiten beruhen sollte, in der Vorlage zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung zu unterscheiden, müßte es einschließlich der praktizierten Vorgehensweise bei der Edition in der Einleitung vermerkt werden.*4 Meist wird jedoch stillschweigend eine normierende Entscheidung getroffen. Auf Leseschwierigkeiten geht die Wiedergabe des nhd. Substantivs das Hinwegziehen in J. Boltes Edition zurück, denn der in Beispiel (101) abgedruckte Befund zeigt sich so nicht in der Handschrift Veit Warbecks: (103) feineo hin weg [ZR] ziecheno, deines hin wegzieheno, meines hin [ZR] weg zieheno (fol. 3V, 5"; vgl. Tafeln 3, 5)
Zunächst ist festzuhalten, daß die Festlegung eines Adverbs hinweg wegen der zweimal vorhandenen Getrenntschreibung nicht gerechtfertigt ist. Obwohl der Zeilenrand im letzten Beleg generell ein Interpungierungsmittel einschließlich eines Trennungszeichens ersetzen kann, ist von diesem Beleg aus gegen die beiden anderen Belege keine Zusammenschreibung von hinweg zu begründen. Ferner zeigt sich, daß der Wortbildungsprozeß, der zur Worteinheit des Substantivs das hinwegziehen führt, noch nicht abgeschlossen ist, obwohl durch das Relationsmorphem {s} und die attributive Zuordnung von Possessivpronomina der Charakter als Substantiv bereits festgelegt ist. Durch die zweimal fehlende Zusammenschreibung wird synchron eine Etappe auf dem Wortbildungsprozeß erkennbar, der vom syntaktischen Nebeneinander von Adverb und Verb ausgeht, zu einem verbalen Kompositum hinwegziehen führt und über eine Transposition in die Wortart
94
So Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 405.
Prinzipien der Edition aus sprachwissenschaftlicher Sicht
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Substantiv zur Übernahme substantivischer grammatischer Kategorien und schließlich zur späteren Großschreibung führt. Die Getrenntschreibung signalisiert, daß zur Bildung eines Substantivs aus einer verbalen Wortgruppe die Konstitution eines verbalen Kontinuums keine notwendige Voraussetzung ist. Dieses Ergebnis wird durch den Befund im ersten Druck von 1535 gestützt, in dem neben einer zweimaligen Zusammenschreibung auch einmal eine Getrenntschreibung vorkommt (102). Von einer genauen und widerspruchsfreien Auflösung von Kürzeln und Abkürzungen sind die Ausdrucksseiten der Morpheme abhängig und die Auswertungen von Erscheinungen der grammatischen Kongruenz und Rektion. Daher ist es notwendig, daß über die Prinzipien der Auflösungen und ihre textinternen oder aus anderen Texten übernommenen Grundlagen Rechenschaft abgelegt wird.®5 Dies ist bei J. Boltes Magelone-Edition nicht der Fall: Obwohl eine genaue Handschriftenwiedergabe erfolgen soll, werden Kürzel einfach aufgelöst, ohne sie im einzelnen zu verzeichnen. Von den fehlenden Hinweisen abgesehen, sind die Auflösungen von Abkürzungsstrichen bei den Wortformen vernemen, vberkommen, [einem und von (13 f.) relativ unproblematisch. Die Abkürzungsstriche verweisen auf die Graphe und . Erste Probleme entstehen aber bereits, wenn der Auflösung freyherren gefolgt wird, da in diesem Falle der Abkürzungsstrich für stehen soll, was zu einer Doppelschreibung des führt. Die Doppelschreibung ist in den Belegen (104) herffl (3x; vgl. J. Bolte 1894, S. 3; fol.. 2a, Tafel 1)
gesichert, doch verweist der Abkürzungsstrich nur auf ein . Das bedeutet, daß der gleiche Abkürzungsstrich beim gleichen Wort in zweifacher Weise aufgelöst wird. Dadurch entsteht eine Einheitlichkeit in der Schreibung des Wortes herr, die in der Handschrift nicht existiert, wenn die Wortformen ohne jedes Abkürzungszeichen zum textinternen kontrastiven Vergleich herangezogen werden: (105) herfchafft, her vatter, her heinrich vö Crappana (J. Bolte 1894, S. 5-7; fol.. 4V, 6r, T, Tafeln 4, 5, 7)
Zu dieser Einheitlichkeit trägt auch die bei anderen Anredenominativen und bei anderen Nominativ Singular-Formen praktizierte Auflösung des gleichen Abkürzungsstrichs als -Graph bei: (106) mit namen herr Johan Cerife, herr vatter (J. Bolte 1894, S. 3, 5) (107) mit name/ her Iohan Cerife, her vatter (fol. 2r, 4r; vgl. Tafeln 1, 3)
* Rolf Tarot, vgl. Anm. 4, S. 379.
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Insgesamt wird durch die Vorgehensweise J. Boltes in der Edition eine Einheitlichkeit in der Graphie geschaffen, die in Veit Warbecks Handschrift nicht vorhanden ist. Ferner werden unterschiedliche Abkürzungsauflösungen vorgenommen, ohne die Formen der Abkürzungen zusammenzustellen und die eigenen Entscheidungen nachprüfbar zu machen. Gerade Doppelgraphe spielen aber bei der Festlegung der Kürze des vorhergehenden Vokals eine besondere Rolle, und daher sollten alle Editorenentscheidungen, die zu ihrem Ansatz neben dem Gebrauch von Doppelgraphen ohne Bezug zu Abkürzungen führen, eindeutig gekennzeichnet sein. Neben relativ unproblematischen Auflösungen von Abkürzungen existieren jedoch auch solche, die morphologisch eine besondere Relevanz beim Aufbau einer grammatischen Kongruenz innerhalb von Satzgliedern besitzen, so daß eine unbegründete Auflösung zum Ansatz falscher Kongruenzformen führt. Für die Kongruenzerscheinungen innerhalb von Satzgliedern sind die Typen (Präposition) + Pronomen + Substantiv, (Präposition) + Adjektiv + Substantiv, (Präposition) + Pronomen + Adjektiv + Substantiv, (Präposition) + Adjektiv + Adjektiv + Substantiv, (Präposition) + Pronomen + Pronomen + Substantiv und Appositionen besonders wichtig, wenn durch das Verb oder die Präposition eine Kasusrektion auf den Dativ erfolgt und ein Akkusativ nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann. Zum Typus (Präposition) + Pronomen + Substantiv können im MageloneRoman u.a. folgende Belege nachgewiesen werden: (108) jn deine furnemen zä verhindern (fol. 5r; vgl. Tafel 4) (109) jn deinem furnemen zä verhindern (J. Bolte 1894, S. 5) (110) fampt feine gemahell (fol. 8*) (111) fampt feinem gemahell (J. Bolte 1894, S. 7) (112) fampt feinem gemahel (J. Bolte 1894, S. 11; fol.. 13") (113) jn jrem Son (J. Bolte 1894, S. 3; fol.. 2V; vgl. Tafel 2)
Da in den Beispielen (112 f.) das Relationsmorphem {am} ohne Abkürzungsstrich realisiert ist, erweisen sich die von J. Bolte für die Beispiele (108) und (110) gegebenen Auflösungen als begründet. In einer Reihe von Belegen ist eine gesicherte Auflösung jedoch kaum möglich: (114) Lieffe im machen zwen filbern fchhiffel auff feinem heim (J. Bolte 1894, S. 7) (115) lieffe im machen/ zwen filbern fchluffell/ auff feine heim/ (fol. 8r; vgl. Tafel 7)
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(116) Er ließ im auch machen auff all decken feiner pferd fchluffell. (J. Bolte 1894, S. 7) (117) Er ließ im auch machen/ auff all decken feiner pferd/ fchluffell: (fol. 8*) (118) Ließ jm machen zwen Silbern fchlüffel auff feine heim/ (Kapitel 3, S. Aiüj/a; Druck 1535; vgl. Tafel 14) (119) Er ließ jhm auch machen auff alle feine decken feiner pferdt fchlüffel/ (Kap. 3, S. Aiüj/a; Druck 1535; vgl. Tafel 14) (120) Ließ jhm machen zwehn Silberin fchlüffel auff feinen heim (Kap. 3, S. Aiiij/a, Druck 1537) (121) Er ließ jhm auch machen auff alle feine decken/ feynem pferde fchlüffel/ (Kap. 3, S. Aiiij/a, Druck 1537)
J. Bolte löst den Abkürzungsstrich in (115) als auf und legt damit das Relationsmorphem {am} fest, das nach der Präposition auf die grammatischen Kategorien von Dativ Singular Maskulinum signalisiert. Diese Editorenentscheidung ist handschriftenintern nicht sicher zu begründen, da in Beispiel (116 f.) bei völlig gleichem Kontext das Indefinitpronomen all auf einen Dativ oder Akkusativ (Plural Femininum) verweisen kann und das Relationsmorphem {0} zur Kennzeichnung eines Dativs nicht so häufig verwendet wird wie das Morphem {an}.96 Um eine gesicherte Entscheidung herbeizuführen, hätte J. Bolte die gedruckte Überlieferung heranziehen können. In Beispiel (120) liegt durch das Relationsmorphem {an} ein eindeutiger Hinweis auf den Akkusativ vor; dies gilt auch für die Relationsmorpheme {a} zu all und fein in (121).'7 Aufgrund des kontrastiven Sprachvergleichs zu den nur wenige Jahre später hergestellten Drucken von 1535 (118 f.) und 1537 (120 f.) erweist sich die Auflösung der Abkürzung durch J. Bolte als unbegründet. Sie ergibt einen synchron möglichen, aber aufgrund der Gesamtüberlieferung unwahrscheinlichen Sprachzustand. Zum Typus (Präposition) + Pronomen + Adjektiv + Substantiv lassen sich diese Belege zusammenstellen: (122) in feinem edeln hertzen (J. Bolte 1894, S. 4) (123) in ieine edeln hertzen/ (fol. 3V; vgl. Tafel 3) (124) von meinem kleinen vormugen (J. Bolte 1894, S. 16) (125) von meine kleinen vormugen (fol. 220 (126) in ewerm edeln hertzen (J. Bolte 1894, S. 17)
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Maria Walch, Susanne Häckel, vgl. Anm. 92, §§ 66, 96.3 mit Anm. 12. Maria Walch, Susanne Häckel, vgl. Anm. 92, §§ 39, 43.1, 66, 96.1.
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(128) von jrem gelipten menfchen Peter (J. Bolte 1894, S. 28; fol.. 400 (129) mit gantzem feinem hertzen (J. Bolte 1894, S. 10) (130) mit gantze feine hertzen/ (fol. 13·) (131) in allem ewerm zuchtigen wefen (J. Bolte 1894, S. 11; fol.. 141)
Das handschrifteninterne Nebeneinander von Formen mit Abkürzungen (123,125) und ohne solche (127 f.) zeigt, daß die Auflösungen J. Boltes gerechtfertigt sind. Zugleich läßt sich bereits die gegenwartssprachlich immer noch gültige Regel erkennen, daß ein Relationsmorphem im Satzglied den Kasus in eindeutiger Weise markiert, während die übrigen Relationsmorpheme in unterschiedlicher Weise am Aufbau des Beziehungsgefüges der grammatischen Kongruenz beteiligt sind. Diese Regel ist an die Abfolge von Pronomen + Adjektiv gebunden. Wenn die Distribution Adjektiv + Pronomen vorliegt, besitzen beide Wortarten ein den Kasus eindeutig kennzeichnendes Relationsmorphem (129 f.). Diese gegenüber der Gegenwartssprache andere Regel, die zunächst an die Abkürzungsauflösung J. Boltes gebunden war, wird durch Beispiel (131) bestätigt, in dem keine Abkürzungen vorhanden sind; daß nach der Abfolge von Adjektiv + Pronomen noch ein weiteres Adjektiv vor dem Substantiv folgt, tangiert die Beweiskraft des Beispiels nicht, sondern zeigt lediglich eine Erweiterungsmöglichkeit des vorhandenen Typus. Eine zweifache eindeutige Kennzeichnung des Kasus kommt auch in dem Typus (Präposition) + Pronomen + Pronomen + Substantiv vor: (132) jn difem ewerm furfatze (J. Bolte 1894, S. 24; fol.. 34")
Anders als bei der Abfolge von Adjektiv + Pronomen hat sich diese Regel bis in die Gegenwartssprache gehalten. Obwohl sich in einer Anzahl von Fällen die Abkürzungsauflösungen von J. Bolte bestätigt haben, gehört das Nebeneinander von abgekürzten und nicht abgekürzten Wortformen zur historischen Realität der handgeschriebenen und gedruckten Textexemplare. Werden die Abkürzungen einfach aufgelöst, ohne dies explizit zu kennzeichnen, wird eine Schreib- oder Druckrealität geschaffen, die so nicht existiert hat. Die Editionen von Texten der Frühen Neuzeit müssen diese Realität wiedergeben, ganz abgesehen davon, daß auch falsche Auflösungen möglich sind, die zu nicht vorhandenen morphologischen Kongruenzregeln führen können.
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2.5 Phonologie und das Verhältnis von Graph, Phon und Phonem Da die Texte der Frühen Neuzeit ausschließlich graphisch überliefert sind, ist es für den Sprachwissenschaftler nicht ganz leicht, die von den Graphen/Buchstaben repräsentierten Phone/Laute und Phoneme zu ermitteln. Dennoch ist ein solches Abstraktionsverfahren möglich, bei dem primäre und sekundäre Methoden herangezogen werden.98 Eine Anwendung dieser Methoden ist jedoch nur dann uneingeschränkt möglich, wenn in den Editionen die orthographische Variabilität bewahrt und nicht normierend ausgeglichen wird. Ob einzelne Graphe eine phonologische Relevanz besitzen und auch phonische Auswertungen zulassen, kann nicht schon vor einer Analyse festgelegt werden, was jedoch bei Normalisierungen "entsprechend dem Lautwert"" geschieht. Daher dürfen auch bei dem Bemühen um einen dem Willen des Autors möglichst nahe kommenden Text orthographische Varianten nicht beseitigt werden. Selbst wenn ein Autograph vorhanden ist, können für sprachwissenschaftliche Auswertungen "Abweichungen vom ursprünglichen Text durch handschriftliche Eigenheiten der Schreiber oder Setzer genauso wichtig sein wie die ursprüngliche Originalversion."100 Die Editionstheorie und Editionspraxis wird dagegen häufig von einem älteren Erkenntnisstand geprägt, in dem die "ungeheure Verwahrlosung, in welche die Orthographie der Frnhd. zeit immer mehr gerät",101 beklagt wird. Diese Auffassung wird bis in neueste Veröffentlichungen weiter tradiert, in denen für das Frühnhd. "eine gewisse Willkür in der Schreibung" konstatiert wird, die sich in "Unregelmäßigkeiten in der Bezeichnung der Länge und Kürze" ebenso zeige wie durch eine "unmotivierte Häufung von Buchstaben, vor allem Konsonanten."102 Wegen dieses mehr behaupteten als festgestellten Befundes nimmt V. Moser103 für sich in Anspruch, "so gut als möglich, eine saubere trennung zwischen den recht willkürlichen graphischen zeichen und dem wirklichen, phonetischen wert eines lautes" vornehmen zu dürfen, und R. Bentzinger - R. Bock - H. Langner104 begnügen sich damit, die "Eigenarten" der frühnhd. Orthographie auf die "Freude am Ausmalen" oder die "Absicht, Wörter zu längen und Zeilen zu füllen", zurückzufüh-
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Franz Simmler: Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Mittelhochdeutschen. In: Sprachgeschichte, vgl. Anm. 2, Zweiter Halbband. Berlin, New York 1985, S. 11291137, hier S. 1130 mit weiterweisender Literatur. Empfehlungen, vgl. Anm. 25, S. 305. Herbert Penzl: Frühneuhochdeutsch. Bern, Frankfurt/M., Nancy, New York 1984 (Germanistische Lehrbuchsammlung. 9), S. 31. Virgil Moser: Historisch-grammatische Einführung in die frühneuhochdeutschen Schriftdialekte, Halle/S. 1909, Nachdruck Darmstadt 1971, § 1, S. 82. Rudolf Bentzinger, Rolf Bock, Helmut Langner: Frühneuhochdeutsch. In: Geschichte der deutschen Sprache. Mit Texten und Übersetzungshilfen. Verfaßt von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Wilhelm Schmidt. 3. Aufl. Leipzig 1980, S. 281-358, hier S. 282. Vgl. Anm. 101, § 1, S. 82. Vgl. Anm. 102, S. 282.
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ren, statt die Normen graphischer Variation Wort für Wort, Distribution für Distribution und Text für Text festzustellen. Vor allem die sprachtheoretisch nicht haltbare These der Existenz von ausschließlich orthographisch relevanten Varianten führt in der Editionstheorie dazu, "Unterschiede lediglich orthographischer Art" nicht zu berücksichtigen.105 Zu ihnen gehören die "Verschiedene Schreibung der gleichen Vokale: seie — seye, sie - sye, leute - leüte, getäufft - geteufft, immer - ymmer, ieder - jeder, fehl - fäl, hilfe - hülfe, erschröcklich - erschrecklich, schewen - scheuhen, sawer - sauer".106 Wie weit hier der Spielraum subjektiver Entscheidungen reicht, zeigt, daß selbst Gegensätze von gerundeten und ungerundeten Vokalen (hilfe — hülfe, erschröcklich — erschrecklich) unbeachtet bleiben sollen. Wenn unter dem 'gleichen Vokal* die Einheit des Phonems gemeint sein sollte, dann ist es von besonderer Relevanz, ob dieses Phonem graphisch einheitlich oder in einer graphischen Variation repräsentiert wird. Ist ein graphisches Nebeneinander vorhanden, dann ist die Frequenz der Graphe zu erfassen, um Gebrauchsnormen erkennen zu können. Bereits die textinterne Ermittlung von Gebrauchsnormen und ihrer distributioneilen und lexikalischen Gebundenheit stellt einen Fortschritt gegenüber den bisherigen Aussagen dar und bildet die Grundlage für eine noch nicht geschriebene Geschichte der deutschen Orthographie. Die synchrone Zuordnung von Graphen zu Phonemen führt zur Aufstellung von Phonemsystemen, die in frühnhd. Zeit nebeneinander existieren und deren Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Aus dem Vergleich zeitlich aufeinander folgender Phonemsysteme lassen sich Sprachwandeltendenzen und Entwicklungsstadien bis hin zum Phonemsystem der deutschen Standardsprache erkennen; auch hier stehen die meisten Untersuchungen noch aus. Sie betreffen u.a. im Bereich des Vokalismus die Entwicklung von Umlautphänomenen und die Erscheinungen von Dehnung, Kürzung, Rundung und Entrundung und im Bereich des Konsonantismus u.a. die Übergänge von Simplex: Geminata-Oppositionen zu Fortis: Lenis-Oppositionen und Lenisierungs- und Fortisierungstendenzen einschließlich der Zusammenhänge zwischen Vokalismus und Konsonantismus. Solche Untersuchungen sollten durch die Editionen von Texten der Frühen Neuzeit ermöglicht und nicht erschwert werden. Welche Auswertungen anhand kritischer Editionen möglich sind, soll anhand von Kurzvokal- und Langvokalmarkierungen bzw. konsonantischen Einfach- und Doppelschreibungen kurz angezeigt werden, indem die Asbacher und Trierer Benediktinerregel mit der Tradition des Magelone-Romans verglichen wird. Dabei wird auch auf Editorenentscheidungen eingegangen, die zu falschen Auswertungen füh-
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So noch explizit Winfried Woesler: Die Normalisierung historischer Orthographie als wissenschaftliche Aufgabe. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105,1986, Sonderheft, S. 69-83, hier S. 73. Zitate aus Werner Besch, vgl. Anm. 25, S. 397, dazu ferner S. 399.
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ren. In der Asbacher Benediktinerregel aus der Mitte des 13. Jahrhunderts können die Kurzvokalphoneme /i, e, a, o, u/ in den Wortformen (133) (134) (135) (136) (137)
im, widerkomeft, riterfcheften — willeklih, beginneft, nimmer, ftimme rede — etwenne, wellen vaters, zal — zallen ziten gebot, gotes — offen kvnige, Tun, fvne — geluften, behaltenvffe (F. Simmler 1985, S. 48 f.; fol. l r , l v ; vgl. Tafel 15, 16)
nachgewiesen werden. Die Langvokalphoneme fl, e, ä, 5, ü/ kommen in den Wortformen (138) (139) (140) (141) (142)
dines, min, ziten kert, eren, vfften, 1er manunge, waren, wafen — flaffe Höre, or, bofen dv, nv, vfrihten (F. Simmler 1985, S. 48 f.; fol. I1, l v ; vgl. Tafel 15,16)
vor. In der Trierer Benediktinerregel aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts zeigen sich folgende Wortformen, soweit der gleiche Wortschatz zur Übersetzung verwendet wird: (143) (144) (145) (146)
yme, wydir — beginneo, ftyme rede vadero, zale — allezijt gebot
(147) kvnige — geluften bzw. (148) (149) (150) (151) (152)
dyneo, mine keren, βτβη, vffteyn, leien manunge, gewarem, wapen — flafe Hoie, oie, bofe du, nu (F. Simmler 1985, S. 80f; fol. l r , l v ; vgl. Tafel 21, 22)
In beiden Textexemplaren werden die Kurz- und Langvokale durch die Graphe repräsentiert. Lediglich in der Trierer Benediktinerregel zeigt sich eine neue orthographische Tradition. Sie kommt wortgebunden beim Verbum vffteyn vor, in dem die Graphfolge auf das Phonem / e / verweist und ein spezifisches Dehnungszeichen im Graph vorhanden ist. Die auf die vokalischen
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Phoneme folgenden Doppelkonsonanten besitzen noch nicht die in der Gegenwartssprache vorhandene Funktion, die Kürze des vorhergehenden Vokals zu signalisieren. In der Asbacher Benediktinerregel sind sie vielmehr Reflexe einer einmal vorhandenen Simplex: Geminata-Opposition.107 Diese Reflexe treten jedoch nach Langvokal nur noch in wenigen Distributionen und wortgebunden wie bei flaffe auf (140), weil die Aufgabe der Geminata nach Langvokalen und Diphthongen zugunsten des Simplex die Opposition in dieser Distribution beseitigt. Der Prozeß erscheint in der Trierer Benediktinerregel weitestgehend abgeschlossen zu sein (ISO). Die Simplex: Geminata-Opposition ist nur noch in der Distribution nach Kurzvokal vorhanden. Durch die in Veit Warbecks Magelone-Handschrift belegbare andere orthographische Tradition erfährt die Simplex: Geminata-Opposition auch nach Kurzvokal eine Umgestaltung. Dies wird anhand des gleichen Wortschatzbereiches deutlich, der aus den auch im Faksimile beigefügten Textteilen zusammengestellt ist: (153) (154) (155) (156) (157)
jm, komme, her widder, widder vmb, ritterfpilen, ritterfchafft — gutwilligklichen rede — wollet, wolleft vatter — allen, alleweg gott konigs, konig, Son, Sons — erlaubnuß (J. Bolte 1894, S. 3-7; fol. 2r-7"; vgl. Tafeln 1-7)
Neben der Kontinuität von Doppelgraphen und Einzelgraphen zeigen sich neue Doppelgraphe bei ritterfpilen, vatter, gott. Auch nach Langvokalen und Diphthongen kommen neben der Kontinuität von Einzelgraphen in (158) deines, mein, waren, gehört, zäzähoren, bofer, bofe
Doppelgraphe in Wörtern vor, die bisher mit Einzelgraphen geschrieben wurden: (159) weitter, mfltter, lauff, gfitter, auff, bereittet, heuttigen, gewohnheitten (J. Bolte 1894, S. 3-7; fol. 2'-t\ vgl. Tafeln 1-7)
Daraus ergibt sich, daß die Doppelgraphe nicht mehr die Funktion haben können, Geminaten zu markieren. Ihre Funktion steht in Zusammenhang mit graphischen Neuerungen bei*Wörtern mit Langvokalen: (160) geehret, ehr, ehre, ehren, ftehn, fteht (J. Bolte 1894, S. 3-7; fol. 2'-T; vgl. Tafeln 1-7)
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Zur Geschichte dieser Opposition Franz Simmler: Synchrone und diachrone Studien zum deutschen Konsonantensystem. Amsterdam 1976 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 26).
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Im Gegensatz zu Wörtern mit Langvokalen und gleichbleibender graphischer Tradition (158) wird in diesen Wörtern durch die Hinzufiigung eine als Dehnungszeichen die Vokallänge ausdrücklich gekennzeichnet. Aufgrund dieses Befundes ergibt sich für die Wörter, die in der Asbacher Benediktinerregel nach Kurzvokal mit Einfachkonsonanz, bei Veit Warbeck aber mit Doppelkonsonanz geschrieben werden, daß die Doppelkonsonanz eine neue Funktion erhält: Sie bekommt — wie in der Gegenwartssprache - die Funktion, die Kürze des vorhergehenden Vokals zu markieren. Da die Doppelkonsonanz nicht mehr die Funktion hat, eine Geminata zu bezeichnen, kann sie wegen ihrer neuen Funktionalität auch als graphische Neuerung auf Wörter mit Diphthongen übertragen werden (159). Ein phonologischer Wandel ist damit nicht verbunden, denn Diphthonge haben immer die Quantität von Langvokalen. Zu Problemen in der Auswertung kann es lediglich bei solchen Wörtern kommen, die mit Langvokalen tradiert, aber von Veit Warbeck mit Doppelkonsonanten geschrieben werden: (161) graffen, graff, grafffchafft; hatt, hett, hetten; waffen; von notten (J. Bolte 1894, S. 3-7; fol. 2'-T; vgl. Tafeln 1-7)
Bei diesen Wörtern ist der Ansatz einer lexikalisch gebundenen Schreibung, die gegen die sich gerade herausbildende neue Regelung bei Einsatz von Doppelgraphen verstößt, ebenso möglich wie derjenige von lexikalischen Sonderentwicklungen beim Ubergang von Langvokalen zu Kurzvokalen, was in Einklang mit der neuen graphischen Regelung steht und bei waffen mit dem gegenwartssprachlichen Zustand übereinstimmt. Generelle Lösungen sind hier nicht möglich, sondern es sind genaue Prüfungen des jeweiligen textinternen Befundes notwendig. Gelegentlich werden solche Prüfungen durch falsche Lesungen unmöglich gemacht. Dies ist bei den Beispielen mdtter und gätter der Fall, die von J. Bolte - der Sprachtradition folgend - mit Diphthong /uo/ angesetzt werden (159). In einer Reihe von Fällen ist der Haken über dem Graph jedoch nicht geschlossen und kommt darüber hinaus bei Wörtern vor, die unter diachronem Aspekt auch früher gar keinen Diphthong /uo/ besaßen (Beispiel 14). Daher ist der Ansatz eines Diphthongs /uo/ bei mdtter und gätter unbegründet: es liegt hier vielmehr ein Monophthong vor, der wegen der folgenden Doppelkonsonanz als Quantitätsmerkmal die Kürze haben dürfte. Bei mutter liegt dann bereits ein Befund vor, der dem in der Gegenwartssprache entspricht, während bei gutt von einer schreibdialektalen Besonderheit auszugehen wäre. Die neue Funktionalität der Doppelgraphe wirkt sich auch auf die graphischen Realisationen von Konsonantenverbindungen aus, die bereits auf die Kürze des vorhergehenden Vokals verweisen.
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Die in (162) funfftzig, alls, vntter, anttwortte, anttwort, grafffchafft, herfchafft, landfchafft, ortt, zäkunfftigen, notturfft (J. Bolte 1894, S. 3-7; fol. 2'-7v; vgl. Tafeln 1-7)
ritterfchafft,
zusätzlich auftretenden Doppelgraphe heben die Kürze des vorhergehenden Vokals noch mehr hervor. Sie müssen im Zusammenhang der Umgestaltungen im Phonemsystem gesehen und können nicht als "Wortungeheuer"108 und damit als irrelevante Modeformen abgewertet werden. Die durch die Umgestaltungen im Phonemsystem hervorgerufenen neuen graphischen Gebrauchsnormen ergeben bei einzelnen Wörtern eine gewisse Variationsbreite in der graphischen Realisation, während andere Wörter ohne jegliche graphische Variation geschrieben sind: (163) orthen, ortt — landen, landt, lands — Vnnd, Vnd — wirt, wirtte (J. Bolte 1894, S. 3-7; fol. 2r-T; vgl. Tafeln 1-7)
Eine Variationsbreite begegnet auch bei Wörtern mit anderen sprachlichen Traditionen: (164) preys, breiß — weyt, weitter
Häufiger ist jedoch, daß das graphische Nebeneinander - hier von und — nicht bei einem Wort vorkommt, sondern auf einzelne Wortgruppen verteilt erscheint. So wird der unbestimmte Artikel ein von Veit Warbeck ebenso konsequent mit geschrieben wie die Pronomina mein, dein, sein, kein; andererseits werden die Wörter dieweyl, beyde, bey, eynig, drey, stillschweygen regelmäßig mit realisiert. Insgesamt besitzen die einzelnen Textexemplare textintern jeweils einen "relativ überschaubaren Variantenbestand".10* Der Eindruck einer unüberschaubaren Vielfalt entsteht erst durch die Grammatiker, wenn sie nicht textintern, Wort für Wort, Morphem für Morphem und Distribution für Distribution vorgehen, sondern alle Schreibungen für ein ermitteltes oder bloß angenommenes Phonem zusammenstellen, die sich in allen Textsorten in unterschiedlichen Regionen und Jahrhunderten einer Epoche finden. Die in den Gebrauchsnormen vorhandene Variationsbreite zeigt Unterschiede zu der präskriptiven Norm der Gegenwartssprache, durch die jegliche graphische Variabilität ausgeschlossen werden soll. Dennoch sind die Variationen nicht so vielfältig und regellos, daß durch Editoren eingegriffen werden sollte, um einen 108 109
Virgil Moser, vgl. Anm. 101, § 21, S. 95. Gerhard Philipp: Einführung ins Frühneuhochdeutsche. Sprachgeschichte — Grammatik — Texte. Heidelberg 1980 (Uni-Taschenbücher. 822), S. 23.
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lesbaren Text herzustellen. Mit Recht wird das Argument einer besseren Lesbarkeit zur Rechtfertigung von Editoreneingriffen von K. Ruh und H. Zeller zurückgewiesen. Nach K. Ruh110 unterstellt das Argument "Leser, die sich nie mit solchen Denkmälern beschäftigten, und übersieht, wie schnell sich die Gewöhnung auch an ungewohnte Druckbilder vollzieht", was durch die beigefügten Abbildungen vom Magelone-Druck bestätigt werden kann. Nach H. Zeller111 ist eine modernisierte und vereinheitlichte Orthographie "eine Oberflächenbemalung, die über den wirklichen Sprachcharakter täuscht", denn die Orthographie ist nicht "ein austauschbares Gewand am eigentlichen, gesprochenen Körper der Sprache", und wer über sie stolpert, "wird auch einen modernen Text nicht verstehen". Den mehr behaupteten als tatsächlich vorhandenen Vorteilen normalisierter Texte stehen die Nachteile bei sprachwissenschaftlichen Auswertungen gegenüber. Normalisierte Texte lassen es nicht zu, Gebrauchsnormen zu erkennen und aus ihnen Sprachwandelerscheinungen herzuleiten. Die Kenntnisse von den phonologischen Umbauprinzipien, die gerade skizziert wurden, stecken noch in den Anfängen. Sie müssen differenziert nach Textsorten unter chronologischen und regionalen Aspekten verfeinert werden, und dazu können die Editoren beitragen, indem sie graphische Vereinheitlichungen unterlassen. Erst dann können die Eigenheiten der frühnhd. Schreibdialekte und ihre Rolle bei der Herausbildung der nhd. Schriftsprache voll erfaßt werden.
2.6 Offensichtliche Schreibfehler und Druckfehler Mit der Forderung nach einer diplomatischen Wiedergabe eines Textes steht die Verbesserung von offensichtlichen Schreib- und Druckfehlern nicht in Widerspruch. Doch gilt auch hier, daß die Eingriffe gekennzeichnet werden und eine Zusammenstellung aller Fehler erfolgt. Mit H. Zeller112 ist ein Textfehler "eine eindeutig fehlerhafte Stelle des überlieferten Textes", was sich aus dem Widerspruch zur "Struktur des Textes", d.h. aus dem textinternen kontrastiven Vergleich sprachlicher Einheiten, ergibt. Ein solcher Fehler "berechtigt und verpflichtet den Herausgeber zum Texteingriff".113 Im Magelone-Druck von 1535 kommt folgender Druckfehler vor:
110
111 112
113
Kurt Ruh: Votum für eine überlieferungskritische Editionspraxis. In: probleme der edition mittel- und neulateinischer texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn 26.-28. Februar 1973. Hrsg. von Ludwig Hödl und Dieter Wuttke. Boppard 1978, S. 35-40, hier S. 37. Hans Zeller, vgl. Anm. 20, S. 315. Vgl. Anm. 20, S. 319. So bereits Siegfried Scheibe, vgl. Anm. 6, jedoch mit der Forderung, "alle eindeutigen Fehler ... ohne Kennzeichnung im Text" zu korrigieren. Ähnlich Hans Zeller 1971, vgl. Anm. 2, S. 61 f.
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Franz Simmler (165) Wan den d' Künig de Ritter mit de filberin fchlüffeln anchtig warft (Kap. 4, Bj/b)
Aus dem Vergleich zur Handschrift und zum Druck von 1537, d.h. aus dem kontrastiven Sprachvergleich verschiedener Textexemplare, wird er offensichtlich: (166) Wan dan der konig den ritter mit den filbern fchlüffeln anfichtig ward (J. Bolte 1894, S. 10) (167) Wann dan der Künig dem Ritter mit den filberin fchlüffeln anfichtig ward (Kap. 4, Bj/b)
Bei anfichtig/anchtig liegt ein Setzfehler vor. Etwas schwieriger ist das Nebeneinander von warft und ward zu beurteilen. Aufgrund der grammatischen Kongruenz ist in der Verbform eine Kennzeichnung der grammatischen Kategorie der 3. Person Singular wie in (166 f.) zu erwarten. Die Verbform warft verweist jedoch auf die 2. Person Singular. Da bisher kein dem Einheitsplural vergleichbarer 'Einheitssingular' im Bereich der Relationsmorpheme im Teilparadigma des Präteritum Singular nachgewiesen werden konnte,114 ist von einem Verständnisfehler beim Drucker, einer Verwechslung der Verbform, auszugehen. Andere Fehlerformen treten in der Trierer Benediktinerregel auf. Die Belege (168) fyne für fyen (P 15), becwengylch für becwenglych (P 47), fplege für pflege (2.1); enfpange für enpfangen (2.3) (F. Simmler 1985, S. 80-88; fol. lr-8v; vgl. Tafeln 21-29)
zeigen, daß auch in Handschriften die in Drucken relativ häufige verkehrte Buchstabenfolge auftritt. Neben Buchstabenumstellungen sind offensichtliche Verschreibungen in (169) gedul [4ra] chicheyde für geduldicheyde (P 50), cranheyt für crankheyt (1.5) (F. Simmler 1985, S. 83; fol. 3vb, 4T>; vgl. Tafel 24)
vorhanden. Prinzipiell müssen solche Fehler von den in den Handschriften selbst vorgenommenen Korrekturen unterschieden werden:113
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Grammatik des Frühneuhochdeutschen. Beiträge zur Laut- und Formenlehre hrsg. von Hugo Moser, Hugo Stopp (t) und Werner Besch, IV. Ulf Dammers, Walter Hoffmann, HansJoachim Solms, Flexion der starken und schwachen Verben. Heidelberg 1988 (Germanische Bibliothek. Erste Reihe. Sprachwissenschaftliche Lehr- und Elementarbücher), §§ 16, 33, 71. Zu den Korrekturarten von Sofort-, Bald- und Spätkorrektur Henning Boetius: Textqualität und Apparatgestaltung. In: Texte und Varianten, vgl. Anm. 1, S. 233-250, hier S. 243.
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(170) df vinfterniffe aus dz korrigiert] (P 13) (171) vnd> heyme [h ausradiert] heie (2.20) (F. Simmler 1985, S. 81, 85; fol. l v b, 6'a; vgl. Tafeln 22, 26)
Obwohl die Trierer Benediktinerregel ein schlecht geschriebener und oft korrigierter Text ist, ist beim Ansatz lexikalischer Fehler dennoch Vorsicht geboten. In (172) dz du wydir zu yme komez/ mit erbeyde det gehoTfämecheide/ von deme du gefcheyd£ werez/ mit dei fchafheide der vngehoTiamicheide (P 2) (F. Simmler 1985, S. 80; fol. lra; vgl. Tafel 21)
wird von E. Petri116 für schafheide, das lat. desidia 'Trägheit' übersetzt, /chlafheide 'Schlaffheit' in den Text eingefügt. Diesem Vorschlag bin ich in einer Teiledition gefolgt,117 obwohl auch fchafheide mit der Inhaltsseite 'Art und Weise des Schafseins = Störrischkeit' einen Sinn ergibt, so daß eine Emendation nicht unbedingt notwendig ist. Alle Editoreneingriffe bei der Textgestaltung müssen gekennzeichnet sein und in einem eigens dafür einzurichtenden Apparat gerechtfertigt werden, damit die Entscheidungen überprüft werden können.118 Die praktische Vorgehensweise einer Zusammenfassung aller Eingriffe oder deren Gliederung nach Gruppen wie "Druckfehler-Korrekturen, Auflösung von Abbreviaturen, Emendation und Konjektur" hängt nach H.-G. Roloff119 "von der Zahl ihres Vorkommens" ab. Von der sprachwissenschaftlich wünschenswerten Zurückhaltung bei Auflösungen von Abbreviaturen, bei Emendationen und Konjekturen abgesehen,120 ist es "notwendig, zu vermeiden, daß die Eingriffe des Herausgebers unter die eigentlichen Varianten geordnet werden".
3. Umfang und Vereinfachungsmöglichkeiten des textkritischen Apparates Die Konzentration des Sprachwissenschaftlers auf die diplomatische Wiedergabe eines Textes bestimmt auch seine Wünsche an einen textkritischen Apparat.121
116 117 118 119 120 121
Vgl. Anm. 46, S. 15 mit Anm. 2. Franz Simmler, vgl. Anm. 10, S. 80. Karl Stackmann, vgl. Anm. 17, S. 267. Vgl. Anm. 4, S. 57. So auch Kurt Ruh, vgl. Anm. 110, S. 37. Zu den wichtigsten Formen der Apparate Hans Zeller: Die Typen des germanistischen Variantenapparates und ein Vorschlag zu einem Apparat in Prosa. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986), Sonderheft 'Editionsprobleme der Literaturwissenschaft', S. 42-69; Siegfried Scheibe: Von den textkritischen und genetischen Apparaten. In: Siegfried
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Franz Simmler
Alle Hinweise, die über eine Beseitigung offensichtlicher Fehler und Hinweise auf Schreiberkorrekturen hinausgehen, besitzen für ihn zwar einen zusätzlichen Wert, sind jedoch gegenüber dem Primat des Textes sekundär. Daher ist für ihn "eine strikte Trennung zwischen Text-Darbietung und Text-Erschließung" von Vorteil, wenn der Textband "nichts weiter als den kritisch hergestellten Text, die Varianten und technischen Hinweise zum Text" enthält und "die Text-Darbietung objektivdokumentarisch und philologisch-einwandfrei", d.h. dem diplomatischen Prinzip folgend, dargestellt wird.122 Der Primat des Textes wirkt sich auch auf die Gestaltung des Variantenapparats aus. Bei Entstehungsvarianten123 ist das primäre Interesse auch bei Sprachwissenschaftlern vorhanden, wenn die in den Apparat aufgenommenen Varianten tatsächlich die Wiederherstellung der jeweiligen Fassungen ermöglichen,124 weil so eine sprachwissenschaftliche Auswertung auf allen Ebenen von den Makrostrukturen bis zu den Phonemen gesichert bleibt. Für Texte der Frühen Neuzeit gilt, daß sich in 90 Prozent aller Fälle entsprechende Variantenapparate erübrigen, weil es bei ihnen keine autorisierten Varianten gibt.125 Wenn kein Autograph existiert und sich die Edition an der editio princeps orientiert, erhalten die Überlieferungsvarianten unter zwei Aspekten eine besondere Relevanz. Dabei spielt einmal die Frage der Herstellung eines dem Autorwillen
Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann, vgl. Anm. 1, S. 85159; Siegfried Scheibe: Zur Anwendung der synoptischen Variantendarstellung bei komplizierter Prosaüberlieferung. Mit einem Beispiel aus Franz Fühmann 'Das Judenauto'. In: editio 2,1988, S. 142-191. 122 Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 45. Zur Trennung von Textkritik und Sprach- wie Sachkommentar auch Empfehlungen, vgl. Anm. 25, S. 303. 123 Zur Bedeutung der Entstehungsvarianten für die literaturwissenschaftliche Interpretation Friedrich Beißner: Editionsmethoden der neueren deutschen Philologie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 83,1964, Sonderheft, S. 72-96; Gunter Martens: Texterschließung durch Edition. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Bedeutung textgenetischer Apparate. In: Edition und Wirkung. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5, Heft 19/20,1975, S. 82-104; Gunter Martens: Textkonstitution in Varianten. Die Bedeutung der Entstehungsvarianten für das Verständnis schwieriger Texte Hölderlins. In: Edition und Interpretation, vgl. Anm. 53, S. 119-132; Hans Zeller: Die Bedeutung der Varianten für die Interpretation. Am Beispiel der 'Judenbuche' der Droste. In: Edition und Interpretation, vgl. Anm. 53, S. 119-132; Jost Schillemeit: Edition, Interpretation und Entstehungsgeschichte. Überlegungen zu ihrem Wechselverhältnis am Beispiel eines 'Faust'Paralipomenons. In: editio 1, 1987, S. 198-208. 124 Hans Zeller: Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52,1958, S. 356-377, hier S. 358. Diese Möglichkeit bezweifelt Karl Konrad Polheim, vgl. Anm. 1, der daher "die diplomatische Wiedergabe des gesamten Textbestandes" (S. 326 f.) fordert. Kritisch auch Hans Zeller: Fünfzig Jahre neugermanistischer Edition. Zur Geschichte und künftigen Aufgaben der Textologie. In: editio 3, 1989, S. 1-17, hier S. 6. 125 Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 58.
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möglichst entsprechenden Textes literaturwissenschaftlich eine andere Rolle als sprachwissenschaftlich. Unter literaturwissenschaftlichem Aspekt kann so ein kontaminierter und damit ahistorischer Text entstehen, dessen Herstellung jedoch aus dem Variantenapparat überprüfbar bleiben muß,12' der aber Aussagen zur Handlungsstruktur und Personenkonstellation, also zu spezifisch literaturwissenschaftlichen Fragestellungen, zulassen dürfte. Unter sprachwissenschaftlichen Aspekten ist ein solcher Text nur bedingt brauchbar. Zum anderen sollen die Rezeptionsvarianten die unter literaturwissenschaftlichen Aspekten "entscheidenden Veränderungen gegenüber der Editio princeps" verzeichnen, um einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte zu leisten.127 Da in einem solchen Falle — vor allem bei Prosatexten mit starken Veränderungen - nur auswählend12® und unter Konzentrierung auf die "Sinnvarianten"12, vorgegangen wird, ist eine sprachwissenschaftliche Auswertung nur sehr eingeschränkt und meist nur auf der lexikalischen Ebene möglich. Die Frage, "ob diese Variantenart, die durch immer wieder erneute Drucklegung und Veränderung bei der Rezeption entsteht, nur unnötiger Ballast ist und man auf sie verzichten kann",130 ist von sprachwissenschaftlicher Seite mit einem Ja zu beantworten. Andererseits ist auch die Sprachwissenschaft unter dem Aspekt der Textsortentradition und der damit verbundenen Veränderungen auf allen sprachlichen Ebenen an rezeptionsgeschichtlichen Fragen interessiert (vgl. 2.1), die jedoch über die Vorstellung von der Textvariante "als Indikator des historischen Textverständnisses"131 hinausgeht. Dieses Interesse wird aber durch ein auswählendes Verfahren beim Editor nicht angemessen berücksichtigt, obwohl der Herausgeber "als der derzeit vertrauteste Kenner des edierten Werkes" gelten kann.132 Anstelle eines auswählenden Verfahrens bei einzelnen Merkmalen, wäre es für den Sprach126
Winfried Woesler, vgl. Anm. 18, S. 472. Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 59. Für Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten, vgl. Anm. 1, S. 165-201, wird "die Dokumentation der Textgeschichte zum Kernstück" der Edition. m Siegfried Scheibe: Von der Entstehungsgeschichte, der Textgeschichte und der zeitgenössischen Wirkungsgeschichte. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann, vgl. Anm. 1, S. 160-204, hier S. 184. 129 Georg Steer: Grundsätzliche Überlegungen und Vorschläge zur Rationalisierung des Lesartenapparates. In: Kolloquium über Probleme altgermanistischer Editionen. Marbach am Neckar, 26. und 27. April 1966. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Hugo Kuhn, Karl Stackmann, Dieter Wuttke. Wiesbaden 1968, S. 34-41, hier S. 34. 130 Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 58. 131 Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung, vgl. Anm. 9, S. 5-36, hier S. 11. Zur Unterscheidung von Textdifferenzen und Textvarianten Klaus Kanzog: Variante und Textentscheidung. Über die Rolle der Textkritik im literaturwissenschaftlichen Studium. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 700-721, hier S. 706. 132 Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 46. 127
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Wissenschaftler besser, wenn er von den Textzeugen, die der Editor als rezeptionsgeschichtlich besonders interessant einschätzt, einen umfangreichen und fortlaufenden Textausschnitt von ca. 30-50 Druckseiten in einem diplomatischen Abdruck erhält. Er könnte dann einschätzen, ob dieser Text für seine spezifische Fragestellung eine besondere Relevanz besitzt, und könnte sich gezielt einen Mikrofilm oder eine Xerokopie von diesem Textexemplar bestellen. Sollten sich weitere Fragen ergeben, ist ein Rückgriff auf weitere Exemplare aus der Zusammenstellung aller noch vorhandenen Textzeugen möglich. Eine solche ausgesprochen zeitraubende Zusammenstellung hat ein großen dokumentarischen Wert und sollte einschließlich der Angabe von besitzender Bibliothek und gegenwärtig gültiger Signatur in keiner Edition fehlen,133 auch weil genaue Auskünfte über die Ermittlung, Beschaffung und Sichtung der Überlieferung zu den Herausgeberaufgaben gehören134 und die Grundlage weiterführender Untersuchungen bilden können. Der diplomatische Abdruck ausgewählter Textausschnitte ist in der Lage, den Umfang des textkritischen Apparates zu verringern und die Herstellungskosten zu senken, weil der Abdruck der Textausschnitte dem edierten Text nachgestellt werden kann. Das besondere historische Gewicht, das der Sprachwissenschaftler den einzelnen Textzeugen, die für ihn Textexemplare einer Textsorte sind, entgegenbringt, führt jedoch noch nicht dazu, den von G. Martens einführten 'komplexen Textbegriff zu akzeptieren. Nach G. Martens ist Text "auch die vom Editor aus den Zeugen entwickelte Textentwicklung, der Gesamtzusammenhang aller Textstufen und -schichten mit allen Varianten und den sich aus ihnen ergebenden Fassungen".135 Ein solcher Textbegriff ist an Gattungsbegriffen und nicht am sprachlichen Zeichenbegriff orientiert. Ihm liegen Vorstellungen von der Gattung als 'historischvariabler' Größe134 bzw. als 'ahistorischer Konstante'137 bzw. als 'absolut oder relativ konstanter Komponente' einer kommunikativen Kompetenz138 zugrunde, und daher widerspricht er dem Text- und Zeichenbegriff in der Sprachwissenschaft. Da die Textzeugen den Textexemplaren, also Einheiten der parole, vergleichbar sind, können sie nur in einem synchronen sprachlichen Zustand aufgrund gemeinsamer und konstanter textueller Merkmale in Opposition zu anderen textuellen Merkmalbündeln anderer Textexemplare als Realisationen einer Textsorte, eines sprachlichen Zeichens und damit einer langue-Einheit, erkannt werden.139 Die
133 134 135
134
137 138 139
Rolf Tarot, vgl. Anm. 4, S. 374; Empfehlungen, vgl. A i m . 25, S. 301. Hans-Gert Roloff, vgl. Anm. 4, S. 51. Gunter Martens: Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie. In: Poetica 21, 1989, S. 1-25, hier S. 22. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973 (UniTaschenbücher. 133), S. 223. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 16. Klaus W. Hempfer, vgl. Anm. 136, S. 223. Franz Simmler 1984, vgl. Anm. 31, S. 25-50 mit weiterweisender Literatur.
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Konstanz einer Textsorte bzw. ihrer textuellen Merkmale kann sprachwissenschaftlich nur das Ergebnis des Vergleichs mehrerer sprachlicher Zustände sein. Daher kann eine solche diachrone Konstanz auch nicht Eingang in eine Textsorten- oder Textdefinition finden, denn langue-Einheiten setzen synchrone Oppositionen voraus. Der komplexe Textbegriff erweist sich deshalb nicht als eine Erweiterung des Zeichenbegriffs, sondern als seine Sprengung; er ist auch nicht notwendig, um "den Schichten- und den Werkstellenzusammenhang zugleich zur Geltung zu bringen" und die Offenheit des Textsinns zu erfassen."0
4. Editorische Beigaben Neben der diplomatischen Wiedergabe eines Textes und von Textausschnitten aus der Rezeption besitzen die editorischen Beigaben - von der Textzeugendokumentation abgesehen - für den Sprachwissenschaftler nicht den gleichen Wert, weil sie relativ schnell veralten und mehr literaturwissenschaftlich und teils benutzungsorientiert ausgerichtet sind. Nach H.-G. Roloff141 werden die Beigaben vom allgemeinen Rechenschaftsbericht, von der Vita, von je einer Bibliographie zum Primärschrifttum und zur Forschungsliteratur, vom fortlaufenden Kommentar142 und den Registern143 gebildet. Spezifische zusätzliche sprachwissenschaftliche Wünsche existieren in diesem Zusammenhang nicht.
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Gunter Martens, vgl. Anm. 135, S. 12 f., 23. Vgl. Anm. 4, S. 64-67. 142 Zu den Aufgaben eines Kommentars vgl. Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. In: probleme der kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Frankfurt am Main 12.-14. Oktober 1970 und 16.-18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1975 (kommissionen für germanistische forschung. mitteilung 1), S. 13-22; Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: probleme der kommentierung (wie oben), S. 33-74; P. M. Mitchell: Probleme der Kommentierung. In: Werkstattgespräch 'Berliner Ausgaben', vgl. Anm. 15, S. 180-188; Helmut Koopmann: Für eine argumentative Edition. Probleme der Kommentierung am Beispiel der Philosophischen Schriften Schillers und Eichendorffs 'Ahnung und Gegenwart'. In: Editions et Manuscrits, vgl. Anm. 21, S. 45-57; Waltraud Hagen: Von den Erläuterungen. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann, vgl. Anm. 1, S. 205-224. 143 Dazu Uta Motschmann: Von den Registern. In: Siegfried Scheibe (Leitung), Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann, vgl. Anm. 1, S. 225-263. 141
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5. Zusammenfassung Werden die Ausführungen zu den Prinzipien der Edition von Texten der Frühen Neuzeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht zusammengefaßt, ergeben sich folgende Wünsche an die Editoren: 1. Die Sprachwissenschaftler benötigen einen Text, der den Ansprüchen der historischen Treue genügt, und nicht einen unhistorischen Mischtext, der sich an einem subjektiv empfundenen und vorausgesetzten Autorwillen orientiert. Ein solcher Text ist die Grundlage zur Ermittlung synchroner Gebrauchsnormen zu den linguistischen Einheiten der Makrostrukturen, der Satztypen, der Wörter, der Morpheme und der Phoneme. 2. Die Sprachwissenschaftler brauchen einen textkritischen Apparat, der primär die Textherstellung begründet und in dem die Beseitigungen offensichtlicher Fehler aufgeführt sind. Alle zusätzlichen editorischen Beigaben werden gern unter sekundären Aspekten benutzt. 3. Anstelle von Variantenhalden mit subjektiver Auswahl der zu berücksichtigenden Varianten bilden dem Text beigegebene diplomatische Wiedergaben von umfangreichen und zusammenhängenden Textausschnitten eine Basis für diachrone Untersuchungen zur Geschichte der verschiedenen sprachlichen Elemente von den Textsorten als den größten Zeichen bis zu den Phonemen als den kleinsten Einheiten des sprachlichen Systems. 4. Diplomatische Wiedergaben von Texten und Textausschnitten und eine Dokumentation der Textzeugen ermöglichen eine spezifische Materialauswertung und gegebenenfalls eine begründete Materialerweiterung je nach sprachwissenschaftlicher Fragestellung und tragen in höherem Maße zur Interdisziplinarität bei der Beschäftigung mit gleichen Texten bei als noch so gut gemeinte Normalisierungen bei der Textherstellung und erläuternde Kommentare.
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II. PROBLEME DER KOMMENTIERUNG
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Hans-Gert Roloff
Fragen zur Gestaltung von Kommentaren zu Textausgaben der Frühen Neuzeit
i.
Wissenschaftliche und populäre Ausgaben mit Kommentaren zu versehen, ist eine Praxis, die fast so alt wie das Editionswesen ist; aber erst in jüngster Zeit läßt sich beobachten, daß die Editionen häufiger Kommentare aufweisen, daß diese umfangreicher werden und vor allem: daß über 'Kommentare' und 'Kommentierung' reflektiert wird. Die DFG-Kolloquien von 1970 und 1972, die 1975 publiziert wurden, haben für die neuere Literatur einiges ins Gespräch gebracht, den Bereich der Mittleren Deutschen Literatur aber haben sie gänzlich ausgespart, und zwar mit der Begründung,"aus der Perspektive des Kommentars" stellten "Werkausgaben des 16. u. 17. und noch des frühen 18. Jahrhunderts andere Kommentaranforderungen ... als solche der anschließenden Zeit. Eine historische Grenzziehung ist nicht zu umgehen".1 Das ist insofern zu bejahen, als beim Kommentieren der Mittleren Deutschen Literatur mehr heute überholtes oder nicht mehr vertrautes Wissen und Bildungsgut einzubringen ist, um die Texte zum Sprechen zu bringen, zu verneinen aber ist die Grenzziehung insofern, als prinzipiell kein Unterschied bestehen dürfte, wie man dem Benutzer Verständnishilfen für dessen selbständige Texterschließung bietet. Inzwischen liegen Kommentar-Modelle zu Textausgaben der mittleren Zeit vor, die die Probleme, Grundprinzipien und Besonderheiten der Kommentierung dieser Texte erkennen lassen. Gleichwohl zeigt der Vergleich der einzelnen Modelle, daß die Kommentierungsverfahren noch wenig systematisiert worden sind. So dürfte es im Interesse aller liegen, die an dieser Literatur interessiert sind, zu Prinzipien für die Kommentiemng zu gelangen, die ggf. nach Möglichkeit von den Editoren berücksichtigt werden. Dabei sind beide Seiten eines solchen Texterschließungsinstruments zu bedenken: Wir schreiben ja nicht nur 1
probleme der kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt am Main ... 1970 u.... 1972. Referate und Diskussionsbeiträge hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Boppard 1975 (kommission für germanistische forschung, mitteilung. I); W. Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben, ebd., S. 13 - 32; Zitat S. 17. S. hierzu auch die konstruktiven Anregungen und Hinweise von Winfried Woesler: Funktion und Planung historisch-kritischer Ausgaben. In: Edition und Wirkung. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 19/20, 1975, S. 13-25.
Fragen zur Gestaltung von Kommentaren
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Kommentare, sondern wir möchten Kommentare auch selber gebrauchen, d.h. die Kommentierung der Texte dieser Zeit sollte ein Gemeinschaftswerk mit verteilten Rollen sein; dazu aber bedarf es der Abstimmung über die Kriterien und des Einverständnisses über gewisse Prinzipien, um einen annähernd gemeinsamen Erwartungshorizont zu konstituieren. Die hohe Bedeutung einer wissenschaftlichen Edition für die Literarhistorie wird durch die allenthalben angestrebten Qualifikationen der Kommentare noch weiter erhöht. Die bequem zugängliche Textausgabe mit ihren materialen Hilfsstellungen für die Texterschließung bereichert und korrigiert möglicherweise das literarhistorische Bild in starkem Maße. Es scheint, daß der wissenschaftliche Kommentar sich zu einer eigenen Textsorte mausert, die als solche in Konkurrenz zur Interpretation tritt, in ihrer Funktion aber eigentlich deren unumgängliche Voraussetzung ist. Der 'Kommentar' als eigene 'Textsorte' angesetzt, führt zur Trennung von Edition und Kommentar und hat zur Folge, daß durchaus Kommentare zu vorhandenen Ausgaben geliefert werden können, so zu Reprints, die leichter und weniger kostenaufwendig herzustellen sind. Entscheidend ist letztlich das Niveau des Kommentars und seine durchdachte Instrumentalisierung für die einzelne Textarbeit. Denn zu den vornehmsten Kommentarpflichten gehört auch die Summierung der vorliegenden Detailforschung. Die Service-Funktion des Kommentars, die in der Schaffung sachlicher Voraussetzungen für das adäquate Textverständnis liegt, mindert seinen Wissenschaftswert in keiner Weise, im Gegenteil, die Kärrner-Arbeit steigert philologisch und ethisch seinen Wert. Vielleicht ist es ein Zeichen für einen bevorstehenden Umschwung in der literaturwissenschaftlichen Anschauung, daß der Kommentar im Sinne der stärkeren Verobjektivierung gegenüber der Subjektivierung der Interpretation immer mehr an Gestalt und Interesse gewinnt. Der Dienst am Textverständnis ist zugleich eine Dienstleistung gegenüber den Rezipienten der Ausgabe. Aber wer sind sie? Für wen arbeitet der Kommentator? Die Frage nach den Rezipienten der Ausgabe und des Kommentars ist von entscheidender Bedeutung für die Anlage des Kommentars. Wer kommt als Benutzer in Frage?! Der Fachwissenschaftler der eigenen Disziplin z.B., aber schon hier gibt es unterschiedlichen Informationsbedarf, je nachdem ob er Mediävist oder moderner Literaturwissenschaftler oder Linguist ist. Weit mehr Informationen und Sachhinweise bedarf der Wissenschaftler benachbarter Disziplinen, geschweige denn der Studierende, der Intellektuelle und der literarisch Interessierte. Solange Ausgaben mit dem einzigen Ziel veranstaltet werden, benutzt zu werden, und sich nicht als konkretisierte Monumente editionstheoretischer Einzelgänge manifestieren wollen, ist der anvisierte Benutzerkreis ein wesentlicher Faktor für das Editionskonzept. Allerdings fragt es sich, wie weit heute unter erschwerten ökonomischen Publikationsmöglichkeiten eine Differenzierung der Benutzerkreise noch sinnvoll ist. Es gibt Editionen, die von vornherein nur im
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Bereich der historischen Wissenschaften Interesse finden; bei ihnen wird man leicht zu einem Grundprinzip kommen, das den Informationsbedürfnissen aller am Text interessierten Wissenschaftler und Intellektuellen Rechnung trägt. Anders ist es mit Texten, die sich a u c h an literarisch Interessierte wenden, die zu ihrem Verständnis auf Informationen angewiesen sind, die dem fachlichen Insider-Kreis selbstverständlich sind und deren Artikulation dem Herausgeber möglicherweise den Vorwurf der Banalität eintragen kann. Das aber zu Unrecht, wie wir meinen. Die Frage spitzt sich darauf zu, welche Bildungsvoraussetzungen und Kenntnisse beim Rezipienten, der sich mit Texten der Frühen Neuzeit einläßt, heute zu erwarten sind. Zwei Beispiele, die die Diskrepanzen verdeutlichen können: in der Mitte des 19. Jahrhunderts visierte Zarncke für seinen epochemachenden Kommentar zu Sebastian Brants Narrenschiff jene Leser an, "die mit mhd grammatik und ausdrucksweise vertraut sind" und selbstverständlich althochdeutsche, frühneuhochdeutsche, lateinische und griechische Texte ohne Übersetzung verstehen können.2 Fünf Generationen später ist das anders: Die Erläuterungen der nicht populären, sondern "kritischen Ausgabe" der Historia von D. Johann Fausten (Reclam 1989) sind so konzipiert, daß die Ausgabe "auch für Benutzer ohne Kenntnisse im Mittelhochdeutschen, Frühneuhochdeutschen und Lateinischen" verwendbar ist. Demzufolge erläutert der Kommentar z.B. auch: "wol bezecht ] etwa: ganz schön betrunken"; "strohwisch ] strohbündel" usw.3 Gegenüber dem Bildungsstand des 19. Jahrhunderts ist für unsere Situation am Ende des 20. Jahrhunderts durchaus eine Umverlagerung des allgemeinen Wissensstandes zu konstatieren - ein Prozeß, bei dem vor allem der Bereich historischer Kenntnisse zunehmend ausgeblendet wurde und wird. Hier hat der Editor in seiner Rolle als Kommentator dem Rezipienten inzwischen abhanden gekommenes Wissen zu soufflieren. Das gilt für Geschichtskenntnisse, für Bezugsfragen im Gebiet der Konfessionen, der Bibel, der Kirchengeschichte, der Philosophie, Mythologie und des Brauchtums. Das gilt aber ebenso - leider - für die klassischen Sprachen. Umstritten ist immer noch, ob man die älteren Sprachstufen und die modernen Fremdsprachen, mindestens englisch und französisch, voraussetzen kann oder nicht. Rechnung tragen muß man außerdem der Tatsache, daß sich zwar die Rezipientenkreise erfreulich internationalisiert haben, daß aber von ihnen aus auch ganz konkrete Erwartungen und Informationshilfen gestellt werden, denn den Angehörigen anderer, transatlantischer oder asiatischer Kultursysteme ist vieles verschlossen, was hierorts noch als bekannt gilt. Da es uns selbstverständlich auch auf diese Leser ankommt, sind auch ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Es mag das Selbstgefühl des Kommentators erhöhen und die Kärrner-Arbeit verringern, vieles
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Sebastian Brant: Narrenschiff. Hrsg. von Friedrich Zarncke. Leipzig 1854; Neudruck: Darmstadt 1964, S. 292. Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 1988, Zitate S. 181 u. 202, 203.
Fragen zur Gestaltung von Kommentaren
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oder fast alles als "selbstverständlich bekannt" vorauszusetzen und im Kommentar nicht zu berücksichtigen, aber auf die Dauer ist damit der Publizität gerade der älteren Literatur ein Bärendienst erwiesen, denn schon jetzt läßt sich im akademischen Unterricht beobachten, daß sich leider aus den Defiziten historischer Kenntnis eine zunehmende Aversion gegen den Umgang mit Geschichtsdokumenten älterer Provenienz aufbaut. Dagegen kann und muß der einsichtige Kommentator auf seine Weise sehr wohl dem Verlust an Geschichtsbewußtsein entgegenwirken. Auch deshalb sind ausführliche Kommentare so nötig geworden. Vom Benutzeraspekt aus, der gerade für die Konzipierung des Kommentars einen gewichtigen Faktor darstellt, ist auch über die mutmaßlichen Vorgänge der Kommentarrezeption nachzudenken. Wie vollzieht sich denn beim Leser die Verarbeitung und Fruchtbarmachung der gebotenen Informationen? Die Selbstbeobachtung lehrt, daß sich dieser Vorgang in zweifacher Weise abspielt: die Texterläuterungen werden zumeist in Verbindung mit dem Lese-Akt rezipiert, um die entsprechende Stelle sachlich angemessen verstehen zu können; die weiteren Angaben zur Überlieferung, zur Wirkungsgeschichte, zum historischen Hintergrund und literarischen Bezugssystem usw. werden gesondert nach Kenntnis des Textes aufgenommen. Daraus lassen sich zwei "technische" Forderungen ableiten, die die Kommentarbenutzung freundlicher und dadurch effektiver machen dürften: Mindestens die Erläuterungen, die zeilengemäß dem Text folgen, müssen dem Leser beim Lektüre-Vorgang parallel zur Verfügung sein. Zeilenkommentare, die im Anhang zum Text deponiert sind, stören die Konzeption des Lektüre-Aktes, dürften den Leser ermüden und vom ständigen Nachblättern schließlich abhalten, womit der Zeilenkommentar an seiner Effektivität beträchtlich einbüßt. Denn ihn gesondert, sozusagen textunabhängig zu lesen, ergibt keinen Sinn und Nutzen. Ähnlich verhält es sich mit dem Ausmaß der Wiedergabe von Bezugstexten, die zur Erläuterung einer Stelle nötig sind, etwa Bibelstellen, Werkzitate, Anspielungen usw., vor allem aus abgelegenen Vorlagen oder in älteren Textfassungen. Viele Kommentatoren möchten Platz sparen, indem sie nur auf die Stelle verweisen und den Bezugstext nicht mitteilen - in der irrigen Vermutung, der Benutzer habe ihn parat auf seinem Arbeitstisch liegen. Aber das ist nur im Ausnahmefall so und vor allem bei älteren Texten kaum denkbar. Auch hier ist es wegen der Effektivität wünschenswert, daß die Bezugstexte in ausreichendem Umfang mitgeteilt werden, damit der Benutzer ad hoc aufgrund des ihm gelieferten Materials zur eigenen Beurteilung gelangen kann. Diese Hinweise mögen verdeutlichen, wie wichtig für die Kommentar-Konzeption auch leserpsychologische Erwägungen sein können. Schließlich bedarf es einer Klärung, ob und ggf. in welchem Maße die Ausgabenarten - historisch-kritische Ausgabe, bzw. wissenschaftliche Ausgabe, StudienAusgabe, Lese-Ausgabe - die Struktur des Kommentars bedingen. Sicherlich ergeben sich Unterschiede in der Kommentar-Gestaltung zwischen Lese-Ausgaben und den beiden wissenschaftlichen Ausgabetypen, der HKA/WA und der Studien-
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Ausgabe; aber auch zwischen den Kommentarkonzepten der beiden letzteren dürfte es u.U. gewisse Differenzierungen geben.
II. Zunächst aber noch ein paar Hinweise zur "Stellung" des Kommentars in der Edition, im doppelten Sinne des Wortes gemeint. Es zeichnet sich im Editionswesen in den letzten Jahren sehr deutlich ab, daß der Kommentar zur dritten Säule einer anspruchsvollen Edition avanciert ist: kritischer Text, Textgenese bzw. Textgeschichte, Kommentar. Das ist in früherer Zeit nur ausnahmsweise der Fall gewesen, obwohl es auch Kommentare gab, aber sie waren in ihrer Informationsleistung bewußt meist auf Spracherläuterungen oder Similien begrenzt worden. Der umfangreiche historisch-erschließende Kommentar entwickelte sich erst in jüngster Zeit. Damit wird der Kommentar aber auch zum Sammelbecken für die zum betreffenden Text vorliegende Einzelforschung und erhält die Aufgabe, die Erkenntnis und Einsichten fördernden Forschungsbeiträge für die Erschließung des Textes zu instrumentalisieren. Gleichzeitig ist dadurch aber auch seine relative Zeitgebundenheit bestätigt, während hingegen der kritische Text und die Darstellung seiner Genese nahezu zeitlos sind. Wenn aber Kommentare den jeweiligen Forschungsstand repräsentieren, so unterliegen sie dem Schicksal des Alterns und müssen von Zeit zu Zeit überarbeitet und auf den neuesten Stand der Forschung gebracht werden. Das ist aber buchtechnisch nur möglich, wenn der Kommentar nach Möglichkeit getrennt vom Textband publiziert wird. Kommentare haben eine andere Geschichtlichkeit als philologisch-kritische Texteditionen, obwohl sie beide eng aufeinander bezogen sind. Für die getrennte Publikation des Kommentars vom Textband spricht auch das schon erwähnte banale Faktum der Arbeitserleichterung für den Leser. Wenn heute Reprints von philologisch einwandfreien Textausgaben veranstaltet werden, die um die Jahrhundertwende entstanden sind, so wirkt der darin mitabgedruckte Kommentar penetrant veraltet und suggeriert einen scheinbaren Stillstand der Wissenschaft, der möglicherwiese gar nicht stattgefunden hat, aber durch die überholten Beigaben perpetuiert wird. Ein Blick auf die Publikationspraxis von Kommentaren und Ausgaben macht deutlich, daß die Editoren und Verleger dieses Phänomen noch wenig reflektiert zu haben scheinen. Eine der häufigsten Verfahrensweisen ist nämlich die, den Kommentar, auch wenn er mehrere hundert Seiten umfaßt, dem Textband als Anhang beizugeben, wie es jetzt gerade wieder die Bibliothek des Deutschen Klassikerverlages vorführt. Das ist bedauerlich, denn diese an sich inhalts- und umfangreichen Informationen und Erläuterungen sind unter leserpsychologischem
Fragen zur Gestaltung von Kommentaren
135
und lesetechnischem Aspekt in der gebotenen Form nur bedingt effektiv zu machen. Es wäre sehr viel brauchbarer, wenn Text und Kommentar in zwei Teilbänden vorgelegt würden. Das übliche Argument, der 'Akademismus' einer zweibändigen Aufteilung verschrecke die Leser, ist unzutreffend. Wie kann der Kommentar anders sinnvoll genutzt werden?! Wenn eine solche Position des Kommentars die Leser-Zielgruppen irritiert, dann könnte er auch wegbleiben, wenn er aber - was der Fall sein dürfte - hochbegehrt ist, dann sollte er unter instrumentalem Gesichtspunkt als Beiband publiziert werden. Eine Ausnahme wird man nur konzedieren müssen, wenn der Kommentarteil keinen buchtechnisch vertretbaren Band hergibt. Deshalb verfahren große Ausgaben zu Recht so, daß sie den Textbänden ein oder zwei eigene Kommentarbände attachieren, was außerdem eine Möglichkeit enthält, zu gegebener Zeit eine Neuauflage zu veranstalten, ohne daß die Textbände angetastet werden. Auch die althergebrachte Praxis, kommentierende Erläuterungen am Fuße der Textseite zu deponieren, ist für wissenschaftliche Kommentare wenig günstig, denn der Zwang zur Beschränkung, ja Abbreviatur der Angaben engt den Kommentator ein. Wenn gar, wie bei der Amsterdamer Erasmus-Ausgabe, ein Varianten- und ein Erläuterungsapparat übereinandergesetzt werden, die gelegentlich wegen ihrer Redundanz auf Nebenseiten piaziert werden müssen, dann fragt sich der wissenschaftliche Benutzer, ob es nicht besser gewesen wäre, den Kommentar in einem Separat-Band vorzulegen, der an vielen Stellen ein wünschenswertes Mehr an Kommentar leicht möglich gemacht hätte. Eine andere Praxis bietet die 'Umrahmungsform', bei der der Text, vornehmlich der kürzere, etwa das einzelne Gedicht, von Erläuterungen, Similien und Textüberlieferungszeugnissen umrahmt wird, so daß der Leser den Text nie ohne das Beiwerk rezipieren kann. Die Bibliothek des Literarischen Vereins hat dies z.B: bei der Opitz-Ausgabe kultiviert. Der Blickpunkt des Editors scheint hier dem des Benutzers vorzugehen. Demgegenüber dürfte die Trennung von Text und Kommentar auf zwei bewegliche Einheiten am effektivsten sein, und zwar sowohl für die Arbeit des Benutzers als auch für die späteren Neufassungen. Die 'Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts' haben sich durch eine Einführung des Realienbandes dies zum Prinzip gemacht; in einigen Fällen konnten auch Kommentarbände wegen ihres Umfangs einzelnen Textbänden direkt zugeordnet werden, was z.B. für die Gottsched-Ausgabe zutrifft. Im Sonderfall der ohnehin kommentararmen Lese-Ausgaben pflegt man Spracherläuterungen unter den Text zu setzen, weitere Hinweise aber im Anhang zu deponieren.
Hans-Gert Roloff
136 III.
Geht man davon aus, daß dem Kommentar in wissenschaftlichen Editionen fortan eine besondere Funktion zukommt, so ist es nötig, sich darüber klar zu werden, was alles an Hinweisen und Informationen von ihm erwartet werden kann bzw. muß. Gerade für die Erschließung von Texten der Frühen Neuzeit hat der Kommentar erhebliches Gewicht, denn er hat geschichtliche Sachverhalte und zeitbedingte Eigentümlichkeiten zu transportieren, die unserem Wissen und Bewußtsein längst entrückt sind oder die durch den Fortschritt der Wissenschaften überholt wurden, gleichwohl aber in der mittleren Periode ihre Funktion hatten. Überblickt man die Kommentare zu Texteditionen der Frühen Neuzeit,so läßt sich erkennen, daß sie ihre Schwerpunkte in den Einzelerläuterungen sachlicher, vor allem sprachlicher Art gesetzt haben, daß sie sehr unterschiedlich verfahren und sehr individuellen Intentionen folgen. Dagegen scheint es wünschenswert zu sein, im Verfolg der Konstituierung einer Textsorte 'Kommentar' danach zu fragen, was denn dem Benutzer von Edition und Kommentar sinnvollerweise zu bieten ist, damit er sich selbst einen adäquaten Zugang zum Text verschaffen kann. Nicht ein festes Verständnis des Textes soll ihm geboten werden, sondern er soll die sachlichen Voraussetzungen und Instrumente für die eigene Verständnisfindung und Textproblematisierung zur Verfügung gestellt bekommen. Zweifellos wird das nie in Vollständigkeit gelingen, wohl aber doch mindestens in hinreichendem Maße. Bringt man praktische Kommentarmodelle und Benutzerwünsche in Einklang, so ergibt sich eine idealtypische Kommentarstruktur, die zwar alles Wesentliche beinhaltet, aber sich nicht in jedem Fall sinnvollerweise wird realisieren lassen. Gleichwohl versuchen wir im folgenden eine solche Kommentarstruktur zur Orientierung aufzulisten. Der Kommentarbegriff wird dabei weit gefaßt und auf wissenschaftliche Gesamtausgaben bezogen: Er enthält einen Berichtsteil, einen übergreifenden Kommentar zum einzelnen Werk und einen durchlaufenden Zeilenkommentar.
1. Berichtsteil a)
Rechenschaftsbericht über Anlage der Ausgabe, Ermittlung der Überlieferung, grundsätzliche textkritische Entscheidungen
b)
Vita des Autors in annalistischer Form mit der Intention: Vollständigkeit der Daten und Fakten, aber keine 'wertende' Biographie
c)
Zeitgenössische Zeugnisse über den Autor als Person, über das Werk in seiner Gesamtheit
Fragen zur Gestaltung von Kommentaren
d)
137
Bibliographie der Primärliteratur (Handschriften, Drucke mit Standorten), Archivalien und Bibliographie der Forschungsliteratur
2. Kommentar zum einzelnen Werk a)
Quellen/Stoffgeschichte/Parallelbearbeitungen
b)
Aussagen des Autors zum Werk
c)
Entstehungsgeschichte
d)
Publikations- und Verlagsgeschichte
e)
Rezeption: literarische Wirkungsgeschichte
f)
wissenschaftliche Rezeption
g)
allgemeine Hinweise zu Struktur und Form des Werkes
3. Stellen-/Zeilen-Kommentar/Erläuterungen Die Intention dieser Angaben sollte sein, das Verständnis des Textes und der Konzeption des Autors zu fördern; das kann durch unmittelbare, vordergründige Dokumentation von Zitaten und Anspielungen geschehen, aber auch mittelbar durch historisch fundierte Vertiefung. Hierzu können gehören: a)
sachliche Erläuterungen: Namen (historische, fiktive, geographische); Sachbegriffe, Termini; historische Bezüge; mythologische Begriffe und Anspielungen; philosophische Begriffe und Vorstellungen; religiöse Vorstellungen und Anspielungen; theologische Begriffe; Elemente des Brauchtums.
b)
Literarische Erläuterungen: etwa Besonderheiten des Stils; Besonderheiten des literarischen Ausdrucks; besondere rhetorische Figuren und Topoi; emblematische Einflüsse; Besonderheiten in Metrik und Strophik.
c)
Identifizierung von Zitaten, Anspielungen, Hinweisen (Similien-Kommentar).
Hans-Gert Roloff
138 d)
Beschreibung von Illustrationen und Erläuterung von deren Funktion für den Text.
e)
Ggf. Erläuterung musikalischer Beigaben.
f)
Sprachliche Erläuterungen (deutsch): seltene, nicht geläufige Wörter und Begriffe, Mundartliches, semantische Verschiebungen; syntaktische Schwierigkeiten; unklare und ggf. zu Mißverständnissen führende Wörter und Formulierungen; althochdeutsche und mittelhochdeutsche Stellen von besonderem Schwierigkeitsgrad.
g)
Fremdsprachliche Zitate: griechische und lateinische Texte mit Übersetzung.
h)
Fremdwörter: erklären.
i)
Evtl. eine Analyse der Sprache des Autors.
k)
Hinweise auf Probleme in der Zeit zur historischen Vertiefung; pragmatisch erklärende Textauszüge; ideologische Entsprechungen; kulturgeschichtliche Belege aus anderen Texten des Autors bzw. der Zeit; Motivparallelen.
1)
Bezug auf Varianten nur, wenn dadurch eine Textstelle wesentlich erklärt oder beleuchtet wird.
Es dürfte selbstverständlich sein, daß sich diese hier aufgelisteten Positionen nicht alle in einem Kommentar sinnvoll realisieren lassen. Der Kommentator hat vom Textgegenstand aus zu entscheiden, welche Positionen am sinnvollsten für die Texterschließung sind. Auf jeden Fall ist das zu vermeiden, was Walter Rilla einmal den "Pomp fachwissenschaftlicher Zuriistung" genannt hat. Wesentlich erscheinen mir auch Prinzipien einer Kommentar-Technik zu sein, die zu einer stringenten Struktur des Kommentars führen. Dazu gehören eine weitgehende Formalisierung der Angaben und eine knappe, sachbezogene Diktion. Zu vermeiden sind spekulative Unsicherheiten oder Sicherheitsfloskeln wie 'möchte', 'könnte', 'dürfte', 'sicherlich', 'möglicherweise' usw. Es kommt im Kommentar im Hinblick auf die Sicherheit für den Benutzer darauf an, die Daten und Fakten genau zu benennen. Ebenso sollte der Kommentator Stellen, die er nicht erklären kann, kenntlich machen. Daß sachliche Erläuterungen unter Einbeziehimg der Forschung vorgenommen werden, bedarf keiner weiteren Ausführung; sofern aber abweichende Meinungen
Fragen zur Gestaltung von Kommentaren
139
vorliegen, wird der Kommentator zu entscheiden haben, wie er diese Meinungen dem Benutzer kenntlich macht. Mindestens wird er auf sie bibliographisch verweisen müssen, eine Diskussion sollte nur im Ausnahmefall erfolgen. Der Instrumentalcharakter des Kommentars fordert die Brauchbarkeit der Angaben für die Weiterarbeit des Benutzers. Das besagt, daß bei Zitaten die Originalität dokumentiert werden muß, nach Möglichkeit etwa in den vom Autor genutzten Quellen. Von bloßen Stellenverweisen ist abzuraten. Bei Spracherläuterungen ist auf jeden Fall die Provenienz-Angabe erforderlich. Außerdem ist im Kommentar die Verweistechnik zu handhaben. Mehrfachzitierungen lassen sich durch Vor- und Rückverweise vereinfachen. Auch zusammenfassende Kommentarinformationen können viele Einzelerläuterungen aufnehmen. Es ist jeweils zu entscheiden, ob die Namen in einem Personenregister, die sprachlichen Erläuterungen in einem Sprachglossar zusammengefaßt zur Verfügung gestellt werden. Andererseits ist bei den Übersichtskommentaren, in denen die Supra-Strukturen des Textes dargestellt werden, darauf zu achten, daß hier nicht eine interpretatorisch gefärbte Abhandlung entsteht. All diese Hinweise machen deutlich, daß letzten Endes die Gestaltung eines Kommentars eine subtile wissenschaftlich-individuelle Leistung darstellt und ganz dem Verantwortungsbereich des Editors unterliegt.
140 Gerhard Speilerberg
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins im Rahmen der "Bibliothek deutscher Klassiker"
Lange Zeit galt die Kommentierung von literarischen Texten in der Neugermanistik nicht als eine der - mit einer Fülle methodologischer wie praktischer Probleme verbundenen - großen und wichtigen Aufgaben des Faches, und noch immer ist die Diskussion über Aufgaben, Verfahrensweisen, Erkenntnisfunktion und erkenntnistheoretische Problematik des literaturwissenschaftlichen Kommentars im Vergleich zu der voll entfalteten Theoriebildung der Editionswissenschaft relativ unentwickelt. Wenn gegenüber den Ansätzen einer Theoriebildung in der zu Anfang der 70er Jahre einsetzenden Diskussion1 immer wieder - und auch auf dieser Tagung - auf Behandlung konkreter Kommentarprobleme und auf Entwicklung praxisnaher Kommentarmodelle insistiert wird, so ist das legitim und auch vonnöten, gleichwohl aber so umstandslos nicht zu bewerkstelligen. Bei der Fixierung von Aufgaben des Kommentars wie der Installierung von Verfahrensweisen der Kommentierung, ja selbst bei der Auswahl der zu kommentierenden Textelemente wie bei der konkreten Füllung der einzelnen Erläuterung lassen sich die aus dem Gegenstand selbst und aus dessen konstitutiven Bedingungen sich ergebenden erkenntnistheoretischen Implikationen nicht ausblenden. In der Literarizität bzw. Poetizität des Kommentargegenstandes ist begründet, daß die allgemein reklamierte s t r i k t e Trennung von Kommentar und Interpretation sich nicht nur nicht so simpel realisieren wie fordern läßt, sondern p r i n z i p i e l l nicht möglich ist. Der Zusammenhang von Kommentar und Interpretation ist ja mindestens so eng wie der - inzwischen auch theoretisch hinreichend durchleuchtete und bewußt gemachte - von Textkritik und Interpretation. Dabei ist eine unreflektierte, nicht problematisierte Abspaltung einer Realien- und Sachinformationsebene von einer Deutungsebene strenggenommen noch prekärer und verhängnisvoller als eine ebensowenig reflektierte, aber offenkundige Vermischung beider Ebenen. Mindestens in den Redeweisen und Aussagenmodi des Kommentars müßte also bewußtgehalten werden, daß die Erläuterung eines isolierten Textelements, die als treffend gelten will und kann, 1
Probleme der Kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt am Main 12. - 14. Oktober 1970 und 16. - 18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge hrsg. von W. Frühwald, H. Kraft und W. Müller-Seidel. (Boppard 1975.) (=Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für germanistische Forschung. Mitteilung I.)
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
141
nicht nur nicht unabhängig von einem allgemeinen Vorverständnis, sondern auch nicht unabhängig von einem expliziten Verständnis des Funktionsganzen gewonnen sein kann. Das zu kommentierende Element eines literarischen Textes hat nicht denselben Status wie das einer historischen Urkunde oder einer Relation etwa des 17. Jahrhunderts. Die Poetizität eines Textes ist aber nicht nur eine akzidentell, sondern wesentlich historische, und somit lassen sich praxisanleitende Modelle des Kommentars, in denen die mit dem literarischen Gegenstand gegebene Erkenntnisproblematik bewußtgehalten bleibt, nur entwickeln für literarische Komplexe, die durch eine historisch je bestimmte, in sich konsistente Literaturästhetik zusammengeschlossen sind. Einen spezifischen Bezugsrahmen für ein praxisorientiertes Kommentarmodell innerhalb des auf dieser Tagung zur Debatte stehenden Zeitraums gibt zum Beispiel die Literatur ab, für die das vom Renaissancehumanismus gültig etablierte rhetorisch-poetologische Regelsystem, die damit kanonisierte literarische Tradition, das über diese Tradition wirksam gehaltene Gattungssystem und Gattungsethos ebenso wie bestimmte Summensysteme von Loci der Theologie, Philosophie und Einzelwissenschaften verbindlich ist. Ein weiteres in jedes Kommentarmodell notwendigerweise eingehendes Moment leitet sich nicht vom Objekt der literarischen Kommunikation her, sondern von Anspruch und Zielsetzung der literarischen Kommunikation, die durch den Kommentar ja in sehr bestimmender Weise in Gang gehalten wird. Festgemacht wird dies häufig an Ausgaben-Typen - jedenfalls in der Neugermanistik, in der die Frage der Kommentierung, anders als z.B. in der klassischen Philologie und der Altgermanistik, praktisch immer in Verbindung mit Textedition gestellt war und ist -, vornehmlich an dem Gegenüber von historisch-kritischer Gesamtausgabe und Studienausgabe mit kritisch gesichertem Lesetext, die beide von Lese- und Liebhaberausgaben abgegrenzt werden. Auf den Kommentar gewendet bedeutet dies die Funktionsdifferenz zwischen einem Typus von Kommentar, der für einen Spezialistenkreis ein zwischenzeitliches Fundament für den permanenten literaturwissenschaftlichen und literarhistorischen Forschungsprozeß darstellen soll, und einem Typus von Kommentar, der sich an ein zwar breiteres, aber immer noch literarhistorisch interessiertes Publikum wendet und in seiner konkreten Füllung wenigstens tendenziell auf längere Funktionsdauer angelegt ist. (Das für die beiden Kommentartypen so oder so in Erscheinung tretende Zeitargument legt - in Parenthese gesprochen - eigentlich nahe, die Trennung von Kommentar und Edition anzustreben. Das wird dann um so dringlicher, wenn Ausgaben vorliegen, die auf der Basis der theoretisch durchreflektierten modernen Editionsphilologie erarbeitet sind und Ergänzungen eigentlich nur aufgrund neuer Textfunde nötig erscheinen ließen.) Ich möchte diese Funktionsdifferenz hier von Fall zu Fall festzumachen suchen am Kommentar zur Lohenstein-Ausgabe im Rahmen der Klassiker-Ausgaben gegenüber dem Kommentar zur kritischen Gesamtausgabe der Werke Johann Christian Hallmanns.
142
Gerhard Spellerberg
Ein Kommentar, der den prinzipiell unauflösbaren Zusammenhang mit Interpretation noch - und gerade - in der Abspaltung von dieser bewußtzuhalten sucht, wird nicht sein ganzes Funktionspotential in einem fortlaufenden Stellenkommentar aufgehen lassen können, wenn er nicht überall dort, wo es den je historischen Aussage- und Bedeutungshorizont wie ästhetischen Stellenwert einzelner Textelemente aufzuhellen gilt, zu hypertrophen Schwellformen auflaufen will. Für den Kommentar der Klassiker-Ausgaben ist in Relation auf dieses Problem eine Zweiteilung vorgesehen. Dem Einzelstellenkommentar geht "die Darstellung der 'Suprastrukturen', d.h. der übergreifenden Zusammenhänge" voraus. Die Richtlinien für diesen Kommentarteil wie für den Einzelstellenkommentar fußen weitestgehend - teilweise bis in die Formulierung und in die Beispielgebung hinein - auf den Vorschlägen Jochen Schmidts für den Kommentar von Studienausgaben.2 Der Zusammenhänge übergreifende Kommentarteil deckt dabei eine Reihe traditioneller Kommentarbereiche ab, nämlich den der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte, der Textherstellung, der Quellenkritik, der Gattungs-, Stoff- und Motivgeschichte und der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte.3 Von der strukturellen Anlage her läßt sich, wie mir scheint, das von Schmidt vorgeschlagene und in den Richtlinien der Klassiker-Ausgaben fixierte Modell auch auf den Kommentar historisch-kritischer Gesamtausgaben übertragen: Die entscheidende Differenzierung wird sich in Zuschnitt und Füllung der einzelnen Kommentarsegmente ergeben.
Erste Kommentar-Ebene In Ergänzung des von Schmidt vorgeschlagenen und dann in den Richtlinien der Klassiker-Ausgaben fixierten Modells sollte sich finden - und findet sich auch in den ersten vorliegenden Bänden der "Bibliothek der Frühen Neuzeit" - ein Abschnitt "Leben und Werk". In einem solchen Abschnitt wird eine Studienausgabe bzw. ein Kommentar für ein breiteres literarhistorisch interessiertes Publikum das Daten- und Informationsmaterial zur Biographie und zum CEuvre nicht nur bloß versammeln dürfen, sondern - in überlegter Auswahl - soweit sprechend machen müssen, daß - bezogen auf den jeweiligen historischen Kontext - die Besonderheit des lebensgeschichtlichen wie des ceuvregeschichtlichen Zusammenhangs hervortritt und der Leser ein erstes, bewußtermaßen grobmaschiges Raster erhält, das die
2
3
Jochen Schmidt: Die Kommentierung von Studienausgaben. Aufgaben und Probleme. - In: Probleme der Kommentierung (s. Anm. 1), S. 75, 89. Vgl. Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. - In: Probleme der Kommentierung (s. Anm. 1), S. 13 - 32.
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
143
eigenproduktive Wahrnehmung von Text, Kommentar und deren Interdependenz fundiert. Für den Fall Lohenstein bedeutet dies etwa die Markierung der in Hinsicht auf die damalige geistige Elite besonders ausgeprägten "Höfisierung", der Orientierung an der Romania - speziell an der spanischen politisch-moralphilosophischen Literatur - und der kalkulierten Ausrichtung auf die politischen und verwaltungsmäßigen Schaltstellen Schlesiens und der Habsburger. Dies ist hervorzukehren im Zusammenhang mit der gattungs- und themenmäßigen Ausrichtung des CEuvres, in diesem Fall also der Konzentration auf hohe Gattungen, höfisch-repräsentative Formen und historisch-politische Fragestellungen. Dabei wären die einzelnen Schaffensphasen mit der jeweils besonderen Akzentuierung von Lyrik, Trauerspiel und Roman herauszustellen wie auch die Aufnahme und Wertschätzung der Werke bzw. einzelner Werkgruppen durch die Zeitgenossen. Hier dürfte der Kommentar einer Studienausgabe all das umrißhaft ausformulieren, was die Zusammenstellung des vollständigen, puren Datenmaterials für den literaturgeschichtlichen Spezialisten, also etwa den künftigen Benutzer der Hallmann-Ausgabe, über den Augenblick hinaus würde aussagen können, vorausgesetzt natürlich, daß keine geradezu revolutionäre Veränderung in Verständnis und Wertung der Epoche statthat. Der Kommentar einer Studienausgabe dürfte abschließend auch in Umrissen das Bild nachzeichnen, das im Laufe der Geschichte der Forschung von Intention und Leistung des betreffenden CEuvres entstanden ist. Die Kommentar-Richtlinien der Klassiker-Ausgaben fordern in diesem Zusammenhang "eine möglichst knapp gehaltene Darstellung der Hauptgesichtspunkte, unter denen sich das jeweilige Werk erschließen läßt". In den vorliegenden Bänden dieser Reihe lautet die Überschrift dieses Abschnittes zumeist "Hinweise zur Deutung". Im Zuge der kommentierenden Darstellung von Suprastrukturen sind - nach den Informationen über das Gattungsspektrum und die Themenschwerpunkte der Werke - die spezifischen Reaktionen der Ausgabe auf die so skizzierte Ausgangssituation in den Blick zu bringen. Allem voran sind die Auswahl und die Anordnung der Texte bzw. deren Kriterien zu erläutern und zu begründen. Auch in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe ist ja die Anordnung der Texte von hoher und deshalb dem Benutzer nachdrücklich ins Bewußtsein zu hebender Wirkung. Ordnungen nach der Chronologie, nach Gattungen oder Themen werden in eben dem Maße Zusammenhänge überproportional hervortreten lassen, in dem sie andere, gleichfalls relevante Zusammenhänge zurückdrängen. Als Korrektiv solcher Überdeckungsprozesse können für entsprechend relativierende Hinweise des Kommentators die im Abschnitt "Leben und Werk" skizzierten Zusammenhänge bereits fruchtbar gemacht werden. Da für die Ausgaben im Rahmen der Klassiker-Bibliothek eine Reihimg Lyrik, Drama, Prosa und innerhalb dieser Einteilung eine Ordnung nach Gattungen und innerhalb derselben nach der Chronologie vorgegeben ist, bedeutet dies für den
144
Gerhard Spellerberg
Kommentar der Lohenstein-Ausgabe, die Auswahl aus der - wesentlich in den späten 50er und 60er Jahren entstandenen - Lyrik, die Auswahl von vier in den 60er Jahren vollendeten Trauerspielen von insgesamt sieben zwischen 1653 und 1680 im Druck erschienenen Dramen und die Auswahl von zwei von insgesamt drei - neben dem Arminius in den 70er Jahren entstandenen - Prosatexten a l l g e m e i n zu begründen. Die genauere Begründung hat ihren Platz auf der zweiten Kommentar-Ebene. Anschließen sollten sich g r u n d s ä t z l i c h e Bemerkungen zur Überlieferung (Autographen, Abschriften, autorisierte Drucke, textgeschichtlich bedeutsame postume Drucke, eventuell: Raubdrucke). Es ist dies auch der Ort, an dem zeitgenössische Sammelausgaben vermerkt und bibliographisch exakt beschrieben werden. Oft genug leiten sich aus dem Aufbau solcher Sammelausgaben Ordnungskriterien für Studien- wie für Gesamtausgaben her, so auch für den Lyrik-Teil der Lohenstein-Ausgabe der Klassiker-Bibliothek. Darüber hinaus sind solche Sammelausgaben oft genug für einzelne Texte der verschiedenen Werkgruppen einer Ausgabe nicht nur von textkritischer Relevanz, sondern bieten von Fall zu Fall den dem jeweiligen kritischen Text zugrunde zu legenden Überlieferungszeugen, im Falle Lohensteins z.B. für die Sophonisbe oder die Lyrik. Die Beschreibung und die textkritische Bewertung solcher für die Textherstellung ausschlaggebender Überlieferungszeugen innerhalb einer zeitgenössischen Sammelausgabe werden dann zu Beginn des jeweiligen Einzelwerkkommentars geliefert. Von der Sache her hätte dann ein Abschnitt "Grundsätzliches zur Textgestaltung" zu folgen. Hier werden erläutert und begründet alle die Gesichtspunkte, die einzeltext- und einzelstellenübergreifend leitend gewesen sind: Kriterien der Entscheidungen für Leithandschriften bzw. Leitdrucke, Extensität und Intensität der Heranziehung anderer Textzeugen, Eingriffs- bzw. Konservierungsbereiche, Verzeichnung bzw. Nichtverzeichnung von Eingriffen, die Variantenverzeichnung und deren Grenzen. Dem schließen sich Hinweise zur Anlage der folgenden Kommentarteile an. Für den Kommentar einer Studienausgabe von Werken des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts erscheint es sinnvoll, an einem systematisch oberhalb des Werkgruppen- bzw. Einzelwerkkommentars liegenden Ort auf Grundzüge und wiederkehrende Phänomene der Sprachgestalt des (Euvres einzugehen und diese blockartig zu erläutern. Ein solcher Abschnitt vermag einige Probleme der Vermittlung zwischen den in den Klassiker-Ausgaben vorgesehenen Fußnoten und dem Einzelstellenkommentar zu beseitigen bzw. den Einzelstellenkommentar erheblich zu entlasten. Mit diesen Fußnoten wird abgedeckt, was an sprachlichen Erläuterungen in Jochen Schmidts Modell vorkam oder als Bestandteil des Einzelstellenkommentars ausgewiesen war: die Übersetzung von untergegangenen oder nur in einzelnen Dialekten bzw. Fachsprachen vorkommenden Wörtern; die Übersetzung von Wörtern, die zwar noch durchaus gebräuchlich sind, deren Bedeutung sich aber
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
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entscheidend verändert hat; die Übersetzung sprachlich nicht mehr geläufiger oder nicht allgemein - z.B. nur mundartlich - gebräuchlicher Formen. Gerade für letzteren Fall hatte Schmidt gefordert, daß solche Formen nicht schlicht übersetzt, sondern "in ihrer Eigenart erläutert und mit Belegen aus anderen Schriften plastisch gemacht werden" (S. 85). Wenn der Kommentar dem Leser für häufiger oder durchweg begegnende Erscheinungen, die seinen sprachlichen Erwartungshorizont irritieren, Erklärungszusammenhänge bietet in Form von - einzelne grammatische Bereiche übersichtlich zusammenfassenden - Blöcken sprachlicher Erläuterungen, so werden Einzelhinweise im Stellenkommentar in einigen Fällen praktisch überflüssig und lassen sich in anderen Fällen die inkriminierten schlichten Übersetzungen in den Fußnoten durchaus vertreten. Der Kommentar der Lohenstein-Ausgabe wird dem Benutzer Verständnishilfen für folgende vom heutigen Sprachgebrauch abweichende Erscheinungen anbieten:
Graphie 1.
Groß- und Kleinschreibung: Gelegentliche Kleinschreibung von Substantiven, vor allem von Verbalabstrakta, und Großschreibung von Adjektiven und Verben; Großschreibung des Grundworts in zusammengeschriebenen substantivischen Komposita (z.B. mit den EosFlägeln)
2.
Getrennt- und Zusammenschreibung: Getrenntschreibung von Komposita (Di gegen wart) Zusammenschreibung des Infinitivs mit zu (zubesigen) Zusammenschreibung von vorangestelltem Genitivattribut an das Grundwort (des MeeresSchaum; ihrer TugendLicht) Anschließung des vorangestellten Genitivattributs an das Grundwort mittels Divis (der Römer=Sklaven; ihrer Tugend=strahl)
3.
Schreibung von ss bzw. fi für s und umgekehrt: Geissei für "Geisel"; Masse für "Maße"; das für "daß"; Enteiserung für "Entäußerung"
4.
Doppelkonsonanz ohne die Funktion der Anzeige von Vokalkürze: bitten für "bieten"; Schrott für "Schrot" Umgekehrt "Dehnungszeichen" e und h bei Vokalkürze: beschriet für "beschritt"
Lautung 1.
Rundung und Entrundung: Vokale und Diphthonge anders als in der heutigen Hochsprache - ungerundet: Helle ("Hölle"); schweren ("schwören") - gerundet: verhSlt ("verhehlt"), flässen ("fließen"), Wälle ("Wille"); heuterm ("heiterem")
146
Gerhard SpeUerberg - entrundet: zeicht ("zeucht"=zieht); Drachen =Eyter ("Dracheneuter"); Meichel=Mord\ abspielet ("abspült"); du bissest ("du büßt"); Enteiserung ("Entäußerung") - nicht entrundet: Kässen ("Kissen"), spritzen ("spritzen")
2.
Reibelaut statt Hauchlaut: Der vor st und t sowie im Auslaut bewahrte Reibelautcharakter von germ, h: zeuchst ("ziehst"), fleuch ("flieh"); geschieht ("geschieht") Für Fälle wie weicht... ein ("weiht... ein"), weichen ("weihen"), rauch und rauchen ("rauh" bzw. "rauben") wären wohl außer der Übersetzung in den Fußnoten Hinweise im Einzelstellenkommentar angebracht.
3.
Apokopierung und Synkopierung: er setzt ("er setzte"); sie acht ("sie achtete"); die Gefangen ("die Gefangenen"); ein ("einen"); vergifl ("vergiftet")
4.
Präfixform zu- für zer- (zutreten)
Formenbau 1.
Substantive Schwache statt der starken Flexion: Die Armen ("die Arme"); der Frauen ("der Frau"); die Sternen ("die Sterne") Starke statt der schwachen: die Gärte ("die Gärten") Anderes Genus: di Bach, die Schoos, das Keficht, der Brutt
2.
Verben Starke Verbformen mit Vokalwechsel statt der heute üblichen schwachen: sie milekt ("sie melkt"); billt ("bellt") Bei starken Verben - bewahrter Vokalwechsel im Präsens: beut ("bietet"); fleugt ("fliegt") - alte Ablautverhältnisse: glam ("glomm"); sie funden ("fanden"); stürben ("starben") - grammatischer Wechsel (z.B. A - g) innerhalb des Präteritums er zoh ("zog") - Singularformen des Präteritums mit unorganischem -e (aus dem schwachen Präteritum): er sähe ("sah"); zohe ("zog") Bei schwachen Verben Rückumlaut weitergehend als im Nhd. bewahrt: er satzte ("setzte"); ruckte ("rückte") Bei einer Reihe besonderer Verben (Präterito-Präsentien; wollen etc.) Formen mit alten Ausgängen: du darft ("darfst"); du wilt ("willst"); es taug ("taugt") Das Partizip Präsens im Nominativ zumeist noch mit dem alten Ausgang auf -e: sehende, flüchtende Das Partizip Perfekt perfektiver Verben häufig noch ohne die Präfigurierung mit ge-: bracht ("gebracht"); funden ("gefunden"); kommen ("gekommen")
3.
Pronomina Beim einfachen und zusammengesetzten Demonstrativum, beim unbest. Artikel, bei den Possessiva und bei Personalpronomen der 3. Pers. im Dat. Sg. Ausgänge auf -n, im Dat. PI. dagegen solche auf -m:
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
147
Dat. Sg. zu unsem Schimpf; mit ihren Sonnen = Lichte·, in Mutterteibe Dat. PL: aus dem Augen; zum Waffen; auf dem Pfälen (Entsprechende Fälle beim Adjektiv lassen sich im Dat. Sg. auch als Wechsel zwischen st. und sw. Flexion erklären.) Bei den Possessivpronomina häufig Kurzformen: unser für "unserer", euer für "euerer" Beim Reflexivum im Dativ statt nhd. "sich" die entsprechenden Formen der Pronomina der 3. Pers. Sg. und PL: ihm, ihr, ihnen (="sich") Umgekehrt findet sich der reflexive Akk. sich auch bezogen auf ein Subjekt der 1. Pers. PL: wir haben sich bedacht
Syntax 1.
Abweichender Gebrauch der st. und der sw. Adjektivflexion bzw. der nominalen und pronominalen Nominativform des st. Adjektivs: di ... verachtete Känste; alles Blitzes leer, Fallt/zarten Kinder/ fallt; ein kläger Rath
2.
Der Genitiv bei Verbalabstrakta oder ähnlichen Substantiven: Nicht nur - wie nhd. Gen. subiectivus, sondern auch Gen. obiectivus: Blanckens Eh kann sowohl "Ehe der Bianca" als auch "Ehe mit Bianca" meinen. Entsprechendes gilt für Possessivpronomina bei Verbalabstrakta: welchen aber Scipio beweglich von ihrer Liebe und Eh abmahnete "Liebe zu und Ehe mit ihr"
3.
Doppelte Negation: Zwei Verneinungen heben einander nicht auf: Dafi keine Sonne nicht hier ewig scheinen kan.
4.
Infinitivkonstruktionen mit lassen und zwei Akkusativobjekten: Daß der nicht weißlich thut der Worte sich iSst blinden "der sich von Worten blenden läßt"
Interpunktion Hinweis darauf, daß die Satzzeichen weder so eindeutig definiert sind (Fragezeichen am Schluß eines Aussagesatzes) wie im Nhd., noch durch sie in derselben Weise wie heute streng syntaktisch gegliedert wird.
Der Kommentar einer auf die Zwecke der Forschung berechneten historischkritischen Gesamtausgabe wird auf solcherart zusammenfassende sprachliche Erläuterungen wie auf fast alle der in den Fußnoten gegebenen 'Übersetzungen' verzichten können. Im Einzelstellenkommentar einer solchen Ausgabe wird sich nur das finden, was in einer Studienausgabe im Zusammenspiel von Fußnoten und zusammenfassender sprachlicher Erläuterung sich nicht erledigen ließe, sondern zusätzlich zu einer Fußnote - im Stellenkommentar einen Platz finden müßte.
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Gerhard Speilerberg
Zweite Kommentar-Ebene Auf dieser Ebene werden zunächst das Corpus der zu Bereichen wie Lyrik, Drama etc. gehörenden Texte in ihrer - vom Autor vorgegebenen oder vom Herausgeber nach Gattungen vorgenommenen - Untergliederung in Werkgruppen aufgelistet, dann der Stellenwert eines solchen CEuvrebereichs innerhalb des Gesamtwerks markiert - und zwar, soweit möglich, nach Einschätzung durch den Autor selbst, die Zeitgenossen und die Forschung - und schließlich die Gattungstraditionen sowie die demgegenüber in den Bauformen, in der Themenwahl und im Motivhaushalt der Texte sich niederschlagenden Neuerungen umrissen. Im Zusammenhang mit dem letzten Punkt wird der Kommentar einer Studienausgabe wiederum Hinweise bieten, auf die der Kommentar einer historisch-kritischen, für die literaturwissenschaftliche Forschung berechneten Ausgabe verzichten kann und wird. Der Kommentar der Lohenstein-Ausgabe wird hier z.B. Hinweise zu den historischen Vorbildern und zur besonderen Form des barocken Trauerspiels schlesischer Provenienz, zu dessen Verbindungen zur Schulbühne und zum zeitgenössischen Theaterbetrieb, schließlich zu den Besonderheiten der Lohensteinschen Trauerspiele in Titelgebung, Behandlung der Reyen, Figurenkonstellation und Geschichtskonzeption bieten müssen. Auf dieser Ebene werden ggfs. auch die besondere Überlieferungssituation des CEuvrebereichs bzw. der Werkgruppe skizziert und die betreffenden Überlieferungsträger beschrieben. Für die Lohenstein-Ausgabe ist z.B. für die Lyrik die Sammlung Blumen in der Sammelausgabe I von 1680 und deren späteren Nachdrucken vor allem hinsichtlich ihrer umstrittenen Binnengliederung in Himmel=Schlüssel mitsamt den eigenen Zyklen Geistliche Gedancken über das Uli. Capitel des Propheten Esaias und Thränen, in Rosen und in Hyacinthen zu beschreiben, auf die Ergänzungen durch die Sammelausgabe II von 1685 bzw. deren Nachdrucken, durch die Neukirchsche Sammlung, durch Einzeldrucke und Handschriften hinzuweisen. Abschließend ist hier die Auswahl von einzelnen Texten aus dem betreffenden CEuvrebereich bzw. der Werkgruppe zu begründen.
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
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Dritte Kommentar-Ebene
Dem auf dieser Ebene angesiedelten Stellenkommentar sollen nach den Vorschlägen Schmidts und den Richtlinien der Klassiker-Ausgaben Abschnitte vorangehen, in denen bestimmte sachliche Informationen und stellenübergreifende, textaufschließende Gesichtspunkte bereitgestellt werden.
I. "Präliminarien" 1. Entstehung des Werks (Zu den konkreten Daten würden im Falle der Lohensteinschen Dramen auch die Angaben über die Erstaufführungen und deren zeitliches Verhältnis zur Drucklegung gehören.) 2. Selbstaussagen des Autors zum Werk 3. Quellen und Vorlagen (Die Aufgabe, die Quellen zu benennen und den Umgang mit ihnen zu skizzieren, ist im Falle der Lohensteinschen Dramen nur zum Teil durch die Anmerkungen des Autors erledigt.) 4. Wirkung (Neben Hinweisen auf entsprechende Zeugnisse und auf Übernahme in Anthologien und Sammlungen wären für die Lohensteinschen Dramen spätere Aufführungen zusammenzustellen.) 5. Überlieferung des Einzelwerks 6. Grundlage der Textherstellung 7. Verzeichnis der Eingriffe und Mitteilung ausgewählter Varianten.
II. Textaufschließende Kommentareinheit In den "Richtlinien" ist diese Partie mit "Struktur und Gehalt" überschrieben. Die bis jetzt vorliegenden Bände der "Bibliothek der Frühen Neuzeit" weisen dafür Kapitel auf wie "Zur Struktur" (mitsamt den nebengeordneten Rubriken "Stilistisches" und "Metrik") und "Zur Deutung" oder - zusammenfassend - "Deutungshinweise".
Jochen Schmidt hatte als Aufgabe dieser Kommentareinheit angesehen die Erhellung der eigentümlichen - nicht gattungsbedingten - Werkstruktur und beispielhaft verwiesen auf Tektonik, Thematik, Motivik, Personenkonstellation und signifikante
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Gerhard Speilerberg
Wortfelder. Geleistet werden soll hiermit nicht weniger, aber auch nicht mehr als die Offenlegung des in der Kommentierung der Einzelstellen zwar stets, ohne eine solche zusammenfassende Erläuterung aber nur auf verborgene Weise wirksamen Verständnishorizontes: Die Alternative wäre, die über einzelne Begriffe und Gedanken ins Spiel kommenden Bezugs- und Sinnfelder immer wieder aufs neue punktuell aufzuhellen.-Bei der Kommentierung der Cleopatra etwa, das als das zweite zur Aufführung gebrachte und zum Druck beförderte Drama Lohensteins gegenüber dem Jugendwerk Ibrahim Bassa entscheidende, bestimmend bleibende thematische und dramaturgische Veränderungen aufweist, wäre der erstmalig und sogleich in zentraler Funktion eingesetzte Begriff "Verhängnis" zusammenfassend zu erläutern, die Folgen für das Verständnis von Fortuna (I. Reyen) und Geschichte anzudeuten und das damit im Zusammenhang stehende Konzept der "Klugheit" zu beleuchten (Hinweise auf Lipsius, Saavedra, Graciän). Gerade in eine solche Kommentareinheit geht Forschung ein. An eben diesem Punkt aber gibt es in der Diskussion erhebliche Differenzen. Vollständigkeit in der Berücksichtigung der Forschung haben Ricklefs wie Frühwald angemahnt. Ricklefs,4 der den Zusammenhang von Interpretation und Kommentar methodisch bewußt gehalten wissen will, sieht eine im Zuschnitt der meisten Interpretationen liegende Chance, die Masse an Forschungsliteratur auf relativ weniges Objektivierbares zu reduzieren, das auch als solches allerdings seine Abhängigkeit vom expliziten Verstehensvorgang nicht abstreifen kann und soll. Wenn Frühwald dagegen erklärt: "Ein wesentlicher Teil der Rezeptionsgeschichte poetischer Texte ist Forschungsgeschichte, die Information über wichtige Forschungsergebnisse ist eine der vornehmsten Aufgaben des Kommentars" (S. 29), und dann im Hinblick auf das damit aufgegebene Mengenproblem vorschlägt, zu stichwortartigen Zusammenfassungen zu kommen, so scheint mit dieser Punktualisierung der vorliegenden Deutungen und Untersuchungen gerade die schlichte Trennung von Kommentar und Interpretation sichergestellt werden zu sollen. Denn der wesentlich auf die Forschung verwiesene Kommentar habe, so Frühwald, Grundlageninformationen zu bieten und müsse sich aller Aussagen über den funktionalen Zusammenhang der erläuterten Realien und Vorstellungen und den so erzeugten ästhetischen Wert enthalten. Schmidt dagegen hatte im Unterschied zu Ricklefs und Frühwald sehr einschränkend von Gegenüberstellung - nicht Diskussion besonders wichtiger voneinander abweichender Deutungen gesprochen, dabei also weder Vollständigkeit bzw. Pluralismus um jeden Preis noch Durchsetzung des Standpunktes des Editors/Kommentators im Auge gehabt. Für den Kommentar der Klassiker-Ausgaben ist - den Richtlinien zufolge - auch dies noch deutlich einzuschränken. Im wesentlichen sollen aus der Überschauder Erträge der For-
4
Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. - In: Probleme der Kommentierung (s. Anm. 1), S. 33 - 74.
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
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schung heraus nur die Hauptgesichtspunkte deutlich gemacht werden, unter denen das Werk sich dem Verständnis erschließt. Anders als Frühwald fordern Ricklefs wie Schmidt - der eine mit Akzentuierung der theoretischen, der andere mit Akzentuierung der praktischen Aspekte - die strenge Relationierung der kommentierenden Erläuterungen zum jeweiligen Kontext, d.h. zur je besonderen Konfiguration der zu erläuternden Realien und Vorstellungen. Mit der Forderung nach durchgängiger Beobachtung des Relevanz- und Vermittlungsprinzips ist der Übergang zum Stellenkommentar berührt. Denn vom Kommentargegenstand selbst, dem einzelnen Text, und von den Möglichkeiten des Kommentars zu dessen Einzelstellen hängt ab, was in die übergeordnete Kommentareinheit aufgenommen werden muß und kann. Der Stellenkommentar bietet zum einen sprachliche, zum anderen sachliche Erläuterungen. Von den sprachlichen Schwierigkeiten, die nach Schmidts Ausführungen eine Erläuterung fordern, wird eine Reihe durch die in den Klassiker-Ausgaben vorgesehenen Fußnoten im Zusammenspiel mit einer auf durchgängig oder häufiger begegnende sprachliche Phänomene abgestellten Kommentareinheit aufgefangen. Eine Behandlung im Stellenkommentar verdienen solche Fälle wie das oben berührte Weicht... ein oder das Attribut in ihr schupjfichten Delfinen (Α III, 497), das nicht eine Form des Adjektivs "schuppig" sein kann, sondern wohl eine - im DW nicht belegte - Bildung wie "gängig", "häufig" etc. zu schupfen ("in schneller tänzelnder Bewegung sein") darstellt. Eine Erläuterung bleibt auch immer dann nötig, wenn eine Stelle - entweder von der syntaktischen Fügung oder von der Bedeutung einzelner Wörter her (z.B. geil, Dime) - nicht eindeutig zu fassen ist: die 'Übersetzungen' der Fußnoten dürfen keine Eindeutigkeit vortäuschen, die nicht gegeben ist. Auch die Bedeutungsverschiebungen von Wörtern, die einen besonderen Stellenwert für den Text haben (z.B. großmättig), sollten im Einzelstellenkommentar erläutert werden, wenn sie nicht gar Platz in der einzelstellenübergreifenden Kommentareinheit finden. Der Stellenkommentar bietet auch die Möglichkeit, das Gewicht von Gedanken und Vorstellungen für das Werk durch Anführung von Parallelstellen aus anderen Partien desselben Werks oder aus anderen Werken zu verdeutlichen. Soweit das Textverständnis gefördert wird, können auch einzelne Lesarten aus den eingangs des Werkkommentars mitgeteilten ausgewählten Varianten für den Stellenkommentar herangezogen werden. Zuletzt ist hier auch der Platz, um Emendationen, soweit sie nicht von selbst verständlich sind und somit auf einen erläuterungsbedürftigen Kontext hinweisen, kommentierend zu begründen. Dies würde vielleicht schon gelten dürften für die von Tarot vorgeschlagene Besserung des in allen Drucken der Sophonisbe überlieferten meide's Feindes Glücke in neide's Feindes Glücke (S I, 582). Die Unabweisbarkeit dieser Emendation ergibt sich aus der Reihe der Affekte, die der Rache Folge leisten (v. 576)
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Gerhard Spellerberg
und deren Wirkungen die "Seele der Sophonisbe" an sich verspürt (v. 577-583). Die Besserung beispielsweise des in allen Drucken der Epicharis überlieferten Halß ... der geilen Messaline in Haß ... der geilen Messaline (Ε V, 196) wird einsichtig werden im Rahmen der ohnehin nötigen Erläuterung des Kontextes, nämlich der fälschlich gegen Seneca erhobenen Anklagen und deren Hintergrund. Vorwiegend im Hinblick auf die sachlichen Erläuterungen hatte Schmidt die Faustregel aufgestellt, daß alles das in den Stellenkommentar müsse, was für einen belesenen Abiturienten nicht mehr selbstverständlicher geistiger Besitz sei (S. 83). Angesprochen sind dabei zunächst und vorwiegend die Bereiche der Geschichte und der Mythologie. Das in diesem Zusammenhang von Ricklefs an die Wand gemalte Gespenst des zum sinnlosen Ballast verkommenden Auszugs aus dem Konversationslexikon ist dann praktisch gebannt, wenn die von ihm selbst wie von Schmidt geforderte strenge Relationierung beobachtet wird. Auch nach den Richtlinien der Klassiker-Ausgaben soll sich die Füllung und Formulierung der kommentierenden Erläuterung genau "auf den engeren Kontext" ausrichten und "an den Einzugsgebieten und Hilfsmitteln" des Autors orientieren. Wenn Ricklefs sein auf die Spitze getriebenes erkenntnistheoretisches Statement, es gebe im literarischen Text schlichtweg keine konstatier- und isolierbaren historischen oder mythologischen Realien, denen dann ein abgehobener Deutungsbefund gegenübergestellt werden könne, durch die Behauptung untermauert, daß die Beseitigung eines punktuellen Verstehenswiderstandes mittels eines historischlexikalischen Kommentars dem Verständnis des literarischen Textes nicht substantiell aufhelfe und daß umgekehrt der Textsinn sich auch bei Unverständlichkeit einzelner Anspielungen auf Realien erfassen lasse, so scheinen mir literarästhetische Befunde in den Blick genommen zu sein, für die originäre, je individuelle Bedeutungsstiftung konstitutiv ist und die allenfalls mit dem Beginn der 'Kunstperiode' gegeben sind. In einem barocken Text dagegen werden die 'emblematisierten' historischen Ereignisse und Gestalten oder mythologischen Figurationen gerade mit ihren gesicherten, durch Berufung auf Autoritäten legitimierten Bedeutungsgehalten als Argumente eingesetzt. Diese festen Bedeutungen sind selbst dann noch der Bezugspunkt, wenn die picturae gegenläufig zu ihrer traditionellen subscriptio verwendet werden. Ohne die mit dem massenhaft eingesetzten Fundus der picturaeRealien transportierten Bedeutungsgehalte jeweils zu realisieren, bleibt der Textsinn eines barocken opus doctum verschlossen. Gerade die historisch-lexikalische Kommentierung hat hier einen sehr hohen Stellenwert. Die Erläuterung von Kernbegriffen und Vorstellungen der philosophischen Tradition, aber auch - in Ergänzung des Schmidtschen Modells und der "Richtlinien" - des christlichen Glaubens und des theologischen Diskurses bereitet Schwierigkeiten nicht allein und nicht so sehr im Hinblick auf die Behandlung entweder im Einzelstellenkommentar oder in der vorangehenden textaufschließenden Kommentareinheit, sondern vor allem im Hinblick auf die Zuspitzung des
Der Kommentar einer "Studienausgabe": Ausgewählte Werke Lohensteins
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Problems der Beziehung zwischen Kommentar und Interpretation. Im Fall Lohenstein werden problematisch sein nicht so sehr die Erläuterungen von Vorstellungen wie "des gemeinen Heils" (salus publica) oder des "Sich-Verstellens" (dissimulatio), sondern etwa des "Verhängnisses", und zwar unabhängig davon, an welchem der beiden möglichen Orte dies abgehandelt wird. Hier - wie an allen anderen Stellen - entscheidet die konkrete Einlösung der theoretischen Anforderungen an einen Kommentar darüber, ob die Gratwanderung zwischen Kommentierung und Interpretation gelungen ist.
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Andräs Vizkelety
Zum Kommentar der Werke von Wolfhart Spangenberg
In meinem Beitrag möchte ich von einigen Überlegungen zu den Auswahlprinzipien im Kommentar bzw. zu der praktischen Anwendung dieser Auswahlprinzipien berichten, die unter den Stichworten "Quellen", "Stoffe", "Stellenkommentar" stehen. Eine grundlegende Schwierigkeit des Kommentators bei einem Schriftsteller wie Wolfhart Spangenberg (etwa 1570 - etwa 1636)1 ist, daß die Bildung, ja das Bildungsideal der Zeit keinen Wert darauf legte, die Bestandteile der angeeigneten Kultur, der aufgenommenen Eindrücke, der Studien, der Interessenrichtungen zu einer organischen Einheit zu verarbeiten (was dem modernen Bildungsideal vorschwebt). Im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert wird viel grobkörniges Kulturgut, Bildungselement in den Texten weitergeschwemmt, was den Philologen zum Kommentieren reizt. Die Frage ist, wie grobmaschig das Netz sein soll, mit dem man dieses Schwemmgut einfängt, wobei man nicht vergessen darf, daß die kleinen Fische oft die besten Fische sind. In der nicht sehr umfangreichen Sekundärliteratur zu Spangenberg2 wird das Heterogene seines Schaffens bzw. seiner Bildung - bedingt durch Familientradition, Studium, Umgebung, eigene Neigung - betont. Man nennt Lutheranertum, Humanismus, meistersingerische Tradition, Interesse an deutscher Geschichte, Neigung zum Allegorisieren, ja zur Deutung geheimer Kräfte der Natur.3 Man hat auch des öfteren darauf hingewiesen, daß Spangenberg kein origineller Geist war. In seinen Schriften vollendete oder bearbeitete er oft Themen, die bereits sein Vater (Cyriacus) behandelte, übersetzte vieles aus dem Lateinischen, vermehrte es durch eigene Zutaten oder amplifizierte eine oder mehrere kleinere Quellen zu einem umfangreichen Opus. Beinahe alle seine Werke haben ein entliehenes Gerüst, das er ergänzt, behängt, gelegentlich entstellt und mehrfach 1
2
3
Seine sämtlichen Werke erscheinen in der Reihe 'Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts'. Die Textbände (I, II, 111,1-2, IV,1-2, V, VI, VII) liegen bereits vor (1971-1982). Seit der Zusammenfassung H. Müllers, ZfdPh 81 (1962), S. 129-168, 385-401, 454-471 nichts Wesentliches. Vgl. seine Übersetzung und Erweiterung des "Hortus philosophicus" des Martin Mylius, Görlitz 1597 unter dem Titel "Anmutiger Weisheit Lustgarten", Bd. V - VI der Ausgabe. Aber auch seine Kritik der Rosenkreuzer bezeugt sein Interesse (Bd. 111,2).
Zum Kommentar der Werke von Wolfhart Spangenberg
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nutzt. Man hat oft das Empfinden, daß man im Kommentar einen bereits vorliegenden Kommentar kommentiert. Anstatt diese Technik im ganzen Oeuvre Spangenbergs zu zeigen, versuche ich es en miniature am Beispiel von sechs Gratulationsgedichten zu schildern, die in der Sammlung "Anbind- oder Fangbriefe" stehen.4 Die kuriose Gattung ist selten, jedoch nicht unbekannt, hängt mit dem Brauch zusammen, Freunde, Gönner, denen man Glückwünsche darbringen wollte, mit einem seidenen Faden zu binden und am Faden ein Geschenk aufzuhängen. Der Gebundene muß sich wiederum durch eine Gegengabe (ein Glas Wein, Einladung zur Tafel) befreien. In der poetischen Pflege dieser Sitte steht Spangenberg wieder in der Tradition seines Vaters. Das älteste Gedicht in der Sammlung stammt wohl vom Vater Cyriacus, gilt nämlich dem 79. Tauftag einer Gönnerin der Familie, der Gräfin Dorothea von Mannsfeld, welcher Tag ins Jahr 1561 fiel, als Wolfhart noch nicht lebte. Die Adressaten der übrigen Gedichte der Sammlung sind kaum bekannt. Die ausgewählten sechs Gedichte stehen hintereinander in der Ausgabe letzter Hand (1636), sind alle einer Susanna Granerin, Mitglied der Straßburger Meistersinger-Gesellschaft, der mütterlichen Freundin Wolfharts, gewidmet. In seinem Traktat "Von der Musica" gedenkt er ihrer mit warmen Worten. Er schreibt hier: "Ich hab ihr Jährlichen, so lang ich sie in Ehren gekennt, auf ihren geburtstag eine glückwünschung gemacht und verehrt, deren eines theils in meinem getruckten Anbindoder Fangbrieve büchlein zufinden."5 Sie starb 1614. Spangenberg war ab 1600 Mitglied der Gesellschaft, lebte seit etwa 1595 in Straßburg, verließ die Stadt 1611, als er eine Pfarrei in Buchenbach an der Jagst bekam. In Straßburg arbeitete er als Korrektor, übersetzte mehrere Dramen für die Humanistenbühne. Die erste Ausgabe der "Anbind- oder Fangbriefe" erschien 1611 mit vier Susanna-Gedichten, in der Ausgabe 1623 stehen schon alle sechs, die letzten zwei hat Spangenberg vermutlich zwischen 1611 und 1614 geschrieben, als er bereits Pfarrer war. Alle sechs Glückwünsche haben ihre eigene Konzeption, haben zumeist eine bestimmte Quelle oder ein Vorbild. Alle sechs zusammen illustrieren den Bildungshorizont und das poetische Verfahren ihres Schöpfers. Das erste Gedicht huldigt Susanna Granerin durch die Erzählung der Legende der Namensheiligen. Spangenberg gibt zwei hagiographische Quellen an: die "Annales ecclesiastici" des Baronius6 und den "Catalogue sanctorum" des Petrus de Natalibus.7 Ob er Baronius nur wegen der Autorität erwähnt, die der gelehrte
4
5 6 7
Bd. IV,1 der Ausgabe, hrsg. auch von Fr. Behrend, Tübingen 1914 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. 262). Bd. I, S. 103. Tom. II, Romae 1594, S. 689 ff. Benutzt habe ich die Ausgabe Lugdunii 1508, die Susanna-Legende steht hier auf Bl. LXXXIX V .
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Andräs Vukelety
Italiener genoß, läßt sich nicht beweisen, nur vermuten.8 Auffallend ist die Erwähnung deshalb, weil Baronius seine Kirchengeschichte gegen die Magdeburger Zenturien des Flacius schrieb, an welchen Cyriacus Spangenberg und - zumindest als Materialsammler - auch Wolfhart mitarbeiteten. Benutzt hat Wolfhart zu diesem Susanna-Gedicht Baronius kaum, übernahm jedenfalls alles von seinem zweiten Gewährsmann. Auch in der Angabe des Todesjahres der Märtyrerin richtete er sich nicht nach Baronius (294 statt 295). Auf die keineswegs streng abweisende Haltung Luthers und des frühen Lutheranismus zur Legendenliteratur soll im Kommentar eingegangen werden. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht, was Spangenberg aus seiner Quelle n i c h t übernahm: die Verwandschaft der Märtyrerin Susanna mit Papst Caius, ihre kaiserliche Abstammung und alles über die Beisetzung der sterblichen Überreste (Körper und Blut) der Heiligen, d.h. was mit dem Reliquienkult in Zusammenhang gebracht werden konnte. Die "andere Glückwfinschung", die einer "keusch/ Zöchtigs Jungfräwlein" (V. 104), also nicht der Matrone Granerin, gewidmet wurde, ist der Tradition des späten, allegorisierenden Minnesangs verpflichtet, die auch der Meistersang weitergepflegt hatte. Die übliche Winterklage, mit der das Gedicht einsetzt, versucht die allegorische Gestalt des Winters (greiser, bärtiger Mann) damit zu widerlegen, daß "ein leibfarb Rose" (V. 42), die nämliche Jungfrau, auch zur Winterszeit blüht. Alle Elemente der darauf folgenden Allegorese lassen sich in Emblembüchern belegen.' Die falsche Etymologie des Namens Susanna ('Rose', richtig jedoch 'Lilie'), der Grund der allegorisierenden Deutung, ist Erbe der mittelalterlichen Bibelexegese (s.u.). Die minnesingerische Tradition läßt am Schluß der Verse eine Prise Galanterie - eine seltene Würze im Oeuvre unseres Pastors - zu, die vielleicht nur noch im Ursula-Gedicht des Bandes vorkommt.10 Daß aber das zu dieser galanten Wendung benutzte Sprichwort "Zeit bringt Rosen" auch Luther in einer Glosse zum Prophet Michea verwendet (4.8), deutet die Grenzen dieses weltlichen Zuges an. Umso mehr, da Spangenberg demselben Lutherischen Dictum noch ein Susanna-Gratulationsgedicht widmete, das er jedoch in die Sammlung nicht aufnahm, sondern die entsprechende Partie über die Rose in seiner Hortus-Bearbeitung abdruckte.11 Hier interpretiert er das Sprichwort im Sinne der Rechtfertigungstheologie. Das dritte Stück des Susanna-Zyklus setzt die allegorisierende Auslegung des Namens (Susanna = Rose) fort, jedoch im geistlichen Sinne. Den Ausgangspunkt bildet HL 2,1. Die Stelle "Rose unter den Dornen" symbolisiert den Heilsweg des 8
Die Autorität bezeugt Johann Thomas (1624-1679) in seinem Gedicht "Als ihm Lisille den Baronius verehrte". ' Etwa im "Mundus symbolicus in emblematum universitate formatus ... a ... Philipp» Picinello ...", Coloniae Agrippinae ... 1681, der jedoch nicht als Quelle in Anspruch genommen werden kann. 10 Vgl. Fr. Behrend, S. VI, in seinem Vorwort zur Ausgabe, s.o., Anm. 4. 11 Bd. VI, S. 720-721.
Zum Kommentar der Werke von Wolßart Spangenberg
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einzelnen, ja die drei möglichen Wege zur Rechtfertigung: durch Martyrium (rote Rose), durch Unschuld und Friedsamkeit (weiße Rose) oder durch Leid ohne Blutvergießen ("leibfarbene" Rose). Damit steht Spangenberg in der Tradition der frühchristlichen und mittelalterlichen Bibelexegese: die erste Anspielung auf Rose = vergossenes Blut der Märtyrer findet sich anscheinend bei Cyprian (De laude martyrii, CSEL III, 3, 1871); geistliche Qualitäten interpretiert Bernhard von Clairvaux durch verschiedene Farben der Rose (Sermo X. de Cantica, PL 184, 1020).
Der nächste (4.) poetische Glückwunsch ist - wie bereits erwähnt - auf das Jahr 1605 datiert. Die Datierung geschieht mit dem Hinweis auf den Todestag Luthers, der auf den 18. Februar, auf den Vortag des von Spangenberg angegebenen Susanna-Tages fiel.12 In diesem Gedicht wird der im vorigen Stück aufgegriffene Heilsweg-Gedanke im Sinne der Kreuztheologie Luthers diskutiert. Den Bezugspunkt zum Susanna-Tag liefert die Luther-Rose (rotes Herz mit schwarzem Kreuz auf einer weißen Rose). Auch die aus der Rose gewonnenen Mittel (Rosenwasser, -Sirup, -Zucker, ja der damit gebackene Rosenkuchen) werden im Sinne der Rechtfertigungslehre ausgelegt: ein Hinweis dafür, daß Spangenberg an der Übersetzung bzw. Erweiterung des Mylius'schen "Hortus" arbeitete, wo er auch die Luther-Rose behandelte und einen Teil dieses Susanna-Gedichtes (V. 47-106) zitierte (S. 733-734).13 Die fünfte Glückwünschung stellt noch einmal die Bibelstellen über die Rose (Lilie) zusammen, um sich dann gegen den Mißbrauch der religiösen Rosenallegorie im Rosenkranzkult zu wenden. Zur Erzählung der Rosenkranzlegende bildeten die "Sermones rosarij" (Köln 1506) von Clemens Lossow14 die Quelle. Er zitiert die Stelle auch im "Lustgarten" (S. 713-714), die er im vorliegenden "Fangbrief' versifiziert. Seine darauf folgende poetische Kritik des Rosenkranzes (V. 184 ff.) druckte er in einer anderen Fassung, wiederum im "Lustgarten", ab. Den Stoff zum sechsten Gedicht lieferte für Spangenberg seine Beschäftigung mit der deutschen Geschichte. Nach einer ausführlichen Erläuterung des Vergänglichkeitstopos (die Rose verwelkt) erzählt er eine Episode des französisch-schweizerischen Krieges aus dem Jahre 1444 nach der Schweizerchronik des Johannes
u
13
14
Nach dem "Martyrologium Romanum" fällt auf den 19. Februar das Fest des "Gabinus presbiter et martyr", des Vaters Susannas. Den Susannatag feierte die Kirche seit dem "Martyrologium Hieronymianum" bereits am 11. August. Luther hat dieses Rosensymbol, das er zu seinem Petschaft wählte, selbst interpretiert, am ausführlichsten in seinem Brief an Lazarus Spengler, Nürnberg, 8. Juli 1530 (Nr. 1628 im 5. Briefband der Weimarer Luther-Ausgabe). Der Brief wurde früh bekannt. Im "Lustgarten" (732-33) übersetzte Spangenberg auch das lateinische Gedicht Johannes Majors (1533-1600), das die Luther-Rose erklärt. Den Namen schreibt er Lossau und interpretiert ihn als "Lose Sau".
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Andräs Vukelety
Stumpf,15 nach welcher ein Ritter den französischen Sieg mit dem Spruch "Heut baden wir in Rosen" verherrlichte, worauf ihn ein verwundeter Eidgenosse durch einen Steinwurf tötete. Auch hier - wie oben - haben wir es mit einer zweifachen Verwendung des Exempels zu tun: im "Lustgarten" wird es in Prosa erzählt (S. 722), dann zitiert Spangenberg seine eigenen Verse (ab V. 85). Die sechs Gedichte umreißen den Bildungskreis, in welchem sich Spangenberg immer wieder bewegte. Diese Bewegung verlief in konzentrischen Kreisen, indem er seine Lesefrüchte immer wieder in verschiedenen literarischen Genres bearbeitete.
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Wahrscheinlich nach der Ausgabe Zürich 1606, da die früheren Ausgaben nicht als "Schweytzer Chronick" betitelt sind.
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Diskussionsprotokoll
Ein Kommentar sollte sich - unabhängig vom jeweiligen Rezipientenkreis - in drei Schritten dem zu kommentierenden Einzelwerk nähern: Auf einer ersten Ebene werden 1. Leben und Werk des Autors dargestellt; 2. Auswahl und Anordnung der Werke begründet und die allgemeine Überlieferung dargestellt sowie Grundsätzliches zur Text- und Apparatanlage (inklusive des Kommentars) ausgeführt; 3. allgemeine Hinweise auf sprachliche Besonderheiten (regionalsprachliche Aspekte, spezielle Graphemik und Phonemik) gegeben - auch und gerade im Hinblick auf die Entlastung des Einzelkommentars. Auf einer zweiten Ebene wird das Oeuvre nach gattungsmäßigen Werkgruppen (z.B. Lyrik mit einzelnen Untergruppierungen wie geistliche - weltliche Lyrik usw.) gegliedert, der Stellenwert der Werkgruppe innerhalb des Gesamtwerkes und im Verhältnis zur Literatur der Zeit sichtbar gemacht. Auf der dritten Ebene schließlich wird das Einzelwerk kommentierend vorgestellt, auch hier wieder in einer dreifachen Gliederung: a)
b) c)
Überlieferungs- und Entstehungsgeschichtliches, Quellen, Rezeptionsgeschichte (unter Ausschluß der wissenschaftlichen Diskussion), Textgrundlage Blockkommentar zum allgemeinen Textverständnis (Struktur, Thematik, Motivik usw.) fortlaufender Stellenkommentar, wobei zwischen dem sprachlich kommentierenden Teil und dem sachlich erläuternden Kommentarteil zu unterscheiden ist.
Prinzipielle Aufgabe eines Kommentars ist es, einen bestimmten vorgegebenen Text sprechen zu machen, wobei zu berücksichtigen ist, ob der betreffende Text innerhalb einer endgültigen Gesamtausgabe, die eine einmalige Editionsleistung darstellt, oder im Rahmen einer Gebrauchsausgabe (Studien-, Leseausgaben) kommentiert wird. In beiden Fällen ist ein schneller Zugriff auf die Information, bezogen auf den Bildungshorizont des heutigen Lesers, gefordert. Damit stellt sich die Frage, wie es denn mit dem Bildungshorizont des heutigen Lesers (idealtypischer Durchschnittsleser, Leser als Mitglied einer imaginären 'Gelehrtenrepublik'?) beschaffen ist. Ganz sicher kann man nicht wie Friedrich
160 Zarncke - wahrscheinlich schon in seiner Zeit eher Wunschdenken als Realität von einem Adressaten ausgehen, der althochdeutsche, frühneuhochdeutsche, lateinische und griechische Texte ohne Übersetzungen lesen kann, d.h. in jedem Fall sollten fremdsprachliche, vor allem aber lateinische Texte, die zur Kommentierung herangezogen werden, in der Originalfassung und der Übersetzung wiedergegeben werden, auch um die Kommentarleistung dem Leser einsichtig, nachvollziehbar und - gegebenenfalls - kritisierbar machen zu können. Der Kommentar muß absolut den Wissensstand der heutigen Forschung dokumentieren, aber in eigener Darstellung des Herausgebers, nicht so, daß der Benutzer "in die Wüste der Bibliographie" (Kühlmann) geschickt wird. Der Kommentator hat sich davor zu hüten, Sicherheit zu simulieren, wo sie nicht gegeben ist. Unerklärbares ist als solches deutlich zu kennzeichnen. Bei mythologischen Erklärungen sollte man sich Grenzen setzen, und zwar derart, daß man nicht ganze Mythenkomplexe darlegt, sondern nur den für die Textstelle relevanten Ausschnitt erklärt. - Zu beachten: Der mythologische Wissensstand der Zeit war ein anderer als der heutige! Falls sich Erläuterungen immer wiederkehrender Sachbegriffe zu stark häufen würden, ist die Anlage eines erläuternden Registers in Erwägung zu ziehen. Bibliographische Angaben sollten nur einmal in voller Länge gegeben werden, danach nur in Kurzfassung (evtl. auch durchweg in Kurzfassung, falls ein umfassendes Literaturverzeichnis im Anhang vorgesehen ist). Umfang und Grenzen eines Kommentars ergeben sich aus dem Ausgabentypus einerseits und den Rahmenbedingungen andererseits, unter denen die Ausgabe erscheint und die der Verlag vorgibt. In jedem Fall aber sollte eine prinzipielle Trennung von Text und Kommentar in zwei verschiedene Bände angestrebt werden, was einmal den leserfreundlichen Gebrauch des Kommentars ermöglicht, zum andern aber dem Problem Rechnung trägt, daß ein Kommentar - im Gegensatz zu einer nach strengen wissenschaftlichen Kriterien angefertigten Edition bzw. zu einem Reprint - veralten kann und ggf. unter neuen Gesichtspunkten zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal erstellt werden muß. Jörg Jungmayr, Lothar Mündt
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Kommentar-Empfehlungen für Editionen von Texten der Frühen Neuzeit
Die folgenden Empfehlungen versuchen, Kommentierungswünsche aufzustellen und zu systematisieren, um künftigen Editoren bzw. Kommentatoren eine Orientierung zu geben, was unterschiedliche Leserkreise von einem 'Kommentar-Instrument' erwarten könnten. Die im folgenden aufgelisteten Kriterien und Positionen wollen als Anregung verstanden werden, keinesfalls als Pflichtkanon. Jeder Kommentator muß für sich entscheiden, wie weit er dem hier abgesteckten Erwartungshorizont zu entsprechen gedenkt, bzw. auf Grund der Textvorgaben überhaupt zu entsprechen vermag. Die einzelnen Aspekte sind aus der Kommentierungspraxis seit etwa anderthalb Jahrhunderten zusammengestellt worden, wobei gewisse rudimentäre Ansätze und Formen der Vergangenheit nicht mehr berücksichtigt worden sind. Die Kriterien waren Diskussionsgegenstand der Arbeitssitzungen der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit in Berlin (8. - 11.2.1990) und in Basel (19. 3. 1990). Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Benutzer- bzw. Leserkreise ist die Systematisierung nach den Editionsarten 'Historisch-kritische Ausgaben', 'StudienAusgaben', 'Lese-Ausgaben', vorgenommen worden. Daß die ersten beiden Editionsarten in ihren Kommentarstrukturen vielerlei gemeinsam haben, liegt auf der Hand, doch sind auch gewisse Differenzierungen und notwendige Modifikationen der beiden Modelle nicht zu übersehen.
A. Kommentare in Historisch-kritischen Ausgaben I. Struktur des Kommentars 1. Berichtsteil: Informationen zu 'Autor und Werk': a) Rechenschaftsbericht über Anlage der Ausgabe Ermittlung der Überlieferung Grundsätzliche textkritische Entscheidungen b) Vita des Autors in annalistischer Form Intention: sinnvolle Vollständigkeit der Daten und Fakten; keine 'wertende' Biographie
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Kommentar-Empfehhmgen
c) zeitgenössische Zeugnisse über den Autor als Person; über das Werk in seiner Gesamtheit d) Bibliographie (möglichst vollständig) der Primärliteratur (Hss., Drucke, mit Standorten), Archivalien und der Forschung 2. Kommentar zum einzelnen Werk a) Quellen / Stoff- bzw. Motivgeschichte / Parallelbearbeitungen b) Entstehungsgeschichte c) Aussagen des Autors zum Werk d) Publikations- und Verlagsgeschichte e) Rezeption: literarische ggf. künstlerische Wirkungsgeschichte f) wissenschaftliche Rezeption g) ggf. allgemeine Hinweise zur besonderen Struktur und besonderen Form (Metrik, Strophik des Werkes) 3. Zeilen-Kommentar / Erläuterungen a) sachliche Erläuterungen Namen (historische, fiktive, geographische) Sachbegriffe, Termini Geschichtliche Bezüge Mythologische Begriffe und Anspielungen Philosophische Vorstellungen und Anspielungen Religiöse Vorstellungen und Anspielungen Theologische Begriffe Elemente des Brauchtums b) literarische Erläuterungen Besonderkeiten des Stils Besonderheiten des literarischen Ausdrucks Besondere rhetorische Figuren, Topoi Emblematische Einflüsse, Strukturen Besonderheiten in Metrik und Strophik c) Identifizierung von Zitaten, Anspielungen, Hinweisen d) Beschreibung von Illustrationen unter Erläuterung von deren Funktion für den Text e) ggf. Erläuterungen musikalischer Beigaben f) sprachliche Erläuterungen seltene, nicht geläufige Wörter und Begriffe Mundartliches semantische Verschiebungen
Kommentar-Empfehlungen
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syntaktische Schwierigkeiten unklare und ggf. zu Mißverständnissen führende Wörter und Formulierungen g) fremdsprachliche Textteile (insbes. griechisch, lateinisch) ggf. zu übersetzen h) Fremdwörter: erklären i) Problemhinweise auf das Zeitalter zur historischen Vertiefung pragmatisch erklärende Textauszüge aus zeitgenössischen Publikationen, etwa zur Beleuchtung der Aktualität des kommentierten Textes ideologische Entsprechungen kulturgeschichtliche Belege aus anderen Texten Parallelen aus anderen Texten des Autors bzw. der Zeit Motiv-Parallelen k) Bezug auf Varianten n u r , wenn dadurch eine Textstelle wesentlich erklärt oder beleuchtet werden kann; keine Varianten in den Zeilenkommentar einmischen.
II. Kommentar-Technik 1. a) weitgehende Formalisierung der Angaben in knapper, sachbezogener Diktion b) Vermeidung spekulativer Unsicherkeiten bzw. Sicherheiten c) genaue Benennimg der Daten und Fakten d) für den Kommentator unerklärbare Stellen kenntlich machen 2. a) sachliche Erläuterungen unter Einbeziehung der Forschung, ggf. abweichende Meinungen benennen und auf sie bibliographisch verweisen b) herangezogene Spezialliteratur, die im Kommentar nicht öfter verwendet wird, ist an der Kommentarstelle bibliographisch genau zu zitieren 3. Ad-hoc-Brauchbarkeit der Angaben (Instrumentalcharakter des Kommentars) bei Zitaten und Anspielungen: Originaltext (evtl. nach vom Autor benutzter Quelle) dokumentieren. Bloßer Stellenverweis ist im Augenblick der Textarbeit des Lesers wenig hilfreich. Die Arbeitsvoraussetzung des Benutzers muß vom Kommentator bedacht werden. 4. Bei Spracherläuterungen Provenienz-Angabe machen (z.B. DWb, Schwld) 5. Verweistechnik im Kommentar Mehrfachverweise aufeinander abstimmen; Vor- und Rückverweise beachten
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Kommentar-Empfehlungen
6. Zusammenfassende Kommentarinformationen statt Einzelerläuterungen: a) Namen (mit weiteren Angaben) im Personenregister b) sprachliche Erläuterungen lexikalischer Art: Sprachglossar c) Sach- und Namenweiser und Wortregister zum Gesamtkommentar ('geistiges Weltbild des Autors') 7. Konkordanzen zu früheren Ausgaben sind wünschenswert
B. Kommentare in Studien-Ausgaben I. Struktur des Kommentars 1. Berichtsteil a) Hinweise auf: Anlage der Ausgabe Begründung der Auswahl (ggf.) textkritische Entscheidungen Überlieferungen der Texte b) Information über Leben und Werk des Autors, die in Grundzügen das Wesen des Autors und die Eigentümlichkeit des Werkes mit dem historischen Kontext, soweit er zum Verständnis des Werks erforderlich ist, in Beziehimg setzt. Die 'Information' sollte als lesbare Darstellung ausformuliert sein. c) Verständnishilfen zur Einführung in die Historizität von Schriftbild Interpunktion Lautung Morphologie Syntax ggf. besondere Spiel- und Formelemente des Textes 2. Allgemeiner Kommentar zum einzelnen Werk a) Hinweise zur Stoffgeschichte b) Hinweise zur Entstehungsgeschichte c) relevante Aussagen des Autors zu seinem Werk d) Hinweise zur Rezeption und Wirkung des Werkes 3. Zeilen-Kommentar / Erläuterungen a) sachliche Erläuterungen Namen (historische, fiktive, geographische) Sachbegriffe, Termini Geschichtliche Bezüge Mythologische, religiöse, philosophische Begriffe und Anspie-
Kommentar-Empfehlungen
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lungen Elemente des Brauchtums b) literarische Erläuterungen Besonderheiten des Stils Besonderheiten des literarischen Ausdrucks Besondere rhetorische Figuren, Topoi Emblematische Einflüsse, Strukturen Besonderheiten in Metrik und Strophik c) Identifizierung von Zitaten, Anspielungen, Hinweisen d) Beschreibung von Illustrationen unter Erläuterung von deren Funktion für den Text e) ggf. Erläuterungen musikalischer Beigaben f) sprachliche Erläuterungen seltene, nicht geläufige Wörter und Begriffe Mundartliches semantische Verschiebungen syntaktische Schwierigkeiten unklare und ggf. zu Mißverständnissen führende Wörter und Formulierungen g) fremdsprachliche Textteile: übersetzen (außer: englisch, französisch, italienisch) h) Fremdwörter: erklären
II. Kommentar-Technik 1. Berichtsteil und allgemeiner Kommentar zum einzelnen Werk sollten als Darstellung in knapper, sachbezogener Diktion ausformuliert werden. 2. Der Zeilenkommentar sollte die Angaben weitgehend formalisiert bieten. 3. Der Kommentator soll unerklärbare Stellen kenntlich machen. 4. Die Forschimg ist soweit zu berücksichtigen, wie sie zum Verständnis der einzelnen Textstelle bzw. der Gesamtzusammenhänge des Werkes Klärendes beizutragen vermag; eine Diskussion von unterschiedlichen Forschungspositionen sollte nur im Ausnahmefall geführt werden. 5. Bei Spracherläuterungen ist die Provenienz-Angabe zu machen. 6. Die Spracherläuterungen können am Fuß der Seite, im laufenden Zeilenkommentar oder als Glossar gegeben werden.
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Kommentar-Empfehlungen
7. Mehrfachverweise sind aufeinander abzustimmen. 8. Möglichkeit zusammenfassender Kommentareinheiten: Namenregister Sprachglossar
C. Kommentar in Lese-Ausgaben Lese-Ausgaben sind im Bereich der älteren Literatur problematisch, da weite Leserkreise nicht über genügend historische Kenntnisse verfügen, um die Texte adäquat zu verstehen. Von beigabe-freien Lese-Ausgaben ist deshalb tunlichst abzusehen. Lese-Ausgaben ohne wissenschaftlichen Anspruch können eine Modernisierung der Schreibung und Interpunktion einführen, sollten aber Lautung, Formimg und syntaktische Strukturen nicht antasten. Lese-Ausgaben bedürfen einer populären Einführung in Autor und Werk und sprachlicher und sachlicher Erläuterungen in einfachster Form.
D. Reprint-Ausgaben und Brief-Ausgaben 1. Reprint-Ausgaben können mit Kommentaren versehen werden, die den Prinzipien von Kommentaren zu historisch-kritischen Ausgaben oder Studien-Ausgaben entsprechen. 2. Briefausgaben Kommentare zu Briefausgaben sind entsprechend an den für sie sachlich zutreffenden Kriterien der historisch-kritischen Ausgaben zu orientieren.
Allgemeine Anmerkung Die Lokalisierung der einzelnen hier aufgelisteten Kommentarpositionen braucht in einer geschlossenen Kommentareinheit nicht unbedingt dem hier gegebenen System zu folgen. Wichtiger ist, daß eine Vielzahl der Gesichtspunkte im Kommentar berücksichtigt wird.
III. COMPUTERGESTÜTZTE TEXTDATENVERARBEITUNG IM BEREICH DER LITERATUR DER FRÜHEN NEUZEIT
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Ulrich Seelbach
Avancinis "Pietas Victrix". Werkstattbericht zur Erstellung einer computerunterstützten Edition1
Das neulateinische Drama "Pietas victrix" von Nicolaus Avancini ist in zwei Drukken des 17. Jahrhunderts überliefert. Wir haben uns für den Erstdruck2 von 1659 als Textgrundlage entschieden, da der Wiederabdruck in den Gesammelten Tragödien3 zahlreiche Fehler enthält und diese Textfassung außerdem in der Neuedition Flemmings4 bereits zugänglich ist. Die erste Ausgabe des Dramas ist mit einer gut lesbaren Type gesetzt und auf Papier von besserer Qualität gedruckt, was uns dazu bewogen hat, den Versuch zu unternehmen, diesen Druck einzuscannen und mit einer optischen Zeichenerkeimung aufbereiten zu lassen. Der zweite Druck (die Ausgabe von 1675) eignet sich auch bei verbesserter Zeichenerkennungssoftware und leistungsfähigeren Scannern nicht für das automatisch unterstützte Einlesen — die Typen sind verschmiert, undeutlich im Andruck und die Spatien zwischen den Wörtern oft zu gering, um korrekte Trennungen zu gewährleisten; außerdem ist die Papierqualität miserabel (zu viele Einschlüsse, die als unbekannte Zeichen interpretiert würden).
Texterfassung Das leistungsfähigste System, zu dem wir Zugang hatten, war der KDEMOmnifont-Leser von Kurzweil, ein auf Mustererkennung angelegtes, trainierbares 1
2
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4
Die Edition, hrsg. von Lothar Mündt, Hans-Gert Roloff, Ulrich Seelbach wird zusammen mit einer deutschen Übersetzung im Paralleldruck voraussichtlich 1992 erscheinen. PIETAS VICTRIX SIVE FLAVIUS CONSTANTINUS MAGNUS, DE MAXENTIO T Y R A N N O VICTOR: ACTA VIENNA LUDIS Ci€SAREIS AUGUSTISSIMO ROMANOR: IMPERATORI, H U N G A R Y BOHEMIj€QUE REGI LEOPOLDO, A STUDIOS A JU VENTUTE C/£SAREI ET AC ADEMICICOLLEGIISOCIET ATIS JESU, MENSE FEBRVARIO, DIE ANNO M.DC.LIX. VIENNA AUSTRIA, In Officina Typographica Matthaei Cosmerovij, Sacrae Caesareae Majestatis Typogr. Tragediae R.P. Nicolai Avancini Soc. Jesu. Coloniae Apud Jo. Wilhelmum Fließen 1675, p. 102-252. Pietas Victrix. In: Das Ordensdrama. Hrsg. von Willi Flemming. Leipzig 1930, S. 184-303 ( = Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Barock. Barockdrama 2).
Avancinis "Pietas Victrix"
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System. Das Ergebnis eines Probetrainings im Zentrum für Datenverarbeitung in Tübingen ist in Abbildung 2 zu sehen (Abbildung 1 zeigt die Vorlage). Die Schwierigkeiten, die sich bei der Anwendung automatischer Buchstabenerkennung älterer Drucke ergeben, sind auf einen Blick zu erkennen: Verwechslung von Schaft-s und /, von e und c, Zusammenziehung wegen zu geringer Spatien zwischen den Wörtern, Trennung von Ligaturen (ae als ce, uf als u/) und Buchstaben (ii für n), Verwechslungen (h und b, ο und ri) und nicht erkannte Unterschneidungen (ßu); die Tilde (~) steht für nicht erkannte (oder nicht trainierte) Buchstaben. Bei der dann erfolgten Bearbeitung des gesamten Textes wurde das Training verbessert. Dennoch benötigte die Erstausgabe 32 Stunden Eingabe- und Nachbesserungszeit. Von den ca. 150000 Zeichen wurden trotz Nachbesserungen (d.h. Ersetzen der von der Software nicht erkannten Buchstaben durch manuelle Korrektur am Bildschirm) 900 Zeichen fehlerhaft wiedergegeben oder ausgelassen. (Vgl. Abbildungen 3 und 4.) Dies entspricht einer Fehlerquote von 0.6 %. Allerdings teilte uns der Bearbeiter mit, das vollautomatisch vom KDEM-Gerät nur ca. 70 % der Zeichen nach dem Training erkannt worden seien. Das Einlesen alter Drucke mit dem KDEM bietet demnach kaum Vorteile vor der manuellen Eingabe am Bildschirm — auch hier dürfte die Fehlerquote um 0.6 bis 1.0% betragen und der Zeitaufwand zum Abschreiben sogar etwas geringer sein. Nach neuesten Erfahrungen läßt sich die automatisch erkannte Quote bei älteren Drucken (vor 1800) auf ca. 90% erhöhen, wenn die OPTOPUS-Karte und -Software verwendet wird, die als derzeit leistungsfähigstes System gelten kann.5 Damit läßt sich auch die Nachbearbeitungszeit erheblich verkürzen. Der Abdruck der zweiten Ausgabe der "Pietas victrix" durch Flemming im Ordensdrama-Band der 'Deutschen Literatur in Entwicklungsreihen' wurde ebenfalls auf dem KDEM-Omnifont in Tübingen — innerhalb von 4 Stunden — eingescannt und als TUSTEP-Datei auf Diskette ausgegeben (120 Textseiten). Fehler, außer gelegentlichen, unerklärlichen marginalen Textverlusten, sind dabei so gut wie keine aufgetreten — vergessen wurde beim Training, den Unterschied von kursivem Schaft-s und kursivem f festzulegen; dies war jedoch von untergeordneter Bedeutung, da es nur das Vorwort, die Inhaltsangaben und Regieanweisungen betraf. (Vgl. Abbildungen 5 und 6.) Die OCR-Erfassung alter Drucke (vor dem 19. Jahrhundert) ist nicht wegen der verwendeten Schriften oder abgebrochener Buchstaben problematisch (auch
5
Vgl. OPTOPUS. Zeichenerkennung - Made in Germany. (Wiesbaden 1988). Optopus ist zu beziehen über die Finna Makrolog, von-Leyden-Str. 46,6200 Wiesbaden. Makrolog verschickt auf Anfrage regelmäßig das Makrolog newsletter mit Informationen über Anwendungen der OCR-Technik und zur Weiterverarbeitung eingelesener Texte. Siehe auch den Artikel über OPTOPUS: Wann ist ein "H" ein "H"? In: MC - Die Mikrocomputer-Zeitschrift 8 (1990), S. 24 f. (S. 32-52 des Heftes zu den Grundlagen von OCR und Tests von Scannern und OCRSoftware).
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Ulrich Seelbach
defekte Typen lassen sich korrekt trainieren). Störend wirken sich aus a) zu enger Abstand der Buchstaben voneinander (minimale Spatien)6 b) das Durchschlagen des Textes der Rückseite (eventuell durch Kopieren der Vorlage ausgleichbar) c) ungleichmäßiger bzw. zu schwacher Andruck d) Einschlüsse im Papier e) bei der Verwendung von Reader-Printer-Abzügen oder Fotos, was die Regel sein dürfte: zu enge Bindung des Druckes, der zu Schatten oder Verzerrungen bei der Aufnahme fuhrt.7
Weiterverarbeitung Um das Korrekturlesen zu erleichtern und einen Großteil der Fehler automatisch zu erfassen, habe ich aus beiden Eingaben eine normalisierte Fassung des reinen Versbestandes hergestellt. Dies läßt sich mit TUSTEP-Mitteln bequem dadurch erreichen, daß alle Regieanweisungen, Szenenperiochen und Sprecherrollen, die sich entweder durch Schriftanweisungen (Kapitälchen, Kursive) oder Zentrierungsanweisungen vom blanken Verstext unterscheiden, bei dem Kopiervorgang durch Parameterangaben ausgeschlossen werden. Die so gewonnenen reinen Versfassungen der Pietas wurden danach noch automatisch normalisiert (Auflösung der Abkürzungen, i/j-Ausgleich, ν vor Konsonant wird zu u ausgetauscht) und konnten so verglichen werden. Sämtliche Abweichungen des Erstdrucks (A) von Flemmings recht genauem Abdruck der zweiten Ausgabe (B) wurden durch das VERGLEICHE-Programm von TUSTEP in einer Liste ausgegeben. Mit dieser Liste konnten so die meisten Erfassungsfehler der (überwachten) OCR-Eingabe des Erstdruckes beseitigt werden. Durch konventionelles Korrekturlesen mußten allerdings die Textbestandteile, die in der zweiten Ausgabe fehlten, und jene Fehler, die durch einen Vergleich mit der zweiten Ausgabe nicht erkennbar waren (meist Akzente, die in der Ausgabe Β fehlten und in der Erfassung von Α nicht erkannt wurden), beseitigt werden. Der vorläufige kritische Text mit ca. 500 Eingriffen gegenüber dem Erstdruck A, die korrigierte Erfassung des Erstdruckes und der Abdruck der zweiten Ausgabe (B) durch Flemming diente dann zur computerunterstützten Erstellung des Apparates. Das VERGLEICHE-Programm von TUSTEP kann auch für diesen Zweck genutzt werden. Durch bestimmte Parameter wird das Bezugswort der kritischen Fassung (eventuell mit Kontext), gefolgt vom Lemmazeichen, der Variante und Versionssigle, mit ausgegeben. Als Referenzen sind die Vers- und
4 7
OPTOPUS bietet hierfür ein Hilfsprogramm (TRENNEX). Mikrofilmaufnahmen der Drucke im Halbschrittverfahren verhindern weitgehend diese Verzerrungen.
Avancinis "Pietas Victrix"
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Wortnummer vorgesehen. Aus diesem vorläufigen Apparat mußten dann nur noch die zusammengehörigen Varianten - z.B. drei aufeinanderfolgende Apparateinträge — manuell am Bildschirm zusammengefaßt werden. Das Vergleiche-Programm von TUSTEP kann also für folgende Arbeitsvorgänge genutzt werden: a) Korrektur der Texterfassung des zugrundegelegten Textzeugen b) Korrektur des kritischen Textes c) Erstellen des Roh-Apparates. Mit TUSTEP-Programmen haben wir noch einmal den Text in zwei Bestandteile zerlegt: a) die Überschriften, Periochen, Personalübersichten und Regieanweisungen, b) die Verse mit den Sprecherrollen. Letztere wurden durch das TUSTEPProgramm KOPIERE in 5er-Schritten durchgezählt. Nach dieser Bearbeitung werden beide Bestandteile wieder ineinandergemischt (SORTIEREN nach Satznummern). Die abgekürzten Sprecherrollen wurden automatisch zur Vollform ergänzt, in Kapitälchen gesetzt und auf Mitte zentriert - wobei unzureichende Angaben der Vorlage zu Fehlern geführt haben, die nachgebessert werden mußten: ζ. B. bedeutete Ma. in der einen Szene Maximus, in der anderen Maxentius. Da die Sprecherrollen zentriert vor dem Verstext stehen, mußte bei den zahlreichen, auf mehrere Sprecher verteilten Versen manuell die richtige Positionierung der Fortsetzungszeilen des Verses eingebracht werden. So weit beherrschen wir die Möglichkeiten von TUSTEP noch nicht, um dieses Problem ebenfalls automatisch zu lösen - sicher aber ist es machbar. Alle Ergebnisse: die kritische Textfassung, das Verzeichnis der Eingriffe und die Kollation von Druck Β wurden mehrfach konventionell korrekturgelesen. Nur deshalb sind wir imstande, einigermaßen zutreffende Aussagen über die Fehlerquoten und -quellen zu machen. Das TUSTEP-Programm SATZ, das bisher nur auf dem Großrechner verfügbar ist, dient zur Aufbereitung der auf dem Personal-Computer erstellten Textdateien für den Lichtsatz. Die hierfür erforderlichen Steuerzeichen können bereits am PC eingegeben werden und das vorläufige Endergebnis durch eine Satzsimulation auf dem Laserdrucker kontrolliert werden. Die Satzsimulation ersetzt die herkömmlichen Druckfahnen und den Umbruch.8
8
Vgl. Wilhelm Ott: Vom Manuskript zur Edition. Das Programm SATZ als Baustein in TUSTEP. In: Historische Edition und Computer. Möglichkeiten und Probleme interdisziplinärer Textverarbeitung und Textbearbeitung. Hrsg. von Anton Schwöb, Karin KranichHofbauer, Diethard Suntinger. Graz 1989, S. 153-176.
172 Maxentius.
Excub.
Maxentiui.
Ulrich Seelbach
Hue arma miles , arma & ultorcm manu In fomno loquitur. Scringitc fiirorcm: congerar cades chalybs , FcedcHtur aftra fänguinc, reorumnatet Inrrar Cruorc rellus. Prodirour! noftro rumens £x i g > ae/oe ß > ss f > s Abbreviaturen sind aufzulösen (ohne Kennzeichnung der aufgelösten Wortbestandteile und ohne Fixierung dieser Eingriffe im Apparat). Einen Sonderfall bilden Abkürzungen wie S. (Salutem / Sanctus), D.D.D. (Dat, dicat, dedicat), L.M.Q. (Libenter meritoque), P.R. (Populus Romanus), Res.Publ., Caes.Mai. u. dgl. In solchen Fällen, z.B. bei Titeln, Anreden, Eingangs- und Schlußfloskeln von Briefen usw., sollte zwecks Bewahrung des historischen Erscheinungsbildes des Textes auf eine Auflösung verzichtet werden. Abkürzungen dieser Art, deren Kenntnis beim Benutzer der Ausgabe nicht unbedingt vorauszusetzen ist, sollten vom Herausgeber pauschal erläutert werden. Ligaturen können aufgelöst werden. Akzente sollten unbedingt übernommen werden, da sie zum einen für das Erscheinungsbild neulateinischer Drucke charakteristisch sind, zum anderen aber auch gute Hilfen bei der schnellen Erfassung des Textes leisten können (z.B.: voluere / voluere). Wo Akzente falsch gesetzt sind, sind sie (unter Angabe im Apparat) zu eliminieren. Von der Ergänzung fehlender Akzente ist jedoch abzusehen. - Die konsequente Anwendung dieser Regel erfordert die Übernahme der Akzente auch dort, wo sie keine unterscheidende Funktion haben, also eigentlich überflüssig sind, z.B. bei der Interjektion ö oder den Präpositionen ä, e. Tremata sollten beibehalten werden, soweit sinnvoll (z.B. poeta).
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Lothar Mündt
Getrennt geschriebene Enklitika sind mit dem vorangehenden Wort zu verbinden (z.B. vis ne / vis'ne > visne). Zur Groß und Kleinschreibung: Empfohlen wird Großschreibung nach dem Punkt und nach Ausrufe- und Fragezeichen, sofern diese am Satzende stehen. Innerhalb des Satzes: - entweder, unveränderte Wiedergabe des Textes - oder. Großschreibung bei allen Eigennamen, jedoch ggf. (je nach Textbefund) auch bei Sakralwörtern oder bei Personifizierungen. 2.2. Zur Interpunktion Liegt in der Originalfassung des Textes überhaupt keine oder eine völlig unzureichende oder keinerlei Regeln gehorchende Interpunktion vor, so ist eine gliedernde Form der Interpunktion vom Herausgeber einzuführen. Weist der Originaltext aber eine in sich sinnvolle, den Text nach bestimmten (ggf. vom Herausgeber zu erläuternden) Prinzipien gliedernde Interpunktion auf, so sollte sie möglichst bewahrt, allenfalls nur sporadisch, soweit es dem besseren Verstehen des Textes dienlich ist (nicht aber, um eine textfremde Norm durchzusetzen) modifiziert werden. Auf jeden Fall sollten im Analogieverfahren die heute üblichen Satzzeichen eingesetzt, also z.B. ein Doppelpunkt, der die Funktion unseres einfachen Punktes hat, auch durch einen solchen ersetzt werden. Auf die Anwendung dieses Verfahrens muß der Herausgeber aber ausdrücklich aufmerksam machen (Pauschalhinweis dürfte in der Regel genügen). 2.3. Sonstiges Bei längeren im Original ungegliederten Prosatexten sollte eine Absatzeinteilung vorgenommen werden.
3. Zur Anlage des textkritischen Apparats Unbedingt notwendig ist eine klare Trennung des Variantenverzeichnisses von der Liste der Eingriffe des Herausgebers in die von ihm gewählte Textvorlage. Variantenapparat Er ist zu beschränken auf Wortvarianz und grammatische Varianz. Die Mitteilung von Varianten in Orthographie und Interpunktion sollte sich auf Fälle beschränken, die von besonderem überlieferungsgeschichtlichem Aussagewert sind.
Empfehlungen zur Edition neulateinischer Texte
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Texteingriffe Hier sind alle Eingriffe aufzuführen, die von den oben angegebenen Pauschalregelungen nicht erfaßt werden. Eingriffe in die Originalinterpunktion sollten nur verzeichnet werden, wenn eine Pauschalerläuterung der vorgenommenen Änderungen nicht ausreichend erscheint.
4. Zur Kommentierung Ein Spezialproblem bei der Kommentierung neulateinischer Texte stellt der Nachweis von Entlehnungen aus der antiken Literatur (sofern keine expliziten Zitate!) und von Similia dar, da es schwierig ist, hier klare Grenzen zu ziehen, andererseits aber die wahllose Aufhäufung von Parallelen zu bestimmten Redewendungen oder gar einzelnen Vokabeln bei antiken Autoren keinen Erkenntnisgewinn bietet. Der Kommentator sollte sich auf Nachweise beschränken, die unter einem bestimmten Aspekt für das Verständnis der zu kommentierenden Stelle relevant sind.
5. Zur Übersetzung 5.1. Grundsätzlich sollte heute kein neulateinischer Text ohne Beigabe einer Ubersetzung herausgegeben werden. Sowohl im Hinblick auf die wissenschaftliche Kommunikation als auch mit Rücksicht auf die hier ohnehin schwierigen verlegerischen Verwertungsbedingungen sollte als Übersetzungssprache das Englische, Französische oder Deutsche gewählt werden. 5.2. Verstexte sollten in der Regel in Prosa wiedergegeben werden, da eine zum Verständnis des Originaltextes hinführende Nachzeichnung seiner sprachlichen Strukturen in einer metrischen Übertragung nur unter größten Schwierigkeiten möglich ist. 5.3. Explizite Zitate aus der antiken Literatur sollten vom Übersetzer in der Regel mitübersetzt, d.h. nicht einer schon vorhandenen Übertragung entnommen werden. Bei der Konsultation moderner kommentierter Ausgaben und wissenschaftlich abgesicherter Übersetzungen der betreffenden antiken Autoren ist stets im Auge zu behalten, daß das Textverständnis des neulateinischen Autors (und allein auf dieses kommt es an) nicht mit dem der Altphilologie des 19. und 20. Jahrhunderts identisch sein dürfte. Sofern möglich, ist in Zweifelsfällen die Beiziehung zeitgenössischer Kommentare unbedingt zu empfehlen.
Lothar Mündt
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5.4. Bei der Verwendung einer zeitgenössischen Übersetzung sind die folgenden Vor- und (evt.) Nachteile gegeneinander abzuwägen. Vorteile:
-
Gleichzeitige Edition eines historischen Textes, der sonst vielleicht kaum Chancen hätte, neu gedruckt zu werden. Dokumentation einer bestimmten Form der Rezeption durch die Zeitgenossen. Arbeitsersparnis für den Herausgeber, sofern die zeitgenössische Übersetzung keinen zusätzlichen editorischen und kommentatorischen Aufwand größeren Umfangs erfordert.
Nachteile:
-
Zeitgenössische Übersetzungen haben oft eher den Charakter von freien, vielfach auch vergröbernden Bearbeitungen als von Übersetzungen im modernen Sinne des Wortes - was zur Folge haben kann, daß ein Parallelabdruck ausgeschlossen ist. Zeitgenössische Übersetzungen bedürfen häufig auch ihrerseits sprachlicher und sachlicher Erläuterungen, so daß ein Zugang zum lateinischen Originaltext gelegentlich (zumal für ausländische Benutzer und Nichtgermanisten) evtl. nur auf dem Umweg über den Kommentar zur Ubersetzung möglich ist - womit aber der Sinn der Beigabe einer Übersetzung verfehlt wäre. Auch zeitgenössische Übersetzungen sind nicht ohne Fehler; diese können natürlich nicht berichtigt, sondern nur in einem gesonderten Kommentar aufgezeigt werden.
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Diskussionsprotokoll
Da viele Texte zum ersten Mal präsentiert werden, kommt es auf eine gute Übersetzung und einen guten Kommentar an (Kühlmann mit Hinweis auf die CeltisAusgabe). Im Variantenapparat sollten keine Laut-Unterschiede dokumentiert werden. Akzente sollen berücksichtigt werden (Lesehilfe), sofern sie nicht irreführend sind. Auch bei anspruchsvollen Ausgaben sollte man die Interpunktion leicht modernisieren, jedoch alle Abweichungen im Apparat ausweisen. Der Kommentar kann eigentlich nicht groß genug sein, und er sollte gut durch Indices erschlossen sein. Allerdings kann die Parallelstellen-Sammlung auch ausufern: Parallelstellen sollten nur eingebracht werden, wenn ihr Aussagewert kräftig genug ist. Personennamen sind in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nur schwer historisch zu ermitteln, dies bedeutet einen großen Kommentierungsaufwand. Wenn eine zeitgenössische Übersetzung dem Original nahe genug kommt, kann man sie statt einer Neuübersetzung neben dem lateinischen Text im Paralleldruck bringen. Die sei unter anderm sinnvoll für die Dokumentation der Umsetzung des Fachvokabulars in die Volkssprache. Differenzen zwischen Original und zeitgenössischer Übersetzung sollten im Kommentar aufgegriffen werden. - Herr Kühlmann spricht sich bei Verstexten für eine Prosaübersetzung aus. Herr Schepers warnt vor allzu starker Modernisierung. Als Beispiel nennt er die völlig andere Funktion des Semikolons bei Leibniz. Natürlich sollte der Herausgeber die Freiheit haben, zusätzliche Zeichen zu setzen. Aber die Zeichensetzung des Originals, sofern sie zu ihrer Zeit regelgerecht war, sollte beibehalten werden. Eine zu starke Modernisierung würde außerdem nur den deutschen Zeichensetzungsregeln folgen und nicht denen der anderen europäischen Sprachen. Herr Roloff meinte, daß der Leser früherer Zeiten nicht Nebensätze gesehen habe, die durch Interpunktion hervorgehoben werden, sondern Texteinheiten. Durch Eingriffe in die Interpunktion werden Sinnzusammenhänge, die der Autor gesehen oder gewollt hat, zerstört. Herr Mündt plädiert für "mundgerechte" Textpräsentation, die den heutigen Leser zum lateinischen Original hinführt. Er solle nicht zusätzlich zu den Klippen der Sprache noch Schwierigkeiten durch die Interpunktion zu bewältigen haben. Herr Spellerberg meinte dagegen, daß doch schon die Übersetzung die Funktion übernehme, syntaktische Strukturen sichtbar zu machen, deswegen könnte der lateinische Text konservierend präsentiert werden. Für eine kritische Ausgabe sei
192 es sicherlich das beste, die Zeichensetzung zu konservieren. Schon allein, um Periodenbau bevorzugende oder syntaktisch gliedernd denkende Autoren studieren zu können, sollte man die zeitgenössische Interpunktion beibehalten. Fehler innerhalb des Systems aber (wenn ein Autor gegen seine eigenen oder die zeitgenössischen Regeln verstößt) wären auf jeden Fall zu beseitigen.In Studienausgaben könne man stärker modernisieren. Ulrich Seelbach
V. BERICHTE ÜBER LAUFENDE VORHABEN UND EDITORISCHE DESIDERATA ZUR LITERATUR DER FRÜHEN NEUZEIT
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Rolf Tarot
Probleme der Erfassung und Edition von Gelegenheitsschriften
Zu Ende des Jahres 1989 konnte die Materialerfassung zu einem Projekt abgeschlossen werden, das bisher der wissenschaftlichen Öffentlichkeit kaum bekannt geworden ist. Es handelt sich um das unter meiner Leitung stehende Projekt "Erforschung der literarischen Verhältnisse der Stadt Zürich im 17. Jahrhundert". Die Vorarbeiten zu diesem Projekt fallen in die Zeit vor dem ersten BarockSymposion der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das 1974 unter der Leitung von Albrecht Schöne an der Herzog August-Bibliothek in Wolfenbüttel durchgeführt wurde.1 Meine ursprüngliche Absicht war, mich mit einem Vortrag in der Sektion "Literatur und Stadt" zu beteiligen, da nach meiner damaligen Kenntnis genügend Material in der Zentralbibliothek Zürich vorhanden war. Da ich letztlich die Leitung der Sektion "Literatur und Stadt" übernahm, blieb diese Absicht zunächst unverwirklicht. Die eindrucksvolle Tagung in Wolfenbüttel war schließlich der Anlaß, das in Zürich vorhandene Material auf breiter Basis und mit dem Ziel höchstmöglicher Vollständigkeit zu erfassen und zu bearbeiten. Aufgrund der Wolfenbütteler Anregungen sollte das Verhältnis von Literatur und Stadt an einem konkreten Untersuchungsobjekt empirisch erprobt werden. Die Stadt Zürich bot sich aus zwei Gründen an: 1. Im 17. Jahrhundert war Zürich eine Stadt von einer überschaubaren Größe mit überschaubaren innerstädtischen Verhältnissen. 2. Die Erarbeitung eines solchen Projekts kann nur geleistet werden, wenn Projektleiter und Mitarbeiter regelmäßig am Untersuchungsort arbeiten können. Ziel der Untersuchung sollte eine Modellstudie sein, die die Funktion der Literatur in einem geschlossenen gesellschaftlichen Gebilde zeigt. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, wurde im Jahre 1976 eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die im wesentlichen aus interessierten Studentinnen und Studenten bestand. Die Arbeiten wurden unter meiner Leitung zunächst durch meinen Assistenten Herrn Dr. Arthur Zimmermann und ab 1979 durch meine Assistentin Frau Dr. Andrea Fischbacher koordiniert. Seit 1976 wurden die Arbeiten an diesem Projekt durch die Stiftung für wissenschaftliche Forschung an
1
Albrecht Schöne (Hrsg.): Barock-Symposion 1974. Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. - Vorlagen und Diskussionen eines BarockSymposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Wolfenbüttel. München 1976.
Probleme der Erfassung und Edition von Gelegenheitsschriften
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der Universität Zürich (bis 1984) und später durch Tutoratsbeiträge der Universität Zürich finanziert. In einer ersten Etappe sollten die deutschsprachigen Zürcher Gelegenheitsschriften zwischen 1600 und 1700 möglichst vollständig ermittelt, katalogisiert und archiviert werden. Die Arbeiten in der Zentralbibliothek Zürich und im Staatsarchiv des Kantons Zürich konnten - wie gesagt - 1989 abgeschlossen werden. Ausgangspunkt für die Erhebungen bildete die deutschsprachige Casualpoesie, die zunächst auf den Komplex der in der Zentralbibliothek aufbewahrten Hochzeitsgedichte eingeschränkt wurde. Zu deren Ermittlung wurden die frühesten der in Frage kommenden Jahrgänge (1600 bis ca. 1620) des gedruckten Katalogs der ehemaligen Zürcher Stadtbibliothek nach Katalogisierungskriterien durchgearbeitet, die zusammen mit der damaligen Bibliothekarin des Deutschen Seminars, Frau Olga Heini, erstellt wurden. Es wurde eine Form der Titelaufnahme und Siglierung gewählt, die jederzeit eine wechselnde Anordnung unter alphabetischen und chronologischen Gesichtspunkten ermöglichte, die den Erscheinungsort und die Anzahl der in der Sammlung enthaltenen Gedichte erkennen ließ. Die Kurzaufnahme der Titel gewährte zugleich einen sofortigen Überblick über die jeweils beteiligten Verfasser der einzelnen Gedichte. Die Sammlung und Katalogisierung von 2.200 Gedichten wurde Ende 1976 abgeschlossen. Zudem wurde ein Personenregister sämtlicher Autoren und Adressaten erstellt und statistisch ausgewertet. Uber die Erstellung eines Personenregisters hinaus wurden die Hochzeitsgedichte unter verschiedenen Gesichtspunkten in zwei Lizentiatsarbeiten untersucht.2 Die eine erschien in erweiterter Form 1984 als Dissertation.3 In jüngster Zeit konnte die Bearbeitung eines weiteren Komplexes in Angriff genommen werden. Zu den zahlreichen Huldigungsgedichten zur Wahl der Zürcher Bürgermeister im 17. Jahrhundert liegt jetzt eine erste Untersuchung von Regula Weber-Steiner vor.4 Zugunsten einer systematischen Erfassung des Gelegenheitsschrifttums der Zentralbibliothek aufgrund des Siglenverzeichnisses der Zentralbibliothek sowie des Katalogs der Zürcher Drucke wurden seitens der Arbeitsgruppe weitere thematische Bearbeitungen eingeschränkter Materialkomplexe zurückgestellt und für Haus-, Seminar- und Lizentiatsarbeiten reserviert. Zunächst wurde das unter Sigle XVIII katalogisierte Material in der Zentralbibliothek aufgearbeitet und eine
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Erika Oettli: Hochzeitsgedichte Zürichs im 17. Jahrhundert. Lizentiatsarbeit Universität Zürich, Wintersemester 1977/78. - Ruth Weibel: Die Gelegenheitsdichtung der Stadt Zürich im Zeitalter des Barock. Typologische Untersuchungen der Hochzeitsgedichte. Lizentiatsarbeit Universität Zürich, Wintersemester 1977/78. Ruth Ledermann-Weibel: Zürcher Hochzeitsgedichte im 17. Jahrhundert. Zürich 1984 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. 58). Regula Weber-Steiner: Huldigungsgedichte zu Zürcher Bürgermeisterwahlen des 17. Jahrhunderts. Lizentiatsarbeit Universität Zürich, Sommersemester 1989. - Frau Weber-Steiner arbeitet derzeit an einer Dissertation zu diesem Thema.
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Rolf Tarnt
katalogmäßige Übersicht über den Bestand erstellt. Gleichzeitig wurde das Personenregister weitergeführt. Nebst der inhaltlichen Diskussion der vorgefundenen Gelegenheitsschriften im Zusammenhang mit dem Oberseminar über Gelegenheitsdichtung (SS 1978, Tarot) und dem Seminar über Erbauungsliteratur (SS 78, Proff. Tarot, Haas, Bircher), wurde die Katalogisierung fortgeführt. Die Ausweitung des Erfassungsmaterials vom Hochzeitsgedicht zum Gelegenheitsschrifttum allgemein machte das Katalogisieren per Computer notwendig. Zusammen mit einem Computerfachmann wurde ein speziell auf das Forschungsprogramm abgestimmtes Modell der Datenerhebung und -eingäbe entwickelt. Dazu mußten Erfassungskategorien und Textklassifikationen entwickelt werden, die an konkreten Beispielen erweitert, ergänzt und variiert werden mußten. Die neue Erfassungsmethode erlaubte eine differenzierte bibliographische Erfassung der Bestände sowie eine möglichst genaue Charakterisierung durch Schlagworte. Im Rahmen meines Seminars Zürcher Drucke des 17. Jahrhunderts (WS 79/80) entstanden Seminararbeiten über Einzeldrucke und Drucksammlungen. Darüber hinaus hat sich eine Lizentiatsarbeit mit Kometeneinblattdrucken auseinandergesetzt.5 Nach ergebnisloser Sichtung verschiedener Archive (Familienarchiv der Zentralbibliothek, Stadtarchiv etc.) wurden die Bestände des Staatsarchivs des Kantons Zürich erhoben. Das Staatsarchiv bewahrt vor allem Urkunden, Briefe, Besitzverzeichnisse, Gerichtsakten, Ratsprotokolle, amtliche Verordnungen der Stadt und des eidgenössischen Standes Zürich auf. Aber auch Archivbestände der säkularisierten Klöster im Gebiet des heutigen Kantons Zürich, im besonderen des Fraumünsterklosters, und Archive von Firmen und Privatpersonen sind hier verwahrt. Die Bestände, die ihrer Herkunft entsprechend auch inhaltlich sehr unterschiedlich sind, sind, zusätzlich zum Überblick verschaffenden Gesamtregister, teilweise in separaten Verzeichnissen und Katalogen erfaßt. Allerdings fehlt für die Massenquellen wie insbesondere das Verwaltungsschriftgut und die verschiedenen Wirtschaftsquellen ein ausführliches, den Inhalt des Materials genauer beschreibendes Verzeichnis. Der Wechsel von der Zentralbibliothek zum Staatsarchiv konfrontierte das Forschungsprojekt mit anderen Textgattungen, was eine Anpassung der Erfassungskategorien und Textklassifikationen erforderlich machte. Im Gegensatz zu Autoren von Gelegenheitspoesie sind die Verfasser von Verwaltungsquellen auswechselbar und deshalb anonym. Diese Anonymität erklärt sich aus der strukturellen Gegebenheit, daß hinter der ungenannten Autorschaft ein klar faßbarer Auftraggeber im Sinne einer Amtsstelle oder einer Kanzlei steht. Aber auch Mandatsträger wie Bürgermeister und Antistes sind als diktierende Autoren erkennbar. Aus dieser Situation ergibt sich, daß zur Verortung eines Textes nach Autraggeber und
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Kurt Zangger: Kometeneinblattdrucke des frühen 17. Jahrhunderts. Lizentiatsarbeit Universität Zürich, Sommersemester 1979.
Probleme der Erfassung und Edition von Gelegenheitsschriften
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Abfassungsort gefragt werden muß und nicht nach einem Autor. So wurde neu nach der für die Textabfassung verantwortlichen Amtsstelle und dem direkten Auftraggeber gefragt. Insbesondere mußten die Klassifikationskategorien angepaßt und erweitert werden. Unter Textklassifikation I wurde die literarische Form als Quelle beschrieben, unter Textklassifikation II die Einordnung der Quelle in einen Entstehungs- und Archivzusammenhang. Der direkteste Zugang zu den Inhaltsbereichen des Materials ist über die Stichwortklassifikation zu erhalten. Hier wurde der Entstehungs- und Archivzusammenhang weiter eingegrenzt, der Entstehungsanlaß bzw. der Entstehungsgrund bestimmt und mit einer möglichst breit angelegten Stichwortpalette der Inhalt kurz umrissen. Die Auswahl der zu bearbeitenden Signaturen erfolgte anhand der Standortkataloge des Staatsarchivs. Wo immer es im Rahmen des zeitlichen Aufwands möglich war, wurden die Dokumente einzeln in die Datei aufgenommen. Von diesem Grundsatz mußte bei einigen umfangreichen Quellenbeständen (Signatur Ell, Mandatssammlungen und Briefbestände) abgesehen werden. Diese wurden pauschal klassifiziert. Eine künftige Auswertung des äußerst umfangreichen erhobenen Materials soll nach zwei Richtungen erfolgen: Einerseits sollen thematisch gegliederte und kommentierte Bibliographien erstellt werden und andererseits sollen Teilbereiche des Materials durch spezifische Untersuchungen und durch Editionen wissenschaftlich erschlossen werden. Um diese geplanten Materialauswertungen ausführen zu können, ist es erforderlich, eine Zürcher Arbeitsstelle zum Gelegenheitsschrifttum mit festen Mitarbeitern - auf Zeit - zu schaffen. Es hat sich in den Jahren seit Bestehen des Projekts gezeigt, daß eine Bearbeitung allein über Seminar-, Lizentiatsarbeiten und Dissertationen nur begrenzte Möglichkeiten bietet. Ein anderes Problem ergab sich aus der jahrelangen Isolation des Projekts, das lange Zeit keine Ansprechpartner hatte, weil die Beschäftigung mit Gelegenheitsschriften eine Außenseitererscheinung innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft war. Die Situation hat sich in den letzten Jahren, nicht zuletzt dank der zahlreichen Initiativen vor allem von Klaus Garber in Osnabrück, wesentlich geändert. Eine internationale Zusammenarbeit ist dringend erforderlich und sollte in Zukunft im Internationalen Arbeitskreis Stadt und Literatur im 17. Jahrhundert wohl auch möglich sein. Da der Problem- und Erfahrungshorizont der inzwischen recht zahlreichen Projekte auf diesem Gebiet ein hohes Maß an Vergleichbarkeit aufweist, könnten zahlreiche Fragen und Probleme in Diskussionen geklärt werden, was der Förderung dieser Projekte wesentlich zugute käme. Ohne eine gezielte internationale Zusammenarbeit und Förderung über die Grenzen der einzelnen Nationalstaaten hinaus besteht die Gefahr, daß verheißungsvoll begonnene Projekte an Auszehrung und Isolation eingehen.
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Marian Szyrocki
Werden die Bestände der Universitätsbibliothek Wroclaw gerettet?
Meine Erwägungen haben keinen theoretischen Charakter. Sie beruhen auf persönlichen Erfahrungen, die ich während meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Buch- und Handschriftensammlungen der Universitätsbibliothek Wroclaw gemacht habe. Nicht allen Germanisten ist bewußt, daß die Breslauer Buchbestände aus etwa zwei Dutzend für die Frühe Neuzeit interessanten alten Bibliotheken bestehen. Neben Breslauer Gymnasial- und Gelehrtenbibliotheken gehören dazu die Sammlungen der Brieger- und Liegnitzer Piastenherzöge, der ehemaligen Universitätsbibliothek Frankfurt/Oder, aber auch die Bibliotheken Milichs und der Oberlausitzer Gesellschaft, sowie die Bibliothek der Yorks aus Öls. Außerdem werden in Wroclaw Jesuiten-, Kloster- und Kirchenbibliotheken und Buchsammlungen von Adligen aufbewahrt. Leider haben diese Schätze nach dem Zweiten Weltkrieg große Verluste aufzuweisen, unter den geretteten Büchern befinden sich viele in einem schlechten Zustand. Am meisten gelitten haben Bestände, die damals mit Wasser in Berührung kamen. Besonders stark bedroht sind die Handschriften. Man versuchte zwar, den Schwamm mit Gas zu bekämpfen, aber wohl nur mit teilweisem Erfolg. Vor einigen Monaten habe ich eine Reihe von Handschriften, die ich vor Jahrzehnten benutzt habe, wieder durchgesehen. Das Ergebnis war mehr als erschreckend. Die ersten und letzten Seiten sind häufig nicht mehr lesbar, zerfressen oder nicht mehr existent. Hätten wir, Herr Prof. Roloff und ich, vor zwei Jahrzehnten den CzepkoNachlaß nicht verfilmt, wäre die Czepko-Ausgabe im heutigen Ausmaß nicht mehr möglich. Glücklicherweise haben wir anschließend auch die Köler-Handschriften auf Mikrofilm aufnehmen lassen. So kann die Köler-Ausgabe bald in Angriff genommen werden. Heute sind Hunderte von Handschriften und Altdrucken der Universitätsbibliothek vom Verfall bedroht, andere sind bereits ganz zerstört und als Kulturgut verloren. Schon vor einigen Jahren hat die polnische Presse ausführlich über die Situation der Universitätsbibliothek Wroclaw berichtet und die öffentliche Meinung alarmiert. Etwa 230.000 Bände aus der Zeit bis 1800, wobei viele von ihnen mehrere Drucke enthalten, verlangen nach besonderer Pflege. Noch schlechter präsentieren sich die 13.000 Handschriften und 17.000 Autographen. Viele von ihnen müßten sofort in die Buchklinik. Das freilich überschreitet die Möglichkeiten der Bibliothek. Zumindest müßten die Bestände unverzüglich auf Mikrofiche oder
Werden die Bestände der Universitätsbibliothek Wroclaw gerettet?
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auf Mikrofilm aufgenommen werden, um die Texte in dieser Form zu sichern. Freilich ist damit noch nichts Entscheidendes zur Rettung der kostbaren Handschriften und Büchersammlungen getan.
200 Annegret Haase
Probleme der Textedition von Meisterliedern des 15. - 17. Jahrhunderts
Lange Zeit gehörte der Meistergesang zu den wenig beachteten Gegenständen literaturgeschichtlicher Studien. Erfreulicherweise hat diese literarische Gattung in den letzten Jahren ein deutlich zunehmendes Interesse der Forschung erfahren, wobei von Anfang an die Forderung nach Editionen von Meisterliedern, die die Ergründung des Phänomens vorantreiben, bestand. Diese Forderung hat auch gegenwärtig noch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Immerhin verfügen wir über einen Quellenbestand von mehr als 16000 Sangsprüchen und Meisterliedern, die vom 12. bis zum 18. Jahrhundert entstanden sind. Erstmalig wird dieser Fundus jetzt durch das großangelegte "Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder" erfaßt. (Erscheint seit 1986 in 13 Bänden bei Niemeyer in Tübingen.) Doch dieses beispielhafte Katalogwerk will und kann natürlich keine Editionsvorhaben ersetzten, vielmehr regt es in besonderem Maße dazu an, denn durch die Erschließung sämtlicher Quellen für den Meistergesang bildet das RSM eine neue Editionsgrundlage - für Editionen nämlich, die ihre Rechtfertigung nicht so sehr aus ästhetisch-philologischen Belangen, sondern vorrangig aus Gründen der Textdokumentation erfahren. Abgesehen von vereinzelten Liedern bzw. Textausgaben zu einigen bekannten Meistersingern liegen ohnehin noch kaum Bearbeitungen vor. Es kann auch nicht darum gehen, vorhandene Ausgaben durch bessere überbieten zu wollen, vielmehr sollen bislang unbekannte Meisterlieder für historische Betrachtungen zugänglich gemacht werden. Angesichts des enorm großen Quellenbestandes muß dabei von Anfang an auf eine sinnvolle Bewältigung dieser Quantität Wert gelegt werden. Von diesen Überlegungen ausgehend, habe ich mein Vorhaben unter folgende thematische Akzentuierung gesetzt: Textzeugnisse zur Geschichte und Poetik des Meistergesangs. Es soll eine Textauswahl von Meisterliedern vorgelegt werden, in denen inhaltlich vor allem auf die Ausübung der Kunst selbst Bezug genommen wird; diese Lieder wurden im Meistergesang als "Schulkünste" bezeichnet. Gerade diese metapoetischen Lieder vermögen zu helfen, etwas Licht - besonders in das Dunkel der vorreformatorischen Zeit - zu bringen, lassen sie doch in verstärktem Maße Rückschlüsse auf die Ausübung der Kunstpraxis und das Bestehen von Meistersingervereinigungen zu, über die wir aufgrund fehlender urkundlicher Belege für diese Epoche, in der der Meistergesang sich in einigen süddeutschen Städten begründete, nur sehr wenig wissen, was jedoch die Existenz der mehr oder weniger institutionalisierten Vorstufen im Spätmittelalter keineswegs ausschließt.
Probleme der Edition von Meisterliedem des 15. -17. Jahrhunderts
201
Wie aus der Themenstellung hervorgeht, soll die Auswahl von Schulkünsten auch helfen, die Auffassungen zur Poetik der Meistersinger auf eine sicherere Textgrundlage stellen zu können. Beispiele für den Textkanon werden außer von den im 15. Jahrhundert entstandenen Meisterliedern zum Thema auch von solchen aus der mit Hans Sachs in Nürnberg aufgekommenen Blütezeit und aus der Zeit danach (bis ins 17. Jh.) ausgewählt. Seit dem 16. Jahrhundert werden Schulzettel und Tabulatoren überliefert, die die eigentlichen Kunstregeln für das Verfassen, Vortragen und Beurteilen eines Liedes enthalten. Sie wurden zum einen - gewissermaßen zum Auswendiglernen - in den Meisterliedern selbst als Tabulaturlieder populär gemacht, zum anderen existieren sie aber auch in ungereimter Form, eben als Tabulator oder Schulzettel. Der Band soll auch von letzteren eine kleine Auswahl bringen. Dem Textkorpus wird ein Einleitungskapitel vorangestellt, das in groben Umrissen einen Überblick über die Geschichte des Meistergesangs vermittelt und Aussagen zur Poetik der Meistersinger trifft; dabei werden natürlich besonders schlüssige Lieder mit einbezogen. An den Schluß wird ein Anmerkungs- bzw. Kommentierungsteil gestellt. In der von mir geplanten Edition habe ich ausschließlich von handschriftlichen Fassungen auszugehen. Seit den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts ist das Meisterlied zwar zum festen Bestandteil der literarischen Kleindruck-Gattungen geworden, doch durch den Druck wurden natürlich nicht die gewissermaßen internen Schulkünste, sondern zumeist "populäre" Texttypen vertrieben, wie Erzähllieder oder solche mit Liebes- und Frauenthematik, die wiederum in den handschriftlichen Überlieferungen eine untergeordnete Rolle spielen. Überdies durften die Lieder, die gedruckt worden waren, nicht mehr auf Singschulveranstaltungen vorgetragen werden.1 Etwa 14000 Meisterlieder sind in über 100 - oft voluminösen - Handschriften und etlichen Frühdrucken überliefert. Während es im 15. Jahrhundert meist noch üblich war, Spruchdichtung und Meistergesang (entsprechend dem Traditionsverständnis) in den Codices zu vereinen, sind nach der Reformation in der meistersingerlichen Überlieferung keine Texte mehr von Sangspruchdichtern zu finden. Die Überlieferungstypen, wie es sie seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts gab, wurden auch von den Meistersingern weiter gepflegt, d.h. "neben gänzlich ungeordneten oder nur partiell geordneten Textsammlungen legen sie unterschiedlich systematisierte Sammelhandschriften" (jetzt nicht mehr nach Autoren, sondern nach Tönen geordnet - wie z.B. die Kolmarer Handschrift) oder Autoren-
1
Vgl. Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst (Münchner Texte und Untersuchungen. 82), S. 32 ff.
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Annegret Haase
Sammlungen (wie die Meistergesangbücher des Hans Sachs) an.2 Außer diesen Texthandschriften, die übrigens nur zu einem kleineren Teil mit Melodien unterlegt sind, stehen der Meistergesangforschung noch seit dem 16. Jahrhundert Handschriften zur Verfügung, die Tabulatoren, Schulordnungen, Singschulprotokolle oder Töneregister enthalten. Die Meistersingerhandschriften sind verstreut über zahlreiche größere und kleinere Bibliotheken in der Bundesrepublik, der DDR, Österreich, der Schweiz, Polen, der CSFR und Ungarn. Die wichtigsten Orte für mich sind hierbei: Nürnberg, Heidelberg, München, Berlin, Zwickau, Weimar und Dresden. Einige Bemerkungen zur Anlage des Textkanons und zur Edition: Wie meine Themenstellung vermuten läßt, enthält die Publikation Meisterlieder zur Geschichte der Kunstübung und zur Darstellung der Poetik, die zum einen aus mehreren Jahrhunderten stammen, zum anderen aber auch von den unterschiedlichsten Sprachlandschaften zeugen. Da der Textkanon nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellt wird, ist eine einigermaßen chronologische Anordnung auch nur innerhalb der Gliederungspunkte möglich. (Ich betone "einigermaßen", weil die Verfasser-Anonymität vieler Lieder eine genaue zeitliche Zuweisung gar nicht zuläßt.) Das bedeutet dann allerdings, daß möglicherweise nach einem Meisterlied aus dem 17. Jahrhundert ein neuer Abschnitt beginnen könnte mit einem vorreformatorischen Beispiel aus dem 15. Jahrhundert. Eine andere Anlage des Textes halte ich aber aufgrund der thematischen Breite nicht für möglich. Die Auswahl der Lieder aus mehreren Jahrhunderten bringt bei einer beabsichtigten handschriftennahen Ausgabe, in der a l l e Texte neu ediert werden sollen, wiederum enorme Schwierigkeiten einer einheitlichen Festlegung von Editionsprinzipien mit sich. Die regellose orthographische Vielfalt soll jedenfalls nur gemäßigt egalisiert werden, d.h., der Aussagesinn der Lieder soll bei Erhalt des überlieferten Wortgutes nicht gefährdet werden. Die meist willkürliche Setzung von Minuskeln und Majuskeln soll eine Regelung erfahren, indem nur Anfänge von Überschriften, Eigennamen und Anfänge der Strophenteile sowie bestimmte Personifizierungen, z.B. der septem artes liberales, groß geschrieben werden, alles übrige erscheint klein. Darüber hinaus machen Textbeispiele aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, in denen die Groß- und Kleinschreibung bereits gezielt eingesetzt wurde, Teilregelungen für orthographische Besonderheiten erforderlich. Ähnlich berücksichtigt werden muß in den Editionsgrundsätzen auch der spärliche Beginn einer Interpungierung in den jüngeren Liedern, die auf jeden Fall mit aufzunehmen ist. Meisterlieder sind häufig mehrfach überliefert (manche - vor allem die von Hans Sachs - mitunter achtmal), daraus ergibt sich als Editionsmethode die des
2
Vgl. Horst Brunner: Das Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder. In: LiLi 9 (1979)/ Heft 34, S. 132 f.
Probleme der Edition von Meisterliedem des 15. -17. Jahrhunderts
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Leithandschriftenprinzips. Nicht immer ist der älteste Textzeuge der beste, aber häufig muß von ihm ausgegangen werden, weil nachfolgende Fassungen - sofern sie inhaltliche Änderungen aufweisen - durchaus Zeugnis von der Entwicklung des Meistergesangs ablegen können. Wo immer möglich, habe ich die Parallelhandschriften zum Vergleich herangezogen; dies geschah jedoch nicht mit der Absicht, einen streng textkritischen Apparat zu erstellen, der alle Lesarten enthält. So werden z.B. alle jene Varianten weggelassen, die sich durch orthographische Besonderheiten (oft dialektal oder auch temporal bedingt) unterscheiden und auch solche, die abweichende Fassungen eines identischen Inhalts aufweisen (wie z.B. denselben ich geliche wol und der ist zu geieichen do). Ich meine, daß solche Varianten sowohl den thematischen Rahmen der Arbeit sprengen würden, als auch den Zielgruppenaspekt unberücksichtigt ließen, denn es soll eine Studienausgabe werden. Die verschiedenen Fassungen vieler Meisterlieder stellen den Editor vor weitere Schwierigkeiten im textkritischen Vorgehen: Nur in wenigen Fällen wird man in Parallelhandschriften mit Lese- oder Schreibfehlern rechnen dürfen, weit häufiger muß wohl davon ausgegangen werden, daß die Schreiber Wörter und Verse der mündlich überlieferten Lieder vergessen hatten und so neue Reime bilden mußten. Sofern sich dabei in den Aussagen relevante Differenzen ergeben hatten, werde ich solche Varianten aufnehmen (z.B. wenn in Tonbeschreibungen die vorgegebene Silbenzahl variiert, so daß einmal acht und einmal neun Silben für einen Vers "angewiesen" werden). Weiterhin sollen im Apparat vermerkt werden - Lücken der zugrundeliegenden Handschrift, die aus anderen Handschriften ergänzt werden - die ohnehin sehr zurückhaltend vorgenommenen metrischen Eingriffe, die auf dem Text anderer Handschriften basieren (eigene Ergänzungen werden dagegen kursiviert und erscheinen nicht im Apparat) - Berichtigung von Schreibfehlern bei sinngestörten Stellen (z.B. inigkeit statt imigkeit; der statt dar) - in Ausnahmefällen auch Korrekturen des Schreibers (in der Regel sind diese aber bereits in den Text übernommen worden). Wie ich eingangs erwähnte, soll dem Textkanon ein Anmerkungsteil folgen, in dem die in den Meisterliedern angesprochenen Detailprobleme kommentiert werden; wo es möglich ist, wird auf literarische Parallelstellen und Vorlagen hingewiesen, wo nötig, werden interpretierende Übersetzungshilfen, Explikationen seltener Wörter und inhaltliche Hinweise bzw Querverweise gegeben. In einzelnen Fällen wird eine Inhaltsangabe beigefügt. Es bleibt zu überlegen, ob die Angaben aus dem Apparat nicht auch in den Anmerkungsteil einfließen könnten, um dem Leser geschlossene Informationen zu den einzelnen Liedern zu geben, doch dies würde wohl gänzlich abweichen von bislang bewährten Editionsmustern, denen ich mich wiederum sehr verpflichtet fühle.
204
Annegret Haase
Nachbemerkung
Aufgrund neuerer Denkanstöße wurden die editorischen Prinzipien inzwischen insofern modifiziert, als in allen Liedern nur die Anfänge von Überschriften, Eigennamen und die Anfänge der Strophenteile groß geschrieben werden; ganz vereinzelte Ansätze einer doch immer noch unregelmäßigen Groß- und Kleinschreibung bleiben zugunsten einer Gesamtregelung der orthographischen Besonderheiten unberücksichtigt. Weiterhin werden im Text a l l e Eingriffe und Konjekturen kursiviert und erfahren im Apparat entsprechende Beachtung. Im übrigen erfolgt die Anordnung von Apparat und Kommentar nach traditionellen Mustern.
205 Ulrich Seelbach
Projektbericht: Johann Fischart. Kritische Gesamtausgabe der Werke
Die Edition der Werke Johann Fischarts (ca. 1546 bis ca.1590), des bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellers aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ist ein Projekt der Forschungsstelle für Mittlere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin (Leiter: Prof. Dr. Hans-Gert Roloff) in Zusammenarbeit mit Dr. W. Eckehart Spengler, Bonn.
Struktur der Ausgabe Geplant sind zehn Textbände, die alle gesichert zugeschriebenen Texte Fischarts enthalten sollen, und zwei Ergänzungsbände. Die Anzahl später folgender Kommentarbände ist noch nicht abzusehen. Ordnungsprinzip ist die zeitliche Reihenfolge der Erstausgaben - auch wenn aus editionstechnischen Gründen eine spätere Ausgabe als der Erstdruck zugrundegelegt wird, bleibt dieses Prinzip erhalten. Band I: Nacht Rab oder Nebelkräh (1570) - Barfüßer Secten und Kuttenstreit (ca. 1570/71) in zwei Fassungen - Von S. Dominici Leben (1571) - Ein Artliches Lob der Lauten (1572) - Aller Practick Großmutter (1572) in zwei Fassungen Anhang: Bernhard Jobins Vorreden zu den Lautenbüchern (1572) Band II: Eulenspiegel Reimensweiß (1572) Band III: Das Sechste Buch vom Amadis (1572) Band IV: Flöhhatz (1573) in zwei Fassungen - Psalmen und Kirchenlieder (1573) - Ein nothwendige Anweisung (Ismenius; 1573) — Accuratae effigies (1573) — Die Grille Krottestisch Mül (um 1573) in zwei Fassungen - Eigentliche Fürbildung (1574) in zwei Fassungen - Definitiva (1575) - Die zehn Alter (um 1575) Reveille matin (1575) - Offenlichs Ausschreiben (um 1575) Band V: Onomasticon Philosophicum (1574) Band VI: Geschichtklitterung (1575) Band VII: Lazius-Übersetzung (ca. 1575-76) - Abzeichnus etlicher wolbedenklicher Bilder (1576) - Neue Künstliche Figuren (1576) - Glückhafft Schiff (1577) Podagrammisch Trostbüchlein (1577) - Vorrede zu Minus Celsus' In Haereticis coercendis (1577) - Malchopapo (1577) - Katechismus (1578) - Ehzuchtbüchlein (1578) - Unterthänigs Schriftliche Ansuchen (1578) - Le vray patriot (1579) -
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Ulrich Seelbach
Merckliche Frantzösische Zeitung (1579) - Neue Wunderzeitungen aus Franckreich (1579) Band VIII: Bienenkorb (1579) Band. IX: De Magorum Daemonomania (1581) Band X: Bücher vom Feldbau (1579) - Wunderlichst unerhörtest Legend (1580) - Treue Verwarnung (1580) - Regentenkunst (1580) — Vorrede zum Correctorium Alchimiae des Richardus Anglicus (1581) - Kurzer Vorbericht (Emblematum Tyrocinia; 1581) - Eikones (1581) - Fridens Articul (1581) - Der Heilig Brotkorb - Bewärung und Erklärung (1584) - Ordenliche Beschreibung (1588) - Gantz gedenckwürdige Verzeichnuß (1588) - Ernewerte Beschreibung (1588) - Catalogue catalogorum (1590) Ergänzungsband I: Ungesicherte Zuschreibungen Matthias Flaccius (1571) - Heinrich Bullinger (1571) - Rudolf Gwalther (1571) Bernhard Schmidt (1571) - Carl Mieg (1572) - Jacob Sturm (ca. 1570-72) Gorgoneum caput (um 1572) - Die musizierenden Frauen (ca. 1573) - Ein richtiger Bericht (WunderStern; 1573) - Ain gewisse Wunderzeitung (1574) — Wunderläßliche Zeitung (1575) - Ins Hailand Jesu Christi Namen (ca. 1575-77) Gorgonisch Meduse Kopf (1577) - OttHainrich Grave von Schwarzenberg (1577) - Caspart von Coligny (1577) - Vorrede zu Schmidts Tabulatur (1577) - Antorfische Zeitung (1577) - Schwendi (1579) - Bildnis Antonij Franckenpoint (1583) Kurtze beschreibung Des Lottringischen Einfalls (1588) - Wolsicherent Auffmünterung (1588) - Ein aus Mayland uberschribener Bericht (1588) - Uncalvinisch GegenBadstüblein (1589) - Wolbedenckliche Beschreibung des Meuchelmord (1589) - Discours (1589) - Gründliche Entdeckung (1590) - Nachdruck oder letzte Zeitung (1590) Ergänzungsband II: Autographen und Lebenszeugnisse Ergänzungband III: Bibliographie Die Anzahl der Werke Fischarts beläuft sich auf 50 Nummern und reicht im Umfang von kürzeren Texten aus Einblattdrucken von ca. zwei Druckseiten der kritischen Edition bis zu den ca. 600 Seiten der Daemonomania-Übersetzung. Der "Eulenspiegel reimensweiß", das "Sechste Buch vom Amadis", das "Onomasticon", die "Geschichtklitterung", der "Bienenkorb" und die "Daemonomania" werden jeweils einen gesonderten Band beanspruchen; die übrigen 44 Werke verteilen sich auf die restlichen vier Bände. Die 25 Werke, die Fischart nur aufgrund stilistischer Merkmale oder anderer unzureichender Kriterien von der Forschung zugesprochen wurden, werden im ersten Ergänzungsband der Werkausgabe zusammengefaßt es handelt sich hierbei ausschließlich um Bildergedichte und Flugschriftenbeiträge kürzeren Umfanges.
Projektbericht: Johann Fischart
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Editorische Prinzipien Grundlage für die Textwiedergabe und den Apparat sind die 116 zu Lebzeiten Fischarts erschienenen rechtmäßigen Drucke, wobei für die meisten Werke nur einer berücksichtigt werden muß; dem Text des "Bienenkorb" sind allerdings die Varianten von sechs weiteren Drucken im Apparat beizugegeben. Sämtliche Übersetzungs-Texte Fischarts erscheinen ohne jegliche Beigabe der fremdsprachigen Vorlage — wir überlegen allerdings, ob wir die Vorlagen und andere wichtige Quellentexte in weiteren Ergänzungsbänden dokumentieren sollen. Den beiden lateinischen Vorreden Fischarts (zu Minus Celsus' "In haereticis coercendis" und zu den "Onomastica Duo") werden moderne Übersetzungen im Paralleldruck beigegeben. Die singuläre, später nicht mehr erweiterte Fassung eines Textes wird in der Regel nach der Editio princeps ediert. Fischart hat die "Geschichtklitterung" und den "Bienenkorb" von Ausgabe zu Ausgabe erheblich erweitert, die früher entstandenen Textbestandteile jedoch weitgehend unbearbeitet erhalten. Diese sukzessiv von Fischart ausgebauten Texte, die nur an festen Einschnitten Ergänzungen erfahren haben, werden in dem letztmalig erweiterten Druck ediert. Im Apparat wird - neben den Varianten vermerkt, welche Textblöcke in den früheren Drucken fehlen. Schriften in mehreren Fassungen werden in allen Bearbeitungen des Themas es sind bei Fischart maximal zwei Fassungen festzustellen - vorgelegt ("Barfüsser Secten und Kuttenstreit", "Eigentliche Fürbildung des Straßburger Münsters", "Aller Praktik Großmutter", "Flöhhatz", "Grille Krottestisch Mül"). Handschrifliche Zusätze des Autors — sie haben sich im Berliner Exemplar des "Onomasticon" erhalten - werden nicht in den kritischen Text aufgenommen, sondern erscheinen nur im Apparat. Das einzige erhaltene autographe Werk - die Lazius-Übersetzung —, das ungedruckt geblieben ist, wird in einer die Textgenese nachvollziehbaren Form diplomatisch im Ergänzungsband II und als Lesefassung im VII. Band ediert. Alle eindeutigen Abbreviaturen werden stillschweigend aufgelöst. Richtlinie für die Auflösungen ist die Schreibung der Drucke bei nichtabgekürzten Formen. Ein Ausgleich von u/v und i/j wird nicht durchgeführt. Die Majuskel von I/J wird einheitlich mit J wiedergegeben. Die Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion folgt dem zugrundegelegten Druck. Ligaturen, rundes r und rc. (für etc.) bleiben nicht erhalten. Auszeichnungsschriften der Vorlage werden nach Möglichkeit optisch sichtbar gemacht. Größere Schrift und Fettdruck durch eine halbfette Grundschrift, Antiqua des Originaldruckes durch Kapitälchen. Bei durchgehend lateinischen Werken bleibt die Antiqua als Grundschrift erhalten. Überschriebene Buchstaben der Originaldrucke (δ, δ, δ, fi — jedoch in den
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Ulrich Seelbach
Jobin-Drucken auch ü mit Trema) werden nicht normalisiert, sondern bleiben erhalten, da unter denselben Graphien verschiedene Lautungen wiedergegeben werden, die durch eine modernisierende Normalisierung eingeebnet würden. Das von Aisleben1 für die "Geschichtklitterung" angewandte Verfahren, die Zusätze der zweiten und dritten Ausgabe durch kleinere Schrift bzw. gesperrten Druck wiederzugeben, halten wir für wenig sinnvoll: unwillkürlich wird die Aufmerksamkeit auf die Zusätze gelenkt, vom Grundtext nimmt man weniger Notiz als von den späteren Zutaten. Verschlimmern kann man das Ergebnis, indem man wie Hildegard Schnabel2 statt des Petit-Zeichensatzes die Kursive verwendet. Der Variantenapparat verzeichnet die Lesarten aller dem zugrundegelegten Druck vorausgehenden und folgenden autorisierten Ausgaben mit Ausnahme orthographischer, lautgrammatischer, flexionsgrammatischer Varianten und der Abweichungen in der Interpunktion. Nichtautorisierte Nachdrucke, d.h. auch zu Lebzeiten Fischarts erschienene Nachdrucke seines Verlegers Bernhard Jobin, an deren Neuausgabe der Autor sich nachweislich nicht beteiligt hat, werden im Variantenapparat nicht berücksichtigt, sondern lediglich (in Ergänzungsband ΙΠ) bibliographisch erfaßt. Die Herausgebereingriffe — d.h. alle Abweichungen vom Zeichenbestand (auch der Interpunktion) des zugrundegelegten Druckes - werden im Anhang des jeweiligen Bandes gesondert aufgeführt. Jeder Band enthält ferner eine ausführliche Beschreibung aller zu Rate gezogenen Textzeugen. Ferner wird in unklaren Fällen Auskunft über die Kriterien der Zuschreibung des jeweiligen Werkes an Fischart gegeben.3
Texterfassung und Erstellung der Rohfassung von Text und Apparat Die Texte werden nach Kopien der ausgewählten Drucke manuell am Bildschirm eingegeben. Die Eingabe erfolgt Seiten-, zeilen- und (bis auf Schaft-s, rundes r und Ligaturen) zeichenidentisch mit der Vorlage. Das Einscannen vorliegender Werk-
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A. Aisleben (Hrsg.): Johann Fischarts Geschichtklitterung (Gargantua). Synoptischer Abdruck der Bearbeitungen von 1575, 1582 und 1590. Halle a.S. 1891. (= Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 65-71). Hildegard Schnabel (Hrsg.): Geschichtklitterung (Gargantua) von Johann Fischart. Synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575, 1581 und 1590. 2 Bde. Halle 1969 ( = Neudrucke deutscher Literaturwerke 65-69). Vgl. zu den Grundsätzen der Edition Ulrich Seelbach: Alternativen der Textkonstitution bei der Edition der Werke Fischarts. In: Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Basler Editoren-Kolloquium 19.-22. März 1990, autor- und werkbezogene Referate. Hrsg. von Martin Stern u.a. Tübingen 1991 (= Beihefte zu Editio 1), S. 15-34.
Projektbericht: Johann Fischart
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ausgaben (Hauffen, Gödeke, Kurz)4 und deren Aufbereitung als Textdateien mit dem OCR-Programm Optopus5 (OCR = Optical Character Recognition, Optische Zeichenerkennung) hat sich entgegen unseren Erwartungen als zu zeitaufwendig erwiesen, obwohl wir mit Optopus eines der leistungsfähigsten Produkte, das zur Zeit zu haben ist, verwenden konnten. Nach unseren Erfahrungen können nicht mehr als 12-15 Seiten Prosatext pro Stunde eingelesen werden, weil die Erkennungsquote bei den Vorlagen - Fraktursatz des 19. Jahrhunderts - nicht über 98,5 % hinausreicht. Die Zeichenerkennung stoppt ca. 30 bis 40 mal pro Seite und verlangt eine manuelle Eingabe für nicht erkennbare Zeichen. Leider wurden aber auch einige Zeichen falsch erkannt und mußten durch konventionelle Korrektur wieder entfernt werden. All diese Unzulänglichkeiten wären in Kauf zu nehmen (und eine Zeitersparnis von einem Drittel ist nicht zu verachten), wenn die älteren Editionen nicht nach anderen Prinzipien verfahren würden: die Eliminierung der modernisierten Interpunktion und die Restituierung der originalen Satzzeichen macht jeden Zeitgewinn durch das Einscannen zunichte. Durch die OCR-Aufbereitung von älteren Editionen und das TUSTEP-Vergleiche-Programm6 läßt sich allenfalls das herkömmliche Korrekturlesen vereinfachen bzw. teilweise ersetzen. Dennoch wird das Korrekturlesen und die Erstellung des Apparats — angesichts der Masse nicht gedruckter Werke und noch nicht in einem modernen kritischen Apparat erfaßter Varianten - den größten Teil der Editionsvorbereitung in Anspruch nehmen. Aus den Erfahrungen der Forschungsstelle ist der Aufwand auf ca. das Doppelte bis Dreifache der Texterfassungaufwandes zu veranschlagen. Wir rechnen mit einer ca. vierjährigen Bearbeitungzeit, um den Bestand der 11 Textbände für den Satz vorzubereiten. Mit den Möglichkeiten der EDV steigen die Anforderungen an die Genauigkeit von Editionen; man erhält neue Hilfsmittel zur Überprüfung des konstituierten Textes. Die Werkzeuge, die das Programm TUSTEP (Tübinger System von Textverarbeitungprogrammen) und andere Programme zur Verfügung stellen, sollen intensiv für die Erhöhung der Zuverlässigkeit des konstituierten Textes und des Apparats genutzt werden: mit Hilfe von Wortformenregistern (unter Einschluß von Komposita, die nicht als Komposita im Druck erscheinen) läßt sich gezielt über-
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Adolf Hauffen (Hrsg.): Johann Fischarts Werke. Ein Auswahl. 3 Tie. Stuttgart o.J. (1895, 1893,1894) (= Deutsche National-Litteratur 18,1-III); Karl Gödeke (Hrsg.): Dichtungen von Johann Fischart, genannt Menzer. Leipzig 1880 (= Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts 15); Heinrich Kurz (Hrsg.): Johann Fischart's sämmtliche Dichtunen. Mit Erläuterungen. 3 Bde. Leipzig 1866-1867 (= Deutsche Bibliothek. Sammlung seltener Schriften der älteren deutschen National-Literatur 8-10). Die OCR-Software Optopus ist zu beziehen über die Firma Makrolog, Gesellschaft für Logik- und Computeranwendungen mbH, von-Leyden-Str. 46, W-6200 Wiesbaden. TUSTEP, das Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen, ist zu beziehen über das Zentrum für Datenverarbeitung der Universität Tübingen. Abt. Literarische und Dokumentarische Datenverarbeitung, Brunnenstraße 27, 7400 Tübingen.
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Ulrich Seelbach
prüfen, ob die Uneinheitlichkeit von Schreibungen eine Eigentümlichkeit des zugrundegelegten Druckes ist oder auf Fehlerhaftigkeit desselben oder der Neueingabe beruhen. Die Ordnung des Wortmaterials nach Häufigkeiten erlaubt es, alle nur selten oder als hapax legomena vorhandenen Wörter in Nachschlagewerken oder anderen Texten zu verifizieren oder gegebenenfalls als Druckfehler oder fehlerhafte Bildschirmeingaben zu erkennen. Ähnliche EDV-gestützte Überprüfungen des konstituierten Textes erlauben eine gezielte Korrektur von Satzzeichen und Trennungen (Silbentrennungslisten), und eine Überwachung der halbautomatisch und automatisch durchgeführten Auflösung der im Druck verwendeten Abkürzungen nebst Kontrollvergleichen zu nicht abgekürzten Schreibungen. Nach dem ersten Jahr können die ersten Textbände die abschließende Korrektur erfahren, nach deren Durchsicht die Dateien auf dem Tübinger Großrechner das TUSTEP-Satzsteuerungsprogramm durchlaufen. Die Ausgabe der mit EDV erstellten Texte im Lichtsatz und als seiten- und zeilenidentische EDV-Datei (zur Weiterverarbeitung für Wörterbuch und Kommentar geeignet) ist einer der Gründe, warum wir mit TUSTEP arbeiten werden. Die druckfertigen Vorlagen der ersten Bände können so ca. eineinhalb Jahre nach Förderungsbeginn vorgelegt werden. Die weiteren Bände werden im Abstand von ca. vier Monaten folgen.
Wörterbucharbeiten Da das Satzprogamm von TUSTEP zugleich mit den Informationen für das Lichtsatzgerät eine TUSTEP-Datei erstellt, die band-, seiten- und zeilenidentisch mit dem endgültigen Umbruch übereinstimmt, können die einzelnen Band-Dateien aneinandergehängt und zu einer einzigen Datei vereint werden, die den gesamten Wortschatz Fischarts enthält. Die notwendigen Referenzen bleiben erhalten (z.B. S. 1001 ff. = Bd. 1, S. 001 ff.; S. 2001 ff. = Bd. 2, S. 001 ff.) und können sich entweder auf die Band-, Seiten- und Zeilenzählung beziehen oder die Versnummer eines gereimten Werkes. Den Umfang dieser Gesamtdatei schätzen wir auf ca. 15 bis 20 Megabyte, was dem Fassungsvermögen einer kleinen Festplatte entspricht. Lesbar wird diese Datei auch auf dem PC sein: am bequemsten auf einem Laufwerk für optische Disketten. Ein KWIC-Index7 zum Gesamtwortschatz würde ca. den acht- bis zehnfachen Umfang der Textdatei einnehmen, d.h. ca. 150 Megabyte. Es wäre allerdings nicht sinnvoll, einen KWIC-Index von über 50000 Seiten auszudrucken (der Drucker allein wäre 10 Tage in Betrieb) - für die Erstellung eines Wörterbuches zu Fischart würde es genügen, eine Auswahl von ca. 5% zu treffen und den Grundwortschatz, der mit ca. 5000 Wortformen 95% der vorkom-
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KWIC-Index = Key-Word-in-Context: die Wortformen werden alphabetisch geordnet mit dem unmittelbaren Kontext und Stellennachweis in einer Liste ausgegeben.
Projektbericht: Johann Fischart
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menden Wörter ausmacht, auszuschließen oder zumindest ohne Stellennachweise ins Wörterbuch aufzunehmen.
Kommentarbände Es ist nicht möglich, aufgrund des jetzigen Forschungsstandes sämtliche Werke Fischarts ausreichend zu kommentieren. Für einige Werke, insbesondere die "Geschichtklitterung", ist intensive Grundlagenforschung vonnöten. Daher wird die Kommentierung der Textbände in enger Verbindung mit der Erarbeitung des Wörterbuches am besten zu lösen sein. Die Forschungstelle für Mittlere Deutsche Literatur hat in der letzten Zeit eine Reihe von älteren Nachschlagewerken speziell für die Kommentierung von Texten der frühen Neuzeit angeschafft und ergänzt laufend ihre Bestände. Da außerdem die gesamte Forschungsliteratur zu Fischart in Kopie zur Verfügung steht und die Quellentexte Fischarts auf Mikrofilm zugänglich sein werden, dürften optimale Voraussetzungen für die Kommentierung geschaffen sein.
Teilnehmer der Tagung
Prof. Dr. Martin Bircher, Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel Dr. Walter Delabar, Freie Universität Berlin Stefan Gippert, Fa. Mikado, Berlin Dr. Annegret Haase, Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin/DDR Dr. Heyl, Aufbau-Verlag, Berlin/DDR Prof. Dr. Ferdinand van Ingen, Universität Amsterdam Prof. Dr. Walter Jaeschke, Akademie der Wissenschaften zu Berlin Jörg Jungmayr, M.A, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Erika Kartschoke, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg Dr. Lothar Mündt, Freie Universität Berlin Dr. Lothar Noack, Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin/DDR Dr. Gabriele von Olberg, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Hans-Gert Roloff, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Heinrich Schepers, Universität Münster, Leibniz-Forschungsstelle Dr. Michael Schulte, Freie Universität Berlin Dr. Ulrich Seelbach, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Franz Simmler, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Gerhard Spellerberg, Freie Universität Berlin Dr. Ingeborg Spriewald, Berlin/DDR Prof. Dr. Marian Szyrocki, Universität Wrodaw Prof. Dr. Rolf Tarot, Universität Zürich Prof. Dr. Andräs Vizkelety, Universität Budapest Prof. Dr. Conrad Wiedemann, Technische Universität Berlin Prof. Dr. Winfried Woesler, Universität Osnabrück