Ästhetik nach Wittgenstein: Eine systematische Rekonstruktion 9783110320749, 9783110320527


193 84 2MB

German Pages 318 [322] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung
Zum Aufbau der Arbeit
1. Aspektwahrnehmung
1.1 Aufleuchten eines Aspekts
1.2 Phantasie und Gewohnheit
1.2.1 Optische und begriffliche Aspekte
1.2.2 Phantasie und Kontext
1.2.3 Übung und Gewohnheit
1.3 Ähnlichkeiten und Vergleiche
1.3.1 Zwischenglieder
1.3.2 Vergleiche als unmittelbarerer Ausdruck des Erlebens
1.4 Deuten, wahrnehmen und erleben
1.5 Aspektwahrnehmung und Verhalten
1.5.1 Sind Aspekte privat?
1.5.2 Erlebnis und Fähigkeit
1.6 Bedeutung erleben
1.7 Aspekt- und Bedeutungsblindheit
1.7.1 Aspektblindheit
1.7.2 Bedeutungsblindheit
1.8 Nehmen wir immer Aspekte wahr?
1.9 Sekundäre Bedeutung
1.9.1 Metapher und sekundäre Verwendung
2. Ausdruck und Bedeutsamkeit
2.1 Ausdruck und Charakter
2.2 Bedeutsamkeit
2.3 Wie Ausdruck und Bedeutsamkeit zustande kommen
2.3.1 Zeichen bei Peirce
2.3.2 Einfühlung
2.3.3 Ähnlichkeiten
2.3.4 Kausalität
2.3.5 Konvention
2.3.6 Assoziation
2.3.7 Synästhesie
2.3.8 Imagination
2.3.9 Atmosphären
2.4 Künstlerischer Ausdruck
3. Der Bereich des Ästhetischen
3.1 Ästhetische Einstellung
3.2 Ästhetische Qualitäten
3.3 Ästhetische Urteile
3.3.1 Normativität
3.3.2 Pluralismus
4. Regeln
4.1 Schönheit
4.2 Richtigkeit und ästhetische Ideale
4.2.1 Wahrnehmbare Richtigkeit
4.2.2 Richtigkeit und ästhetischer Ausdruck
4.2.3 Regel und Reihe
4.2.4 Dunkle Paradigmen und individuelle Ideale
4.3 Ästhetische Regeln
4.3.1 Arten von Regeln
4.3.2 Regeln als Ausdruck ästhetischer Präferenzen
4.3.3 Regelkenntnis als Basis ästhetischer Urteile
4.3.4 Regeln schulen die Sinne
4.3.5 Sich Regeln zu eigen machen
5. Gründe
5.1 Gründe und Ursachen
5.2 Was sind Gründe?
5.3 Urteile auf drei Ebenen
5.4 Ästhetische Prinzipien
5.5 Kontextualismus der Gründe
5.6 Prima-facie Gründe
5.7 Relativität der Gründe
5.8 Perzeptuelle Beweise
5.9 Unwägbare Evidenz
6. Erleben
6.1 Objekte und Ursachen des Erlebens
6.2 Ästhetische Verwirrungen
6.3 Erhellende Vergleiche
7. Verstehen
7.1 Intransitives Verstehen
7.2 Aspekte und Wohlbekanntheit
7.3 Verstehen und Verhalten
7.4 Kennerschaft und Kultur
7.5 Musik verstehen
7.5.1 Tonfälle
7.5.2 Musikalische Richtigkeit
7.5.3 Geste und Lebensform
7.5.4 Von Musik lernen
8. Kunst und Leben
8.1 Gewaltige Kunstwerke
8.2 Genie
8.3 Stil und Persönlichkeit
8.4 Was die Kunst uns lehrt
9. Ästhetik und Philosophie
9.1 Ästhetisches Verstehen in der Philosophie
9.1.1 Familienähnlichkeiten
9.1.2 Regeln des sinnvollen Sprachgebrauchs
9.1.3 Regelverstöße von Philosophen
9.1.4 Analogien und Bilder
9.1.5 Philosophie als Arbeit an sich selbst
9.2 Ästhetisches Verstehen in der Ethnologie
9.3 Ästhetisches Verstehen in der Mathematik
9.3.1 Regeln
9.3.1 Beweise
10. Schluss
11. Literaturverzeichnis
Recommend Papers

Ästhetik nach Wittgenstein: Eine systematische Rekonstruktion
 9783110320749, 9783110320527

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Yves Bossart Ästhetik nach Wittgenstein Eine systematische Rekonstruktion

Für Ruth, Mark und Michaela

Yves Bossart

Ästhetik nach Wittgenstein Eine systematische Rekonstruktion

Bibliographic information published by Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de

North and South America by Transaction Books Rutgers University Piscataway, NJ 08854-8042 [email protected] United Kingdom, Eire, Iceland, Turkey, Malta, Portugal by Gazelle Books Services Limited White Cross Mills Hightown LANCASTER, LA1 4XS [email protected]

Livraison pour la France et la Belgique: Librairie Philosophique J.Vrin 6, place de la Sorbonne; F-75005 PARIS Tel. +33 (0)1 43 54 03 47; Fax +33 (0)1 43 54 48 18 www.vrin.fr

2013 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 978-3-86838-188-7 2013 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by CPI buch bücher gmbh

Danksagung Mein Dank geht in erster Linie an meine Familie und an alle Freunde und Kollegen, die mich in meiner philosophischen Arbeit inspiriert, unterstützt und gefördert haben. Meinem Doktorvater Prof. Geert Keil und meinem Zweitbetreuer Prof. Hans-Johann Glock danke ich herzlich für den fachlichen Rat und die angenehme Zusammenarbeit. Auch danken möchte ich Enno Rudolph, Hartmut Westermann, Tobias Ballweg und Rudolf Ruzicka für die Inspiration, das Vertrauen und die Förderung. Dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und der Janggen-Pöhn-Stiftung danke ich ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung.

Inhalt Einleitung Zum Aufbau der Arbeit 1. Aspektwahrnehmung 1.1 Aufleuchten eines Aspekts 1.2 Phantasie und Gewohnheit 1.2.1 Optische und begriffliche Aspekte 1.2.2 Phantasie und Kontext 1.2.3 Übung und Gewohnheit 1.3 Ähnlichkeiten und Vergleiche 1.3.1 Zwischenglieder 1.3.2 Vergleiche als unmittelbarerer Ausdruck des Erlebens 1.4 Deuten, wahrnehmen und erleben 1.5 Aspektwahrnehmung und Verhalten 1.5.1 Sind Aspekte privat? 1.5.2 Erlebnis und Fähigkeit 1.6 Bedeutung erleben 1.7 Aspekt- und Bedeutungsblindheit 1.7.1 Aspektblindheit 1.7.2 Bedeutungsblindheit 1.8 Nehmen wir immer Aspekte wahr? 1.9 Sekundäre Bedeutung 1.9.1 Metapher und sekundäre Verwendung 2. Ausdruck und Bedeutsamkeit 2.1 Ausdruck und Charakter 2.2 Bedeutsamkeit 2.3 Wie Ausdruck und Bedeutsamkeit zustande kommen 2.3.1 Zeichen bei Peirce 2.3.2 Einfühlung 2.3.3 Ähnlichkeiten 2.3.4 Kausalität 2.3.5 Konvention 2.3.6 Assoziation 2.3.7 Synästhesie 2.3.8 Imagination

7 14 17 18 22 22 23 26 29 30 31 34 39 39 40 43 47 47 50 53 58 62 69 69 75 79 80 82 87 89 92 92 95 96

2.3.9 Atmosphären 2.4 Künstlerischer Ausdruck 3. Der Bereich des Ästhetischen 3.1 Ästhetische Einstellung 3.2 Ästhetische Qualitäten 3.3 Ästhetische Urteile 3.3.1 Normativität 3.3.2 Pluralismus 4. Regeln 4.1 Schönheit 4.2 Richtigkeit und ästhetische Ideale 4.2.1 Wahrnehmbare Richtigkeit 4.2.2 Richtigkeit und ästhetischer Ausdruck 4.2.3 Regel und Reihe 4.2.4 Dunkle Paradigmen und individuelle Ideale 4.3 Ästhetische Regeln 4.3.1 Arten von Regeln 4.3.2 Regeln als Ausdruck ästhetischer Präferenzen 4.3.3 Regelkenntnis als Basis ästhetischer Urteile 4.3.4 Regeln schulen die Sinne 4.3.5 Sich Regeln zu eigen machen 5. Gründe 5.1 Gründe und Ursachen 5.2 Was sind Gründe? 5.3 Urteile auf drei Ebenen 5.4 Ästhetische Prinzipien 5.5 Kontextualismus der Gründe 5.6 Prima-facie Gründe 5.7 Relativität der Gründe 5.8 Perzeptuelle Beweise 5.9 Unwägbare Evidenz 6. Erleben 6.1 Objekte und Ursachen des Erlebens 6.2 Ästhetische Verwirrungen 6.3 Erhellende Vergleiche 7. Verstehen 7.1 Intransitives Verstehen 7.2 Aspekte und Wohlbekanntheit

97 98 101 102 104 109 113 116 121 121 126 129 130 132 135 138 138 140 143 145 146 149 150 152 154 156 158 162 163 164 171 177 177 184 190 195 195 204

7.3 Verstehen und Verhalten 7.4 Kennerschaft und Kultur 7.5 Musik verstehen 7.5.1 Tonfälle 7.5.2 Musikalische Richtigkeit 7.5.3 Geste und Lebensform 7.5.4 Von Musik lernen 8. Kunst und Leben 8.1 Gewaltige Kunstwerke 8.2 Genie 8.3 Stil und Persönlichkeit 8.4 Was die Kunst uns lehrt 9. Ästhetik und Philosophie 9.1 Ästhetisches Verstehen in der Philosophie 9.1.1 Familienähnlichkeiten 9.1.2 Regeln des sinnvollen Sprachgebrauchs 9.1.3 Regelverstöße von Philosophen 9.1.4 Analogien und Bilder 9.1.5 Philosophie als Arbeit an sich selbst 9.2 Ästhetisches Verstehen in der Ethnologie 9.3 Ästhetisches Verstehen in der Mathematik 9.3.1 Regeln 9.3.1 Beweise 10. Schluss 11. Literaturverzeichnis

207 209 213 215 216 218 225 227 227 231 233 244 261 262 262 265 268 270 276 281 285 286 290 293 295

7

Einleitung Ästhetik nach Wittgenstein? Gibt es das überhaupt? Eine berechtigte Frage angesichts der Tatsache, dass uns Wittgenstein nur vereinzelte Bemerkungen zu ästhetischen Themen hinterlassen hat. Was wir haben, sind Bausteine und Skizzen. Bauen müssen wir selbst. Über Wittgensteins Schriften verstreut finden sich zahlreiche Bemerkungen zu ästhetischen Fragen. Stellt man diese Textstellen mit den Mitschriften der Vorlesungen über Ästhetik zusammen, die er 1933 und 1938 in Cambridge gehalten hat, dann erhält man eine bunte Collage aus Thesen und Überlegungen zu ästhetischen Themen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, die zusammengetragenen Textstellen, die oft nur Andeutungen sind, auf eine verständliche und überzeugende Weise zu interpretieren und sie so anzuordnen, dass aus der unübersichtlichen Collage ein stimmiges Bild entsteht. Damit das gelingt, muss der Interpret selbst zum Pinsel greifen und die angedeuteten Überlegungen Wittgensteins ausarbeiten, weiterführen und an einzelnen Stellen ergänzen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie man aus der Collage aus Fragmenten, die uns Wittgenstein hinterlassen hat, ein kohärentes Bild machen kann. Was ich im Folgenden präsentiere, ist eine Rekonstruktion neben möglichen anderen. Eine gelungene Rekonstruktion zeichnet sich dadurch aus, dass sie möglichst viele Fragmente der Collage zu einem widerspruchsfreien Gesamtbild integriert, auf dem besser zu erkennen ist, was die einzelnen Fragmente darstellen. Das ist eines der Ziele dieses Buches: Wittgensteins Überlegungen zur Ästhetik im Rahmen einer systematischen Rekonstruktion verständlich zu machen. Gleichzeitig soll aber auch gezeigt werden, dass seine Thesen und Argumente einen hilfreichen Beitrag zur Klärung systematischer Fragen der Ästhetik leisten können. Wittgensteins Ästhetik ist so unkonventionell wie seine Sprachphilosophie. Er umgeht auch in der Ästhetik herkömmliche Problemstellungen und versucht, unser Denken „aus den Zangen gewisser Begriffe“1 – etwa des Begriffs der Schönheit – zu befreien. Dadurch öffnet er uns die Augen für den Reichtum der ästhetischen Praxis und liefert so einen originellen und wichtigen Beitrag zur philosophischen Ästhetik.2 1

VB, 562. Vgl. Shusterman, Wittgenstein on Critical Reasoning, 92, Fn. 5: „One could maintain, moreover, that philosophical revolutions are not always, and perhaps not even

2

8 Es mag überraschen, dass Wittgenstein nur wenig zu ästhetischen Themen geschrieben hat.3 Schließlich maß er der Kunst und dem Ästhetischen in seinem Leben eine große Wichtigkeit bei: So konnte er mit Freunden lange und intensiv darüber diskutieren, wie eine Passage in einem Musikstück zu spielen ist oder wie man eine Wohnung einzurichten hat. Wie wichtig für ihn solche ästhetischen Fragen waren, zeigt sich nicht nur in Berichten über sein Leben, in seinen Tagebüchern und Briefen, sondern auch in seinen philosophischen Schriften. Ästhetische und philosophische Fragen seien die einzigen, schreibt er, die ihn „wirklich fesseln“.4 Zudem bestehe zwischen ästhetischen und philosophischen Problemen eine „seltsame Ähnlichkeit“.5 Unter „ästhetischen Problemen“ oder „ästhetischen Fragen“ versteht Wittgenstein an dieser Stelle nicht Fragen der philosophischen Ästhetik wie „Was ist Schönheit?“ oder „Was ist Kunst?“, sondern Fragen der alltäglichen ästhetischen oder künstlerischen Praxis wie „Welche Krawatte passt zu diesem Anzug?“, „Was stimmt an diesem Bild noch nicht?“ oder „In welchem Tempo sollte man dieses Musikstück spielen?“. Die Beschäftigung mit solchen Fragen habe eine gewisse Ähnlichkeit mit der Tätigkeit des Philosophen, wie Wittgenstein sie versteht. Diese sei nämlich, ebenso wie die Tätigkeit des Künstlers, in erster Linie eine „Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt)“.6 Gegen Ende seines Lebens soll Wittgenstein gegenüber seinem Freund Maurice Drury in einem Gespräch über sein Spätwerk, die Philosophischen Untersuchungen, gemeint haben: „It is impossible for me to say in my book one word about all that music has meant in my life. How then can I hope to be understood?“7. Solche Äußerungen legen nahe, dass wir Wittgensteins Art zu philosophieren und seine Ansichten darüber, was Philosophie sein soll, besser verstehen werden, wenn wir seine Überlegungen zur Ästhetik kennen.8 Angesichts primarily, a matter of providing new theories for familiar questions, but are often rather constituted by fundamental changes in the very questions and problems which interest the philosopher. Wittgenstein’s revolution in aesthetics is to a large extent of this second kind: a redirection and restructuring of aesthetic inquiry.“ Vgl. Hagberg, Wittgenstein, Ludwig. Reception of Wittgenstein, 462. 3 Hagberg, Wittgenstein’s Aesthetics, Einleitung. 4 VB, 563. 5 VB, 485. 6 VB, 472. 7 Drury, Gespräche mit Wittgenstein, 220. 8 Cyril Barrett sieht in der Ästhetik Wittgensteins gar das Paradigma seiner Philosophie: „It might be argued […] that aesthetics as he conceived it is the paradigm of phi-

9 der Parallelen, die Wittgenstein zwischen dem philosophischen und dem ästhetischen Verstehen gesehen hat, mag es verwundern, dass bis heute in der kaum überschaubaren Fülle an Sekundärliteratur keine systematische Rekonstruktion seiner Ästhetik zu finden ist. Was es gibt, sind Aufsätze, die entweder einzelne Teilbereiche seiner Ästhetik thematisieren oder einen Gesamtüberblick bieten.9 An dieser Stelle muss betont werden, dass meine Rekonstruktion nicht alle Aspekte der Ästhetik Wittgensteins gleich stark gewichtet. Der Fokus liegt auf Bemerkungen und Äußerungen nach 1929. Die Thesen zur Ästhetik, die im Tractatus und in den Tagebüchern aus den Jahren 1914–1917 zu finden sind, werden nur dann hinzugezogen, wenn sie zum Verständnis späterer Ansichten beitragen.10 Die in rätselhaften Sprüchen angedeuteten und stark von Schopenhauer beeinflussten frühen Überlegungen zur Ästhetik sympathisieren noch stark mit mystischem Gedankengut und stehen in enger Verbindung mit der Abbildtheorie der Sprache, die Wittgenstein im Tractatus aufstellt, später jedoch korrigiert. Aussagen wie „Ethik und Ästhetik sind Eins“ oder „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen“ klingen zwar reizvoll, bieten jedoch keine solide Textgrundlage für die Rekonstruktion einer eigenständigen und systematisch vertretbaren ästhetischen Position. Meine Arbeit bezieht sich daher in erster Linie auf die Ästhetik des Spätwerks.11 Wenn man Wittgensteins ästhetische Bemerkungen überblickt, dann fällt auf, dass er sich an keiner Stelle ernsthaft mit jenen zwei Fragen beschäftigt, die nach Ansicht vieler Philosophen zentral für die Ästhetik sind, nämlich „Was ist Schönheit?“ und „Was ist Kunst?“. Dies hat seinen Grund: Allgemeine Fragen dieser Art verursachen Wittgenstein zufolge einen „geistigen Krampf“12. Wer „in der Aesthetik und Ethik nach Definitionen sucht, die unseren Begriffen entsprechen“, gleiche jemandem, der sich die „hoffnungslose Aufgabe“ stellt, ausgehend von einem äußerst unscharfen Bild ein diesem entsprechendes scharfes zu zeichnen.13 Im Anlosophy, also as he conceived it“ (Wittgenstein and Problems of Objectivity in Aesthetics, 158). 9 Die Aufsätze von Malcolm Budd und Joachim Schulte bieten dabei einen besonders erhellenden Einblick in die wichtigsten Aspekte seiner Ästhetik: Budd, Wittgenstein on Aesthetics; Schulte, Ästhetisch richtig. 10 Zentrale ästhetische Thesen aus dem Frühwerk werde ich in Kapitel 8.4 besprechen. 11 Zum „Spätwerk“ zähle ich hier auch die sogenannte „Übergangsphase“ von 192933. Vgl. Glock, Perspectives on Wittgenstein, 44. 12 BlB, 15. 13 PU, § 77.

10 schluss an Wittgensteins antiessentialistische Überlegungen zum Thema „Familienähnlichkeiten“ betrachteten viele Autoren das Projekt einer Definition des Schönen und der Kunst als aussichtslos oder verfehlt: Es gäbe zwar mancherlei Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerken – vergleichbar den Ähnlichkeiten zwischen Familienmitgliedern – jedoch keine Merkmale, die allen Kunstwerken und nur den Kunstwerken gemeinsam wären. Richard Shusterman stellt zu Recht fest, dass Wittgenstein in der Ästhetik vorwiegend aufgrund seiner definitionskritischen sprachphilosophischen Überlegungen rezipiert wurde: „Wittgenstein is probably most famous in aesthetics for providing the ammunition, fired by Morris Weitz and others, for exploding all theories of art which aim at essentialist definitions“14. Allgemeine Fragen der Art „Was ist Schönheit?“ und „Was ist Kunst?“ sind Wittgenstein zufolge nicht nur unbeantwortbar, sondern hindern uns zudem daran, die Verschiedenheit ästhetischer Gegenstände und Qualitäten und die Vielfalt unserer ästhetischen Praxis – die unterschiedlichen Kontexte, Äußerungen und Verhaltensweisen – zu sehen. Interessante Fragen der Ästhetik sind für ihn „Wie erkenne ich, was mir an einem Gegenstand gefällt oder was mich an ihm stört?“, „Wie kann ich jemanden von meinen ästhetischen Einschätzungen überzeugen?“, „Gibt es Richtig und Falsch in der Ästhetik?“, „Was heißt es, ein Musikstück zu verstehen?“, „Wie kann ich in Worte fassen, wie eine Melodie auf mich wirkt?“, „Gibt es eine Verbindung zwischen der Persönlichkeit eines Künstlers und seinem Stil?“, „Welche Rolle spielt die Kultur beim Verstehen von Kunst?“, „Worin besteht der Wert von Kunst?“ und schließlich „Was haben ästhetische und philosophische Überlegungen gemeinsam?“. Wittgensteins Vorstellung von Ästhetik weicht also in vielen Punkten von der traditionellen Auffassung ab, so dass Ray Monk in seiner Biographie schreiben kann: „In discussing aesthetics, Wittgenstein was not attempting to contribute to the philosophical discipline that goes by that name“15. Wittgensteins Aussagen über Ästhetik beschränken sich keineswegs auf die Künste. Zu Recht, denn schließlich können wir jeden Gegenstand aus einer ästhetischen Perspektive betrachten und beurteilen. Ästhetische Entscheidungen muss nicht nur derjenige treffen, der eine Symphonie komponiert, sondern auch, wer seine Wohnung neu einrichtet oder den Tisch deckt. Wenn Wittgenstein allerdings über Künste spricht, dann meist über Musik, Architektur und Dichtung, mitunter aber auch über literarische Prosa und Malerei. Dabei fällt auf, dass er sich in erster Linie für nicht14 15

Shusterman, Wittgenstein on Critical Reasoning, 92. Monk, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, 404.

11 darstellende Künste wie Musik und Architektur interessiert. Phänomene des künstlerischen Ausdrucks, der formalen Richtigkeit und des ästhetischen Verstehens stehen im Fokus seines Interesses. Dass Kunstwerke, wie Bilder und Romane, etwas darstellen können, ist aus seiner Sicht nebensächlich. Der Grundgedanke hinter dieser Haltung scheint folgender zu sein: Wer lediglich weiß, was auf einem künstlerischen Bild dargestellt ist, hat das Bild damit noch nicht verstanden. Und wer lediglich den Handlungsstrang des Erlkönigs kennt, hat damit weder das Gedicht verstanden, noch seine ästhetischen Aspekte gewürdigt. Das ästhetische Verstehen zeichnet sich gegenüber dem sprachlichen Verstehen Wittgenstein zufolge dadurch aus, dass man das Verstandene nicht paraphrasieren kann. Wer einen Satz einer fremden Sprache versteht, kann den Inhalt des Satzes in seiner eigenen Sprache wiedergeben. Wer dagegen ein Musikstück versteht, der kann den Inhalt der Musik – dasjenige, was er verstanden hat – unmöglich in Worten wiedergeben. Dasselbe gilt für Gedichte: Es gibt keine Paraphrase eines Gedichts. Die Form eines Gedichts trägt zu seinem Gehalt bei. Eine Frage, mit der sich Wittgenstein intensiv beschäftigt, lautet also: Was heißt es, etwas zu verstehen, das man nicht paraphrasieren kann? Was heißt es, eine musikalische Phrase zu verstehen, die weder etwas sagt, noch etwas abbildet? Was heißt es, eine Ansammlung von Farben und Formen oder eine Aufeinanderfolge von Tönen zu verstehen? Wenn Wittgenstein über Musik spricht, dann bezieht er sich in der Regel auf Komponisten der Klassik und Romantik. Schubert und Schumann schätzte er sehr, Beethoven verehrte er. Aber auch Bach und Brahms waren zeitweilig wichtige Figuren. Nach McGuinness hieß Musik für Wittgenstein und seine Familie „nichts anderes als die Musik Wiens von Haydn bis Brahms. Die Notwendigkeit eines Wandels sah er nicht, und Bergs Werke fand er skandalös. Das klassische Repertoire enthalte mehr als genug, worüber man sein ganzes Leben lang nachdenken könne.“16 In der „Zeit Schumanns“ sieht Wittgenstein die Wurzeln seines Kunstideals, in dem sich die Klarheit der Klassik mit der Ausdrucksstärke der Romantik verbindet. Das Klavierspiel seiner Mutter verkörperte dieses Ideal: „Bezeichnend für ihr Spiel war vor allem das Vermeiden jeglicher Übertreibung, jeglicher Effekthascherei und jeglicher Entstellung der musikalischen Logik“17, schreibt McGuinness. In diesem ästhetischen Ideal spiegelt sich zugleich Wittgensteins moralisches Lebensideal der Integrität und der 16 17

McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, 68. McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, 49.

12 Aufrichtigkeit mit sich selbst – das Ideal einer „völlige[n] Angemessenheit des Ausdrucks an das Empfinden“, wie Engelmann treffend formuliert.18 Wittgenstein ist in einem überaus musikalischen Haus aufgewachsen, in dem neben Brahms viele Berühmtheiten der Wiener Musikszene verkehrten. Seine Mutter liebte das Klavierspiel über alles, der älteste Bruder, der als erster Selbstmord beging, galt als musikalisches Wunderkind und sein Bruder Paul war ein berühmter Pianist, der im Krieg seinen rechten Arm verlor und für den Ravel ein Klavierkonzert für die linke Hand komponierte. Nicht nur Wittgensteins Umfeld war äußerst musikalisch, sondern auch er selbst. Schulte meint, seine „musikalische Begabung äußerte sich vor allem in seiner Fähigkeit, anderen Musik zu erklären und darzulegen, wie sie gespielt werden sollte, und in einem nach Aussagen aller Zeitgenossen phänomenalen Talent zu pfeifen“19. Wittgensteins Musikalität war Ausdruck einer allgemeinen ästhetischen Feinfühligkeit und Urteilskraft, die etwa auch dann zur Geltung kam, wenn es um die eigene Wohnungseinrichtung oder um den eigenen Schreibstil ging. Das ging soweit, dass er darauf verzichtete, ausführliche Argumente für seine Behauptungen anzuführen, da diese „ihre Schönheit verderben“ würden, wie er 1913 gegenüber Bertrand Russell meinte.20 Wittgensteins ästhetische Sensibilität äußerte sich oft in einer kritischen Kompromisslosigkeit. Er maß ästhetischen Entscheidungen zeitlebens eine erstaunliche Wichtigkeit bei, wahrscheinlich auch deswegen, weil er eine enge Verbindung sah zwischen ästhetischen und moralischen Idealen, zwischen Stil und Persönlichkeit: Der Stil sei „das Bild des Menschen“21, meinte er. In den Jahren 1926 bis 1928 ergab sich für ihn die Gelegenheit, seine ästhetisch-moralischen Ideale in Stein meißeln zu lassen: Er arbeitete – anfänglich zusammen mit Paul Engelmann – als Architekt am Bau eines Hauses für seine Schwester Margarete. Schulte schreibt dazu: Die Arbeit faszinierte und absorbierte ihn. Der nur oberflächlich an Loos erinnernde Bau spiegelt in vielem Wittgensteins Persönlichkeit: nüchterne 18

Somavilla, Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, 103. Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, 27. 20 Vgl. Glock, Wittgenstein-Lexikon, 28: „Wegen seiner ästhetischen Aspirationen hat Wittgenstein seine Einsichten oft bis zur Undurchdringlichkeit verdichtet und es versäumt, die Argumente für seine Behauptungen ausführlich darzulegen. Das zu tun, würde ‚ihre Schönheit verderben’, behauptete er 1913, worauf Russell schneidend erwiderte, Wittgenstein solle sich dann einen Sklaven halten, der diese Arbeit übernähme“ (Wittgenstein-Lexikon, 28). 21 VB, 561. 19

13 Sachlichkeit verknüpft mit dem emporstrebenden Ernst einer Kathedrale, peinliche Genauigkeit in der Fertigung jedes Details bei gleichzeitiger Missachtung der Bequemlichkeitsansprüche des Bewohners.22

Die Wichtigkeit ästhetischer Details ist Wittgenstein zufolge kaum zu überschätzen. Nicht nur der Teufel steckt im Detail, sondern auch die Götter: Wittgenstein zitiert Longfellow, „For the gods are everywhere“23, und schreibt in Klammern darunter: „Könnte mir als ein Motto dienen“.24 Das Haus für seine Schwester und ein Mädchenkopf, den er 1927 im Atelier von Drobil angefertigt hat, sind die zwei einzigen künstlerischen Werke, die wir von Wittgenstein kennen. Zwar meinte er, „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“25, allerdings hat er Zeit seines Lebens kein Gedicht verfasst, das uns überliefert wäre. Auch eigene Kompositionen gibt es keine – abgesehen von dem „Ende eines Themas“, über das er schreibt: „Es fiel mir heute ein, als ich über meine Arbeit in der Philosophie nachdachte und mir vorsagte: ‚I destroy, I destroy, I destroy –’“. Die Vortragsbezeichnung: „Leidenschaftlich“.

22

Schulte, Wittgenstein. Eine Einführung, 17. Wittgenstein zitiert hier nicht ganz richtig, denn bei Longfellow steht: „For the Gods see everywhere“. 24 VB, 497. 25 VB, 483. 23

14 Zum Aufbau der Arbeit Die Thematik der Aspektwahrnehmung bildet das Fundament der Ästhetik Wittgensteins. Daher werde ich im ersten Kapitel Wittgensteins Überlegungen zu diesem Thema darlegen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird klar werden, dass sich ein Großteil seiner ästhetischen Bemerkungen erst vor dem Hintergrund seiner Ansichten zur Aspektwahrnehmung verstehen lässt. Das gilt insbesondere für seine Bemerkungen zum ästhetischen Verstehen: Jemand, der ein Musikstück versteht und dem ein Gemälde etwas sagt, der hört das Stück anders und sieht das Gemälde in anderer Weise als jemand, der ratlos im Konzertsaal sitzt oder verständnislos durchs Museum schlendert. Der Kenner nimmt Aspekte eines Werks wahr, die dem Laien entgehen. Das zweite Kapitel widmet sich den Ausdrucksqualitäten, die Wittgenstein zufolge eine Unterklasse der Aspekte und zugleich die zentrale Kategorie ästhetischer Qualitäten bilden. Ausdrucksqualitäten sind etwa die Traurigkeit einer Melodie oder die Verspieltheit eines Schriftzuges. Dieses zweite Kapitel wird zu großen Teilen aus eigenen Überlegungen bestehen. Angesichts der Wichtigkeit, die Wittgenstein ästhetischen Ausdrucksqualitäten zuspricht, ist es lohnend, sich eingehender mit dieser Art von ästhetischen Qualitäten auseinander zu setzen. Im dritten Kapitel werde ich in knapper Darstellung einige Grundbegriffe der Ästhetik klären. Die drei Leitfragen des Kapitels sind: „Was ist eine ästhetische Einstellung?“, „Was sind ästhetische Qualitäten?“ und „Wodurch zeichnen sich ästhetische Urteile aus?“. Dabei gehe ich systematisch vor, nehme also kaum auf Wittgensteins Schriften Bezug. Dennoch sollen meine Überlegungen mit Wittgensteins Ansichten vereinbar sein. In dem Kapitel sollen Grundlagen geklärt werden, die in den anschließenden, primär exegetischen Kapiteln vorausgesetzt werden. Die beiden folgenden Kapitel fragen nach der Rolle, die Regeln und Gründe in Wittgensteins Ästhetik spielen. Sowohl der Bereich der ästhetischen Produktion als auch der Bereich ästhetischer Rezeption ist Wittgenstein zufolge als normative Praxis zu verstehen, deren Teilnehmer sich implizit an ästhetischen Idealen und Regeln ausrichten. Wir unterscheiden in Gesprächen über Kunst nicht nur zwischen besseren und schlechteren Kunstwerken, sondern auch zwischen treffenden und weniger treffenden ästhetischen Urteilen. Das Kapitel über Regeln beleuchtet – ausgehend von Wittgensteins Bemerkungen aus den Ästhetik-Vorlesungen von 1938 – unterschiedliche Aspekte ästhetischer Regeln, während das darauf folgende

15 Kapitel der Frage nachgeht, was Gründe in ästhetischen Diskussionen leisten und wie wir andere von unseren eigenen ästhetischen Einschätzungen überzeugen können. Es wird sich zeigen, dass ästhetische Regeln und Gründe in enger Verbindung zur ästhetischen Wahrnehmung stehen. Die Kapitel 6 und 7 thematisieren das ästhetische Erleben und Verstehen. Kapitel 6 geht der Frage nach, welche Art von Erklärung wir Wittgenstein zufolge verlangen, wenn wir uns fragen: „Wie wirkt diese Melodie auf mich?“, „Was gefällt mir an diesem Gebäude?“ oder „Was stimmt an diesem Bild noch nicht?“. Nach Wittgenstein sind es nicht Kausalerklärungen, sondern passende Vergleiche, die uns bei solchen Fragen Klarheit verschaffen. In Kapitel 7 werde ich zeigen, wodurch sich das ästhetische Verstehen Wittgenstein zufolge auszeichnet. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich der Frage, was es heißt, Musik zu verstehen – eine Frage, mit der sich Wittgenstein an mehreren Stellen intensiv auseinandersetzt. Thema des achten Kapitels sind Wittgensteins Ansichten zum Verhältnis zwischen Kunst und Leben. Folgende Fragen stehen dabei im Zentrum: Wodurch zeichnet sich ein Genie aus? Welche Verbindungen bestehen zwischen dem Charakter des Künstlers und dem Stil seiner Werke? Und schließlich: Was lehrt uns die Kunst? Im abschließenden Kapitel werde ich die Parallelen zwischen Wittgensteins Philosophie und seiner Ästhetik herausarbeiten – Parallelen, auf die Wittgenstein selbst an mehreren Stellen hinweist. Um diese „seltsame Ähnlichkeit“26 zu sehen, werde ich zunächst sein Philosophieverständnis erläutern. Dabei wird sich zeigen, dass erhellenden Vergleichen nicht nur für das ästhetische, sondern auch für das philosophische und ethnologische Verstehen eine wichtige Rolle zukommt. Wittgenstein weist zudem darauf hin, dass wir sowohl in ästhetischen Gesprächen als auch in der Philosophie lernen, die Dinge auf eine neue Weise zu sehen. Seiner Ansicht nach lösen sich philosophische Probleme nämlich nicht dadurch, dass wir etwas Neues lernen, sondern dass wir unsere Sichtweise und unsere Erwartungen ändern. Im Schlussteil des Kapitels werde ich die Berührungspunkte zwischen ästhetischen und mathematischen Überlegungen herausarbeiten, auf die Wittgenstein den Leser an einzelnen Stellen hinweist. So beschreibt er etwa den Mathematiker als jemanden, der neue „Physiognomien“ und „Aspekte“ entdecke. Zudem ist er der Ansicht, mathematische und ästhetische Richtigkeit hätten mehr gemeinsam, als wir denken. Insgesamt zeigt sich in dem abschließenden Kapitel, dass Wittgensteins Bemerkungen zur 26

VB, 485.

16 Ästhetik ein klärendes Licht auf zentrale Aspekte seiner Philosophiekonzeption werfen.

17

1. Aspektwahrnehmung Die Aspektwahrnehmung steht im Zentrum der Ästhetik Wittgensteins. Ästhetische Wahrnehmung und das Verstehen von Kunst basieren nach Wittgenstein auf unserer Fähigkeit, Aspekte wahrzunehmen, d.h. etwas einer Deutung entsprechend wahrzunehmen, es als etwas wahrzunehmen.27 Er fragt sich: „Wie ist man denn überhaupt zu dem Begriff des ‚das als das sehen’ gekommen? Bei welchen Gelegenheiten wird er gebildet, ist für ihn ein Bedarf?“. Und seine Antwort lautet: „Sehr häufig, wenn wir über ein Kunstwerk reden“.28 Weiter macht er darauf aufmerksam, daß in Gesprächen über ästhetische Gegenstände die Worte gebraucht werden: „Du mußt es so sehen, so ist es gemeint“; „Wenn du es so siehst, siehst du, wo der Fehler liegt“; „Du mußt diese Takte als Einleitung hören“; „Du mußt nach dieser Tonart hinhören“; „Du mußt es so phrasieren“ (und das kann sich auf’s Hören wie auf’s Spielen beziehen).29

In ästhetischen Diskussionen geht es Wittgenstein zufolge darum, den Gesprächspartner zu einer neuen Wahrnehmungsweise des ästhetischen Objekts zu bringen. Wer ein Musikstück versteht, hört das Stück anders als jemand, der es nicht versteht. Wer die Musik eines „schwierigen“ Komponisten oder einer fremden Kultur verstehen will, muss lernen, diese Musik anders, nämlich mit Verständnis zu hören. Ein Bild zu verstehen, heißt in erster Linie, es richtig zu sehen. Wittgenstein zufolge vollzieht sich beim ästhetischen Verstehensprozess ein Aspektwechsel, eine Änderung der Wahrnehmungsweise.30 Wittgensteins Überlegungen zur Ästhetik lassen sich erst vor dem Hintergrund seiner Bemerkungen zur Aspektwahrnehmung verständlich machen. Und davon gibt es sehr viele. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre beschäftigt er sich intensiv mit der Thematik und seine zahllosen Bemerkungen bezeugen, dass ihm viel an einer Klärung des Phänomens und der entsprechenden Begriffe gelegen hat. „Die Begriffverhältnisse liegen 27

Vgl. PU II, 519, 530. Baz schreibt in dem Aufsatz Aspect Perception: „The seeing of aspects is arguably fundamental to aesthetic experience, judgement and understanding“ (128). 28 BPP I, § 1. Vgl. MS 137, 139a: „Ist es in der Ästhetik nicht wesentlich, daß das Bild, das Musikstück, etc., seinen Aspekt für mich wechseln kann?“. 29 PU II, 534. 30 Vgl. Kapitel 7.2.

18 sehr kompliziert“, schreibt er und denkt dabei an Ausdrücke wie „sehenals“, „sehen“, „deuten“, „empfinden“, „Ähnlichkeit“ usf.31 Er erwähnt und bespricht in seinen Schriften eine Vielzahl unterschiedlicher Beispiele für Aspekte, präsentiert jedoch keine systematische Klassifikation. An einzelnen Stellen macht er lediglich auf auffallende Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufmerksam. Was der Leser angesichts der Vielfalt an Beispielen vor sich hat, ist „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“32, wie Wittgenstein an anderer Stelle schreibt. Dieses verstrickte Netz von Ähnlichkeiten macht es schwierig, die unterschiedlichen Beispiele für Aspekte systematisch zu klassifizieren, etwa durch eine dihairetische Einteilung in Arten und Unterarten. Je nach gewählter Ähnlichkeitshinsicht entstehen andere Ähnlichkeitsklassen und es bleibt unklar, wie die unterschiedlichen Gemeinsamkeiten und Differenzen zu gewichten sind. Zudem sind die relevanten sprachlichen Ausdrücke vage. Es gibt also viele Grenzfälle. Im Folgenden möchte ich keine systematische Typisierung unterschiedlicher Aspekte vorstellen, sondern anhand exemplarischer Beispiele auf „Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“ aufmerksam machen, sodass der Leser allmählich eine Übersicht gewinnt und am Ende sagen kann: „Ich kenne mich aus“.33 Es versteht sich von selbst, dass ich dabei keine erschöpfende Darstellung der Thematik der Aspektwahrnehmung präsentieren, sondern das Augenmerk auf jene Gesichtspunkte legen werde, die für das Verständnis der Ästhetik Wittgensteins relevant sind. 1.1 Aufleuchten eines Aspekts Beginnen wir mit einem Beispiel, das uns noch öfter begegnen wird: Es handelt sich dabei um ein „Vexierbild“34 oder Rätselbild. Rätselbilder sind Bilder, auf denen man nicht auf Anhieb erkennt, was abgebildet ist. Man 31

BPP II, § 454. Vgl PU II, 518: „Uns interessiert der Begriff [Sehen-als] und seine Stellung in den Erfahrungsbegriffen“. Kurz vor seinem Tod soll er zu Maurice Drury gesagt haben: „Now try and say what is involved in seeing something as something; it is not easy. These thoughts I am now having are as hard as granite“ (Monk, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, 537). 32 PU, § 66. Zur Aspektwahrnehmung schreibt er: „Es gibt hier eine Unmenge mit einander verwandter Erscheinungen und möglicher Begriffe“ (LSP, § 581). 33 Vgl. PU, § 123: „Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚Ich kenne mich nicht aus.’“ 34 PU II, 523.

19 muss suchen, die Augen kneifen oder Abstand nehmen. In dem unten stehenden Rätselbild sehen wir zunächst nur chaotisch angeordnete Flecken. Wird uns aber gesagt, auf dem Bild sei ein Dalmatiner abgebildet, dann sehen wir auf einmal die Gestalt eines Dalmatinerhundes. Wir sehen einen Aspekt, den wir zuvor nicht sahen. Es geschieht ein „Aufleuchten des Aspekts“35, wie Wittgenstein schreibt.

Sobald wir den Dalmatiner sehen, löst sich das Chaos der Flecken auf, einzelne Flecken gruppieren sich, bilden eine Einheit und scheinen sogar räumlich in den Vordergrund zu treten. Die Flecken haben nun eine Ordnung, eine „Organisation“, wie Wittgenstein schreibt.36 Es mag schwierig sein, den Dalmatiner im chaotischen Gewirr von Flecken zu entdecken. Ihn jedoch wegzudenken, nachdem man ihn gefunden hat, ist weit schwieriger. Nachdem wir den Dalmatiner gesehen haben, sind wir kaum mehr in der Lage, das Bild so zu sehen wie zu Beginn: als chaotische Anordnung schwarzer Flecken. Wir haben einen „Aspekt“ des Bildes bemerkt, den wir fortan im Bild sehen. Es gibt kein Zurück. Bei anderen Bildern können wir beliebig oft zwischen zwei Sichtweisen hin und her springen und einmal diesen, einmal jenen Aspekt sehen. Ein prominentes Beispiel ist die Hasen-Ente von Jastrow, eine Zeichnung, die als Abbildung eines Hasen- oder eines Entenkopfes gesehen werden kann.

35

PU II, 520, 525. LSP, § 529: „Die Organisation des Gesichtsbilds: das gehört zusammen, das nicht. Organisiert wird also durch ein Zusammennehmen und Trennen“. Vgl. PU II, 523; LSP, 445, 530. 36

20 Wer zunächst die Ente sah und nun den Hasen sieht, der hat nach Wittgenstein einen neuen Aspekt bemerkt. Wittgenstein spricht auch hier vom „‚Aufleuchten’ eines Aspekts“37. Wer beide Aspekte kennt, kann absichtlich einen „Aspektwechsel“38 herbeiführen. Dieselbe Zeichnung kann also unterschiedlich gedeutet und entsprechend der Deutung auch in unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden. Denken wir uns zwei Personen. Die eine sieht in der Hasen-Ente die Ente, die andere dagegen den Hasen. Nun werden beide gebeten, das Bild abzuzeichnen, genau so, wie sie es sehen. Obwohl sie das Bild ganz anders gesehen haben, werden sich ihre Zeichnungen kaum unterscheiden.39 Beide sehen nämlich in einer bestimmten Hinsicht dasselbe: die Zeichnung auf dem Blatt. Nur sieht die eine Person die Zeichnung als Ente, während die andere die Zeichnung als Hasen sieht. Das Erlebnis des Aufleuchtens eines Aspekts hat etwas Paradoxes an sich: Ein und dieselbe Zeichnung sieht plötzlich ganz anders aus. Der Hase hat scheinbar keine Ähnlichkeit mit der Ente und doch sind die beiden Bilder deckungsgleich: „Der Kopf, so gesehen, hat mit dem Kopf, so gesehen, auch nicht die leiseste Ähnlichkeit – obwohl sie kongruent sind“40. Stephen Mulhall schreibt: Wittgenstein introduces and characterizes noticing an aspect or experience the dawning of an aspect – we might even say that he defines the phenomenon – by reference to its inherent paradoxality. We feel that the face or figure is altogether different after the change of aspect, as if it had altered before our eyes; and yet we know that there has been no such change.41

Wir sehen etwas anderes und doch dasselbe. Dieses Paradox löst sich auf, wenn wir uns bewusst machen, dass der Ausdruck „sehen“ hier in zwei unterschiedlichen Weisen verwendet wird. Aspekte sehen wir nicht in derselben Weise wie Objekte. Wittgenstein verdeutlicht das am Beispiel des Sehens von Ähnlichkeiten: Zwei Verwendungen des Wortes „sehen“. 37

PU II, 520. PU II, 522. 39 Vgl. PU II, 523: „Mein Gesichtseindruck hat sich verändert; wie war er früher; wie ist er jetzt? – Stelle ich ihn durch eine genaue Kopie dar – und ist das keine gute Darstellung? – so zeigt sich keine Änderung.“ 40 PU II, 522. 41 Mulhall, Seeing Aspects, 247. 38

21 Die eine: „Was siehst du dort?“ – „Ich sehe dies“ (es folgt eine Beschreibung, eine Zeichnung, eine Kopie). Die andere: „Ich sehe eine Ähnlichkeit in diesen beiden Gesichtern“ – der, dem ich dies mitteile, mag die Gesichter so deutlich sehen wie ich selbst. Die Wichtigkeit: Der kategorische Unterschied der beiden ‚Objekte’ des Sehens.42

Man kann zwei Gesichter sehen, ihre Ähnlichkeit jedoch nicht bemerken. Angenommen, ich lerne zwei Brüder kennen, erfahre aber erst im Gespräch, dass sie Brüder sind. Sofort springt mir die Ähnlichkeit in die Augen. Jetzt sehe ich die beiden Gesichter anders. Gemeinsame Gesichtszüge treten hervor, ich erkenne die Nase und den Mund des einen Bruders im Anderen wieder und sehe das eine Gesicht als Variation des andern. Ein Aspekt leuchtet auf. Die Ähnlichkeit zwischen zwei Gesichtern „sehen“ wir nicht in derselben Weise wie die zwei Gesichter. Eine Person kann zwei Gesichter in- und auswendig kennen, mit allen Details, ohne ihre Ähnlichkeit zu bemerken. Die Ähnlichkeit ist also keine intrinsische Eigenschaft, wie etwa die Augenfarbe oder die Form der Nase. Wer uns auf die Ähnlichkeit von zwei Gesichtern aufmerksam macht, tut dies nicht, um unseren Blick auf unbeachtete Eigenschaften der beiden Gesichter zu lenken, sondern „um unser Auge für einen formalen Zusammenhang zu schärfen“43, wie Wittgenstein an anderer Stelle schreibt. Die Ähnlichkeit liegt nicht in den Gesichtszügen, sondern zwischen ihnen. Wenn wir davon sprechen, dass wir die Ähnlichkeiten zwischen Gesichtern „sehen“ können, dann verwenden wir den Ausdruck „sehen“ in einer „sekundäre[n] Bedeutung“44. In sekundärer Weise verwenden wir auch die Ausdrücke „hell“ und „warm“, wenn wir von „hellen Klängen“ und „warmen Farben“ sprechen.45 Angesichts der Tatsache, dass wir Aspekte nicht in derselben Weise „sehen“ wie Gegenstände, löst sich das Paradox der Aspektwahrnehmung in Luft auf: Wer zunächst die Ente sah und nun den Hasen sieht, der sieht in einem Sinn von „sehen“ immer noch dasselbe, während er in einem anderen Sinn von „sehen“ etwas Verschiedenes sieht. Dass wir nach einem Aspektwechsel „etwas anderes und doch dasselbe sehen“, ist also nur ein scheinbares Paradox und sollte uns nicht verwirren. Wer verwirrt ist angesichts der Tatsache, dass Klänge hell sein können, 42

PU II, 518. F, 37. 44 PU II, 557. 45 Vgl. Kapitel 1.9. 43

22 obwohl sie unsichtbar sind, der sollte sich klar machen, dass der Ausdruck „hell“ anders verwendet wird, wenn er auf Klänge und nicht – wie üblich – auf Sichtbares angewendet wird. 1.2 Phantasie und Gewohnheit 1.2.1 Optische und begriffliche Aspekte Wittgenstein unterscheidet zwischen „rein optischen“ und „begrifflichen“ Aspekten.46 Um begriffliche Aspekte wahrnehmen zu können, müsse man über die entsprechenden Begriffe verfügen. Den Hasenaspekt z.B. kann nur jemand sehen, der mit der Gestalt und dem Begriff von Hasen vertraut ist.47 Dagegen kann es „Modifikationen des Gesichtseindrucks“ geben, die nicht auf der Fähigkeit basieren, Begriffe zu verwenden.48 Wittgenstein denkt bei solchen „optischen“ Aspekten an das Doppelkreuz, das nicht nur als schwarzes Kreuz auf weißem Grund, sondern auch als weißes Kreuz auf schwarzem Grund gesehen werden kann. Auch Aspekte der Organisation49 zählen zur Klasse der „optischen“ Aspekte, etwa wenn wir die Punkte ● ● ● ● in unserer Anschauung unterschiedlich gruppieren: ● ● ● ● oder ● ● ● ●.

Doppelkreuz Eng verwandt mit den optischen sind die „räumlichen Aspekte“, zu denen Wittgenstein die unterschiedlichen räumlichen Sichtweisen einer Würfelzeichnung oder eines Prismas zählt.50 Auch sie liegen näher am begriffslo46

BPP II, § 509. LSP, § 700: „Den ‚H[asen-] und E[nten-] Aspekt sehen’ kann nur, wer die Gestalten jener Tiere innehat; die Hauptaspekte des D[oppel-]Kreuzes könnten sich in primitiven Reaktionen des Kindes ausdrücken, das noch nicht sprechen kann.“ 48 BPP I, § 1113. 49 LSP, § 530. 50 BPP II, § 450. 47

23 sen Ende des Spektrums möglicher Fälle. Zwischen optischen und begrifflichen Aspekten verläuft keine scharfe Grenze. Glock weist darauf hin, dass es sich um eine graduelle Unterscheidung handelt und meint, Wittgenstein sei der Ansicht, daß Typen von Aspektwahrnehmung sich hinsichtlich des Grades, in dem Denken an ihnen beteiligt ist, voneinander unterscheiden […] An einem Ende eines Spektrums liegen ‚begriffliche’ Aspekte wie der der HasenEnte, die nicht erklärt werden können, indem man nur auf Teile des Bildgegenstandes zeigt, sondern die die Verfügung über die entsprechenden Begriffe erfordert. Am anderen Ende liegen ‚rein optische’ Aspekte wie das ‚Doppelkreuz’, bei denen wir, was wir sehen, ausdrücken können, indem wir den Linien des Bildgegenstandes folgen, ohne Begriffe zu verwenden.51

Um optische Aspekte sehen zu können, brauchen wir Wittgenstein zufolge nicht nur keine Begriffe, sondern auch keine Phantasie: „Zum Sehen des Dreiecks als halbem Parallelogramm gehört Vorstellungskraft, zum Sehen der Hauptaspekte des Doppelkreuzes nicht.“52 Die Sehfähigkeit einer Person, die ein Dreieck nicht als halbes Parallelogramm sehen kann, wollen wir nicht „eingeschränkt“ nennen. Dagegen sind wir bei einer Person, welche die beiden Aspekte des Doppelkreuzes nicht sehen kann, eher geneigt, von einem „Mangel des Gesichtsinns“ zu sprechen. 1.2.2 Phantasie und Kontext Wittgenstein sieht einen „Zusammenhang zwischen Aspekt und Phantasie“53. Unsere Vorstellungskraft spiele eine Schlüsselrolle für bestimmte Formen der Aspektwahrnehmung. So braucht es Phantasie, um in Kaffeeflecken ein menschliches Gesicht oder in Wolkenformen Tiere zu sehen. In der Hasen-Ente-Zeichnung kann man Wittgenstein zufolge auch ohne Phantasie einen Hasen sehen. Dagegen brauche es Phantasie, um ein Dreieck zu sehen „als dreieckiges Loch, als Körper […] auf seiner Grundlinie stehend, an seiner Spitze aufgehängt; als Berg, als Keil, als Pfeil oder Zeiger; als ein umgefallener Körper, der (z.B.) auf der kürzeren Kathete stehen sollte, als ein halbes Parallelogramm, und verschiedenes anderes.“54 51

Glock, Wittgenstein-Lexikon, 44 („Aspektwahrnehmung“). LSP, § 698. 53 BPP II, § 507. 54 PU II, 530. 52

24

Den H[asen]-E[nten]-Kopf kann jemand einfach für das Bild eines Hasen halten, das Doppelkreuz für das Bild eines schwarzen Kreuzes, aber die bloße Dreiecksfigur nicht für das Bild eines umgefallenen Gegenstandes. Diesen Aspekt des Dreiecks zu sehen, braucht es Vorstellungskraft.55

Kraft unserer Phantasie können wir Gegenstände mit einer „Erdichtung“ umgeben und sie infolgedessen anders wahrnehmen. Wittgenstein schreibt: Von einem beliebigen Schriftzeichen kann ich mir vorstellen, es sei ein korrekt geschriebener Buchstabe eines fremden Alphabets. Oder aber ein fehlerhaft geschriebener; und zwar fehlerhaft auf die eine oder andere Weise: z.B. schleuderhaft, oder typisch kindisch-ungeschickt, oder bürokratisch verschnörkelt […] Und je nach der Erdichtung, mit der ich es umgebe, kann ich es in verschiedenen Aspekten sehen.56

Wir können ein Gekritzel, je nach imaginiertem Entstehungskontext, jeweils anders sehen und erleben. Ein Gedanke verändert die Wahrnehmung: „In einem andern Gedankenraum – möchte man sagen – schaut das Ding anders aus“57. Was für ein Gekritzel gilt, gilt auch für manche Gesichter. Ein Lächeln etwa können wir als freundliches oder als boshaftes lächeln sehen, je nach Kontext, den wir hinzudenken: „So könnte ich mir zu dem Bild vorstellen, daß der Lächelnde auf ein spielendes Kind herunterlächelt, oder aber auf das Leiden des Feindes.“58 Konzentrieren wir uns auf die eine Vorstellung, wirkt das Lächeln gutmütig und wohlwollend, bei der anderen dagegen schadenfroh und boshaft: „Es ist, wie wenn eine Vorstellung mit dem Gesichtseindruck in Berührung käme und für eine Zeit in Berührung bliebe.“59 55

PU II, 542. Vgl. BPP II, § 490. Ohne Phantasie könne man auch eine Variation eines musikalischen Themas nicht als Variation hören: „Gehört dazu, etwas als Variation eines bestimmten Themas zu hören, nicht Phantasie? Und doch nimmt man dadurch etwas wahr“ (BPP II, § 494). 56 PU II, 546. 57 BPP I, § 516. 58 PU, § 539. 59 PU II, 541.

25 Eine Geste oder ein Gesicht als ausdrucksvoll zu erleben, heißt Wittgenstein zufolge, eine Geschichte darüber erzählen zu können: „An einen starken Ausdruck könnte sich z.B. gleich eine Geschichte knüpfen. Oder das Suchen nach einer Geschichte.“60 Glock schreibt: Was wichtig ist beim Bemerken eines Aspekts, ist, daß wir das Wahrgenommene in einen anderen Kontext einordnen; wir entdecken neue Verbindungen oder ziehen neuartige Vergleiche. Deshalb kann die Veränderung des Kontextes unsere Wahrnehmung eines Gegenstandes verändern.61

Ein Kontextwechsel führt also oft zu einem Aspektwechsel. Das gilt nicht nur für unser Sehen, sondern auch für unser Hören: Der Ausdruck einer musikalischen Phrase hängt davon ab, in welcher Umgebung die Phrase steht: „Das besondere Gefühl, das mir die Stelle gibt, gehört zur Stelle, ja zu ihr in diesem Zusammenhang“62. Hierher gehört auch die aufschlussreiche Bemerkung Wittgensteins: Ein und dasselbe Thema hat in Moll einen andern Charakter als in Dur, aber von einem Charakter des Moll im allgemeinen zu sprechen, ist ganz falsch. (Bei Schubert klingt das Dur oft trauriger als das Moll.) Und so ist es, glaube ich, müßig und ohne Nutzen für das Verständnis der Malerei von den Charakteren der einzelnen Farben zu reden. Man denkt eigentlich dabei nur an spezielle Verwendungen.63

Wittgensteins Merkspruch für diese Art von Kontextsensitivität lautet: „Ein lächelnder Mund lächelt nur in einem lächelnden Gesicht“64. Rainer Maria Rilke schrieb über ein Bild von Cézanne: „Es ist, als wüßte jede Stelle von allen“. Jeder Teil spiegelt das Ganze und wird als Teil des Ganzen gesehen. Wittgenstein macht in diesem Kontext auf das Phänomen aufmerksam, dass Gegenstände anders auf uns wirken, wenn wir sie aus ihrem vertrauten Kontext entfernen: Schau ein altbekanntes Möbelstück, am alten Platz, in deinem Zimmer an! „Es ist ein Teil eines Organismus“ möchtest du sagen. Oder: „Nimm es 60

BPP I, § 381. Vgl. BPP I, § 381: „Wenn man vom rätselhaften Lächeln der Mona Lisa spricht, so heißt das doch wohl, dass man sich fragt: In welcher Situation, in welcher Geschichte, könnte man so lächeln?“ 61 Glock, Wittgenstein-Lexikon, 45. 62 LSP, § 381. 63 VB, 570. 64 PU, § 583.

26 heraus, und es ist garnicht mehr das, was es war“ und dergleichen […] Dieser Tisch ist dieser Tisch nur in dieser Umgebung. Alles gehört zu allem. Hier haben wir die untrennbare Atmosphäre.65

Dem Phänomen der Kontextassimilation oder Kontextsensitivität begegnen wir auch – und vielleicht sogar in erster Linie – in der Sprache. Um zu verstehen, was mit einer sprachlichen Äußerung gemeint ist, müssen wir oft den Kontext sehr genau kennen. Um zu wissen, was mit einem einzelnen Satz aus einem Roman genau gemeint ist, müssen wir manchmal den ganzen Roman kennen – ähnlich wie wir bei einer Geste oder einem Gesichtsausdruck den Anlass und den größeren Kontext kennen müssen, um zu verstehen, was dadurch genau ausgedrückt wird:66 Ich lese aus der Mitte einer Erzählung den Satz: „nachdem er das gesagt hatte, verließ er sie wie am vorigen Tage.“ Verstehe ich den Satz? – Das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Es ist ein deutscher Satz, und insofern verstehe ich ihn. Ich wüßte wie man diesen Satz gebrauchen könnte, ich könnte einen Zusammenhang für ihn erfinden. Und doch verstehe ich ihn nicht in dem Sinne, wie ich ihn verstünde, wenn ich die Erzählung gelesen hätte.67

Wittgenstein bemerkt zu einer Stelle aus Schillers Wallenstein: Die Worte „Gottlob! Noch etwas Weniges hat man geflüchtet – vor den Fingern der Kroaten“, mit ihrem Ton und Blick, scheinen allerdings schon jede Nuance der Bedeutung in sich zu tragen. Nur darum aber, weil wir sie als Teil einer bestimmten Szene kennen. Man könnte aber eine ganz andere Szene um diese Worte (im gleichen Ton gesprochen) bauen; um zu zeigen, wie ihre besondere Seele in der Geschichte liegt, zu der sie gehören.68

1.2.3 Übung und Gewohnheit Es gibt Fälle, in denen wir allmählich lernen können, die Dinge als etwas zu sehen. Manchmal erfordert es Übung und Gewöhnung, etwas entsprechend einer Deutung wahrzunehmen. Ärzte beispielsweise sehen Röntgen65

BPP I, § 339. Vgl. LSP, § 424. „Das beste Beispiel für einen Ausdruck in ganz bestimmter Bedeutung ist eine Stelle in einem Drama“. 67 PG, 43. 68 Z, § 176. 66

27 bilder anders als medizinische Laien. Sie haben nicht nur gelernt, die Schwarzweißbilder zu lesen, sondern auch, sie entsprechend einer Interpretation zu sehen. Ihr Wahrnehmungseindruck hat sich verändert. Wittgenstein wählt ein ähnliches Beispiel: Die zeichnerische Darstellung des Innern eines Radioempfängers wird für den, der keine Kunde von solchen Dingen hat, ein Gewirr sinnloser Striche sein. Hat er aber den Apparat und seine Funktionen kennengelernt, so wird jene Zeichnung für ihn ein sinnvolles Bild sein.69

Ein weiteres Beispiel von Wittgenstein sind die Kirchentonarten. Für jemanden, der mit Kirchentonarten nicht vertraut ist, klingt das Ende eines Musikstücks in einer Kirchentonart nicht wie ein Schluss. Vielmehr klingt es so, als würde das Stück an einer beliebigen Stelle langsamer und breche dann ab. Es hört sich an wie ein Abbruch, nicht wie ein Abschluss. Auch wenn man die Konventionen mittelalterlicher Musik kennt, braucht es seine Zeit, bis man sich mit diesen Konventionen vertraut gemacht hat, sich in ihnen „heimisch“70 fühlt und die Schlusswendungen auch wirklich als Schlüsse hört.71 Man fühlt sich zunächst wie in einem fremden Land mit fremden Sitten: Man weiß zwar, dass ein Kopfnicken nicht Zustimmung, sondern Ablehnung bedeutet. Es braucht jedoch Zeit, bis man die nickende Kopfbewegung, ohne nachzudenken, unmittelbar als Ablehnung erlebt und gleichsam instinktiv auf sie reagiert. Wir gewöhnen uns dabei nicht einfach an eine neue Deutung. Vielmehr verändert die Gewohnheit die Art, wie wir die Dinge wahrnehmen und erleben: Eine Kirchentonart verstehen, heißt nicht, sich an die Tonfolge gewöhnen, in dem Sinne, in dem ich mich an einen Geruch gewöhnen kann und ihn nach einiger Zeit nicht mehr unangenehm empfinde. Sondern es heißt, etwas Neues hören, was ich früher noch nicht gehört habe, etwa in der Art – ja ganz analog –, wie es wäre, 10 Striche IIIIIIIIII, die ich früher nur als 2 mal fünf Striche habe sehen können, plötzlich als ein charakteristisches Ganzes sehen zu können. Oder die Zeichnung eines Würfels, die ich nur als flaches Ornament habe sehen können, auf einmal räumlich zu sehen.72

Was für fremde Musik gilt, gilt auch für fremde Malweisen. Es gibt Darstellungsarten, mit denen wir uns erst vertraut machen müssen, um in den 69

Z, § 201. Z, § 234. 71 PU, § 535. 72 PB, § 224. Vgl. LPP, § 677. 70

28 Bildern auf Anhieb Dinge zu sehen: „Es gibt z.B. Malweisen, die mir nichts in dieser unmittelbaren Weise mitteilen, aber doch andern Menschen. Ich glaube, dass Gewohnheit und Erziehung hier mitzureden haben.“73 So kann man sich Menschen vorstellen, „die von Photographien abgestoßen würden, weil ihnen ein Gesicht ohne Farbe, ja vielleicht ein Gesicht in verkleinertem Maßstab unmenschlich vorkäme“74. Wittgenstein meint an einer Stelle, dass ein Marsmensch, der auf die Erde käme, erst nach und nach einen drohenden Gesichtsausdruck auch als solchen erleben könnte. Ein Gesicht würde auf ihn zunächst so ausdruckslos wirken wie ein Stein: Wir könnten uns den Marsbewohner denken, der auf der Erde erst nach und nach den Gesichtsausdruck der Menschen als solchen verstehen lernte und den drohenden erst nach gewissen Erfahrungen als solchen empfinden lernt. Er hätte bis dahin diese Gesichtsform angeschaut, wie wir die Form eines Steins betrachten.75

So wie sich durch Gewohnheit die Ausdruckqualitäten eines Objekts ändern können, so kann auch der Eindruck, dass zwei Dinge zusammenpassen, eine Konsequenz der Gewöhnung sein: Wenn zwei Dinge zusammenzupassen scheinen, dann oft deswegen, weil wir sie in der Vergangenheit immer wieder als zusammengehörig erlebt haben. Vertraute Kombinationen prägen unseren Sinn für das, was harmoniert. Wittgenstein zufolge setzt unsere Gewohnheit die Maßstäbe für das, was wir als passend erleben. Was miteinander innig assoziiert ist, assoziiert wurde, das scheint zueinander zu passen.76 Seine Hände scheinen zu seinem Gesicht zu passen. Es mag ja sein daß Gesicht und Hände etwas gemeinsam haben, daß auf sie beide eine Charakteristik anwendbar wäre. – Aber wir kennen diesen Menschen mit diesem Gesicht und diesen Händen, dadurch werden sie zu einem Ganzen. Sozusagen zu einem Berg in der Landschaft unsres Lebens. Jede andere Zusammenstellung würde uns schockieren. – Man könnte auch sagen, durch unsere Gewohnheit wird nun diese Kombination zu einem Standard; sie wird sozusagen gesetzgebend. 73

PU II, 531. PU II, 538. 75 TS 213, 9. 76 PU II, 503. 74

29 Jede andere Zusammenstellung würde uns unrichtig erscheinen. Durch unsre Gewohnheit werden diese Formen zu einem Paradigma; sie erhalten sozusagen Gesetzkraft. (’Die Macht der Gewohnheit’?)77

1.3 Ähnlichkeiten und Vergleiche Wie bereits gezeigt, ist Wittgenstein der Ansicht, dass das Bemerken von Ähnlichkeiten für gewisse Arten der Aspektwahrnehmung eine zentrale Rolle spielt. Einen Aspekt wahrzunehmen, heißt oft, eine Ähnlichkeit wahrzunehmen. Wir bemerken einen Aspekt an einem Gegenstand, wenn uns auffällt, dass er „aussieht wie …“. Jemand kann aussehen „wie sein Bruder“, ein Kaffeefleck kann aussehen „wie ein lächelndes Gesicht“ und eine Melodie kann klingen „wie eine Frage“. Severin Schroeder zufolge ist das Aspektsehen wesentlich ein Sehen von Ähnlichkeiten: „seeing-as is essentially noticing a resemblance, an internal relation between an object and other objects, real or imagined.“78 Diese These ist allerdings zu reduktionistisch: Nicht jedes Aspektsehen ist ein Sehen von Ähnlichkeiten. Man denke etwa an das Doppelkreuz: Wer ein weißes Kreuz auf schwarzem Grund sieht, sieht nicht eine Ähnlichkeit zwischen der Figur und einem weißen Kreuz auf schwarzem Grund. Das Sehen von Ähnlichkeiten mag für bestimmte Fälle des Aspektsehens charakteristisch sein, jedoch nicht für alle. Nicht immer sehen wir einen Gegenstand anders, nachdem uns seine Ähnlichkeit mit einem anderen Gegenstand aufgefallen ist. Denken wir an zwei ähnliche Stühle oder zwei verwandte Schriftarten. Wenn uns die Ähnlichkeit zwischen den beiden Stühlen oder den zwei Schriftarten auffällt, muss es nicht zwingend zu einem Aspektwechsel kommen. Wir können die Ähnlichkeit von x mit y bemerken, ohne dadurch x anders zu sehen. Und man kann die Ähnlichkeit zwischen x und y sehen, ohne x als Variation von y oder y als Variation von x zu sehen.79 Aspektwahrnehmung ist, wie die Relation der Ähnlichkeit, nicht transitiv: Wenn ich x als y und y als z wahrnehmen kann, dann heißt das nicht, dass ich auch x als z wahrnehmen kann. Aspektwahrnehmung ist auch nicht 77

MS 131, 157. Schroeder, A Tale Of Two Problems, 359. 79 Vgl. BrB, 200: „Ich höre Variationen über ein Thema und sage: ‚Ich sehe noch nicht, inwiefern das eine Variation des Themas ist, aber ich merke eine gewisse Ähnlichkeit (Analogie).’ Bei gewissen charakteristischen Punkten der Variation ‚wusste ich, wo ich im Thema bin’.“ 78

30 zwingend symmetrisch: Wenn ich x als Variation von y wahrnehmen kann, dann heißt das nicht, dass ich y auch als Variation von x wahrnehmen kann. Ich kann y in x sehen, ohne x in y sehen zu können. So kann ich die Schreie einer Lachmöwe als Variation eines menschlichen Lachens hören, jedoch nicht das Lachen eines Menschen als Variation von Möwengeschrei. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass mir das Lachen von Menschen vertrauter ist als die Schreie einer Lachmöwe. Das menschliche Lachen ist ein vertrautes Muster, mit dem ich anderes vergleiche. Bei Möwen mag das anders sein. Das Beispiel der Möwen zeigt übrigens, dass unsere Fähigkeit, Aspekte wahrzunehmen, keineswegs auf den Gesichtssinn beschränkt ist. Es gibt nicht nur Sehen-als, sondern auch Hören-als. Für das Verstehen von Musik ist es unerlässlich, Ähnlichkeiten zu hören und bestimmte Tonfolgen als Variationen anderer Tonfolgen zu hören. Auch bei Gerüchen, Geschmacksqualitäten und taktilen Eindrücken können wir Aspekte wahrnehmen. Man denke daran, dass ein edler Wein anders schmeckt, nachdem uns ein Kenner auf einzelne Geschmacksnoten hingewiesen hat. Auch Düfte können wir, je nach Deutung, anders wahrnehmen: Erst riecht es in der Wohnung „nach Risotto“, dann aber erinnert man sich, dass „Speck und Bohnen“ auf dem Speiseplan steht und der Aspekt „Speck“ tritt in den Vordergrund. Und um die Reihe zu vervollständigen: Es gibt auch taktiles Aspektempfinden. Etwas Kaltes können wir als heiß empfinden, etwa wenn uns jemand mit einem Eiswürfel am Rücken berührt und uns im Glauben lässt, er berühre unseren Rücken mit einem heißen Eisen. Diese Täuschung hält jedoch nicht lange an und der Eindruck wechselt seinen Aspekt von „heiß“ zu „kalt“. Auch die eigenen Körperempfindungen und Gefühle können wir entsprechend unterschiedlicher Deutungen anders erleben. Die Aspektwahrnehmung umfasst also unser gesamtes Erleben. 1.3.1 Zwischenglieder Je unterschiedlicher zwei Muster sind, desto schwieriger ist es, das eine als Variation oder als Grenzfall des anderen wahrzunehmen. Zwischenglieder sind hilfreich, um auf Ähnlichkeiten aufmerksam zu machen.80 Ein Zwischenglied hat Ähnlichkeit mit beiden Mustern und dient so gleichsam als Ähnlichkeitsbrücke. Es zeigt an, wie man von dem einen Muster durch eine Variation zum andern gelangen kann. Durch Zwischenglieder entstehen 80

PU, § 122.

31 Ähnlichkeitsreihen. In einer Ähnlichkeitsreihe sind zwei Glieder umso ähnlicher, je näher sie zusammen liegen, d.h. je weniger Glieder zwischen ihnen liegen. Zwischenglieder und Ähnlichkeitsreihen können verdeutlichen, in welcher Hinsicht und zu welchem Grad zwei Muster als ähnlich beurteilt werden können. Betrachten wir ein Beispiel:

A

B

C

Zeichnung A hat mit Zeichnung C keine auffallende Ähnlichkeit. Das Zwischenglied B jedoch zeigt, wie C als Variation von A gesehen werden kann, und umgekehrt. Es bestimmt zugleich die Hinsichten, in denen A und C ähnlich sind. Zwischenglieder sind Wittgenstein zufolge dazu da, „um unser Auge für einen formalen Zusammenhang zu schärfen“81. 1.3.2 Vergleiche als unmittelbarerer Ausdruck des Erlebens Wenn wir ein gezeichnetes Gesicht sehen, erkennen wir in der Regel auf Anhieb, welchen Ausdruck das Gesicht hat, ob es z.B. glücklich, traurig, wütend, nachdenklich oder hinterlistig aussieht. Oft sind wir jedoch nicht imstande zu sagen, worauf dieser Ausdruck basiert, wodurch er zustande kommt. Wir könnten das Gesicht weder zeichnen, noch könnten wir die Gesichtszüge genau beschreiben. Man kann eine Veränderung eines Gesichts merken und mit den Worten beschreiben, das Gesicht habe einen härteren Ausdruck angenommen, – und doch nicht im Stande sein, die Äußerung mit räumlichen Begriffen zu beschreiben. Dies ist ungeheuer wichtig.82

Wenn wir die Zeichnung eines Gesichts betrachten, dann schauen wir nicht auf Details der Linienführung und fragen uns anschließend, welcher Gemütszustand wohl durch dieses Gesicht ausgedrückt wird. Wir entziffern

81 82

F, 37. BPP I, § 919. Vgl. BPP I, 1077; MS 131, 42-43.

32 die Zeichnung nicht, sondern sehen das Gesicht unmittelbar als trauriges, fröhliches oder nachdenkliches.83 „Man sieht Gemütsbewegung.“ – Im Gegensatz wozu? – Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun (wie der Arzt, der eine Diagnose stellt) auf Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt sein Gesicht unmittelbar als traurig, glücksstrahlend, gelangweilt, auch wenn man nicht im Stande ist, eine andere Beschreibung der Gesichtszüge zu geben. – Die Trauer ist im Gesicht personifiziert, möchte man sagen.84

Aus der Tatsache, dass wir ein Gesicht unmittelbar als traurig oder fröhlich erleben, folgt eine wichtige Einsicht: Eine detaillierte Beschreibung der Gesichtszüge kann nicht einfangen, wie und als was wir das Gesicht sehen. Wer mit dem Begriff der Nachdenklichkeit nicht vertraut ist, kann ein nachdenkliches Gesicht nicht als nachdenklich sehen. Das gleiche gilt für den Charakter von Schrifttypen: „Kindisch“ kann eine Schrift beschreiben, also das was ich sehe, aber ‚kindisch’ ist nicht ein rein visueller Begriff.85 Aber wäre es nicht auch richtig zu sagen, dass wer nicht unsern Begriff des ‚zaghaften’, ‚kindischen’, ‚gemeinen’, hätte, die Schrift, den Gesichtsausdruck, nicht so empfinden könnte wie wir, selbst wenn er einen Begriff hat, der immer dort anwendbar ist, wo ‚zaghaft’ z.B. es ist?86 Wir reagieren anders auf den zaghaften Gesichtsausdruck, als der, der ihn nicht als zaghaft (im vollen Sinne des Wortes) erkennt.87

Es gibt Melodien, die man am treffendsten mit dem Ausdruck „klagend“ beschreibt. Jede andere Beschreibung wäre ungeeignet, um einzufangen, wie und als was wir die Melodie hören. Der Ausdruck „klagend“ beschreibt also am genauesten, was wir hören, obwohl der Ausdruck, wie Wittgenstein schreibt, nicht „rein akustisch“ ist. Eine Beschreibung sei rein akustisch, „wenn man nach ihr das Gehörte reproduzieren kann und alle andern Beziehungen aus dem Spiel gelassen werden“.88 Eine rein akustische Beschreibung einer Melodie wäre etwa die Benennung der auf83

Man ist geneigt, mit Rudolf Arnheim zu sagen: „expression can be described as the primary content of vision“ (Expression, 194). 84 Z, § 225. 85 LSP, § 737. 86 LSP, § 741. 87 LSP, § 744. 88 LSP, § 749.

33 einander folgenden Töne einschließlich aller musikalischen Parameter, wie Tempo, Dynamik, Intonation etc. Eine solche Beschreibung könnte aber nicht einfangen, wie wir die Melodie hören, nämlich als klagend. Wittgenstein möchte mit diesen Überlegungen auf Folgendes hinaus: Der Ausdruck „klagend“ deutet das Gehörte nicht, sondern er beschreibt es. Wir hören die Melodie als klagend. Wir hören einer Deutung gemäß. Man könnte also sagen: Eine rein akustische Beschreibung kann das Gehörte nicht einfangen, weil wir Menschen nicht rein akustisch hören. Wittgenstein zufolge sind wir fälschlicherweise geneigt zu denken, dass Vergleiche indirekte Beschreibungen sind und wir dasjenige, was wir durch einen Vergleich beschreiben, immer auch ohne ihn beschreiben können. In einigen Fällen mag das so sein: Wer von der Farbe Rot als der Farbe des Blutes spricht, der beschreibt durch einen Vergleich, was er auch ohne Vergleich beschreiben könnte. Wittgenstein möchte aber zeigen, dass das nicht für alle Vergleiche gilt. Manchmal sei ein Vergleich die direkteste, genaueste und einzige Beschreibung für die Art und Weise, wie wir etwas wahrnehmen oder erleben. Ein Vergleich kann der unmittelbare Ausdruck eines Erlebnisses sein: Da möchte man vielleicht antworten: Die Beschreibung der unmittelbaren Erfahrung, des Seherlebnisses, mittels einer Deutung ist eine indirekte Beschreibung. „Ich sehe die Figur als Kiste“ heißt: ich habe ein bestimmtes Seherlebnis, welches mit dem Deuten der Figur als Kiste, oder mit dem Anschauen einer Kiste, erfahrungsgemäß einhergeht. Aber wenn es das hieße, dann müsste ich’s wissen. Ich müsste mich auf das Erlebnis direkt, und nicht nur indirekt beziehen können. (Wie ich von Rot nicht unbedingt als der Farbe des Blutes reden muss.)89 In allen jenen Fällen kann man sagen, man erlebe einen Vergleich. Denn der Ausdruck des Erlebnisses ist, dass wir zu einem Vergleich geneigt sind. Zu einer Paraphrase. Es ist ein Erlebnis, dessen Ausdruck ein Vergleich ist […] Der Ausdruck des Erlebnisses durch den Vergleich ist eben der Ausdruck, der unmittelbare Ausdruck. Ja, das Phänomen, das wir beobachten und das uns interessiert.90

Wenn wir ein rechtwinkliges Dreieck als halbes Rechteck sehen, dann ist die Äußerung „Ich sehe das Dreieck als halbes Rechteck“ nicht nur die 89 90

PU II, 519. BPP I, §§ 317-318.

34 einzige, sondern auch die beste und direkteste Beschreibung dessen, was wir sehen.

Wenn uns auffällt, dass ein Freund eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Bruce Willis hat, dann können wir dieses Erlebnis nicht anders beschreiben als durch die Worte „Er sieht aus wie Bruce Willis“. Jede andere Beschreibung könnte nicht einfangen, was wir sehen, wenn uns die Ähnlichkeit auffällt. Der Vergleich ist, wie Mulhall schreibt, „an essential means of expressing exactly what we see“91. Jacques Bouveresse und Malcolm Budd haben diesen Punkt ebenfalls hervorgehoben: Die philosophische Hauptschwierigkeit besteht vielleicht darin zuzugeben, daß bei unserem Versuch, bestimmte Eindrücke zu „analysieren“, eine Antwort der Art „Das ist wie…“ oder „Das ist als ob…“ die unmittelbarste Beschreibung unserer Empfindung sein kann. Ein guter Vergleich kann manchmal der beste Grund sein. Um einen Eindruck zu charakterisieren, den wir angesichts eines Bildes oder eines Bildausschnitts haben, kann es oftmals am angemessensten sein, auf ein anderes Bild zu verweisen, eine Passage aus einem Gedicht aufzusagen oder ein bestimmtes Musikstück zu nennen.92 The claim that any description of what we see other than a description in terms of coloured shapes is an indirect description, replaceable in principle by a direct description in ‚properly visual’ terms – in terms of colour and shape – is certainly mistaken.93

1.4 Deuten, wahrnehmen und erleben Wenn wir etwas als etwas sehen, so liegt dieses Sehen-als gleichsam zwischen einem normalen Sehen und einem Deuten. Budd schreibt: „the concept of seeing an aspect lies between the concept of seeing colour or shape

91

Mulhall, Seeing Aspects, 249. Bouveresse, Poesie und Prosa, 179. 93 Budd, Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, 98. 92

35 and the concept of interpreting: it resembles both of these concepts, but in different respects“94. Das Wahrnehmen eines Aspekts hat Wittgenstein zufolge, wie das Sehen, „echte Dauer“95 und Intensität96. Man kann also sagen, ab wann, wie lange und wie ausgeprägt man einen Aspekt wahrnimmt.97 Das Sehen-als gleicht in dieser Hinsicht dem „Zustand“ des Sehens. Wittgenstein fragt: Sehe ich wirklich jedesmal etwas anderes, oder deute ich nur, was ich sehe, auf verschiedene Weise? Ich bin geneigt, das erste zu sagen. Aber warum? – Deuten ist ein Denken, ein Handeln; Sehen ein Zustand.98

Es gibt jedoch auch wichtige Unterschiede zwischen dem Aspektsehen und dem normalen Sehen. Wittgenstein stellt fest: „Rot und grün kann ich nur sehen, aber nicht hören, – die Traurigkeit aber, soweit ich sie in seinem Gesicht sehen kann, kann ich sie auch in seiner Stimme hören“99. Zudem hat das Wahrnehmen eines Aspekts Ähnlichkeit mit einem „Denken“ oder „Handeln“: Wir können zwar nicht wählen, wie die Dinge für uns aussehen, ob grün oder blau, rund oder eckig. Wohl aber können wir wählen, als was wir die Dinge sehen: „Das Sehen des Aspekts und das Vorstellen unterstehen dem Willen. Es gibt den Befehl ‚Stell dir das vor!’ und den: ‚Sieh die Figur jetzt so!’; aber nicht: ‚Sieh das Blatt jetzt grün’“100.

Oft können wir willentlich beeinflussen, welchen Aspekt wir sehen. So können wir die Hasen-Ente wahlweise als Enten- oder als Hasenkopf sehen. Der Spielraum ist jedoch eingeschränkt: Wir können die Hasen-Ente weder als Krokodil noch als Warnsymbol sehen. Man kann sich aber eine Kultur denken, in der die Zeichnung als Warnsymbol gedeutet und gesehen wird. Prinzipiell können wir jeden Gegenstand alles Beliebige bedeuten lassen. Was es dazu braucht, sind die entsprechenden Abmachungen. Man kann 94

Budd, Wittgenstein’s Philosophy of Psychology, 97. BPP II, § 144, § 388; Z, § 45. 96 BPP, § 507; BPP I, § 324. 97 Vgl. Z, § 48; BPP II, § 388. 98 PU II, 550. 99 MS 138, 7b. 100 PU II, 551; Vgl.: LSP, § 452: „Der Aspekt ist vom Willen abhängig. Darin gleicht er der Vorstellung.“ 95

36 einen Autounfall modellhaft nachstellen, wobei man für die einzelnen Autos Steine verwendet: Der kleine Stein steht für den Opel Corsa, der große für den VW Bus. Man kann die Steine zwar als Autos deuten, jedoch nicht als Autos sehen – auch mit noch so viel Übung. Deswegen ist Deuten-als nicht dasselbe wie Sehen-als. Eine chinesische Geste als Ausdruck von Zärtlichkeit zu deuten, ist etwas anderes, als in ihr einen Ausdruck von Zärtlichkeit zu sehen. In typischen Fällen von Deuten können wir zwischen besseren und schlechteren, oder gar zwischen richtigen und falschen Deutungen unterscheiden, etwa wenn wir eine altägyptische Inschrift als Gebetsschrift oder die aufziehenden Wolken am Himmel als Zeichen für Regen deuten. Wenn wir dagegen etwas als etwas sehen, dann können wir dabei in der Regel nicht falsch liegen. Mit dem Satz „Ich sehe die Zeichnung als Hasen“ äußern wir unser Erlebnis, ähnlich wie wenn wir sagen „Mir ist kalt“ oder „Ich sehe ein leuchtendes Rot“.101 Wenn wir deuten, stellen wir eine Vermutung an, sprechen eine Hypothese aus, die sich nachträglich als falsch erweisen kann. Sagen wir „Ich sehe diese Figur als ein F“, so gibt es dafür, so wie für den Satz „Ich sehe ein leuchtendes Rot“, nicht Verifikation oder Falsifikation. Diese Art Ähnlichkeit ist es, nach der wir ausschauen müssen, um den Gebrauch des Wortes „sehen“ in jenem Zusammenhang zu rechtfertigen.102

In dieser Hinsicht unterscheiden sich Aspektwahrnehmungen von Illusionen, etwa von der „Müller-Lyer Illusion“, bei der zwei gleich lange Linien als ungleich lang wahrnehmen:

Hier täuschen uns die Sinne. Wir sehen die Längen als unterschiedlich lang, wissen jedoch, dass sie gleich lang sind. Bei der Hasenente dagegen 101

Vgl. LSP, § 176. Vgl. Glock, Wittgenstein-Lexikon, 45: „Berichte von Aufleuchten eines Aspekts sind nicht Beschreibungen einer inneren Erfahrung, die das Wahrnehmen begleitete – sei es direkt oder indirekt (deutend) –, sondern Ausdrucksäusserungen, spontane Reaktionen auf das, was wir sehen.“ 102 BPP I, § 8. Vgl. BPP II, § 547.

37 täuschen uns die Sinne nicht. Wir sehen nicht einen Hasen und wissen, dass wir in Wirklichkeit eine Ente oder bloße Striche vor uns haben.103 Es gibt jedoch auch Fälle von Aspektwahrnehmung, bei denen man sich täuscht: etwa dann, wenn man im Dunkeln die Silhouette eines Baumes als Silhouette eines Menschen sieht und sie infolgedessen auch für die Silhouette eines Menschen hält. Hier gibt es eine „richtige“ und eine „falsche“ Sichtweise. Wer jedoch sagt „Ich sehe die Silhouette dieses Baumes als Silhouette eines Menschen“, der kann damit nicht falsch liegen, denn er behauptet nicht, wie etwas ist, sondern drückt aus, wie er etwas sieht. In dieser Hinsicht gleicht die Äußerung „Ich sehe das als Silhouette eines Menschen“ einer Äußerung wie „Mir ist kalt“.104 Bei beiden Äußerungen handelt es sich um sogenannte „Ausdrucksäußerungen“, wie Glock schreibt.105 Ihre Rolle besteht nicht darin, etwas zu beschreiben, sondern ein Erlebnis kundzutun. Sie gleichen einer unwillkürlichen Reaktion. Wer beim Betrachten der Hasen-Ente äußert „Jetzt ist es eine Ente!“, der drückt damit sein Seherlebnis aus. Äußerungen von erlebten Aspektwechseln haben also eine expressive Funktion.106 Oben habe ich gezeigt, dass das Aspektsehen Wittgenstein zufolge weder ein Sehen noch ein Deuten ist, sondern ein Sehen entsprechend einer Deutung: Aspektsehen heißt einer Deutung gemäß sehen. Wenn wir in einer Zeichnung einen Aspekt sehen, dann deuten wir die Zeichnung nicht nur, sondern sehen sie auch entsprechend unserer Deutung: „Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“107 Es gibt auch Fälle, in denen man aufgrund einer bestimmten Vorstellung, die man mit einem Gegenstand verbindet, diesen zwar nicht anders wahrnimmt, aber anders erlebt. Man sieht nicht einer Deutung gemäß, sondern empfindet oder erlebt einer Deutung gemäß. Solche Fälle des Erlebens-als haben mehr Ähnlichkeit mit einem Deuten als mit einem Sehen. Sie unterscheiden sich von Kipp- und Rätselbildern wie der Hasen-Ente oder dem Dalmatinerbild insofern, als sich unser Wahrnehmungseindruck gar nicht oder nur äußerst geringfügig verändert. So sieht derjenige, der eine Geste versteht, diese nicht wirklich anders als jemand, der mit der Geste nichts 103

Ein weiterer Unterschied zwischen Illusionen und Aspekten ist, dass wir bei Illusionen in der Regel keine Aspektwechsel herbeiführen können. Wir können die beiden Linien der Müller-Lyer Illusion nicht als gleichlang sehen. Egal, wie lange wir üben. 104 Vgl. Kapitel 1.4. 105 Glock, Wittgenstein-Lexikon, 45. Vgl. 56. 106 Vgl. Mulhall, On Being in the World, 11. 107 PU II, 519.

38 anzufangen weiß. Vielmehr erlebt er die Geste anders – er erlebt sie als ausdrucksvoll, wogegen der Verständnislose sie als ausdruckslos erlebt. Die Mimik eines Chinesen sieht für Chinesen nicht wirklich anders aus als für uns – zumindest nicht so, wie die Hasen-Ente für denjenigen, der den Hasen sieht, anders aussieht als für denjenigen, der die Ente sieht. Auch Musik klingt nicht anders, sondern man erlebt oder empfindet sie anders, wenn man sie nicht nur nebenbei hört, sondern voll und ganz auf die Musik konzentriert ist und emotional mit ihr mitgeht. Wittgenstein spricht, insbesondere wenn es um das Erleben von Ausdrucksqualitäten geht, oft nicht von „sehen“, sondern von „empfinden“.108 Er fragt sich etwa auch, ob Gefühle wie Furcht oder Abscheu die Wahrnehmung eines Gegenstandes verändern können: Wie wäre es aber, wenn ich im Freien plötzlich einen Löwen gewahr würde? […] Das Stärkste in mir ist die Furcht. – Und nun frage ich wieder: Wie war es mit dem Gesichtseindruck? War er von andrer Art als der, den ich im zoologischen Garten empfange?109 Dieses Gesicht ist unverschämt, dieses Gesicht widert mich an, dieser Geruch ist abscheulich. Gehört die Abscheulichkeit zur Geruchsempfindung? Wie entscheidet man’s? Man könnte z.B. so fragen: „Können zwei Menschen die gleiche Geruchsempfindung haben, aber einer sie abscheulich finden, der andre nicht?“ […] Aber hier gibt es kein anerkanntes Kriterium. Sehe ich also Unverschämtheit? Ja und Nein. Beides lässt sich rechtfertigen.110

Hier haben wir es mit Grenzfällen zu tun. Unsere Begriffe haben aber keine scharfen Grenzen. Es ist nicht festgelegt, was hier zu sagen sinnvoll ist und was nicht: ob wir hier das Objekt anders wahrnehmen, wie im Fall der Hasenente, oder das Wahrgenommene bloß anders erleben.111 Wittgenstein weist aber nicht nur auf Grenzfälle zwischen Sehen und Erleben, sondern auch zwischen Erleben und bloßem Deuten hin. So gibt es Deutungen, die unser Erleben, wenn überhaupt, nur sehr geringfügig verändern: 108

LSP, § 766: „Wer nur ‚traurige’ Gesichter gesehen hätte, könnte sie nicht als traurig empfinden“. 109 LSP, § 589. 110 LSP, § 757. 111 Schroeder meint dagegen, der Fall sei klar: „Emotive aspects are not really seen, but only felt“ (A Tale Of Two Problems, 370).

39 Ich kann das Würfelschema als Schachtel sehen, aber nicht; einmal als Papier-, einmal als Blechschachtel. – Was sollte ich dazu sagen, wenn jemand mich versicherte, er könnte die Figur als Blechschachtel sehen? Sollte ich antworten, das sei kein Sehen? Aber, wenn nicht sehen, könnte er es also empfinden?112

1.5 Aspektwahrnehmung und Verhalten 1.5.1 Sind Aspekte privat? Wittgenstein schreibt über die Hasen-Ente: „Der Kopf, so gesehen, hat mit dem Kopf, so gesehen, auch nicht die leiseste Ähnlichkeit – obwohl sie kongruent sind.“113 Und tatsächlich: Wer die Ente sieht und gebeten wird, eine Kopie dessen zu zeichnen, was er sieht, wird exakt dasselbe zeichnen wie derjenige, der den Hasen sieht und das Gesehene abzeichnet. Eine Zeichnung dessen, was man sieht, zeigt also nicht, ob der Zeichner den Hasen oder die Ente sieht. Die Art, wie man zeichnet, jedoch schon: Die kleine Kerbe am Hinterkopf der Ente trägt nichts zum Ausdruck und zur Physiognomie des Entenkopfes bei, sie ist allerdings von entscheidender Wichtigkeit für die Physiognomie des Hasen, da sie bestimmt, wie Mund und Nase des Hasen aussehen. Jemand, der den Hasen sieht und die Zeichnung abzeichnet, wird also an dieser Stelle möglichst einfühlsam und exakt arbeiten, so dass der Gesichtsausdruck seines Hasen möglichst genau derjenige des Originals ist. Wer dagegen die Ente sieht, wird keine große Sache machen um die Kerbe am Hinterkopf. Auch in den Beschreibungen und im Verhalten einer Person zeigt sich, wie sie die Zeichnung sieht. Was die eine Person als „Schnabel“ bezeichnet, nennt die andere „Ohren“.114 Werden beide gefragt, wohin das Tier blickt, sagt die eine Person „nach rechts“, die andere „nach links“. Eine Person, die den Hasen sieht, wird das Bild aber nicht nur anders beschreiben als die Person, die die Ente sieht, sondern auch andere Vergleiche ziehen und beim Betrachten des Bildes vielleicht eine andere Mimik machen. Ob jemand ein Würfelschema als Darstellung eines dreidimensionalen Körpers oder als sich überschneidende Linien in der Ebene sieht, zeigt sich spätestens dann, wenn er ein Modell des Dargestellten herstellt:115 112

BPP II, § 492. PU II, 522. 114 Vgl. PU II, 525. 115 PU, § 74. 113

40

Wenn ich weiß, daß es verschiedene Aspekte des Würfelschemas gibt, kann ich den Andern, um zu erfahren, was er sieht, noch außer der Kopie ein Modell des Gesehenen herstellen, oder zeigen lassen; auch wenn er gar nicht weiß, wozu ich zwei Erklärungen fordere. Beim Aspektwechsel verschiebt sich’s. Es wird das der einzig mögliche Erlebnisausdruck, was früher nach der Kopie vielleicht eine unnütze Bestimmung schien, oder auch war.116

Wittgenstein betont an mehreren Stellen, dass sich in dem, was eine Person sagt und tut, zeigt, wie sie ein Bild sieht. Worauf wir achten müssen, sind die „feinen Abschattungen des Benehmens“117, die feinen Unterschiede im Verhalten. Im Verhalten und im Reden einer Person zeigt sich, ob sie einen Aspekt wahrnimmt oder nicht. Aspekte sind also nichts Unzugängliches oder Privates. Sie sind auch nicht subjektiv in dem Sinne, dass sie bloß in unseren Köpfen existieren würden, so wie eine Wahnvorstellung eines Schizophrenen. Aspekte sind in den meisten Fällen allen Menschen zugänglich. Wir alle können sie wahrnehmen. Eine Person, die noch nie etwas Ähnliches wie einen Hund gesehen hat, wird zwar große Mühe haben, den Dalmatiner zu entdecken. Doch auch eine solche Person kann man lehren, den Dalmatiner zu sehen: Man zeigt ihr einen echten Dalmatiner und danach das Rätselbild, mit der Versicherung, in dem Bild sei ein sehr ähnlicher Hund zu sehen. 1.5.2 Erlebnis und Fähigkeit Wittgenstein schreibt in den Philosophischen Untersuchungen: „Ein ‚innerer Vorgang’ bedarf äußerer Kriterien“118. Eine Person, die etwas Bestimmtes erlebt, zeigt in der Regel auch bestimmte Verhaltensweisen. Wenn wir behaupten, eine Person „habe Schmerzen“, „sei erleichtert“, 116

PU II, 524. PU II, 537; 541. 118 PU, § 580. 117

41 „vermisse ihre Familie“ oder „höre ein Musikstück mit Verständnis“, dann stützen wir uns dabei auf bestimmte Verhaltensweisen oder Äußerungen dieser Person, d.h. auf von außen wahrnehmbare Kriterien. Wittgenstein unterscheidet dabei zwischen Kriterien und Symptomen: Während Kriterien begrifflich verknüpft sind mit dem, wofür sie Kriterien sind, sind Symptome kausal verknüpft mit dem, wofür sie Symptome sind. Wittgenstein zufolge sind wir allerdings oft nicht in der Lage zu entscheiden, ob es sich bei einem bestimmten Merkmal um ein Symptom oder um ein Kriterium handelt. Im Blue Book schreibt er: Mit „Symptom“ bezeichne ich eine Erscheinung, die erfahrungsgemäß mit der Erscheinung zusammen auftritt, die unser definierendes Kriterium ist. Demnach ist die Äußerung ‚Jemand hat Angina, wenn sich dieser Bazillus in ihm befindet’ eine Tautologie oder eine unscharfe Definition von „Angina“. Aber die Äußerung „Jemand hat Angina, wenn er einen entzündeten Hals hat“ ist eine Hypothese. Wenn man in der Praxis gefragt würde, welche Erscheinung das definierende Kriterium und welche ein Symptom ist, wäre man in den meisten Fällen nicht fähig, diese Frage zu beantworten, es sei denn, man fällt eine willkürliche Entscheidung ad hoc.119

Eric Loomis zufolge handelt es sich bei Wittgensteins Kriterien um „grammatically good evidence“. Wer den Ausdruck „Zahnschmerzen“ verstehe, der wisse auch, dass es ein Indiz für Zahnschmerzen ist, wenn jemand sich die Wangen hält: [C]riteria are meaning-constitutive in virtue of being „grammatically good evidence“ – evidence that is conceptually or grammatically tied to certain expressions, but whose presence does not entail the truth of any statement containing those expressions. Thus cheek-holding might be said to grammatically good evidence for a toothache because it is part of what we mean by „toothache“ that cheek-holding counts as evidence of a toothache […] Knowing what „toothache“ means may thus require knowing that cheekholding is evidence for someone having one; this is a consequence of saying the evidence is grammatically good. But since there is no entailment from the evidence to any assertion, someone can manifest cheek-holding in the absence of a toothache […]120

119 120

BlB, 48. Loomis, Criteria, 166.

42 Wittgenstein vertritt im Rahmen seiner späten Philosophie der Psychologie die Auffassung, dass Beschreibungen des Erlebens mit Beschreibungen des Verhaltens begrifflich verknüpft sind.121 Innere Erlebnisse gehen zwingend mit bestimmten Verhaltensdispositionen einher – sie äußern sich im Verhalten, wobei gilt: „eine Äußerung ist kein Symptom“122. Das Verhalten ist also nicht nur kausal mit dem Erleben verbunden, sondern begrifflich: Jemandem eine Empfindung zuschreiben, heißt, ihm auch bestimmte Verhaltensdispositionen zuzuschreiben, und umgekehrt. Man kann sich zwar verstellen oder unaufrichtig sein. Aber: Wer Schmerz empfindet, würde sich anders verhalten, wenn er sich nicht verstellte. Erlebnisse gehen mit Fähigkeiten einher: Der Farbsehende hat nicht nur andere Erlebnisse als der Farbenblinde, sondern auch andere Fähigkeiten. Wittgenstein schreibt: Das Substrat dieses Erlebnisses ist das Beherrschen einer Technik. […] Nur von einem, der das und das kann, gelernt hat, beherrscht, hat es Sinn zu sagen, er habe das erlebt.123

Fehlen einer Person bestimmte Fähigkeiten, dann schreiben wir ihr gewisse Erlebnisse nicht zu. Man würde von jemandem, der taub ist, nicht sagen, er „fühle den Groove der Musik“, auch wenn er seinen Kopf zufälligerweise genau zum Takt der Musik vor und zurück bewegt. Wittgenstein überträgt diese Überlegungen auf das Wahrnehmen von Aspekten: Dass eine Person in einer Zeichnung nicht nur Linien, sondern einen dreidimensionalen Körper sieht, muss sich in ihren Dispositionen und Fähigkeiten zeigen – in wirklichen ebenso wie in hypothetischen Situationen. Wer in einem Bild nicht nur Flecken, sondern einen Dalmatiner sieht, kann anders mit dem Bild umgehen und neigt zu anderen Verhaltensweisen: Von dem, der die Zeichnung als Tier sieht, werde ich mir manches andere erwarten, als von dem, der nur weiß, was sie darstellen soll.124 Was uns vom räumlichen Sehen der Zeichnung überzeugt, ist eine gewisse Art des ‚sich Auskennens’. Gewisse Gesten z.B., die die räumlichen Verhältnisse andeuten: feine Abschattungen des Verhaltens.125 121

Glock, Wittgenstein-Lexikon, 79 (Stichwort: Behaviorismus). BPP I, § 13. 123 PU II, 544. 124 PU II, 538. 122

43 Nur von dem würde man sagen, er sähe es jetzt so, der imstande ist, mit Geläufigkeit gewisse Anwendungen von der Figur zu machen.126 Der Ausdruck des Aspekts ist der Ausdruck einer Auffassung (also einer Behandlungsweise, einer Technik); aber gebraucht als Beschreibung eines Zustands.127

Von einer Person zu sagen, sie nehme einen Aspekt wahr, heißt Wittgenstein zufolge, ihr auch gewisse Fähigkeit und Verhaltensdispositionen zuzuschreiben: „Thus a logical condition of one’s having an experience of aspect perception is that one has mastered a certain technique“128, wie Schroeder schreibt. 1.6 Bedeutung erleben Wittgenstein zufolge hat auch unser Erleben von gesprochenen und geschriebenen Wörtern eine Ähnlichkeit mit dem Wahrnehmen von Aspekten. Wir hören die Äußerung „Weiche!“ anders, je nachdem, ob wir sie als Aufforderung verstehen, aus dem Weg zu gehen, oder als Bitte, die Frühstückseier sollen nicht hart sein. Wir erleben den Satz „Es war ein schöner Ball“ anders, je nachdem, ob wir dabei an eine Tanzveranstaltung oder an einen Fußball denken. Es scheint, als würden wir nicht nur das Wort, sondern auch seine Bedeutung erleben, da wir zweideutige Wörter je nach Deutung anders erleben. Wittgenstein spricht in diesem Zusammenhang von dem „vertrauten Gesicht“, von der „Physiognomie“, der „Atmosphäre“, dem „Geruch“, dem „Feld“, dem „Hof“, der „Tiefe“, dem „Blick“ und dem „Dunstkreis“ eines Wortes. Was mit diesen Ausdrücken gemeint ist, ist die „Empfindung, es [das Wort] habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung“129. Für eine Person, die kein Deutsch versteht, klingen die Wörter der deutschen Sprache anders als für uns. Das Wort „Liebe“ hat für sie keinen vertrauten Klang, es scheint nicht „mit seiner Bedeutung angefüllt“130 zu sein, 125

PU II, 534-535. PU II, 544. Vgl. LSP, § 471. 127 BPP I, § 1025. 128 Schroeder, A Tale of Two Problems, 357. 129 PU II, 459, 500, 560, 561; LSP, § 366, § 726. 130 PU II, 554. 126

44 wie Wittgenstein schreibt. Für sie klingt das Wort so, wie es für uns klingt, nachdem wir es unzählige Male vor uns hergesagt haben: wenn es seine Bedeutung verloren zu haben scheint und nur noch „bloßer Klang“131 ist. Manchmal kommt es uns so vor, als würde ein Name zu der Person passen, die ihn trägt. Wittgenstein schreibt, dass der Name „Schubert“ für ihn zu Schuberts Musik und zu seinem Gesicht zu passen scheint.132 Der Name wird zum „Bild des Trägers“133, „zu einer Geste; zu einer architektonischen Form“134, so Wittgenstein. Tatsächlich scheint der Name Schuberts nur deswegen zu seiner Musik zu passen, weil wir in der Vergangenheit oft den Namen und die Musik Schuberts aufeinander bezogen haben oder weil sie uns im gleichen Kontext begegneten. Die Ursache des Phänomens liegt also in unseren „Assoziationen und Erinnerungen“135. Wörter sind, wie Glock schreibt, „assoziiert mit anderen Wörtern, Situationen und Erfahrungen und können diese Verbindungen assimilieren“136. Aufgrund dieser Assimilation scheint der Ausdruck „Liebe“ zur Liebe zu passen und das Wort „Hass“ zum Hass. Das Wort „Liebe“ ist jedoch – wie die meisten sprachlichen Ausdrücke – beliebig: Wir hätten die Liebe auch „Hass“ nennen können. Wenn wir allerdings ein Spiel erfänden, in dem wir die beiden Bezeichnungen vertauschen, dann würden wir erleben, wie schwierig es ist, mit dem Äußern der Worte „Ich hasse dich“ zu meinen „Ich liebe dich“. Das zeigt unsere „Anhänglichkeit“137 an die Worte, mit denen wir kommunizieren.138 Es scheint, als habe das Wort „Liebe“ seine Bedeutung in sich aufgesogen, als würde es das Gefühl der Liebe verkörpern, wie ein Kuss oder eine Geste Liebesgefühle ausdrücken und verkörpern kann: Denk nur an die Worte, die Liebende zu einander sprechen! Sie sind mit Gefühlen ‚geladen’. Und sie sind gewiß nicht – wie Fachausdrücke – durch beliebige andere Laute auf eine Vereinbarung hin zu ersetzen. Ist das nicht, weil sie Gebärden sind? Und eine Gebärde muß nicht angeboren sein; sie 131

PU II, 553. PU II, 555. Vgl. BPP I, § 336: „Der Namenszug Goethes mutet mich goetheisch an: Insofern ist er wie ein Gesicht, denn vom Gesicht Goethes könnte ich dasselbe sagen.“ 133 LSP, 451. 134 TS 245, 199. 135 PU II, 555. 136 Glock, Wittgenstein-Lexikon, 46. 137 PU II, 560. 138 Vgl. VB, 524: „Esperanto. Das Gefühl des Ekels, wenn wir ein erfundenes Wort mit erfundenen Ableitungssilben aussprechen. Das Wort ist kalt, hat keine Assoziationen und spielt doch ‚Sprache’. Ein bloß geschriebenes Zeichensystem würde uns nicht so anekeln“. 132

45 ist anerzogen, aber eben assimiliert. – Aber ist das nicht Mythus?! – Nein. Denn die Merkmale der Assimilation sind eben, dass ich dies Wort gebrauchen und lieber keines, als ein aufgedrungenes verwenden will, und ähnliche Reaktionen.139 Ein Wort ist uns z.B. der Träger eines Tons geworden; und wir können nicht, auf Befehl, ein anderes Wort im selben Ton aussprechen.140

Alle diese Phänomene machen uns geneigt, von einem „Erleben der Bedeutung“ eines Wortes zu sprechen. Dies scheint uns die passende Redeweise zu sein, um das auszudrücken, was wir erleben, wenn wir das vertraute Gesicht eines Wortes wahrnehmen oder ein zweideutiges Wort wie „Bank“ unterschiedlich hören können, je nachdem, wie wir es verstehen. Wir möchten sagen, ein Wort „habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung“141, sei „ganz mit seiner Bedeutung angefüllt“142. Dies ist allerdings eine „bildliche“143 Redeweise. Wer sagt, er „erlebe die Bedeutung eines Wortes“, der verwendet den Ausdruck „Bedeutung“ in einer sekundären Weise.144 In der Regel meinen wir mit dem Wort „Bedeutung“ nämlich nicht etwas, das wir erleben können. Das will ich erläutern: Ein Wort zu verstehen, seine Bedeutung zu kennen, heißt für Wittgenstein nicht, beim Sprechen oder Hören des Wortes etwas Bestimmtes zu erleben oder vorzustellen, sondern, das Wort in unterschiedlichen Kontexten korrekt verwenden zu können.145 Es ist nämlich denkbar, dass eine Person, die ein Wort nicht verwenden kann, zufällig genau dieselben Erlebnisse und Assoziationen hat, wenn sie das Wort hört, wie jemand, der das Wort korrekt verwenden kann. Von einer solchen Person würden wir aber nicht sagen, sie verstehe das Wort. Erlebnisse sind also nicht hinreichend für das Verstehen eines Worts bzw. für das Erfassen der Bedeutung. Es ist auch denkbar, dass zwei Sprecher mit einem Wort unterschiedliche Vorstellungsbilder und Erlebnisse verbinden, das Wort aber dennoch in gleicher Weise verwenden. Obwohl das Wort andere Assoziationen in 139

LSP, § 712. LSP, § 713. 141 PU II, 560. 142 PU II 554. 143 PU II, 554. 144 PU II, 556. 145 Nach Glock ist sprachliches Verstehen bei Wittgenstein „ein Können, die Beherrschung der Techniken des Gebrauchs von Wörtern in zahllosen Sprechtätigkeiten“ (Wittgenstein-Lexikon, 360). 140

46 ihnen weckt, würden wir sagen, beide verwenden das Wort in der gleichen Bedeutung. Wittgenstein macht auch darauf aufmerksam, dass wir beim Aussprechen und Hören von Wörtern in den meisten Kontexten gar keine Vorstellungen haben. Trotzdem haben die Sätze eine Bedeutung und wir verstehen sie. Erlebnisse sind also auch nicht notwendig für das Verstehen. Wittgensteins Fazit lautet: „Die Bedeutung ist nicht das Erlebnis beim Hören oder Aussprechen des Wortes“146. Vielmehr gelte für eine „große Klasse von Fällen […]: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“147. Die Bedeutung eines Satzes ist nicht die Gesamtheit der Vorstellungen und Empfindungen, die das Aussprechen und Hören des Satzes begleiten, sondern die Regeln seines Gebrauchs in der Sprache. Wir verstehen die feinen Bedeutungsunterschiede zwischen den Ausdrücken „Pferd“ und „Gaul“ oder zwischen „Polizist“ und „Bulle“ nicht deswegen, weil wir andere Assoziationen mit den Wörtern verknüpfen, sondern weil wir wissen, in welchen Situationen es angebracht ist, „Gaul“ oder „Bulle“ und nicht „Pferd“ oder „Polizist“ zu sagen. Dass die Ausdrucke „Pferd“ und „Gaul“, wie Gottlob Frege meint, eine unterschiedliche „Färbung“ haben, zeigt sich daran, dass es unangemessen sein kann, den einen Ausdruck anstelle des anderen zu verwenden. Wir haben einen Sinn für feinste Bedeutungsnuancen eines Ausdrucks, weil wir die feinen Verästelungen seines Gebrauchs kennen und die Fähigkeit haben, den Ausdruck in zahllosen Kontexten korrekt zu verwenden. Wir haben einen Überblick über die „weitverzweigten Zusammenhänge“148 eines Wortes mit anderen Wörtern und mit den Anlässen der Verwendung und können „unzählige Übergänge“149 machen, wie Wittgenstein meint. Das Bedeutungserleben äußert sich Wittgenstein zufolge also – ebenso wie das Wahrnehmen von Aspekten – in bestimmten Fähigkeiten. Wer die Bedeutungen von Wörtern erlebt, der kann anderes als derjenige, der diese Erlebnisse nicht hat. Für den alltäglichen Umgang mit Sprache spielen Bedeutungserlebnisse eine untergeordnete Rolle. Wichtig werden diese Erlebnisse aber, wenn Konnotationen, der Klang der Worte und die ästhetischen Qualitäten der Sprache im Zentrum stehen: beim Bilden und Verstehen von Metaphern, in Poesie und Literatur.

146

PU II, 500. PU, § 43. 148 PU II, 561. 149 BPP I, § 1078. 147

47 1.7 Aspekt- und Bedeutungsblindheit 1.7.1 Aspektblindheit Wittgenstein fragt sich, ob es Menschen geben könnte, die nicht in der Lage sind, Aspekte wahrzunehmen. Wie würde sich eine solche „Aspektblindheit“ äußern? Worin unterscheidet sich ein Aspektblinder von einem normalen Menschen? Wittgenstein führt die Figur des Aspektblinden ein, um zu klären, was wir meinen, wenn wir von einem „Sehen-als“ sprechen. Ich möchte die entscheidenden Stellen zitieren: Es erhebt sich nun die Frage: Könnte es Menschen geben, denen die Fähigkeit, etwas als etwas zu sehen, abginge – und wie wäre das? Was für Folgen hätte es? – Wäre dieser Defekt zu vergleichen mit Farbenblindheit, oder mit dem Fehlen des absoluten Gehörs? – Wir wollen ihn „Aspektblindheit“ nennen – und uns nun überlegen, was damit gemeint sein könnte. (Eine begriffliche Untersuchung.) Der Aspektblinde soll die Aspekte [des Doppelkreuzes] nicht wechseln sehen. Soll er aber auch nicht erkennen, dass das Doppelkreuz ein schwarzes und ein weißes Kreuz enthält? Soll er also die Aufgabe nicht bewältigen können: „Zeig mir unter diesen Figuren solche, die ein schwarzes Kreuz enthalten“? Nein. Das soll er können, aber er soll nicht sagen: „Jetzt ist es ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund!“150 Soll er für die Ähnlichkeit zweier Gesichter blind sein? Aber also auch für die Gleichheit, oder angenäherte Gleichheit? Das möchte ich nicht sagen. – Wer Gestaltgleichheit nicht erkennen könnte, würden wir „geistesschwach“, nicht „blind“ nennen.151 Er soll Befehle von der Art „Bring mir etwas, was ausschaut wie das!“ ausführen können.152 Soll er das Würfelschema nicht als Würfel sehen können? Daraus würde nicht folgen, dass er es nicht als Darstellung (z.B. als Werkzeichnung) eines Würfels erkennen könnte.153 Es könnte Menschen geben, die in einer Photographie höchstens eine Art von Diagramm sähen, wie wir etwa eine Landkarte betrachten; wir können 150

PU II, 551-552. LSP, § 780. 152 PU II, 552. 153 LSP, § 779. 151

48 daraus verschiedenes über die Landschaft entnehmen, aber nicht, z.B., die Landschaft beim Ansehen der Karte bewundern, oder ausrufen „Welch herrliche Aussicht!“. Der ‚Gestaltblinde’ muß abnorm in dieser Art sein.154

Der Aspektblinde weiß zwar, was eine Zeichnung darstellt, sieht in ihr jedoch nicht das Dargestellte. Er behandelt ein Bild „wie eine Werkzeichnung“; er liest es Wittgenstein zufolge „wie eine Blaupause“.155 Wir dagegen betrachten ein „Bild an unserer Wand als das Objekt selbst (Mensch, Landschaft, etc.), welches dargestellt ist“156. Der Aspektbilde kennt zwar die kommunikative Rolle von Gesichtsausdrücken und Gesten, er sieht in ihnen aber nicht unmittelbar, was sie ausdrücken. Er sieht die Trauer und die Wut nicht in den Gesichtern, sondern deutet diese lediglich als traurig und wütend. Wittgenstein betont, dass wir in Symbolen ihre Bedeutung zu sehen meinen. Dies ist für ihn eine Form von Aspektwahrnehmung und ein Phänomen, das die Gestaltpsychologie nach Köhler nicht angemessen würdigt: „Es ist – im Gegensatz zu Köhler – gerade eine Bedeutung, die ich sehe“ 157. Dies ist, was dem Aspektblinden fehlt: Er kennt zwar die Bedeutung, erlebt sie aber nicht. Er erlebt die Welt nicht so, wie er sie deutet. Ein Aspektblinder liest und entziffert nicht nur Bilder, Sätze, Gesichter und Gesten, sondern die ganze Welt.158 Die Dinge haben für ihn kein vertrautes Gesicht. Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass wir einen Gegenstand anders erleben, wenn wir mit ihm vertraut sind: Denk dir, [einer] hätte nie ein Tier gesehen: Wäre sein Seherlebnis dann ein anderes, als das eines, dem die Tiergestalt […] vertraut ist? (Ich möchte gerne die Frage bejahen, weiß aber nicht, warum.)159

154

BPP I, § 170. PU II, 537. 156 PU II, 538. Vgl. BPP I, § 1018: „Man hängt Bilder, stellt Photographien auf von Landschaften, Innenräumen, Menschen, und betrachtet sie nicht, wie Werkzeichnungen. Man liebt, sie anzusehen, wie die Gegenstände selbst; man lächelt die Photographie an, wie den Menschen, den sie zeigt. Wir lernen nicht, eine Photographie verstehen, wie eine Blaupause.“ 157 BPP I, 869. 158 Vgl. BPP II, § 447; PU II, 537. 159 LSP, § 539. Vgl. § 540. 155

49 Sieht einer ein Lächeln, das er nicht als Lächeln erkennt, nicht so versteht, anders, als der es versteht? Er macht es z.B. anders nach. (Verstehen der Kirchentonarten.)160 „Wenn man weiß, was es ist, schaut’s anders aus.“ – Wieso?161

Wir erleben vertraute Gegenstände anders als unvertraute.162 Der Aspektblinde dagegen erlebt Gegenstände, die er kennt, nicht anders als unbekannte Gegenstände. Für ihn sieht der normale Schriftzug des Wortes „Freude“ nicht vertrauter aus als der gespiegelte. Beide sehen für ihn gleich „ordentlich“ oder gleich „unordentlich“ aus – wie das chinesische Zeichen für Freude, einmal richtig geschrieben und einmal auf dem Kopf stehend.163

Wenn wir die alte Lederjacke des verstorbenen Vaters im Schrank finden, dann möchten wir sagen: „Wenn ich diese Jacke sehe, dann sehe ich meinen Vater vor mir“. Der Eindruck, den die Jacke hinterlässt, ist mit Assoziationen und Erinnerungen gleichsam geschwängert. Auch bei Parfüms gibt es dieses Phänomen. Ein Parfüm riecht nach der Person, mit der man den Duft assoziiert: „Bei Chanel Nr. 5 muss ich unweigerlich an Jenny denken“. Solche Phänomene sind dem Aspektbilden unbekannt. Er sieht in der alten Jacke nicht seinen Großvater und Chanel Nr. 5 riecht nicht nach Jenny. Er weiß lediglich, dass es sich bei der Jacke um diejenige des Großva160

LSP, § 575. LSP, § 577. 162 Wittgenstein betont allerdings auch, dass uns nicht alles Vertraute jederzeit einen Eindruck der Vertrautheit macht. Wir erleben die Gewöhnlichkeit der Dinge nicht, sie fällt uns nicht immer auf: „Macht alles, was uns nicht auffällt, den Eindruck der Unauffälligkeit? Macht uns das Gewöhnliche immer den Eindruck der Gewöhnlichkeit?“ (PU, § 600; Vgl. § 596). Wir können den Eindruck der Vertrautheit auch nicht wegdenken oder hinzudenken, ebenso wenig wie wir die Schönheit wegdenken können: „Es ist sehr schwer, die Bekanntheit von dem Eindruck des Gesichts zu trennen […] Wie, wenn man sagte: ‚Denke dir diesen Schmetterling, genau so wie er ist, aber hässlich, statt schön’“ (Z, 198-199). 163 Vgl. LSP, § 598. 161

50 ters und bei Chanel Nr. 5 um das Parfüm von Jenny handelt. Gegenstände haben für ihn aber keine Bedeutsamkeit, keinen Ausdruck und keinen Charakter.164 1.7.2 Bedeutungsblindheit Wittgenstein fragt sich, welches Verhältnis ein Aspektblinder zu den Wörtern unserer Sprache hat. Welche Konsequenzen hat es, wenn jemand die Bedeutungen der Wörter zwar kennt, sie aber nicht erleben kann? Was also fehlt dem „Bedeutungsblinden“? Diese Frage ist für Wittgenstein in Verbindung mit der Aspektblindheit von besonderem Interesse: Die Wichtigkeit dieses Begriffes [Aspektblindheit] liegt in dem Zusammenhang der Begriffe ‚Sehen des Aspekts’ und ‚Erleben der Bedeutung eines Wortes’. Denn wir wollen fragen: „Was ginge dem ab, der die Bedeutung eines Wortes nicht erlebt? Was ginge z.B. dem ab, der die Aufforderung, das Wort ‚sondern’ auszusprechen und es als Zeitwort [Verb] zu meinen, nicht verstünde, – oder einem, der nicht fühlt, dass das Wort, wenn es zehnmal nach der Reihe ausgesprochen wird, seine Bedeutung für ihn verliert und bloßer Klang wird?165

Wittgenstein zufolge äußert sich das Bedeutungserleben, wie jedes Erleben, in unserem Verhalten und Sprechen, nämlich in der Art, „wie wir Worte wählen und schätzen“166. Das Phänomen des Bedeutungserlebens ist von zentraler Bedeutung, wenn es um die ästhetischen Qualitäten der Sprache geht, also insbesondere in Literatur und Poesie. Der Bedeutungsblinde, für den Worte kein vertrautes Gesicht haben, ist blind für diese ästhetischen Qualitäten der Sprache. Er überfliegt ein Gedicht wie einen Zeitungsartikel, ohne Gespür für den Ausdruck einzelner Wörter, ohne Sensibilität für Wortklänge, Satzrhythmen und Konnotationen. Gedichte sind für ihn umständliche Beschreibungen. Wittgenstein nennt ihn deswegen „prosaisch“167. „Wenn ich ein Gedicht, eine Erzählung mit Empfindung lese, so geht doch etwas anderes in mir vor, was nicht vorgeht, wenn ich die Zeilen nur der In164

Diese Begriffe werden im zweiten Kapitel erläutert. PU II, 553. 166 PU II, 560. 167 BPP I, § 342. 165

51 formation wegen überfliege.“ – Auf welche Vorgänge spiele ich an? – Die Sätze klingen anders. Ich achte genau auf den Tonfall. Manchmal hat ein Wort einen falschen Ton, tritt zu sehr, oder zu wenig hervor. Ich merke es, und mein Gesicht drückt es aus.168

Die Tatsache, dass man ein Gedicht nicht paraphrasieren kann, zeigt nach Paul Johnston, dass Worte in Gedichten zu Gesten werden, die verkörpern, was sie bedeuten: A prose translation of [a] poem would not have the same impact and insofar as this is the case, this shows that language too does not operate exclusively on the level of explicit or paraphrasable meaning. As in music, metre and rhythm contribute to the gesture the poem makes, as does the particular choice of words, for replacing a word in a poem with a synonym may undermine the poem’s force and alter its significance.169

Auch mit Sprachwitzen, die mit der Mehrdeutigkeit von Wörtern spielen, kann der Bedeutungsblinde nichts anfangen: „Wenn man die Bedeutung der Wörter nicht erlebte, wie könnte man dann über Wortwitze lachen?“170, fragt Wittgenstein. Beim folgenden Wortwitz wird ein Aspektblinder noch nicht einmal schmunzeln: „Bist du per Anhalter gekommen?“ – „Warum?“ – „Du siehst mitgenommen aus.“

Wittgenstein nennt in einem anderen Zusammenhang ein anspruchsvolleres Beispiel für unsere Sprachsensibilität. Im Zentrum steht dabei unser Sprachrhythmusgefühl: Er schreibt, manche Sätze müsse man im richtigen Tempo lesen, um sie genau zu verstehen. Seine eigenen Sätze etwa müssten langsam gelesen werden: „Manchmal kann ein Satz nur verstanden werden, wenn man ihn im richtigen Tempo liest. Meine Sätze sind alle langsam zu lesen.“171 Es ist, als bestimmte die Form den Inhalt des Satzes, als könne man also, was man sagen möchte, nur so und nicht anders sagen. Was der Satz sagt, zeigt sich an ihm. Er verkörpert, was er bedeutet, wie eine Geste: 168

PU II, 553. Vgl. MS 134, 77: „Das Sprechen der Musik. Vergiß nicht, daß ein Gedicht, wenn auch in der Sprache der Mitteilung abgefaßt, nicht im Sprachspiel der Mitteilung verwendet wird“. 169 Johnston, Rethinking the Inner, 112. 170 LSP, § 711. 171 VB, 531.

52 Kann denn etwas merkwürdiger sein, als dass der Rhythmus des Satzes für sein genaues Verständnis von Wichtigkeit sei soll! Es ist, als teilte uns der etwas mit, der den Satz als Mitteilung ausspricht, aber auch der Satz als bloßes Beispiel.172

Um ein Gefühl für sprachliche Feinheiten zu entwickeln, muss man mit einer Sprache vertraut sein. Sprachliche Nuancen einer Fremdsprache entgehen uns, selbst wenn wir uns in dieser Sprache verständigen können. Während man wissenschaftliche Texte in einer Fremdsprache problemlos versteht, bereiten Gedichte mehr Mühe. Um die sprachliche Schönheit eines Textes schätzen zu können, muss man sich in der Sprache, in welcher der Text geschrieben ist, zuhause fühlen. Der Bedeutungsblinde aber gleicht jemandem, der keine sprachliche Heimat hat. Mulhall schreibt: [W]hat Wittgenstein has in mind when imagining a linguistic version of aspect-blindness is a more generalized version of the attitude we often have to a second language. In this respect, the aspect-blind have no native language; for them, there is no mother tongue.173

Der Bedeutungsblinde hat Schwierigkeiten, Wörter in neuartigen Kontexten flexibel zu verwenden. Es fällt ihm daher schwer, neue Metaphern zu bilden. Er richtet sich bei der Verwendung von Wörtern an Regeln aus, nicht aber an dem „Gesicht“ der Situationen, in denen wir dieselben Wörter verwenden.174 Für uns haben die Anlässe der Verwendung eines Wortes etwas „Charakteristisches“, wir sehen in ihnen „eine Art Regelmäßigkeit“, wie Wittgenstein schreibt.175 So wie der Aspektblinde ein trauriges Gesicht deutend liest und auf die Trauer schließt, so liest der Bedeutungsblinde die Situationen und sucht nach Merkmalen, aufgrund deren ein sprachlicher Ausdruck angemessen ist. Wir dagegen müssen uns die Regeln der korrekten Verwendung sprachlicher Ausdrücke nicht vor Augen halten, während wir sprechen. Wir sehen, dass es sich bei dieser Tätigkeit um ein „Spiel“, bei dieser Handlung um einen Fall von „Vergebung“ und bei jenem Verhalten um den Ausdruck von „Kummer“ handelt. Die passenden Ausdrücke drängen sich uns gleichsam instinktiv auf.176 172

BPP I, §§ 1090-1091. Mulhall, Seeing Aspects, 260. 174 BPP II, 221. 175 LSP, § 968. Vgl. LSP, § 966. 176 BPP I, § 944. 173

53 1.8 Nehmen wir immer Aspekte wahr? Wittgenstein zufolge sollte man „zwischen dem ‚stetigen Sehen’ eines Aspekts und dem ‚Aufleuchten’ eines Aspekts unterscheiden“177. Eine Person, welche die Hasen-Ente von Anfang an nur als Hasenkopf gesehen hat, hatte kein Erlebnis des Aufleuchtens des Hasen-Aspekts. Sie sieht den Aspekt Hase „ständig“. Wittgenstein schreibt: „Die Aspekte im Aspektwechsel sind die, die die Figur unter Umständen ständig in einem Bild haben könnte“178. Wenn die Person nicht weiß, dass es sich bei der Figur um eine Kippfigur handelt, dann ist ihr auch nicht bewusst, dass sie bloß einen Aspekt sieht. Sie selbst kann daher nicht sagen, sie sehe die Zeichnung als Hasen. Eine andere Person dagegen schon. Ich konnte also den H[asen]-E[nten]-Kopf von vornherein einfach als Bildhasen sehen […] Ich hätte auf die Frage „Was siehst du da?“ nicht geantwortet: „Ich sehe das jetzt als Bildhasen.“ Ich hätte einfach die Wahrnehmung beschrieben; nicht anders, als wären meine Worte gewesen „Ich sehe dort einen roten Kreis“. – Dennoch hätte ein Anderer von mir sagen können: „Er sieht die Figur als Bild-H[asen]“.179

Mit einer Äußerung wie „A sieht x als y“ präsupponiert der Sprecher, dass er glaubt, man könne x auch nicht als y sehen. Wittgenstein meint, es sei nicht nur irreführend, sondern schlicht sinnlos, auf das Essbesteck zu zeigen und zu sagen: „Ich sehe das als Messer und Gabel“.180 Als was sollten wir Messer und Gabel sonst sehen?! Damit etwas ein Aspekt ist, muss es alternative Sichtweisen geben, wie Glock schreibt: „Sehen-als verlangt einen Kontrast zwischen zwei verschiedenen Weisen, einen Gegenstand zu sehen“181. Nennen wir diese Bedingung die Kontrastbedingung. Die Äußerung „A sieht x als y“ ist also nur für jemanden verständlich, der weiß, dass es eine alternative Sichtweise von x gibt.182 An einem Beispiel von Wittgenstein kann gezeigt werden, dass eine alternative Sichtweise nicht nur möglich, sondern im jeweiligen Kontext 177

PU II, 520. PU II, 531. 179 PU II, 520-521. 180 PU II, 521. 181 Glock, Wittgenstein-Lexikon, 46. 182 LSP, § 518; BPP I, § 1028; 178

54 auch relevant sein muss, damit von einem „Sehen-als“ gesprochen werden kann. Denken wir uns eine fremde Kultur, deren Menschen noch nie eine Fotografie gesehen haben und unsere „Bildsprache“183 nicht verstehen:184 Auf einer Stadtfotografie sehen diese Menschen bloße Flecken. Eine andere Sichtweise als die unsere ist also möglich. Dennoch sagen wir nicht „Ich sehe das als Bild einer Stadt“, wenn wir eine Fotografie betrachten, auf der eindeutig eine Stadt zu sehen ist. In den meisten Kontexten gibt es nämlich keine relevante alternative Sichtweise der Fotografie.185 Auch wenn man also zugibt, dass man alles anders sehen kann, sollte man nicht schlussfolgern, dass jedes Sehen ein Sehen von Aspekten ist. Von einem Sehen-als sprechen wir erst dann, wenn es für den jeweiligen Kontext relevante alternative Sichtweisen gibt. Wenn einen Aspekt wahrzunehmen heißt, einen Gegenstand einer Deutung gemäß wahrzunehmen, dann folgt aufgrund der Kontrastbedingung, dass es möglich sein muss, diesen Gegenstand auch keiner oder einer anderen Deutung gemäß wahrzunehmen. Und hier kommt der Aspektblinde ins Spiel. Er deutet die Dinge zwar, nimmt diese jedoch nicht entsprechend seiner Deutung wahr. Er ist nicht in der Lage, die uns umgebenden Dinge – Zeichnungen, Bilder, Wörter, Gesichter, Gesten, aber auch eine Blume oder eine einzelne Linie – so zu erleben, wie wir das können: geschwängert mit Interpretationen, Erinnerungen und Assoziationen. Aber nehmen wir die Gestalt- und Ausdrucksqualitäten der Dinge immer wahr? Klar ist: Wir können die Welt anders wahrnehmen als der Aspektblinde. Das heißt jedoch nicht, dass wir das immer und überall tun. Meist achten wir nämlich nicht auf den Charakter und Ausdruck der Dinge, die uns tagtäglich umgeben. Wenn wir einen wissenschaftlichen Text lesen, dann lassen wir die einzelnen Wörter nicht in der Weise auf uns wirken, wie wenn wir ein Gedicht lesen. Wir achten auch nicht darauf, ob die Schriftart oder einzelne Buchstaben einen „verspielten“, „strengen“ oder „mürrischen“ Eindruck machen. Wir betrachten Bilder nicht immer mit der gleichen Sensibilität und Intensität, und beim Hören von Musik können wir 183

PG, 171. Vgl. PU II, 538: „Wir können uns leicht Menschen vorstellen, […] die von Photographien abgestoßen würden, weil ihnen ein Gesicht ohne Farbe, ja vielleicht ein Gesicht in verkleinertem Maßstab unmenschlich vorkäme.“ 185 In der Erkenntnistheorie behaupten Vertreter der Theorie relevanter Alternativen, dass eine Person, die weiß, dass p, nicht alle möglichen, sondern nur alle relevanten Alternativmöglichkeiten ausschließen können muss. (Vgl. Austin, Other Minds; Dretske, Epistemic Operators) 184

55 nicht immer in gleichem Maße emotional „mitgehen“.186 Wenn wir an einem Blumenbeet vorbeigehen, achten wir normalerweise nicht auf die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Blumen – darauf, wie die eine traurig den Kopf hängen lässt, während die andere sich freudig zur Sonne reckt. Wittgenstein weist darauf hin, dass wir zumindest manche Aspekte nicht nur stärker und schwächer, sondern zeitweise gar nicht wahrnehmen. Es gibt also unzählige Situationen, in denen wir uns nicht von einem Aspektblinden unterscheiden. Im Alltag entgehen uns insbesondere diejenigen Aspekte, deren Wahrnehmung Sensibilität oder Phantasie erfordert: Kann der Aspekt nicht, so zu sagen, frischer oder unbestimmter werden? […] Es gibt so etwas, wie das Aufflackern des Aspekts. So, wie man etwas mit intensiverem und weniger intensivem Ausdruck spielen kann. Mit stärkerer Betonung des Rhythmus und der Struktur, oder weniger starker.187 Wir können in ein menschliches Gesicht schauen, das wir genau kennen, ohne irgend einen Eindruck zu haben, sozusagen ganz stumpfsinnig; und von da bis zu einem starken Eindruck gibt es alle Stufen.188 Ich möchte sagen, dass dasjenige, was hier aufleuchtet, nur so lange stehen bleibt, als eine bestimmte Beschäftigung mit dem Objekt dauert. („Sieh, wie es blickt!“) (Das Bemerken der Familienähnlichkeit dieses Gesichts mit einem jetzt nicht anwesenden.)189 Ein Aspekt leuchtet auf und verhallt. Soll er uns bewußt bleiben, so müssen wir ihn immer wieder anschlagen.190

In der Regel gilt: Wenn uns ein Aspekt auffällt, nehmen wir diesen zunächst sehr intensiv wahr. Meist flacht das Erlebnis mit der Zeit jedoch ab. Schroeder wählt einen treffenden Vergleich: „The experience of aspect

186

BGM, 81; LA, 29. BPP, § 507. 188 PG, 174. Vgl. PU II, 539; BPP I, § 419: „Wenn ich Feld- und Gartenblumen miteinander vergleiche, so kann ich mir des Unterschieds des Charakters bewusst werden; aber das sagt nicht, dass ich auch schon früher außer der Blume ihren Charakter wahrgenommen habe, oder dass ich sie doch in irgendeinem Charakter habe wahrnehmen müssen“; BPP, 71: „Erstens ist klar, dass die Tendenz, das Wort als etwas intimes, seelenvolles, zu betrachten, nicht immer da ist, oder im gleichen Maße da ist.“ 189 LSP, § 692. 190 LSP, § 438; Vgl. BPP II, 511; PU II, 555. 187

56 perception is like the experience of recognition, which also does not last all the time I know who somebody is“191. Manchmal tritt ein Aspekt erst dadurch hervor, dass er mit einem anderen kontrastiert wird: Der Charakter einer Schriftart etwa tritt stärker hervor, wenn ihr eine andere Schriftart gegenüber gestellt wird. Und wenn in einem Musikstück in Dur ausnahmsweise eine kleine Terz gespielt wird, dann kommt der melancholische Charakter dieser Note viel intensiver zur Geltung als in einem Mollstück, in dem immer nur die kleine Terz erklingt. Wittgenstein schreibt: Wir werden uns des Aspekts nur im Wechsel bewusst. Wie wenn sich Einer nur des Wechsels der Tonart bewusst ist, aber kein absolutes Gehör hat.192 Wer nur einen Gesichtsausdruck gesehen hätte, könnte den Begriff des ‚Gesichtsausdrucks’ nicht besitzen. ‚Gesichtsausdruck’ gibt’s nur im Mienenspiel. Wer nur traurige Gesichter gesehen hätte, könnte sie nicht als traurig empfinden.193 Wenn nicht der Wechsel des Aspekts vorläge, so gäbe es nur eine Auffassung, nicht ein so oder so sehen.194

Wittgenstein möchte also nicht sagen, dass wir immer und überall Aspekte sehen und die Welt durchgehend anders wahrnehmen als ein Aspektblinder. Man sollte Strawson nicht zustimmen, wenn er schreibt: „the striking case of the change of aspects merely dramatizes for us a feature (namely seeing as) which is present in perception in general.”195 Selbst wenn alle Wahrnehmung begrifflich strukturiert sein sollte, wie einige Philosophen im Anschluss an Kant behaupten, so hieße das nicht, dass wir immer As191

Schroeder, A Tale of Two Problems, 356. BPP I, § 1034; BPP I, § 538. 193 LSP, § 766. 194 BPP II, § 436; BPP, § 512. Schroeder hat Stellen wie diese im Blick, wenn er schreibt: „Thus, although Wittgenstein is prepared to speak of continuous aspect perception when using the term in a dispositional sense, in other passages, using the term in an episodic sense, as denoting a particular experience, he denies the ubiquity of aspect perception […] In short, Wittgenstein appears to shift between two different accounts of aspect perception“ (Schroeder, A Tale of Two Problems, 356). Die These, dass die Probleme, mit denen Wittgenstein ringt, darauf zurückzuführen seien, dass er den Ausdruck „Aspektsehen“ zweideutig verwendet, scheint mir jedoch unplausibel zu sein. 195 Strawson, Imagination and Perception, 64. 192

57 pekte sehen.196 Einerseits gilt: Ohne Alternativen keine Aspekte. Darum können wir unser Besteck nicht als Besteck sehen. Andererseits möchte Wittgenstein darauf hinweisen, dass wir zu den Dingen eine bestimmte Einstellung einnehmen können, die wir nicht zwingend einnehmen müssen – eine Sichtweise, die dem Aspektblinden nicht offen steht.197 Wir können die Ausdrucksqualitäten der Gegenstände auf uns wirken lassen, synästhetische Qualitäten erleben, mit Bewegungen mitgehen und uns in Gesichter, Gesten und Formen einfühlen. Wir können es aber auch lassen. Schroeder liegt somit richtig, wenn er gegen Strawson meint, „the feature that interested Wittgenstein in aspect change is not present in perception in general”198. Man könnte sagen, was dem Aspektblinden auch fehle, sei die Möglichkeit, eine ästhetische Einstellung zu den Dingen einzunehmen.199 So schreibt Wittgenstein: „Man sagt, Einer habe kein ‚musikalisches Gehör’, und ‚Aspektblindheit’ ist (etwa) mit dieser Art Gehörlosigkeit zu vergleichen“200. Der Aspektblinde ist, wie Glock feststellt, „von wichtigen Formen ästhetischer Kommunikation ausgeschlossen“201. Ihm mangelt es an ästhetischer Sensibilität.202 Er ist nicht nur blind für die Ausdrucksqualitäten von Gesichtern, sondern auch für den Ausdruck von Musik und Kunst im Allgemeinen, für den Charakter eines Designs und für die Bedeutsamkeit von Materialien und Farben.203

196

Vgl. McFee, Wittgenstein on Art and Aspects, 271: „So Wittgenstein, in introducing the idea of seeing-as, is not just making the point that all perception is conceptmediated, although that point is acknowledged.“ 197 Glock, Wittgenstein-Lexikon, 47: „Was für einfache Wahrnehmung konstitutiv ist, ist, daß Aspektwahrnehmung möglich ist“. 198 Schroeder, A Tale of Two Problems, 357. 199 Wittgenstein spricht von der „Anteilnahme“ an dem, was man wahrnimmt, oder auch von der „lebhaften Teilnahme“ an einer Interpretation (BPP II, § 261; § 536). 200 LSP, § 783. Vgl. LSP, § 782. 201 Glock, Wittgenstein-Lexikon, 46. 202 Mulhall spricht dem Aspektblinden, wie mir scheint, eindeutig zu viele Fähigkeiten ab, wenn er schreibt: „The aspect-blind would stumble as clumsily and as hesitantly around in relation to another individual as they do in relation to language. […] And, in treating other people as we would robots, their own behaviour in relation to those others would be reduced to precisely the same status – inflexible, lacking in fluidity and smoothness, devoid of those fine shades which constitute the individual character of a person, the specific physiognomy of his words and deeds“ (On Being in the World, 197). 203 Diese Begriffe werden in Kapitel 2 erläutert.

58 1.9 Sekundäre Bedeutung Wenn wir von einer „traurigen Melodie“, einem „hellen Klang“ oder einer „warmen Farbe“ sprechen, dann verwenden wir die Ausdrücke „traurig“, „hell“ und „warm“ Wittgenstein zufolge in sekundärer Weise. Wir verwenden den Ausdruck „traurig“ in erster Linie, um Gemütszustände von Personen zu beschreiben. Das ist seine primäre Verwendungsweise. Wenn wir dagegen Gesichter und Musikstücke als „traurig“ bezeichnen, dann verwenden wir das Wort in sekundärer Weise. Sekundär ist diese Art der Verwendung deswegen, weil man den Ausdruck „traurige Melodie“ nur versteht, wenn man weiß, was ein „trauriger Mensch“ ist. Nur jemand, der das Wort „traurig“ auf Personen anwenden kann, kann es verwenden, um Musik zu beschrieben. Die sekundäre Verwendung ist also eine abgeleitete Verwendung. Nur wer den Satz „Gelb ist eine helle Farbe“ gebrauchen kann, versteht die Aufforderung, die Vokale a, e, i, o, u entsprechend ihrer „Helligkeit“ anordnen: Man könnte hier von ‚primärer’ und ‚sekundärer’ Bedeutung eines Worts reden. Nur der, für den das Wort jene Bedeutung hat, verwendet es in dieser.204 [D]ie sekundäre Verwendung besteht darin, daß ein Wort, mit dieser primären Verwendung, nun in dieser neuen Umgebung gebraucht wird.205

Wittgensteins prominentestes Beispiel für eine sekundäre Verwendung ist zugleich sein skurrilstes und darf hier nicht fehlen: Die Wochentage haben für mich ein jeder einen besondern Charakter, beinahe eine besondere Farbe. Montag, Mittwoch, Freitag sind fett, die andern, ausgenommen den Sonntag, mager; Dienstag hat etwas gelbliches und schwarzes [sic!]. Nun glaube ich zu wissen, woher diese Empfindungen rühren. Sie kommen von zwei Lehrerinnen, die seinerzeit abwechselnd zu mir an jenen Tagen kamen. Aber obwohl ich die Sache so erkläre, so habe ich die Empfindungen gehabt, ehe mir die Erklärung eingefallen war. Und ich will sie daher, ohne auf die Erklärung einen Wert zu legen, betrachten.206

204

PU II, 557. LSP, § 797. 206 MS 131, 173-174. 205

59 Der Mittwoch sei also fett, im Unterschied zum Dienstag. Woher diese Empfindungen rühren, sei irrelevant. Das Beispiel verdeutlicht, worauf ich weiter unten hinweisen werde: Es mögen Ursachen gefunden werden für die Neigung, den Mittwoch als „fett“ zu bezeichnen. Was uns aber fehlt, sind Gründe, die den Vergleich rechtfertigen, bestimmte Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zwischen einem korpulenten Menschen und dem Tag Mittwoch. Betrachten wir genauer, was es heißt, ein Wort in sekundärer Weise zu verwenden. Wittgenstein schreibt: Nur wer ein Wort in seiner primären Bedeutung verwenden kann, kann es in sekundärer Weise verwenden. Daraus folgt: Ein Blinder, der lernt, zwischen „hellen“ und „dunklen“ Klängen zu unterscheiden, wird unter „hellen Klängen“ nicht dasselbe verstehen wie wir. Wenn er den Ausdruck „hell“ auf Klänge anwendet, verwendet er ihn nicht in sekundärer Weise, da er nicht zwischen hellen und dunklen Farben zu unterscheiden gelernt hat. Wittgenstein wählt ein anderes Beispiel: Ja; wir sagen von Leblosem, es habe Schmerzen: im Spiel mit Puppen z.B. Aber dies ist eine sekundäre Verwendung des Schmerzbegriffs. Versuchen wir, uns den Fall vorzustellen, Leute sagten nur von Leblosem, es habe Schmerzen, bedauerten nur Puppen! (Wenn Kinder Eisenbahn spielen, hängt ihr Spiel mit ihrer Kenntnis der Eisenbahn zusammen. Es könnten aber Kinder eines Volksstammes, dem Eisenbahnen nicht bekannt sind, dies Spiel von andern übernommen haben, und es spielen, ohne zu wissen, daß damit etwas nachgeahmt wird. Man könnte sagen, dies Spiel habe für sie nicht den gleichen Sinn, wie für uns.)207

Wir können Schriftarten als „zaghaft“ oder „verspielt“ beschreiben. Würden wir die ästhetischen Ausdrücke „zaghaft“ oder „verspielt“ aber durch umfangsgleiche Beschreibungen ersetzen, die sich lediglich aus Wörtern zusammensetzen, die in primärer Weise verwendet werden, dann handelte es sich nicht mehr um adäquate Beschreibungen unserer Eindrücke der Schriftarten. Wir erleben eine Schriftart als zaghaft oder als verspielt – und diese Erlebnisqualität gilt es sprachlich einzufangen. Wer nicht unseren

207

MS 129, 54-55. Vgl. Scruton, Art and Imagination, 40: „Think of the case of a man who only ascribed sadness to works of art, who showed no ability to employ the concept of sadness in talking of people (including himself), or other sentient beings. We should say that he did not understand what is meant in saying that a piece of music is sad.“

60 Begriff des Zaghaften oder Verspielten besitzt, der ist nicht in der Lage, eine zaghafte oder verspielte Schriftart so zu erleben wie wir: Aber wäre es nicht auch richtig zu sagen, dass wer nicht unsern Begriff des ‚zaghaften’, ‚kindischen’, ‚gemeinen’ hätte, die Schrift, den Gesichtsausdruck, nicht so empfinden könnte wie wir, selbst wenn er einen Begriff hat, der immer dort anwendbar ist, wo ‚zaghaft’ z.B. es ist?208

Wer ein Gesicht als trauriges erlebt, der erlebt etwas anderes als jemand, der lediglich sieht, dass die Mundwinkel nach unten zeigen, die Augenbrauchen in der Mitte nach oben gezogen sind und Tränen über die Wangen rollen. Eine detaillierte Beschreibung eines barocken Stuhls kann „das Barocke“ an dem Stuhl nicht einfangen. Und eine „rein akustische“ Beschreibung einer klagenden Melodie – die Angabe der einzelnen Töne, ihrer Dauer und Lautstärke – ist nicht in der Lage auszudrücken, wie wir die Melodie hören, nämlich als klagend. Die Wahrheit ist doch die: ‚Klagen’ ist ein Begriff der nicht rein akustisch ist. […] ‚rein akustisch’ ist eine Beschreibung, wenn man nach ihr das Gehörte reproduzieren kann und alle anderen Beziehungen aus dem Spiel gelassen werden.209 Ich kann doch einen Sessel beschreiben durch den Begriff „Stil Ludwig XIV“, und dem entgegensetzen eine Beschreibung, die, etwa durch Zeichnungen, u.a., die Gestalt, Farbe, etc. notiert, ohne Bezug auf eine historische Periode, einen König, etc.210

In ästhetischen Beschreibungen verwenden wir Ausdrücke auffallend oft in sekundärer Weise. Wir verwenden Begriffe, die ihre Heimat anderswo haben: Man denke an „traurige“ Melodien, „verspielte“ Linien, „warme“ Farben oder an „strahlend helle“ Klänge. Die meisten ästhetischen Wortverwendungen sind sekundäre Verwendungen und als solche oft Bezeichnungen für Aspekte von Objekten. Wer das Klagen einer Melodie oder das Barocke eines Stuhls erlebt, der nimmt einen Aspekt wahr. Ben Tilghman hat diesen Punkt stark gemacht und erhellende Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen: 208

MS 138, 6a. MS 138, 6a. 210 MS 138, 7a. 209

61 If artistic and aesthetic qualities are aspects and if aesthetic descriptions are reports of experiencing aspects or are secondary descriptions, then it follows that art is not an isolated department of human activity sufficient unto itself, but is of necessity connected with and parasitic upon other areas of human action and interest. The ability to see aspects and use words in secondary senses rest upon the mastery of a technique, the technique of using the relevant words in the language-games which are their first home. It is a commonplace of aesthetic theory, but none the less significant, that art has important connections with the world and with human life […] The contention that aesthetic qualities are aspects is one way of representing and capturing that traditional insight.211

Die Tatsache, dass wir ästhetische Qualitäten am besten durch Wörter beschreiben können, die ihre primäre Verwendung in anderen Kontexten des Lebens haben, zeigt, dass sich in ästhetischen Qualitäten vertraute Phänomene unseres Lebens gleichsam spiegeln und dass unser ästhetisches Erleben durchtränkt ist von unserer Erfahrung und unserem Weltbild.212 Roger Scruton zufolge hören wir in Musik lauter Ähnlichkeiten mit vertrauten Phänomenen unseres Lebens. Wir hören Klänge als Variationen der Welt, wie wir sie kennen. Wir hören Melodien als fallend oder bedrohlich und Klänge als weich oder verzweifelt. Diese Art des Musikhörens setzt Scruton zufolge eine ausgeprägte Fähigkeit zur Imagination voraus: Musical qualities are […] like aspects – what might be called tertiary qualities, in recognition of the fact that, while part of the appearance of something, they are not objects merely of sensory perception […] They are perceived […] only through a certain exercise of imagination, involving the transfer of concepts from another sphere.213

Scruton geht noch einen Schritt weiter. Er meint nicht nur, dass die Vertrautheit mit grundlegenden Phänomenen des Lebens bestimmt, wie wir Musik hören und verstehen, sondern dass ein intensives Hören von Musik uns hilft, das Leben besser zu verstehen – ähnlich, wie die Lektüre eines Romans uns dabei helfen kann, andere Menschen und uns selbst besser zu verstehen.

211

Tilghman, But is it Art, 185. Vgl. Dilman, Art and Reality, 176-177: „We could not find any significance in music were it not for what we owe for our life outside“. 213 Scruton, The Aesthetics of Music, 94 212

62 [T]he transfer of concepts of life and movement to music is not merely essential to our hearing of music, but also adds something to our understanding of life […] to understand the music trough the concept of life, but also life through its embodiment in music.214 Musical development can also involve a kind of moral development, and musical understanding can thereby lead us into a greater understanding of the human world which is intimated through it.215

Hier ist nicht der Ort, diese Thesen näher zu erläutern.216 Stattdessen möchte ich etwas zum Verhältnis zwischen sekundären und metaphorischen Verwendungen von Sprache sagen. 1.9.1 Metapher und sekundäre Verwendung Wittgenstein möchte sekundäre Verwendungen von metaphorischen Verwendungen abgrenzen. Die Rede von einem „tiefen Schlaf“ und von „hellen Klängen“ sei keine metaphorische, sondern eine sekundäre Redeweise. Metaphern würden sich nämlich dadurch auszeichnen, dass sie etwas zu verstehen geben, das man auch ohne Metapher mitteilen kann. Wittgenstein vertritt eine Substitutionstheorie der Metapher und meint, Metaphern könnten paraphrasiert oder erläutert werden, während das bei sekundären Wortverwendungen nicht der Fall sei.217 Die sekundäre Bedeutung ist nicht eine ‚übertragene’ Bedeutung. Wenn ich sage ‚Der Vokal e ist für mich gelb’, so meine ich nicht: ‚gelb’ in übertragener Bedeutung – denn ich könnte, was ich sagen will, gar nicht anders als mittels des Begriffs ‚gelb’ ausdrücken.218

Wittgensteins These der Paraphrasierbarkeit von Metaphern muss man nicht teilen. Viele Autoren sind der Meinung, was Metaphern zu verstehen geben, könne man ohne Metapher nicht mitteilen.219 Die Rede von „nicht214

Scruton, The Aesthetics of Music, 235. Scruton, Analytical Philosophy and the Meaning of Music, 175. 216 In den Kapiteln 3 und 5 werden diese und ähnliche Themen wieder aufgegriffen und eingehender besprochen. 217 Vgl. Keil, Kritik des Naturalismus, 275. 218 PU II, 557. Vgl. LSP, § 799. 219 Vgl. Black, Metaphor, 46; Searle, Metapher, 103 ff; Cavell, Aesthetic Problems of Modern Philosophy, 79; Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 11. 215

63 paraphrasierbaren Metaphern“ sei also keinesfalls widersprüchlich, sie konstatiere vielmehr den Normalfall. Um diesen Streit zu schlichten, müsste man klären, was als Paraphrase einer Metapher gelten darf. Geert Keil meint zu Recht, man dürfe von einer Paraphrase „nichts verlangen, was sie von vornherein nicht leisten kann“. Eine Paraphrase soll eine Metapher „nicht ersetzen, sondern sie erläutern und so ihr Verständnis befördern“220. Die Metapher „Julia ist die Sonne“ kann man erläutern, indem man sagt: „Julia beglückt mich Tag für Tag. Sie gibt mir Lebensfreude. Mit ihr beginnt mein Tag. Ohne sie wäre die ganze Welt dunkel und bedeutungslos“. Die Aussage „Der Vokal i ist heller als o“ kann man jedoch nicht in ähnlicher Weise erläutern, ohne dabei die Ausdrücke „heller“ oder „dunkler“ zu verwenden. Darauf wollte Wittgenstein aufmerksam machen, wie Tilghman richtig feststellt: Despite warnings about the heresy of paraphrase we can paraphrase metaphors in order to explain them and to help someone to see the point […] With an expression such as ‘e is yellow’, however, paraphrases and explanations can find no place.221

Sekundäre Verwendungen kann man nicht nur nicht paraphrasieren, sondern auch nicht rechtfertigen. Oswald Hanfling weist auf diesen Punkt hin, wenn er schreibt, Metaphern könne man im Unterschied zu sekundären Verwendungen durch den Verweis auf Ähnlichkeiten oder auf ein tertium comparationis – ein beiden Vergleichsgliedern gemeinsames Merkmal – rechtfertigen.222 Die Metapher „Achill ist ein Löwe“ lässt sich durch den Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen Achill und einem Löwen begründen, was bei der Aussage „Der Klang dieser Tuba ist so weich wie eine Wolldecke“ nicht möglich ist. Der Vergleich lässt sich kaum rechtfertigen. Auch die Aussage „Der Vokal i ist heller als o“ kann man nicht begründen. Hier könnte die Psychologie allenfalls über mögliche Ursachen einer solchen sekundären Verwendung spekulieren. 220

Keil, Kritik des Naturalismus, 275. Tilghman, But is it Art?, 162. 222 Hanfling, „I heard a plaintive Melody“, 315. Ein univokes tertium comparationis fehlt auch bei manchen Metaphern, etwa bei der Aussage „Sein blut kochte“. Nicht immer lässt sich also bei Metaphern ein Merkmal finden, das „in beiden Kontexten in gleicher Weise wörtlich zutrifft“. (Vgl. Ortony, Beyond Literal Similarity; Keil, Kritik des Naturalismus, 278-279.) Bei solchen Metaphern, so Tilghman, sollte man besser von sekundären Verwendungen sprechen: „It is my suggestion, then, that many metaphors turn out to be really secondary uses“ (But is it Art, 164). 221

64 Ein anderer Grund, der gegen die Auffassung spricht, die Rede von „hellen Klängen“ sei metaphorisch, ist die Normalität der Redeweise. Um das zu erläutern, möchte ich etwas ausholen: Metaphern haben die Funktion von Vergleichen. Die Metapher „Julia ist die Sonne“ lädt zu einem Vergleich ein und kann insofern, mit Quintilian, als „verkürzter Vergleich“ gelten.223 Der Unterschied zwischen Metaphern und Vergleichen ist somit ein rein sprachlicher.224 Klar ist, dass ein metaphorischer Satz wie „Achill ist ein Löwe“ wörtlich verstanden falsch ist, wogegen der vergleichende Satz „Achill ist wie ein Löwe“ wörtlich verstanden wahr ist: Achill ist zwar kein Löwe, aber er hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem Löwen, insbesondere, was seine Kampfeslust und Kraft angeht. Der Witz einer Metapher ist es, uns auf eine Ähnlichkeit zwischen zwei Sachen hinzuweisen, die aus verschiedenen Bereichen stammen und auf Anhieb keine Ähnlichkeit miteinander zu haben scheinen.225 Eine Metapher stiftet nicht nur zum Vergleich an, sondern lässt uns etwas anders erleben oder auffassen. Der Vergleich von A mit B lässt uns A als B auffassen. Es findet ein Aspektwechsel statt. So schreibt Marcus Hester: „poetic metaphor is a seeing as, a noticing of an aspect, between the parts of the metaphor”226. Und Scruton meint: „The point of a simile is identical with the point of a metaphor: not to describe an object, but to change its aspect, so that we respond to it in another way“227. Um eine Metapher zu verstehen, müssen wir die normale Bedeutung der Ausdrücke immer vor Augen haben. Wollen wir die Metapher „Julia ist die Sonne“ verstehen, dann müssen wir an die Sonne denken, also an das, was wir nichtmetaphorisch „Sonne“ nennen. Wie verhält es sich aber mit der 223

Diese Auffassung vertritt auch Severin Schroeder in dem Aufsatz Metapher und Vergleich: „Metaphern sind […] implizite Vergleiche zwischen einigermaßen heterogenen Dingen. Und dies ist […] ihre sprachliche Bedeutung, und nicht bloß etwas indirekt Mitgeteiltes“ (55). Metaphern seien keine absichtlichen Sprachfehler, wie Davidson meint (51). 224 Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, 81; Davidson, What Metaphors Mean, 40; Fogelin, Figuratively Speaking; Keil, Kritik des Naturalismus, 273. 225 Vgl. Scruton, The Aesthetics of Music, 83. 226 Hester, Metaphor and Aspect Seeing, 206. 227 Scruton, The Aesthetics of Music, 84. Auch Davidson vertritt eine solche Auffassung, wenn er schreibt: „Metaphor makes us see one thing as another by making some literal statement that inspires or prompts the insight“ (What Metaphors Mean, 47). Darin sehr er zugleich den Grund dafür, warum eine Metapher nicht durch nichtmetaphorische Beschreibungen ersetzt werden kann: „A picture is not worth a thousand words, or any other number. Words are the wrong currency to exchange for a picture“ (ebd.).

65 sekundären Verwendungsweise? Müssen wir an etwas Helles denken, um den Satz „Der Klang der Querflöte ist hell“ zu verstehen? Stellen wir einen Vergleich an, wenn wir von einem „tiefen Ton“ sprechen oder meinen „Blau ist eine kalte Farbe“? Nicht zwingend. Wir können die sekundäre Verwendung eines Ausdrucks verstehen, ohne dabei an seine primäre zu denken. Man kann die sekundäre Verwendungsweise eines Ausdrucks zwar erst verstehen, nachdem man seine primäre kennen gelernt hat. Um die sekundäre Verwendung zu verstehen, braucht man sich jedoch nicht die primäre Verwendung bewusst zu machen. Die sekundäre Verwendungsweise hat im Unterschied zur metaphorischen eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Es gibt jedoch auch hier unterschiedliche Grade und Grenzfälle. Ein Vergleich soll deutlich machen, wie unterschiedlich sekundäre Verwendungen sein können: Wir können sowohl Töne nach ihrer Höhe als auch Vokale nach ihrer Helligkeit ordnen. Die Rede von einer Tonhöhe ist jedoch viel vertrauter als die Rede von helleren und dunkleren Vokalen. Jemand, der mich auffordert, die Vokale a, e, i, o, u ihrer Helligkeit nach zu ordnen, wird verschmitzt lächeln und ich werde zunächst stutzen, wahrscheinlich auch schmunzeln und dann sagen „i, e, a, o, u – bei o und u bin ich nicht sicher“. Spielt jemand dagegen fünf Töne auf dem Klavier und meint, ohne mit der Wimper zu zucken, ich solle die einzelnen Töne entsprechend ihrer Höhe nummerieren, dann werde ich das tun – ohne mit der Wimper zu zucken. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen einer sekundären und einer metaphorischen Verwendung ist das der buchstäblichen Wahrheit. Der Satz „Du bist meine Sonne“ ist in seiner buchstäblichen Bedeutung falsch, wogegen der Satz „Stimmen von Frauen sind in der Regel höher als Männerstimmen“ in seiner wörtlichen Bedeutung wahr ist. Was die buchstäbliche Bedeutung eines Ausdrucks ist, erfahren wir in Wörterbüchern. Da findet man unter dem Ausdruck „hoch“ auch „hohe Töne“, man findet unter „Sonne“ jedoch nicht „Mensch, den man liebt“. Stephen Davies macht auf diesen Punkt aufmerksam, indem er sekundäre Verwendungen mit toten Metaphern vergleicht: Dictionaries list many literal, secondary meanings for words, and we are as much masters of these subsidiary meanings as we are of primary meanings. For example, we talk without strain of the necks of bottles or the mouth of rivers […] Indeed, such terms have regular, interpersonal, and largely conventional application in describing music, so we might expect to be dealing with dead, not live, metaphors, that is, with literal, secondary meanings of the terms […] for example where the texture or tone of notes is character-

66 ized as high or low, thin or thick, light or heavy, narrow or wide; or timbres are described as metallic, fruity, hard, or soft; or rhythms are called jagged, abrupt, square, spiky, or dumpy.228

Zu klären bleibt noch, was die sekundäre Verwendung eines Ausdrucks mit der primären verbindet. Auf diese Frage hat Wittgenstein eine überraschende Antwort. Er wendet sich gegen die nahe liegende Vorstellung, es müsse eine Ähnlichkeit zwischen tiefem Wasser, tiefem Schlaf und tiefer Traurigkeit geben, ansonsten würden wir nicht in allen Fällen denselben Ausdruck gebrauchen. Der Verwendung desselben Ausdrucks muss kein Bemerken der Ähnlichkeit zugrunde liegen. Er meint, es sei eine „verbreitete Denkkrankheit, hinter allen Handlungen der Menschen Zustände der Seele zu postulieren, aus denen die Handlungen ‚entspringen’“229. Unser Fehler sei es, „dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene’ sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“230. Wittgenstein zufolge können wir nicht begründen, weshalb wir geneigt sind, von „tiefer Trauer“, „traurigen Akkorden“, „hellen Klängen“ oder „warmen Farben“ zu sprechen. Hanfling schreibt dazu: „There is, according to Wittgenstein, nothing behind the use of such words which would serve as a justification for it“231. Und Tilghman meint: „There are no criteria that justify the application of words used in their secondary senses to their new objects”232. Wittgenstein zufolge verspüren wir bei sekundären Verwendungen eine nicht zu rechtfertigende „Neigung“, denselben Ausdruck zur Beschreibung verschiedener Phänomene zu verwenden.233 Nicht immer, wenn wir ein Prädikat auf zwei verschiedene Fälle anwenden, gibt es etwas, das diesen Fällen gemeinsam und zugleich Grund dafür ist, denselben sprachlichen Ausdruck zu gebrauchen: Weshalb nennen wir die Farben Dunkelrot und Hellrot beide „rot“?234 Was haben sie gemeinsam? Sie sind beide einem reinen Rot ähnlich. Da es sich dabei um eine qualitative Ähnlichkeit handelt, gibt es also weder gemeinsame Bestandteile, wie der Alkohol bei Wein und Bier, noch besteht eine strukturelle Identität, wie zwischen einem Stadtplan und der Stadt. Zu sagen, Hellrot und Rubinrot hießen beide 228

Davies, Musical Meaning and Expression, 164-165. BrB, 216. 230 PU § 654. Vgl. PU § 655. 231 Hanfling, I heard a plaintive Melody, 309. 232 Tilghman, But is it Art?, 166. 233 PU II, 556. 234 Vgl. BrB, 201 ff. 229

67 „Rot“, weil sie einander ähnlich sind, ist Wittgenstein zufolge keine Erklärung. Vielmehr bestimme erst der Satz „Hellrot und Rubinrot sind ähnliche Farbtöne“, was wir unter „ähnlichen Farbtönen“ verstehen.235 Der Satz ist Wittgenstein zufolge ein „grammatischer Satz“, der festlegt, was „ähnlich“ mit Blick auf Farben bedeutet.236 Ein Streit darüber, ob die beiden Farben ähnlich sind, wäre ein Streit um die Bedeutung des Ausdrucks „ähnlich“. Jemand, der behauptet, die beiden Farben seien nicht ähnlich, votiert für eine andere Verwendungsweise des Ausdrucks „ähnlich“. Tatsache aber ist: Wir können unsere Verwendungsweise nicht begründen. Wer unsere Neigung nicht teilt und die Ähnlichkeit nicht sieht, „der trennt sich von uns, noch ehe es zur Sprache kommt“237.

235

Vgl. Z, § 331. Vgl. Kapitel 9.1.2. 237 BGM, 60. 236

69

2. Ausdruck und Bedeutsamkeit Musik kann „traurig“ klingen, Autos können „ernst“ aussehen und Schriftarten „verspielt“ wirken. Manche Kleiderstile passen zu unserer Persönlichkeit, andere nicht: Eine Lederjacke kann „Stärke“ und „Mut“ verkörpern, während ein leichtes Sommerkleid „heiter“ und „unbeschwert“ wirken kann. Gegenstände haben einen bestimmten Ausdruck, einen Charakter. Wir können sie mit Adjektiven charakterisieren, die wir in erster Linie verwenden, um die Persönlichkeit und Befindlichkeit von Menschen zu beschreiben. Objekte haben aber nicht nur Ausdrucksqualitäten, sondern auch eine Bedeutsamkeit: Ein Auto oder eine Lederjacke kann zu einem Sinnbild für ein Lebensgefühl werden und einen Lebensstil symbolisieren. Im folgenden Kapitel werde ich erläutern, was Ausdrucksqualitäten und Bedeutsamkeiten sind und wie sie zustande kommen. Dabei stelle ich nicht nur begriffliche und phänomenologische Überlegungen an, sondern greife an einzelnen Stellen auch auf kunstpsychologische Erklärungen zurück. Das Kapitel geht an vielen Stellen über Wittgensteins Position hinaus. Ziel ist es, eine systematische Lücke zu schließen und die Leserin anhand von Beispielen für zentrale ästhetische Phänomene zu sensibilisieren. 2.1 Ausdruck und Charakter Wenn wir die ästhetischen Qualitäten eines Gegenstandes beschreiben sollen, dann achten wir nicht nur auf formale Gesichtspunkte wie das Zusammenspiel von Formen, Proportionen, Materialien und Farben. Neben Prädikaten wie „ausgewogen“, „kontrastreich“, „geschwungen“, „glänzend“ und „farbenfroh“ verwenden wir auch Prädikate, die den Ausdruck, den Charakter oder die Bedeutsamkeit des ästhetischen Objekts einfangen sollen.238 So kann eine Vase „stolz“ wirken, eine Melodie „fröhlich“, gewisse Bäume „traurig“ und manche Schriftarten „verspielt“. Solche Begriffe verwenden wir in erster Linie für menschliche Gemütszustände und Charakterzüge. Von da haben sie ihre Bedeutung. Beschreiben wir nicht einen Menschen als traurig, sondern ein Gesicht, dann deswegen, weil Menschen typischerweise ein solches Gesicht machen, wenn sie traurig sind. Eine Körperhaltung bezeichnen wir als „stolz“, weil sie typischer238

In Kapitel 5.2 (Ästhetische Qualitäten) präsentiere ich eine Typisierung unterschiedlicher ästhetischer Qualitäten.

70 weise mit einem Gefühl des Stolzes einhergeht. Nennt man dagegen einen Schriftzug oder eine Melodie „fröhlich“, dann nicht deswegen, weil fröhliche Menschen typischerweise so schreiben oder solche Melodien komponieren, sondern weil der Schriftzug und die Melodie gewisse Ähnlichkeiten mit dem Erscheinungsbild eines fröhlichen Menschen haben. Wir entdecken menschliche Anzeichen von Fröhlichkeit in der Schrift und der Melodie wieder: Buchstaben, die aussehen, als würden sie lächeln oder lässig dastehen, und Töne, die klingen, als würden sie vor Freude hüpfen. Wittgenstein schreibt: Man kann sagen: Das freundliche Auge, der freundliche Mund, das Wedeln des Hundes sind, unter andern, primäre und von einander unabhängige Symbole der Freundlichkeit; ich meine: sie sind Teile der Phänomene, die man Freundlichkeit nennt. Will man andere Erscheinungen als Ausdruck der Freundlichkeit sehen, so sieht man jene Symbole in sie hinein.239

Es empfiehlt sich, zwischen einer kausalen und einer phänomenalen Verwendungsweise des Wortes „Ausdruck“ zu unterscheiden. Wenn ich sage „Ihre Tränen drücken Traurigkeit aus“, dann verwende ich das Verb „ausdrücken“ kausal: Tränen drücken Traurigkeit aus, weil ein Gefühl der Traurigkeit die Ursache der Tränen ist. Ein Gefühl äußert sich in bestimmten körperlichen Symptomen: dem Weinen. Wenn ich dagegen sage „Diese musikalische Passage drückt Trauer aus“, dann verwende ich das Verb „ausdrücken“ phänomenal. Wir möchten nicht behaupten, die Musik sei ein Symptom der Traurigkeit. Vielmehr beziehen wir uns darauf, welchen Eindruck die Musik bei uns hinterlässt: wie und als was wir die Musik hören. So kann ein Tier stolz aussehen, ohne Stolz zu sein, etwa dann, wenn die stolz wirkende Körperhaltung zur Anatomie des Tieres gehört. Das Adjektiv „stolz“ beschreibt in diesem Fall kein Gefühl, sondern das Erscheinungsbild des Tieres. Wir sind in der Lage, in einzelnen Buchstaben melancholische, freche, erschöpfte, scheue, sinnliche, engstirnige, nostalgische oder zielstrebige Persönlichkeiten zu entdecken. Wir können uns sogar fragen, mit welchem wir am liebsten befreundet sein möchten:

F F F F F F F F F 239

Z, 506.

71 Manche dieser Schriftarten wirken fremd, langweilig oder gar abstoßend. Manche aber wirken, wie wir selbst gerne sein möchten – sie verkörpern unsere Lebensideale. Alain de Botton schreibt: „Unsere Fähigkeit, in Gestalten, Texturen und Farben Parallelen zum Menschlichen auszumachen, ist derart ausgeprägt, dass wir selbst den simpelsten Formen einen Charakter zu unterlegen vermögen.“240 Man muss kein Künstler sein, um einen Charakter oder eine Gemütsverfassung zeichnerisch darstellen zu können. Eine minimalistische Strichzeichnung eines Gesichts kann komplexe Gefühle wie Angst, Enttäuschung oder Sehnsucht ausdrücken. Manchmal genügt bereits eine schwungvolle oder gezackte Linie, um eine gelassene oder aggressive Stimmung aufs Blatt zu bringen.

Wer hört Heavy Metal, wer malt gerne und wer meditiert gerade? Wir Menschen vermenschlichen. Wenn wir Tiere beobachten, fällt dies besonders stark auf. Wir glauben, in der Haltung, der Physiognomie und den Bewegungen eines Tieres menschliche Emotionen wiederzuerkennen. Wir vermenschlichen allerdings nicht nur, wenn wir lebendige Wesen vor uns haben. Wenn zwei Punkte über den Bildschirm wandern, ein etwas größerer hinter einem kleineren, dann wirkt das, als würde der kleinere vor dem größeren fliehen. Dies zeigen die 1946 durchgeführten Experimente von Albert Michotte.241 Die zwei Jahre früher durchgeführten Experimente von Fritz Heider und Marianne Simmel beleuchten ähnliche Phänomene und dienten als Ausgangspunkt unterschiedlicher „Attributionstheorien“ in der Psychologie.242 Nicht jedem fällt es leicht, alltägliche Objekte so zu beschreiben, als wären sie Menschen. Die meisten von uns sind jedoch in der Lage, solche Be240

De Botton, Glück und Architektur, 89. Vgl. Michotte, The perception of causality. 242 Vgl. Heider, Psychologie der interpersonalen Beziehungen. 241

72 schreibungen zu verstehen und nachzuvollziehen. Wir wären selbst zwar nie darauf gekommen, dass die Lampe in unserem Wohnzimmer „traurig“ aussieht, „als würde sie den Kopf hängen lassen“, oder unser Fahrrad, wäre es ein Mensch, lieber Bücher lesen als Sport treiben würde. Macht uns aber jemand darauf aufmerksam, dann fällt es uns vielleicht wie Schuppen von den Augen und wir sagen: „Ja, stimmt, das trifft es genau!“. Wittgenstein hatte eine ausgeprägte Sensibilität für ästhetische Ausdrucksqualitäten. Für ihn hatten Pflanzen und Wörter einen menschlichen Charakter: „Die verschiedenen Pflanzen und ihr menschlicher Charakter: Rose, Epheu, Gras, Eiche, Apfelbaum, Getreide, Palme. Verglichen mit dem verschiedenen Charakter der Wörter“243. Wenn er davon spricht, dass ein geschriebenes Wort den Betrachter in bestimmten Situationen „anschaut“, ihm einen „Blick […] zuwirft“,244 dann erinnert diese Formulierung stark an Walter Benjamins Beschreibung der „Aura“ eines Gegenstandes: „Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. [...] Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“245 Oft gefällt uns ein Gegenstand aufgrund seines Charakters: Wir mögen „tiefsinnige“ Filme, „nobles“ Besteck, „liebliche“ Ornamente, „lässige“ Kleidung, „freches“ Design und „melancholische“ Musik. Die Worte, die wir wählen, um ästhetische Gegenstände zu beschreiben, die uns gefallen, treffen oft auch auf Menschen zu, die wir mögen und zu denen wir aufblicken. Bereits David Hume schreibt in seinem Aufsatz Of the Standard of Taste: „We choose our favourite author as we do our friend“246. Und Roger Scruton meint: „We admire works of art, as we admire men, for their intelligence, wisdom, sincerity, depth of feeling, compassion and realism“247. De Botton macht eine ähnliche Bemerkung: „Die Dinge, die wir schön nennen, sind Spielarten der Menschen, die wir lieben.“248 Schön finden wir etwas, weil es wie ein Mensch ist, den wir mögen – so, wie wir selbst vielleicht gerne sein würden. Gemäß dieser Auffassung gefällt uns ein Gegenstand, wenn er unsere Lebensideale verkörpert und Charakterzüge zum 243

VB, 482. MS 137, 115 a. 245 Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, 646. Vgl. Baudelaire, Blumen des Bösen, 23 (Entsprechungen): „Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern zuweilen wirre Worte dringen; der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen, die mit vertrauten Blicken ihn beobachten“. 246 Hume, Of the Standard of Taste, 111. 247 Scruton, Art and Imagination, 245. 248 De Botton, Glück und Architektur, 89. 244

73 Ausdruck bringt, die wir für erstrebenswert halten.249 Stendhal zufolge ist das Schöne gar eine Verheißung von Glück: „La beauté n'est que la promesse du bonheur“250. Und de Botton schreibt: Unser Gefühl für Schönheit und unsere Vorstellung von einem guten Leben sind miteinander verwoben. In unseren Schlafzimmern suchen wir Andeutungen von Frieden, Metaphern für Großmut und Harmonie in unseren Sesseln und einen Hauch Ehrlichkeit und Freigiebigkeit in unseren Wasserhähnen. Eine Säule, die anmutig ihre Last trägt, kann uns tief berühren, aber auch ausgetretene Steinstufen, die Weisheit erahnen lassen, oder eine georgianische Haustür, deren Lünette ebenso Taktgefühl wie Verspieltheit beweist.251

Auch nach Immanuel Kant verkörpern Gegenstände, die wir schön finden, unsere Lebensideale und unsere sittlichen Werte. Er spricht vom Schönen als einem „Symbol des Sittlichguten“252 und vom Geschmack als einem „Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen“253. Gegenstände, die uns gefallen, sind Symbole eines Lebens, wie wir es uns wünschen. Dass dem so ist, zeigt sich in unseren Beschreibungen ästhetischer Objekte. Kant schreibt: [W]ir benennen schöne Gegenstände der Natur, oder der Kunst, oft mit Namen, die eine sittliche Beurteilung zum Grunde zu legen scheinen. Wir nennen Gebäude oder Bäume majestätisch und prächtig, oder Gefilde lachend und fröhlich; selbst Farben werden unschuldig, bescheiden, zärtlich genannt, weil sie Empfindungen erregen, die etwas mit dem Bewusstsein eines durch moralische Urteile bewirkten Gemütszustandes Analogisches enthalten.254

Es sind die unseren ästhetischen Präferenzen zugrunde liegenden Lebensideale und Moralvorstellungen, die nach Kant den Anspruch ästhetischer Urteile auf subjektive Allgemeingültigkeit motivieren und rechtfertigen: „Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten; und auch nur 249

Empirische Studien bekräftigen diese These: North, Individual Differences in Musical Taste; Chamorro-Premuzic, Personality predictors of artistic preferences as a function of the emotional valence and perceived complexity of paintings. Govers, Product personality and its influence on consumer preference. 250 Stendhal, Über die Liebe, 76. 251 De Botton, Glück und Architektur, 99. 252 Kant, KdU § 59, A 255. 253 Kant, KdU § 60, A 260. 254 Kant, KdU § 59, A 257.

74 in dieser Rücksicht […] gefällt es, mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung“255. Ohne einen Konsens in moralischen Fragen dürfen wir nach Kant keine Übereinstimmung in ästhetischer Hinsicht erwarten. Die „wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks“ sei daher die „Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls“256. Im Gegenzug kann das moralische Gefühl und der sittliche Charakter einer Person durch eine ästhetische Sensibilisierung auf spielerische Weise kultiviert werden.257 Auch Wittgenstein ist der Ansicht, dass sich in unseren ästhetischen Idealen unsere Lebensideale spiegeln und die Lebensideale einer bestimmten Kultur in deren Kunstwerken zur Geltung kommen: „Die Musik aller Zeiten entspricht immer gewissen Maximen des guten und rechten der selben Zeit. So erkennen wir in Brahms die Grundsätze Kellers etc etc.“258. Wie genau sich Wittgenstein den Zusammenhang zwischen Ästhetik und Lebenspraxis vorstellte, soll an anderer Stelle erläutert werden.259 Abschließend möchte ich eine systematische Frage klären: Handelt es sich bei den sprachlichen Ausdrücken, die wir zur Beschreibung von Ausdrucksqualitäten verwenden, immer um Prädikate, die in erster Linie auf menschliche Gemütszustände und Charakterzüge zutreffen? Nelson Goodman verneint diese Frage und meint, ein Bild könne auch „Schwere“, „Bewegung“ oder „Leere“ ausdrücken. Entscheidend sei, dass die Ausdrücke „schwer“ und „leer“ nicht buchstäblich, sondern metaphorisch auf das Bild zutreffen. Ein Gegenstand könne jede Eigenschaft ausdrücken, die er 255

Kant, KdU, § 59. Vgl. Elliott, The Unity of Kant’s ‘Critique of Aesthetic Judgement’. 256 Kant, KdU § 60, A 260. 257 Kant, KdU § 59, A 257: „Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse, ohne einen gewaltsamen Sprung, möglich“; § 29, A 114: „Das Schöne bereitet uns vor, etwa, selbst die Natur, ohne Interesse zu lieben; das Erhabene, es, selbst wider unser (sinnliches) Interesse, hochzuschätzen.“; A 164: „Dagegen aber behaupte ich, dass ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen […] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei; und dass, wenn dies Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung anzeige, wenn es sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet.“ Schiller hat Kants Gedanken einer moralisch propädeutischen Ästhetik aufgenommen und zum Leitmotiv seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen gemacht – „weil es die Schönheit ist, durch welche man zur Freiheit wandert“ (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 11). 258 MS 183, 59. 259 Vgl. Kapitel 8.4.

75 metaphorisch besitzt.260 Es müsse sich dabei nicht zwingend um menschliche Eigenschaften handeln. Auch Arthur Danto ist der Ansicht, „dass Emotionsprädikate die Skala der Ausdrucksprädikate nicht erschöpfen“.261 Ich möchte Goodman und Danto widersprechen, da ich meine, bei der Schwere, der Bewegung und der Leere handelt es sich um eine gefühlte Schwere, eine gefühlte Bewegung und eine gefühlte Leere. Es sind diese Gefühle, die ein Bild ausdrücken kann, nicht die entsprechenden objektiven Zustände. Wenn Danto meint, die Kathedrale von Beauvais könne sogar „Vertikalität“ ausdrücken, dann weiß ich nicht recht, was er damit meint.262 2.2 Bedeutsamkeit Die Literaten des Symbolismus waren Meister darin, die Bedeutsamkeit von Gegenständen und Gegenden sprachlich einzufangen.263 Sie haben uns gezeigt, dass selbst alltägliche Dinge einen symbolischen Gehalt haben und als Sinnbilder erlebt werden können. So beschreibt Marcel Proust in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wie die Großmutter des Erzählers den Glockenturm der Kirche Saint-Hilaire von Combray erlebte und was er für sie verkörperte: Ohne recht zu wissen, warum, glaubte meine Großmutter, an dem Glockenturm von Saint-Hilaire jenes aller Gewöhnlichkeit, aller Anmaßung, allem Kleinlichen Abholde zu entdecken, um dessentwillen sie auch die Natur liebte und sie voll heilsamer Kräfte glaubte überall da, wo die Hand des Menschen sie nicht […] verkleinert hatte […] Ich glaube vor allem, dass meine Großmutter in diesem Glockenturm von Combray undeutlich das verspürte, was für sie der höchste Wert auf Erden war: Natürlichkeit mit Distinktion gepaart. Unbewandert in Dingen der Baukunst pflegte sie zu sagen: „Kinder, ihr könnt über mich lachen, wenn ihr wollt, er ist vielleicht nach den Regeln nicht schön, aber seine alte bizarre Erscheinung gefällt mir nun einmal. Ich bin sicher, dass er, wenn er Klavier spielte, nie ausdruckslos spielen würde.“ Und wenn sie ihn anschaute und ihr Blick der sanften Spannung und dem leidenschaftlichen Schwung dieser steinernen Schrägen 260

Goodman, Sprachen der Kunst, 89 u. 93. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, 291-292. 262 Danto, Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, 292. 263 Der Begriff der Bedeutsamkeit taucht bereits bei Nietzsche und Cassirer an einzelnen Stellen in der hier explizierten Bedeutung auf, wird jedoch nicht als technischer Term erläutert. Wittgenstein selbst verwendet den Begriff der Bedeutsamkeit nicht. Phänomene der Bedeutsamkeit fallen für ihn unter den Begriff des Ausdrucks. 261

76 folgte, die oben schmal ineinanderliefen wie zwei betende Hände, so wurde sie so sehr eins mit dem Aufwärtsstreben der Spitze, dass ihr Blick mit ihr sich in die Höhe zu schwingen schien; gleichzeitig lächelte sie freundlich den alten abgenutzten Steinen zu, deren oberster Teil noch die Abendsonne erhellte und die von der Stelle an, wo sie in diese besonnte Zone hineinreichten, vom Lichte gesänftigt mit einem Male viel höher, viel entrückter schienen, so wie eine Gesangspartie, die mit ‚Kopfstimme’ eine Oktave höher wieder aufgenommen wird.264

Das Phänomen der Bedeutsamkeit ist allgegenwärtig: Eine schlichte, handgefertigte Bronzeschale kann den bescheidenen und achtsamen Lebensstil ihrer Besitzerin verkörpern. Ein verdorrtes Herbstblatt auf dem Waldweg kann zum Sinnbild unsere Sterblichkeit werden. In einem alten Fischernetz, das am Hafen liegt, sehen wir den rauen Lebensalltag der Fischer symbolisiert. Die alte Jacke des Großvaters verkörpert seine Persönlichkeit. Das Parfüm der Partnerin ist ein Kondensat unzähliger Erinnerungen an sie. Und eine alte, allein stehende Eiche erinnert uns an einen zur Ruhe gekommenen, einsamen und weisen Mann. Die ästhetische Einstellung verleiht einem Gegenstand symbolische Kraft und macht ihn zum Sinnbild einer Idee, einer Haltung oder eines Lebensgefühls. Die ästhetische Wahrnehmung ist durchtränkt von Assoziationen, Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen. Der ästhetische Gegenstand ist mehr als ein bloßer Gegenstand. Er vergegenwärtigt Vergangenes und verkörpert etwas Allgemeines, letztlich aber Unbestimmtes. Kant spricht von „ästhetischen Ideen“ und meint damit eine Vorstellung, „die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“265. Ein ästhetisches Objekt werde zu einem Symbol, indem es „der Einbildungskraft Anlass gibt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu verbreiten“266 und „eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich kein Ausdruck findet“267. In der Regel sind bedeutsame Objekte Sinnbilder eines allgemeinen Sachverhalts wie der Sterblichkeit, des Lebens oder der Liebe. Goethe spricht davon, dass ein allgemeiner Sachverhalt durch den symbolischen

264

Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In Swanns Welt, 89. Kant, KdU § 49, A 190. 266 Kant, KdU §49, A 192. 267 Kant, KdU § 49, A 194. 265

77 Gegenstand „ins Enge gezogen“268 ist. In einem Symbol verdichtet sich etwas. Symbolische Gegenstände seien, so Goethe an Schiller, „eminente Fälle, die, in einer charakteristischen Mannigfaltigkeit, als Repräsentanten von vielen anderen dastehen, eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern, ähnliches und fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch machen“269. Im symbolischen Gegenstand sehen wir „im Besonderen das Allgemeine“. Insofern gleicht er einem mustergültigen Beispiel. Goethe schreibt: „Wer nun dieses Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“270 Dieses Allgemeine ist bei Goethe jedoch kein exakt definierter Begriff, sondern – ähnlich wie bei Kant – eine letztlich unaussprechliche, vage Idee. Ein Lied, der Duft eines vertrauten Parfums oder der Anblick einer alte Uhr kann von unzähligen vagen Erinnerungen und Gefühlen durchtränkt sein, die man weder genau bestimmen noch vollständig aufzählen kann. Bedeutsame Gegenstände exemplifizieren, wofür sie stehen. Sie verkörpern, was sie bezeichnen. Sie verweisen auf etwas, indem sie dieses an sich selbst zur Geltung bringen – ähnlich wie ein rotes Stoffmuster, das im Unterschied zum Wort „rot“ die Farbe hat, für die es steht.271 „Das Sinnbild lässt uns seinen Inhalt erleben“, wie Franz von Kutschera schreibt.272 Cassirer spricht von der „Transparenz des Sinnlichen“, und meint damit, dass „Sinnliches“ zugleich „Sinnhaftes“ sei, dass es „erfüllt“, „gesättigt“, „durchtränkt“ sei von Sinn.273 Dieses Phänomen bezeichnet er als „symbolische Prägnanz“: Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.274

Bedeutsamkeit ist nicht etwas, das man durch Reflexion oder Nachforschung mühsam entdecken muss. Sie durchdringt von Beginn an das Erle268

Goethe, Philostrats Gemählde. Nachträgliches, in: Goethe, WA, Bd 49/1, 141. Goethe, Brief an Schiller, in: Goethe, WA, Abt. 4, Bd 12, 247. 270 Goethe, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, in: Goethe, WA, Bd. 42/2, 146. 271 Goodman, Sprachen der Kunst, 59. 272 Kutschera, Ästhetik, 62. 273 Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, 95-98. 274 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Band III, 235. 269

78 ben des ästhetischen Objekts – ähnlich einer atmosphärischen Stimmung in einem Raum. Das gilt für Sonnenuntergänge ebenso wie für abgenutzte Stiefel oder einen neuen Porsche. Die ursprüngliche Bedeutsamkeit kann sich aber ändern, wenn wir mehr über das Objekt erfahren, es mit anderen Assoziationen umgeben, unterschiedliche Entstehungskontexte imaginieren oder neue Vergleiche anstellen: Man erlebt einen kunstvoll geschmückten Gegenstand einer fremden Kultur anders, nachdem man erfahren hat, dass es sich bei dem Objekt um ein Folterinstrument handelt. Van Goghs Gemälde Ein paar Schuhe von 1886 lud Martin Heidegger zu folgender poetischer Deutung ein: Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauer Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet.275

Heidegger zufolge sind die Schuhe ein Sinnbild für den harten Alltag, für das Leben und die Welt der Bäuerin. Der amerikanische Kunsthistoriker Meyer Schapiro dagegen meint, es seien van Goghs eigene Schuhe, die Schuhe eines Stadtmenschen also. Er deutet das Bild als metaphorisches Selbstportrait, als Selbstbildnis eines spirituell weit gereisten Künstlers. Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte: Jacques Derrida versucht, die Deutungen von Heidegger und Schapiro als idiosynkratische Projektionen zu entlarven: Heidegger, der bäuerlich Naturverliebte, und Schapiro, der nach New York emigrierte deutsche Jude. Derrida selbst projiziert dabei seinen dekonstruktivistischen, der permanenten Selbstreflexion verschriebenen Denkstil auf das Werk und deutet die Schuhe als gemalte Allegorie der Malerei selbst.276 Van Goghs Bild lässt selbst vor dem Hintergrund historischer Quellen mehrere Deutungen zu – auch die Deutung, 275 276

Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, 22-23. Derrida, Restitutionen. Von der Wahrheit nach Maß.

79 dass es mehrere Deutungen zulassen möchte. Das Beispiel zeigt, dass die Bedeutsamkeit, die Objekte für uns haben, oft mit unserer individuellen Lebensgeschichte zusammenhängen. Bedeutsamkeitserlebnisse variieren stärker zwischen unterschiedlichen Personen als das Erleben von Ausdrucksqualitäten. Was ein Gegenstand für mich bedeutet, hängt stark von meinen persönlichen Erlebnissen mit diesem Gegenstand ab, von den Assoziationen, die ich mit ihm verbinde. In bestimmten Fällen können sich die Bedeutsamkeit und die Ausdrucksqualitäten eines ästhetischen Gegenstands sogar widersprechen. Denken wir an ein Musikstück mit einem fröhlichen Ausdruck, bei dem man am liebsten anfangen würde zu tanzen. Nun kann es aber sein, dass dieses Stück im Radio lief, als das Telefon klingelte und man vom Tod einer nahe stehenden Person erfuhr. Diese Assoziation prägt die Bedeutsamkeit, die das Stück für mich hat, lässt den Ausdruck des Stücks jedoch unangetastet. Es bleibt ein fröhliches Stück – leider aber eines, das mich aufgrund individueller Assoziationen traurig stimmt. Die Bedeutsamkeit eines Gegenstandes lässt sich nicht losgelöst davon beschreiben, wie dieser auf mich wirkt, welche Gefühle, Erinnerungen und Assoziationen er evoziert und in welche Stimmung er mich versetzt. Dagegen spielen bei der Bestimmung des Charakters und der Ausdrucksqualitäten eines Objekts individuelle Assoziationen und Erinnerungen eine weniger wichtige Rolle. Charakterisierungen sind konsensfähiger als Bedeutsamkeitszuschreibungen. 2.3 Wie Ausdruck und Bedeutsamkeit zustande kommen Was veranlasst uns, eine musikalische Passage als „sehnsüchtig“, ein Kleid als „lieblich“ oder ein Muster als „verspielt“ zu bezeichnen? Dieser vielschichtigen Frage möchte ich im Folgenden nachgehen. Vielschichtig ist die Frage deshalb, weil beim Erleben von Ausdrucksqualitäten und Bedeutsamkeiten meist unterschiedliche kognitive Prozesse und Fähigkeiten beteiligt sind. Bestimmte dieser Fähigkeiten sind biologischer Natur, andere sind kulturell erworben, wieder andere verdanken sich der jeweiligen Biographie eines Menschen. Je stärker biologische gesteuerte Mechanismen beteiligt sind, desto konsensfähiger sind unsere ästhetischen Beschreibungen. Die Sensibilität für Ausdrucksqualitäten und Bedeutsamkeiten variiert von Mensch zu Mensch und verdankt sich sicherlich auch einer gewissen Übung.

80 Im Folgenden werde ich unterschiedliche Ursachen und Formen des Ausdrucks- und Bedeutsamkeitserlebens näher erläutern. Die zentralen Begriffe dabei sind: Einfühlung, Ähnlichkeiten, Kausalität, Konvention, Assoziation, Synästhesie, Imagination und Atmosphären. Ich werde diese Begriffe der Reihe nach erläutern und die entsprechenden Phänomene durch Beispiele verständlich machen. Vorab werde ich einführend einige allgemeine Überlegungen darüber anstellen, wie ein bloßes Objekt zu einem zeichenartigen Gegenstand werden kann. 2.3.1 Zeichen bei Peirce Es gibt ganz unterschiedliche Arten, wie etwas für etwas anderes stehen kann: Wolken stehen für Regen, die Freiheitsstatue steht für Freiheit und der sprachliche Ausdruck „Hund“ steht für Hunde. Mit dem Ausdruck „Bedeutung“ können wir sehr verschiedene Dinge meinen: Wir reden von bedeutenden Ereignissen, sagen, die Kette des Großvaters bedeute uns viel, der Rauch am Horizont bedeute, dass irgendwo ein Feuer brennt, die Äußerung „Es ist warm hier drin“ bedeute, jemand solle das Fenster öffnen, und der Ausdruck „grenouille“ bedeute dasselbe wie „Frosch“. Für eine erste Annäherung an die verschiedenen Arten, wie Zeichen mit dem, was sie bedeuten, in Beziehung stehen, ist es hilfreich, auf eine Dreiteilung des Zeichentheoretikers und Pragmatisten Charles Sanders Peirce aufmerksam zu machen. Dieser unterscheidet zwischen drei Arten von Zeichen: (i) Icon, (ii) Index und (iii) Symbol: I had observed that the most frequently useful division of signs is by trichotomy into firstly Likenesses, or, as I prefer to say, Icons, which serve to represent their objects only insofar as they resemble them in themselves; secondly, Indices, which represent their objects independently of any resemblance to them, only by virtue of real connections with them, and thirdly Symbols, which represent their objects, independently alike of any resemblance or any real connection, because dispositions or factitious habits of their interpreters insure their being so understood.277

(i) Ein Zeichen E ist ein Icon für ein Objekt O, wenn zwischen E und O eine erkennbare Ähnlichkeit besteht. Eine Zeichnung ist eine Zeichnung eines Autos und keines Fahrrads, weil das Gezeichnete einem Auto ähnlicher ist als einem Fahrrad. Der Ausdruck „Muuh“ steht für die Laute einer 277

Peirce, A Sketch of Logical Critics (1909), EP 2, 460-461.

81 Kuh, weil er eine Ähnlichkeit hat mit diesen. Die Ähnlichkeit muss jedoch nicht zwingend eine wahrnehmbare Ähnlichkeit sein: Wenn bei Shakespeare die Sonne für Romeos geliebte Julia steht, so deswegen, weil zwischen Julia und der Sonne eine Ähnlichkeit im weiteren Sinne besteht: Beide haben einen großen Einfluss auf Romeos Tagesablauf, beide spenden erfüllende Wärme und machen das Leben für Romeo erst lebenswert.278 (ii) Ein Zeichen I ist ein Index für O, wenn wir aufgrund einer kausalen Beziehung zwischen O und I aus dem Vorliegen von I auf O zu schließen berechtigt sind. In den Beispielen, die Peirce für Indices gibt, ist das Bezeichnete Objekt O jeweils die Ursache des Index-Zeichens I. So ist Rauch in der Regel ein Index für Feuer, ebenso wie Spuren im Schnee ein Zeichen dafür sind, dass man nicht allein ist.279 (iii) Ein Zeichen S ist ein Symbol für O, wenn aufgrund einer Konvention gilt, dass S für O steht. So steht die rote Ampel dafür, dass man anhalten soll, und die Schweizer Flagge steht für die Schweiz. Beides gilt lediglich aufgrund einer geltenden Konvention innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Ähnlichkeit, Kausalität und Konvention können nicht nur Bedeutung stiften, sondern auch Bedeutsamkeit. Für die Bedeutsamkeitsstiftung sind aber auch Einfühlung, Assoziation, Imagination und das Erleben von Atmosphären entscheidend. Im Folgenden werde ich all diese Begriffe näher erläutern. Beginnen möchte ich mit der Einfühlung, da diese grundlegend für unser Ausdrucks- und Bedeutsamkeitserleben ist.

278

Vgl. Kapitel 1.9.1. Peirce spricht in der Regel von einer wirklichen Verbindung (real connection). Seine Beispiele verdeutlichen, was er damit meint: eine kausale Verbindung. In dem Aufsatz „A Syllabus of Certain Topics of Logic“ schreibt er: „An Index is a sign which refers to the object that it denotes by virtue of being really affected by that object“ (EP 2, 291-292). Die Ausdrücke „Ursache“ und „Wirkung“ sollen an dieser Stelle in einem weiten Sinne verwendet und nicht nur auf Ereignisse, sondern auch auf Zustände angewendet werden. So kann der schlechte körperliche Zustand die Wirkung einer ungesunden Lebensweise sein.

279

82 2.3.2 Einfühlung Die Einfühlungstheorie geht von einer natürlichen Neigung des Menschen aus, sich in die von ihm wahrgenommenen Gegenstände hineinzuversetzen, sich in ihre Formen und Bewegungen einzufühlen. Nach Robert Vischer handelt es sich um „ein unbewusstes Versetzen der eigenen Leibform und hiemit auch der Seele in die Objektsform“280. Wir haben „das wunderbare Vermögen“, schreibt er, „unsere eigene Form einer objektiven Form zu unterschieben und einzuverleiben, ungefähr wie die Moosjäger sich in einen Jagdschirm verkriechen, um den Wildenten ungesehen beizukommen“281. Wenn wir uns in eine Form oder einen Bewegungsverlauf einfühlen, dann übertragen wir die dadurch in uns hervorgerufenen Empfindungen, Spannungen, Gefühle und Neigungen auf das Objekt, „indem wir unser eigenes Gefühl seltsam mit der Natur verwechseln“282, wie Vischer schreibt. Nun scheint es, als ob die Straßenlaterne traurig den Kopf hängen lässt und die Säule des Tempels ihre Last mit Ruhe und Stolz trägt, ausgeglichen und geduldig. Wenn wir den Lauf des Wassers in einem Bach betrachten, dann folgen wir den Bewegungen des Wassers nicht nur mit unseren Augen, sondern auch mit unserem Körperempfinden, und fühlen, wie ruhig, sanft und gelassen das Wasser dahin fließt, bis eine Stromschnelle kommt, durch die es sich beschleunigt, aufgewirbelt wird und sich durch die der Strömung trotzenden Steine windet, um anschließend wieder in Stille ausruhend dahin zu gleiten. Wir verfolgen mit unseren Augen eine geschwungene Linie und spüren, wie wir selbst mit der Linie empor streben und uns fallen lassen, wie wir beschleunigt und abgebremst werden. Unsere eigenen Körperempfindungen und Gemütszustände, die wir beim einfühlsamen Verfolgen der Linienführung erleben, übertragen wir dabei auf die Linie. In gewissem Sinne ist die Beschreibung des ästhetischen Objekts also eine Selbstbeschreibung, nämlich die Beschreibung unserer eigenen, auf das Objekt projizierten Empfindungen und Gefühle, die wir während der einfühlsamen Betrachtung erleben. Nach Theodor Lipps kann die Einfühlungstheorie verständlich machen, warum uns bestimmte ästhetische Objekte besser gefallen als andere. Ein ästhetischer Gegenstand werde als schön empfunden, wenn wir uns bei der einfühlsamen Betrachtung ungehemmt, frei und wohl fühlen: „Nur soweit 280

Vischer, Über das optische Formgefühl, 39. Vischer, Über das optische Formgefühl, 52. 282 Vischer, Über das optische Formgefühl, 55. 281

83 diese Einfühlung besteht, sind Formen schön. Dagegen ist die Form hässlich, wenn ich dies nicht vermag, wenn ich mich in der Form oder in ihrer Betrachtung innerlich unfrei, gehemmt, einem Zwange unterliegend fühle“.283 Wenn die Einfühlungstheoretiker Recht haben, dann ist, wie Wilhelm Worringer schreibt, der ästhetische Genuss ein „objektivierter Selbstgenuss“284. Diese Auffassung ist nicht für alle Fälle gleich plausibel. Sie kann vielleicht erklären, warum uns die Bewegungen eines Tänzers oder die Kurven einer Linie gefallen. Aber wie soll sie uns erklären, warum wir eine bestimmte Farbkombination schön finden? Bei manchen Dingen, die wir schön finden, ist es unklar, was es heißen soll, dass wir uns in sie „einfühlen“. Unser Körpergefühl ist gemäß der Einfühlungstheorie eine notwendige Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt in den Genuss ästhetischer Wahrnehmungszustände kommen und Ausdrucksqualitäten erleben können. Heinrich Wöllflin schreibt: Körperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, dass wir selbst einen Körper besitzen. Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müsste uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft usw. ist, sammeln wir Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen.285

Neuere Experimente bekräftigen diese Thesen: Die amerikanische Sozialpsychologin Paula Niedenthal konnte zeigen, dass wir Veränderungen von Gesichtsausdrücken anderer Personen weniger gut bemerken, wenn unsere eigene Mimik dabei eingeschränkt ist, etwa wenn wir während der Betrachtung einen Bleistift zwischen den Zähnen halten.286 Dazu passt eine Bemerkung von Wittgenstein, in der er feststellt, dass er, immer wenn er sich Musik innerlich vorsingt, seine Zähne aneinander reibt. Diese Art des Mitgehens mit Musik bringe eine gewisse Klarheit und Eindeutigkeit in den Rhythmus und in die einzelnen Töne: Wenn ich mir Musik vorstelle, was ich ja täglich und oft tue, so reibe ich dabei – ich glaube immer – meine oberen und unteren Vorderzähne rhyth283

Lipps, Ästhetik, 247. Worringer, Abstraktion und Einfühlung, 124. 285 Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, 73. 286 Niedenthal/Barsalou/Winkielman, Embodiment in Attitudes, Social Perception and Emotion. 284

84 misch aneinander. Es ist mir schon früher aufgefallen, geschieht aber für gewöhnlich ganz unbewusst. Und zwar ist es, als würden die Töne meiner Vorstellung durch diese Bewegung erzeugt. Ich glaube, dass diese Art, im Innern Musik zu hören, vielleicht sehr allgemein ist. Ich kann mir natürlich auch ohne die Bewegung meiner Zähne Musik vorstellen, die Töne sind aber dann viel schemenhafter, viel undeutlicher, weniger prägnant.287

Auch die gegenwärtige Forschung an Spiegelneuronen bekräftigt die Thesen der Einfühlungstheorie. David Freedberg und Vittorio Gallese zufolge sind die aufgrund von Spiegelneuronen stattfindenden Prozesse der innerlichen Nachahmung (inward imitation) und der verkörperten Simulation (embodied simulation) von entscheidender Wichtigkeit beim Erleben von Kunst.288 Bei figurativen Kunstwerken mit repräsentationalem Gehalt würden Gesichtsausdrücke, Haltungen, Bewegungen und Absichten abgebildeter Personen nachempfunden. Bei abstrakter Kunst, etwa einem Bild von Jackson Pollock, würden die Handlungen des Künstlers innerlich nachgeahmt, deren Spuren sich im Kunstwerk finden. Auch unsere Fähigkeit, Ausdrucksqualitäten von Musik zu erleben, scheint sich denselben neuronalen und körperlichen Mechanismen zu verdanken, wie unsere empathische Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen und uns in sie hineinzuversetzen.289 Barbara Montero ist der Ansicht, dass unser sechster Sinn, die Propriozeption – die Art, wie wir unseren eigenen Körper spüren –, eine entscheidende Rolle spielt, wenn wir uns eine Tanzvorführung ansehen: „My suggestion is that when we watch someone dance there is a sense in which we proprioceive aesthetically relevant aspects of the dancer’s movement“290. An dieser Stelle möchte ich fragen, wie diese Überlegungen zu Wittgensteins Ansichten passen: Wittgenstein zufolge hat sich die Philosophie nicht für psychologische Erklärungen zu interessieren. Über die in uns vorgehenden kausalen Prozesse könne man nur Hypothesen aufstellen. Die Philosophie aber solle keine Hypothesen über Verborgenes aufstellen, sondern lediglich beschreiben, was offen zu Tage liegt. Sie bedarf keiner Experimente.291 287

VB, 488. Vgl. Freedberg/Gallese, Motion, Emotion and empathy in esthetic experience. 289 Vgl. Cochrane, A Simulation Theory of Musical Expressivity. 290 Montero, Proprioception as an Aesthetic Sense, 236. 291 Vgl. Kapitel 9.1. Im Zusammenhang mit der Einfühlungstheorie ist folgende Stelle interessant: „Und was will man nun sagen? Dass das Gesicht des Andern mich zur Nachahmung anregt, und dass ich also kleine Bewegungen und Muskelspannungen im 288

85 Wittgenstein betreibt zwar keine Psychologie, wohl aber Phänomenologie – nicht nur eine „Phänomenologie der Sprachgebrauchs“, sondern auch eine Phänomenologie im klassischen Sinn: Der Versuch, möglichst genau zu beschreiben, wie wir etwas erleben. Wenn man die Einfühlungstheorie als ein phänomenologisches Unternehmen versteht, das zum Ziel hat, unser ästhetisches Erleben erhellend zu beschreiben, dann lassen sich Wittgensteins ästhetische Bemerkungen ohne Zwang mit ihr in Einklang bringen.292 Wenn wir versuchen, ein Lächeln als freundliches und nicht als bösartiges Lächeln zu sehen, dann ist es Wittgenstein zufolge hilfreich, selbst ein freundliches Gesicht zu machen. So gelingt es uns, „Freundlichkeit in das Lächeln hineinzulesen“.293 Wittgenstein spricht auch an mehreren Stellen davon, dass man beim Hören von Musik „mitgehen“ und „mitschwingen“ müsse, um die Musik zu verstehen.294 Intensives Musikhören ist Wittgenstein zufolge eine aktive Leistung, denn man „phrasiert“ beim Hören, man „formt“ die Töne und strukturiert die musikalischen Gestalten: Das Hören einer Melodie und die Bewegungen, mit denen man sie in einer bestimmten Weise auffaßt, oder hört [Variante: phrasiert und sozusagen den Eindruck formen hilft] […] Es ist, als ob […] das Tun den Eindruck formte.295

Um die expressiven Nuancen eines Musikstücks zu verstehen, muss man Wittgenstein zufolge mit der Musik „resonieren“, wie Aaron Ridley schreibt.296. Dazu sind wir jedoch nicht immer in der Lage. Wittgenstein schreibt: „You could play a minuet once and get a lot out of it, and play the same minuet another time and get nothing out of it.”297 Auch bei Bildern und Fotografien fehlt uns manchmal die Sensibilität, um uns in abgebildete Gesichter, Gesten, Situationen und Stimmungen einzufühlen. Wittgenstein stellt fest: „Ein Bild lebt nicht immer für mich, wenn ich es sehe.“298

eigenen empfinde, und die Summe dieser meine? Unsinn. Unsinn, – denn du machst Annahmen, statt bloß zu beschreiben. Wem hier Erklärungen im Kopfe spuken, der vernachlässigt es, sich auf die wichtigsten Tatsachen zu besinnen“ (BPP I, § 927). 292 Vgl. Shusterman, Wittgenstein’s Somaesthetics, 124 f. 293 PG, 178. 294 BGM, 81; VB, 548. 295 LSP, 584 u. 586. 296 Ridley, Expression in Art, 221. 297 LA, 29. 298 PU II, 539.

86 Wittgenstein vergleicht ausdrucksvolle Musik und Architektur gerne mit Gesichtern und Gesten.299 Gesichtsausdrücke und Gesten aber versteht man, indem man sich in sie einfühlt und sie innerlich nachmacht. Wir sehen ein trauriges Gesicht, imitieren es und fühlen an uns selbst, was das Gesicht ausdrückt. Scruton schreibt dazu: [O]nce we have understood, we are drawn in: we preconsciously imitate the facial gesture. We come to ‘know what it’s like’ to have a face like that. And this knowledge from within offers us a first-person perspective on another’s life. […] When we enter into another’s physiognomy in this way we begin to imagine his states of mind […] by focusing on the other’s features and gestures we find these states of mind unfolding within us – not really felt, but entertained in imagination. This is why the face is so important to us: it is the window into another self […] We become familiar with states of mind that we cannot necessarily name, but which we know from within, as we know our own emotions.300

Wittgenstein schreibt, in einem „Aspekt ist eine Physiognomie vorhanden, die nachher vergeht. Es ist beinahe, als wäre da ein Gesicht, welches ich zuerst nachahme, und dann hinnehme, ohne es nachzuahmen.“301 Er fragt sich, wie es möglich ist, dass wir ein Stichgesicht als ausdrucksvoll erleben und schreibt: „Wie ist es möglich, dass das Auge, dieser Punkt, in einer Richtung blickt? – ‚Sieh, wie er blickt!’ (Und dabei ‚blickt’ man selbst.)“302. Und über Architektur schreibt er: „Erinnere Dich an den Eindruck guter Architektur, dass sie einen Gedanken ausdrückt. Man möchte auch ihr mit einer Geste folgen.“303 All die zitierten Bemerkungen sprechen dafür, dass Wittgenstein mit einer Phänomenologie der Einfühlung sympathisiert.

299

LoD, 37; VB, 510. Scruton, Wittgenstein on Music, 40-41. 301 PU II, 547. An die zitierte Passage schließt Wittgenstein zwei Fragen an: „Und ist das nicht eigentlich genug der Erklärung? – Aber ist es nicht zu viel?“ 302 PU II, 539. 303 VB, 481. Vgl. VB, 483: „Wie, wenn ich sagte: das Gemeinsame ist, dass meine Hand versucht ist, sie beide nachzuzeichnen? Das wäre jedenfalls eine enge Definition des Schönen.“ 300

87 2.3.3 Ähnlichkeiten Wenn wir manche Autos von vorne betrachten, sehen wir ein Gesicht. Auch in Häuserfassaden und Türklinken sehen wir Gesichter – das Schlüsselloch als Mund, den Türgriff als Nase. Diesen Ähnlichkeiten ist es zu verdanken, dass Autos „ernst“ oder „niedlich“ und Türgriffe „hochnäsig“ aussehen können.

Nicht immer können wir sagen, wo genau wir Augen, Nase oder Mund am Gegenstand anbringen würden, aber wir könnten das passende Gesicht dazu machen, etwa zu den unterschiedlichen Schrifttypen des Buchstabens „e“:

e e e e e In manchen Formen erkennen wir Gesten und Körperhaltungen, etwa in den traurig hängenden Ästen eines Baumes oder in dem sich demütig verneigenden Wasserhahn in unserem Badezimmer.

Oft erinnern uns Formen auch an die Erscheinungsbilder von Tieren, etwa das Stromkabel, das wie eine Schlage auf dem Boden liegt, oder die Kaffeekanne, die wie ein Pinguin auf unserem Frühstückstisch steht. Gesten können wir nicht nur sehen, sondern auch hören. So hören wir in trauriger Musik die langsamen und kraftlosen Bewegungen eines traurigen Menschen. Wenn wir Musik als „traurig“ bezeichnen, dann deswegen, weil

88 sie einem traurigen Menschen gleicht: Sie bewegt sich langsam und wirkt kraftlos. Dazu Bouwsma und Davies: Sad music has some of the characteristics of people who are sad. It will be slow, not tipping, it will be low, not tinkling. People who are sad move slowly, and when they speak, they speak softly and low.304 I think music is expressing in recalling the gait, attitude, air, carriage, posture, and comportment of the human body. Just as someone who stooped over, dragging, faltering, subdued, and slow in his or her movements cuts a sad figure, so music that is slow, quiet, with heavy or thick harmonic bass textures, with underlying patterns of unresolved tension, with dark timbres, and a recurrently downward impetus sounds sad. Just as someone who skips and leaps quickly and lightly, makes expansive gestures, and so on, has a happy bearing, so music with a similar vivacity and exuberance is happy sounding.305

Was Gesten ausdrücken, hängt stark vom Kontext ab. Dasselbe gilt für musikalische Gesten.306 Da sich die Ausdrucksqualitäten von Musik ihrer Ähnlichkeit mit menschlichem Ausdrucksverhalten verdanken, ist das, was Musik ausdrückt, oft so unbestimmt, wie das, was sich in menschlichem Verhalten zeigt.307

304

Bouwsma, The Expression Theory of Arts, 266. Davies, Artistic Expression and The Hard Case of Pure Music, 182. Gegen Susanne Langers These, derzufolge Musik traurig klingt, weil sie Ähnlichkeiten mit Gefühlen der Traurigkeit hat („Music sounds as feelings feel“ (Philosophy in an New Key, 150)), wendet Davies ein: „A single emotion can present different mixes or orderings of sensation and feeling on different occasions, and contrasting emotions can often share a similar outline“ (181). Davies argumentiert auch überzeugend gegen Levinsons Auffassung, dass wir in Musik immer die Emotionen von jemandem hören, einer imaginierten „persona“, wie Levinson meint (Musical Expressiveness and Hearability-asexpression, 204). 306 Vgl. Kapitel 7.5. 307 Davies zufolge kommen Experten aber in der Regel zu übereinstimmenden Urteilen, was die Ausdrucksqualitäten von Musik betrifft: „among qualified listeners who attend to [a piece of music] under appropriate conditions, there is considerable agreement in the emotion-terms with which they describe the music’s expressive character“ (Artistic Expression and The Hard Case of Pure Music, 182). 305

89 2.3.4 Kausalität Von Kindesbeinen an lernen wir, die Ereignisse um uns herum als kausal geordnet wahrzunehmen: Der Stuhl fiel um, weil ihn jemand umgestoßen hat und die Katze miaut, weil sie Hunger hat. Kausalüberlegungen spielen auch für das ästhetische Erleben eine fundamentale Rolle. Betrachten wir noch einmal Van Goghs Bild Ein paar Schuhe und nehmen an, Heidegger habe richtig gelegen in der Annahme, es seien die Schuhe einer Bäuerin. Die Schuhe sind dreckig, voller Lehm. Zudem sind sie stark abgenutzt. Die Schuhe tragen Spuren des mühseligen Alltags der Bäuerin. Wir sehen Wirkungen und schließen auf die Ursachen. Ohne diese Fähigkeit wären wir nicht in der Lage, die Schuhe als Sinnbild des mühseligen Bauernlebens zu sehen. Das Verständnis von Kausalität ist für unser ästhetisches Erleben fundamental: Eine Linie kann aussehen, als „falle sie gleich um“ oder als würde sie durch die Schwerkraft „gebogen“. Wir sehen Bewegungstendenzen und die Einwirkung von Kräften, wo in wirklich alles still steht und keine Kräfte wirken. Das Ausdruckspotential abstrakter Kunst lebt davon. In abstrakten Bildern sehen wir „leichte“ und „schwere“ Formen, „angespannte“ oder „schlaffe“ Figuren und Objekte, die den Eindruck machen, als würden sie sich bewegen oder von anderen angezogen werden. Unsere ästhetische Erfahrung ist durchtränkt von kausaler Erfahrung. Gewisse Theoretiker meinen, Kausalität sei noch aus anderen Gründen zentral für das Zustandekommen von Ausdrucksqualitäten. Sie sind der Ansicht, ein Kunstwerk habe deswegen einen traurigen, stolzen oder ernsten Ausdruck, weil der Künstler bei der Produktion des Kunstwerks traurig, stolz oder ernst war und seinen Gefühlen durch das Schaffen des Kunstwerks Ausdruck verleihen konnte.308 Die Traurigkeit, die wir in einem Bild sehen, ist eigentlich die Traurigkeit des Künstlers. Dieser Theorie zufolge gleicht ein Verzweiflung ausdrückendes Bild einem Schrei des Künstlers. Ich möchte diese Auffassung als „Manifestationstheorie des Ausdrucks“ bezeichnen. Ihr gegenüber steht eine andere kausale Aus308

Vgl. Tolstoi, „What is Art?“, 51: „To evoke in oneself a feeling one has once experienced and […] then by means of movements, lines, colours, sounds, or forms expressed in words, so to transmit that feeling so that others experience the same feeling – this is the activity of art“. Vgl. Wordsworth; Preface to Lyrical Ballads, 23; Collingwood, The Principles of Art, 111. Es ist allerdings fraglich, ob diese Autoren wirklich die These vertreten, die ihnen oft zugeschrieben wird. Das Zitat von Tolstoi zumindest lässt eine schwächere Lesart zu.

90 druckstheorie, die behauptet, der traurige oder ernste Ausdruck eines Kunstwerks verdanke sich nicht den Gefühlen des Künstlers, sondern den durch das Kunstwerk hervorgerufenen Gemütszuständen des Rezipienten: Ein Musikstück sei traurig, weil es die Hörer traurig macht. Diese Auffassung wird gemeinhin als „arousal-theory“ bezeichnet. Ich werde von der „Auslösungstheorie des Ausdrucks“ sprechen. Gegen beide Theorien sprechen gute Gründe: Die Manifestationstheorie scheint offensichtlich falsch zu sein. Jeder gute Schauspieler kann ohne weiteres ein trauriges Gesicht machen, ohne traurig zu sein. Sein Gesicht hat einen traurigen Ausdruck, obwohl es keinem Gefühl der Traurigkeit Ausdruck verleiht. Ebenso kann ein Musikstück traurig sein, ohne dass der Komponist traurig war, als er das Stück komponierte.309 In Eduard Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen von 1854 lesen wir: [D]ie leidenschaftliche Einwirkung eines [musikalischen] Thema’s [liegt] nicht in dem vermeintlich übermäßigen Schmerz des Componisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern im Tremolo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern in der Chromatik.310

Es kann gut sein, dass traurige Künstler vermehrt Kunstwerke schaffen, die einen traurigen Ausdruck haben. Dies hat in der Regel jedoch andere Gründe als die Manifestationstheorie vermutet. Der Künstler möchte vielleicht, dass sein Werk seine Gefühlsstimmung reflektiert, also setzt er sein Material gezielt so ein, dass das Werk diejenigen Gefühle ausdrückt, die er hat. Das Werk drückt nun zwar aus, was der Künstler fühlte, aber nicht deswegen, weil er es fühlte, sondern weil er ein geschulter Künstler ist und weiß, wie er ein Werk gestalten muss, damit es bestimmte Gefühle, in diesem Fall seine eigenen, zum Ausdruck bringt. Die Manifestationstheorie hat in einem Punkt allerdings Recht: Oft erkennen wir im Werk die Spuren der Produktionsweise. Der energische, wütende Ausdruck eines Bildes rührt oft daher, dass der Betrachter im Bild die Spuren der energischen und aus Wut getätigten Bewegungen des Künstlers erkennt. Man denke an Action-Painting. Nur wenige Ausdrucksqualitäten eines Kunstwerks lassen sich jedoch auf diese Weise erklären. 309

Vgl. Kivy, The Corded Shell: Reflections on Musical Expression, 14-15; Davies, Artistic Expression and The Hard Case of Pure Music, 184. 310 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 194.

91 Auch die Auslösungstheorie hat ihre Schwächen. Wie ich im Kapitel über „Einfühlung“ gezeigt habe, versetzen wir uns bei einer ästhetischen Betrachtung zwar oft in Formen und Bewegungen, ahmen sie innerlich nach und spüren dadurch in gewisser Weise die wahrgenommene Spannung, die Traurigkeit, den Stolz und die Fröhlichkeit an uns selbst. In der Regel werden wir aber deswegen nicht angespannt, traurig, stolz oder fröhlich. Emotionen imaginativ zu simulieren, ist etwas anderes, als diese Emotionen tatsächlich zu haben. In solchen Fällen findet statt, was Ridley „resonating“ und Gabrielsson „mirroring“, „echoing“ oder „osmosis“ nennt.311 Wittgenstein schreibt dazu: „Hierher gehört, glaube ich, die Frage: Macht ‚traurige Musik’ uns traurig? Es scheint, Ja und Nein. Wir machen z.B. ein trauriges Gesicht, oder doch ein Gesicht, welches Trauer spiegelt“312. Wenn wir ein schmerzverzerrtes Gesicht sehen, ergreift uns nicht der Schmerz, sondern in erster Linie das Mitleid. Das Gesicht drückt deswegen jedoch kein Mitleid aus. Filme können uns langweilen, ohne dass sie deswegen Langeweile ausdrücken. Wenn wir eine herablassende Geste oder einen blasierten Gesichtsausdruck beobachten, dann werden wir weder herablassend noch blasiert, sondern wir schämen uns für die Person oder empfinden Antipathie. Mit den Worten von Franz von Kutschera: „Wir können etwas als traurig empfinden ohne deshalb selbst traurig zu sein, und umgekehrt, ebenso wie wir etwas als warm empfinden können, ohne dass uns selbst warm ist“313. Wittgenstein meint: „The expression of a face is not an effect of the face – on me or anyone. You could not say that if anything else had this effect, it would have the expression on this face.”314 Antidepressiva haben zwar einen fröhlichmachenden Effekt, aber keinen fröhlichen Ausdruck. Wir übertragen unsere Glücksgefühle nicht auf die Tabletten. Es gibt keine Verschmelzung von Gefühl und Gegenstand.

311

Ridley, Expression in Art, 221; Vgl. Gabrielsson, Emotion Perceived and Emotion Felt: Same or Different? 312 LSP, § 768. 313 Kutschera, Ästhetik, 28. 314 LA, 30.

92 2.3.5 Konvention Unser Leben ist von Konventionen und Gewohnheiten geprägt. Vieles ist arbiträr: man hätte es genauso gut anders machen können. Anstatt rechts zu fahren, könnten wir, wie die Engländer, links fahren. Hauptsache, alle machen mit. Wir können uns leicht vorstellen, dass ein Handzeichen, das in der eigenen Kultur Verachtung ausdrückt, in einer anderen als Geste der Hochachtung gilt. Wer in Deutschland nickt, sagt ja. In Griechenland bedeutet es „Nein“. Wer als Europäer nach China kommt, der versteht in der Regel nicht nur die Sprache nicht, er missdeutet auch Mimik und Gestik. Und selbst, wenn er sich die chinesische Bedeutung der Gesten, ihre kommunikative Funktion, vor Augen hält, wird es längere Zeit dauern, bis er deren Bedeutsamkeit auch erlebt – und das Schlürfen, Schmatzen und Rülpsen beim Essen ignoriert, das sich Schnäuzen dagegen als unhöflich empfindet. Konventionelle Zeichen haben oft nicht nur eine Bedeutung, sondern auch eine Bedeutsamkeit: man denke an Landesflaggen, an das PeaceZeichen oder an das Swastika-Symbol. Solche Symbole haben zahlreiche Konnotationen und ihr Erleben ist durchtränkt mit Vorstellungen und Gefühlen. Ihre Bedeutsamkeit hängt stark von Konventionen ab. Wittgenstein schreibt: „wearing blue or green trousers may in a certain society mean a lot, but in another society it may not mean anything“315. Wenn ein atheistischer Metzger und ein Hindu die Schlachtung einer Kuh beobachten, so sind ihre Erlebnisse dabei gänzlich verschieden: dem einen gilt als Essensbereitung, was für den anderen einen unverzeihlichen Tabubruch darstellt. Das Beispiel zeigt, dass die Trennlinie zwischen Überzeugungen über die Welt und konventionalen Regeln nicht immer scharf zu ziehen ist – zumindest aus einer Wittgensteinschen Perspektive.316 2.3.6 Assoziation Unser Assoziationsvermögen verknüpft, was räumlich und zeitlich nahe beieinander liegt und was wir zusammen erlebt haben. Sie stellt aus einem Ausschnitt ein Ganzes her, setzt das Puzzle zusammen und lässt – geleitet von unserer Erinnerung oder unserer Phantasie – eine atmosphärisch gestimmte Erlebniswelt erstehen. Ein Werbebild, auf dem eine Palme am 315 316

LA, 12. ÜG, § 97.

93 Strand zu sehen ist, weckt unsere Erinnerungen, unsere Einbildungskraft und unsere Sehnsüchte. Wir phantasieren, wie es wäre, unter dieser Palme zu liegen, den Wellen zuzuhören und die Sonnencreme auf der eigenen Haut zu riechen. Diese Assoziationen projizieren wir in das Bild der Palme und verleihen ihm so seine anziehende Bedeutsamkeit. Ebenso wie das Erscheinungsbild der Palme nimmt aber auch der Geruch der Sonnencreme andere Eindrücke gleichsam in sich auf. Wir müssen, zuhause angekommen, keine Ferienfotos anschauen, sondern lediglich noch einmal an der Sonnencreme riechen, um ein Bild des Strandes, die sommerliche Atmosphäre und das Rauschen des Meeres ins Bewusstsein zurückzuholen. Nach Theodor Fechner spielt unsere Assoziation einen entscheidenden Part beim ästhetischen Erleben. Er spricht in seiner Vorschule der Ästhetik gar von einem „Ästhetischen Assoziationsprinzip“ und schreibt: In der That, sieht denn der, der eine Orange sieht, blos einen runden gelben Fleck in ihr? Mit dem sinnlichen Auge, ja; geistig aber sieht er ein Ding von reizendem Geruch, erquickendem Geschmack, an einem schönen Baume, in einem schönen Lande, unter einem warmen Himmel gewachsen, in ihr; er sieht sozusagen ganz Italien mit in ihr, das Land, wohin uns von jeher eine romantische Sehnsucht zog. Aus der Erinnerung an all das setzt sich die geistige Farbe zusammen, womit die sinnliche verschönernd lasiert ist: indess der, der eine gelbe Holzkugel sieht, eben bloß trocknes Holz hinter dem runden gelben Fleck sieht, das in der Drechselwerkstatt gedreht und vom Lackierer angestrichen ist. Beidesfalls associirt sich der aus der Erinnerung resultierende Eindruck so unmittelbar an die Anschauung, verschmilzt so vollständig damit, bestimmt so wesentlich den Charakter derselben mit, als wenn er ein Bestandteil der Anschauung selbst wäre.317

Ohne assoziative Fähigkeiten wären wir außerstande, ästhetische Erlebnisse zu haben. Die Schönheit einer Sache lässt sich – entgegen der Ansicht von Kant – nicht von den angenehmen Assoziationen trennen, die zum Gesamterlebnis des Objekts beitragen und den Wahrnehmungseindruck gleichsam färben. Fechner schreibt: Wenn es Aesthetiker giebt, welche dem associativen Faktor einen wesentlichen Anteil an der Schönheit überhaupt absprechen und behaupten, dass seine Wirkung von der Wirkung eines Gegenstandes abzuziehen sei, um dessen Schönheit rein zu haben, so ist dies nur eine doctrinäre Trennung, von welcher die lebendige Wirkung der Schönheit und der lebendige Begriffsgebrauch nichts weiss […] In der That, was von der sixtinischen Ma317

Fechner, Vorschule der Ästhetik, 89.

94 donna nach Abzug aller Association noch übrig bleibt, ist eine kunterbunte Farbentafel, der es jedes Teppichmuster an Wohlgefälligkeit zuvor thut.318

Was wir mit einem Objekt assoziieren, hängt stark von unseren Erinnerungen ab. Wir verknüpfen, was wir in der Vergangenheit regelmäßig zusammen erlebt haben. Unscheinbare Kleinigkeiten können in uns Assoziationen auslösen und Erinnerungen an vergangene Tage wecken. Düfte und Geschmackserlebnisse, die wir aus unserer Kindheit kennen, können unsere Vergangenheit wieder aufleben lassen. Der Erzähler von Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erlebt, wie sich die ganze Umgebung, in der er seine Kindheit verbrachte, aus dem Geschmack eines in Lindenblütentee getauchten Sandtörtchens (Madeleine) in seiner erinnernden Phantasie wieder herstellt – das Paradebeispiel einer unwillkürlichen Erinnerung (memoire involontaire): Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte […] trat das graue Haus mit seiner Straßenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzu […] und mit dem Haus die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war. [So] stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.319

Die Art, wie wir Dinge erleben, ist Proust zufolge geprägt durch unsere schlummernden Erinnerungen, die wir mit ihnen verbinden: Von einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart miteinander verwoben, daß die Sache, die man im Sinn hat, oder das Buch, das man liest, ganz dahinter verschwindet. Überall hat man etwas von sich ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals Pensées kann man in einer Seifenreklame machen.320

318

Fechner, Vorschule der Ästhetik, 118. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In Swanns Welt, 67. 320 Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Flüchtige, 190. 319

95 Daher lebt der beste Teil unseres Gedächtnisses außerhalb von uns, in dem feuchten Hauch eines Regentages, dem Geruch eines ungelüfteten Raums oder dem Geruch eines eben entzündeten, aufflammenden Feuers, das heißt überall da, wo wir von uns aus selbst das wiederfinden, was unser Verstand als unverwendbar abgelehnt hatte, die letzte Reserve, die beste, die Vergangenheit, die wenn alle unsere Tränen versiegt scheinen, uns noch immer neue entlocken wird.321

Nicht nur Gegenstände, an die wir uns erinnern, sind mit Assoziationen durchtränkt. Auch fremdartige Gegenstände wecken Assoziationen. Man denke an Artefakte einer fremden Kultur, deren Herstellungsweise und Funktion wir zwar nicht kennen, zu denen wir aber passende Geschichten erfinden können. Dass die imaginierte Welt, in die wir das fremde Artefakt einordnen, nicht die Welt ist, aus der es wirklich stammt, spielt für das ästhetische Erlebnis der Bedeutsamkeit keine Rolle. Phänomenologisch entscheidend ist, dass wir überhaupt dazu neigen, ganzheitliche Erlebnissituationen, Stimmungen und Lebensweisen aus einzelnen Objekten, Ausschnitten und Details imaginativ zu erschließen. 2.3.7 Synästhesie Obwohl die meisten von uns keine Synästhetiker sind und also weder Farben hören, noch Töne sehen, ist uns das Phänomen der Synästhesie in einem abgeschwächten Sinne sehr wohl vertraut: Wir hören raue Stimmen, helle und weiche Töne, und wir können warme von kalten Farben unterscheiden. Wir können auch die Vokale „a“, „e“, „i“, „o“, „u“ nach ihrer Helligkeit ordnen. Und wir können den zwei Namen „Bouba“ und „Kiki“ passende Formen zuordnen. Über 95 Prozent ordnen der Figur links den Namen „Bouba“ und der rechten Figur den Namen „Kiki“ zu:322

321

Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten junger Mädchenblüte, 310. 322 Ramachandran, Synaesthesia: A Window into Perception, Thought and Language, 19.

96

Wenn wir eine raue Oberfläche betrachten, dann können wir uns leicht vorstellen, wie es wäre, mit der Hand darüber zu gleiten. Wir brauchen nicht unsere Hände, um das Raue einer Oberfläche zu fühlen, sondern wir tasten es gleichsam mit unseren Augen ab. Wenn wir im Wohnzimmer arbeiten und hören, wie in der Küche die Kaffeemaschine angeht, dann assoziieren wir mit dem Geräusch den Duft des frisch gemahlenen Kaffees. Manchmal glauben wir sogar, wir könnten den Kaffee unmittelbar nach dem Angehen der Maschine wirklich schon riechen. Dann hören wir das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos – aber wir hören es nicht nur, wir sehen einen Kleinwagen vor uns und verfolgen ihn mit unserem inneren Auge. Synästhetische Empfindungen sind charakteristisch für eine Vielzahl unserer ästhetischen Erlebnisse. Wir erleben Farben als „stechend“, Formen als „weich“ und Klänge als „hell“. Ausdrücke wie „weich“, „rau“, „warm“, „hell“, „bewegt“, „schwer“ und „matt“ werden in der Regel nur dann als ästhetische Adjektive gebraucht, wenn wir sie in einer sekundären Weise verwenden: Wenn wir also Klänge „weich“ und Farben „warm“ nennen. Wenn wir dagegen einen Fußball als „weich“ oder eine Suppe als „warm“ bezeichnen, dann verwenden wir die Ausdrücke nicht als Prädikate für ästhetische Qualitäten. 2.3.8 Imagination Das Imaginieren ist, im Unterschied zum Assoziieren, in der Regel ein aktives Geschehen, das wir steuern können. Wir können, mehr oder minder frei von tatsächlich gemachten Erfahrungen, bereits bekannte Sinneseindrücke neu kombinieren und variieren. Imagination kann unabhängig von aktualen Wahrnehmungszuständen sein, etwa wenn wir die Augen schließen und uns einen fliegenden Elefanten vorstellen. Sie kann aber auch an Wahrnehmungsgehalte gebunden sein, etwa wenn wir uns vorstellen, das Gelächter von Lachmöwen sei das von Menschen. Im letzteren Fall ist, was wir wahrnehmen, gleichsam eine Legierung aus Wahrgenommenem und Imaginiertem: Wir hören die Schreie der Möwen als das Gelächter von Menschen. Es ist diese zweite, an aktuale Wahrnehmungszustände gebundene Art der Imagination, welche für das ästhetische Erleben wichtig ist. Beim Anblick von gewissen lächelnden Gesichtern können wir uns vorstellen, die Person lache aus Freude, aus Verlegenheit oder aus Schaden-

97 freude. Je nach imaginiertem Kontext erleben wir das lachende Gesicht entweder als liebevolles, unsicheres, heimtückisches oder gar als böses. Das Gesicht absorbiert gleichsam den imaginierten Kontext. So bekommen dieselben Gesichtszüge, je nach hinzugedachter Geschichte, einen anderen Ausdruck. Was tue ich, wenn ich das Lächeln einmal als freundliches einmal als böses auffasse? Stelle ich es mir dann nicht in einer räumlichen und zeitlichen Umgebung vor die ich freundlich oder boshaft nenne? So könnte ich mir zu dem Bild vorstellen, dass der Lächelnde auf ein spielendes Kind herniederlächelt, oder aber auf das Leiden eines Feindes.323

In unserem Alltag ist die Erinnerung die Literatin unseres Erlebens: sie schreibt die passenden Geschichten zu den Gegenständen, die wir wahrnehmen. In ästhetischen Einstellungen dagegen überlassen wir der Imagination die Rolle des Dichters und Romanciers. 2.3.9 Atmosphären Wenn Räume eine Bedeutsamkeit haben, sprechen wir von „Atmosphären“. Die Atmosphäre eines Raumes kann gemütlich sein, angespannt, heiter, bedrückend, erhebend, melancholisch, verlassen, erotisch und vieles mehr. Für Gernot Böhme sind Atmosphären nicht nur grundlegend für die Ästhetik, sondern sie sind auch das phänomenologisch Primäre unserer alltäglichen Wahrnehmung: Man betritt eine Wohnung, und es schlägt einem eine kleinbürgerliche Atmosphäre entgegen. Man betritt eine Kirche, und man fühlt sich von einer heiligen Dämmerung umfangen. Man erblickt das Meer und ist wie fortgerissen in die Ferne. Erst auf dem Hintergrund bzw. in dieser Atmosphäre wird man dann Einzelheiten unterscheiden. Man wird Dinge erkennen, man wird Farben sehen, Gerüche identifizieren. Wichtig ist, dass dann jedes einzelne gewissermaßen von der Atmosphäre getönt ist. Die Möbel drängen sich in kleinbürgerlicher Enge, das Blau des Himmels scheint zu fliehen, die leeren Bänke der Kirche laden zur Andacht ein. So jedenfalls erfährt es der Wahrnehmende.324

323 324

PG, 177. Böhme, Synästhesien, 95.

98 Atmosphären resultieren aus dem Zusammenspiel der Räumlichkeit, der Farben, Formen, Materialien, des Lichtes, des Duftes und der Akustik. Neue Gegenstände, andersfarbig gestrichene Wände, Hintergrundmusik oder ein im Raum versprühter Duft können die Atmosphäre prägen, betonen, unterstreichen, verstärken, aber auch stören, verändern oder gar umschlagen lassen, etwa von einer gemütlichen in eine bedrückende Atmosphäre. Manche Gegenstände sind atmosphärisch dominant, charakteristisch und „versprühen“ eine unverwechselbare Atmosphäre, gleichgültig, in welchem Kontext sie sich befinden. Ihr Beitrag zur Atmosphäre eines Raumes ist vergleichsweise kontextresistent, sie passen sich ihrer Umgebung nicht an. Andere Objekte dagegen sind atmosphärisch irrelevant, charakterlos und fügsam. Sie gleichen sich dem Kontext an und assimilieren Atmosphäre des Raumes. Der Begriff der Atmosphäre unterscheidet sich von dem Begriff des Ausdrucks in einem entscheidenden Punkt: Atmosphären sind durch die Befindlichkeiten individuiert, die sie hervorrufen. Böhme schreibt dazu: „Ein Tal wird also nicht heiter genannt, weil es in irgendeiner Weise einem heiteren Menschen ähnelte, sondern weil die Atmosphäre, die es ausstrahlt, heiter ist und diese einen Menschen in eine heitere Stimmung versetzen kann“325. Eine Atmosphäre ist gemütlich, weil sie eine gemütliche Stimmung hervorruft. Ein Raum kann nicht gemütlich sein, wenn er typischerweise ein angespanntes Verhalten auslöst. Dagegen kann eine Maske Trauer oder Stolz ausdrücken, ohne dass sie uns traurig oder stolz macht. In entspannten Atmosphären sind wir entspannt, in erotischen stimuliert oder erregt. Wir fühlen uns aber nicht stolz oder wütend, wenn wir Gesten des Stolzes oder wütende Gesichter sehen. Wenn wir an eine gemütliche Bauernstube im Unterschied zu einer modernen und schlichten Wohnungseinrichtung denken, so wird klar, dass Atmosphären uns nicht nur in Stimmungen und Befindlichkeiten versetzen, sondern auch Lebensstile anschaulich machen. Ein Raum kann eine Gedankenwelt sichtbar und ein Lebensgefühl spürbar machen. 2.4 Künstlerischer Ausdruck Kunstwerke sind um eine Dimension reicher als andere ästhetische Gegenstände: Hinter ihnen steht ein Künstler. Sie sind, im Unterschied zu ande325

Böhme, Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, 34.

99 ren ästhetischen Objekten, „über etwas“, wie Danto schreibt.326 Angesichts eines Kunstwerks darf und sollte man sich fragen: Was gibt uns der Künstler durch sein Werk zu verstehen? Kunstwerke sind immer auch Mittel der Kommunikation. Sie sind Botschaften. Das ist ein Grund, weshalb wir Kunstwerke, nicht aber alltägliche ästhetische Objekte, interpretieren und verstehen können. Künstler bringen in ihren Werken etwas zum Ausdruck, sie geben etwas zu verstehen. Was ein Künstler durch sein Werk zum Ausdruck bringt, muss allerdings unterschieden werden von den Ausdrucksqualitäten des Werks. Sätze wie „Der Künstler bringt hier seine Kritik am Establishment zum Ausdruck“ haben kaum Ähnlichkeit mit Sätzen wie „Diese Schriftart hat einen verspielten Ausdruck“. Das Verhältnis zwischen den Ausdrucksqualitäten eines Werks und dem, was der Künstler durch das Werk zu verstehen gibt, gleicht dem Verhältnis zwischen Gesagtem und Gemeintem. Man meint aber nicht immer, was man sagt. Manchmal meint man mehr als man sagt und manchmal sogar das Gegenteil des Gesagten, wie im Fall der Ironie. Wenn Marcel Duchamps ein handelsübliches Pissoir ins Museum stellen lässt, dann ist das, was er mit dem Werk „zum Ausdruck bringt“, verschieden von den Ausdrucksqualitäten des ausgestellten Objekts. Müsste man die Ausdrucksqualitäten des Pissoirs beschreiben, würde man vielleicht auf die Reinheit, den Schwung, aber auch auf das leicht Groteske der Fortsätze verweisen, die der Befestigung und dem Anschluss von Wasserrohren dienen. Als Kunstwerk ist das Pissoir jedoch mehr: Es ist „originell“, „provokativ“ und „richtungweisend“. Zum Vergleich: Ich kann jemandem einen hässlichen Frosch schenken und ihm damit zu verstehen geben, dass ich ihn liebe. Man sollte nicht nur zwischen den Ausdrucksqualitäten und dem vom Künstler zum Ausdruck Gebrachten unterscheiden, sondern auch zwischen dem, was ein Künstler durch das Werk zum Ausdruck bringt, und dem, was sich in einem Kunstwerk manifestiert.327 In einem Bild mögen sich zahlreiche Konventionen und Anschauungen des Künstlers und seiner Zeit manifestieren, ohne dass diese in dem Werk zum Ausdruck gebracht würden. So kann sich in einem Gemälde die rigide Sexualmoral einer Zeit manifestieren, ohne dass der Maler mit seinem Bild diese Vorstellungen transportieren möchte, auf sie hinweist, sie kritisiert oder bekräftigt. In einem Roman können sich rassistische Vorstellungen eines Autors manifes326 327

Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, 20. Vgl. Danto, Symbolischer Ausdruck und das Selbst.

100 tieren, ohne dass der Roman diese Vorstellungen zum Ausdruck bringt. Die „Themen“ des Romans sind andere: etwa Liebe, Eifersucht und Verrat.

101

3. Der Bereich des Ästhetischen Unter der Bezeichnung „Ästhetik“ verstand man in der philosophischen Tradition üblicherweise ein Nachdenken über das Schöne und die Kunst.328 Die Ästhetik sollte bestimmen, was Schönheit ist und wodurch sich Kunstwerke auszeichnen. Diese traditionelle Auffassung ist allerdings zu eng. Schließlich gibt es unzählige Objekte, die weder schön sind, noch als Kunstwerke gelten dürfen, die aber dennoch ästhetische Qualitäten aufweisen, ästhetische Erlebnisse hervorrufen und zum Gegenstand ästhetischer Urteile werden können. So schreibt Maria Reicher in ihrer Einführung in die philosophische Ästhetik: In ästhetischer Einstellung kann man auch eine Strasse als trist wahrnehmen, eine Hausfassade als schäbig, einen Platz als kahl, die Gestaltung eines Schaufensters als einfallslos, menschliche Körper (einschließlich des eigenen) als unproportioniert, die Farbgestaltung des Innenraums von Straßenbahnen als grell, und so fort.329

Es scheint, als könnten wir jedem beliebigen Objekt gegenüber eine ästhetische Einstellung einnehmen und ein Urteil über seine ästhetischen Qualitäten fällen. Was aber ist eine ästhetische Einstellung? Was sind ästhetische Qualitäten? Und wodurch zeichnen sich ästhetische Urteile aus? Über jede dieser Fragen könnte man ein eigenes Buch schreiben. Angesichts dieser Tatsache wird dieses Kapitel äußerst knapp ausfallen. Es handelt sich dabei um ein systematisches Kapitel, in dem ich einige Grundbegriffe kläre, die im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder vorkommen. Der Name „Wittgenstein“ wird dabei kaum auftauchen. Dennoch soll meine Darstellung mit den Bemerkungen Wittgensteins vereinbar sein und als systematische Ergänzung zu den primär exegetischen Kapiteln verstanden werden.

328

Majetschak, Ästhetik zur Einführung, 9: „Als ‚Philosophische Ästhetik’ im weiten und vagen Sinne lässt sich jegliche Form des philosophischen Nachdenkens über das Schöne und die Kunst bezeichnen“. 329 Reicher, Einführung in die philosophische Ästhetik, 42.

102 3.1 Ästhetische Einstellung Wir können prinzipiell jeden beliebigen wahrnehmbaren Gegenstand aus einer ästhetischen Perspektive betrachten: nicht nur Kunstobjekte wie Bilder, Skulpturen, Installationen, Fotografien, Musikstücke, Filme oder Gebäude, sondern auch Kleider, Frisuren, Möbel und Autos, ebenso wie Sonnenuntergänge, Blumen, Berge und Schwäne. Bei manchen Gegenständen fällt es uns leicht, eine ästhetische Einstellung einzunehmen, bei andern schwer: Wenn eine Symphonie erklingt, überlassen wir uns den Klängen, nicht aber, wenn ein Baby schreit. Nicht jeder Gegenstand eignet sich für eine ästhetische Betrachtung gleich gut und nicht immer ist die ästhetische Beschäftigung gleich lohnend. Manche Gegenstände sind ästhetisch wertvoller als andere: reichhaltiger, stimmiger, reizvoller, ausdrucksvoller, bedeutsamer oder beglückender.330 Ästhetische Einstellungen zeichnen sich typischerweise durch folgende Merkmale aus: (i) Wir betrachten einen ästhetischen Gegenstand um der Betrachtung willen, ohne praktische oder theoretische Interessen, ohne äußere Zwecke. Nur das Erlebnis zählt. Wir geben uns dem Wahrnehmungserlebnis um seiner selbst willen hin:331 Wir schauen nicht in die Wolken, um zu erfahren, ob es bald zu regnen beginnt und wir einen Schirm brauchen werden, sondern um uns dem Spiel von Farben, Formen und Bewegungen zu überlassen. (ii) Uns interessiert weniger, wie ein Gegenstand tatsächlich beschaffen ist, sondern vielmehr, wie er uns erscheint.332 Wir fragen, wie etwas auf uns wirkt: Ein Tanz kann leicht und beschwingt wirken, aber für den Tänzer überaus anstrengend sein. Eine Vase kann massiv aussehen und trotzdem zerbrechlich sein. (iii) Bei der ästhetischen Beurteilung überlassen wir uns möglichst unvoreingenommen dem phänomenalen Eindruck, den der ästhetische Gegenstand bei uns hinterlässt.333 Das ästhetische Wohlgefallen basiert allein auf 330

Vgl. Seel, Die Kunst der Entzweiung, 181; Ästhetik des Erscheinens, 63-65; Vgl. Iseminger, The Aesthetic State of Mind, 99; Bullough, „Psychical Distance“ as a Factor in Art and as an Aesthetic Principle, 298-299. 332 Seel, Ästhetik des Erscheinens: „Die ästhetischen Objekte sind Objekte des Erscheinens“ (47); „Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen – das ist der Brennpunkt der ästhetischen Wahrnehmung“ (49). Vgl. Kant, KdU, § 2. 333 Vgl. Hume, Of the Standard of Taste: „when any work is addressed to the public, though I should have a friendship or enmity with the author, I must depart from this 331

103 dem ästhetischen Wert des Objekts: Wenn uns eine Rose gefällt, weil sie das Geschenk einer geliebten Person ist, oder wir eine Person ansprechend finden, weil wir sie begehren, dann ist das Wohlgefallen kein rein ästhetisches. (iv) Ob ein Gegenstand gewissen nicht-ästhetischen Ansprüchen genügt, ob er etwa seine Funktion erfüllt, ist für die ästhetische Betrachtung irrelevant:334 Ein Stuhl kann wunderschön sein, obwohl er instabil ist. Der Anblick einer alten Burgruine kann ergreifend sein, obwohl die Burg unvollkommen ist und Teile fehlen. Die genannten Merkmale sind zwar charakteristisch oder typisch für ästhetische Einstellungen, sie sind jedoch weder notwendige noch hinreichende Bedingungen. George Dickie und Noël Carroll haben gezeigt, dass ästhetische Einstellungen nicht immer „interesselos“ oder „distanziert“ sind, wie man im Anschluss an Kant forderte: Wenn ein Musikstudent ein Stück von Johann Sebastian Bach aufmerksam hört, dann tut er dies in einer ästhetischen Einstellung, auch wenn er das Stück nicht „um des Hörens willen“ hört, sondern um die bevorstehende Prüfung zu bestehen.335 Entscheidend ist, dass er die Musik aufmerksam verfolgt und ihre ästhetischen Qualitäten wahrnimmt. Wenn wir wissen möchten, was ästhetische Einstellungen auszeichnet, sollten wir fragen, worauf wir achten, wenn wir ein alltägliches Objekt aus ästhetischer Perspektive betrachten. Und die Antwort lautet: Wenn wir einem Objekt gegenüber eine ästhetische Einstellung einnehmen, dann achten wir auf seine ästhetischen Qualitäten. Die Frage ist also: Was sind ästhetische Qualitäten?

situation; and considering myself as a man in general, forget, if possible, my individual being, and my peculiar circumstances”; Kant, KdU, §§ 2 und 6; Stolnitz, Aesthetics and the Philosophy of Art Criticism, 32-36. 334 Vgl. Kant, KdU, § 15-16. Nach Kant können auch unvollkommene Gegenstände schön sein. Ästhetische Perfektion ist etwas anders als funktionale Perfektion. Damit wendet er sich gegen Baumgarten (Aesthetica, § 14). 335 Dickie, The Myth of the Aesthetic Attitude; Carroll, Aesthetic Experience: A Question of Content. Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, 222 ff.

104 3.2 Ästhetische Qualitäten Es empfiehlt sich, zwischen folgenden Typen ästhetischer Qualitäten zu unterscheiden:336 (i) Bewertungsqualitäten: schön, ansprechend, hässlich. (ii) Formale Qualitäten: ausgewogen, harmonisch, schlicht, abwechslungsreich, kontrastreich, farbenfroh, schwungvoll, dicht, überfüllt, chaotisch, diffus, klar, exakt, streng, einheitlich. (iii) Expressive Qualitäten: traurig, fröhlich, melancholisch, voller Wut, kraftvoll, verspielt, lebhaft, nervös, schüchtern, wirr, heroisch, heiter, sprunghaft, voller Energie, abgeklärt, lieblich, verlassen, ruhig. (iv) Symbolische Qualitäten: sinnbildlich für Vergänglichkeit, Unschuld, Liebe, Rebellion, den Tod oder das Leben. (v) Synästhetische Qualitäten: warmes Rot und tiefes Blau, weiche, reine und helle Klänge, zarte Linien, ruhige Formen und leichte Bewegungen. (vi) Evokative Qualitäten: rührend, furchteinflößend, aufwühlend, herzzerreißend, abstoßend, spannend, unterhaltsam, langweilig. Bei Kunstwerken kommen folgende drei Klassen hinzu: (vii) Kontextbezogene Qualitäten: innovativ, gewagt, traditionsgebunden, reich an Anspielungen, durchdacht, provokant, richtungweisend. (viii) Repräsentationale Qualitäten: treffend, detailgetreu, aussagekräftig, karikaturistisch, überzeichnet, pointiert, entfremdet, phantasievoll. (ix) Stilistische Qualitäten: barock, impressionistisch, kafkaesk. 336

Ähnliche, jedoch weniger feine Unterscheidungen finden sich in: Hermeren, The Variety of Aesthetic Qualities; Goldman, Aesthetic Properties.

105 (x) Technische Qualitäten: gekonnt, gut gemacht, fachmännisch, tadellos. Ästhetische Qualitäten können für oder gegen den ästhetischen Wert einer Sache sprechen: „[they] provide reasons for aesthetic judgements or evaluations“337 und sind somit „value-grounding qualities“338. Uns gefällt ein Musikstück, weil es melancholisch ist, und wir finden ein abstraktes Bild erstklassig, weil es ausdrucksstark und gewagt ist. Rein klassifikatorische Prädikate wie „… ist eine Sonate“ beschreiben also keine ästhetischen Qualitäten, da man ein Musikstück nicht für ästhetisch wertvoll halten kann, weil es eine Sonate ist.339 Mit den meisten ästhetischen Äußerungen schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir beschreiben und bewerten eine Sache, etwa wenn wir sagen, ein Kleid sei „elegant“ oder eine Fotografie sei „ausgewogen“. Ästhetische Ausdrücke wie „schlicht“, „heiter“, „intensiv“ und „kraftvoll“ sind jedoch – anders als die Prädikate „erstklassig“ oder „gut“ – nicht per se wertend. Schlichte Formen oder heitere Farben können zwar für den ästhetischen Wert eines Bildes sprechen, allerdings auch gegen ihn.340 Wer ein Bild als „schlicht“, „heiter“ oder „furchterregend“ bezeichnet, muss es damit nicht werten. Bei der Wertung, die mit den meisten ästhetischen Äußerungen einhergeht, handelt es sich nicht um eine Implikation, sondern um eine Gricesche Implikatur, wie Nick Zangwill richtig feststellt: „‚Daintiness’, ‚dumpiness’ and ‚garishness’ appear to have evaluative content, but only because of the usual conversational implications which surround the use of these terms“341. Tatsächlich begeht man mit einer Äußerung wie „Die grellen Farben verleihen dem Bild einen ästhetischen Reiz“ keinen sprachlichen Fehler. Man kann sogar Recht haben. Ob ein ästhetisches Prädikat einen Vorzug oder einen Mangel bezeichnet, ist – semantisch gesehen – keine ausgemachte Sache.

337

Goldman, Aesthetic Properties, 127. Bender, Aesthetic Realism 2, 82. 339 Die Auffassung, dass ästhetische Eigenschaften solche sind, die den ästhetischen Wert einer Sache steigern oder mindern können, geht auf Monroe Beardley zurück (What is an Aesthetic Quality?) und wird heute von Nick Zangwill (The Beautiful, the Dainty and the Dumpy) und Alan Goldman vertreten (Aesthetic Properties). 340 Vgl. Kapitel 5. 341 Zangwill, The Beautiful, the Dainty and the Dumpy, 323. 338

106 Bei allen Typen ästhetischer Qualitäten handelt es sich um erlebbare Qualitäten. Der Begriff des Erlebens soll nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Vorstellungen und Gefühle unter sich versammeln. Viele ästhetische Qualitäten können wir nicht im eigentlichen Sinne wahrnehmen, sondern wir erleben sie. Man denke etwa an die ästhetischen Qualitäten, die einen Roman zu einem guten Roman machen: die Lebendigkeit der Figuren, die Komplexität der Handlungsstränge oder die in einer Geschichte angelegte Steigerung. Wir nehmen nicht wahr, was wir beim Lesen imaginieren, sondern wir erleben es. Die Erlebbarkeit ist eine notwendige Bedingung ästhetischer Qualitäten. Eigenschaften eines Kunstwerks, die wir nicht erleben können, zählen somit nicht zu seinen ästhetischen Qualitäten. Wenn eine Ansammlung von schwarzen Flecken zwar einem strengen Prinzip folgt, etwa der FibonacciZahlenreihe, aber chaotisch und zufällig wirkt, dann handelt es sich bei der Strenge und Einheitlichkeit der Flecken-Komposition nicht um ästhetische Qualitäten, wohl aber bei der Qualität des Chaotischen. Man kann zwar wissen, dass hinter der Anordnung der Flecken eine Regel steht, aber man ist nicht in der Lage, die Regelmäßigkeit zu erleben. Verhält es sich aber bei kontextbezogenen Qualitäten wie „innovativ“ oder „gewagt“ und bei repräsentationalen Qualitäten wie „wirklichkeitsgetreu“ oder „entfremdet“ nicht ähnlich? Kann man ein Bild als innovativ oder wirklichkeitsgetreu erleben oder weiß man es bloß? Ich möchte sagen: Ein Betrachter, der weiß, dass ein Bild innovativ oder wirklichkeitsgetreu ist, erlebt es anders als eine Person, der dieses Wissen fehlt. So schreibt Alan Goldman: „despite not being directly perceived, they influence the ways knowledgeable viewers perceive or experience the works“ 342. Es gibt Qualitäten, die zwar den Wert eines Kunstwerks steigern oder mindern, aber weder wahrgenommen noch erlebt werden können. Bei solchen Qualitäten handelt es sich um künstlerische Qualitäten, jedoch nicht um ästhetische.343 Manche Konzeptkünstler haben ihre Ideen gar nicht ausgeführt, sondern informieren den Konzertbesucher lediglich durch einen Text über ihre künstlerische Idee, die genial, visionär oder provokativ sein kann. Werke der Konzeptkunst geben oft viel zu denken, aber nichts zu erleben. Ihr Wert ergibt sich bisweilen allein aus den künstlerischen Quali-

342

Goldman, Aesthetic Properties, 125. Stephen Davies unterscheidet zwischen „aesthetic“ und „artistic properties“ (The Philosophy of Art, 53).

343

107 täten, da in solchen Fällen das Werk mit der künstlerischen Idee identisch ist.344 Die Erlebbarkeit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ästhetische Qualitäten: Wir können erleben, dass eine Linie rot und gezackt ist; rot und gezackt zu sein, sind jedoch keine ästhetischen Qualitäten. Erst wenn wir die Linie als „unruhig“ oder „aggressiv“ und das Rot als „feurig“ und „kraftvoll“ bezeichnen, beschreiben wir die ästhetischen Qualitäten der gezackten Linie.345 Frank Sibley und Jerrold Levinson verstehen ästhetische Qualitäten daher als „höherstufige“ oder „tertiäre“ Qualitäten, als gestalthafte oder emotional gefärbte Qualitäten sekundärer Sinnesqualitäten.346 Die Gefühle, die ästhetische Objekte in uns auslösen, prägen die Art, wie wir den ästhetischen Gegenstand wahrnehmen. John Dewey schreibt: „The perceived object or scene is emotionally pervaded throughout“.347 Wir erleben eine Linie als schwungvoll, eine Melodie als fröhlich oder die Fassade eines Gebäudes als streng und kühl. Fühlen und Wahrnehmen sind so eng miteinander verflochten, dass Nelson Goodman schreiben kann: „In gewissem Maße können wir fühlen, wie ein Gemälde aussieht, genauso wie wir sehen können, wie es sich anfühlt“348. Wittgenstein hat einige Autoren auf die Idee gebracht, ästhetische Qualitäten mit Aspekten zu vergleichen oder sie gar als Aspekte zu verstehen.349 Dieser Vergleich wird in erster Linie durch drei Parallelen nahe gelegt: (i) Es handelt sich in beiden Fällen um gestalthafte oder höherstufige Qualitäten. Aspekte und ästhetische Qualitäten ergeben sich in der Regel 344

Goldie/Schellekens, Who’s Afraid of Conceptual Art?, 60 Tilghman meint, eine ästhetische Äußerung wie „Look at that red!“ zeige, dass auch die Farbe Rot als solche eine ästhetische Qualität sein kann und argumentiert damit gegen eine klare Trennung zwischen nicht-ästhetischen und ästhetischen Eigenschaften: „It is doubtful that a general distinction can be made between what is aesthetic and what is not […] a particular word can sometimes carry aesthetic weight and sometimes not. Colour words are like that“ (Reflections on Aesthetic Judgement, 256). Gegen Tilghmans Beispiel möchte man einwenden: Ein Hemd kann uns aufgrund seiner Farbe gefallen, wegen diesem Rot, nicht aber, weil es rot ist, d.h. weil es zur Klasse der roten Dinge gehört. Vgl. Kapitel 5.2. 346 Vgl. Sibley, Aesthetic Concepts; Levinson, Aesthetic Properties, Evaluative Force, and Differences of Sensibility, 323; Carroll, Philosophy of Art. A contemporary introduction, 191. 347 Dewey, Art as Experience, 55. 348 Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, 228-229. 349 Vgl. Casey, The Language of Criticism, 28 ff; Aldrich, Philosophy of Art, 20 ff.; Scruton, Art and Imagination, 54; Scruton, The Aesthetics of Music, 94; Tilghman, But is it Art?, 185. 345

108 aus dem Zusammenspiel mehrerer wahrnehmbarer Eigenschaften: Die Gestalt des Dalmatiners basiert auf der Anordnung der Flecken und die Ausgewogenheit eines Bildes auf der Anordnung von Farben und Formen.350 Aspekte und ästhetische Qualitäten können aber auch höherstufige Qualitäten wahrnehmbarer Eigenschaften sein, wie die Wärme der Farbe Rot oder die Weichheit eines Klangs. (ii) Das Wahrnehmen von Aspekten und ästhetischen Qualitäten erfordert kognitive Fähigkeiten wie Erfahrung und Phantasie. Eine Person, deren visuelle Wahrnehmung intakt ist, kann die Hasen-Ente-Zeichnung klar vor sich sehen, ohne den Hasen-Aspekt zu sehen. Ebenso kann eine Person ein Musikstück hören, ohne dass sie die wiederkehrenden Variationen eines Themas als solche erkennt und die Traurigkeit oder das Humorvolle gewisser Passagen hört. (iii) Um auszudrücken, welchen Aspekt und welche ästhetische Qualität wir wahrnehmen, verwenden wir sprachliche Ausdrücke oft in sekundärer Weise: Wir sehen eine Zeichnung als „Hasen“ und hören eine Melodie als „traurig“ – und das, obwohl ein Bildhase kein echter Hase und traurige Musik nicht wirklich traurig ist. Wir verwenden Ausdrücke, die ihre Heimat woanders haben.351 Oft kann nur ein Vergleich beschreiben, was wir erleben, wenn wir einen Aspekt sehen oder ein ästhetisches Objekt betrachten.352 Die Art, wie wir ein ästhetisches Objekt erleben, ist nicht nur durch unsere Biologie, sondern auch durch unsere Kultur und durch persönliche Erfahrungen geprägt. Manche ästhetischen Erlebnisse sind stärker biologisch bedingt, andere dagegen stärker kulturell: Ob man einen Klang als „weich“ oder eine Melodie als „beschwingt“ empfindet, variiert zwischen unterschiedlichen Kulturen weniger stark als die Tatsache, ob man eine Frisur als „brav“ oder ein Kleid als „erotisch“ klassifiziert. Hinzu kommt: Bei ästhetischen Beschreibungen ist eher Konsens zu erwarten als bei ästhetischen Bewertungen: Bezüglich der Frage, ob ein Musikstück „traurig“ sei, ist man sich eher einig als hinsichtlich der Frage, ob es „das beste Musikstück aller Zeiten“ sei. Manchmal entstehen jedoch auch Meinungsverschiedenheiten, wenn es lediglich darum geht, ein Musikstück zu beschreiben, ohne zu werten: Jemand, der zum ersten Mal Jazz hört, wird die Mu-

350

Beardsley spricht von „regional qualities“ (What is an Aesthetic Quality?). Vgl. Kapitel 1.9. 352 Vgl. Kapitel 1.3. 351

109 sik als „nervös“, „dissonant“ und „chaotisch“ charakterisieren – Adjektive, die ein Jazzkenner mit Sicherheit nicht verwenden würde.353 3.3 Ästhetische Urteile Wer nicht in der Lage ist, ästhetische Qualitäten zu erleben, kann auch keine ästhetischen Urteile fällen. Für diese These möchte ich anhand eines Beispiels argumentieren: Es gibt Menschen, die nicht fähig sind, emotionale Ausdrucksqualitäten von Musik zu erleben. Sie leiden an emotionaler Amusie.354 Diese Menschen hören Melodien zwar als langsam und schnell, jedoch nicht als traurig und fröhlich. Sie können zwar Gesichter als traurig erleben, jedoch nicht Musikstücke. Musik berührt sie nicht. Eine Person, die Melodien nicht als traurig erleben kann, ist außerstande, mit dem Äußern des Satzes „Diese Melodie ist traurig“ ein ästhetisches Urteil zu fällen. Ihr fehlt das entsprechende ästhetische Erlebnis. Angenommen, ihr von allen Seiten glaubhaft versichert wird, dass eine bestimmte Melodie traurig ist, oder sie hat gelernt, unterschiedliche Melodien anhand bestimmter nicht-ästhetischer Eigenschaften wie Tempo und Tongeschlecht korrekt als traurige Melodien zu klassifizieren. Fakt ist: Sie wird mit den Worten „Diese Melodie ist traurig“ nicht dasselbe meinen wie eine Person, die die Traurigkeit der Melodie tatsächlich hört. Wir würden nicht sagen, sie fälle ein ästhetisches Urteil.355 In gewisser Weise versteht sie nicht einmal, was wir mit dem Satz „Diese Melodie ist traurig“ meinen. Verstehen wir, was eine Synästhetikerin meint, wenn sie behauptet, der Ton Cis sei violett und der Mittwoch grün? Ästhetische Ausdrucke zu verstehen und ästhetische Urteile fällen zu können, heißt, die entsprechenden ästhetischen Eindrücke und Erlebnisse gehabt zu haben. Sibley schreibt: Zunächst ist wichtig, zu vermerken, dass Ästhetik, allgemein gesagt, eine Art von Wahrnehmung zum Thema hat. Man muß die Anmut oder Einheit eines Werkes sehen, die Wehmut oder Raserei in der Musik hören, das 353

Vgl. Kapitel 3.3.2. Sacks, Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, 348 ff. 355 Vgl. Sibley, Aesthetic Concepts, 9. Malcolm Budd dagegen meint, bei jeder Zuschreibung einer ästhetischen Eigenschaft handle es sich um ein ästhetisches Urteil. Man könne einen ästhetischen Gegenstand, den man nicht kennt, zwar nicht wertschätzen („appreciate“), aber ästhetische Urteile über ihn fällen (Budd, The Acquaintance Principle, 392). 354

110 Aufdringliche einer Farbzusammenstellung bemerken, das Ergreifende eines Romans, seine Stimmung oder die Unsicherheit des Tons fühlen […] Aber wer solche Eigenschaften nicht wirklich für sich selbst wahrnimmt, ist von ästhetischem Genießen, Schätzen und Urteilen ausgeschlossen […] Wer wirklich annimmt, dass man ästhetische Urteile ohne ästhetische Wahrnehmung fällen kann, indem man sich etwa an irgendwelchen Regeln orientiert, versteht nicht, was ein ästhetisches Urteil ist.356

Bereits Kant weist in der Kritik der Urteilskraft darauf hin, dass ästhetische Urteile weder von anderen Personen übernommen noch durch Schlussfolgerungen hergeleitet werden können.357 Wenn uns eine Person von der Richtigkeit ihres ästhetischen Urteils überzeugen möchte, dann helfen ihr keine inferenziellen Beweise. Vielmehr muss sie uns dazu bringen, die ästhetischen Qualitäten, die sie dem Gegenstand zuschreibt, selbst wahrzunehmen. Sie muss einen „perceptual proof“ führen, wie Sibley schreibt.358 Das meiste von dem, was wir wissen, wissen wir aus zweiter Hand. Wir müssen nicht dabei gewesen, um zu wissen, dass das Konzert gestern Abend ausverkauft war. Wenn uns jemand, der im Konzert war, darüber informiert, dann können wir berechtigt behaupten „Das gestrige Konzert war ausverkauft“ – sollte uns jemand danach fragen. Anders verhält es sich mit dem Urteil „Das gestrige Konzert war großartig“. Ästhetische Urteile kann man nicht von anderen Personen übernehmen. Man muss dabei gewesen sein. Richard Wollheim nennt diese Forderung „Acquaintance Principle“ und schreibt: „judgements of aesthetic value, unlike judgements of moral knowledge, must be based on first-person experience of their objects and are not, except within very narrow limits, transmissible from one person to another”359. Im Folgenden möchte ich zeigen, warum dieses „Aquaintance Principle“ nicht nur für wertende, sondern für alle ästhetischen Urteile gilt. Angenommen, einer Person wird von allen Seiten – auch von Experten – glaubhaft versichert, die Gebäude von Adolf Loos seien sehr schlicht. Sie selbst hat diese Gebäude zwar noch nicht gesehen, teilt jedoch in den allermeisten Fällen die ästhetischen Urteile derer, die ihr versichern, die Gebäude seien sehr schlicht. Kann eine solche Person nun ein ästhetisches Urteil fällen, indem sie äußert „Die Gebäude von Loos sind sehr schlicht“? 356

Sibley, Ästhetisch und nicht-ästhetisch, 135. Kant, KdU, §§ 32-34. 358 Sibley, Aesthetic and Non-aesthetic, 39. 359 Wollheim, Art and Its Objects, 233. 357

111 Unsere sprachliche Intuition sagt: „Nein“. Korrekt wäre es, zu sagen „Die Gebäude von Loos sollen sehr schlicht sein“. Aaron Meskin ist der Ansicht, wir könnten ästhetische Urteile deswegen nicht von anderen Personen übernehmen, weil wir in ästhetischen Fragen oft anderer Meinung sind.360 Kurz zusammengefasst lautet seine Erklärung: „Dass Du das Musikstück als traurig erlebst, heißt nicht, dass ich es auch so erleben werde“. Diese Erklärung wirkt jedoch nur auf den ersten Blick plausibel. Sie kann nämlich nicht erklären, warum ein ästhetisches Urteil selbst dann nicht von anderen Personen übernommen werden kann, wenn sich alle einig sind und alles dafür spricht, dass man selbst genauso urteilen wird. Dass wir ästhetische Urteile nicht von anderen Personen übernehmen können, hat einen anderen Grund: Mit ästhetischen Urteilen drücken wir aus, wie wir ein ästhetisches Objekt erlebt haben. Ästhetische Äußerungen haben eine expressive Funktion. Roger Scruton vertritt in seinem Buch Art and Imagination eine solche expressivistische Auffassung, wenn er meint: „certain aesthetic descriptions are not-descriptive in that they express not beliefs but rather ‚aesthetic experiences’“.361 Die expressive Rolle ästhetischer Urteile tritt deutlich hervor, wenn wir anstelle des ästhetischen Urteils „Die Gebäude von Loos sind sehr schlicht“ sagen „Sie wirken sehr schlicht“ – ein Urteil, das wir oft als Variante des ersten Urteils verwenden können. Zu sagen „Die Gebäude von Loos wirken sehr schlicht, ich habe jedoch noch keines gesehen“ ist aber offensichtlicher Unsinn. Meine These ist also: Ohne ästhetische Erlebnisse kann man keine ästhetischen Urteile fällen, da ästhetische Urteile eine expressive Funktion haben. Wir drücken mit ihnen aus, wie wir ein Objekt erleben oder erlebt haben. Das heißt jedoch nicht, dass wir mit dem ästhetischen Urteil „Diese Melodie ist traurig“ ein Gefühl der Traurigkeit ausdrücken, das die Melodie vielleicht in uns hervorruft. Vielmehr drücken wir aus, wie wir die Melodie erleben, nämlich als traurig. Mit ästhetischen Urteilen stellen wir keine Behauptungen über Dispositionen von Objekten auf: Mit einem Urteil wie „Diese Melodie ist traurig“ behaupten wir nicht, die Melodie habe aufgrund bestimmter Eigenschaften die Disposition, in Kennern bestimmte Reaktionen auszulösen.362 Dieses 360

Meskin, Aesthetic Testimony: What Can We Learn from Others about Beauty and Art?. 361 Scruton, Art and Imagination, 49. 362 Alan Goldman ist der wohl bekannteste Vertreter einer solchen dispositionalen Theorie ästhetischer Qualitäten. Er schreibt: „‚object O hat aesthetic property P’

112 Urteil könnte nämlich auch jemand fällen, der an emotionaler Amusie leidet. Wir haben aber gesehen, dass eine solche Person nicht in der Lage ist, ästhetische Urteile über musikalische Ausdrucksqualitäten zu fällen. Auch ästhetische Werturteile haben eine expressive Funktion. Das gilt nicht nur für offensichtlich expressive Äußerungen wie „Das ist ein wunderschönes Bild“, sondern auch für rangierende Werturteile wie „Casablanca ist ein erstklassiger Film“. Um solche Werturteile fällen zu können, müssen Sprecher nicht nur die wertsteigernden ästhetischen Qualitäten erlebt haben, sondern auch die Gütestandards akzeptieren, die sie in ihren Urteilen anwenden. Mit ästhetischen Bewertungen wie „Dieser Film ist erstklassig“ oder „Das war eine überaus gelungene Inszenierung!“ drücken Sprecher – im Sinne des Normexpressivismus – aus, dass sie bestimmte ästhetische Normen akzeptieren.363 Das heißt jedoch nicht, dass einem Sprecher jedes Objekt gefällt oder dass ihn jedes Objekt anspricht, das die ästhetischen Standards erfüllt, die er akzeptiert. Er kann immer noch finden: „Das ist ein sehr guter Horrorfilm, aber ich sehe mir solche Filme nicht gerne an“. Er mag zwar keine Horrorfilme, akzeptiert aber die Norm „Ein Horrorfilm ist gut, wenn er Furcht einflößt“. Margaret MacDonald schreibt dazu: „‚Ich räume ein, dass Raffael ein großer Maler ist; ich mag seine Gemälde dennoch nicht; sie machen einfach keinen Eindruck auf mich’ – solche Aussagen sind nicht in sich widersprüchlich, und oft sind sie auch wahr“364. Noël Carroll bestätigt: „There is no necessary connection between liking a work and judging it to be good“.365 Abschließend möchte ich anhand eines Gedankenexperiments verdeutlichen, dass wir mit ästhetischen Urteilen keine objektiven Eigenschaften von Dingen beschreiben, sondern unser ästhetisches Erlebnis artikulieren: Stellen wir uns eine Welt vor, in der die Menschen Mollakkorde als fröhlich und Durakkorde als traurig empfinden. Werden diese Menschen gebeten, zu einem Mollakkord ein passendes Gesicht zu machen, dann fangen sie an zu lächeln. Diese Menschen unterscheiden sich noch in einer zweiten Hinsicht von uns: Auf sie wirkt die Farbe Weiß nicht „rein“, wie auf uns, sondern „hinterlistig“ und „falsch“. Nun kann man sich fragen: Fällen diese Menschen falsche Urteile, wenn sie behaupten, Mollakkorde seien fröhlich und die Farbe weiß sei hinterlistig? Wohl kaum. Es besteht also means [sic!] ‚O is such as to elicit response of kind R in ideal viewers of kind V in virtue of its more basic properties B’“ (Aesthetic Properties, 126). 363 Vgl. Gibbard, Wise Choices, Apt Feelings, 7. 364 MacDonald, Einige Besonderheiten der ästhetischen Argumentation, 34. 365 Carroll, Hume’s Of the Standard of Taste, 187.

113 folgende Situation: Aus unserer Sicht ist ein Mollakkord traurig und Weiß eine reine Farbe, während diese Menschen meinen, Mollakkorde seien fröhlich und Weiß sei alles andere als eine reine Farbe. Das Interessante dabei ist: keiner liegt falsch. Dieses einfache Gedankenexperiment zeigt, dass ästhetische Qualitäten, wie die Traurigkeit einer Melodie oder der Charakter einer Farbe, keine objektiven Qualitäten sind. Würden wir mit wahren ästhetischen Urteilen nämlich objektive Eigenschaften von Gegenständen beschreiben, dann könnte die Welt widersprüchlich sein: Ein und derselbe Mollakkord könnte sowohl traurig als auch fröhlich sein. Viel plausibler ist eine expressivistische Auffassung, die behauptet: Von einem Klang zu sagen, er sei traurig, heißt auszudrücken, wie man ihn hört und erlebt, d.h. die eigene Erlebnisweise des Klangs zu artikulieren. 3.3.1 Normativität Jede expressivistische Position steht vor einer zentralen Schwierigkeit: Sie muss erklären können, warum wir mit manchen ästhetischen Urteilen einen Richtigkeitsanspruch erheben, warum wir falsch liegen können und warum wir bisweilen so reden, als handle es sich bei ästhetischen Qualitäten um objektive Eigenschaften von Gegenständen. Die Frage ist also: Wie kann man die Normativität ästhetischer Urteile im Rahmen einer expressivistischen Auffassung erklären?366 Auf diese Problematik möchte ich im Folgenden näher eingehen. Wenn eine andere Person keinen Gorgonzolakäse mag, man selbst jedoch schon, dann wird man mit ihr keine Diskussion vom Zaun brechen darüber, ob Gorgonzolakäse nun gut schmeckt oder nicht. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Dreht sich der Streit jedoch um die ästhetischen Qualitäten eines Musikstücks oder darum, auf welcher Höhe ein Bild hängen soll, dann fühlt man sich durch das abweichende Urteil der anderen Person dazu aufgefordert, das eigene Urteil zu rechtfertigen und sie von der eigenen Auffassung zu überzeugen. Das abweichende Urteil der anderen Person stellt die Geltung des eigenen Urteils in Frage. Kant meint, würden wir „vom Schönen so sprechen, als ob Schönheit eine Beschaffen-

366

Die Frage nach der Normativität ästhetischer Urteile steht im Zentrum der ästhetischen Schriften von Hume und Kant. In der heutigen Debatte scheiden sich an dieser Frage die ästhetischen Realisten von den Antirealisten. Vgl. Zangwill, Aesthetic Realism.

114 heit des Gegenstandes“367 sei. Tatsächlich haben die meisten ästhetischen Äußerungen nicht nur Ähnlichkeiten mit expressiven, sondern auch mit deskriptiven Äußerungen. Jede adäquate Theorie ästhetischer Urteile muss beiden Aspekten gerecht werden. Eine expressivistische Position muss also auch den „quasi-realistischen“ Merkmalen unserer ästhetischen Urteilspraxis gerecht werden – gemeint ist die Tatsache, dass wir oft so reden, als ob wir mit ästhetischen Urteilen objektive Eigenschaften von Dingen beschreiben würden. Cain Samuel Todd ist der Ansicht, dass ein QuasiRealismus, wie er von Simon Blackburn in der Metaethik vertreten wird,368 den beiden Rollen ästhetischer Urteile am besten gerecht wird. Er meint, es sei überraschend, dass bisher noch keine quasi-realistische Theorie ästhetischer Urteile formuliert wurde: The lack of discussion of quasi-realism in aesthetics is surprising, therefore, because the central problematic features of aesthetic judgement appear to lie directly within the explanatory province of the quasi-realist; such judgements appear to be irreducibly expressive of some response or experience and yet are framed in an assertoric discourse that seems to carry some kind of normative claim on the agreement of others.369

Die normative Dimension des ästhetischen Diskurses zeige sich insbesondere an der Bereitschaft von Sprechern, mit Gründen für ihre eigenen ästhetischen Ansichten und Einschätzungen zu argumentieren.370 Anders als bei Geschmacksfragen, versuchen wir bei ästhetischen Meinungsverschiedenheiten, unsere Gesprächspartner von unseren Ansichten zu überzeugen. Dies gelingt am besten, wenn wir so reden, als gäbe es wahr und falsch. Todd schreibt: Indeed, if we think of our aesthetic judgements as a projection of our aesthetic sentiments onto the world, we can see, as in the case of moral judgement, why it will be natural, and perhaps inevitable, to frame our aesthetic commitments in the form of genuine assertions. The advantages of doing so clearly pertain to the normative demands of aesthetic judgements. It satisfies our need to provide justifying reasons for them, to argue about them, and to persuade others of the validity of our point of view, and this can 367

Kant, KdU, § 6. Blackburn, Spreading the Word, 180. Vgl. Blackburn, Antirealist Expressivism and Quasi-Realism. 369 Todd, Quasi-Realism, Acquaintance, and the Normative Claims of Aesthetic Judgement, 278. 370 Vgl. Kapitel 5. 368

115 most efficiently be accomplished by discussing them as if there is some truth of the matter to be attained.371

Der Expressivist darf nicht stehen bleiben bei der Behauptung, dass wir mit ästhetischen Urteilen unsere ästhetischen Erlebnisse ausdrücken. In der Regel erheben wir nämlich auch den Anspruch, dass unser ästhetisches Erlebnis dem Gegenstand angemessen ist. Scruton schreibt: „aesthetic attitudes are normative: that is, they involve a sense of their own ‚correctness’ or appropriateness to an object“372. Scruton zufolge können nicht nur Behauptungen, sondern auch Wünsche, Gefühle, Reaktionen und Erlebnisse danach beurteilt werden, ob sie angebracht oder gerechtfertigt sind: „there is, after all, such a thing as the justification of a desire itself, and hence of an emotion, and hence of a response, and hence of an aesthetic judgement“373. Wir können nicht nur in der Moral, sondern auch in der Ästhetik zwischen angemessenen und unangemessenen Gefühlen unterscheiden. Nicht jedes ästhetische Erlebnis ist gleich viel wert: Wer sich im Drogenrausch einen billigen Kinostreifen anschaut und anschließend findet, es handle sich um den besten Film aller Zeiten, den nehmen wir nicht ernst. Sein Erlebnis ist nicht maßgebend. Ähnliches gilt für die ästhetischen Erlebnisse von Laien. Sie sind in der Regel weniger wert als die Erlebnisse von Kennern. Ein musikalischer Laie hört ein Jazzkonzert anders als ein Kenner: Wo der Kenner Themen, Soli, Steigerungen und Imitationen hört, vernimmt der Laie bloß Variationen in Tempo, Lautstärke und Zusammenspiel. Der Kenner hört Feinheiten und Zusammenhänge, die dem Laien entgehen. Sein Hörerlebnis ist genauer und reicher als dasjenige des Laien. Darum ist sein expressives ästhetisches Urteil mehr wert.374 371

Todd, Quasi-Realism, 282. Vgl. 288. Scruton, Art and Imagination, 138-139. 373 Scruton, Art and Imagination, 242. 374 Nach David Hume zeichnen sich Experten durch ein feines sinnliches und affektives Unterscheidungsvermögen, durch Übung, eine reiche Erfahrung und durch Unvoreingenommenheit aus: „Strong sense, united to delicate sentiment, improved by practice, perfected by comparison, and cleared of all prejudice, can alone entitle critics to this valuable character; and the joint verdict of such, wherever they are to be found, is the true standard of taste and beauty“ (Of the Standard of Taste, 109). Man hat gegen Humes Kriterien eingewendet, sie seien zirkulär: Man könne erst entscheiden, ob eine Person die genannten Kriterien erfüllt, wenn man weiß, ob ihre ästhetischen Einschätzungen zutreffend sind. (Vgl. Brown, Observations on Hume’s Theory of Taste, 196; Kivy, Hume’s Standard: Breaking the Circle.) Tatsächlich sind die Kriterien sehr vage und ihre Gewichtung und Anwendungsbedingungen hängen vom jeweiligen Kontext ab. Zudem lassen sie uns im Stich, wenn Uneinigkeit unter Experten herrscht. 372

116 3.3.2 Pluralismus In ästhetischen Belangen sind wir oft unterschiedlicher Ansicht: Wir streiten uns darüber, ob eine Krawatte „zu breit“ ist oder „genau die richtige Breite“ hat, ob eine Frisur zu einer Person „passt“ oder nicht, wer der beste Rapper Deutschlands ist und ob die Bilder von Gerhard Richter ihren Preis wert sind. Viele dieser ästhetischen Meinungsverschiedenheiten sind instabil: Wir können andere von unseren Ansichten überzeugen, wenn wir lange genug mit ihnen diskutieren und sie auf Dinge hinweisen, die sie übersehen haben. Manche Dissense aber sind stabil und wir können die andere Person nicht von ihren ästhetischen Vorlieben abbringen, auch wenn wir noch so lange mit ihr diskutieren: Sie steht einfach auf Kitsch, ornamentales Design und Popmusik. Die Geschmäcker sind verschieden und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.375 Oder doch? Wenn den Gesprächspartnern im Verlauf einer ästhetischen Diskussion klar wird, dass sie unterschiedliche ästhetische Vorlieben haben, dann können sie die Diskussion entweder abbrechen oder sie auf eine neue Ebene heben, indem sie anfangen, über das Leben zu reden – darüber, wer sie sind, wie sie sein möchten und was sie im Leben für wichtig halten. Oft zeigt sich nämlich in unseren ästhetischen Vorlieben, wie wir das Leben sehen und welche Ideale wir hegen. Die ästhetischen Vorlieben einer Person sind nicht losgelöst von ihren Lebensidealen, sondern auf komplizierte Weise mit ihnen verflochten.376 Wir mögen die Musik von Chopin, weil sie „melancholisch“ klingt, eine Lederjacke, weil sie „Stärke“ verkörpert, und ein leichtes Sommerkleid, weil es „unbeschwert“ wirkt. Eine andere Person vom eigenen ästhetischen Urteil zu überzeugen, erfordert manchmal, sie für die eigenen Lebensideale zu begeistern und ihr den Reiz eines neuen Lebensgefühls zu vermitteln. Scruton schreibt: „To show what is bad in a sentimental work of art must involve showing what is bad in sentimentality“377. Eine Person für ein Bild zu begeistern, kann Tilghman zufolge heißen, sie mit einer neuen Sicht auf die Welt vertraut zu machen: „To bring one to realize that this picture is sentimental kitsch may require a rather radical readjustment in [someone’s] view of the world“378. 375

Hume spricht in Of the Standard of Taste von verschiedenen Temperamenten („humours“) und unterschiedlichen kulturellen Gewohnheiten und Ansichten („manners and opinions“). 376 Vgl. Kapitel 8.4. 377 Scruton, Art and Imagination, 249. 378 Tilghman, 257.

117 Über ästhetische Vorlieben lässt sich also streiten. Nämlich indem man über Lebensideale diskutiert.379 In ästhetischen Diskussionen streiten wir nicht nur über den Wert ästhetischer Vorlieben. Wir diskutieren auch darüber, ob ein Anzug „erstklassig“, ein Film „gut“ oder ein Musikstück „großartig“ ist. Dabei versuchen wir, von unseren ästhetischen Präferenzen so gut es geht zu abstrahieren. Das funktioniert. Schließlich gibt es Filme, die wir zwar gut finden, uns aber ungern ansehen. Wir bewerten einen Film als „gut“, wenn er Gütekriterien erfüllt, die wir akzeptieren. Unsere Präferenzen blenden wir dabei aus – ähnlich wie eine Jury, die berät, wer Fußballer des Jahres werden soll. Zwei Experten können sich uneinig sein darüber, ob ein Film das Prädikat „erstklassig“ verdient oder nicht. Und dieser Dissens kann stabil sein. Man sollte jedoch zwischen zwei Arten der Uneinigkeit unterscheiden: Im ersten Fall sind sich die beiden Experten zwar über die Gütekriterien einig, streiten sich aber darüber, ob der Film diese Kriterien erfüllt. Im zweiten Fall streiten sie sich, weil sie andere Gütestandards akzeptieren oder geteilte Standards unterschiedlich gewichten.380 Im zweiten Fall muss keiner der Experten falsch liegen. Die diskursive Norm, die Crispin Wright „cognitive command“381 nennt, ist hier außer Kraft gesetzt: Zwei Personen können unterschiedlicher Ansicht sein, ohne dass eine der Personen falsch liegen muss. Der eine Experte meint, der Film sei „erstklassig“, während der andere glaubt, er sei es nicht. Und keiner liegt falsch. Sie reden auch nicht aneinander vorbei, obwohl sie mit unterschiedlichem Maß messen: Sie verstehen unter dem Ausdruck „erstklassig“ das gleiche, sind aber unterschiedlicher Ansicht darüber, was einen erstklassigen Film auszeichnet. Ob ein Film „erstklassig“ ist oder nicht, hängt von den Gütekriterien ab und ist insofern relativ. Zwei Experten können unterschiedlicher Ansicht sein, aber beide können richtig liegen. Es handelt sich hier um eine relative Richtigkeit – eine Richtigkeit, die relativ ist zu bestimmten Standards. Diese Standards dürfen nicht willkürlich sein, sondern müssen begründet werden können. Es kann aber mehrere gut begründbare Standards geben. Der Versuch einer Begründung von Gütekriterien führt oft zu allgemeinen und grundlegenden Fragen wie „Was soll Kunst leisten?“ und „Worin besteht der ästhetische Wert einer Sache?“. Die Antworten auf solche Fragen sind jedoch umstritten und man sollte sich von der Annahme verabschieden, es 379

Scruton meint: „There is as much objectivity in our judgements of beauty as there is in our judgements of virtue and vice“ (Beauty. A Very Short Introduction, 123). 380 Vgl. Dickie, Evaluating Art, 150. 381 Wright, Truth and Objectivity, Kapitel 3: Convengence and Cognitive Command.

118 gäbe nur eine richtige Antwort. Auch kommen unsere ästhetischen Präferenzen und unsere Lebensideale wieder ins Spiel, wenn ästhetische Gütestandards in Frage gestellt werden. In ästhetischen Diskussionen streitet man sich nicht nur über Vorlieben und Bewertungen, sondern auch über ästhetische Beschreibungen: Man diskutiert darüber, ob eine Vase „schlicht“ ist, ob eine musikalische Phrase „fröhlich“ oder „ironisch“ klingt, ob ein Ausdruckstanz „authentisch“ oder „affektiert“ wirkt und ob ein Kleid „elegant“ oder „streng“ aussieht. Alan Goldman meint: „In the area of aesthetic judgement, what one critic finds clearly powerful another finds merely raucous or strident. What one finds deeply (and not simply slightly) poignant another finds overwhelmingly self-indulgent or sentimental.“382 Auch bezüglich ästhetischer Beschreibungen gibt es unter Experten stabile Dissense. Und auch hier muss keiner der Experten falsch liegen. Dies spräche, so John Bender, für einen Antirealismus bezüglich ästhetischer Qualitäten: „Antirealism appears to be the consequence of the fact that there are unresolvable aesthetic disputes even between appropriately positioned and backgrounded experts“383. Bender erläutert den Status ästhetischer Qualitäten, indem er ästhetische Charakterisierungen mit Einschätzungen von Personen vergleicht.384 Man könne sich darüber streiten, ob eine Hose „lässig“ oder „schlaff“ wirkt, ähnlich wie man sich darüber streiten könne, ob eine Person „grimmig“ oder bloß „angespannt“ ist. Unsere Beurteilungen von Verhaltensweisen können ebenso divergieren wie unsere Charakterisierungen ästhetischer Objekte. Wir sollten uns damit anfreunden, dass es die richtige Einschätzung nicht gibt:

382

Goldman, Realism about Aestehtic Properties, 34. Bender, Aesthetic Realism 2, 96. Letztlich ist der Streit zwischen Antirealisten wie Bender und Goldman und Realisten wie Levinson also ein empirischer Streit über die Frage, ob es de facto hinreichend viele stabile Dissense unter Experten gibt. Goldman und Bender bejahen diese Frage, während Levinson sie verneint und meint, „in the majority of cases“ gäbe es „[a] stable intersubjective convengence in judgements among qualified perceivers”. Damit könne sich ein ästhetischer Realist zufrieden geben (Levinson, Aesthetic Properties, Evaluative Force, and Differences of Sensibility, 335). Vgl. Bender, Supervenience, and Irresolvable Aesthetic Disputes; Goldman, Realism about Aesthetic Properties. 384 Bender, Aesthetic Realism 2, 97. Vgl. Lars Hertzberg vertritt eine ähnliche Position, wenn er schreibt: „Our ways of relating to works of art are significantly similar to the understanding of persons“ (Wittgenstein on the Nature of Aesthetic Remarks, 49). 383

119 As obvious and real as personality features seem to be, disagreement over them is, at every turn, possible, and due at least in part to the differences in the ‘taste’ of those who interact with the person characterized. The same basic behaviours stand to be ‘interpreted’ differently by people with different ‘tastes’ in personality types. The same conversation, for example, may be taken by one as evidence of a person’s boorishness and by another as symptomatic of his or her dogged intelligence. We may be wholly convinced that ours is the right or true ‘take’ on a given personality, but when confronted with another reasonable interpretation, we must be satisfied with the realization that, justified as it may be, our view may not be the unique ‘fact of the matter.’385

Für diese pluralistische Ansicht spricht, dass wir oft nur durch Vergleiche beschreiben können, wie ein ästhetisches Objekt auf uns wirkt: Wir sagen, ein Baum sähe aus, „wie ein Mensch, der seine Arme hängen lässt“, ein Tänzer wirke „als tanze er im schwerelosen Raum“ und eine musikalische Passage klinge „wie eine Frage“.386 Solche Vergleiche können zwar besser oder schlechter sein. Den richtigen Vergleich gibt es jedoch nicht. Unterschiedliche Vergleiche heben unterschiedliche Aspekte hervor. Die Hasen-Ente ist beides: Hase und Ente.

385

Bender, Aesthetic Realism 2, 97. Auch Cain Samuel Todd kommt zu dieser Schlussfolgerung: „We think that some aesthetic judgements may be more, or less, appropriate than others, without wishing to claim that some judgements are simply true and objective in any strict sense. Indeed, there may be many incompatible but nonetheless appropriate aesthetic judgements in any given context. This certainly counts against any straightforward notion of aesthetic judgements being ‚objective’“ (Todd, Quasi-Realism, 284). 386 Vgl. Kapitel 6.2 und 6.3.

121

4. Regeln In der ästhetischen Praxis richten wir uns an Regeln und Idealen aus. In der Kunst, in ästhetischen Berufen und im alltäglichen Umgang mit ästhetischen Objekten können wir Dinge „richtig“ und „falsch“ machen. So kann eine Krawatte farblich „unpassend“ sein, aber genau die „richtige“ Breite haben. Wer eine Fuge komponieren möchte, muss sich mit den Regeln der Fugenkomposition vertraut machen. Ästhetische Regeln lernt man aber nicht, indem man sich ein Regelverzeichnis durchliest. Bei den meisten ästhetischen Regeln handelt es sich um implizite Regeln unserer ästhetischen Praxis. Schneiderlehrlinge und Designstudenten lernen keinen Regelkatalog auswendig, sondern erwerben Fähigkeiten – meist durch Übung und Erfahrung –, verinnerlichen ästhetische Ideale und entwickeln dadurch ein Auge für das ästhetisch Richtige. Durch die Aneignung ästhetischer Regeln schulen wir unsere Sinne: Was für einen Laien „gut“ aussieht, sieht der Kenner als „unausgewogen“ oder als „zu überladen“. Der Architekt sieht, dass eine Tür zu hoch ist, ebenso wie der Musiker hört, wenn das Orchester falsch spielt. Auge und Ohr haben bestimmte Maßstäbe verinnerlicht. Woher aber nehmen wir diese Maßstäbe? Wie hängen sie mit unseren ästhetischen Präferenzen zusammen? Und: Hat jeder Mensch seine eigenen Ideale? In diesem Kapitel erläutere und diskutiere ich Wittgensteins Bemerkungen zu ästhetischen Regeln und Idealen. Im Wesentlichen beziehe ich mich dabei auf seine Ästhetik-Vorlesungen von 1938. Beginnen werde ich allerdings nicht mit Regeln und ästhetischer Richtigkeit, sondern mit dem Begriff der Schönheit. 4.1 Schönheit Mitunter glaubt man, der Begriff der Schönheit sei zentral für die Ästhetik – ähnlich wie der Begriff des Guten für die Ethik und der Begriff der Wahrheit für die Logik.387 Wittgenstein zufolge unterliegt man damit einem Irrtum.

387

Gottlob Frege beginnt seinen Aufsatz „Der Gedanke. Eine logische Untersuchung“ mit den Worten: „Wie das Wort ‚schön’ der Ästhetik und ‚gut’ der Ethik, so weist ‚wahr’ der Logik die Richtung“.

122 Das Adjektiv „schön“ spielt im Vergleich mit zahlreichen anderen Ausdrücken, die in ästhetischen Kontexten Verwendung finden, eine sonderbare Rolle. Wittgenstein selbst schätzt diese Rolle Anfang der dreißiger Jahre noch anders ein als gegen deren Ende. In seinen Cambridger Vorlesungen von 1933 vertritt er die Auffassung, der Ausdruck „schön“ bezeichne, je nach Gegenstand, auf den er angewendet wird, jeweils andere Merkmale. Das Adjektiv „schön“ werde, ähnlich wie der Ausdruck „gut“, attributiv verwendet: Wir sprechen von „guten Tennisspielern“ und „guten Messern“, obwohl die Eigenschaften, die einen guten Tennisspieler auszeichnen, sich von den Eigenschaften unterscheiden, die ein Messer zu einem guten Messer machen. Die Güte ist jeweils unterschiedlich realisiert. Ebenso verhält es sich gemäß Wittgenstein mit der Schönheit. Die Merkmale, die ein schönes Gesicht auszeichnen, seien andere als diejenigen, aufgrund deren wir eine Blume als „schön“ bezeichnen. Die Schönheit eines Gesichts sei eine andere als die Schönheit einer Blume. Und die Schönheit einer Blume wiederum sei etwas anderes als die Schönheit eines Stuhls. George Edward Moore zufolge meinte Wittgenstein in seinen Vorlesungen von 1933, der Versuch einer Definition des Ausdrucks „schön“ sei zum Scheitern verurteilt, da die unterschiedlichen attributiven Verwendungsweisen „nichts gemeinsam“ hätten: [H]e seemed to hold definitely that there is nothing in common in our different uses of the word ‘beautiful’, saying that we use it ‘in a hundred different games’ – that, e.g., the beauty of a face is something different from the beauty of a chair or a flower or binding of a book.388

Auch in der Vorlesungsmitschrift von Alice Ambrose kommt Wittgensteins attributives Verständnis der Ausdrücke „schön“ und „hässlich“ deutlich zum Ausdruck: Der Ausdruck „schöne Farbe“ z. B. kann hundert verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem, bei welcher Gelegenheit wir ihn verwenden […] Die Wörter „schön“ und „hässlich“ sind mit den Wörtern, die sie qualifizieren, verknüpft, und wenn man sie auf ein Gesicht anwendet, dann sind es nicht dieselben Wörter wie bei der Anwendung auf Blumen und Bäume […] Und ebenso verhält es sich in der Ethik: Die Bedeutung des Wortes „gut“ ist an die Handlung, die es qualifiziert, gefesselt.389

388 389

M, 313. VO, 191.

123 Ein knappes Jahr später charakterisiert Wittgenstein den Ausdruck „schön“ mithilfe eines Gleichnisses, das er später zur Beschreibung von Familienähnlichkeitsbegriffen verwendet:390 Was ist an dieser Blume schön? Was an dieser Landschaft, – an dieser Melodie an dieser Symphonie? Was ist der Schönheit aller dieser gemeinsam? Ist hier noch etwas Gemeinsames? Und wenn noch ein dünner Faden durch alle hindurchläuft, ist er es der sie für uns verbindet? Nein. Sie sind durch ein breites und starkes Band mit einander verbunden aber keine der Fasern aus denen es besteht läuft durch von einem Ende zum andern.391

Wittgenstein fragt in den Vorlesungen von 1933, ob aus einer detaillierten Beschreibung eines Objekts begrifflich abgeleitet werden kann, ob das Objekts schön ist, „ob die Schönheit einer Anordnung von Farben und Formen innewohnt – d. h. ob sie derart ist, daß man im Anschluss an die Beschreibung der Anordnung wüßte, daß sie schön ist oder nicht –, oder ob diese Anordnung ein Symptom der Schönheit ist, aus dem man die Schönheit der betreffenden Sache erschließt.“392 Die Frage lautet also: „Wenn alle Formen und Farben eines Gesichts bestimmt sind, ist dann auch seine Schönheit bestimmt?“393. Besteht die Schönheit eines Gegenstandes in seinen Merkmalen, so wie das Junggesellensein in den Merkmalen „männlich“ und „unverheiratet“ besteht? Wittgenstein gibt keine eindeutige Antwort. Später wird er einsehen, dass er keine Antwort gefunden hat, weil er von einer falschen Voraussetzung ausgegangen ist. Er glaubte fälschlicherweise, wir würden den Ausdruck „schön“ verwenden, um einen Gegenstand zu beschreiben. Da „schön“ ein Adjektiv ist, wie „blau“ oder „rund“, sei man versucht zu glauben, das Wort bezeichne eine Eigenschaft eines Gegenstandes: „’Beautiful’ is an adjective, so you are inclined to say: ‘This has a certain quality, that of being beautiful’“.394 Er weist darauf hin, dass die beiden Aussagen „Diese Blume ist rot“ und „Diese Blume ist schön“ zwar dieselbe grammatikalische Form haben, aber auf andere Weise verwendet werden. Unsere Verwendungspraxis des Ausdrucks „schön“ zeige, dass Äußerungen wie „Dieses Kleid ist schön“ in ihrer kommunikativen Funktion mehr einer Interjektion wie „Wow!“ oder einem zufriedenen Lächeln gleichen als einer feststellenden Be390

Vgl. Kapitel 9.1.1. MS 157a, 27v. 392 VO, 192. 393 VO, 190. 394 LA, 1. 391

124 schreibung. Ihre Rolle ist eine expressive.395 In seinen Vorlesungen von 1938 soll er gesagt haben: If you ask yourself, how a child learns ‘beautiful’, ‘fine’, etc., you find it learns them roughly as interjections. […] One thing that is immensely important in teaching is exaggerated gestures and facial expressions. The word is taught as a substitute for a facial expression or a gesture. The gestures, tones of voice, etc., in this case are expressions of approval.396

Auch die Verwendung des englischen Adjektivs „lovely“ hat gemäß Wittgenstein im alltäglichen Umgang mit ästhetischen Gegenständen eine expressive Funktion. So fragt er rhetorisch: „Would it matter if instead of saying ‘This is lovely’, I just said ‘Ah!’ and smiled, or just rubbed my stomach?“397. Ob jemand bei einer bestimmten Gelegenheit sagt „This is lovely“ oder ob er einfach leicht nickend vor sich hin lächelt: in beiden Fällen verleiht er seiner angenehmen Empfindung, seinem ästhetischen Wohlgefallen Ausdruck. Der Satz „This is lovely“ mag ungeachtet des konkreten Äußerungskontextes zwar wie eine Beschreibung klingen. Schaut man sich aber an, welche Rolle die Äußerung in der konkreten Verwendungssituation spielt, was ihr Anlass ist und wie auf die Äußerung angemessen reagiert wird, dann zeigt sich, dass ein Sprecher an Stelle der Äußerung „This is lovely!“ genauso gut einen begeisterten Gesichtsausdruck hätte machen können. Wittgenstein weist jedoch darauf hin, dass wir lernen können, mit Äußerungen wie „This is lovely“ nicht unser Wohlgefallen auszudrücken, sondern ästhetische Gegenstände zu charakterisieren. Mit dem Adjektiv „lovely“ könne ein Kenner den Charakter einer Melodie beschreiben: Words such as ‘lovely’ are first used as interjections. Later they are used on very few occasions. We might say of a piece of music that it is lovely, by 395

Bereits in den Vorlesungen von 1933 macht Wittgenstein darauf aufmerksam, dass wir den Ausdruck „schön“ weder zur Beschreibung noch zur Kritik verwenden: Wir kritisieren nicht mit den Worten „Dieses Bild ist noch nicht schön genug“. Wenn wir den Ausdruck „schön“ verwenden, dann „um auf etwas aufmerksam zu machen“: „Sieh einmal, wie schön!“ (VO, 192-193). Er sieht in der deskriptiven Auffassung des Ausdrucks „schön“ eines der großen Missverständnisse der ästhetischen Tradition. Dieser Vorwurf ist Lewis zufolge jedoch unbegründet: „in the history of modern aesthetics, from the eighteenth century onwards, it is not easy to locate this misunderstanding“ (Lewis, Wittgenstein’s Aesthetic Misunderstandings, 20-21). 396 LA, 2. 397 LA, 3.

125 this not praising it but giving it a character. (A lot of people, of course, who can’t express themselves properly use the word very frequently. As they use it, it is used as an interjection.) I might ask: „For what melody would I most like to use the word ‘lovely’?“. I might choose between calling a melody ‘lovely’ and calling it ‘youthful’.398

Ist man ungeübt, so bereitet es große Schwierigkeiten, den Charakter einer Melodie in Worte zu fassen. Oft ist es Wittgenstein zufolge leichter, ein passendes Gesicht zu machen. Mit Gesten und Gesichtsausdrücken können wir häufig einfacher und eindeutiger kommunizieren, wie eine musikalische Stelle auf uns wirkt: „words as ‘pompous’ and ‘stately’ could be expressed by faces. Doing this, our descriptions would be much more flexible and various than they are as expressions by adjectives.”399 Oft seien unsere Worte lediglich ungenaue Stellvertreter eines passenden Gesichtsausdrucks. Wittgenstein ist der Ansicht, Ausdrücke des Wohlgefallens würden kaum verwendet, wenn wir über Kunst diskutieren und Werke kritisieren: „Man beachte, dass das Wort ‚schön’ in ästhetischen Auseinandersetzungen kaum verwendet wird. Hier stellt sich eine andere Art von Wort ein: ‚korrekt’, ‚inkorrekt’, ‚richtig’, ‚falsch’“400. Ein Kunstkenner zeichne sich nicht dadurch aus, dass er vor jedem Bild im Louvre stehen bleibt und „Wow!“ sagt. Wir würden von einem Hund nicht sagen, er habe Ahnung von Musik, auch wenn er anfängt, mit dem Schwanz zu wedeln, sobald Musik erklingt: We use the phrase ‘A man is musical’ not so as to call a man musical if he says ‘Ah!’ when a piece of music is played, any more than we call a dog musical if it wags its tail when music is played.401

Kenner können Wittgenstein zufolge Kunstwerke charakterisieren und kritisieren. Sie verstehen die Werke und wissen, was sie an einem Werk gut oder schlecht finden. Sie sehen, was an einem Bild „nicht stimmt“, und hören, wenn eine musikalische Passage „zu schnell“ oder „genau im richtigen Tempo“ gespielt wird. Kenner beurteilen nicht nach „angenehm“ und „unangenehm“, sondern nach „richtig“ und „falsch“.

398

LA, 3. LA, 4. 400 VO, 192. 401 LA, 6. 399

126 4.2 Richtigkeit und ästhetische Ideale Wenn wir über Kunstwerke diskutieren, dann verwenden wir Wittgenstein zufolge oft Adjektive, die eine ähnliche Funktion haben wie die Ausdrücke „richtig“, „korrekt“, „regelkonform“, „natürlich“, „notwendig“ oder „passend“.402 Wir verwenden also normatives Vokabular. Wir bewerten und kritisieren, als gäbe es ein ästhetisches Ideal, dem ein Werk möglichst nahe zu kommen habe. So sprechen wir etwa davon, dass ein Mantel „nicht die richtige Länge“ habe, ein Bild „zu hell“ sei, der Pianist „nicht dynamisch genug“ gespielt habe oder ein Dichter „unpassende Metaphern“ verwende: It is remarkable that in real life, when aesthetic judgements are made, aesthetic adjectives such as „beautiful“, „fine“, etc., play hardly any role at all. Are aesthetic adjectives used in musical criticism? You say: „Look at this transition“, „The transition was made in the right way“ or „The passage here is incoherent“. Or you say, in a poetical criticism, „His use of images is precise“. The words you use are more akin to „right“ and „correct“ (as the words are used in ordinary speech) than to „beautiful“ and „lovely“.403 What does a person who knows a good suit say when trying on a suit at the tailor’s? ‘That’s the right length’, ‘That’s too short’, ‘That’s too narrow’. Words of approval play no role, although he will be pleased when the coat suits him.404

Wir unterscheiden zwischen „besseren“ und „schlechteren“ Kunstwerken, zwischen passenden und unpassenden Farbkombination und zwischen „richtigen“ und „falschen“ Tönen in der Musik. Unsere Kritik ist geleitet von ästhetischen Idealen – Maßstäben, die festlegen, was als „besser“ und „schlechter“ und als „richtig“ und „falsch“ gilt. Diese Ideale zu benennen, ist nicht leicht: Was ist das ideale Tempo eines Musikstücks, die ideale Breite einer Krawatte oder die ideale Höhe, auf der ein Bild hängen sollte? In der Regel sind die ästhetischen Maßstäbe, die wir anlegen, sehr spezifisch und haben keine kontextübergreifende Geltung: Welche Breite für eine Krawatte ideal ist, hängt von der Krawatte ab, von der Person, die sie trägt, und von dem gewünschten Eindruck – der ästhetischen Wirkung, die 402

Vgl. LA, 3; M, 313. LA 3. 404 LA, 5. 403

127

durch die Krawatte erzielt werden soll. Allgemeine ästhetische Ideale wie Schlichtheit, Ausdrucksstärke, Originalität, Abwechslungsreichtum, Zartheit, Eleganz, Witz, Komplexität oder Lieblichkeit werden je nach Gegenstand, Kontext und Vorlieben anders angewendet und gewichtet. Ästhetische Ideale dienen als Maßstäbe für ästhetische Richtigkeit. Ein roter Farbfleck ist an der „richtigen“ Stelle platziert, weil dadurch das Ideal der Ausgewogenheit realisiert wird. Weil ein ästhetisches Objekt stilistisch einheitlich sein soll, können bestimmte Merkmale „richtig“ oder „falsch“ sein. Wittgenstein verdeutlicht am Beispiel des Ideals der stilistischen Einheitlichkeit, inwiefern in der Ästhetik von „richtig“ und „falsch“ gesprochen werden kann: Nimm ein Thema, wie das Haydnsche (Choral St. Antons), nimm den Teil einer der Brahmsschen Variation, der dem ersten Teil des Themas entspricht, und stell die Aufgabe, den zweiten Teil der Variation im Stil ihres ersten Teils zu konstruieren. Das ist ein Problem von der Art der mathematischen Probleme. Ist die Lösung gefunden, etwa wie Brahms sie gibt, so zweifelt man nicht; – dies ist die Lösung.

Ich möchte Wittgensteins Überlegung anhand eines einfacheren Beispiels verdeutlichen: Angenommen, man müsste die unten stehende Buchstabenreihe im selben Stil fortsetzen. Was wäre die korrekte Fortsetzung?

A B C



Offensichtlich ist (1) die richtige oder zumindest die bessere Variante ist als (2):

A B C D (2) A B C D (1)

Die erste Variante wird dem Ideal der stilistischen Einheitlichkeit gerecht, wogegen die zweite Variante einen offensichtlichen Stilbruch darstellt. Dass wir hier zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden, heißt jedoch nicht, dass es nur eine richtige Lösung gibt. Wittgenstein schreibt:

128 Mit diesem Weg sind wir einverstanden. Und doch ist es hier klar, dass es leicht verschiedene Wege geben kann, auf deren jedem wir einverstanden sein können, deren jeden wir konsequent nennen könnten.405

Wir würden nicht nur die Fortsetzung (1), sondern auch die Fortsetzung (3) „stilistisch einheitlich“ und „korrekt“ nennen:

A B C D (3) A B C D (1)

Die stilistische Einheitlichkeit ist – wie gezeigt – nur eines unter vielen ästhetischen Idealen. Diese ästhetischen Ideale sind in keinem Regelkatalog niedergelegt, sondern zeigen sich in unserer ästhetischen Praxis, in der Art, wie wir auswählen, bewerten und kritisieren. Es handelt sich also um implizite Ideale. Manche dieser Ideale sind kollektive Ideale, die wir teilen, bei anderen dagegen handelt es sich um individuelle Ideale.406 Welche ästhetischen Ideale eine Person hat, zeigt sich in ihrem praktischen Umgang mit ästhetischen Objekten, in ihren Präferenzen und der Art, wie sie kritisiert und evaluiert. Die meisten ästhetischen Ideale sind spezifische Ideale: In der Musik gelten andere Ideale als in der Malerei, im Jazz andere als in der Klassik, im Bebop andere als im Smooth Jazz und bei Dizzy Gillespie andere als bei Charlie Parker. Wittgenstein schreibt: Und stets wird das Wort [„Ideal“] im Zusammenhang mit einer bestimmten Sache verwendet, denn es gibt nichts, was Roastbeef, griechische Kunst und deutsche Musik miteinander gemeinsam haben […] Das Ideal wird von einem spezifischen Spiel hergenommen und läßt sich nur in einem spezifischen Zusammenhang (z. B. der griechischen Bildhauerei) erklären.407

Was als „stilistisch einheitlich“ oder als „komplex“ gilt, variiert mit dem Gegenstand und dem Kontext der Äußerung, ähnlich wie bei den nichtästhetischen Adjektiven „flach“ und „langsam“. Zudem hängt die Gewichtung einzelner Ideale vom beurteilenden Subjekt ab. Hinzu kommt, dass

405

BGM, 370. Vgl. Kapitel 4.2.4. 407 VO, 193. 406

129 sich die ästhetischen Ideale einer Person und ihre Gewichtung im Laufe der Zeit wandeln können. Neben den Idealen, die für bestimmte Typen von Werken gelten – man denke an die Ideale der romantischen Musik oder der Bauhausarchitektur – , hat Wittgenstein zufolge jedes Werk sein eigenes Ideal. Bouveresse spricht von einer „Art von Norm, die nur zu diesem spezifischen Werk gehört, ein singuläres Ideal, dem wir es entsprechen lassen wollen.“408 Wenn wir davon sprechen, dass ein Stück „zu langsam“ vorgetragen wurde, dann legen wir einen Maßstab an, den wir nicht von außen an das Stück herantragen, sondern der in dem Stück selbst angelegt zu sein scheint. Der Dirigent versucht das Potential dieses Stücks auszuschöpfen und damit ein „singuläres Ideal“ zu verwirklichen. Bereits Friedrich Schlegel hatte vom Kunstkritiker gefordert, er solle „die Werke nicht nach einem allgemeinen Ideal beurteilen, sondern das individuelle Ideal jedes Werkes aufsuchen“409. 4.2.1 Wahrnehmbare Richtigkeit Bei ästhetischer Richtigkeit handelt es sich um eine wahrnehmbare oder erlebbare Richtigkeit.410 Wenn eine Krawatte die „richtige Breite“ hat, dann wissen wir nicht nur, dass dies der Fall ist, sondern wir sehen es. Wenn ein einzelner Ton nicht in ein Musikstück passt, dann wissen wir nicht nur, dass der Ton falsch ist, sondern es hört sich auch falsch an. Man kann einen Ton als falsch oder als unpassend hören, ähnlich wie man eine Melodie als traurig hören oder eine Zeichnung als Ente sehen kann. Tilghman meint, bei der Wahrnehmung einer Proportion als ästhetisch richtig handle es sich um eine Form der Aspektwahrnehmung: The description of the proportions as right or he composition as balanced is based upon seeing them that way. Just as there are uses of „to see“, experiences of seeing, where it is a matter of seeing likeness, aspects of ambiguous figures, and aspects of organization, so there are experiences of aspects of organisation in which the organization is seen as aesthetically right.411

408

Bouveresse, Poesie und Prosa, 146. Schlegel, KA XVI, 270. 410 Vgl. Kapitel 3.2. 411 Tilghman, But is it Art, 150. 409

130 Der Unterschied zwischen einem Wissen um das Richtige und dem Wahrnehmen von etwas als richtig kann anhand eines Beispiels verdeutlicht werden: Wenn bei einer Kadenz in C-Dur die oberste Stimme von h nach c verläuft, hört sich das richtig an. Man weiß nicht nur, sondern man hört, dass sich die oberste Stimme von h nach c bewegen muss. Wenn dagegen in dem Klavierstück op. 33 von Schönberg elf Töne erklungen sind, dann weiß man zwar, welcher Ton nun kommen muss – da in der Reihe der zwölf Töne nur der Ton e übrig bleibt –, man hört jedoch nicht, dass er kommen muss. Der letzte Ton ist der einzig richtige, aber er hört sich nicht nach dem einzig richtigen an. Die Zwölftonregel kann nicht zu einer Regel unseres Ohrs werden und ist daher keine ästhetische Regel.

Kadenz in C-Dur

Schönberg, Klavierstück op. 33a, Grundreihe Ähnliches gilt für einen Architekten, der sich von zahlenmystischen Spekulationen oder mathematischen Proportionen leiten lässt. Angenommen, er stützt sich bei der Konstruktion des Gebäudes auf die Fibonacci-Reihe, sodass jede Länge, die an dem Gebäude vorkommt, einer Fibonacci-Zahl entspricht. Hinter dem Verhältnis der Längen steckt also eine Regel. Das Problem ist nur: unser Auge sieht nicht nach dieser Regel. Es würde eine Abweichung von der Regel nicht als Abweichung erkennen. Die Regel, die hinter der Auswahl der Längen steht, ist also keine ästhetische Regel. 4.2.2 Richtigkeit und ästhetischer Ausdruck Oft spielen für die ästhetische Beurteilung eines Objekts minimale Unterschiede in den Positionierungen, Längen und Proportionen eine entscheidende Rolle: Hängt man ein Bild wenige Zentimeter tiefer, wirkt es auf

131 einmal stabiler und gefestigter.412 Ist das Hemd eine Nummer zu groß, so sieht es nicht mehr elegant aus, sondern spießig. Manchmal sind es Nuancen, auf die es ankommt.413 Warum sind solche feinen Unterschiede von Längen und Positionen für die ästhetische Qualität derart entscheidend? Wittgensteins Antwort lautet: Weil kleinste quantitative Unterschiede große qualitative Unterschiede zur Folge haben können. Wie der Ausdruck eines Gesichts durch kleinste Änderungen in den Gesichtszügen „umschlagen“ kann, so kann sich auch das gestalthafte Aussehen, der Charakter oder der Ausdruck eines ästhetischen Objekts durch minimale Variationen stark verändern: Das Geheimnis der Dimensionierung eines Sessels oder eines Hauses ist, dass sie die Auffassung des Gegenstandes ändert. Mache das kürzer und es sieht aus wie die Fortsetzung dieses Teils, mache es länger und es sieht aus wie ein ganz unabhängiger Teil. Mache es stärker und das Andere scheint sich darauf zu stützen, mache es schwächer und es scheint am Andern zu hängen. Etc. Nicht der graduelle Unterschied der Länge ist es eigentlich, worauf es ankommt, sondern der qualitative der Auffassung.414 Ich glaube, es ist eine wichtige und merkwürdige Tatsache, dass ein musikalisches Thema, wenn es in (sehr) verschiedenen Tempi gespielt wird, seinen Charakter ändert. Übergang von Quantität zur Qualität.415

Würde die Lehne eines Stuhls um wenige Zentimeter gekürzt, dann sähe er nicht mehr elegant, anmutig und vornehm aus, sondern putzig, tölpelhaft und ein bisschen dumm. Macht man den Bauch einer Flasche etwas breiter, so sieht sie aus, als würde sie in sich zusammensacken. Krümmt man eine Linie zu stark, dann sieht es aus, als würde sie – entgegen ihrer natürlichen Neigung – in eine bestimmte Richtung gezwungen. Entwirft ein Architekt ein Satteldach zu tief, so wirkt es, als würde eine Kraft es zu Boden drücken. Macht er es dagegen höher, dann strebt es gleichsam aus eigener Kraft nach oben.

412

Goodman spricht in diesem Zusammenhang von der „Fülle“ (repleteness) eines Kunstwerks. Gemeint ist, dass minimale Variationen wichtig sein können (Sprachen der Kunst, 213.) 413 Wittgenstein setzte diese Einsicht auch in der Praxis um: Er ließ kurz vor der Fertigstellung des Hauses in der Kundmanngasse 19 die Decke um 3 cm abtragen – zum Ärger der Bauarbeiter. 414 MS 183, 105. 415 VB, 554.

132 Wenn wir von der „richtigen Höhe“ eines Bildes, der „richtigen Länge“ eines Mantels oder der „richtigen Größe“ eines Fensters sprechen, dann bemisst sich diese ästhetische Richtigkeit immer an bestimmten Zwecken und Erwartungen. Die richtige Länge gibt es nicht. Alles hängt davon ab, wie das Bild, der Mantel oder das Fenster wirken soll, welchen Eindruck der ästhetische Gegenstand beim Betrachter hinterlassen soll. Ob die Lehne eines Stuhls zu tief oder genau richtig ist, hängt davon ab, ob man einen putzigen oder einen eleganten Stuhl entwerfen möchte. Die Richtigkeit von Positionierungen, Längen und Proportionen bemisst sich also an dem Charakter und dem Ausdruck, den das ästhetische Objekt haben soll. Es kommt vor, dass ein ästhetischer Gegenstand überhaupt keinen Charakter hat oder sein Ausdruck nicht vollkommen zur Geltung kommt. Man denke an ein melancholisches Musikstück: Spielt man es zu schnell und rhythmisch zu streng, so verliert es seinen melancholischen Ausdruck. Der Charakter des Stücks kommt nicht zur Geltung. Man ahnt beim Hören zwar, welchen Ausdruck das Stück haben sollte, welcher Charakter im Stück gleichsam angelegt ist, man hört ihn aber nicht. Eine schnelle Spielweise, so scheint es, wird dem Charakter des melancholischen Stücks „nicht gerecht“. Malcolm Budd leitet daraus die Norm ab: „if a theme has a certain character then it should be played in such a manner that brings out or respects that character”416. Es scheint tatsächlich eine Norm zu geben, die verlangt, man solle ein Musikstück so spielen, dass sein Charakter möglichst stark zum Tragen kommt. Mit Wittgenstein: „Die Kunst ist ein Ausdruck. Das gute Kunstwerk ist der vollendete Ausdruck“417. 4.2.3 Regel und Reihe Manche klassische Musik erweckt den Eindruck, als würden die musikalischen Themen eine natürliche Entwicklung durchlaufen, als würde das ursprüngliche Thema den weiteren Verlauf des Stücks bestimmen. Es ist, als „hätte die Entwicklung in dem Thema gelegen“, als habe der Komponist lediglich „herausgebracht, was in dem Thema liegt“, wie Wittgenstein schreibt. „Brahms hat alles herausgebracht, was in dem Thema liegt.“ Aber wäre es in dem Thema gewesen, wenn er’s nicht herausgebracht hätte? – D.h.: 416 417

Budd, Wittgenstein on Aesthetics, 263. Tb, 178.

133 wenn das Ganze da ist, so ist es als hätte die Entwicklung in dem Thema gelegen. „Es liegt schon irgendwie in dem Thema, er holt es nur heraus“.418

Wie aber kann ein musikalisches Thema den weiteren Verlauf des Stücks bestimmen? Wie kann das Thema seine Fortsetzung gleichsam in sich enthalten? Hier stoßen wir auf ein Problem, mit dem sich Wittgenstein im Kontext der Thematik des Regelfolgens intensiv auseinandersetzt. Die Frage lautet da: „Wie kann eine mathematische Reihe ihre Fortsetzung festlegen?“. Wenn wir die Zahlenreihe „4, 8, 12, 16“ betrachten, dann sehen wir auf Anhieb, wie man die Reihe korrekt fortsetzen würde. Es handelt sich um die vertraute Viererreihe. Diese „Reihe hat für uns ein Gesicht“, einen „charakteristischen Zug“, wie Wittgenstein schreibt.419 Die Regel ist der Reihe gleichsam ins Gesicht geschrieben. Wenn wir die Reihe fortführen, haben wir den Eindruck, als müssten wir lediglich nachzeichnen, was durch die vier Zahlen bereits vorgezeichnet ist. Es scheint, als zwinge uns die Reihe zu einer ganz bestimmten Fortsetzung: Es müssen die Zahlen „20, 24, 28 …“ folgen. Aber wie kann eine Reihe von vier Zahlen bestimmen, welche Zahl als nächste folgt, welches die richtige Fortsetzung ist? Wittgensteins radikale Antwort lautet: Nicht die vier Zahlen zwingen uns zu einer bestimmten Fortsetzung, sondern unsere Praxis und unsere Mitmenschen – letztlich „das tiefe Bedürfnis nach […] Übereinkunft“.420 Wenn wir die Reihe anders fortsetzen, werden wir von anderen zurechtgewiesen. Wir legen uns gegenseitig darauf fest, dass wir nur die Weiterführung mit den Zahlen „20, 24, 28 …“ eine „Fortsetzung der Reihe der Zahlen 4, 8, 12, 16“ nennen. Wenn jemand beim Zusammenzählen der Zahlen 5 und 7 nicht 12 erhält, hat er nicht diejenige Operation vollzogen, die wir als „addieren“ bezeichnen. Dass wir die Gleichung „5 + 7 = 12“ als korrekt ansehen, zeigt also, wie wir das Zeichen „+“ verstehen, d.h. welchen Begriff der Addition wir haben. Aber warum haben wir uns gerade auf diesen Begriff geeinigt? Warum halten wir an der Regel fest, die verlangt, dass die Reihe „4, 8, 12, 16“ mit den Zahlen „20, 24, 28 …“ fortgeführt wird? Wittgensteins Antwort lautet: Weil die Zahlen „20, 24, 28 …“ für uns die natürliche und selbstverständliche Fortsetzung der Reihe sind. Für andere Wesen oder in einer anderen Welt mag eine andere Fortsetzung natürlich sein. Die innere und äußere Natur legt bestimmte Regeln nahe. Sobald wir 418

MS 121, 6v-7r. PU, § 228. 420 BGM I, § 74; § 116. 419

134 uns aber auf eine nahe liegende Regel geeinigt haben, sind „wir unerbittlich“ in ihrer Anwendung.421 Regeln, die uns die Natur nahe legt, werden von der Gesellschaft in Stein gemeißelt.422 Was heißt das nun für die Musik und die Empfindung, ein Komponist habe durch seine motivisch-thematische Arbeit lediglich zur Entfaltung gebracht, was schon in den Motiven und Themen enthalten war? Eine musikalische Entwicklung klingt „natürlich“ und „richtig“, weil sie den Regeln unseres Ohrs gehorcht. Die Regeln unseres Ohrs sind zu einem großen Teil die Regeln unserer Musikkultur. Wir haben uns an bestimmte Tonfolgen und Akkordverbindungen gewöhnt und sie zum Maßstab gemacht: „Durch unsre Gewohnheit werden diese Formen zu einem Paradigma; sie erhalten sozusagen Gesetzkraft. (‚Die Macht der Gewohnheit’?)“423, wie Wittgenstein in anderem Zusammenhang schreibt. Unser Ohr wurde auf bestimmte Muster abgerichtet. Es wurde geschult – hat aber nie ausgelernt: Auch geschulte Musiker erleben immer wieder, dass originelle musikalische Übergange erst nach wiederholtem Hören „richtig“ und „wie selbstverständlich“ klingen. Unser Ohr ist stets offen für neue Paradigmen.424 Diese Paradigmen sind jedoch nicht beliebig – ebenso wenig wie die Art, eine mathematische Reihe fortzusetzen.425 Die Entwicklung eines musikalischen Themas klingt also natürlich, weil wir schon viele ähnliche Entwicklungen gehört haben – weil eine solche Entwicklung den Regeln unserer Musiksprache entspricht. Wittgenstein schreibt: Wir sind geneigt zu sagen: „diese Entwicklung liegt bereits in dem Thema“. Vergleiche damit den Fall: „Ja, das war das Wort, das ich damals sagen wollte“, „Ich habe damals das gemeint“. Wir hätten auch sagen können: Dies ist die natürliche Entwicklung des Themas. – Und inwiefern ist sie natürlich? Um dies zu beantworten, dazu genügt es nicht daß wir das Thema genau anschauen; sondern (vor allem) die Entwicklungen andrer musikalischer Themen.426 Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache.427 421

BGM I, § 118. Vgl. zu dieser Thematik Kapitel 9.3. 423 MS 131, 157. 424 VB, 523. Vgl. Kapitel 7.5.4. 425 Vgl. Kapitel 9.3. 426 MS 121, 6v-7r. 427 Z, 172. 422

135 Wir hören die funktionale Rolle einer Dominante oder eines Leittons – die spannungsvolle Tendenz nach Auflösung –, weil wir schon oft gehört haben, wie ein Dominant-Akkord aufgelöst und ein Leitton weitergeführt wurde. Wie eine Geste, gewinnt ein Akkord seine Bedeutung, seine hörbare Funktion, durch die Art seiner Verwendung, durch die Anlässe und Konsequenzen seines Auftretens – durch seine „Umgebung“. Das Verschieben einer Figur auf dem Schachbrett ist ein „gekonnter Zug“ oder ein „Schachmattsetzen“ nur innerhalb des Schachspiels. Ähnlich ist ein musikalischer Übergang eine „Auflösung“ nur in einer musikalischen Sprache. Nur als solcher ist verständlich.428 Obwohl es sich bei unseren ästhetischen Idealen zu einem großen Teil um internalisierte ästhetische Ideale unserer Gesellschaft handelt, sind wir nicht völlig festgelegt. Es gibt Wittgenstein zufolge auch individuelle ästhetische Ideale. 4.2.4 Dunkle Paradigmen und individuelle Ideale Beim Hören eines Musikstücks können sich Töne als „richtig“, Tonfolgen als „sinnvoll“ und Übergänge als „korrekt“ oder gar als „zwingend“ anhören, selbst wenn wir das Stück zum ersten Mal hören. Warum aber ist das so? Woher nimmt unser Ohr den Maßstab für Richtig und Falsch? Warum muss ein bestimmtes Musikstück genau in diesem Tempo, mit genau dieser Dynamik und Betonung gespielt werden? Und warum klingen manche Übergänge „richtig“ und „natürlich“, während andere sich „ausdruckslos“, „erzwungen“ oder gar „falsch“ anhören? Sicherlich spielt unsere musikalische Sozialisation eine große Rolle: unser Ohr hat sich an musikalische Konventionen gewöhnt und empfindet das Gewohnte als richtig. Doch manchmal müssen musikalische Regeln strapaziert oder gebrochen werden, damit die Musik Sinn ergibt und zum Sprechen kommt.429 Es gibt also eine „sinnvolle Unregelmäßigkeit“430, wie sie Wittgenstein in den Türmen der Basiliuskathedrale gesehen hat. Wann aber wirkt eine Abweichung von der Regel sinnvoll? Warum klingt Musik richtig, die mit Kon428

Vgl. Kapitel 7.5.3. Vgl. Scruton, Art and Imagination, 169: „What makes a musical phrase ‚meaningful’, as we say, is not the conformity to rule. On the contrary, this kind of ‘meaningfulness’, like the meaningfulness of a gesture, is not something that could ever be captured by rules.“ 430 VB, 497. 429

136 ventionen bricht? Es scheint, als müsste es Paradigmen des musikalisch Richtigen geben, die außerhalb der Musik liegen. Wittgenstein schreibt: Die ‚Notwendigkeit’, mit der der zweite Gedanke auf den ersten folgt. (Figaro Ouvertüre.) Nichts dümmer als zu sagen, es sei ‚angenehm’ den einen nach dem andern zu hören. – Aber das Paradigma, wonach das alles richtig ist, ist freilich dunkel. ‚Es ist die natürliche Entwicklung’. Man macht eine Handbewegung, möchte sagen: „natürlich!“ – Man könnte den Übergang auch einem Übergang, dem Eintritt einer neuen Figur in einer Geschichte, z.B., oder einem Gedichte, vergleichen. So passt dies Stück in die Welt unsrer Gedanken und Gefühle hinein.431

Musik klingt nicht richtig, weil sie angenehm klingt, sondern weil sie einem vertrauten Paradigma entspricht, einem aus unserem Leben gegriffenen Muster, das wir in der Musik – „freilich dunkel“ – wiedererkennen.432 Einen musikalischen Übergang können wir erleben wie den „Eintritt einer neuen Figur in einer Geschichte“. Ein Motiv kann klingen „wie eine Frage“, „wie eine Bekräftigung des bereits Gesagten“, „wie ein Gefühlsausbruch“ oder „wie das ersehnte Erreichen einer Lichtung“. Solche Vergleiche decken auf, wie ein Musikstück „in die Welt unsrer Gedanken und Gefühle hinein[passt]“, so Wittgenstein. Meist sind uns diese Ähnlichkeiten jedoch nicht bewusst. Wir hören in der Musik zwar vertraute Muster unseres Lebens, jedoch auf eine dunkle Weise. Es sind diese vertrauten Muster, an denen unser Ohr die Musik misst, etwa wenn wir finden, eine Tonfolge klinge „richtig“, „zu schnell“ oder „nicht stark genug akzentuiert“. Musik klingt richtig und verständlich, wenn der Eindruck, den sie hinterlässt, uns in gewisser Weise „wohlvertraut“ ist – wenn wir in ihr einen Tonfall unserer Sprache, ein Verhaltensmuster, eine Geste, eine Körperempfindung, ein Gefühl oder eine Stimmung wiedererkennen.433 Es ist, „als müßte es zu diesem musikalischen Ausdruck Parallelen auf anderen Gebieten geben“, wie Wittgenstein schreibt.434 Manche musikalischen Themen gewinnen an Kraft und Ausdruck, wenn sie wiederholt werden. Warum? An welchem Vorbild orientiert sich unser Ohr, wenn es eine Wiederholung fordert? Welchem Ideal hat das Musikstück zu entsprechen? Wittgenstein meint, das Paradigma sei hier „der Rhythmus unsrer Sprache, unseres Denkens und Empfindens“: 431

VB, 531. Vgl. Kapitel 6.3; 7.5.3. 433 BGM, 100-101. 434 MS 130, 62-64. 432

137 „Die Wiederholung ist notwendig.“ Inwiefern ist sie notwendig? Nun singe es, so wirst Du sehen, dass ihm erst die Wiederholung seine ungeheure Kraft gibt. – Ist es uns denn nicht, als müsse hier eine Vorlage für das Thema in der Wirklichkeit existieren, und das Thema käme ihr nur dann nahe, entspräche ihr nur, wenn dieser Teil wiederholt würde? […] Und doch ist da eben kein Paradigma außerhalb des Themas. Und doch ist auch wieder ein Paradigma außerhalb des Themas: nämlich der Rhythmus unsrer Sprache, unseres Denkens und Empfindens.435

Wittgenstein weist darauf hin, dass verschiedene Menschen unterschiedliche ästhetische Paradigmen in sich tragen – dass „der Rhythmus unserer Sprache, unseres Denkens und Empfindens“ also von Mensch zu Mensch leicht variieren kann. Wenn wir ein Musikstück so lange spielen, bis sich Tempo, Dynamik, Betonung und Ausdruck für uns richtig anhören, dann passen wir das Stück gleichsam an unsere je individuelle Seele an – wie ein dehnbares Kleid an unseren Körper. Wittgenstein schreibt: Warum pfeife ich das gerade so? warum bringe ich den Rhythmus der Stärke und des Zeitmaßes gerade auf dieses ganz bestimmte Ideal? Ich möchte sagen: „Weil ich weiß, was das alles heißt“ – aber was heißt es denn? Ich wüßte es nicht zu sagen, außer durch die Übersetzung in einen Vorgang von gleichem Rhythmus. Ich könnte nur sagen: wohnt dieses Musikstück in mir, diesen Platz nimmt dieses Schema in meiner Seele ein. So als gäbe mir jemand ein Kleidungsstück und ich legte es an meinen Körper an und es nähme also dort eine ganz bestimmte Gestalt an, indem es sich da ausdehnte, dort zusammenzöge und nur dadurch und so für mich Bedeutung gewönne. Diese Gestalt nimmt dieses Thema als Kleid meiner Seele an.436

Was sich für mich richtig anhört, kann für eine andere Person „zu langsam“ oder „nicht dynamisch genug“ klingen. Für sie müsste das Stück schneller und dynamischer gespielt werden. Sie kann so nicht „mitgehen“. Wittgenstein zufolge hat also nicht nur jedes Musikstück sein Ideal, sondern auch jeder Mensch sein eigenes Werkideal. Die singulären Ideale sind zugleich individuelle Ideale. Es kommt vor, dass Dirigenten ein Stück anders dirigieren, wenn sie sich nach einer längeren Pause erneut dem Stück widmen. Das liegt sicherlich daran, dass sie zwischenzeitlich viel Musik gehört haben. Es kann aber auch daran liegen, dass sie Erfahrungen gemacht haben, die auf den ersten 435 436

VB, 523. MS 112, 76r-76v.

138 Blick nichts mit Musik zu tun haben. Das Leben hat ihre „Seele“ wachsen lassen, sodass sie sich in dem musikalischen Kleid, das früher passte, heute nicht mehr frei bewegen können. 4.3 Ästhetische Regeln Im Folgenden soll geklärt werden, was Wittgenstein unter ästhetischen Regeln versteht. Einleitend werde ich unterschiedliche Arten von Regeln vorstellen. Danach werde ich einzelne Merkmale ästhetischer Regeln hervorheben und diskutieren, auf die Wittgenstein in seinen Vorlesungen zur Ästhetik hinweist. 4.3.1 Arten von Regeln Regelfolgendes Verhalten ist zu unterscheiden von regelmäßigem Verhalten. Ein Tennisspieler ist vor wichtigen Matches zwar „in der Regel“ etwas angespannt, wie man zu sagen pflegt. Er folgt mit diesem Verhalten jedoch keiner Regel. Er verstößt auch gegen keine Regel, wenn er vor einem wichtigen Spiel ausnahmsweise nicht angespannt ist. Es gibt keine Regel, die einem Spieler vorschreibt, vor einem Match angespannt zu sein. Bei der Anspannung vor Matches handelt es sich um einen statistisch häufig auftretenden Fall, also um eine Regelmäßigkeit und nicht um eine normative Regel, der man folgen sollte. Wenn sich ein Spieler dagegen vor einem Match warmläuft, dann folgt er damit einer Regel. Er tut, was man vor einem Match tun sollte. Da sich die meisten Spieler vor den meisten Matches warmlaufen, handelt es sich zwar auch hier um eine Regelmäßigkeit, zugleich aber auch um eine Regel, gegen die man verstoßen kann und der man folgen sollte. Weiter sollte man zwischen konstitutiven und regulativen Regeln unterscheiden.437 Wer im Tennis den Ball während des Ballwechsels in die Hand nimmt, zum Netz läuft und ihn ins gegnerische Feld wirft, der verstößt gegen eine konstitutive Regel des Tennis. Dass man nicht mit der Hand, sondern mit dem Schläger spielt, gehört wesentlich zum Tennisspiel. Wer mit der Hand spielt, spielt kein Tennis. Wer dagegen den Ball mit dem Rahmen des Tennisschlägers spielt, der spielt zwar immer noch Tennis, wahrscheinlich aber kein gutes Tennis mehr. Es ist zwar erlaubt, 437

Vgl. Searle, Sprechakte, 54.

139 mit dem Rahmen zu spielen, allerdings ist es nicht empfehlenswert. Bei der Regel, die verlangt, den Ball mit dem Schläger zu spielen, handelt es sich um eine konstitutive Regel des Tennis, während es sich bei der Regel, die empfiehlt, den Ball mit der Fläche des Schlägers zu spielen, um eine regulative Regel handelt. Eine weitere wichtige Unterscheidung von Regeln ist diejenige zwischen impliziten und expliziten Regeln. Bei den meisten Regeln, an denen wir unser Verhalten ausrichten, handelt es sich um implizite Regeln unserer Lebenspraxis. Wenn man gegrüßt wird, sollte man zurück grüßen. Tut man es nicht, wird man vorwurfsvoll angestarrt. Solche Regeln der Höflichkeit sind allerdings in keinem Regelkatalog festgehalten, anders als die Regeln des Schachspiels. Im Kontext der Ästhetik ist es wichtig, ästhetische Regeln gegenüber funktionalen Regeln abzugrenzen. Funktionale Regeln der Musikkomposition verlangen, dass ein Stück spielbar ist: Die Stimmen der Bläser sollten nicht zu hoch und die Tempi nicht zu schnell sein. Im Kontext der Architektur sorgen funktionale Regeln dafür, dass ein Gebäude bewohnbar ist: Die Decken sollten nicht einstürzen und hoch genug sein, damit die Bewohner aufrecht stehen können. Ein Schneider sollte keine Hose entwerfen, die so eng ist, dass man in ihr nicht gehen kann, auch wenn die Hose erstklassig aussieht. Ästhetische und funktionale Regeln können sich also in die Quere kommen: Einerseits können funktionale Regeln zugunsten ästhetischer Regeln strapaziert werden und andererseits müssen ästhetische Regeln bisweilen aufgrund der Geltung funktionaler Regeln ignoriert werden. Als der Geiger Ignaz Schuppanzigh sich über die technischen Schwierigkeiten beklagte, die Beethoven seinen Musikern zumute, soll dieser nur gemeint haben: „Was kümmert mich seine elende Geige, wenn der Geist zu mir spricht!“. Damit stellte Beethoven klar, wie er das Verhältnis von ästhetischen und funktionalen Regeln sah. Ästhetische Regeln sind keine ethischen oder pragmatischen Regeln. So wie die Befolgung ethischer Regeln den ethischen Wert einer Handlung steigert, so steigert die Befolgung ästhetischer Regeln den ästhetischen Wert einer Sache. Worin der ästhetische Wert einer Sache besteht, hängt von ästhetischen Idealen ab, welche wiederum vom Kontext und vom Betrachter abhängen.438 Ich möchte an dieser Stelle anhand von drei paradigmatischen Beispielen verdeutlichen, was mit dem Ausdruck „ästhetische Regel“ gemeint ist: 438

Vgl. Kapitel 3.3.2; 4.2.4; 5.5; 5.7 und 8.4.

140 (1) Ein Hose sollte nicht zu weit sein. (2) Ein Popstück sollte eine eingängige Melodie haben. (3) Diese Krawatte sollte etwas breiter sein. Beispiel (1) zeigt, dass allgemeine ästhetische Regeln einen großen Interpretationsspielraum zulassen und die Anwendungskriterien vom Kontext und vom Betrachter abhängen: Ob eine Hose „zu weit“ ist, hängt von der Hose und von ästhetischen Vorlieben ab. Beispiel (2) zeigt, dass allgemeine ästhetische Regeln oft nur für Objekte eines bestimmten Typs gelten: Atonale Musik soll keine eingängigen Melodien haben. Beispiel (3) verdeutlicht, dass es auch Regeln gibt, die nur für ein konkretes ästhetisches Objekt gelten. Allgemein kann festgehalten werden: Ästhetische Regeln sind typischerweise implizite regulative Regeln, deren Erfüllung zum ästhetischen Wert einer Sache beiträgt. Welche weiteren Charakteristika ästhetische Regeln Wittgenstein zufolge aufweisen, werde ich in den folgenden Kapiteln aufzeigen. 4.3.2 Regeln als Ausdruck ästhetischer Präferenzen Wittgenstein wehrt sich gegen die Tendenz, die Normativität der ästhetischen Praxis auf eine hedonistisch-psychologische Dimension zu reduzieren. In einer Vorlesung soll er gesagt haben: „the fact that we go to see ‘King Lear’ by no means proves the experience is agreeable [and] even if it is agreeable, that fact ‘is about the least important thing you can say about it’“439. Wittgenstein liebte es, zur Entspannung billige Krimis zu lesen und sich amerikanische Westernfilme anzusehen, auch wenn diese Werke aus ästhetischer Sicht alles andere als erstklassig waren.440 In diesem Kontext ist eine Aufzeichnung von Moore interessant: Against the particular view that ‘beautiful’ means ‘agreeable’ he [Wittgenstein] pointed out that we may refuse to go to a performance of a particular work on such a ground as ‘I can’t stand its greatness’, in which case it is disagreeable rather than agreeable.441

439

M, 314. Schulte, Ludwig Wittgenstein. Eine Einführung, 41-42. 441 M, 314. 440

141 Großartige Musik muss nicht angenehm klingen – im Gegenteil. Wenn wir sagen, ein musikalischer Übergang klinge „richtig“ oder „falsch“, dann meinen wir damit nicht, der Übergang klinge „angenehm“ oder „unangenehm“. Wittgenstein meint bezüglich der Frage, warum wir ein Merkmal für ästhetisch richtig halten: „Nichts ist dümmer, als zu sagen, es sei ‚angenehm’“442. Der ästhetische Eindruck der Richtigkeit, den eine wohlproportionierte Tür hervorrufen kann, ist zu unterscheiden von einem angenehmen Eindruck. Der ideale Status einer bestimmten Proportion kann auch nicht dadurch begründet werden, dass das Betrachten dieser Proportion ein angenehmes Gefühl auslöst: Eine bestimmte Proportion ist nicht ideal, weil es angenehm ist, sie zu betrachten. Das ästhetisch Ideale ist Wittgenstein zufolge kein Mittel zum Zweck. Moore schreibt He said that if we say, e.g. of a bass ‘It is too heavy; it moves too much’, we are not saying ‘If it moved less, it would be more agreeable to me’: that, on the contrary, that it should be quieter is an ‘end in itself’, not a means to some other end […] that what we are trying to do is to bring the bass ‘nearer to an ideal’, though we haven’t an ideal before us which we are trying to copy.443

Ein Schneider sieht, dass ein Mantel „zu lang“ oder „zu eng“ ist und versucht anschließend, den Mantel seiner idealen Form anzunähern. Dieses Ideal aber hat er nicht klar vor Augen. Er vergleicht den Mantel nicht mit einer idealen Form, die er im Kopf hat – ebenso wenig wie wir eine Person mit unserer Vorstellung von ihr vergleichen, wenn wir sie auf der Straße identifizieren. In der Regel kennen wir die Ideale und Paradigmen nicht, die unserer ästhetischen Kritik zugrunde liegen. Sie sind „dunkel“, wie Wittgenstein schreibt.444 Wittgenstein betont zwar, dass ästhetische Ideale und Regeln nicht durch angenehme Gefühle und ästhetische Präferenzen begründet werden können, macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass sich in den ästhetischen Regeln, denen wir folgen, unsere ästhetischen Präferenzen zeigen würden. In ästhetischen Regeln manifestieren sich ästhetische Präferenzen: Hätten wir andere Präferenzen, würden wir auch andere ästhetische Regeln und Ideale akzeptieren. Unsere ästhetischen Regeln sind also ein Ausdruck unserer ästhetischen Neigungen und Wünsche: 442

VB, 531. M, 313 u. 314. 444 Vgl. Kapitel 4.2.4. 443

142 You could regard the rules laid down for measurement of a coat as an expression of what certain people want […] The rules of harmony, you can say, expressed the way people wanted chords to follow – their wishes crystallized in these rules (the word ‚wishes’ is much too vague.)445

Wittgenstein präzisiert zwar nicht, was er mit dem Ausdruck „wishes“ meint, aber er spezifiziert, dass es sich bei den Personen, die ästhetische Regeln festlegen, normalerweise nicht um alle, sondern nur um einige Personen handelt, genauer, um eine bestimmte Klasse von Personen: „We say ‘people’ but in fact it was a particular class […] When we say ‘people’, these were some people.“446 Meistens legen die Kenner die Regeln fest. Ihre Präferenzen kristallisieren sich in Regeln. Die Laien machen sich mit diesen Regeln vertraut und versuchen sie sich anzueignen. Oft ist dieser Prozess der Aneignung von Regeln zugleich ein Prozess der Ausformung und Verfeinerung ästhetischer Präferenzen. Durch die Verinnerlichung von Regeln, in denen sich die Präferenzen der Kenner manifestieren, gleichen sich die Präferenzen der Laien allmählich denen der Kenner an. Was Wittgenstein im Auge hat, wenn er davon spricht, dass sich Wünsche in Regeln „kristallisieren“, lässt sich, etwas vereinfacht, am Beispiel der Kochkunst verdeutlichen: „Wer Pasta kocht, sollte ungefähr einen halben Esslöffel Salz pro Liter Wasser hinzugeben“. Dies könnte man eine „Regel des Kochens“ nennen. Warum folgen wir dieser Regel? Die Antwort ist leicht: Wir folgen der Regel, weil uns die Pasta schmecken, wenn wir der Regel folgen. Wäre unser Körper anders aufgebaut und unser Geschmacksinn nicht derselbe, dann würden die Pasta vielleicht versalzen oder fade schmecken und wir würden es vorziehen, einer anderen Regel zu folgen. Die Regeln, denen wir folgen, zeigen also, was für Wesen wir sind. Sie sind ein Lehrstück in Anthropologie, ein Ausdruck unserer Lebensform. Unsere ästhetischen Interessen sind äußerst vielfältig, kontextabhängig und wandlungsfähig. Wir gehen nicht ins Konzert oder ins Museum, um ein „angenehmes Gefühl“ zu erhalten. Vielmehr möchten wir in die Welten eintauchen, die Kunstwerke uns eröffnen. Das zeigt sich bereits am oben gewählten Beispiel der Kochkunst. Zu sagen, beim Kochen käme es lediglich darauf an, dass das Essen „angenehm schmeckt“, wäre allzu sehr vereinfachend. Unsere geschmacklichen Interessen sind komplex und va445 446

LA, 5-6. LA, 6, Fn. 1.

143 riabel. Wir mögen Vielfalt, Variation, Kontraste, Extreme, Intensität und Milde, ebenso wie geschmackliche Ausgewogenheit. Und nicht alle mögen dasselbe: Manche lieben Pasta all’ Arrabiata, gerade deswegen, weil es auf der Zunge und im Rachen brennt und man zu schwitzen anfängt. Angenehm ist das nicht. Aber manche mögen’s heiß. Heavy Metal Musik hat in dieser Hinsicht Ähnlichkeit mit Pasta all’ Arrabiata. Diese Musik „angenehm“ zu nennen wäre Sprachmissbrauch. Für hässliche und provokante Kunst der Gegenwart gilt dasselbe. 4.3.3 Regelkenntnis als Basis ästhetischer Urteile Gute Kunst beruht oft auf Kunstfertigkeit. Künstler und Personen, die in ästhetischen Berufen tätig sind, müssen sich anfänglich mit Regeln vertraut machen. Der Maler lernt Techniken des Zeichnens und der perspektivischen Wiedergabe, dem Schneiderlehrling werden anhand konkreter Beispiele Regeln und Fähigkeiten eingeimpft und der angehende Musiker wird in Harmonielehre, Kontrapunkt und Instrumentierung „abgerichtet“: „He learns rules – he is drilled“447, wie Wittgenstein meint. Nicht nur angehende Künstler, auch angehende Kunstkenner müssen sich mit Regeln vertraut machen, Fähigkeiten ausbilden und Kenntnisse erwerben, um Werke der Kunst verstehen und wertschätzen zu können. Eine Person, die des Englischen nicht mächtig ist, kann kein ästhetisches Urteil über Edgar Allen Poes Gedicht The Raven fällen, auch wenn sie den Klang der Worte „überwältigend“ findet. Sie weiß schlicht nicht, wovon sie spricht. Entsprechendes gilt von einer Person, die zwar voller Freude strahlt, wenn sie Mozarts Kleine Nachtmusik hört, aber weder den Rhythmus klopfen noch die Melodie nachsingen kann. Fehlen ihr diese Fähigkeiten, dann sprechen wir ihr das Verständnis der Musik ab. Wittgenstein schreibt: We distinguish between a person who knows what he is talking about and a person who doesn’t. If a person is to admire English poetry, he must know English […] In music this is more pronounced. Suppose there is a person who admires and enjoys what is admitted to be good but can’t remember the simplest tunes, does’n know when the bass comes in, etc. We say he hasn’t seen what’s in it.448 447 448

LA, 5. LA, 6.

144 Wittgenstein zufolge zeichnet sich ein ästhetischer Kenner dadurch aus, dass er sich ästhetische Regeln angeeignet hat. Wer sich mit romantischer oder balinesischer Musik auskennt, dessen Ohr hat die entsprechenden musikalischen Regeln verinnerlicht. Wer ägyptische Wandmalereien verstehen will, muss sich mit den Konventionen der ägyptischen Darstellung vertraut machen. Ohne die Kenntnis ästhetischer Regeln könne man kein profundes ästhetisches Urteil fällen: „If I hadn’t learned the rules, I wouldn’t be able to make the aesthetic judgement“449. Wenn Wittgenstein an dieser Stelle von „judgement“ spricht, dann meint er damit keine expressiven ästhetischen Urteile wie „Das ist wunderschön!“ oder „Wie toll!“, sondern kritische und charakterisierende Urteile wie „Das Fenster ist zu hoch“ oder „Diese Melodie klingt wie eine Geste der Erleichterung“, Urteile also, die ein Kenner fällt, „a ‚judge’ – i.e. one who has judgement“450. Wir müssen viel können und kennen, um bestimmte Werke der Kunst verstehen und wertschätzen zu können. Man denke an spätromantische Musik oder an balinesische Bilder. Wer weder mit ästhetischen Regeln vertraut ist, noch die unterschiedlichen Arten kennt, von ihnen abzuweichen, kann ein originelles und anspruchsvolles Kunstwerk nicht von einem banalen unterscheiden. Ihm fehlen die dazu nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten. Bachs Kunst der Fuge kann nur wertschätzen, wer mit den Regeln und Kniffen der Fugenkomposition vertraut ist. Die originelle und richtungweisende Geste von Marcel Duchamps Readymade Fountain wird nur jemand verstehen, der sich mit der problematischen Lage der bildenden Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat. Ansonsten möchten wir mit Wittgenstein sagen: „he hasn’t seen what’s in it“. Wittgenstein sieht in der Regelkenntnis nicht nur die Basis der ästhetischen Urteilsfähigkeit, sondern meint zudem, das Lernen von Regeln verfeinere unser Urteilsvermögen und verändere unsere ästhetischen Urteile und Präferenzen: „In learning the rules you get a more and more refined judgement. Learning the rules actually changes your judgement“451. Das Lernen von Regeln macht nicht nur Prinzipien unseres Geschmacks explizit, sondern verfeinert und verändert unseren Geschmack. Vor der Erfindung der Zentralperspektive sahen Bilder ohne Zentralperspektive nicht fehlerhaft aus. Danach schon. Die Menschen „stürzten“ sich 449

LA, 5. LA, 6. 451 LA, 5. 450

145 in diese Regel „hinein“, wie Wittgenstein an anderer Stelle schreibt,452 und die neue Regel der bildnerischen Darstellung veränderte ihre Wahrnehmung und ihre Werturteile. Es ist, wie wenn wir eine neue Eissorte kennen lernen, die alles andere in den Schatten stellt. Neue Regeln zeigen uns neue Ideale. Und im Lichte neuer Ideale wirken alte Ideale mangelhaft. Die ästhetischen Erwartungen steigen und unsere Sinne werden kritischer. Wer sich mit Mode nicht beschäftigt, für den so manches Kleidungsstück „gut“ aus. Der Kenner dagegen hat beinahe immer etwas zu bemängeln. 4.3.4 Regeln schulen die Sinne Ästhetische Kenner haben geschulte Sinne. Komponisten und Dirigenten haben ein geschultes Ohr, Architekten und Fotographen ein geschultes Auge. Ein Architekt sieht mehr als der Laie, wenn er ein Gebäude betrachtet. Wittgenstein würde sagen „He sees what’s in it“. Sein Blick ist geschärft, sein Auge sensibilisiert. Er lässt sich nichts entgehen, achtet auf Details und Zusammenhänge, hebt Stilmerkmale hervor, hinterfragt die konstruktive Umsetzung, sieht Bezüge zu anderen Gebäuden und findet die richtigen Worte, um die ästhetische Wirkung auf den Betrachter zu beschreiben und zu erklären. Im Unterschied zum Laien weiß er, worauf man bei einem Gebäude achten kann und achten sollte: Konzept, Charakter, Stil, Formen, Material, Farben, Licht, konstruktive Umsetzung, technische Schwierigkeiten sowie Eigentümlichkeiten des Architekten. Er kann die architektonische Arbeit wertschätzen, da er die Herausforderungen und Schwierigkeiten sieht. Ästhetische Regeln lernen wir normalerweise nicht durch Regelkataloge, sondern anhand einer Vielzahl unterschiedlicher Beispiele. Wir müssen lernen, wie eine Regel in unterschiedlichen Kontexten angemessen angewendet wird. Regeln anzuwenden lernen heißt, Erfahrung zu sammeln und Möglichkeiten kennen zu lernen. Die Erfahrung verfeinert und bereichert unsere Wahrnehmung: Wenn jemand, der nicht Tennis spielt und nur selten Matches im Fernsehen schaut, ein Tennismatch verfolgt, dann sieht er lediglich, „wie der Ball von einer Seite des Feldes in die andere gespielt wird“. Ein Tennisexperte dagegen sieht nicht nur Crossbälle, SliceAufschläge, Volleys, umlaufene Rückhände und Stoppbälle, sondern er weiß auch, welche Punkte und Spiele wichtig und welche unwichtig sind. Wenn er das Spielgeschehen betrachtet, wird sein Blick gleichsam geführt 452

BGM, 244.

146 von der Erfahrung, die er sich über die Jahre angeeignet hat. Aufgrund seiner Erfahrung bildet er fortlaufend Erwartungen, lässt sich aber ebenso gerne überraschen. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn ein Architekt ein Gebäude betrachtet oder ein Komponist Musik hört. Das durch jahrelanges Hören und Spielen verinnerlichte Wissen darum, wie bestimmte Akkorde musikalisch eingeführt und aufgelöst werden, lässt Erwartungen entstehen und verleiht den Akkorden eine hörbare Funktion und einen Charakter. Der sensible Hörer geht mit jeder musikalischen Bewegung mit, nicht die kleinste Wendung geht beim Hören verloren, jede Nuance trägt zum Ausdruck des Ganzen bei. Unsere Sinne werden nicht nur durch eine reiche Erfahrung geschult, sondern auch durch eine differenzierte Sprache. Oft fällt uns ein Phänomen erst dann auf, wenn wir über das Vokabular verfügen, mit dessen Hilfe wir es benennen und beschreiben können. Unsere Sprache verleiht einem Phänomen durch ihre feinen Unterscheidungen gleichsam eine Kontur und lässt es aus dem phänomenalen Gesamteindruck hervortreten: Wer gelernt hat, was mit dem Ausdruck „Dominantseptakkord“ gemeint ist, der wird dem dadurch bezeichneten Klangphänomen wacher begegnen. 4.3.5 Sich Regeln zu eigen machen Wittgenstein zufolge entwickeln wir durch das Lernen ästhetischer Regeln allmählich ein Gefühl für die Regeln. Wir lernen, die Regeln auf eigene Weise zu interpretieren und flexibel anzuwenden: „I develop a feeling for the rules. I interpret the rules“453. Wir erarbeiten uns eine ästhetische Regelanwendungskompetenz, ein ästhetisches Know-how. Man könnte – in Anlehnung an Aristoteles – von einer ästhetischen Phronesis sprechen. Kant und die romantische Tradition haben die Rolle des ästhetischen Gefühls hervorgehoben, aber auch Tolstoi, wenn er schreibt: „No instruction can make a dancer catch just the time of the music […] or a poet find the only right arrangement of the only suitable words. All this is found only by feeling”454. Die vielleicht wichtigste Regel der ästhetischen Praxis lautet: „Folge den Regeln, aber nicht nur den Regeln“. In Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg ist die Figur des Beckmesser das Paradebeispiel eines Regelfanatikers, der die Regeln der Musik ohne Verständnis anwendet und 453 454

LA, 5. Tolstoi, What is Art?, 137.

147 außerstande ist, den Wert eines Stücks zu erkennen, das sich dem überlieferten Regelkatalog widersetzt. Für Beckmessers Kontrahenten Hans Sachs dagegen sind Regeln kein starres Korsett, in das sich jeder zu zwängen hat. Wittgenstein sieht das ähnlich: Jeder sollte sich zwar anfänglich mit Regeln vertraut machen, danach aber sein ganz persönliches Verhältnis zum Regelkatalog finden. Jeder sollte sich die Regeln zu eigen machen, sodass er letztlich nicht fremden, sondern eigenen Regeln folgt – Regeln, die ihm erlauben, seine Individualität und künstlerische Kreativität auszudrücken.455 Der Komponist muss einen eigenen Stil finden, gleichsam eine individuelle Sprache, die ihm erlaubt, einer bestimmten Gedanken- und Gefühlswelt musikalischen Ausdruck zu verleihen. Dazu muss er aber erst lernen, musikalisch zu sprechen. Jeder, der denken lernt, muss sich mit den Regeln einer Sprache vertraut machen. Jede Sprache aber lenkt das Denken in vorgegebene Bahnen. Sobald wir denken können, sind wir aber auch in der Lage, die in unserer Sprache niedergelegten Denkmuster zu hinterfragen, umzudeuten und einige davon abzulegen. Jeder Künstler sollte Wittgenstein zufolge seinen eigenen Stil und seine eigene Sprache finden – eine Sprache, mit der er sich identifizieren und seine Gedanken, Gefühle und Wünsche ausdrücken kann.456 Franz Schubert, einer der Lieblingskomponisten Wittgensteins, wünschte am Ende seines Lebens, Unterricht in Kontrapunkt zu nehmen. Wittgenstein vermutet, es sei Schubert dabei nicht darum gegangen, „mehr Kontrapunkt zu lernen“, sondern „sein Verhältnis“ zu den Regeln des Kontrapunkts zu finden: Der Kontrapunkt könnte für einen Komponisten ein außerordentlich schwieriges Problem darstellen; das Problem nämlich: in welches Verhältnis soll ich mit meinen Neigungen mich zum Kontrapunkt stellen? Er mochte ein konventionelles Verhältnis gefunden haben, aber wohl fühlen, dass es nicht das seine sei. Dass die Bedeutung nicht klar sei, welche der Kontrapunkt für ihn haben solle. (Ich dachte dabei an Schubert […] Ich meine, sein Ziel sei vielleicht nicht gewesen, einfach mehr Kontrapunkt zu lernen, als vielmehr sein Verhältnis zum Kontrapunkt zu finden).457

Manchmal erkennt man in dem Konventionellen keinen „tiefern Ausdruck“ und es braucht Zeit, bis man sieht, „dass hier das Gewöhnliche sinnerfüllt 455

Vgl. Kapitel 8.2 u. 8.3. Vgl. Kapitel 8.3. 457 VB, 506-507. 456

148 ist“, wie Wittgenstein schreibt.458 Bleibt eine Regel eine bloße, nichts sagende Konvention, darf man sich guten Gewissens von ihr verabschieden.

458

VB, 523.

149

5. Gründe Wittgenstein zufolge spielen Gründe eine zentrale Rolle in unserer ästhetischen Praxis. So fragen wir andere Personen etwa, warum sie einen Film gut finden oder was ihre Gründe sind, ein bestimmtes Musikstück zu mögen. Das ästhetische Sprachspiel ist – um mit Wilfrid Sellars zu sprechen – ein „Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen“. In ästhetischen Diskussionen gehe es, so Wittgenstein, nicht bloß darum, ästhetische Präferenzen kundzutun, sondern darum, diese Präferenzen zu begründen: In der Ästhetik geht es nicht um die Frage „Magst du das?“, sondern um die Frage „Warum magst Du das?“. Jedesmal, wenn wir an den Punkt gelangen, an dem es um eine Geschmacksfrage geht, geht es nicht mehr um Ästhetik. […] Die ästhetische Diskussion ist etwas, was sich im Vorhof des Bereichs der Vorlieben und Abneigungen abspielt, noch ehe sich eine Geschmacksfrage stellt.459 The question of Aesthetics, he said, was not ‘Do you like this?’ but ‘Why do you like it’. What Aesthetics tries to do, he said, is to give reasons, e.g. for having this word rather than that in a particular place in a poem, or for having this musical phrase rather than that in a particular place in a piece of music.460

Die Gründe, die wir für unsere ästhetischen Urteile anführen, sind Wittgenstein zufolge keine zwingenden Gründe. Es handelt sich dabei vielmehr um passende Beschreibungen oder um erhellende Vergleiche, die den Gesprächspartner dazu bringen sollen, selbst wahrzunehmen, was man behauptet. Man sagt etwa „Das Bild hängt zu tief. Es wirkt, als würde es nach unten fallen“ und hofft dabei, dass der Gesprächspartner den Vergleich akzeptiert und sieht, was man meint. Bei einer ästhetischen Begründung handelt es sich in der Regel um einen Wahrnehmungsbeweis, einen „perceptual proof“, wie Sibley schreibt. Ästhetische Urteile zu begründen, ist keine leichte Sache. Ob ein Merkmal für oder gegen den ästhetischen Wert einer Sache spricht, hängt – wie ich zeigen werde – von der Sache und von den ästhetischen Vorlieben des Betrachters ab. Jemandem zu vermitteln, was man an einem Musikstück schätzt, kann so schwierig sein, wie ihm verständlich zu machen, warum man eine Person mag. 459 460

VO, 195. M, 314.

150 5.1 Gründe und Ursachen Wenn wir einen Kunstkritiker fragen, warum er ein bestimmtes Werk schätzt, dann wollen wir, dass er uns Gründe gibt, das Werk auch zu schätzen: „we want him to give us some reason to like it too“461, wie Arnold Isenberg schreibt. Dabei ist wichtig klarzustellen: Wir fragen nicht nach einer Ursache, sondern nach einem Grund. Wittgenstein schreibt „To ask ‚Why is this beautiful?’ is not to ask for a causal explanation“462 und betont „Die Aesthetik sucht Gründe auf, nicht Ursachen“463. Wir verlangen von einem Kunstkritiker, dass er seine ästhetische Einschätzung rechtfertigt, also nicht bloß erklärt, wie sie zustande kam. Er soll uns zeigen, was für den ästhetischen Wert des Kunstwerks spricht. Er soll Gründe nennen, die uns sehen lassen, warum seine Einschätzung dem Kunstwerk angemessen ist und wir sie teilen sollten. Begründungen sind insofern immer präskriptiv. Ein Kritiker kann den ästhetischen Wert eines Bildes nicht begründen, indem er sagt, es wecke in ihm wohltuende Urlaubserinnerungen. Bei seinen individuellen Assoziationen handelt es sich um Ursachen, nicht aber um Gründe des Wohlgefallens. Sie können uns nicht zur Zustimmung bewegen. Gründe können eine Reaktion oder Einschätzung rechtfertigen, Ursachen dagegen nicht. Neben dieser normativen Komponente unterscheiden sich Gründe jedoch noch in einer anderen Hinsicht von Ursachen: Wir müssen keine empirische Untersuchung anstellen, um unsere Gründe ausfindig zu machen. Wer Gründe für seine ästhetischen Einschätzungen nennt, stellt keine empirisch zu überprüfenden Hypothesen auf. Wittgenstein erläutert diesen Punkt am Beispiel von Witzen: Wenn wir von einer Person wissen möchten, warum sie einen Witz lustig findet, dann möchten wir in der Regel nicht die Ursachen ausfindig machen, welche dazu führten, dass die Person lachte, sondern wir möchten wissen, aus welchen Gründen sie den Witz lustig findet: Sie findet den Witz „wegen der überraschenden Wendung“ so lustig, nicht „wegen der vier Bier“, die sie bereits getrunken hat. Vielleicht ist einer Person aber gar nicht bewusst, was sie an einem Witz eigentlich so lustig findet. In so einem Fall können wir ihr Vorschläge machen, was ihre Gründe sein könnten. Wir können den Witz analysieren. Ob unsere Analyse aber richtig ist und wir den Grund gefunden haben, zeigt sich Wittgenstein zufolge erst, wenn die Person der Analyse zustimmt und 461

Isenberg, Critical Communication, 425. M, 314. 463 MS 156a, 56v. 462

151 den vorgeschlagenen Grund als Grund akzeptiert. Sie muss die Analyse des Witzes nachvollziehen können. Kann sie der Analyse nicht zustimmen, ist die Analyse falsch. Die Gründe einer Person müssen von ihr als Gründe akzeptiert werden können. Bei Ursachen dagegen ist das anders: Ob eine Kausalerklärung richtig ist, hängt nicht davon ab, ob der Betreffende ihr zustimmen kann. In der Regel kennen wir die Kausalketten und Mechanismen nicht, die dazu führen, dass wir lachen, wohl aber die Gründe, die wir haben, zu lachen. Wittgenstein schreibt: Wenn einem klar ist, weshalb er lacht, ist er sich nicht über eine Ursache im klaren. Andernfalls wäre die Zustimmung zu der Analyse des Witzes, die erklären soll, weshalb man lacht, kein Mittel, um es herauszufinden […] Zur Ermittlung eines Grundes gehört als wesentlicher Bestandteil die Zustimmung des Betreffenden, während die Ermittlung einer Ursache experimentell durchgeführt wird […] Natürlich war demjenigen, der dem Grund zustimmt, damals nicht bewußt, daß es sein Grund war.464

Die Gründe des Lachens müssen uns zwar nicht immer bewusst sein, wohl aber muss es prinzipiell möglich sein, sie bewusst zu machen, denn Gründe sind Wittgenstein zufolge typischerweise das, was wir als Grund anführen, wenn wir danach gefragt werden. Bouveresse schreibt: „Gründe und Ursachen unterscheiden sich in den typischen Fällen dadurch voneinander, daß im Unterschied zu den ‚wahren’ Ursachen die ‚wahren’ und ‚guten’ Gründe wesentlich die sind, die man als solche anerkennt.“465 Für die Ursachen des Lachens dagegen ist keine Anerkennung des Lachenden nötig. Sie können durch Experimente entdeckt werden. In diesem Zusammenhang wirft Wittgenstein Sigmund Freud vor, dieser habe nicht scharf genug zwischen Gründen und Ursachen unterschieden. Er glaube fälschlicherweise, Ursachenforschung zu betreiben. Stattdessen liefere er uns reizvolle Bilder und Beschreibungen, denen wir geneigt sind zuzustimmen.466 Die Ursache dafür, dass mir ein Gegenstand gefällt, ist zu unterscheiden von dem Grund meines ästhetischen Wohlgefallens. Die Tatsache, dass ein Gegenstand bestimmte Proportionen aufweist, mag die Ursache dafür sein, 464

VO, 197-198. Vgl. LA 33. Vgl. LA, 20. Bouveresse, Poesie und Prosa, 157. 466 Freuds Theorie sei „a powerful mythology“ (CF, 53) und der Psychoanalytiker „überrede“ seinen Patienten (LA, 27), so Wittgenstein. Freuds sehe nicht, dass seine Theorie und seine Interpretationen nur etwas Wert sind, weil wir ihnen „zustimmen“ (LA, 18; VB 546-547). Vgl. Cioffi, Wittgenstein on Freud’s ‚abdominable mess’. 465

152 dass er mir gefällt. Würde er nämlich andere Proportionen aufweisen, dann gefiele er mir nicht. Diese Proportionen sind jedoch nicht der Grund dafür, dass er mir gefällt. Schließlich brauche ich diese Proportionen nicht zu kennen, um den Gegenstand schön zu finden. Ich sehe in der Regel nicht, dass ein Gegenstand nach dem goldenen Schnitt proportioniert ist, sondern ich sehe, dass er ausgewogen wirkt. Und darum gefällt er mir. Die Ausgewogenheit ist der Grund meines Wohlgefallens. Die Proportion des goldenen Schnitts ist zwar die Ursache der Ausgewogenheit, jedoch nicht der Grund meines ästhetischen Wohlgefallens, nicht das, was mir an dem Gegenstand gefällt. Das Gesagte gilt nicht nur für sogenannte „proximale“, sondern auch für „distale“ Ursachen: Evolutionstheoretische Hypothesen, die erklären, wie unsere ästhetischen Präferenzen entwicklungsgeschichtlich zustande kamen und warum uns gewisse Landschaftsmalereien oder Portraits gefallen, sind selten phänomenologisch erhellend.467 Die Erklärung, dass uns ein bestimmter Landschaftstyp gefällt, weil sich solche Landschaften für unsere Vorfahren zum Jagen eigneten, zeigt uns nicht, was uns an Landschaftsbildern gefällt.468 Kausalerklärungen ästhetischer Präferenzen nennen uns in der Regel nicht die Gründe, aus denen uns etwas gefällt. 5.2 Was sind Gründe? Bevor ich der Frage nachgehe, welche Rolle Gründe Wittgenstein zufolge in der Ästhetik spielen, möchte ich einige allgemeine und einführende Bemerkungen zu Gründen voranschicken. Die Gründe einer Person sind zu unterscheiden von ihren Meinungen: Die Originalität eines Werks spricht für seinen Wert, nicht jedoch meine Meinung, es sei originell. Für kommenden Regen spricht, dass dunkle Wolken aufziehen, nicht aber, dass ich glaube, es ziehen dunkle Wolken auf. Gründe sind keine Überzeugungszustände, sondern Überzeugungsgehalte, also das, wovon man überzeugt ist.469 Nur der Gehalt einer Überzeugung, nicht aber das Überzeugtsein selbst, kann in einer inferenziellen Relation stehen und ein Urteil rechtfertigen.470 467

Vgl. Davies, Evolution, Art, and Aesthetics. Dutton, Aesthetics and Evolutionary Psychology, 297-298. 469 Vgl. Dancy, Acting for a Good Reason, 113. 470 Schroeder kritisiert Davidson für seine Behauptung, Gründe seien Ursachen, und schreibt: „what is cited in justification, the reason, is what the agent is aware of and 468

153 Gründe sind nicht zwingend bestehende Sachverhalte: Wer ein bestimmtes Werk für wertvoll hält, weil er glaubt, es sei originell, der hat auch dann einen Grund für seine Wertschätzung, wenn er fälschlicherweise glaubt, das Werk sei originell. Gründe müssen nicht immer zutreffende oder wahre Gründe sein. Es gibt bessere und schlechtere Gründe: Wer die Musik von Louis Armstrong schlecht findet, weil Louis Armstrong schwarz ist, der hat einen schlechten Grund für sein abwertendes Urteil. Gründe sollten immer rechtfertigend sein. Sind sie es nicht, dann handelt es sich um schlechte Gründe. Manche Philosophen meinen, Gründe müssten rechtfertigend sein: Wer die Musik von Schwarzen nicht mag, weil sie von Schwarzen stammt, der habe keinen schlechten, sondern gar keinen Grund für sein Urteil. Er glaube lediglich, einen Grund zu haben. Unsere sprachlichen Intuitionen sind hier allerdings alles andere als eindeutig: Im Unterschied zu jemandem, der nicht weiß, warum er die Musik von Louis Armstrong schlecht findet, hat der Rassist sehr wohl einen Grund. So zumindest meine sprachliche Intuition. Wer dagegen behauptet, Armstrongs Musik sei schlecht, weil Wasser bei einhundert Grad kocht, nennt damit gar keinen Grund für sein Urteil, da er uns nicht verständlich machen kann, welchen Begründungszusammenhang er zwischen der Kochtemperatur von Wasser und schlechter Musik sieht. Nicht jeder Grund, der für meine Meinung spricht, ist auch mein Grund. Man kann Gründe übersehen. Und man kann Gründe anführen, die nicht zur eigenen Meinungsbildung beigetragen haben. In der Regel fragen wir eine andere Person nach ihren Gründen, also nach den Gründen, aus denen sie eine bestimmte Meinung hat. Wir gehen davon aus, dass eine Person, wenn sie Gründe anführt, die für den Wert eines Kunstwerks sprechen, damit auch diejenigen Gründe nennt, aus denen sie das Werk schätzt. Wenn wir fragen „Warum hat Dir die Aufführung so gut gefallen?“, dann fragen wir zugleich nach der Ursache und dem Rechtfertigungsgrund der positiven Einschätzung. Wir möchten also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: „(i) Woher rührt deine Einschätzung und (ii) warum sollte ich sie not his beeing aware […] What Davidson passes of as a reason […] is not a reason but an individual’s having a reason”(Are Reasons Causes? 150-151). In ähnlicher Weise unterscheidet Audi zwischen „reason states“ und „reasons“: „It is reason states – especially wants, beliefs and intentions – and not reasons strictly so called, that are candidates for causes. The latter are abstract contents of propositional attitudes; the former are psychological elements that play motivational roles“ (Reasons/Causes, 424 f. Vgl. Audi, Acting for Reasons).

154 teilen?“. Gründe, aus denen jemand eine bestimmte Einstellung hat, können – in Anlehnung an Debatten aus der Handlungstheorie – als „motivierende Gründe“ bezeichnet und begrifflich von „normativen“ Gründen unterschieden werden, die für eine Einstellung sprechen.471 In der Regel fragen wir nach Gründen, die motivierend und normativ sind. Wenn wir begründen, warum wir ein Kunstwerk gut finden, dann verweisen wir in der Regel auf bestimmte Merkmale und Qualitäten des Werks, von denen wir glauben, dass sie seinen ästhetischen Wert ausmachen: Wir weisen darauf hin, wie „gekonnt“, „kraftvoll“, „ausgewogen“ oder „originell“ das Werk ist. Bei den wertsteigernden ästhetischen Qualitäten, die wir als Gründe anführen, handelt es sich aber nicht um Eigenschaftstypen (types), sondern um konkrete Vorkommnisse von Eigenschaften (tokens):472 Wenn wir von einer Linie sagen, sie sei schön, weil sie „so schwungvoll“ ist, dann meinen wir damit nicht, sie sei schön, weil sie zur Klasse der schwungvollen Dinge gehört, sondern weil sie diesen Schwung hat und genau so geschwungen ist. Es ist also nicht das Schwungvolle an sich, das der Linie ihren Reiz verleiht, sondern ihr ganz konkreter Schwung. Schließlich kann eine Linie auf unterschiedliche Weise schwungvoll sein und nicht jede schwungvolle Linie ist ästhetisch ansprechend. Isenberg meint daher zu Recht: „Reading criticism, otherwise than in the presence, or with direct recollection, of the objects discussed is a blank and senseless employment“..473 Um genau zu verstehen, was ein Kunstkritiker meint, wenn er eine Linie als „schwungvoll“ bezeichnet, müsse man den Schwung der Linie sehen.474 5.3 Urteile auf drei Ebenen Es gibt drei Arten von Urteilen, die bei ästhetischen Begründungen involviert sein können:475 471

Vgl. Dancy, Reasons for Action, 1. Sibley spricht in Anlehnung an Kant von „bestimmbaren“ und „bestimmten“ Eigenschaften (Particularity, Art and Evaluation, 95 ff.; vgl. Aesthetic Concepts, 11.) Vgl. Strawson, Aesthetic Appraisal and Works of Art, 205. 473 Isenberg, Critical Communication, 337. 474 Isenberg, Critical Communication, 336. 475 Vgl. Sibley, Aesthetic Concepts; Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert; Zangwill, The Beautiful, the Dainty, and the Dumpy. Wer dieses Modell plausibel findet, muss nicht behaupten, dass die Grenzen zwischen den Ebenen scharf gezogen werden können. Es liegt nahe anzunehmen, dass nicht nur zwischen nicht-ästhetischen 472

155 (i) Nicht-ästhetische Beschreibungen wie „Das Bild ist farbig und enthält zahlreiche geometrische Formen“ (ii) Ästhetische Beschreibungen wie „Das Bild wirkt heiter und ruhig“ (iii) Ästhetische Bewertungen wie „Bei dem Bild handelt es sich um ein erstklassiges Meisterwerk“ Wir können sowohl (a) ästhetische Beschreibungen als auch (b) ästhetische Bewertungen durch ästhetische und nicht-ästhetische Beschreibungen begründen: (a) Bei der Begründung ästhetischer Beschreibungen greifen wir häufig auf nichtästhetische Urteile zurück, etwa wenn wir sagen „Dieses Stück klingt traurig, weil es in Moll steht“ oder „Dieses Gemälde wirkt einheitlich und zart, weil der Maler immer wieder dieselben Muster verwendete und mit Pastellfarben arbeitete“. Oft rechtfertigen wir eine ästhetische Beschreibung aber auch, indem wir eine weitere ästhetische Beschreibung anführen, etwa wenn wir sagen „Die Anmut dieser Linie verdankt sich ihrem zarten Schwung“ oder „Das Bild wirkt harmonisch aufgrund der weichen Farben und der sanften Übergänge“. (b) Auch wenn wir ästhetische Bewertungen begründen, greifen wir sowohl auf ästhetische als auch auf nicht-ästhetische Beschreibungen zurück. Wenn wir sagen „Dieser Tanz ist erstklassig, weil er dynamisch und ausdrucksstark ist“, dann begründen wir ein ästhetisches Werturteil mithilfe einer ästhetischen Beschreibung. Sagen wir dagegen „Dieses Gemälde wirkt wegen der vielen Komplementärfarben sehr ansprechend“, dann rechtfertigen wir ein ästhetisches Werturteil mit einer nicht-ästhetischen Beschreibung. Typischerweise rechtfertigen wir ästhetische Bewertungen durch ästhetische Beschreibungen und ästhetische Beschreibungen durch nichtästhetische Beschreibungen. Eine Bewertung wie „Dieses Bild ist großartig“ begründen wir, indem wir seine ästhetischen Qualitäten beschreiben und etwa sagen „Das Bild ist großartig, weil es sehr kraftvoll und dynamisch wirkt“. Bestreitet jemand, dass das Bild kraftvoll und dynamisch wirkt, dann versuchen wir, ihn auf nicht-ästhetische Merkmale hinzuweisen, die dem Bild Kraft und Dynamik verleihen, etwa indem wir fragen:

und ästhetischen, sondern auch zwischen beschreibenden und bewertenden ästhetischen Urteilen keine klare Trennlinie zu ziehen ist und es also viele Grenzfälle gibt. Vgl. Steinbrenner, Lassen sich ästhetische Urteile begründen, 145.

156 „Siehst Du nicht das viele Rot und die Spuren der schnellen Pinselführung?“. 5.4 Ästhetische Prinzipien Wenn wir sagen, eine Melodie klinge traurig, „weil sie langsam ist und in Moll steht“, dann könnte man meinen, bei dieser Begründung handle es sich um eine verkürzte deduktive Argumentation: (A) Diese Melodie ist langsam und steht in Moll (B) Langsame Melodien in Moll klingen traurig (C) Also: Diese Melodie klingt traurig Wären unsere ästhetischen Begründungen allerdings verkürzte Deduktionen, dann lägen wir sehr oft falsch. Problematisch ist die allgemeine Prämisse (B): Nicht alle Melodien in Moll klingen traurig. Manche klingen bedrohlich. Bei den Gründen, die wir anführen, um unsere ästhetischen Urteile zu stützen, handelt es sich nicht um hinreichende Bedingungen. Wir kennen nämlich keine ästhetischen Prinzipien der Form: „Wenn x die nicht-ästhetischen Eigenschaften E und F hat, dann hat x auch die ästhetische Eigenschaft Ä“. Es gibt immer Gegenbeispiele zu Behauptungen wie „Wenn eine Melodie langsam ist und in Moll steht, dann ist sie traurig“. Aber liegt das vielleicht daran, dass die Prädikate „langsam“ und „in Moll stehend“ eine Melodie nicht genau genug beschreiben? Würde aus einer genaueren Beschreibung einer Melodie und ihres Kontextes nicht ableitbar sein, dass sie traurig ist? Das hängt davon ab, was mit dem Ausdruck „ableitbar“ gemeint ist. Zwar können alle empirischen Fakten dafür sprechen, dass die Melodie traurig ist. Begrifflich oder logisch zwingend ist der Schluss jedoch nicht. Sibley macht auf diesen Punkt aufmerksam, wenn er schreibt, dass selbst aus einer vollständigen Beschreibung einer Melodie nicht begrifflich folgen würde, dass die Melodie traurig sei. Zwischen einer vollständigen nicht-ästhetischen Beschreibung einer traurigen Melodie M und der Aussage „Melodie M ist nicht traurig“ besteht kein begrifflicher Widerspruch. Wer der vollständigen Beschreibung zwar zustimmt, aber trotzdem behauptet, die Melodie sei nicht traurig, begeht Sibley zufolge keinen sprachlichen Fehler.476 Selbst aus einer vollständigen Beschreibung 476

Sibley, Aesthetic and Non-aesthetic, 46.

157 der ganzen Welt würde begrifflich nicht folgen, dass die Melodie traurig ist: Things may be described to us in non-aesthetic terms as fully as we please but we are not thereby put in the position of having to admit (or being unable to deny) that they are delicate or graceful or exquisitely balanced.477 Aesthetic concepts are not and cannot be conditioned- or rule-governed.478

Bei ästhetischen Begriffen handelt es sich Sibley zufolge um phänomenale Begriffe, mit denen wir ausdrücken, wie wir etwas erleben. Aus einer vollständigen Beschreibung der Welt können wir jedoch nicht begrifflich ableiten, wie wir sie erleben. Zudem zeige jemand, der aus nicht-ästhetischen Merkmalen ästhetische Qualitäten ableitet, dass er nicht verstanden hat, wie ästhetische Ausdrücke funktionieren.479 Wenn es ästhetische Prinzipien geben sollte, dann handelt es sich dabei nicht um begriffliche, sondern allenfalls um empirische Wahrheiten: um bewährte Hypothesen. Ein ästhetisches Prinzip wie „Langsame Melodien in Moll klingen traurig“ konstatiert keinen begrifflichen Zusammenhang, sondern eine empirische Regularität. John Bender spricht von einer „defeasible empirical tendency“.480 Mehr als eine Tendenz kann ein ästhetisches Prinzip nicht beschreiben, denn zu universalen Aussagen lassen sich immer Ausnahmen finden oder erfinden. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Wozu braucht man überhaupt ästhetische Prinzipien? Wenn ich die Melancholie eines Musikstücks nicht höre, wie könnte mich da ein Prinzip wie „Langsame Musikstücke in Moll klingen in der Regel melancholisch“ umstimmen? Übertrumpft mein ästhetischer Eindruck nicht jedes Prinzip? Werde ich nicht eher das Prinzip aufgeben als meinen Eindruck in Frage stellen? Kant, Isenberg und Sibley haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Verweis auf ästhetische Prinzipien nicht hilft, wenn wir eine andere Person von unserem ästhetischen Urteil überzeugen möchten. So meint Kant, es könne „keine Regel geben, nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen“481. Wittgenstein steht in dieser Hinsicht in der Tradition von Kant und glaubt 477

Sibley, Aesthetic Concepts, 5. Sibley, Aesthetic Concepts, 12. 479 Vgl. Sibley, Aesthetic Concepts, 9-10. Vgl. Kapitel 3.3. 480 Bender, General but Defeasible Reasons in Aesthetic Evaluations: The Particularist/Generalist Dispute, 386. 481 Kant, KdU, § 8. 478

158 mit Sibley, dass man andere einzig durch „perzeptuelle Beweise“ von den eigenen ästhetischen Ansichten überzeugen kann. Was damit gemeint ist, erläutere ich später. Bisher wurde gezeigt, dass es keine hinreichenden Bedingungen ästhetischer Eigenschaften gibt. Wie aber verhält es sich mit notwendigen Bedingungen? Kennen wir Prinzipien der Form: „Wenn x die ästhetische Eigenschaft Ä hat, dann hat x auch die nicht-ästhetische Eigenschaft E“? Sibley ist der Ansicht, dass es solche notwendigen Bedingungen für die korrekte Anwendung ästhetischer Ausdrücke gibt: [C]ertain non-aesthetic qualities seem to be logically necessary for some aesthetic qualities […] If all lines and movements were either straight or sharply angular, never being or giving the impression of being curving of flowing, there might be no use for the term ‚graceful’. Were such relationships merely contingent, it would be conceivable that we might find occasional exceptions, a graceful straight line or some garish pastels.482

Gewisse Beschreibungen, in denen lediglich nicht-ästhetische Ausdrücke verwendet werden, sind Sibley zufolge „incompatible with descriptions employing certain aesthetic terms“483. Aus dieser Tatsache können wir jedoch keine interessanten ästhetische Prinzipien ableiten: Ich weiß zwar, dass es sich bei einem komplexem Bild nicht um ein monochromes Bild und bei einer anmutigen Linie nicht um eine Gerade handeln kann. Was aber hilft mir dieses Wissen, wenn ich beurteilen soll, ob ein Bild komplex oder eine Linie anmutig ist? 5.5 Kontextualismus der Gründe Nicht-ästhetische Merkmale – wie dicke Pinselstriche, rote Farbe oder ein langsames musikalisches Tempo – können für und gegen das Vorliegen einer ästhetischen Qualität und damit indirekt für und gegen den ästhetischen Wert einer Sache sprechen: Ein und dieselben Pastellfarben können einem Bild Anmut verleihen und ein anderes Bild fade, kitschig oder ausdruckslos machen. Ein und derselbe musikalische Akkord kann in einem Kontext befreiend und in einem anderen beklemmend wirken.

482 483

Sibley, Aesthetic and Non-aesthetic, 47. Sibley, Aesthetic Concepts, 5

159 Ähnliches gilt für ästhetische Qualitäten. Auch sie können, je nach Kontext, für oder gegen den ästhetischen Wert einer Sache sprechen: Glanz und Volumen verschönert das Haar von Michaela, nicht aber die Frisur von Michael. Und ein fulminantes Ende passt zwar zu heroischer Musik, jedoch nicht zu besinnlicher. Was im einen Fall als Grund für ein positives ästhetisches Werturteil angeführt wird, kann in einem anderen Fall als Grund für ein negatives Werturteil angeführt werden: Zarte Farbtöne können dem einem Bild Reiz verleihen und einem anderen Bild den Reiz nehmen. Das eine Musikstück ist aufgrund der unbeschwert klingenden Passagen gelungen, das andere misslungen. Wie Sibley gegen Beardsley gezeigt hat, spricht viel dafür, dass es keine ästhetischen Qualitäten gibt, die den ästhetischen Wert einer Sache immer und überall steigern.484 Ästhetische Qualitäten haben keine stabile Polarität. 485 Bei ästhetischen Vorzügen handelt es sich um kontextabhängige Vorzüge: Ob ein Merkmal ästhetisch wichtig ist, wie wichtig es ist und wofür es wichtig ist, hängt vom Kontext ab. Mit dem Ausdruck „Kontext“ kann dabei Unterschiedliches gemeint sein: von der unmittelbaren Umgebung eines Merkmals, über das Kunstwerk als Ganzes, bis hin zu dem kulturellen Umfeld, ja selbst zu unterschiedlichen Deutungen eines Werks.486 Kendall Walton und Arthur Danto haben darauf hingewiesen, dass Werke der Kunst, je nachdem, wie wir sie klassifizieren und interpretieren, andere ästhetische Qualitäten aufweisen: Hört man ein Musikstück als Popstück, dann können Passagen „gewagt“ und „unharmonisch“ klingen, die man als „konventionell“ und „harmonisch“ empfindet, wenn man das Stück als Experimentalmusik hört.487 Ein Bild, das im Lichte einer Interpretation platt wirkt, kann im Lichte einer anderen Interpretation komplex und tiefschürfend sein.488 Scruton zufolge können wir entsprechend unserer Imagination ein Kunstwerk so oder anders erleben. Ähnlich wie wir in Kippbildern mehrere Aspekte sehen können, einmal den Hasen und einmal die En484

Sibley, General Criteria and Reasons in Aesthetics, 108. Vgl. Steinbrenner, Lassen sich ästhetische Urteile begründen, 141. 486 Ausgeklammert werden soll an dieser Stelle die Abhängigkeit der Gründe von den ästhetischen Präferenzen der Rezipienten. Auf diese Abhängigkeit werde ich weiter unten, wenn es um die „Relativität der Gründe“ geht, zu sprechen kommen. 487 Walton schreibt in seinem Aufsatz Categories of Art: „To perceive a work in a certain category is to perceive the ‚Gestalt’ of that category in the work“ (340). Wir würden das Impressionistische eines Bildes ebenso sehen wie seine Ausdrucksqualitäten. Dasselbe gilt für Musikstücke von Brahms, die sich „nach Brahms“ anhören. 488 Vgl. Danto, Verklärung des Gewöhnlichen, 33 ff.; Wicks, „Supervenience and Aesthetic Judgement“, 510. 485

160 te, so können wir auch in Kunstwerken unterschiedliche Aspekte wahrnehmen.489 Wie ich anhand einiger Beispiele verdeutlicht habe, bestimmt der jeweilige Kontext, was als Grund für ein ästhetisches Werturteil in Frage kommt. Man könnte also von einem Kontextualismus ästhetischer Gründe sprechen. Jonathan Dancy vertritt im Rahmen seiner partikularistischen Ethikkonzeption eine ähnliche Position, spricht allerdings von einem „Holismus der Gründe“ und schreibt: This is the doctrine that what is a reason in one case may be no reason at all in another, or even a reason on the other side. In ethics, a feature that makes one action better can make another one worse, and make no difference at all to a third.490

Wie aber kann ein Holist oder ein Kontextualist überhaupt ein Merkmal herausgreifen und behaupten, es sei dieses eine Merkmal, das für den ästhetischen Wert einer Sache spreche, wenn doch dieses Merkmal nur im Verbund mit vielen anderen – nur im konkreten Kontext – ein wertsteigerndes Merkmal ist? Wie können wir sagen, es sei der Mund, der einem Gesicht seinen freundlichen Ausdruck verleiht, wenn ein Mund nur in einem freundlichen Gesicht freundlich lächeln kann? Eine Antwort wäre, zu sagen: Nimmt man alle möglichen Gesichter mit einem freundlichen Mund, dann sehen die meisten dieser Gesichter freundlich aus.491 Wittgenstein schlägt allerdings drei andere Strategien vor: „Es ist der Mund, der dieses Gesicht so freundlich macht“ […] Wir denken eben hier an eine bestimmte, verhältnismäßig einfache, Veränderung des Gesichts, die seinen Ausdruck ins Gegenteil verwandeln würde. Und ferner lenkt dieser Zug, wenn wir das Gesicht betrachten, besonders unsere Aufmerksamkeit auf sich. Auch: Halten wir uns die übrigen Züge des Gesichts weg, so stellen wir uns automatisch ein freundliches Gesicht vor.492

Wittgenstein nennt an dieser Stelle drei mögliche Begründungen für Aussagen den Typs „Merkmal M verleiht dem Objekt O seine gestalthafte Qualität Q“. 489

Scruton, Art and Imagination, 121 ff. Dancy, Moral Particularism, Kap. 3: What the Particularist Believes. 491 Vgl. Bender, General but Defeasible Reasons in Aesthetic Evaluation: The Particularist/Generalist Dispute, 386. 492 BrB, 221. 490

161 (i) Eine verhältnismäßig geringe Variation von M sorgt dafür, dass O die Qualität Q verliert. (ii) M lenkt unsere Aufmerksamkeit verhältnismäßig stark auf sich. (iii) Angesichts des isolierten Merkmals M neigen wir verhältnismäßig stark zu der Vorstellung von Q. Der Ausdruck „verhältnismässig“ soll klar machen, dass die Charakteristika (i)-(iii) bei dem relevanten Merkmal M im Vergleich zu anderen Merkmalen stärker ausgeprägt sind. Was mit den Punkten (i)-(iii) gemeint ist, möchte ich anhand zweier Beispiele für ästhetische Begründungen verdeutlichen: (1) „Die Melodie wirkt melancholisch, weil sie in Moll steht“ (2) „Die Pastellfarben verleihen dem Bild einen lieblichen Zauber“ Begründung (i): Ersetzt man die Mollterz einer Melodielinie durch eine Durterz, dann verändert sich der Ausdruck der Melodie. Ebenso verschwindet der liebliche Zauber des Bildes, wenn man die Pastellfarben durch kräftigere Farben ersetzt. Eine verhältnismäßig geringe Variation sorgt also dafür, dass die Melodie nicht mehr melancholisch klingt und das Bild seinen lieblichen Zauber verliert. Begründung (ii): Die Mollterz der Melodie ist phänomenal dominant – sie sticht ins Ohr. Und bei dem Bild achten wir insbesondere auf die Pastelltöne. Sie prägen unseren phänomenalen Eindruck. Begründung (iii): Der Intervallsprung einer kleinen Terz klingt, für sich genommen oder „in vacuo“493, wie Sibley schreibt, melancholisch – ebenso die Molltonleiter. Und die Pastellfarben wirken auch für sich betrachtet lieblich. Die Punkte (ii) und (iii) sind weniger klar als der Punkt (i). So muss zu Punkt (ii) gesagt werden, dass es unterschiedliche Arten gibt, wie ein Merkmal phänomenal dominant sein und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Hier wäre eine phänomenologische Betrachtung erwünscht. Zu Punkt (iii) ist zu sagen, dass nicht in allen Fällen klar ist, was mit einer „Isolierung eines Merkmals“ gemeint ist. Wenn ein Bild „ausgewogen“ ist aufgrund eines kleinen Farbflecks am unteren Bildrand, dann evoziert dieser Fleck, isoliert man ihn, in keiner Weise die Vorstellung eines ausgewogenen Bildes. 493

Sibley, General Criteria and Reasons in Aesthetics, 107.

162 5.6 Prima-facie Gründe Gründe für ästhetische Werturteile haben in der Regel den Status von prima-facie Gründen:494 Sie sind angreifbar und gelten nur, wenn keine Gegengründe vorliegen. Prima facie wertsteigernde ästhetische Qualitäten wie Eleganz oder Anmut können fehl am Platz sein oder aufgrund der Interaktion mit anderen ästhetischen Qualitäten nicht mehr für, sondern gegen den ästhetischen Wert einer Sache sprechen. Sibley schreibt: „where there is possible interaction in a complex whole, as in art-works, what in vacuo is inherently an aesthetic merit may itself, in conjunction with other inherently positive features in that complex, become a defect“495. Wenn ein Merkmal M für den ästhetischen Wert einer Sache spricht, M und N zusammen aber nicht, dann ist N ein Gegengrund gegen M. Gegengründe (defeaters) können entweder (i) übertrumpfend (overriding) oder (ii) unterminierend (undermining) sein. Ein übertrumpfender Gegengrund spricht in gleichem oder stärkerem Maße gegen das Werturteil als der Grund für es spricht. Grund und Gegengrund halten sich entweder die Waage oder der Gegengrund überwiegt. Ein (ii) unterminierender Gegengrund stellt sich dem Grund nicht entgegen, sondern schwächt diesen. Dies kann auf drei Arten geschehen: neutralisierend, umkehrend oder eliminierend. Im ersten Fall neutralisiert der Gegengrund den Grund, indem er es schafft, dass das prima-facie wertsteigernde Merkmal nicht mehr für, sondern weder für noch gegen den ästhetischen Wert des Gegenstandes spricht. Im zweiten Fall sorgt der Gegengrund dafür, dass das prima-facie wertsteigernde Merkmal nicht mehr für, sondern gegen den ästhetischen Wert spricht. Und im dritten Fall eliminiert der Gegengrund das primafacie wertsteigernde Merkmal.496 Wie bereits gezeigt, können ästhetische Qualitäten, je nach Kontext, für oder gegen den ästhetischen Wert einer Sache sprechen: Eleganz und Anmut steigern den ästhetischen Wert eines Abendkleids, mindern aber den ästhetischen Wert eines Clownkostüms oder einer Hip-Hop-Hose.497 494

Ich verwende den Ausdruck „prima facie“ anders als W. D. Ross, der in The Right and the Good zwar von „prima-facie duties“ spricht, damit aber pro tanto Pflichten meint, wie Shelly Kagan gezeigt hat (The Limits of Morality, 17). 495 Sibley, General Criteria and Reasons in Aesthetics, 107. 496 Die Suche nach Beispielen möchte in hier für einmal dem Leser überlassen. 497 Ästhetische Qualitäten können zwar immer für und gegen den ästhetischen Wert einer Sache sprechen, allerdings nicht immer für und gegen das Vorliegen anderer ästhetischer Qualitäten: Die Eleganz einer Sache etwa spricht immer für ihre Schönheit,

163 Trotzdem möchte man sagen, dass Eleganz oder Anmut ästhetische Vorzüge sind, also wertsteigernde ästhetische Qualitäten. Dafür, dass sie das tatsächlich sind, spricht Sibley zufolge ein sprachliches Kriterium: „One cannot intelligibly say tout court […] ‚This work is bad because it is graceful’, or ‚This work is good because it is garish”498. Eine Aussage wie „Dieses Kleid ist misslungen, weil es elegant ist“ wirkt ohne weitere Erklärung tatsächlich sehr merkwürdig. Das zeigt, dass es sich bei der Eleganz um eine prima facie positive ästhetische Qualität handelt. Dasselbe gilt für Anmut oder Ausdrucksstärke. Eleganz, Anmut und Ausdrucksstärke weisen zumindest prima facie eine stabile Polarität auf.499 Ähnliches gilt für nicht-ästhetische Merkmale: Die Langsamkeit eines Musikstücks spricht prima facie für und nicht gegen die Traurigkeit des Stücks. Die Behauptung „Dieses Musikstück ist fröhlich, weil es langsam ist“ grenzt an Sprachmissbrauch und verlangt nach einer weiteren Erklärung. Es gibt also nichtästhetische Merkmale, die prima facie entweder nur für oder nur gegen das Vorliegen einer ästhetischen Qualität sprechen – und insofern prima facie eine stabile Polarität haben. 5.7 Relativität der Gründe Was als guter Grund für ein ästhetisches Werturteil gilt, hängt nicht nur vom Kontext, sondern auch vom Betrachter ab: Was für mich ein Grund ist, ein Musikstück zu schätzen, muss für jemand anderen kein Grund sein, das Stück auch zu schätzen. Gründe für ästhetische Werturteile sind geschmacksrelativ: Für jemanden, der freies und verspieltes Design mag, sprechen Ornamente für den ästhetischen Wert eines Objekts. Wem dagegen schlichtes und strenges Design gefällt, für den sprechen dieselben Ornamente gegen den ästhetischen Wert. während beißende Farben immer gegen die Schönheit sprechen. Es ist sogar begrifflich ausgeschlossen, dass eine Sache elegant, aber hässlich ist. 498 Sibley, General Criteria and Reasons in Aesthetics, 106. 499 George Dickie zufolge ist die ästhetische Qualität der Anmut für sich genommen („in vacuo“) wertsteigernd. Damit sei gemeint, dass die anmutigen Qualitäten einer Sache für ihren ästhetischen Wert sprechen, sofern sie nicht mit anderen ästhetischen Qualitäten in negativer Weise interagieren. Er schreibt: „All instances of gracefulness in a work of art, if they do not interact negatively with any other property or combination of properties of the work when they are experienced, are instrumentally valuable in some degree“ (Ironie, Leather, and Critical Principles, 324).

164 Für den ästhetischen Wert von schlichtem Design zu argumentieren, kann sehr schwierig sein. Wenn sich in unseren ästhetischen Idealen unsere Lebensideale spiegeln – wie ich an anderen Stellen nahe legen möchte –, dann liegt einem Streitgespräch über ästhetische Ideale eine Uneinigkeit über Lebensideale zugrunde.500 Die ästhetischen Vorlieben einer Person zu ändern, würde bedeuten, sie von neuen Lebensidealen zu überzeugen, ihr eine Umwertung ihrer Werte nahe zu legen. Die ästhetische Diskussion wird zu einer Debatte über das Leben – und über das, was das Leben lebenswert macht. Wie kann man einer Person, die das ästhetisch Makellose, Reine und Glatte mag, den Reiz des Unvollkommenen, Unreinen und Brüchigen vermitteln? Wie bringt man einen Liebhaber pathetischer Musik dazu, zurückhaltende und bescheidene Musik zu mögen? Man muss mit ihm über das Leben reden und versuchen, ihm die eigene Sicht, das eigene Lebensgefühl näher zu bringen. Mit den Worten von Scruton: „To show what is bad in a sentimental work of art must involve showing what is bad in sentimentality“501. 5.8 Perzeptuelle Beweise Wenn wir eine Person davon überzeugen möchten, dass ein Musikstück „großartig“ ist, dass die Melodie aber „zu schnell“ gespielt wurde oder dass der Mittelteil „beschwingt“ klingt, dann helfen uns keine Argumente. In ästhetischen Diskussionen sind wir nicht auf inferenzielle, sondern – wie Sibley schreibt – auf „perzeptuelle Beweise“ angewiesen.502 Wenn ein Dirigent die Musiker seines Orchesters davon überzeugen möchte, dass sie langsamer spielen sollen, da die Musik sonst überhastet klingt, muss er sie dazu bringen, ihre eigene Spielweise als zu schnell und als überhastet zu hören.503 Der britische Kunstkritiker Clive Bell schreibt als Erster der Kunstkritik die Aufgabe zu, unsere Wahrnehmung und unser ästhetisches Erleben eines Kunstwerks zu verändern: „The critic can affect my aesthetic theories

500

Vgl. Kapitel 2.1 und 8.4. Scruton, Art and Imagination, 249. 502 Sibley, Aesthetic and Non-aesthetic, 39. 503 Neben Sibley vertreten diese Auffassung: Macdonald, Einige Besonderheiten der ästhetischen Argumentation; Isenberg, Kunstkritische Mitteilung; Hampshire, Logik und Wertschätzung; Ziff, Gründe in der Kunstkritik. 501

165 only by affecting my aesthetic experience“504. Wittgenstein steht in der Tradition von Bell, wenn er meint, Gründe würde man in ästhetischen Diskussionen anführen, um den Adressaten dazu zu bringen, ein Objekt so wahrzunehmen wie man selbst es wahrnimmt: „by giving ‘reasons’ of this sort, you make another person ‘see what you see’“505. Dies schaffe man – wie ich in Kapitel 6 zeigen werde – durch passende Beschreibungen oder erhellende Vergleiche, jedoch nicht durch Kausalerklärungen oder Argumente.506 Die Aufgabe des Kritikers sei nicht, zu erklären, sondern zu beschreiben: „The reasons are further descriptions. Aesthetics is descriptive“507. Das Motto der Kunstkritik ist Wittgenstein zufolge zugleich das Motto der Philosophie: „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten“508. Die Begründungen des Kunstkritikers bleiben wirkungslos, solange wir die ästhetischen Qualitäten nicht wahrnehmen, die er dem Werk zuschreibt. Er muss uns etwas sehen lassen. Nach Isenberg ist es die Aufgabe des Kritikers „to induce a sameness of vision, of experienced content“509. Doch wie gelingt das? Sibley präsentiert in seinem Aufsatz Aesthetic Concepts eine Liste von Methoden, die dem Kritiker zur Verfügung stehen, um sein Publikum dazu zu bringen, gewisse ästhetische Qualitäten wahrzunehmen:510 (i) Auf nicht-ästhetische Merkmale eines Kunstwerks aufmerksam machen, die für seine ästhetischen Qualitäten verantwortlich sind: Auf einzelne Farbflecken und wiederkehrende Muster in einem Bild oder auf Variationen und Tempowechsel in einem Musikstück.511 (ii) Die ästhetischen Qualitäten benennen: Ein Gemälde als „kraftvoll und dynamisch“ oder ein Musikstück als „leicht und beschwingt“ bezeichnen. (iii) Darauf aufmerksam machen, wie ästhetische Qualitäten von nichtästhetischen abhängen: Zeigen, woher das Kraftvolle des Bildes rührt 504

Bell, Art, 18. M, 315. 506 LA, 29. 507 VO, 38-9. 508 PU § 109. 509 Isenberg, Critical Communication, 336. 510 Sibley, Aesthetic Concepts, 18-19. 511 Vgl. MS 156, 54 v: „Die ästhetische Kritik eines Kunstwerks lenkt unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Züge“. 505

166 und welche Merkmale der Musik eine beschwingte Leichtigkeit verleihen. (iv) Vergleiche und Metaphern anführen: Das kraftvolle Bild mit einem lodernden Feuer vergleichen und das beschwingte Musikstück mit einem tanzenden Kind. (v) Imaginativ variieren, kontrastieren, vergleichen und erinnern: Den Adressaten auffordern, sich vorzustellen, der Künstler hätte gewisse Merkmale weggelassen oder verändert und andere hinzugefügt. Wie sähe das Bild aus, wenn dieser rote Fleck fehlen würde? Welche Wirkung hätte diese Musik, wenn das Orchester an dieser Stelle lauter würde? Woran erinnert die auf dem Bild dargestellte Landschaft? (vi) Übung und Wiederholung: Dem Betrachter Zeit geben, sich mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen. Die Beschreibungen und Vergleiche leicht variieren. Bei seinem Wissensstand ansetzen und Bezugspunkte finden. (vii) Tonfall, Mimik, Gestik und Blicke: Durch ein passendes Ausdrucksverhalten und nonverbale Kommunikationsmittel dem Adressaten ästhetische Ausdrucksqualitäten vorführen. Sibley schreibt dazu: „Oft vermag ein Kritiker mit einer Handbewegung mehr zu erreichen als durch Reden. Eine entsprechende Gebärde kann uns die Leidenschaft in einem Bild oder den Charakter einer Melodie vermitteln“512. Diese Worte könnten von Wittgenstein stammen.

Jede dieser Strategien kann uns dabei helfen, eine andere Person etwas sehen zu lassen, was wir selbst sehen: „[to] make another person ‘see what you see’“513. Nur so können wir ihr den ästhetischen Wert eines Kunstwerks zeigen. Nur so kann sie unsere Einschätzung nachvollziehen. Dieses Zeigen oder Sehenlassen ist Wittgenstein zufolge der entscheidende Zug der kunstkritischen Tätigkeit und ein wesentliches Charakteristikum ästhetischer Begründungen. Richard Shusterman fasst Wittgenstein Verständnis der Kunstkritik und der Rolle ästhetischer Gründe wie folgt zusammen: Wittgenstein’s view of critical reasoning may be characterized as perceptualist rather than logical or causal. In other words, the critic’s reasons are regarded not as logically justifying his judgements in terms of principles or evidence in a deductive or inductive argument; nor as causally explaining or recommending it in terms of the motives and causes which engendered 512 513

Sibley, Ästhetische Begriffe, 104. M, 315.

167 it. Rather the critic’s reasons function as devices for focusing the reader’s perception in such a way that he will see the work as the critic sees it. Perception is the proof. The critic, both in interpretation and in evaluation, is trying to get his reader to perceive the work in a certain way, and the reasons he gives are devices to induce in the reader the desired perception of the work.514

Die „Konklusion“ einer ästhetischen Begründung ist Wittgenstein zufolge kein Urteil, sondern eine Wahrnehmung. Die Beschreibung des Kunstkritikers soll uns zu einer neuen Wahrnehmung führen. Zwischen einer Beschreibung und einer Wahrnehmung besteht jedoch keine inferenzielle Relation. Es bleibt eine Kluft, ein arationales Moment, das hinzukommen muss, um einem ästhetischen Grund Wirksamkeit zu verleihen. Ästhetische Gründe sollen eine Wahrnehmung herbeiführen, sind aber gleichzeitig auf sie angewiesen, denn erst die Wahrnehmung verleiht den Gründen ihre Wirksamkeit und Geltung. Ästhetische Gründe muss man wahrnehmen. Wir müssen sehen, was der Kritiker als Grund für den Wert eines Gemäldes anführt. Bringt der Kritiker uns dazu, ein Kunstwerk so wahrzunehmen, wie er selbst es wahrnimmt, ohne dass wir aber infolgedessen seine Einschätzungen und Bewertungen teilen, dann – so Wittgenstein – sei das das Ende der Diskussion: „by giving ‘reasons’ of this sort, you make another person ‘see what you see’ but it still ‘doesn’t appeal to him’, that is ‘an end’ of the discussion“515. Das durch die Beschreibungen des Kunstkritikers induzierte Wahrnehmungserlebnis muss letztlich „für sich selbst sprechen“. Hat er uns gezeigt, was aus seiner Sicht für den Wert des Kunstwerks spricht, dann kann er nur noch hoffen, dass uns das Gezeigte anspricht und seine Gründe auch zu unseren Gründen der ästhetischen Wertschätzung werden. George Edward Moore zufolge verglich Wittgenstein ästhetische Diskussionen mit Diskussionen im Gerichtssaal: ‘[T]he idea that aesthetic discussions were like discussion in a court of law’, where you try to ‘clear up the circumstances’ of the action which is being tried, hoping that in the end what you say will ‘appeal to the judge’. And he said that the same sort of ‘reasons’ were given, not only in Ethics, but also in Philosophy.516

514

Shusterman, Wittgenstein and Critical Reasoning, 101. M, 315. 516 M, 315. 515

168 Durch die Schilderung des Hergangs und der Umstände einer Handlung möchte ein Anwalt den Richter dazu bringen, die Handlung richtig einzuschätzen – oder besser: sie im rechten Licht zu sehen. Dabei sei es entscheidend, den Kontext der Handlung zu beschreiben: „to clear up the circumstances“. Erst an der „Umgebung“ einer Handlung nämlich zeigt sich, ob es sich etwa um ein vorsätzliches oder um ein fahrlässiges Tun handelte. Nachdem der Anwalt die Umstände dargelegt hat, könne er, so Wittgenstein, nur noch hoffen, dass seine Einschätzung den Richter anspricht: „hoping that in the end what you say will ‘appeal to the judge’“. Ähnlich wie vor Gericht argumentiere man auch in ästhetischen, ethischen und philosophischen Diskussionen. Was den jeweiligen Einschätzungen Wittgenstein zufolge Glaubhaftigkeit verleiht, ist eine Art des Sehens: Man legt dem Gesprächspartner eine Sichtweise nahe, die letztlich für sich selbst sprechen muss.517 Wittgenstein zufolge rechtfertigen wir eine bestimmte Spielweise eines Musikstücks oft durch einen Vergleich. Wir sagen etwa: „Diese Stelle muss man langsamer spielen, weil es sonst nicht mehr wie eine nachdenkliche Frage klingt“. Ein Vergleich oder eine Geste kann nahe legen, wie eine musikalische Passage zu hören oder zu spielen ist. Ein Vergleich ist jedoch kein zwingender Grund. Man muss ihn nicht annehmen. Wittgenstein schreibt: Ich gebe einem eine Erklärung [einer musikalischen Phrase], sage ihm ‚Es ist wie wenn …’; nun sagt er ‚Ja, jetzt verstehe ich’s’ oder ‚Ja, jetzt weiß ich, wie es zu spielen ist’. Vor allem musste er ja die Erklärung nicht annehmen; es ist ja nicht, als hätte ich ihm sozusagen überzeugende Gründe dafür gegeben, dass die Stelle vergleichbar ist dem und dem. Ich erkläre ihm ja, z. B., nicht aus Äußerungen des Komponisten, diese Stelle habe das und das darzustellen.518

Ein Vergleich kann oft nicht weiter begründet werden, sondern muss für sich selbst sprechen.519 Ob er erhellend ist, hängt nicht zuletzt davon ab, ob 517

Stanley Cavell zufolge kann man Einigkeit in der Philosophie ebenso wenig erzwingen wie in der Ästhetik – man könne dem anderen das eigene Urteil lediglich „ansinnen“, wie Kant schreibt (vgl. Cavell, Aesthetic Problems in Modern Philosophy, 95-96; Kant, KdU, § 8). Philosophische Äußerungen haben Cavell zufolge eine expressive Funktion, ähnlich wie ästhetische Urteile: Während wir mit ästhetischen Urteilen unsere ästhetischen Erlebnisse ausdrücken, drücken wir mit philosophischen Aussagen unsere sprachlichen Intuitionen aus (94). 518 VB, 548. 519 Vgl. Kapitel 1.9.

169 der Adressat ihn akzeptiert.520 Schulte meint: „Es gibt hier einfach keine unabhängigen Maßstäbe“521. Ob eine ästhetische Begründung gut ist oder nicht, hängt typischerweise davon ab, ob die gewünschte Wahrnehmung zustande kommt. Gründe, die uns nicht sehen lassen, was sie begründen möchten, überzeugen nicht und sind daher schlechte Gründe: „validity is sucess, sucess in inducing the desired perception of the work, if not also the desired critical verdict“522, wie Schusterman schreibt.523 Mark Rowe ist der Ansicht, Wittgenstein habe mit seiner Beschreibung der kunstkritischen Tätigkeit auf eine Form des Überzeugens aufmerksam gemacht, die für einen großen Teil unserer kommunikativen Praxis kennzeichnend ist. In vielen Gesprächen gehe es nicht darum, Informationen und Argumente auszutauschen, sondern den Gesprächspartner zu einer anderen Wahrnehmungsweise hinzuführen. Dies könne auf sehr unterschiedliche Weise geschehen: Wittgenstein discovered the kind of non-inductive, non-deductive reasoning used in interpretative or evaluative contexts […] it makes sense of all those kinds of thought and talk where we are not giving one another information or drawing inferences from it. Most thought is not of the goal-directed propositional kind, heading inexorably towards conclusions and wedded to ‘that’–clauses, but ruminating, turning over, dwelling on, entertaining, recalling, mulling over, reflecting. The aim of this activity is to sift out and play down what is inessential, and highlight or foreground what is of central relevance to our experience. This alters the mental set with which we meet any new situation and determines what we notice or attend to or observe. This kind of thought is not something over and above perception; it imbues our perception and becomes part of it.524

Diese wahrnehmungsverändernde Art der Kommunikation sei, so Rowe, insbesondere bei der Einschätzung von Verhaltensweisen und der Beurtei520

Vgl. Kapitel 6.2. Schulte, Ästhetisch richtig, 86. 522 Shusterman, Wittgenstein and Critical Reasoning, 102. 523 Dass die Güte ästhetischer Gründe in ihrer Wirksamkeit liegt, heißt nicht, dass jedes wirksame Mittel ein ästhetischer Grund ist: Wenn man durch Hypnose oder durch die Verabreichung eines Medikaments die gewünschte Wahrnehmung induzieren könnte, dann handelte es sich bei diesen Verfahren nicht um Formen kunstkritischer Glaubhaftmachung. Shusterman schreibt daher: „Critical reasoning is […] limited by the language-games which constitute our aesthetic forms of life“ (Wittgenstein and Critical Reasoning, 105). Und zu diesen ästhetischen Sprachspielen gehört weder die Hypnose noch die Verabreichung von Medikamenten. 524 Rowe, Criticism Without Theory, 83-84. 521

170 lung von Personen zu beobachten. Kunstkritik habe in dieser Hinsicht eine gewisse Ähnlichkeit zum Klatsch und Tratsch: When we gossip about people, for example, we use the most heterogeneous mix of descriptive and evaluative terms, analogies and parallel cases, parodies, detailed instances and general principles with which to emphasize to ourselves and others the salient points of the person under discussion. If the exchange has been fruitful, then we may not have learnt any new information, but our impression of the subject will be sharper, clearer and firmer in outline than before we entered the conversation […] The power of a devastating parody, a grotesque cartoon image, or well-placed insult is that they ‘stick’: they become a filter through which we see ourselves and through which others see us, and any reasoned rebuttal, redress or explanation must always come too late.525

Jemanden dazu zu bringen, ein Werk zu schätzen oder es als Kitsch zu verachten, erfordert rhetorisches Können, Einfühlungsvermögen und nicht selten: Geduld. Wie bereits angedeutet wurde, sind die ästhetischen Werte einer Person nicht losgelöst von ihren Lebensidealen, sondern mit ihnen auf komplizierte Weise verflochten: „taste is intimately bound up with our personal life and moral identity“, wie Scruton schreibt.526 Eine andere Person vom eigenen ästhetischen Urteil zu überzeugen, erfordert manchmal, sie für die eigenen Lebensideale zu begeistern und ihr den Reiz eines neuen Lebensgefühls zu vermitteln. Einer Person den Wert eines Bildes aufzuzeigen, kann Tilghman zufolge heißen, sie mit einer neuen Sicht auf die Welt vertraut zu machen: „To bring one to realize that this picture is sentimental kitsch may require a rather radical readjustment in [someone’s] view of the world“527. Jemandem eine bestimmte Art des Humors näher zu bringen, bedeutet Wittgenstein zufolge, ihn mit einer Weltsicht vertraut zu machen, denn: „Humor ist keine Stimmung, sondern eine Weltanschauung“528.

525

Rowe, Criticism Without Theory, 84. Scruton, Beauty. A Very Short Introduction, 112. Vgl. Kapitel 8.4. 527 Tilghman, Reflections on Aesthetic Judgement, 257. 528 VB, 560. 526

171 5.9 Unwägbare Evidenz In ästhetischen Gesprächen gehen uns – wie in allen Gesprächen – früher oder später die Gründe aus. Und manchmal sprechen andere Personen auf die Gründe, die wir anführen, nicht an. Die Gründe sind für uns zwar überzeugend, nicht aber für sie. Charakteristisch für den ästhetischen Diskurs ist, dass sich ein Konsens nicht erzwingen lässt. Man hört, dass eine musikalische Passage ironisch ist – oder man hört es nicht. Es lässt sich nichts beweisen. Wittgenstein spricht von „unwägbarer Evidenz“. Ein versierter Musiker kann einem Laien nicht beweisen, dass dieser falsch liegt oder undifferenziert urteilt; er muss ihn dazu bringen, die Musik anders wahrzunehmen und zu empfinden. Er muss versuchen, dem Laien die Evidenz zu verschaffen, auf der auch sein eigenes Urteil basiert. Dazu fehlt dem Laien aber oft Übung und Erfahrung. Ein Laie wird nicht von heute auf morgen zu einem Kenner. Einen „Kennerblick“ kann man Wittgenstein zufolge „nur durch lange Erfahrung lernen und nicht durch einen Kurs in der Schule“.529 Eine Schulung der Sinne bedürfe „langer Erfahrung“. Wittgenstein erläutert, was er unter „unwägbarer Evidenz“ versteht mithilfe eines Beispiels, von dem er ausdrücklich sagt, es handle sich dabei nicht um ein ästhetisches Urteil, da es „durch Dokumente bewiesen“ werden könne. Was er über die Art des Lehrens, Lernens und Begründens solcher Urteile sagt, trifft allerdings auch auf ästhetische Urteile zu: Wie entwickelt man […] einen Kennerblick? Es sagt Einer z. B.: „Dieses Bild ist nicht von dem und dem Meister“ – er macht also eine Aussage, die kein ästhetisches Urteil ist, sondern vielleicht durch Dokumente bewiesen werden kann. Er mag nicht im Stande sein, sein Urteil klar zu begründen. – Wie hat er es gelernt? Konnte jemand es ihn lehren? O ja. – Nicht so, wie man rechnen lehrt. Es bedurfte langer Erfahrung. D.h., der Lernende musste vielleicht wieder und wieder eine Menge Bilder verschiedener Meister betrachten und vergleichen. Dabei konnte man ihm Winke geben. Nun das war der Prozeß des Lernens. Dann aber betrachtete er ein Bild und gab ein Urteil ab. Er konnte in den meisten Fällen Gründe für sein Urteil abgeben, aber sie waren in den meisten Fällen nicht überzeugend.530

Ein versierter Hörer klassischer Musik kann ein Stück, das er nicht kennt, in der Regel ohne weiteres einer bestimmten Zeitspanne oder gar einem 529 530

LSP, § 925. LSP, § 925.

172 Komponisten zuordnen. Er hört, „das muss Mozart sein“ oder „das ist nicht vor Wagner geschrieben worden“. Meist kann er jedoch keine Gründe für sein Urteil nennen. Er hört unmittelbar, dass es sich um ein Stück von Mozart handelt, kann allerdings nicht sagen, woran er es erkennt. Auch bei der Einschätzung von menschlichem Verhalten gibt es diese „unwägbare Evidenz“. Manchmal sehen wir, dass eine Person „abwesend“, „gleichgültig“ oder „aufrichtig“ ist, ohne dass wir dies jemandem beweisen können, der an der Richtigkeit unserer Einschätzung zweifelt. Ob ein Blick, ein Lächeln, eine Geste oder ein Geständnis aufrichtig oder gespielt war, lässt sich oft nur schwer durch das Anführen von Gründen beweisen. Wittgenstein schreibt über das Erkennen der Echtheit eines Ausdrucksverhaltens, was für alle Fälle unwägbarer Evidenz kennzeichnend ist: „Die Echtheit des Ausdrucks läßt sich nicht beweisen; man muss sie fühlen.“ 531 Ein guter Menschenkenner ist nicht jemand, der ein System von Regeln auswendig gelernt hat, sondern jemand, der viel Erfahrung im Umgang mit Menschen und einen geschärften Blick für Feinheiten des Verhaltens hat: Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ‚Erfahrung’. – Kann ein Andrer dabei Lehrer sein? Gewiss. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. – So schaut hier das ‚Lernen’ und das ‚Lehren’ aus. – Was man erlernt, ist keine Technik; man lernt Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln.532 Zur unwägbaren Evidenz gehören Feinheiten des Blicks, der Gebärde, des Tons.533

Einen Wink gibt man, um jemanden auf Feinheiten aufmerksam zu machen, die der Aufmerksamkeit leicht entgehen. Das Bemerken solcher Feinheiten kann aber unseren Blick aufs Ganze verändern und einen Aspekt hervortreten lassen, den wir bis dahin nicht bemerkt haben. So können die verkrampften Hände einer Person ihr Lächeln in einem anderen Licht erscheinen lassen. Was zunächst aussah wie ein entspanntes Lächeln, wirkt nun leicht verkrampft und unaufrichtig. Auch bei Kunstwerken können Details das Ganze in ein anderes Licht rücken. Man denke an das Gemälde „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ von Pieter Breughel dem Älteren, 531

PU II, 575. PU II, 575. 533 PU II, 576. 532

173 auf dem man rechts unten die Beine des ertrinkenden Ikarus zu sehen sind, ohne die das Bild eine ganz andere Geschichte erzählen würde.534 Wittgenstein schreibt in der oben zitierten Bemerkung: Wer sich Menschenkenntnis aneigne, der lerne „keine Technik“, sondern „Urteile“. Damit meint er, dass wir kein systematisches Verfahren, kein Vorgehen nach Kalkül lernen, sondern uns eine Unterscheidungsfähigkeit aneignen, oder besser: eine Art zu sehen. Das Gleiche gilt für den angehenden Kunsthistoriker: Er lernt nicht durch Regeln, sondern durch Vergleiche, wie er die Gemälde von Rembrandt von anderen Gemälden unterscheiden kann. Er lernt, einen Rembrandt als solchen zu sehen. Interessant ist eine Stelle, an der Wittgenstein schreibt, ein Kenner könne sich manchmal zwar einem anderen Kenner durch Gründe und Andeutungen verständlich machen, jedoch nicht einem Laien. In manchen Fällen müsse man ein Kenner sein, um die Gründe des Kenners zu verstehen: Der Kenner könnte sich z.B. einer Jury nicht verständlich machen. D.h. sie würden seinen Ausspruch, aber nicht seine Gründe verstehen. Dem andern Kenner kann er die Andeutungen geben, die dieser versteht.535

Auch hier spielt Wittgenstein darauf an, dass man etwas sehen muss, das man nicht beweisen kann. Ich versuche das anhand eines Beispiels zu erläutern: Der Menschenkenner begründet sein Urteil, dass in dem Verhalten einer Person eine überspielte Unsicherheit zum Ausdruck komme, mit dem Hinweis auf das leicht Zögerliche ihrer Bewegungen. Ein anderer Kenner sieht daraufhin vielleicht das Zögerliche und kommt zum selben Urteil, während ein Laie die Bewegungen nicht als zögerlich zu sehen imstande ist. Was für den Kenner ein wertvoller Hinweis ist, ist für den Laien lediglich ein weiteres begründungsbedürftiges Urteil. Wer Menschenkenntnis hat, kann zwar keine zwingenden Gründe für seine Einschätzungen anführen, aber seine Prognosen werden sich, so Wittgenstein, in aller Regel bewahrheiten: „Aus dem Urteil des besseren Menschenkenners werden, im allgemeinen, richtigere Prognosen hervor534

Das gilt auch für die Poesie. Wittgenstein wählt als aufschlussreiches Beispiel ein Gedicht von Frida Schanz, von dem er nicht wusste, ob es mit dem Wort „Nebeltag“ beginnt oder ob das Gedicht bloß „Nebeltag“ heißt und mit den Worten „Der graue Herbst geht um“ beginnt. Man stimmt Wittgenstein zu: Das Gedicht wirkt trivial, wenn es mit „Der graue Herbst“ beginnt. Beginnt es dagegen mit dem Wort „Nebeltag“, dann muss man feststellen: „Der Rhythmus des ganzen Gedichts ändert sich“ (VB, 467). 535 LSP, § 927.

174 gehen“536. Nur deswegen nennen wir ihn einen Kenner. Im Unterschied zu einer psychologischen Einschätzung kann sich eine ästhetische Einschätzung jedoch nicht bewahrheiten – zumindest nicht in derselben Weise: Wie entscheidet man, wer Recht hat, wenn mein Stuhlnachbar nach einer Tanzvorführung meint, die Bewegungen des Tänzers seien „ausdrucksstark“ gewesen, ich selbst aber die Bewegungen als „affektiert“ empfunden habe? Liegt derjenige richtig, der meint, die Schlusspassage eines Musikstücks sei „sehr fröhlich“ gewesen, oder derjenige, der die Passage als „eindeutig ironisch“ gehört hat? Kann man jemandem nachweisen, dass er falsch liegt, wenn er eine Melodie, die man selbst als „erhaben“ erlebt, als „traurig“ empfindet? In solchen Fällen gibt es keine Verifikation: „Du verstehst ja nichts!“ so sagt man, wenn Einer anzweifelt, was wir klar als echt erkennen, – aber wir können nichts beweisen.537

Wir können nicht aus einzelnen Merkmalen einer musikalischen Aufführung mithilfe von Regeln auf die Ausdrucksqualitäten der Musik schließen. Wie Sibley gezeigt hat, gibt es keine nicht-ästhetischen Merkmale, die hinreichend sind für das Vorliegen ästhetischer Qualitäten. Das Tongeschlecht Dur, das zügige Tempo und die großen Intervallsprünge garantieren nicht, dass es sich bei einer musikalischen Passage um eine wirklich fröhliche handelt – die Fröhlichkeit könnte auch „vorgespielt“, „ironisch“ oder „innerlich verzweifelt“ klingen. Gleiches gilt, wenn jemand meint, der Pianist habe eine bestimmte musikalische Passage „zu schnell“ gespielt. Es gibt keinen objektiven Maßstab des richtigen Tempos. Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass ein Musikstück „rhythmisch korrekt“ zu spielen, nicht das gleiche bedeute wie es „streng nach Metronom“ zu spielen. Gefühlte ästhetische Gleichmäßigkeit sei nicht zu verwechseln mit mathematischer Gleichmäßigkeit. Die Zeitlichkeit der Uhr sei eine andere als die Zeitlichkeit der Musik: Die Zeitlichkeit der Uhr und die Zeitlichkeit in der Musik. Sie sind durchaus nicht gleiche Begriffe. Streng im Takt gespielt, heißt nicht genau nach Metronom gespielt.538

536

PU II, 574. PU II, 574. 538 VB, 564. 537

175 Ob eine Aufführung ausdrucksstark war oder nicht, erkennen wir Wittgenstein zufolge nicht dadurch, dass wir die Aufführung mit einer Version vergleichen, die eindeutig ausdrucksstark ist. Ein und dasselbe Stück könne schließlich auf „unzählige Arten mit echtem Ausdruck gespielt werden“: Der seelenvolle Ausdruck in der Musik. Er ist nicht nach Graden der Stärke und des Tempos zu beschreiben. Sowenig wie der seelenvolle Gesichtsausdruck durch räumliche Masse. Ja, er ist auch nicht durch ein Paradigma zu erklären, denn das gleiche Stück kann auf unzählige Arten mit echtem Ausdruck gespielt werden.539

Das Verstehen von Musik basiert auf einem Erleben musikalischer Ausdrucksqualitäten und ist als solches – ähnlich wie das Verstehen menschlichen Ausdrucksverhaltens – eine Frage von unwägbarer Evidenz, wie Tilghman feststellt: „Wittgenstein talked about the idea of imponderable evidence with reference to the genuineness of a person’s expression although it can be applied to the understanding of expressions in general.“540 Die Zuschreibung von Ausdrucksqualitäten erfordert ein Gespür für Feinheiten. Dies gilt für die Beurteilung von menschlichem Ausdrucksverhalten ebenso wie für die Beurteilung von Kunstwerken und ästhetischen Objekten.541 Einem Menschen ohne ästhetische Sensibilität fehlt Wittgenstein zufolge ein Gespür für das „unwägbare Etwas“.542 So fehle dem Bedeutungsblinden etwa der Sinn für die unterschiedliche Bedeutsamkeit, den unterschiedlichen „Charakter“ von Wörtern und Namen.543 Man kann mit einem Bedeutungsblinden nicht über Gedichte sprechen. Ebenso wenig kann man mit einer Person, die außerstande ist, musikalische Ausdrucksqualitäten zu erleben, über Musik diskutieren. Mit einem Menschen über Kunst zu sprechen, dem es an ästhetischer Sensibilität mangelt, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Man kann ihm nichts zeigen. Er ist für Gründe nicht zugänglich.

539

LSP, § 954. Tilghman, Reflections on Aesthetic Judgement, 258. 541 Vgl. LA, 31; PU II, 561. 542 BPP I, § 243. 543 Ebd. Wittgenstein denkt hier an den unterschiedlichen Charakter der Namen „Beethoven“ und „Mozart“. 540

177

6. Erleben Wittgenstein meint: „In der Kunst ist es schwer etwas zu sagen, was so gut ist wie: nichts zu sagen“544. Wenn uns etwas gefällt, dann können wir oft nicht sagen, was uns daran eigentlich gefällt. Und wenn eine Sache ästhetisch unstimmig wirkt, dann wissen wir oft nicht, was daran nicht stimmt. Uns stört etwas, wir wissen jedoch nicht, was: Sind es die Proportionen? Ist es die Farbkombination? Wirkt das Ganze zu leer oder zu unruhig? Wenn uns solche Fragen umtreiben, dann befinden wir uns Wittgenstein zufolge in einem Zustand „ästhetischer Verwirrung“. In ästhetischer Verwirrung befinden wir uns, wenn wir unsere ästhetischen Eindrücke und Erlebnisse in Worte fassen möchten, uns dies aber nicht gelingt. Die ästhetische Wahrnehmung ist oft mit Vorstellungen, dumpfen Assoziationen, vagen Gefühlen und zarten Erinnerungen durchtränkt. Es ist diese unklare Fülle, die unserem ästhetischen Erleben seinen unwiderstehlichen Reiz verleiht, uns aber auch „verwirrt“ und sprachlos macht. Diese Verwirrungen lösen sich Wittgenstein zufolge, wenn wir die passenden Vergleiche finden: Wenn uns beispielsweise klar wird, dass ein musikalisches Motiv „wie ein Seufzer“ oder „wie der torkelnde Gang eines Betrunkenen“ klingt und zwei Linien aussehen „als würden sie sich aufeinander zubewegen“ oder „als würden sie miteinander tanzen“. In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit dem, was Wittgenstein „ästhetische Reaktionen“ nennt, und zeige auf, warum passende Vergleiche Wittgenstein zufolge besonders erhellend sind, wenn es darum geht, unsere „ästhetischen Verwirrungen“ zu lösen und unsere ästhetischen Erlebnisse besser zu verstehen. 6.1 Objekte und Ursachen des Erlebens Zwei Freunde stehen in einem Zimmer vor einer weißen Wand. Sie wollen ein Bild aufhängen. Der eine hält das Bild an die Wand, während der andere etwas entfernt steht, um zu beurteilen, ob es an der richtigen Stelle hängt. Die Position des Bildes löst eine ästhetische Reaktion im Betrachter aus: er verspürt ein gewisses Unbehagen, ist unzufrieden mit der Positionierung, sagt „Zu hoch!“, macht dabei eine Geste mit der Hand, schüttelt den Kopf oder verzieht seine Miene. Solche ästhetischen Reaktionen sind 544

VB, 481.

178 nach Wittgenstein zentral für die Ästhetik: „Perhaps the most important thing in connection with aesthetics is what may be called aesthetic reactions“545. Ästhetische Reaktionen gleichen mehr Reflexen als Reflexionen. Sie geschehen spontan und unwillkürlich, ähnlich wie das Wegziehen der Hand von einer heißen Herdplatte: „It is a reaction analogous to my taking my hand away from a hot plate”546. Bei ästhetischen Reaktionen handelt es sich aber – anders als bei dem Wegziehen der Hand von der Herdplatte – meist um kulturell erworbene Reaktionen. Was für unsere Augen „unproportioniert“ aussieht oder „verstimmt“ klingt, empfinden andere als „harmonisch“ und „rein“. Dies wird klar, wenn man sich Musik aus fremden Kulturen anhört und ihre Tonsysteme studiert.547 Wir Menschen verinnerlichen die ästhetischen Normen unseres Umfeldes. Das Gewohnte wird zu einem Muster, zu einem Ideal. Zwischen der Äußerung „Zu hoch!“ und einem „Aua“-Ruf besteht noch ein weiterer Unterschied, auf den Wittgenstein Wert legt. Wer „Zu hoch!“ sagt, reagiert nicht nur, sondern er kritisiert: „The expression of discomfort takes the form of a criticism and not ‚My mind is not at rest’ or something. It might take the form of looking at a picture and saying: ‚What’s wrong with it?’”548. Wer meint, das Bild hänge noch nicht am richtigen Ort, der sieht, dass es nicht da hängt, wo es hängen sollte. Er ist unzufrieden und weiß in der Regel auch, womit und weshalb er unzufrieden ist. Der Zustand der Unzufriedenheit ist „gerichtet“549, wie Wittgenstein meint: „We have here a kind of discomfort which you may call ‚directed’, e.g. if I am afraid of you, my discomfort is directed“550. Wer sich fürchtet, der fürchtet sich in der Regel vor etwas: vor einer Spinne oder davor, dass nachts jemand durchs Fenster kommt. Dieses „intentionale Objekt“ der Furcht darf Wittgenstein zufolge jedoch nicht mit den Ursachen der Furcht verwechselt werden: 545

LA, 13. LA, 14. 547 Vgl. Jourdain, Das wohltemperierte Gehirn, 106 ff. Vgl. PG, 179; PB, § 224. Vgl. Ball, The Music Instinct, 97; Stephen Davies meint: „Genauso wie unsere Muttersprache nehmen wir unsere ‚Mutter-Musik’ seit frühestem Alter quasi osmotisch in uns auf, so dass uns ihr Sinn natürlich und unausweichlich erscheint, wobei das Verstehen vergleichsweise mühelos ist.“ (Musikalisches Verstehen, 32) 548 LA, 14-15. 549 LA, 14. 550 LA, 14. 546

179 Das wovor man sich fürchtet braucht nicht die Ursache der Furcht zu sein. Es wäre leicht ein Fall zu denken wo einer unter dem Einfluss eines Giftes, etwa, sich vor allem fürchtet was man ihm vor Augen stellt. Man würde dann sagen die Ursache der Furcht sei das Gift […] Es ist zu unterscheiden zwischen dem Gegenstand der Furcht und der Ursache der Furcht.551

Der Gegenstand der Furcht muss – im Unterschied zu ihrer Ursache – nicht existieren: Wenn wir Geräusche auf dem Dachboden hören, denken wir vielleicht an einen Einbrecher. Wenn aber kein Einbrecher da ist, sondern die Sonnenstrahlen den Dachboden in eine geräuschvolle Bewegung versetzt haben, dann fürchten wir uns vor etwas, das nicht existiert. In diesem Fall fürchten wir uns nicht vor dem, was die Furcht auslöst: Wir fürchten uns nicht vor der Sonnenstrahlung, sondern vor dem Einbrecher. So wie das Objekt der Furcht nicht identisch sein muss mit der Ursache der Furcht, so muss das Objekt eines Wunsches nicht identisch sein mit dem, was den Wunsch zum Verschwinden bringt. Die Lust auf einen Apfel kann mir vergehen, wenn ich eine Tablette schlucke, die ein Sättigungsgefühl verleiht. Damit ist jedoch nicht gezeigt, dass ich eigentlich die Tablette wollte. Mit einer Äußerung wie „Ich habe Lust auf einen Apfel“ sagt man nicht „Ich wünsche, was immer mein Gefühl der Unbefriedigung stillen wird und glaube, dass ein Apfel das fertig bringt“552. Man stellt Wittgenstein zufolge keine Hypothese darüber auf, wodurch das leichte Hungergefühl gestillt werden könnte, sondern man drückt sein „gerichtetes“ Appetitgefühl aus: den Wunsch auf einen Apfel. In der Regel spekuliert man nicht darüber, was man sich wünscht, sondern man weiß es. Wer sagt „Ich weiß nicht, was ich will“, dem fehlt es nicht an Wissen, sondern an Entschlossenheit. Es gibt sicherlich Fälle, in denen wir über unsere Wünsche nicht wirklich im Klaren sind. Wittgenstein hält jedoch die Vorstellung für absurd, man könne einen ganz bestimmten Wunsch haben, ohne sich diesen bewusst machen zu können.553 Wer, wie Freud, von „unbewussten Wünschen“ rede, der schlage eine neue Verwendungsweise des Ausdrucks „Wunsch“ vor.554 Übertragen wir diese Überlegungen auf die Ästhetik: Wittgenstein zufolge sollte auch bei ästhetischen Reaktionen strikt unterschieden werden zwischen dem Objekt, auf das die Reaktion gerichtet ist, und den Ursachen, welche die Reaktion hervorrufen. Wer sagt „Das Bild hängt zu 551

MS 157a, 29v-30r. PU, 440-441. Vgl. Glock, Wittgenstein Lexikon, 179. 553 PU, 441. 554 BlB, 45 f. Vgl. Kapitel 5.1. 552

180 hoch!“, der stellt in der Regel keine Hypothese über die Ursache seines ästhetischen Unbehagens auf, sondern gibt kund, was ihn an der Positionierung des Bildes stört: „‚Too high!’ is in this case not a conjecture“555. Er artikuliert den ästhetischen Eindruck, den die Positionierung des Bildes bei ihm hinterlässt: Er sieht das Bild als zu hoch und gibt diesen Eindruck kund. Er stellt also keine Vermutung darüber an, was seine ästhetische Unzufriedenheit verursacht haben mag, sondern sagt, womit er unzufrieden ist. Wittgenstein fragt rhetorisch: Is what I call an expression of discontent something like an expression of discomfort plus knowing the cause of the discomfort and asking for it to be removed? If I say: „This door is too low. Make it higher“, should we say I know the cause of my discomfort? […] Is ‚Too high’ comparable with ‚I think I had too much tomatoes today’?556

Eine ästhetische Reaktion gleicht in ihrer expressiven Funktion einem Geschmacksurteil wie „Die Suppe ist versalzen“. Wer von einer Suppe kostet und findet, sie sei zu salzig, der sinnt nicht über die Ursachen seines Geschmackseindrucks nach, sondern bringt zur Sprache, wie die Suppe für ihn schmeckt. Severin Schroeder schreibt dazu: Suppose someone tastes a soup and exclaims: „Ugh! It’s oversalted“. We would not be inclined to call this spontaneous reaction an explanation which identifies the probable source of the person’s feeling that something is wrong with the soup […] Both culinary and aesthetic evaluations are avowals – comparable to „It hurts!“ […] – in that their „truth is guaranteed by their special criteria of truthfulness“. But in contrast to avowals of pain, they are ‚objective’ inasmuch as their topic is the object under consideration and not the person’s sensations or emotions.557

Ästhetische Äußerungen wie „Das Bild hängt zu tief“, „Diese Farben wirken unglaublich intensiv“ oder „Hör dir diesen Groove an!“ haben Wittgenstein zufolge eine expressive Funktion. Sie sind Ausdrucksäußerungen und verleihen in erster Linie den eigenen ästhetischen Wahrnehmungen, Gefühlen und Empfindungen Ausdruck.558 An ihre Stelle könnten genauso gut Gesten, Gesichtsausdrücke oder Tanzschritte treten. Das passt zu Witt555

LA, 14. LA, 13-14. 557 Schroeder, „Too Low!“: Frank Cioffi on Wittgenstein’s Lecture on Aesthetics, 262 u. 267. 558 Vgl. Kapitel 3.3. 556

181 gensteins Auffassung, dass ein Gesichtsausdruck oft treffender ist als eine Beschreibung, insbesondere wenn es darum geht, eine ästhetische Empfindung auszudrücken.559 Die ästhetischen Beschreibungen ersetzen in gewisser Weise die natürlichen und unwillkürlichen Ausdrucksgesten, zu denen wir angesichts ästhetischer Erlebnisse neigen. Wie Wittgenstein an anderer Stelle schreibt: „Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt“560. Wittgenstein zufolge gibt es allerdings keine klare Trennlinie zwischen sprachlichen Äußerungen, die unsere Empfindungen ausdrücken, und solchen, die sie beschreiben. Er schreibt: Ein Schrei ist keine Beschreibung. Aber es gibt Übergänge. Und die Worte ‚Ich fürchte mich’ können näher und entfernter von einem Schrei sein. Sie können ihm ganz nahe liegen, und ganz weit von ihm entfernt sein.561

Schroeder meint, das Spektrum unterschiedlicher Ausdrucksäußerungen reiche „vom Winseln eines Hundes bis zur Raffinesse Proustscher Seelenzergliederung. Je weniger impulsiv und unwillkürlich eine Selbstbezeigung562 erfolgt, insbesondere wenn sie als kaltblütige, wohlüberlegte Aussage geformt ist, desto natürlicher ist es, von einer ‚Beschreibung’ zu sprechen.“563 Ob eine Äußerung die Rolle einer Selbstbeschreibung oder die Funktion einer Ausdrucksäußerung hat, zeigt sich gemäß Wittgenstein am Kontext der Äußerung, an dem Sprachspiel, das gespielt wird: Den Ausruf „Ich erwarte ihn sehnsüchtig!“ kann man einen Akt des Erwartens nennen. Ich kann aber dieselben Worte als das Resultat einer Selbstbeobachtung aussprechen, und sie hießen dann etwa: „Also nach allem, was vorgegangen ist, erwarte ich ihn dennoch mit Sehnsucht.“ Es kommt darauf an: Wie ist es zu diesen Worten gekommen?564 Das Wort „Beschreibung des Seelenzustands“ charakterisiert ein gewisses Spiel. Und wenn ich bloß die Worte „ich fürchte mich“ höre, so mag ich zwar erraten, welches Spiel hier gespielt wird (aus dem Ton etwa), aber ich werde es erst wissen, wenn ich den Zusammenhang kenne. 559

LA, 4. PU, § 244. 561 PU II, 251. 562 Mit dem Ausdruck „Selbstbezeigung“ ist das gemeint, was ich – in Anlehnung an Glock – „Ausdrucksäußerung“ nenne. 563 Schroeder, Das Privatsprachenargument, 147. 564 PU, § 586. 560

182 Denn zu dem, was wir „beschreiben“ nennen, gehört eines oder das andere Merkmal einer Klasse von Merkmalen. Das beobachtende, überlegende, erinnernde Verhalten, ein Trachten nach Genauigkeit, die Fähigkeit sich zu verbessern, das Vergleichen.565

Das „Trachten nach Genauigkeit“ und das „Vergleichen“ sprechen dafür, dass es sich bei vielen ästhetischen Äußerungen nicht um rein expressive Akte des Ausdrückens ästhetischer Erlebnisse handelt, sondern auch um eine „Beschreibung des Seelenzustandes“ – und um eine Beschreibung des ästhetischen Gegenstands. Mit den meisten ästhetischen Äußerungen drücken wir nämlich nicht nur unsere Empfindungen aus, sondern beschreiben zugleich den Gegenstand unserer Empfindung: Mit der Äußerung „Was für eine traurige Schlussszene!“ beschreiben wir auch die Schlussszene. Mit Wittgestein: „Wir lernen Gegenstände beschreiben, und dadurch, in anderm Sinne, unsere Empfindungen“566. Manchmal ist eine genaue Beschreibung des Gegenstands der beste Ausdruck der Art, wie wir ihn erleben. Mit reinen Ausdrucksäußerungen wie „Aua!“ kann man ebenso wenig falsch liegen wie mit einer Geste oder einem Schrei. Ein Ausdrucksverhalten ist aufrichtig oder unaufrichtig, jedoch nicht wahr oder falsch. Bei Ausdrucksäußerungen wie „Das tut schrecklich weh!“ ist die „Wahrheit durch die besonderen Kriterien der Wahrhaftigkeit verbürgt“, wie Wittgenstein schreibt.567 Für ästhetische Äußerungen gilt das aber nur eingeschränkt. Sie sind in der Regel keine reinen Ausdrucksäußerungen: Ästhetische Urteile von Laien können von Unverständnis zeugen oder gar falsch sein. Und man kann sich über die ästhetischen Qualitäten eines Objekts täuschen.568 Im Folgenden möchte ich fragen: Kann ein Betrachter, der angesichts der Positionierung eines Bildes meint „Das Bild hängt zu tief“, mit seiner Äußerung falsch liegen? Und wenn ja, inwiefern? Gibt er – wie Wittgenstein nahe legt – mit seiner Äußerung lediglich seinen subjektiven Eindruck kund oder impliziert sein Urteil das kontrafaktische Urteil „Wenn das Bild höher hinge, würde mein Gefühl der Unzufriedenheit verschwinden“? Angenommen, ein Bild an der Wand macht eindeutig den Eindruck, als hänge es zu tief. Es scheint zu tief zu hängen – da sind wir uns sicher. Dar565

LSP, §§ 50-51. BPP, 195. 567 PU II, 566. 568 Vgl. Kapitel 3.3.1. 566

183 über, dass wir diesen Eindruck haben, können wir uns unmöglich täuschen. Das heißt allerdings nicht, dass der Eindruck korrekt ist. Ob es wirklich die Höhe des Bildes ist, auf die der Eindruck, das Bild hänge zu tief, zurückzuführen ist, bleibt dahingestellt. Über die Ursachen unseres Eindrucks können wir uns täuschen. Vielleicht kommt der Eindruck des Zu-tief-Hängens dadurch zustande, dass unter dem Bild ein Sessel steht. Würde man den Sessel entfernen, so verschwände vielleicht auch das Gefühl, das Bild hänge zu tief. Wäre damit gezeigt, dass der Sprecher sich getäuscht hat, als er sagte, das Bild hänge zu tief? Gab er mit der Äußerung „Zu tief!“ bloß seinen phänomenalen Eindruck wieder oder gab er zugleich etwas anderes zu verstehen? Etwa, dass sein Eindruck, das Bild hänge zu tief, auch dann bestehen bliebe, wenn man den Stuhl verschieben würde? Wie diese Fragen zu beantworten sind, hängt stark von der konkreten Situation ab. Es gibt sicherlich Fälle, in denen ein Sprecher überrascht ist, dass sich der ästhetische Eindruck dadurch ändert, dass man bestimmte, vermeintlich irrelevante Merkmale am Gegenstand oder in seinem Umfeld variiert. Ist das der Fall, dann liegt die Vermutung nahe, dass er sich getäuscht hat.569 Die Reaktion der Überraschung weist auf einen Irrtum hin. Angenommen, ich weise den Tontechniker beim Soundcheck darauf hin, dass der Bass zu leise ist, woraufhin er den Bass lauter macht. Mein Unbehagen aber bleibt. Daraufhin stellt er den Bass wieder auf die ursprüngliche Lautstärke, macht aber das Schlagzeug leiser, und ich muss überrascht feststellen: Nun klingt es perfekt. Ich habe mich getäuscht: Es war nicht der zu leise Bass, der mich störte, sondern das zu laute Schlagzeug. Oft artikulieren wir mit ästhetischen Urteilen lediglich unser ästhetisches Erlebnis, manchmal aber haben unsere Behauptungen etwas Hypothesenhaften und Explikatives an sich. Dann können wir uns irren und der Irrtum zeigt sich meist in unserer Überraschung. Ob eine ästhetische Äußerung wie „Der Bass klingt zu leise“ eine primär expressive oder deskriptive Funktion hat, zeigt sich – mit Wittgenstein gesprochen – an der „Umge569

Frank Cioffi ist der Ansicht, dass der nicht-hypothetische Charakter, den Wittgenstein ästhetischen Erklärungen zuspricht, nicht daher rühre, dass ästhetische Erklärungen die intentionalen Objekte unseres Erlebens benennen, sondern dass sie unser Erleben klären: „Causal considerations don’t enter into the assessment of [aesthetic] remarks not because we are dealing with objects of feelings but because we are dealing with what James describes as the task of ‚bringing certain qualities which were blurred and marginal into distinct consciousness’“ (Aesthetic explanation and aesthetic perplexity, 61). Cioffi übersieht dabei jedoch, dass ein Erlebnis zu klären manchmal heißt, das Objekt des Erlebnisses genauer zu bestimmen: Man klärt ein diffuses Gefühl der Angst, indem man sich bewusst macht, wovor man Angst hat.

184 bung“ der Äußerung, also an den unterschiedlichen Verhaltensweisen, Erläuterungen und Paraphrasen, zu denen wir neigen.570 Wenn wir uns fürchten, wissen wir in der Regel, wovor wir uns fürchten. In der Ästhetik ist das anders: Wir können unzufrieden sein, ohne zu wissen, womit wir unzufrieden sind. So kann uns am Layout einer Seite etwas stören, ohne dass wir sagen könnten, was uns genau stört. Ein Maler kann unzufrieden sein mit seinem Bild, ohne zu wissen, was noch nicht „stimmt“. In solchen Fällen gibt es etwas, womit wir unzufrieden sind, wir wissen jedoch nicht, was es ist. Wir kennen das intentionale Objekt unserer ästhetischen Unzufriedenheit nicht und sind uns insofern über unseren eigenen Zustand im Unklaren. Wir sind ästhetisch verwirrt. 6.2 Ästhetische Verwirrungen Wittgenstein zufolge ist die Vorstellung, man könne ästhetische Fragen mit Hilfe von psychologischen Experimenten beantworten, „very funny“ und „exceedingly stupid“.571 Selbst wenn – was er für unmöglich hält – die Wissenschaft eines Tages voraussagen könnte, welche Reaktion ein Gedicht oder ein Musikstück in einem Hörer hervorrufen wird, würden unsere drängenden ästhetischen Fragen dadurch nicht beantwortet: But we can dream of predicting the reactions of human beings, say to works of art. If we imagine the dream realized, we’d not thereby have solved what we feel to be aesthetic puzzlements, although we may be able to predict that a certain line of poetry will, on a certain person, act in such and such a way.572

Wittgenstein zufolge sind kausale Erklärungen nicht das, wonach wir suchen, wenn wir wissen möchten, was uns an einem Gegenstand gefällt oder 570

Vgl. Cioffi, Aesthetic explanation and aesthetic perplexity, 67: „Rather than say that […] aesthetic explanations are not hypotheses let us say that they are not put to the uses to which hypotheses are normally put. There is a moral to the resistance that they offer to causal paraphrase, i.e. paraphrase which puts them in a shape such that experiment could bear on them“. 571 LA, 17 u. 19. Thomas Tam zufolge kritisiert Wittgenstein hier seine eigene frühere Herangehensweise an Probleme der Ästhetik. Wittgenstein hatte 1912 psychologische Experimente zum Rhythmus in der Musik durchgeführt. (Vgl. On Wonder, Appreciation, and the Tremendous in Wittgenstein’s Aesthetics, 311). Lewis zufolge hat Wittgenstein Richards’ The Principles of Literary Criticism im Auge (Wittgenstein’s Aesthetic Misunderstandings, 21-22). 572 LA, 29.

185 missfällt und wie er auf uns wirkt. Wir suchen nach einer Klärung des ästhetischen Erlebnisses, nicht nach den Ursachen des Erlebnisses. Wir verlangen nicht nach einer kausalen Erklärung, sondern nach einer phänomenologischen Klärung. Was verursacht, dass uns ein Gegenstand gefällt, ist zu unterscheiden von dem, was uns an ihm gefällt. Bestimmte Proportionen mögen bewirken, dass uns ein Stuhl gefällt. Was uns an dem Stuhl gefällt, sind allerdings nicht seine Proportionen, sondern die graziöse Haltung, die Beschwingtheit der Form oder die Tatsache, dass er wirkt wie eine vergnügte vornehme Dame. Dass die Lehne des Stuhls 46 Zentimeter hoch ist, mag die Ursache dafür sein, dass uns der Stuhl gefällt. Es ist jedoch nicht das, was uns an ihm gefällt. Schließlich kennen wir die Länge der Lehne gar nicht. Sie prägt unseren ästhetischen Eindruck nicht. Was den Eindruck prägt, ist beispielsweise die Beschwingtheit, die der Stuhl verkörpert. Das Gesagte gilt auch, wenn uns etwas missfällt. Angenommen, ein Maler ist unzufrieden mit seinem Bild, weiß aber nicht, was ihn stört. Plötzlich bemerkt er: Es wirkt unausgewogen. Die rechte Bildhälfte überwiegt. Das Ganze scheint nach rechts abzufallen. Das war also, was ihn gestört hat. Eine Ursachenforschung hätte hier nicht geholfen. Man hätte die Merkmale des Bildes zwar bis zur Zufriedenheit variieren können. Dadurch hätte man herausgefunden, wie man das Bild korrigieren kann, jedoch nicht, was den Maler am ursprünglichen Eindruck gestört hatte: Das optische Ungleichgewicht. Wittgenstein zufolge suchen wir in der Ästhetik nicht nach experimentell überprüfbaren Erklärungen, sondern nach klärenden Beschreibungen, passenden Metaphern und erhellenden Vergleichen: Die ästhetische Verwirrung, die man fühlt, wenn man gefragt wird, wodurch ein Ding schön wird, wird durch die Angabe einer Ursache nicht beseitigt.573 What we really want, to solve aesthetic puzzlements, is certain comparisons.574

Bevor wir die Arten von Vergleichen näher betrachten, an die Wittgenstein dabei denkt, sollten wir untersuchen, was er mit dem Ausdruck „aesthetic puzzlements“ meint.

573 574

VO, 195. LA, 29.

186 Wittgenstein spricht in seinen Ästhetik-Vorlesungen von 1938 an mehreren Stellen von aesthetic puzzlements. Dabei handelt es sich um ästhetische Rätsel, Unklarheiten oder Verwirrungen, die den Anlass ästhetischer Untersuchungen und Diskussionen bilden.575 Ästhetische Verwirrungen sind drängende Unklarheiten über die Art, wie ein ästhetisches Objekt auf uns wirkt: „Aesthetic puzzles – puzzles about the effects the arts have on us“576, lesen wir in der Vorlesungsmitschrift von Rush Rhees. Wittgenstein denkt dabei an folgende Phänomene: Wir hören eine Melodie und fragen uns: „Wie klingt das? Irgendwie kommt mir diese Bewegung, dieser Ausdruck bekannt vor. Woher kenne ich diesen Eindruck? Wie könnte ich das Erlebnis beschreiben? Womit könnte ich es vergleichen?“. Wir fragen uns, wie ein ästhetisches Objekt auf uns wirkt, was für einen Eindruck es bei uns hinterlässt, woran uns dieser Eindruck erinnert und womit wir ihn vergleichen könnten: „One asks such a question as ‚What does this remind me of?’ or one says of a piece of music: ‚This is like some sentence but what sentence is it like?“577 Der ästhetische Eindruck ist uns auf unbekannte Weise vertraut. Es ist ähnlich, wie wenn wir das Aroma eines Parfüms riechen, das wir eigentlich kennen, jedoch gerade keiner Person zuordnen können. Der Duft des Parfüms bleibt auf merkwürdige Weise unklar und unbestimmt, obwohl er vertraut ist. Wir werden unruhig und angespannt, ähnlich wie wenn wir ein Wort suchen, das uns auf der Zunge liegt. Wenn wir Wein kosten und versuchen, unsere Geschmacksempfindung zu beschreiben, geraten die meisten von uns in ähnliche Schwierigkeiten: Schmeckt der Wein „fruchtig“, „hölzern“, „weich“, „rund“ oder „schwer“? Schmecken wir „Pflaumen“, „Waldbeeren“ oder „Vanille“? Ästhetisch verwirrt sind wir, wenn wir nach einer passenden Beschreibung eines ästhetischen Erlebnisses suchen; wenn uns die Art, wie ein ästhetisches Objekt auf uns wirkt, zwar bekannt vorkommt, wir aber nicht wissen, inwiefern uns der Eindruck vertraut ist. [I]t is true that again and again we do feel inclined to say: „I can’t describe my experience“. I have in mind a case that saying one is incapable of describing comes from being intrigued and wanting to describe, asking oneself: „What is this? What’s he doing, wanting to do here? – Gosh, if I could only say what he’s doing here.“ Very many people have the feeling: „I can make a gesture but that’s all“.578 575

LA, 20 u. 29. LA, 28. 577 LA, 19. 578 LoD, 37. 576

187 Angenommen, wir hören eine Jazzimprovisation eines Tenorsaxophonisten. Eine bestimmte Passage macht einen eigenartigen Eindruck und wir fragen uns: Hat sie eine hörbare Ähnlichkeit mit einem Streitgespräch? Oder wirkt sie eher wie das letzte Zucken eines sterben Tiers? Klingt das rhythmisch leicht versetzte Spiel wie der Gang eines Betrunkenen? Wenn wir in solchen Zuständen ästhetischer Verwirrung sind, suchen wir nach Vergleichen und sehnen uns nach einer Klärung: Diese Töne reizen mich zu einer Beschreibung. Nun kann ich nicht sagen, daß sich so eine Beschreibung nicht geben läßt. Es ließe sich vielleicht in einem Gedicht eine Wendung finden, die diesem Ausdruck der Tonsprache entspricht. Und das gäbe mir gewiß große Befriedigung. Ist mein Gefühl nicht ähnlich wie das, was man so ausdrückt: „Es liegt mir auf der Zunge“. Hier ist auch ein Haschen, Suchen. Ich sage mir: „Was ist das? Was sagt nur diese Phrase? Was drückt sie nur aus?“ — Es ist mir als müßte es noch ein viel klareres Verstehen von ihr geben, als das, was ich habe […] Ich könnte auch sagen: Mir ist, als müßte es zu diesem musikalischen Ausdruck Parallelen auf anderen Gebieten geben.579

In der Musik hören wir lauter Ähnlichkeiten, können jedoch nicht klar fassen, womit die Musik Ähnlichkeiten hat. Es ist, als müsste es „Parallelen auf anderen Gebieten geben“. Wir hören ein musikalisches Motiv als Frage, als Seufzer oder als Geste des Stolzes, sind uns dessen aber nicht bewusst. Wir nehmen einen Aspekt wahr, ohne zu wissen, welchen. Darin besteht unsere ästhetische Verwirrung und Unklarheit. Dass wir tatsächlich einen Aspekt erleben, wenn auch sehr unbestimmt und undeutlich, zeigt sich in unserer Disposition, nur bestimmte Vergleiche und Beschreibungen zu akzeptieren und als passend zu beurteilen. Eine gelungene ästhetische Erklärung beschreibt nach Wittgenstein den Eindruck, den der ästhetische Gegenstand beim Rezipienten hinterlässt, die Art, wie der Gegenstand erlebt wird. Der Experte, der dem Laien eine ästhetische Erklärung gibt, lehrt diesen, seinen eigenen Eindruck klarer zu sehen, ihn zu verstehen und treffend zu artikulieren. Er offeriert ihm die sprachlichen und gestischen Mittel, mit denen er seine ästhetischen Eindrücke und Empfindungen sich selbst und anderen verständlich machen kann. Das erklärt, warum Wittgenstein meint, ein entscheidendes Kriteri-

579

MS 130, 62-64.

188 um dafür, dass eine ästhetische Erklärung gelungen ist, sei die Zustimmung des Adressaten: Here ‚explanation’ is on the same level as utterance – where the utterance (when you say that you have pain, for instance) is the sole criterion. Explanation here is like an utterance supplied by another person – like teaching him to cry. (This takes the surprisingness away from the fact that the whole point of an explanation is that it is accepted […]).580

Die erhellenden Beschreibungen des sensiblen und erfahrenen Kunstkritikers ermöglichen dem Laien, seine eigenen ästhetischen Empfindungen klarer zu fassen und getreu kundzugeben – „It’s like the critic is teaching him to cry“, um Wittgenstein zu paraphrasieren. Der Kritiker lehrt den Laien aber nicht nur, sich differenzierter auszudrücken, sondern auch, differenzierter zu empfinden. Er wirft ein erhellendes Licht auf unser ästhetisches Erleben. Malcolm Budd fasst diese Überlegungen pointiert zusammen und macht zugleich deutlich, inwiefern sich Wittgenstein zufolge ästhetische Erklärungen von Kausalerklärungen unterscheiden: Such an [aesthetic] explanation, if accepted, is persuasive, rather than diagnostic, effecting a clarification or change in the perception of the work, the subject’s formerly inchoate impression becoming definite; it differs from the causal diagnosis of a pain in the stomach, where the sufferer’s acceptance of the diagnosis is unnecessary and leaves the pain unchanged.581

Eine passende ästhetische Beschreibung klärt den phänomenalen Eindruck, den ein Gegenstand bei uns hinterlässt. Sie hebt etwas hervor, das den Charakter des eigenen ästhetischen Erlebnisses prägte, ohne dass man es wusste. Ein zuvor dumpf wahrgenommener Aspekt des Erlebnisses tritt durch die passende Beschreibung deutlicher hervor. Der Kenner könnte seine Erklärungen also mit der Ankündigung beginnen: „I will tell you what is at the back of your mind: . . . “582. Isenberg zufolge besteht die Aufgabe des Kunstkritikers oft darin, das dumpfe und neblige Gesamterlebnis, das ein Kunstwerk in einem Betrachter auslöst, zu klären und halbbewusste ästhetische Qualitäten in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken:

580

LA, 18. Budd, Wittgenstein on Aesthetics, 269. 582 LA, 18. 581

189 But it often happens that there are qualities in a work of art which are, so to speak, neither perceived nor ignored but felt or endured […] Suppose it is only a feeling of monotony, a slight oppressiveness, which comes to us from the style of some writer. A critic then refers to his ‚piled-up clauses, endless sentences, repetitious diction.’ This remark shifts the focus of our attention and brings certain qualities which had been blurred and marginal into distinct consciousness. When, with a sense of illumination, we say ‚Yes, that’s it exactly,’ we are really giving expression to the change which has taken place in our aesthetic apprehension. The post-critical experience is the true commentary on the pre-critical one. The same thing happens when, after listening to Debussy, we study the chords that can be formed on the basis of the whole-tone scale and then return to Debussy. […] There is no objection in these cases to our saying that we have been made to ‚understand’ why we liked (or disliked) the work. But such understanding, which is the legitimate fruit of criticism, is nothing but a second moment of aesthetic experience, a retrial of experienced values. It should not be confused with the psychological study which seeks to know the causes of our feelings.583

Der Kunstkritiker lässt uns unsere eigenen ästhetischen Eindrücke besser verstehen. Er bringt Klarheit in unsere ästhetischen Erlebnisse. Sobald wir seine Beschreibung hören, sind wir geneigt zuzustimmen: „Ja, stimmt, genau so wirkt es!“. Das Rätsel ist gelöst und wir sind vom Drang erlöst, nach Worten und Vergleichen zu suchen. Wir sind „geheilt“, wie Bouveresse in Anlehnung an Wittgensteins Rede von der therapeutischen Aufgabe der Philosophie schreibt: „die richtige Erklärung ist nicht nur die, die man anerkennt, sondern auch die, deren Anerkennung heilt“584.

583

Isenberg, Critical Communication, 430. Bouveresse, Poesie und Prosa, 170. Wittgenstein selbst fragt sich an einer Stelle, warum es ein derart „erlösendes Gefühl“ sein kann, das richtige Wort zu finden. Seine Antwort ist, knapp formuliert, dass ein Wort keine bloße Etikette ist, sondern das Bezeichnete in ein Netz von Bezügen eingliedert, ihm einen Platz in unserem Weltbild und eine „Stellung im Leben“ zuweist: „Warum ist es ein erlösendes Gefühl, wenn wir für eine Erfahrung das ‚richtige Wort’ finden? Es ist als käme etwas zur Ruhe. Und es ist natürlich nicht nur, daß wir das passende Wort finden, sondern mit dem passenden Wort entscheiden wir uns auch für eine Stellungnahme zu der Sache. Es erscheint zuerst seltsam, daß das uns schwer beunruhigt, daß wir keine passende Lade finden. Es ist, als könnte nur ein Pedant unter so etwas leiden. Aber die Lade weist dem Ding seine Stellung im Leben an.“ (MS 132, 56). 584

190 6.3 Erhellende Vergleiche Wir haben bereits gesehen, dass Wittgenstein der Ansicht ist, Kausalerklärungen würden nichts zur Lösung ästhetischer Rätsel beitragen. Wittgenstein zufolge sehnen wir uns nach passenden Beschreibungen und erhellenden Vergleichen: „What we really want, to solve aesthetic puzzlements, is certain comparisons“585. In einer Vorlesung von 1933 soll er gesagt haben: „[A]ll Aesthetics is of the nature of ‚giving a good simile’”586. Dass ein Musikstück so und nicht anders gespielt werden soll, könne man oft nur durch bestimmte Vergleiche rechtfertigen.587 Und Vergleiche seien oft die adäquatesten Beschreibungen unserer ästhetischen Eindrücke.588 Sie können aufzeigen, was uns an ein Objekt gefällt oder warum es uns nicht gefällt. An welche Arten von Vergleichen denkt Wittgenstein dabei? Und wie schaffen es Vergleiche, unsere ästhetischen Eindrücke zu klären und unsere Verwirrungen aufzulösen? Diese beiden Fragen gilt es im Folgenden zu beantworten. Die Vergleiche, die Wittgenstein im Auge hat, kann man in drei Klassen unterteilen: (1) Bei der ersten Klasse handelt es sich um Vergleiche mit Variationen. In den Ästhetik-Vorlesungen von 1938 nennt Wittgenstein einen exemplarischen Fall: As far as I can see the puzzlement I am talking about can be cured only by peculiar kinds of comparisons, e.g. by an arrangement of certain musical figures, comparing their effect on us. „If we put in this chord it does not have that effect; if we put in this chord it does.“589

Es handelt sich also um eine gezielte Veränderung einzelner Merkmale eines ästhetischen Objekts – ein Variieren, das auch bloß in der Vorstellungskraft geschehen kann. Diese Art von Vergleichen entspricht Sibleys

585

LA, 29. M, 316. Dieses Zitat zeigt, dass Wittgenstein mit dem Ausdruck „Aesthetics“ oder „Ästhetik“ oft nicht die philosophische Ästhetik, sondern die ästhetische Praxis meint: die Auseinandersetzung mit ästhetischen Entscheidungen, das Reden über ästhetische Gegenstände und das Geschäft des Kunstkritikers. 587 BrB, 256; PU, § 527. 588 BPP, § 317-318; BrB, 257; VB, 548. 589 LA, 20. 586

191 fünfter Methode des Kunstkritikers.590 Sie lässt uns in erster Linie erkennen, welche Merkmale eines Objekts für seine ästhetischen Qualitäten verantwortlich sind: worauf der ausgewogene Eindruck eines Bildes oder der liebliche Ausdruck einer Melodie basiert. In selteneren Fällen ermöglicht uns diese Art der Merkmalsvariation auch, ästhetische Qualitäten intensiver oder deutlicher wahrzunehmen.591 Durch eine geringfügige Variation eines Merkmals kann eine ästhetische Qualität stärker in den Vorder- oder Hintergrund treten, oder ganz verschwinden. Oft werden wir erst durch einen solchen Kontrast auf die Qualität aufmerksam: So tritt der melancholische Charakter eines Mollakkordes stärker hervor, wenn er von Durakkorden umgeben ist. Da ein Kunstwerk ein in sich strukturiertes Ganzes ist und es – mit Rilke gesprochen – den Anschein macht, „als wüßte jede Stelle von allen“, verändern sich die ästhetischen Qualitäten einzelner Teile oder Passagen des Kunstwerks durch eine Variation ihrer Umgebung. Der Ausdruck eines einzelnen Pinselstrichs ändert sich, wenn man seine Umgebung variiert. Ähnlich kann sich der Ausdruck einer Geste ändern, wenn sich der Kontext verändert. Ich sage mir: „Was ist das? Was sagt nur diese [musikalische] Phrase? Was drückt sie nur aus?“ — Es ist mir als müßte es noch ein viel klareres Verstehen von ihr geben, als das, was ich habe. Und dieses Verstehen würde dadurch erreicht, daß man eine Menge über die Umgebung der Phrase sagt. So als wollte man eine ausdrucksvolle Geste in einer Zeremonie verstehen. Und zur Erklärung mußte ich die Zeremonie gleichsam analysieren. Z.B. sie abändern und zeigen, wie das die Rolle jener Geste beeinflussen würde.592

(2) Bei der zweiten Klasse von Vergleichen handelt es sich um Vergleiche mit anderen Werken. So kann ein Kritiker die Stilmerkmale eines Musikstücks hervorheben, indem er auf stilistisch ähnliche oder auf stilistisch unterschiedliche Werke verweist. Durch eine solche Assimilierung und Kontrastierung kommen ästhetische Qualitäten stärker zur Geltung. Die Werke, die zum Vergleich oder Kontrast herangezogen werden, können vom selben Künstler stammen, müssen es aber nicht. Sie können sogar einer anderen Gattung angehören. Wittgenstein schreibt:

590

Vgl. Kapitel 5.8. Rowe, Criticism Without Theory, 90. 592 MS 130, 62-64. 591

192 You can sometimes find the similarity between the style of a musician and the style of a poet who lived at the same time, or a painter. Take Brahms and Keller. I often found that certain themes of Brahms were extremely Kellerian.593 Reasons […] in Aesthetics, are ‘of the nature of further descriptions’: e.g., you make a person see what Brahms was driving at by showing him lots of pieces by Brahms, or by comparing him with a contemporary author […] by giving ‘reasons’ of this sort, you make another person ‘see what you see’ […].594

Paul Ziff schließt sich Wittgenstein an, wenn er schreibt, der Wert vergleichender Studien bestehe darin, dass sie uns etwas in neuer Weise sehen lassen: Man hat die Musik Bachs mit der von Schütz verglichen, Donnes Dichtung mit der Cavalcantis, und die Bilder von Matisse mit ägyptischen Wandmalereien. Vergleichende Studien sind nützlich. Sie wecken und lenken das Interesse für gewisse Aspekte des in Frage stehenden Werkes. Wenn ein Kritiker zeigt, daß Werk A und Werk B eng verwandt oder in wichtigen Punkten ähnlich sind, ist das nicht nur deshalb interessant, weil man sich dann dieser besonderen Beziehung zwischen A und B bewusst wird, sondern, was bedeutsamer ist, man kann jetzt beide, A und B, anders sehen: im Licht seiner Beziehung zu B kann A neue Durchsichtigkeit gewinnen.595

(3) Die dritte Klasse von Vergleichen ist für die Klärung ästhetischer Erlebnisse besonders zentral. Es handelt sich um Vergleiche mit Phänomenen des Lebens. Musik kann klingen wie ein trauriger Seufzer, sie kann fließen wie ein Strom, aufwallen wie ein Gefühl oder sich „vom Dunkel ins Licht“ emporarbeiten. Stehlampen und Trauerweiden können „den Kopf hängen lassen“ und die Scheinwerfer eines Autos können aussehen „wie die Augen eines Adlers“. Wittgenstein soll gerne und leidenschaftlich eine Stelle aus Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag zitiert haben, in der Mörike in poetischen Metaphern die Wirkung eines Chorals aus der Oper Don Giovanni beschreibt: „Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.“596 Solche Bilder können manchmal den schwer 593

LA, 32, Fn. M, 315. 595 Ziff, Gründe in der Kunstkritik, 65. 596 Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, 65. Es handelt sich dabei um den Choral: „Dein Lachen endet vor der Morgenröte!“. 594

193 fassbaren Eindruck einfangen, den ein Musikstück bei uns hinterlässt. Dieser Eindruck ist oft durchtränkt von unzähligen Erinnerungen aus unserem Leben, ähnlich wie der Duft eines Parfums mit unzähligen Erinnerungen an eine Person angefüllt sein kann. Die Bewegungen und Klangfarben der Musik erinnern uns dunkel an bekannte Phänomene des Lebens. Durch die Musik werden, wie Wittgenstein schreibt, „andere Partien unserer Empfindungswelt zum Sprechen gebracht“.597 Warum liefern Vergleiche mit Phänomenen des Lebens erhellende Antworten auf die Frage, wie sich Musik anhört? Warum sind sie die genauesten Beschreibungen unseres Musikerlebens? Wittgensteins Antwort ist: Weil wir in Vergleichen hören, ohne es zu wissen. Die Beschreibung einer musikalischen Phrase als „beschwingt“ oder „herabstürzend“ ist dann erhellend, wenn sie zur Sprache bringt, als was wir die Musik hören, ohne es zu wissen. Der Vergleich einer musikalischen Stelle mit einem „Seufzer“ oder einer „ablehnenden Antwort“ ist deswegen so erhellend, weil wir in der Musik tatsächlich einen Seufzer oder eine ablehnende Antwort hören, ohne darüber im Klaren zu sein. In allen jenen Fällen kann man sagen, man erlebe einen Vergleich. Denn der Ausdruck des Erlebnisses ist, dass wir zu einem Vergleich geneigt sind. Zu einer Paraphrase. Es ist ein Erlebnis, dessen Ausdruck ein Vergleich ist […] Der Ausdruck des Erlebnisses durch den Vergleich ist eben der Ausdruck, der unmittelbare Ausdruck.598

Ein Vergleich ist dann erhellend, wenn er der unmittelbare Ausdruck der Art ist, wie wir etwas erleben. Vergleiche haben nach Wittgenstein also eine phänomenologisch klärende Funktion. Ihr Wert besteht nicht, wie bei einer Metapher, primär darin, uns auf bisher unbeachtet gebliebene Aspekte einer Sache aufmerksam zu machen,599 sondern Aspekte hervorzuheben und zu verdeutlichen, die unser Erleben von Anfang an geprägt haben, ohne dass wir dies wussten. Aus der Tatsache, dass wir über Kunst gerne in Metaphern, Bildern und Vergleichen sprechen, ist zu schließen, dass wir in Kunstwerken mehr wahrnehmen und erleben als nur das Kunstwerk. In ästhetischen Erlebnissen spiegeln und verdichten sich Erfahrungen unseres Lebens. Wir begegnen uns selbst und der Welt, wie wir sie kennen. Man könnte mit Wittgen597

MS 146, 46. BPP, § 317-318. 599 Vgl. Keil, Kritik des Naturalismus, 253 ff. 598

194 stein sagen: Die ästhetische Betrachtung lässt uns die Dinge so sehen, „dass sie die ganze Welt als Hintergrund haben“600. Die Frage, wie wir erhellende Vergleiche für unsere ästhetischen Erlebnisse finden, ist einfacher zu beantworten als die Frage, wie man eine kreative Metapher findet.601 Was wir brauchen, um die passenden Vergleiche für unser Erleben zu finden, ist eine gewisse phänomenologische Sensibilität. Wir müssen die Vergleiche und Aspekte aufdecken, die unserem Erleben zugrunde liegen und unsere phänomenalen Eindrücke prägen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir müssen herausarbeiten, als was wir die Dinge erleben. Vergleiche sind erhellend, wenn sie betonen oder hervorheben, was immer schon da war und unseren phänomenalen Eindruck mitbestimmt hat.

600

Tb, 178. Black stellt mit Blick auf das Erfinden neuer Metaphern fest: „there can be no rules for ‘creatively’ violating rules“ (More about Metaphor, 438). Vgl. Keil, Kritik des Naturalismus, 284-285. 601

195

7. Verstehen Wittgenstein zufolge gibt es ein Verstehen, bei dem das Verstandene nicht paraphrasiert werden kann. Wenn wir ein kompliziertes Muster, einen fremden Rhythmus oder ein Jazzsolo endlich „verstanden“ haben, können wir nicht sagen, was wir verstanden haben. Wittgenstein spricht deshalb von einem „intransitiven“ Verstehen. Musik zu verstehen, heiße nicht, in Worten wiedergeben zu können, was sie bedeutet, sondern mit ihr „mitgehen“ zu können. Um mittelalterliche Musik verstehen zu können, muss man sich mit den musikalischen Konventionen des Mittelalters vertraut machen. Dadurch fängt man an, die Musik anders zu hören. Es vollzieht sich ein Aspektwechsel und man hat den Eindruck, die fremde Musik endlich zu verstehen. Im ersten Teil dieses Kapitels möchte ich aufzeigen, wodurch sich das ästhetische Verstehen Wittgenstein zufolge auszeichnet. Im zweiten Teil gehe ich der Frage nach, was es heißt, Musik zu verstehen – eine Frage, mit der sich Wittgenstein intensiv auseinandergesetzt hat. Es wird sich zeigen, dass Musik zu verstehen heißt, sie in einer bestimmten Weise zu hören. Und die Art, wie wir Musik hören, steht in enger Verbindung mit der Art, wie wir leben. 7.1 Intransitives Verstehen Der Ausdruck „verstehen“ findet in sehr unterschiedlichen Kontexten Anwendung: Wir können nicht nur Französisch verstehen, sondern auch Physik, Romane, Musikstücke, Rhythmen, Pferde, fremde Kulturen, Wutausbrüche oder einen Freund. Wer behauptet, er verstehe weder Schostakowitschs Musik, noch verstehe er Russisch, meint mit dem Ausdruck „verstehen“ jeweils Verschiedenes: Einen russischen Satz kann man paraphrasieren und ins Deutsche übersetzen, die russische Nationalhymne nicht. Manchmal kann es aber auch schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, eine sprachliche Äußerung zu übersetzen oder zu paraphrasieren. Manche Dinge kann man nicht anders sagen. Eine Gruselgeschichte oder ein Gedicht trägt man nicht vor wie ein Nachrichtensprecher die Nachrichten. Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Der römische Brunnen kann man so wenig „in eigenen Worten wiedergeben“ wie eine Symphonie Beethovens. Wittgenstein schreibt:

196 Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)602

Wer den Satz „J’aimerais une pomme, s’il vous plait“ versteht, der weiß, wie man dasselbe auch anders sagen könnte – etwa auf Deutsch. Wer dagegen Meyers Gedicht Der römische Brunnen versteht, der weiß, dass man dasselbe nicht anders sagen kann. Der Inhalt eines Gedichts ist von seiner Form nicht zu trennen. Was ein Gedicht besagt oder zum Ausdruck bringt, kann nur auf diese Weise gesagt werden. Gedichte kann man weder zusammenfassen, noch paraphrasieren. Wittgenstein zufolge handelt es sich beim Verstehen von Dichtung und Musik um es ein „sozusagen, intransitives Verstehen“, bei dem „das Verstandene quasi autonom“ ist, d.h. bei dem man das, was man verstanden hat, nicht anders ausdrücken kann.603 Das gilt nicht nur für Gedichte und Musikstücke, sondern für den gesamten Bereich der Kunst: „Das Kunstwerk will nicht etwas anderes übertragen, sondern sich selbst. Wie, wenn ich Einen besuche, ich nicht bloß die und die Gefühle in ihm zu erzeugen wünsche, sondern vor allem ihn besuchen, und freilich auch gut aufgenommen werden will.“604 Wittgenstein wendet sich gegen die Vorstellung, ein Künstler gebe durch seine Kunst etwas zu verstehen, das man auch auf andere Weise zu verstehen geben könnte. Kunstwerke sind keine arbiträren

602

PU, § 531. In sprachphilosophischer Hinsicht ist interessant, dass Wittgenstein an dieser Stelle behauptet, es handle sich um zwei Gebrauchsweisen von „verstehen“, jedoch um einen Begriff des Verstehens, um eine Bedeutung von „verstehen“: „So hat also ‚verstehen’ hier zwei verschiedene Bedeutungen? – Ich will lieber sagen, diese Gebrauchsarten von ‚verstehen’ bilden seine Bedeutung, meinen Begriff des Verstehens. Denn ich will ‚verstehen’ auf alles das anwenden“ (PU 532). Hanfling ist der Ansicht, es handle sich bei der Rede vom „intransitiven Verstehen“ um eine sekundäre Verwendung des Ausdrucks „verstehen“ (Hanfling, „I heard a plaintive Melody“, 319). 603 PG, 79. 604 VB, 533. Vgl. Johannessen, Philosophy, Art, and Intransitive Understanding, 242: „[An artwork] is a meaningful universe in itself. And the meaningfulness is not constituted by its relation to something outside it. This applies, however, to all kinds of works of art, according to Wittgenstein“.

197 Vehikel der Kommunikation.605 Ein Kunstwerk zu verstehen heißt, das Werk selbst zu verstehen, nicht einen Gehalt zu erfassen, der auch auf andere Weise übertragen werden könnte. Wittgenstein ist einer der schärfsten Kritiker instrumentalistischer Kunsttheorien, aus deren Sicht Kunstwerke in erster Linie Mittel sind, um in Betrachtern bestimmte Empfindungen und Gefühle hervorzurufen: Es ist manchmal gesagt worden, dass Musik uns Gefühle der Freude, Traurigkeit, des Triumphes etc. vermittelt, und was uns an dieser Darstellung abstößt, ist, dass sie zu sagen scheint, Musik sei ein Instrument zu dem Zweck, in uns Folgen von Gefühlen hervorzurufen. Und daraus könnte man schließen, dass uns jedes andere Mittel anstelle von Musik recht wäre, um solche Gefühle hervorzurufen. – Auf eine solche Darstellung sind wir versucht zu antworten: „Musik vermittelt uns sich selbst“.606 Sind etwa eine Wiese, eine Blume, ein Musikstück, ein Drama nur soviel verschiedene Mittel um uns das Gefühl der Lust zu geben? Und warum verwendet man dann so viele verschiedene Arten der Lusterregung. Etwa weil man nicht jede in jeder Jahreszeit haben kann?607

605

Auf die kunstspezifische Dialektik von Form und Inhalt hat als erster Hegel hingewiesen. Die Kunst zeichne aus, dass das, was in ihr ausgedrückt wird, von der Art, wie es ausgedrückt wird, nicht zu trennen ist. Hegel schreibt in seinen Vorlesungen über Ästhetik: „Die Seiten des Geistigen und Sinnlichen müssen im künstlerischen Produzieren eins sein“ (62); „Denn das Kunstwerk soll einen Inhalt nicht in seiner Allgemeinheit als solchen, sondern diese Allgemeinheit schlechthin individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung bringen. Geht das Kunstwerk nicht aus diesem Prinzip hervor, sondern hebt es die Allgemeinheit mit dem Zweck abstrakter Lehre heraus, dann ist das Bildliche und Sinnliche nur ein äußerlicher und überflüssiger Schluck und das Kunstwerk ein in ihm selbst gebrochenes, in welchem Form und Inhalt nicht mehr als ineinander verwachsen erscheinen. Das sinnlich Einzelne und das geistig Allgemeine sind sodann einander äußerlich geworden“ (77). Auch Adorno versucht dieser Intuition gerecht zu werden, wenn er von der ästhetischen Form schreibt, sie sei „sedimentierter Inhalt“ (Ästhetische Theorie, 15 u. 217). 606 BrB, 272-273. Vgl. LA, 53: „If I admire a minuet I can’t say: ‘Take another. It does the same thing.’ […] We don’t read poetry to get associations“. Levinson schreibt in diesem Zusammenhang über das Vergnügen dessen, der die 29. Symphonie von Mozart hört: „there is a sense in which the pleasure of the Twenty-Ninth can be had only from that work“ (Pleasure and the Value of Works of Art, 23). Der Wert eines Kunstwerks verdanke sich einem ganz spezifischen Erlebnis, das nur jemand haben kann, der mit dem Kunstwerk konfrontiert ist. 607 MS 156a, 52r. Vgl. MS 157a 58v: „Denn, dass etwas schön ist besteht nicht darin, dass es die Ursache einer bestimmten Wirkung ist (eines Wohlgefühls etwa)“.

198 Wittgenstein zufolge verleitet uns die Art, wie wir reden, oft zu irreführenden Bildern. So auch in diesem Fall. Die falsche Vorstellung, dass ein Kunstwerk etwas ausdrückt, das von ihm losgelöst werden kann, wird durch unsere Redeweisen nahe gelegt: Wir sprechen davon, dass Kunstwerke „etwas ausdrücken“ und dass Künstler mit ihren Werken „etwas zu verstehen geben“, obwohl wir sehr selten im Stande sind, anzugeben, was Werke ausdrücken und Künstler zu verstehen geben. Wir reden auch davon, dass man ein Musikstück „mit“ oder „ohne Ausdruck“ spielen kann, so wie man „mit“ oder „ohne Hut“ spazieren gehen kann. Wir sprechen so, als könne man ein Musikstück zweimal auf exakt dieselbe Weise spielen, nur einmal ohne und einmal mit Ausdruck – als sei der musikalische Ausdruck unabhängig von der Spielweise. Wenn wir von „Ausdruck“ sprechen, denken wir dabei vielleicht an ein Gefühl des Musikers, das er haben oder nicht haben kann, während er das Stück spielt – ähnlich wie man „Ich liebe Dich“ auf zwei Arten sagen kann, einmal ernsthaft und aufrichtig, das andere Mal als Floskel, ohne es wirklich zu meinen. Unsere Sprache verleitet uns Wittgenstein zufolge zu der Vorstellung, der gute Künstler gleiche jemandem, der mittels einer Geste einem Gefühl Ausdruck verleiht, wogegen der schlechte Künstler lediglich die Geste mache, ohne dadurch ein Gefühl auszudrücken. Exakt dieselbe Geste kann, so glauben wir, mit oder ohne Gefühl ausgeführt werden. Und ein Gefühl könne man haben, egal, ob man ihm mit Gesten und Worten Ausdruck verleiht oder nicht. Was ausgedrückt wird, scheint von dem, wodurch es ausgedrückt wird, unabhängig zu sein. Darin besteht der Irrtum, der uns durch oberflächliche Ähnlichkeiten unserer Sprache nahe gelegt wird. Der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick schreibt in seinem 1854 publizierten Aufsatz Vom Musikalisch-Schönen: Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche „schöne Musik“ mit und ohne Gehalt unterscheidet. Sie stellt die kunstreich zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die hineingegossene Seele als etwas Selbstständiges vor und theilt nun consequent die Compositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen. Der musikalische Champagner hat aber das Eigenthumliche: er wächst mit der Flasche.608

Wittgenstein führt dieses falsche Verständnis des künstlerischen Ausdrucks ad absurdum, indem er darauf hinweist, dass die folgende Anweisung blanker Unsinn ist: „Sing dies Lied mit Ausdruck! Und nun sing es 608

Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 193.

199 nicht, aber wiederhole den Ausdruck!“609. Wären das Lied und sein Ausdruck voneinander unabhängig, sollte die Anweisung „Und nun sing es nicht, aber wiederhole den Ausdruck“ zumindest verstehbar sein. Wie aber kann man, was ein Musikstück ausdrückt, ohne die Musik ausdrücken? Können wir, was wir fühlen, wenn wir ein Musikstück hören, auch ohne das Stück fühlen? Wittgenstein verneint: Wir sagen, diese Stelle gibt uns ein ganz besonderes Gefühl. Wir singen sie uns vor, und machen dabei eine gewisse Bewegung, haben vielleicht auch irgend eine besondere Empfindung. Aber diese Begleitungen – die Bewegung, die Empfindung – würden wir in einem andern Zusammenhang gar nicht wieder erkennen. Sie sind ganz leer, und sind’s nur nicht, wenn wir diese musikalische Phrase singen. Sagen wir „Ich singe sie mit einem ganz bestimmten Ausdruck“, dann bezeichnet „Ausdruck“ nicht etwas, was ich von ihr trennen kann.610

Was wir erleben, wenn wir eine ausdrucksvolle musikalische Passage hören, ist Wittgenstein zufolge kein Gefühl, das wir auch haben können, wenn wir die Passage nicht hören. Wir erleben nämlich kein Gefühl, sondern die Musik. Den traurigen Ausdruck eines Musikstücks zu erleben, heißt, diese Musik als traurig zu hören: „Das Erlebnis ist diese Stelle, so gespielt (so, wie ich es etwa vormache; eine Beschreibung könnte es nur andeuten)“611. Die in der Musik ausgedrückten Gefühle zu erleben, bedeutet, die Musik in bestimmter Weise zu hören. Wittgenstein fragt: „Wenn die Kunst dazu dient ‚Gefühle zu erzeugen’, ist, am Ende, ihre sinnliche Wahrnehmung auch unter diesen Gefühlen?“612. Bei den „Gefühlen“, die ausdrucksvolle Musik in uns erzeugt, handelt es sich in Wahrheit nicht um Gefühle, sondern um gefühlsdurchtränkte Wahrnehmungen: Wir fühlen uns nicht traurig, sondern hören Traurigkeit in der Musik. Johannessen zufolge handelt es sich beim intransitiven Verstehen um ein Ausdrucksverstehen, bei dem das Ausgedrückte mit dem Medium des Ausdrucks in einer internen Relation steht, also allein durch dieses Medium ausgedrückt werden kann: „It is […] a question of grasping a feeling or an emotion internally related to its expression […] Grasping is a matter of experiencing it. Thus 609

PU, § 332. LSP, 379-380. Vgl. LSP, 374: „Aber kann man dies Gefühl von der Phrase trennen? [Nein!] Und doch ist es nicht die Phrase selbst; denn Einer kann sie hören ohne dies Gefühl“. 611 PU II, 503. 612 MS 162b, 59r-v. 610

200 we could say that the understanding sought here is a way of experiencing.”613 Musik hat einen traurigen Ausdruck, nicht, weil sie uns traurig macht, sondern weil wir sie als traurig erleben.614 Budd schreibt dazu: It is clear that Wittgenstein denies separability. His point is that to experience the tune as the expression of the feeling is not to hear the music and to undergo a separable feeling. It is, rather, to hear the tune in a certain manner, as having a certain aesthetic character, comparable […] with hearing a musical phrase as if it were asking a question or drawing a conclusion.615

Wittgenstein weist auch in anderen Kontexten auf den Fehler hin, den wir begehen, wenn wir den Ausdrucksgehalt von dem Medium des Ausdrucks trennen – wenn wir also dasjenige, was ausgedrückt wird, separieren von dem, wodurch es ausgedrückt wird. Dieses falsche Bild stehe uns etwa auch dann vor Augen, wenn wir über den unauthentischen Ausdruck in der Stimme oder den Gesichtszügen einer Person sprechen. Wir sagen: „Der Ausdruck seiner Stimme war echt.“ War er unecht, so denken wir uns quasi hinter ihm einen anderen stehen. – Er macht nach außen dieses Gesicht, im Innern aber ein anderes. – Das heißt aber nicht, dass, wenn der Ausdruck echt ist, er zwei gleiche Gesichter macht.616

Der fälschliche Eindruck, „dass es zwei Gegenstände gibt, wo in Wirklichkeit nur einer ist“, werde auch „durch unseren Gebrauch des Ausdrucks ‚haben’ unterstützt“, denn wir sagen „Das Gesicht hat einen bestimmten Ausdruck“.617 Wenn wir dagegen sagen „Dies ist ein eigenartiges Gesicht“, dann sind wir nicht in Versuchung, den Ausdruck des Gesichts von dem Gesicht selbst zu trennen: „Was ein Gegenstand ist, meinen wir, ist mit ihm verbunden; was er hat, kann von ihm getrennt werden“618. Unsere irreführenden Redeweisen lassen uns vergessen, dass ein Musikstück anders klingt, wenn es mit Ausdruck, als wenn es ohne Ausdruck gespielt wird. Ein aufrichtiges und gefühlvolles Liebesgeständnis klingt anders und wird von einer anderen Mimik und Gestik begleitet als ein bloßes „Ich liebe Dich“. Wer einen altgriechischen Text nicht nur liest, sondern 613

Johannessen, Philosophy, Art, and Intransitive Understanding, 237. Vgl. Kapitel 2.3.4. 615 Budd, Wittgenstein on Aesthetics, 275. 616 PU, § 606. 617 BrB, 251. 618 Ebd. 614

201 auch versteht, liest anders als jemand, der zwar gelernt hat, Altgriechisch zu lesen, aber kein Wort Altgriechisch versteht. Die ausdrucksvolle Spielweise eines Musikstücks zeichnet sich nicht dadurch aus, dass der Musiker während des Spielens bestimmte Gefühle oder Vorstellungen hat. Es gibt hörbare Unterschiede zwischen der ausdrucksvollen und der ausdruckslosen Variante – ebenso wie es sichtbare Unterschiede gibt zwischen einem ausdrucksvollen und einem ausdruckslosen Gesicht. Nicht immer ist der Ausdrucksgehalt durch das Ausdrucksmedium individuiert. Wir reden schließlich davon, dass zwei Gesichter „denselben Ausdruck“ haben können: Beide können ängstlich oder glücklich sein. Ist das nicht auch bei Kunstwerken möglich? Können zwei unterschiedliche Melodien oder zwei abstrakte Gemälde denselben Ausdruck haben? Das kommt darauf an, was mit „demselben Ausdruck“ gemeint ist.619 Zwei Musikstücke können Sehnsucht ausdrücken. Insofern haben sie denselben Ausdruck, nämlich einen sehnsüchtigen. In einem engeren Sinn von „Ausdruck“ haben sie jedoch keineswegs „denselben“ Ausdruck: In der Sehnsucht des einen Stücks hört man Nuancen der Hoffnung und Zuversicht, wogegen die Sehnsucht des anderen Stücks an Verzweiflung grenzt. Es gibt aber auch Fälle, in denen zwei Kunstwerke exakt denselben Ausdruck haben. Man denke an zwei Portraits, die sich lediglich dadurch unterscheiden, dass die abgebildete Person nur auf einem der beiden Bilder ein kleines Muttermal am Kinn hat – ein unwichtiges Detail, das irrelevant ist für den Gesichtsausdruck.620 Wären jedoch an den Augen oder am Mund kleinste Veränderungen vorgenommen worden, hätte das sehr wahrscheinlich den Ausdruck des Gesichts verändert. Analog verhält es sich bei Kunstwerken: Gewisse Pinselstriche sind irrelevant für den Ausdruck eines Gemäldes, bei anderen dagegen würde der Charakter des Bildes durch die leichteste Veränderung umschlagen. Die Vorstellung eines gelungen Kunstwerkes ist jedoch oft die eines Werkes, bei dem alles genau so sein muss, wie es ist, bei dem nichts willkürlich ist, nichts fehlt und nichts zuviel ist – wie eine mechanische Uhr, bei der jedes noch so kleine Rädchen eine Funktion hat und die kleinste Änderung dafür sorgt, dass nichts mehr funktioniert. Die „Bedeutung“, der individuelle Gehalt eines Kunstwerks, 619

LSP, § 372: „Können zwei Gesichter den gleichen Ausdruck haben? (Ja und Nein.)“ 620 Man kann sich Fälle vorstellen, wo das Muttermal für den Ausdruck relevant ist bzw. diesen spezifiziert, etwa bei einem traurigen Gesicht eines Jugendlichen. Hier kann man sich vorstellen, dass das Muttermal der Grund ist, weswegen die Person traurig ist. Das Gesicht wird dadurch vielleicht anders auf uns wirken.

202 so die Vorstellung, verdankt sich einer ganz bestimmten Konstellation von Merkmalen. Ändert man einzelne Merkmale, so verändert man die Bedeutung. Doch hat die Rede von „Bedeutung“ hier überhaupt Sinn? Eine musikalische Phrase kann zwar bedeutungsvoll wirken, sie scheint uns etwas zu sagen. Aber ist es nicht irreführend, von der „Bedeutung“ der Phrase zu sprechen? Schließlich können wir nicht angeben, was die Bedeutung ist. Die Rede von der „Bedeutung“ von Musik geht Wittgenstein zufolge einher mit der „Illusion“, Ausdrucksmedium und Ausdrucksgehalt ließen sich trennen. Er schreibt: Dieselbe sonderbare Illusion, der wir verfallen sind, wenn wir etwas zu suchen scheinen, das von einem Gesicht ausgedrückt wird, während wir uns doch in Wirklichkeit den Merkmalen vor uns ausliefern – dieselbe Illusion beherrscht uns sogar noch stärker, wenn wir uns eine Melodie wiederholen und sie ihren vollen Eindruck auf uns machen lassen und dabei sagen: „Diese Melodie sagt etwas“, und es ist, als ob wir finden müssten, was sie sagt. Und doch weiß ich, dass sie nichts sagt, was ich in Worten und Bildern ausdrücken könnte.621

Wittgenstein erzählt, wie er mit einem Freund an einem Blumenbeet mit Stiefmütterchen vorbeiging, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Farbmuster einen verschiedenen Ausdruck und Charakter hatten, so dass man versucht war, zu sagen, die unterschiedlichen Farbmuster hätten eine unterschiedliche Bedeutung – jedes der Muster würde sozusagen etwas anderes zu verstehen geben: Ein Freund und ich sahen uns einmal Beete mit Stiefmütterchen an. Jedes Beet zeigte eine andere Art. Sie haben uns alle nacheinander beeindruckt [...] Ich hätte den Ausdruck gebrauchen können: „Jedes dieser Farbmuster hat Bedeutung“; aber ich habe nicht gesagt „hat Bedeutung“, denn das hätte die Frage „Welche Bedeutung?“ provoziert, die in dem Fall, den wir betrachten, sinnlos ist. Wir unterscheiden zwischen bedeutungslosen Mustern und Mustern, die Bedeutung haben; aber in unserem Spiel gibt es keinen solchen Ausdruck wie „Dieses Muster hat die Bedeutung so-und-so“.622

Auch hier handelt es sich um ein intransitives Verstehen, bei dem das Verstandene nicht anders ausgedrückt werden kann. Der besondere Ausdruck eines Farbmusters kann nur durch dieses Farbmuster zum Ausdruck gebracht werden. 621 622

BrB, 256. BrB II, § 22.

203 Was meinen wir, wenn wir von der „Bedeutung“ eines Farbmusters oder einer musikalischen Phrase sprechen? Diese Frage sollten wir Wittgenstein zufolge durch die Frage ersetzen: Was meinen wir, wenn wir sagen, jemand „verstehe“ ein Farbmuster oder eine musikalische Phrase? Die Klärung dieser zweiten Frage wird zugleich eine Klärung der ersten Frage sein, denn Bedeutung ist das, was man verstehen kann. Die Bedeutung eines Musikstücks ist das, was jemand versteht, der das Stück versteht. Was eine musikalische Phrase „bedeutet“, zeigt sich in dem, was man ihr „Verstehen“ nennt: „Was der Sinn der Musik ist, findet man, wenn man sich fragt: wie weiß ich, daß ein Mensch ein Musikstück (also ‚seinen Sinn’) versteht?“623. Was aber heißt es, ein Muster oder ein Musikstück zu verstehen? Was heißt es, etwas zu verstehen, das nicht paraphrasiert werden kann? Musik zu verstehen, heißt Wittgenstein zufolge in erster Linie, ihr „folgen“ und mit ihr „mitgehen“, „mitschwingen“ zu können.624 Jemand versteht ein Musikstück, wenn er „bei jedem Ton sagen kann wie er gespielt werden soll“ und „eventuell auch, wenn er das begründen kann“625. Musik zu verstehen heißt aber auch, feinste Nuancen und Veränderungen musikalischer Ausdrucksqualitäten zu erleben, ein Gefühl für den Ausdruck zu haben. In dieser Hinsicht gleicht das Verstehen einer musikalischen Phrase dem Verstehen eines Gesichts: Worin besteht es: einer musikalischen Phrase mit Verständnis folgen? Ein Gesicht mit dem Gefühl für seinen Ausdruck betrachten? Den Ausdruck des Gesichts eintrinken? Denk an das Benehmen Eines, der das Gesicht mit Verständnis für seinen Ausdruck zeichnet? An das Gesicht, an die Bewegungen des Zeichnenden; – wie drückt es sich aus, dass jeder Strich, den er macht, von dem Gesicht diktiert wird, dass nichts an seiner Zeichnung willkürlich ist, dass er ein feines Instrument ist?626

Was es heißt, Musik zu verstehen, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, wie jemand mit Musik umgeht, der sie nicht versteht. Im Verhalten des Unmusikalischen zeigt sich ex negativo, was wir ein Verständnis der Musik nennen. Stellen wir uns eine Person vor, die zwar Klavier spielen kann, aber äußerst unmusikalisch ist. Sie geht beim Spielen nicht mit, sondern spielt das Stück einfach runter. Die Musik wirkt fade und nichts sa623

MS 153b, 60v-61r. PG, 72; VB, 548; BGM, 81. 625 MS 153b, 60v-61r. 626 VB, 522. 624

204 gend. Eine solche Person spielt „ohne Verständnis“. Man möchte sagen, sie habe nicht verstanden, „was das alles heißt“, was die einzelnen Töne, die Akkordfolgen und musikalischen Themen „bedeuten“. Müsste man ihr allerdings erklären, was die Passagen „bedeuten“, ihr mitteilen, „was das alles heißt“, käme man Wittgenstein zufolge in Verlegenheit: „Warum müssen diese Takte gerade so gespielt werden? […] Ich möchte sagen: ‚Weil ich weiß, was das alles heißt’. Aber was heißt es denn? – Ich wüsste es nicht zu sagen.“627 Nachdem Beethoven seine letzte Klaviersonate einem kleinen Kreis von Hörern vorgespielt hatte, soll jemand gefragt haben „Aber was bedeutet das Stück, Herr Beethoven?“, woraufhin Beethoven das Stück ein zweites Mal gespielt haben soll.628 – Die einzig richtige Antwort auf diese Frage, schließlich heißt Musik zu verstehen, sie in einer bestimmten Weise zu hören. Beethoven hätte dem Fragenden aber durch Anweisungen, Winke und passende Vergleiche zum Verständnis verhelfen können. Er hätte ihn, wie ein Kunstkritiker es tut, dazu bringen können, das Stück mit Verständnis zu hören.629 7.2 Aspekte und Wohlbekanntheit Der Unmusikalische spielt ein Musikstück wie jemand, der ein Gedicht liest, dessen Sprache er nicht versteht. Es ist, als würde er ein auf dem Kopf stehendes Portrait betrachten: Es spricht ihn nicht an, er erkennt keinen Ausdruck, keine Physiognomie, keine Emotion. Ihm sagen die Tonfolgen nichts, die einzelnen musikalischen Bewegungen haben weder Logik noch Ausdruck. Sie gleichen bedeutungslosen Gesten. Er hört nicht, wie einzelne Töne zusammenhängen, sich fordern, ergänzen und zusammen ein Ganzes bilden. Er bildet keine Erwartungen, sondern stolpert gleichsam von einem Klang in den nächsten. Er geht nicht mit. Die Musik lebt nicht für ihn und er lebt nicht in ihr. Er fühlt sich in ihr nicht „heimisch“.630 Wo wir tönende Gestalten wahrnehmen, hört der Unmusikalische nur Willkür und Chaos. Wittgenstein beschreibt, wie er Bruckners Musik anfänglich nicht als organische Einheit hat hören können: „Früher schien es mir wie lauter kurze 627

PG, 41. Vgl. Levinson, Musical Thinking, 62. 629 Vgl. Kapitel 6.2 und 6.3. 630 Vgl. Z, § 231-232. 628

205 Stücke, die immer wieder abreißen, – jetzt hör ich’s als Organismus. (Bruckner.)“631 Vom Chaos zur Gestalt – das ist Wittgenstein zufolge ein zentrales Charakteristikum des ästhetischen Verstehensprozesses.632 Etwas gruppiert sich, das zuvor lose und unverbunden war. Ein Aspekt leuchtet auf, den man zuvor nicht wahrgenommen hat. Plötzlich kann man der Musik folgen. Man hört sie anders als zuvor. Der ästhetische Verstehensprozess gleicht Wittgenstein zufolge dem Erleben eines Aspektwechsels.633 In einer Vorlesung von 1933 vergleicht er das ästhetische Verstehen mit dem Finden des gesuchten Gegenstandes in einem Rätselbild: Jemandem ein Musikstück vorzuspielen und zu sagen „Das hier ist der Höhepunkt des Stücks“, sei ähnlich wie ein Rätselbild aufzulösen: To tell a person „This is the climax“ is like saying „This is the man in the puzzle picture“. Our attention is drawn to a certain feature, and from that point forward we see that feature.634

Er fragt sich, was geschieht, „wenn wir lernen den Schluß einer Kirchentonart als Schluß zu empfinden“635 und schreibt: Eine Kirchentonart verstehen, heißt nicht, sich an die Tonfolge gewöhnen, in dem Sinne, in dem ich mich an einen Geruch gewöhnen kann und ihn nach einiger Zeit nicht mehr unangenehm empfinde. Sondern es heißt, etwas Neues hören, was ich früher noch nicht gehört habe, etwa in der Art – ja ganz analog –, wie es wäre, 10 Striche IIIIIIIIII, die ich früher nur als 2 mal fünf Striche habe sehen können, plötzlich als ein charakteristisches Ganzes sehen zu können. Oder die Zeichnung eines Würfels, die ich nur als flaches Ornament habe sehen können, auf einmal räumlich zu sehen.636

Wer ein Musikstück versteht, hört das Stück anders als jemand, der es nicht versteht. Was für den Laien wie eine willkürliche Aneinanderreihung von Tönen klingt, hört der Kenner als Variation des Themas. Wo für den Laien das Stück „aufhört“, kommt es für den Experten „zum Abschluss“.

631

LSP, § 677. Vgl. Tilghman, But is it Art, 147. 633 Vgl. Schulte, Ästhetisch richtig, 84. Graham McFees Infragestellung der Zusammenhänge zwischen Aspektwahrnehmung und ästhetischem Verstehen in dem Aufsatz Wittgenstein on Art and Aspects ist dagegen wenig überzeugend. 634 Ambrose, Wittgenstein’s Lectures, 38-39. 635 PG, 179. 636 PB, § 224. 632

206 Wo es für den Anfänger „leise“ wird, beginnen für den sensiblen Hörer „die nachdenklichen Passagen“. Ähnliches gilt für das Verstehen von Bildern: Ein Bild zu verstehen, heißt, es in bestimmter Weise zu sehen. Auch hier kann, ähnlich wie in der Musik, das Verstandene nicht paraphrasiert werden: „‚Das Bild sagt mir sich selbst’ – möchte man sagen. D.h., dass es mir etwas sagt, besteht in seiner eigenen Struktur, in seinen Formen und Farben.“637 Wer ein Bild versteht, sieht in den Formen und Farben Muster, Gegenstände Zusammenhänge und Situationen, die dem verständnislosen Betrachter entgehen. Wittgenstein weist darauf hin, dass wir ein Bild auf sehr verschiedene Arten und in unterschiedlichen Hinsichten „verstehen“ können: Was heißt es, ein Bild, eine Zeichnung zu verstehen? Auch da gibt es Verstehen und Nichtverstehen. Und auch da können die Ausdrücke verschiedenerlei bedeuten. Das Bild ist etwa ein Stillleben; einen Teil davon aber verstehe ich nicht: ich bin nicht fähig, dort Körper zu sehen, sondern sehe nur Farbflecke auf der Leinwand. – Oder ich sehe alles körperlich, aber es sind Gegenstände, die ich nicht kenne (sie schauen aus wie Geräte, aber ich kenne ihren Gebrauch nicht). Vielleicht aber kenne ich die Gegenstände, verstehe aber, in anderem Sinne – ihre Anordnung nicht.638

Die Grundlage des ästhetischen Verstehens bildet Wittgenstein zufolge ein Wahrnehmen, bei dem wir etwas als gestalthaft und „wohlbekannt“ erleben. Was wir verstehen, wirkt vertraut. Wenn eine Melodie, ein Rhythmus oder ein ornamentales Muster einen „wohlbekannt“ oder „vertraut“ wirkt, muss das aber nicht heißen, dass man die Melodie, den Rhythmus oder das Muster bereits irgendwoher kennt und daran erinnert wird. Ein Gesicht oder ein Muster kann vertraut wirken, selbst wenn man ihm zum ersten Mal begegnet. Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass etwas einen wohlbekannten Eindruck machen kann, ohne dass wir es mit etwas vergleichen oder mit einem Erinnerungsbild abgleichen: „Die Wohlbekanntheit bestätigt den Anblick, ohne ihn aber mit etwas anderem zu vergleichen. Sie stempelt ihn gleichsam ab“639. Es sei nicht so „als ob in unserem Geist ein Futteral gewesen wäre und das Bild, das wir sehen, in dieses Futteral gefallen wäre und hineinpasste […] vielmehr breche ich gleichsam ein Siegel von dem Eindruck“.640 637

PU, § 523. PU, § 526. 639 PG, 168. 640 BrB, 252. 638

207 Eine Tonfolge, ein Rhythmus oder ein Muster wirken Wittgenstein zufolge „wohlvertraut“, wenn wir uns in ihnen „heimisch“ fühlen und mit ihnen „mitschwingen“ können.641 In einem wohlbekannten Anblick können wir in gewisser Weise „ruhen“, wie er schreibt.642 Es findet kein Suchen und Deuten statt. Man möchte sagen: „diese Eindrücke gehören zu meiner Welt“643, sie haben ein „Leben“, eine gewisse „Tiefe“.644 Wittgenstein meint, „beim lebendigen Eindruck werden andere Partien unserer Empfindungswelt zum Sprechen gebracht“.645 Dadurch wird ein Gegenstand für uns ausdrucksvoll und bedeutsam. Der Eindruck der Wohlbekanntheit ist Wittgenstein zufolge kennzeichnend für das intransitive und damit auch für das ästhetische Verstehen. Ein Kunstwerk zu verstehen, heißt, sich in ihm „heimisch“ zu fühlen, sich auszukennen, wie im eigenen Zuhause. Johannessen schreibt: „To understand a work of art is to respond to it by feeling at home in it, ‚resonate’ in harmony with it”646. Wittgenstein legt – insbesondere in seinen späteren Schriften – nahe, dass letztlich jedes Verstehen auf einem intransitiven Verstehen gründe. Das deutende Verstehen baue auf einem unmittelbaren, gleichsam instinktiven Verstehen auf, das einem Reagieren gleiche. Jörg Zimmermann schreibt: „Am Grunde des transitiven Verstehens liegt das intransitive, jenes führt auf dieses zurück; was derart zu verstehen gegeben wird, muß ‚hingenommen’ werden“647. 7.3 Verstehen und Verhalten Wittgenstein ist der Ansicht, der Begriff des Verstehens habe, wenn er in ästhetischen Kontexten Anwendung findet, „manche Verwandtschaften mit anderen Erlebnisbegriffen“: Das Verstehen der Musik ist weder eine Empfindung, noch eine Summe von Empfindungen. Es ein Erlebnis zu nennen, ist aber dennoch insofern 641

PG, 231. BGM, 81. PG, 165-166. 643 MS 146, 35. 644 MS 146, 42-43. 645 MS 146, 46. 646 Johannessen, Philosophy, Art, and Intransitive Understanding, 244. 647 Zimmermann, Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick, 53. Vgl. Z, § 234. 642

208 richtig, als dieser Begriff des Verstehens manche Verwandtschaften mit anderen Erlebnisbegriffen hat.648

Dies bedeute jedoch nicht, dass für die Beantwortung der Frage, ob eine Person ein Musikstück versteht, die Fähigkeiten der Person irrelevant wären. Im Gegenteil: Erst in dem, was eine Person sagt, tut und zu tun imstande ist, zeigt sich, ob sie ein Musikstück mit Verständnis gehört hat, und auch, ob sie überhaupt in der Lage ist, ein Musikstück mit Verständnis zu hören. Stefan Majetschak schreibt: Von den inneren Vorgängen oder spezifischen Erlebnisinhalten im Bewusstsein eines Menschen wissen wir ja in der Regel gar nichts, wenn wir jemandem Musik- und Kunstverständnis zusprechen. Wenn wir dies tun, sind wir vielmehr an einem losen Bündel von manifesten Ausdrucksphänomenen als Kriterien orientiert, also am Benehmen, Handeln oder Reden der Person, der wir dies attestieren.649

Diese Kriterien des Verstehens lassen uns nicht nur erkennen, ob eine Person ein Musikstück versteht, sondern sie sind auch begrifflich mit dem verbunden, was wir „Musik verstehen“ nennen. Sie sind Merkmale des Begriffs des Verstehens.650 Zeigt eine Person das entsprechende Verhalten nicht, dann sprechen wir ihr das Verständnis ab und bestreiten, dass die Person das Musikstück so intensiv und strukturiert erlebt hat wie jemand, der das Stück mit Verständnis hört. Wittgenstein schreibt: Betrachte Tonfall, Modulierung, Gesten als wesentliche Teile unseres Erlebnisses, nicht als unwesentliche Begleiterscheinungen oder bloße Mittel der Kommunikation.651 Das Substrat dieses Erlebnisses ist das Beherrschen einer Technik […] Nur von einem, der das und das kann, gelernt hat, beherrscht, hat es Sinn zu sagen, er habe das erlebt.652

Ob und wie eine Person ein Musikstück versteht, zeigt sich Wittgenstein zufolge in dem Verhalten und den sprachlichen Äußerungen der Person, in der Art, wie sie zuhört, wie sie es spielt oder summt und wie sie darüber 648

Z, 165. Majetschak, Kunst und Kennerschaft, 59. 650 Vgl. Kapitel 1.5.2. 651 BrB, 277. 652 PU II, 544. 649

209 spricht. Das Verständnis äußert sich nicht nur während des Hörens und Spielens, sondern ist, wie Wittgenstein schreibt, eine „Lebensäußerung des Menschen“: Das Verständnis der Musik hat einen gewissen Ausdruck, sowohl während des Hörens und Spielens, als auch zu andern Zeiten. Zu diesem Ausdruck gehören manchmal Bewegungen, manchmal aber nur, wie der Verstehende das Stück spielt, oder summt, auch hier und da Vergleiche, die er zieht, und Vorstellungen, die die Musik gleichsam illustrieren. Wer Musik versteht, wird anders (mit anderem Gesichtsausdruck z.B.) zuhören, reden, als der es nicht versteht. Sein Verständnis eines Themas wird sich aber nicht nur in Phänomenen zeigen, die das Hören und Spielen dieses Themas begleiten, sondern in einem Verständnis für Musik im allgemeinen. Das Verständnis der Musik ist eine Lebensäußerung des Menschen.653

Wittgenstein meint gar, das musikalische Verständnis einer Person könne sich darin ausdrücken, dass sie Gedichte, Gemälde und Kunst im Allgemeinen schätzt.654 Das Verstehen eines Kunstwerks ist zwar ein Erlebnis, allerdings eines, das nur jemand haben kann, der viel weiß und viel kann. In dem ästhetischen Erlebnis, das jemand hat, der ein Musikstück mit Verständnis hört, verdichten sich zahlreiche Erfahrungen und Fähigkeiten. Um eine musikalische Phrase zu verstehen, muss man mit einer Musiksprache vertraut sein. Und ein Gemälde des Mittelalters wird erst vor dem Hintergrund eines Weltbildes und durch die Vertrautheit mit bestimmten Darstellungskonventionen verständlich. 7.4 Kennerschaft und Kultur Nicht jeder, der ästhetische Urteile fällt, weiß Wittgenstein zufolge, wovon er redet: „We distinguish between a person who knows what he is talking about and a person who doesn’t“655. Nicht jeder kann die Werke von Wagner, Picasso und Goethe wertschätzen („appreciate“) und sehen, was in ihnen steckt.656 Und nicht jeder ist ein Kenner, wenn es um ästhetische Fragen geht wie „Hängt das Bild zu hoch?“, „Welches Hemd passt besser 653

VB, 549-550. VB, 550. 655 LA, 6. 656 LA, 6-7 654

210 zu dieser Hose?“, „Sollte sich die Musik an dieser Stelle nicht etwas verlangsamen?“, „Wie könnte man diesen Tanz beschreiben?“ oder „Welchen Ausdruck hat dieses Bild?“. Worin aber besteht das ästhetische Verständnis des Kenners, die Fähigkeit zu ästhetischer Wertschätzung? Was ist ästhetische Kennerschaft? Wittgenstein zufolge gibt es unterschiedliche Formen ästhetischer Kennerschaft. Ein Musikkenner muss kein Kenner der Malerei sein. Und ein Kenner der Wiener Klassik muss sich nicht mit Rockmusik auskennen. Manche Kenner haben ein sehr umfassendes, andere dagegen ein spezifisches Urteilsvermögen. Letztere kennen sich vorwiegend mit einer bestimmten Gattung oder gar nur mit einzelnen Kunstwerken oder Objekten innerhalb dieser Gattung aus. Hinsichtlich dieser Gegenstände haben sie aber ein profundes Wissen und ein ausgeprägtes ästhetisches Feingefühl. Wittgenstein schreibt: There are a lot of people, well-offish, who have been to good schools, who can afford to travel about and see the Louvre, etc., and who know a lot about and can talk fluently about dozens of painters. There is another person who has seen very few paintings which make a profound impression on him. Another person is broad, neither deep or wide. Another person is very narrow, concentrated and circumscribed. Are these different kinds of appreciation? They may all be called ‘appreciation’.657

Wittgenstein betont, dass sich ein Kenner nicht zwingend durch die Wahl seiner Worte auszeichnet. Ob jemand ein Kenner ist, zeigt sich in erster Linie an seinem praktischen Umgang mit ästhetischen Objekten. Man erkennt ihn an seinen ästhetischen Entscheidungen, an seinen Ansprüchen und an der Art, wie er kritisiert und zwischen unterschiedlichen Varianten auswählt: If a man goes through an endless number of patterns in a tailor’s, [and] says: „No. This is slightly too dark. This is slightly too loud“, etc., he is what we call an appreciator of material. That he is an appreciator is not shown by the interjections he uses, but by the way he chooses, selects, etc.658 I know exactly what happens when a person who knows a lot about suits goes to the tailor, also I know what happens when a person who knows

657 658

LA, 9. LA, 7.

211 nothing about suits goes – what he says, how he acts, etc. That is aesthetics.659

Um zu beschreiben, was Kennerschaft bedeutet, müsste man Wittgenstein zufolge die komplizierten Handlungsmuster beschreiben, durch die sich Kenner unterschiedlicher Bereiche und Arten auszeichnen. Dies sei jedoch nicht nur schwierig, sondern unmöglich: It is not only difficult to describe what appreciation consists in, but impossible. To describe what it consists in we would have to describe the whole environment.660

Um zu beschreiben, was der Ausdruck „Kennerschaft“ bedeute, müsse man unsere komplizierte ästhetische Praxis beschreiben. Das gilt Wittgenstein zufolge auch für ästhetische Ausdrücke wie „schön“ oder „hübsch“. Die Bedeutung einer ästhetischen Äußerung ist Wittgenstein zufolge, ähnlich wie die Bedeutung einer Geste, durch die Rolle bestimmt, die sie innerhalb einer Sprach- und Lebenspraxis spielt. Bei Gesten zeigt sich die Kontextabhängigkeit sehr deutlich, die Wittgenstein im Blick hat: Eine Königskrönung ist das Bild der Pracht und Würde. Schneide eine Minute dieses Vorgangs aus ihrer Umgebung heraus: dem König im Königsmantel wird die Krone aufs Haupt gesetzt. – In einer andern Umgebung aber ist Gold das billigste Metall, sein Glanz gilt als gemein. Das Gewebe des Mantels ist dort billig herzustellen. Die Krone ist die Parodie eines anständigen Huts. Etc.661

So wie sich erst in der Umgebung einer Geste ihre Bedeutung zeigt, so zeigt sich erst in unserer nichtsprachlichen Praxis, in unserem Umgang mit ästhetischen Objekten, was mit einer ästhetischen Äußerung wie „Das ist ein elegantes Kleid“ gemeint ist. Im Fokus der philosophischen Betrachtung sollten also nicht die geäußerten Worte stehen, sondern die ästhetische Praxis und Kultur, in welche die Äußerung eingebettet ist. Erst durch diese komplizierten Handlungsmuster erhalten sprachliche Äußerungen 659

LA, 7. LA, 7. Vgl. Z, § 567: „Wie könnte man die menschliche Handlungsweise beschreiben? Doch nur, insofern man die Handlungen der verschiedenen Menschen, wie sie durcheinanderwimmeln, schilderte. Nicht, was Einer jetzt tut, sondern das ganze Gewimmel der menschlichen Handlungen, der Hintergrund, worauf wir jede Handlung sehen, bestimmt unser Urteil, unsere Begriffe und Reaktionen.“ 661 PU, § 584. 660

212 ihren ganz spezifischen Sinn. Um ästhetische Urteile einer fremden Kultur zu verstehen, müsse man die Kultur als Ganze kennen: In order to get clear about aesthetic words you have to describe ways of living. Cf. ‚This is a fine dress.’ We think we have to talk about aesthetic judgements like ‚This is beautiful’, but we find that if we have to talk about aesthetic judgements we don’t find these words at all, but a word used something like a gesture, accompanying complicated activity. The judgement is a gesture accompanying a vast structure of actions not expressed by one judgement.662

Wittgenstein diskutiert in seinen Vorlesungen zur Ästhetik die Frage, ob wir die Kunstwerke einer fremden Kultur überhaupt „wertschätzen“ können. Die Frage ist berechtigt, denn wenn wir Kunstwerke einer fremden Kultur betrachten, dann sehen wir diese immer durch die Brille unserer eigenen Kultur. Die Werke machen auf uns einen exotischen und fremden Eindruck. Den Bewohnern der fremden Kultur dagegen sind sie vertraut. Für einen Chinesen klingt chinesische Musik nicht chinesisch, und schon gar nicht orientalisch. Gewisse Stilmerkmale kann man nur von außen, mit einer gewissen kulturellen Distanz wahrnehmen. Diese Distanz verwehrt uns allerdings den Blick auf feine Unterschiede. Für Nichtchinesen klingt alle chinesische Musik sehr ähnlich – wie auch chinesische Gesichter für Europäer alle sehr ähnlich aussehen. Es ist, als würden die Feinheiten der Musik von dem fremden Charakter des Musikstils überlagert. Wittgenstein wählt ein anderes Beispiel und fragt: Hat ein europäischer „Kenner“ afrikanischer Stammeskunst nicht eine ganz andere Einstellung zu den Kunstwerken als der Stammeskünstler? Beim Anblick einer afrikanischen Holzstatue sagt ein Europäer vielleicht „Wow!“ oder „Hübsch!“, während der afrikanischer Künstler genauer hinschaut und kritisch urteilt „Zu grob gearbeitet!“ oder meint, das verarbeitete Holz habe „genau die richtige Maserung“. In diesem Fall hat nur der Afrikaner den Blick eines Kenners. Nur er ist mit den ästhetischen Regeln vertraut und kann die Holzstatue wirklich wertschätzen.663 Selbst wenn wir, um ein ästhetisches Objekt einer vergangenen Kultur zu beschreiben, dieselben Worte verwenden, wie die Menschen dieser Kultur es taten, heißt das nicht, dass wir damit dasselbe zu verstehen geben.664 Ob wir mit den Worten dieselbe Einstellung zu dem ästhetischen Objekt aus662

LA, 11. Vgl. LA, 2. LA, 9. 664 LA, 10. 663

213 drücken, hängt von unserem praktischen Umgang mit diesem Objekt und mit ästhetischen Objekten im Allgemeinen ab. Die ästhetische Praxis ist Teil einer Kultur oder „Lebensform“.665 Es ist keineswegs leicht, den Bereich des Ästhetischen abzustecken, da er auf komplizierte Weise mit unzähligen Handlungsmustern verflochten ist, die wir gemeinhin nicht dem Bereich der Ästhetik zuordnen würden. Das ist der Grund, warum man mit einer Kultur vertraut sein muss, um ihre Kunst wertschätzen zu können. Thomas Tam schreibt: „In effect, one can not truly appreciate a work of art without assuming the form of life embodied in the culture of that work“666. Es reicht nicht, eine Kultur zu kennen, um ihre Kunst verstehen zu können. Man muss sie sich bis zu einem gewissen Grade aneignen. Man muss mit ihr vertraut sein. Und genießen kann man Kunst Wittgenstein zufolge nur, wenn man die Kultur gern hat, aus der sie stammt: „Ich glaube, um einen Dichter zu genießen, dazu muß man auch die Kultur, zu der er gehört, gern haben. Ist die einem gleichgültig oder zuwider, so erkaltet die Bewunderung“667. 7.5 Musik verstehen Wittgenstein ist der Ansicht, dass das Verstehen von Sprache mit dem Verstehen von Musik mehr gemein hat, als wir denken: Was wir „einen Satz verstehen“ nennen, hat in vielen Fällen sehr viel größere Ähnlichkeit mit dem Verstehen eines musikalischen Themas, als wir zu denken geneigt sein mögen. Ich meine jedoch nicht, dass das Verstehen eines musikalischen Themas eher dem Bild entspricht, das man sich vom Verstehen eines Satzes zu machen scheint; sondern vielmehr, dass das Bild falsch ist und dass das Verstehen eines Satzes dem, was wirklich geschieht, wenn wir eine Melodie verstehen, sehr viel ähnlicher ist, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Denn einen Satz verstehen, so sagen wir, weist auf eine Wirklichkeit außerhalb des Satzes. Während man doch

665

Vgl. Glock, Forms of Life: Back to Basics, 72: „A form of life is a culture or social formation. It is not a language-game, but the totality of communal activities into which language-games are embedded. Just as there are different human cultures, there are different forms of life“. 666 Tam, On Wonder, Appreciation, and the Tremendous in Wittgenstein’s Aesthetics, 320. 667 VB 570. Wittgenstein bezieht sich hier auf Shakespeare.

214 sagen könnte „Einen Satz verstehen, heißt, seinen Inhalt erfassen; und der Inhalt des Satzes ist im Satz.“668

Wittgenstein wendet sich hier gegen die Vorstellung von der Bedeutung eines Satzes als einem Quasiobjekt, das dem Satz zugeordnet ist.669 Wer behauptet, einen Satz zu verstehen hieße, „seine Bedeutung zu erfassen“, legt ein solches Bild nahe. Wittgenstein möchte uns durch den Vergleich zwischen sprachlichem und musikalischem Verstehen von dieser irreführenden Vorstellung abbringen. Das Verstehen einer musikalischen Phrase besteht nämlich nicht im Erfassen eines außermusikalischen, eigenständigen Gehalts, den die Musik gleichsam „transportiert“ und den man in Worten wiedergeben kann. Dass jemand eine musikalische Phrase versteht, zeigt sich vielmehr in der Art, wie er die Phrase spielt, wie er ihr zuhört und welche Vergleiche er wählt, um seinen musikalischen Eindruck zu beschreiben. Wer ein Musikstück versteht, geht mit der Musik mit, harmoniert mit ihr, fühlt sich in ihr zu Hause.670 Ähnliches gelte aber auch für sprachliches Verstehen. Ein Chinese, der unsere Sprache lernt, betont falsch und macht beim Sprechen und Zuhören oft unpassende Gesten und Gesichtsausdrücke. Die Kommunikation fließt nicht. Dass er manches nicht versteht, zeigt sich nicht unbedingt in dem, was er sagt, sondern in der Art, wie er es sagt und wie er auf Gesagtes reagiert. Ähnlich zeigt ein Musikschüler mangelndes musikalisches Verständnis nicht in den Tönen, die er spielt, sondern in der Art und Weise, wie er diese Töne spielt. Levinson zufolge lernen wir Musik verstehen, wie wir eine Sprache verstehen lernen: „not by learning how to decode or decipher it, but by learning how to respond to it appropriately, how to connect various bits of it to one another, and how to ground it in our life.”671 Das Verstehen von Sprache ist, ähnlich wie das Verstehen von Musik, oft ein intransitives Verstehen. Eine Sprache zu verstehen, heißt, sich in ihr zuhause zu fühlen. Das musikalische Verstehen wirft nicht nur ein erhellendes Licht auf das sprachliche Verstehen, sondern auch umgekehrt. Wittgenstein schreibt in den Zetteln: „Man kann auch vom Verstehen einer musikalischen Phrase sagen, es sei das Verstehen einer Sprache“672. Tatsächlich hat manche 668

BrB, 257. Vgl. Glock, Wittgenstein Lexikon, Stichwort: „Bedeutungskörper“. 670 Vgl. Kapitel 7.2. 671 Levinson, Musical Thinking, 68. 672 Z, § 172. 669

215 Musik auffallende Ähnlichkeiten mit unserer Sprache. Wittgenstein schreibt: „Die Musik, und gewiss manche Musik, möchten wir eine Sprache nennen; manche Musik aber gewiss nicht. (Nicht, dass damit ein Werturteil gefällt sein muss!)“673. Inwiefern aber hat Musik Ähnlichkeit mit unserer Sprache? Zunächst einmal ist es der Klang von Musik, der uns an Sprache erinnert: die Vielfalt der musikalischen Tonfälle. 7.5.1 Tonfälle In Musik erkennen wir Tonfälle wieder, die wir aus der sprachlichen Kommunikation kennen: Ein Seufzer, eine Frage, ein Befehl, eine Drohung, eine Aufzählung, eine Schlussfolgerung, ein Flehen, ein überraschendes „Plötzlich“ im Verlauf einer Erzählung, ein von Trauer geschwächtes Winseln, ein gehetztes Stammeln, eine erleichtertes „Ah“, ein staunendes „Wow!“, eine nachdenkliche Ruhepause usf. Wittgenstein spricht von den „unzähligen Gesten des Tonfalls“.674 Um in Musik „Gesten des Tonfalls“ hören zu können, müssen wir uns in einer Sprache heimisch fühlen, die diese Tonfälle kennt. Wer nicht weiß, wie eine Frage oder eine Drohung klingt, der ist auch nicht in der Lage, den fragenden oder drohenden Charakter einer musikalischen Passage zu hören. Wer mit einer Sprache aufgewachsen ist, in der bestimmte Tonfälle eine andere Bedeutung haben als bei uns, der wird Musik anders erleben als wir: Man stelle sich eine fremde Sprache vor, in der die Sprecher am Ende einer Frage mit der Stimme nicht hoch, sondern runter gehen. Bei Behauptungen dagegen gehen sie mit der Stimme hoch. Für solche Menschen würde Musik ganz anders klingen. Zahlreiche musikalische Wendungen hätten für sie einen anderen Charakter, einen anderen Ausdruck. Eine Wendung, die in unseren Ohren wie eine Behauptung klingt, würden sie als Frage hören. Ein Übergang von d-Moll auf E-Dur dagegen klänge für sie nicht wie eine Frage, sondern wie eine Behauptung. Wie wir Musik erleben, hängt also davon ab, in welcher Sprache wir uns zuhause fühlen. Wittgenstein schreibt:

673

VB, 538. Vgl. VB, 497: „Die Musik Bachs ist sprachähnlicher als die Mozarts und Haydns. Die Rezitative der Bässe im vierten Satz der neunten Symphonie von Beethoven. (Vergleiche auch Schopenhauers Bemerkung über die allgemeine Musik zu einem besonderen Text).“ 674 Z, 161.

216 Der Eindruck, den [ein musikalisches Thema] mir macht, hängt mit Dingen in seiner Umgebung zusammen – z.B. mit unserer Sprache und ihrer Intonation, also mit dem ganzen Feld unserer Sprachspiele. Wenn ich z.B. sage: Es ist, als ob hier ein Schluss gezogen würde, oder, als ob hier etwas bekräftigt würde, oder, als ob dies eine Antwort auf das Frühere wäre, – so setzt mein Verständnis eben die Vertrautheit mit Schlüssen, Bekräftigungen, Antworten, voraus.675

7.5.2 Musikalische Richtigkeit Klangliche Ähnlichkeiten sind Wittgenstein zufolge nicht das Einzige, was die Musik mit unserer Sprache verbindet. Ein weiterer Vergleichspunkt, den er hervorhebt, ist die Tatsache, dass wir nicht nur in der Sprache, sondern auch in der Musik zwischen „sinnvollen“ und „sinnlosen“ Kombinationen und zwischen „richtigen“ und „falschen“ Fortschreitungen unterscheiden. Musik kann sinnvoll sein, ähnlich wie ein Muster oder eine Arabeske sinnvoll sein können. Hanslick schreibt dazu: Es liegt eine tiefsinnige Erkenntniß darin, dass man in Tonwerken von „Gedanken“ spricht, und wie in der Rede unterscheidet da das geübte Urtheil leicht echte Gedanken von bloßen Redensarten. Ebenso erkennen wir das vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppe, indem wir sie einen „Satz“ nennen. Fühlen wir doch so genau, wie bei jeder logischen Periode, wo ihr Sinn zu Ende ist, obgleich die Wahrheit beider ganz incommensurabel dasteht.676

Es gibt sogar musikalische Wendungen und Auflösungen, die beim Hören den Eindruck erwecken, als seien sie „notwendig“ oder „unausweichlich“. Sie scheinen aus dem bereits Gehörten zu „folgen“, so dass man von einer genuin musikalischen „Folgerichtigkeit“ sprechen möchte: Wenn ein musikalischer Spannungszustand aufgelöst wird, etwa ein Dominantseptakkord zur Tonika, so klingt das nicht einfach angenehm, sondern es klingt richtig. Musik wird gerne als „Spiel mit den Erwartungen des Hörers“ charakterisiert. Tatsächlich bilden wir beim Hören von Musik fortwährend Erwar675

Z, 175. Vgl. Levinson, Musical Thinking, 60-61: „Music is […] inextricably embedded in our form of life, a form of life that is, as it happens, essentially linguistic. Thus, music is necessarily apprehended, at least in part, in terms of the language and linguistic practices that define us and our world“. 676 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 190.

217 tungen: Wir antizipieren den weiteren Verlauf. Wir können aber nicht bei jeder Musik Erwartungen bilden: Bei balinesischer Musik sind wir verloren. Ihr Verlauf scheint willkürlich zu sein und wir sind erstaunt darüber, wir die Musiker angesichts der Unregelmäßigkeit und Willkürlichkeit dieser Musik so gut aufeinander abgestimmt spielen. Was für unsere Ohren chaotisch klingt, klingt in den Ohren eines Balinesen aber harmonisch und folgerichtig. Uns fehlt eine für das musikalische Verstehen notwendige Vertrautheit mit den Konventionen Balinesischer Musik. Wir können den Verlauf der Musik nicht antizipieren. Einen Musikstil zu verstehen, heißt jedoch mehr, als korrekte Prognosen über den Verlauf der Musik stellen zu können. Es ist eines, die Funktion eines Akkordes zu kennen, etwas anderes aber, diese Funktion zu hören. Roger Sharpe schreibt dazu: „I know Machaut’s vocabulary well enough to be able to forecast the way the music will move with a degree of accuracy. But I do not feel the same sort of necessity I feel with a Bach fugue.”677 Wer weiß, welches der Grundton einer fremden Tonleiter ist, kann gleichwohl außerstande sein, diesen Ton als Grundton der Tonleiter zu hören. Jemand kann lernen, chinesische Gesten richtig zu deuten, ohne dadurch dasjenige, was sie bedeuten, in diesen Gesten unmittelbar zu sehen. Wir können innerhalb weniger Sekunden lernen, wie ein Affe aussieht, wenn er uns droht: Er spitzt seinen Mund und streckt das Kinn nach vorne. Es braucht jedoch viel Zeit, bis wir dieses Gesicht als drohendes Gesicht sehen können. Mit fremder Musik verhält es sich ähnlich wie mit fremden Gesten und Gesichtsausdrücken. Es braucht Zeit, bis wir die Funktionen einzelner Töne und Akkorde nicht nur kennen, sondern auch hören. Nur wer musikalische Spannungen, Tendenzen und Auflösungen als solche hört und mit der Musik mitgeht, kann als jemand gelten, der die Musik versteht. Musik zu verstehen, heißt, ihre Logik zu fühlen. Dazu noch einmal Sharpe: I understand music in having a sense of its progress, a sense that this chord has to be resolved, a sense that a modulation at this point is called for, or that a melodic line needs to end in just this way […] A listener (or player) understands the music to the extent that she ‘feels’ or ‘senses’ these exigencies, even if she lacks the technical know-how to describe them. There are patterns of tension and relaxation and of implication and realization which the listener catches.678 677 678

Sharpe, Music and Humanism, 190-191. Sharpe, Music and Humanism, 182.

218 Es gibt keine festgeschriebenen Regeln, die sagen, wann ein musikalischer Übergang „richtig“ klingt. Ein Komponist kann sich bei den meisten seiner Entscheidungen auf keine Regeln berufen, sondern allein auf sein Ohr und sein Gefühl. Manchmal muss er die konventionellen Regeln sogar brechen, wenn er die Musik davor bewahren möchte, zu einer nichts sagenden Floskel zu werden. Woher aber nimmt unser Ohr den Maßstab für Richtig und Falsch, wenn es sich auf keine Konventionen berufen kann? Warum klingen manche Übergänge „zwingend“, „richtig“ und „natürlich“, während andere sich „ausdruckslos“, „erzwungen“ oder gar „falsch“ anhören? Woher wissen wir, wie Musik klingen sollte? Wie im Kapitel über ästhetische Regeln gezeigt wurde, gibt es Wittgenstein zufolge „dunkle Paradigmen“, die unseren ästhetischen Urteilen zugrunde liegen.679 Ein musikalischer Übergang klingt „richtig“ oder „zwingend“, weil wir darin dunkel ein vertrautes Muster wiedererkennen, das wir aus anderen Bereichen unseres Lebens kennen. Wir können Musik nur dann nachvollziehen und mit ihr mitgehen, wenn sie sich in irgendeiner Weise „wohlvertraut“ anhört. Richtig oder notwendig klingt, was einem vertrauten Muster entspricht. Das Paradigma dafür zu finden, warum etwas ästhetisch Richtig wirkt, heißt Wittgenstein zufolge, zu erkennen, wie es „in die Welt unsrer Gedanken und Gefühle hinein[passt]“680. So kann ein musikalischer Übergang den Eindruck machen, als „würde eine Schlussfolgerung gezogen“681 oder ein Berg erklommen. Oder er kann wirken wie der „Eintritt einer neuen Figur in einer Geschichte“.682 Die Art, wie wir Musik erleben, hat unzählige Ähnlichkeiten mit anderen Erlebnissen und Phänomenen unseres Lebens. Das Paradigma für das musikalisch Richtige und Falsche ist der Vergleich, der unserem Höreindruck unbemerkt zugrunde liegt. Es zu finden, heißt aufzudecken, als was wir Musik hören. 7.5.3 Geste und Lebensform Wittgenstein vergleicht ausdrucksvolle Musik, aber auch gewisse Architektur, gerne mit ausdrucksvollen Gesten und Gesichtsausdrücken:

679

Vgl. Kapitel 4.2.4. VB, 531. 681 PU, § 527. 682 VB, 531. 680

219 [T]he expression of an emotion in music […] is a certain gesture683 Ein Thema hat nicht weniger einen Gesichtsausdruck, als ein Gesicht.684 Die Melodien der frühen Beethovenschen Werke haben (schon) ein anderes Rassegesicht als z.B. die Melodien Mozarts. Man könnte den Gesichtstypus zeichnen der den Rassen entspräche. Und zwar ist die Rasse Beethovens gedrungener, grobgliedriger, mit runderem oder viereckigerem Gesicht, die Rasse Mozarts mit feineren schlankeren und doch rundlicheren Formen und die Haydns groß und schlank vor der Art mancher österreichischer Aristokraten. Oder lasse ich mich da von dem Bild verführen das ich von den Gestalten dieser Männer habe? Ich glaube nicht.685 Architektur ist eine Geste. Nicht jede zweckmäßige Bewegung des menschlichen Körpers ist eine Geste. Sowenig, wie jedes zweckmäßige Gebäude Architektur.686

Musik zu verstehen, heißt für Wittgenstein mitunter, den Ausdruck musikalischer Gesten zu erleben. Mit den Worten von Roger Scruton: „To understand the music is to recognize the gesture which it enacts“687. Was aber meint Wittgenstein, wenn er schreibt, Musik und Architektur wirke auf ihn wie eine Geste? Warum wählt er gerade diesen Vergleich? Und was sind überhaupt Gesten? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Gesten haben eine Bedeutung, obwohl sie keine syntaktische Struktur haben. Sie kommunizieren etwas, ohne dabei auf einen Gegenstand Bezug zu nehmen und über diesen etwas auszusagen: Sie referieren und prädizieren nicht, sondern drücken vielmehr etwas aus. Sie verkörpern, was sie bedeuten. Karlheinz Lüdeking schreibt: „When someone expresses embarrassment by his gestures, these gestures do not denote an independently existing embarassment but rather embody it“688. Gesten stehen in der Regel, anders als die meisten sprachlichen Ausdrücke, nicht nur in konventionaler, sondern auch in kausaler Beziehung zu dem, was sie bedeuten. Eine Geste ist immer auch ein Symptom: sie bedeutet das, wodurch sie verursacht ist. Man denke an Gesten der Wut, der Traurigkeit, der Freude, des Ekels oder des Spotts. Eine Geste ist ein Aus683

LoD, 37. VB, 523. 685 MS, 183, 99. Vgl. VB, 480. 686 VB, 510. Vgl. VB, 481. 687 Scruton, Analytical Philosophy and the Meaning of Music, 175. 688 Lüdeking, Pictures and Gestures, 224. 684

220 drucksverhalten. An ihr lässt sich, wie an einem Symptom, etwas ablesen. Das ist der Grund, weshalb feine Unterschiede im gestischen Ausdrucksverhalten von Bedeutung sind. Was man ausdrückt, ist von der Art, wie man es ausdrückt, kaum zu trennen. Lüdeking meint: „Whereas a written sentence always represents the same proposition regardless of ist calligraphic execution, a gesture can acquire a completely different meaning even by a minimal veriation of ist performance“689. Gesten haben oft etwas Unwillkürliches, gleichsam Instinktives an sich, obwohl viele von ihnen kulturell erworben sind. Wittgenstein schreibt: „eine Gebärde muß nicht angeboren sein; sie ist anerzogen, aber eben assimiliert“690. Sie sind in der Regel keine rein instinktiven Reaktionen, sondern sie sind erlernt und unterscheiden sich von Kultur zu Kultur. Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Gesten der Verachtung – der eine macht eine wegwischende Geste mit der Hand, während der andere den Kopf etwas hebt und teilnahmslos zur Seite blickt. Wie aber erkennt man, was Menschen einer fremden Kultur mit bestimmten Gesten ausdrücken? Indem man sich anschaut, welche Funktion, welche kommunikative Rolle die Geste hat, in welchen Kontexten Sprecher diese Geste machen und welche Konsequenzen daraus folgen. Gesten sind Wittgenstein zufolge Paradebeispiele für Zeichen, deren Bedeutung nicht nur von Konventionen, sondern auch stark vom jeweiligen Kontext abhängt. Man muss nicht nur mit den geltenden Konventionen, sondern auch mit dem Kontext vertraut sein, um zu verstehen, was ein Blick, ein Lächeln oder eine Handbewegung bedeutet. Fotografien, auf denen Szenen aus dem Leben fremder Kulturen dargestellt sind, sagen nur demjenigen Betrachter etwas, der sowohl mit den Konventionen dieser Kultur vertraut ist, als auch die Geschichten kennt, die in den Szenen gleichsam verdichtet dargestellt sind. Man muss eine Person und ihre Situation gut kennen, um feinste Nuancen ihrer Mimik und ihrer Körpersprache richtig deuten zu können. Ein und dasselbe Lächeln kann in unterschiedlichen Kontexten ganz Verschiedenes bedeuten. Jemand, der dieses Lächeln auf zwei Fotografien sieht, jedoch nicht weiß, dass die Kontexte jeweils ganz andere waren, für den wird das Lächeln denselben Ausdruck haben. Wer dagegen die unterschiedlichen Kontexte kennt, der wird das eine Lächeln ganz anders erleben als das andere. Er wird die identischen Gesichtszüge anders wahrnehmen. Es ist, wie wenn ein und dieselbe Melodielinie mit anderen Akkorden unterlegt ist – oder eine Filmsequenz mit unterschiedlicher Filmmusik. 689 690

Lüdeking, Pictures and Gestures, 223. LSP, § 712.

221 In dem Instinkthaften, der Expressivität und der Kontextsensibilität gestischer Kommunikation sieht Wittgenstein charakteristische Momente unserer verbalen Sprache. Wenn er manche sprachlichen Äußerungen mit Gesten vergleicht, dann verdankt sich dieser Vergleich insbesondere diesen drei Merkmalen. Es war wohl der italienische Ökonom Pierro Sraffa, der Wittgenstein auf diese Aspekte der Sprache aufmerksam gemacht hat.691 Ihm verdanke er nicht nur den „Ansporn“ zu den „folgenreichsten der Ideen“ seiner Spätphilosophie, wie Wittgenstein im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen schreibt, sondern auch den „ethnologischen“ Blick, wie er in einem Gespräch mit seinem Freund Maurice Drury gesagt haben soll.692 Ein weiteres Merkmal von Gesten, das insbesondere im Rahmen der Ästhetik relevant ist, ist die Erlebbarkeit der Bedeutung: Wer in einem Sprachspiel oder einem sozialen Umfeld zuhause ist, wird nicht nur wissen, dass eine bestimmte Geste als Geste der Verachtung gilt, sondern er wird die Verachtung in der Geste sehen und die Geste als verachtend erleben. Wer mit einer Geste vertraut ist, der sieht, was sie bedeutet. Eine Geste im emphatischen Sinne zu „verstehen“ heißt, mit ihr vertraut zu sein, ihre Bedeutung also nicht nur zu kennen, sondern die Geste als das zu erleben, was sie bedeutet, mit ihr mitzugehen und in gewissem Grade mitzuempfinden, was sie verkörpert: „Der Sinn der Gebärden ist nicht einfach gegeben, er will verstanden, aktiv erfasst werden“693, wie Maurice Merleau-Ponty schreibt. Was Scruton über die Rolle der Einfühlung für das Verstehen von Gesichtsausdrücken sagt, gilt in gleicher Weise für das Verstehen von Gesten. Wir verstehen ein Ausdrucksverhalten, indem wir uns einfühlen, es imaginativ imitieren und an uns selbst erleben, was durch das Verhalten ausgedrückt wird: „we preconsciously imitate the facial gesture. We come to ‘know what it’s like’ to have a face like that.“694 Ähnliches gilt für die Gesten, die wir in ausdrucksvoller Musik hören: Auch in sie müssen wir uns einfühlen, um ihren Ausdruck voll und ganz zu erfassen. Adorno spricht von einem „Mitvollziehen“ und einem „angestrengten Sich-Überlassen“.695 Und auch musikalische Gesten verdanken ihren Ausdruck, ihre Bedeutung, dem musikalischen Kontext und der Rolle, die sie darin spielen. Ein und dieselbe musikalische Wendung kann in 691

Vgl. Goppelsröder, Sraffas Geste. Zur späten Philosophie Wittgensteins. Monk, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, 281. 693 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 219. 694 Scruton, Wittgenstein on Music, 40-41. 695 Adorno, Ästhetik (1958/59), 189 u. 190. 692

222 unterschiedlichen Kontexten einen anderen Ausdruck haben. Um zu verstehen und zu hören, „was alles in ihr liegt“, müssen wir den sie umgebenden musikalischen Kontext kennen. Manchmal müssen wir sogar mit dem ganzen Stück vertraut sein, manchmal mit dem Oeuvre des Komponisten, mit den musikalischen Konventionen seiner Zeit oder mit der Tradition, in der das Musikstück steht: Auch, daß eine musikalische Wendung ausdrucksvoll ist, beruht nur auf ihrer Umgebung in der ganzen musikalischen Sprache, zu der sie gehört.696 Ich sage mir: „Was ist das? Was sagt nur diese Phrase? Was drückt sie nur aus?“ — Es ist mir als müßte es noch ein viel klareres Verstehen von ihr geben, als das, was ich habe. Und dieses Verstehen würde dadurch erreicht, daß man eine Menge über die Umgebung der Phrase sagt. So als wollte man eine ausdrucksvolle Geste in einer Zeremonie verstehen. Und zur Erklärung mußte ich die Zeremonie gleichsam analysieren. Z.B. sie abändern und zeigen, wie das die Rolle jener Geste beeinflussen würde.697 Ich höre die Melodie ganz anders, nachdem ich den Stil dieses Meisters kenne. Ich hätte sie z.B. als heiter beschrieben, nun aber empfinde ich sie als den Ausdruck eines großen Leidens. Ich beschreibe sie jetzt anders, stelle sie mit ganz anderem zusammen.698

Wittgensteins semantischer und hermeneutischer Holismus – die Auffassung, dass ein Satz nur innerhalb des Ganzen einer Sprache Bedeutung hat und nur von jemandem verstanden werden kann, der diese Sprache beherrscht – gilt für unsere Wortsprache ebenso wie für die musikalische Sprache. Wenn er mit Blick auf einzelne Sätze unserer Sprache schreibt „Einen Satz verstehen, heißt eine Sprache verstehen“699, dann gilt das auch für die Musik: Eine musikalische Passage verstehen, heißt, eine musikalische Sprache verstehen. Bei Rush Rhees lesen wir: Ein Musikstück ist in musikalischen Phrasen oder in Musik geschrieben, so wie ein Gedicht in Sprache und in Poesie geschrieben ist. Wittgenstein sagte einmal in einem Gespräch, daß Schuberts Wiegenlied offensichtlich tiefer sei als Brahms’ Wiegenlied, aber daß es nur im Rahmen unserer musikalischen Sprache im ganzen tiefer sein könne. Er hätte in die Sprache der Musik nicht nur die Werke anerkannter Komponisten aufgenommen, son696

MS 130, 60. MS 130, 63. 698 MS 138, 9a. 699 PU, § 199. 697

223 dern ebenso Volkslieder und die Weise, wie die Menschen singen und spielen. Letztere sind fundamentaler, denn sie geben das Idiom vor, in dem die formalen Kompositionen geschrieben sind, und machen es auf diese Weise möglich, daß die Themen dieser Kompositionen die Bedeutung haben, die sie haben. Nicht daß irgendeines dieser Themen aus Liedern, die die Menschen singen, genommen sein muss. Aber es sind Themen, die zu dieser Sprache gehören und die in dieser Sprache Bedeutung haben.700

Wittgenstein zufolge ist unsere Sprache eine regelgeleitete Tätigkeit. Wenn er meint, ein Musikstück sei in einer musikalischen Sprache verfasst, dann gibt er damit zu verstehen, dass sie einem Set impliziter Regeln und Konventionen folgt und nur vor dem Hintergrund dieser Regeln verstanden werden kann. Mittelalterliche Musik wirkt anfänglich sehr fremd und man kann sie erst verstehen, wenn man sich mit dem System der Kirchentonarten vertraut gemacht hat. Ähnliches gilt für Darstellungen einer fremden Kultur. Man denke etwa an die fremde Bildsprache der Ägypter.701 Wittgenstein zufolge gilt: „ein Bild ist etwas nur in einer Bildsprache“702. Um Kunstwerke einer fremden Epoche oder Kultur verstehen zu können, müssen wir uns mit dem jeweiligen System ästhetischer Konventionen vertraut machen: Die Ästhetik lehrt uns wesentlich ein System kennen. Sie lehrt uns ein System sehen. […] Verstehen der Kirchentonarten. Verstehen einer chinesischen Darstellung.703

Man darf sogar noch einen Schritt weiter gehen: Um ein Musikstück einer fremden Kultur verstehen zu können, muss man nicht nur die Musik dieser Kultur kennen, sondern mit der fremden Kultur als ganzer vertraut sein. Felix Gmür fängt die holistische Hermeneutik Wittgensteins in eigenen 700

Rhees, Art and Philosophy, 136-137. In diesem Zusammenhang ist eine Stelle interessant, an der Wittgenstein meint, man könne die Zeichnungen von Wilhelm Busch „metaphysisch“ nennen, „mit dem Ewigen als Hintergrund“, sich aber gleichzeitig bewusst macht: „Aber doch bedeuten diese Striche das nur in einer Sprache. Und es ist eine Sprache ohne Grammatik, man könnte ihre Regeln nicht angeben“ (VB, 556). 702 PG, 171. Goodman greift diese konventionalistisch-holistischen Überlegungen in Sprachen der Kunst auf, wenn er schreibt: „Perspektivisch gemalte Bilder müssen wie alle anderen gelesen werden; und die Fähigkeit zu lesen muß erworben werden“ (25). Goodman zufolge gilt: „Nichts ist an sich eine Repräsentation; der Status als Repräsentation bezieht sich auf das Symbolsystem“ (210). 703 MS 156a, 55v. 701

224 Worten ein, wenn er schreibt, „musikalische Phrasen wird man tiefer verstehen, je mehr man sich Zeit läßt, in die Kultur, der sie entstammen, hineinzutauchen“704. Diese holistische These, wonach man kulturelle Leistungen, etwa Musikstücke, nur verstehen und wertschätzen kann, wenn man die Kultur versteht, der sie entstammen, soll im Folgenden näher erläutert werden. Es wurde bereits gezeigt, dass unsere Sprache eine der Grundlagen unseres Verstehens von Musik darstellt. Wäre der Klang unserer Sprache ein anderer, dann würde Mozart in unseren Ohren anders klingen. Die Sprache und ihre Intonation bilden jedoch nur einen Bruchteil dessen, was dem verstehenden Hören von Musik zugrunde liegt. Wir verstehen Musik vor dem Hintergrund unserer ganzen Lebensform, der Gesamtheit aller instinktiven und erlernten Handlungsmuster, unserer Art zu fühlen, zu denken und zu handeln. Wittgenstein schreibt in den Philosophischen Untersuchungen: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“705. Warum nicht? Weil wir ihn nicht verstehen. Wir können nicht nachvollziehen, warum ein Löwe möchte, was er möchte, warum er tut, was er tut, und warum er fühlt, was er fühlt. Seine Art zu leben, zu reagieren und sich zu verhalten, ist uns fremd. Wenn er sprechen könnte, würden wir nicht verstehen, was er sagt, weil uns vollkommen schleierhaft wäre, warum er es sagt. Wir würden permanent zweifeln, ob er dieselbe Sprache spricht wie wir. Ich möchte Wittgensteins Aussage „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“ auf die Musik übertragen und sagen: „Wenn ein Löwe Musik machen könnte, wir könnten sie nicht verstehen“. Wir könnten mit „Löwenmusik“ nicht mitgehen, weil wir uns in Löwen nicht einfühlen können: „Wir können uns nicht in ihn sie finden“706 – weder in die Löwen, noch in ihre Musik. Eine über mehrere Takte angehaltene, intensive musikalische Spannung wirkt für uns unschön und unverständlich, da wir zu solchen überlangen Anspannungszuständen nicht in der Lage sind. Löwen vielleicht schon. Musik, mit der eine Tagesfliege „mitgehen“ könnte, wäre für uns unverständlich. Sie erklingt nicht im „Rhythmus unserer Sprache, unseres Denkens und Empfindens“707. Musikalische Übergänge und Wendungen klingen für uns natürlich und richtig, wenn die Ges-

704

Gmür, Ästhetik bei Wittgenstein, 190. PU II, 568. 706 PU II, 568. 707 VB, 523. 705

225 ten, die sie verkörpern, uns „wohlvertraut“708 sind – wenn sie „in die Welt unsrer Gedanken und Gefühle hinein[passen]“709. In diesem Zusammenhang ist eine Stelle aufschlussreich, an der Wittgenstein schreibt, es „würde uns einen fremden und tiefen Eindruck machen, wenn wir zu Menschen kämen, die nur Spieluhrenmusik kennten. Wir würden vielleicht eine Art Gebärden erwarten, die wir nicht verstünden, auf die wir nicht zu reagieren wüssten.“710 Musik aus Spieluhren klingt oft mechanisch und unmenschlich, da sie weder im Tempo noch in der Lautstärke variiert, und wenn sie variiert, dann meistens an unpassenden Stellen oder auf unpassende Weise. Solche Musik klingt, als würde sie „ohne Grund“ mal schneller, mal langsamer, als hinkte und stolperte sie, oder als werde sie gleichsam von außen angestoßen oder zurückgehalten. Die Bewegungen der Musik gleichen nicht dem Benehmen eines normalen Menschen, sondern dem eines Betrunkenen, einer Marionette oder eines Roboters. Wie aber würden wir uns das Benehmen von Menschen vorstellen, für die solche Spieluhrenmusik natürlich und richtig klingt? Es scheint klar zu sein, dass die Bewegungen, Gesten und Verhaltensmuster solcher Menschen sich von den unseren stark unterscheiden müssten, denn was für uns wie ein Stolpern oder Hasten klingt, hörte sich für sie an wie ein natürliches Fortschreiten. Wir würden nicht nur ihre Musik, sondern auch ihr Verhalten als stolpernd oder als mechanisch erleben. Daraus lernen wir: In der Art, wie wir Musik hören, zeigt sich unsere Lebensform. Wir hören in Musik lauter Variationen unseres Lebens.711 7.5.4 Von Musik lernen Wittgenstein betont an mehreren Stellen, dass wir in der Musik nicht nur vertraute Gesten hören, sondern auch mit neuen Gesten vertraut gemacht werden. Durch Musik lernen wir neue Gesten und eignen sie uns an:

708

BGM, 100-101. VB, 531. 710 BPP II, 696. 711 Vgl. VB, 464. Scruton folgert daraus, dass Musik, ähnlich wie ein Roman, uns dabei helfen kann, unser Leben besser zu verstehen und unser Herz zu bilden (éducation sentimentale): The Aesthetics of Music, 235; Analytical Philosophy and the Meaning of Music, 175. Vgl. Kapitel 8.4. 709

226 Wenn dir plötzlich ein [musikalisches] Thema, eine Wendung, etwas sagt, so brauchst du dir’s nicht erklären können. Es ist dir plötzlich auch diese Geste zugänglich.712 Diese musikalische Phrase ist für mich eine Gebärde. Sie schleicht sich in mein Leben ein. Ich mache sie mir zu eigen.713 Und das Thema ist auch wieder ein neuer Teil unserer Sprache, es wird in sie einverleibt; wir lernen eine neue Gebärde. Das Thema ist in Wechselwirkung mit der Sprache.714

Wenn Wittgenstein schreibt, dass Musik uns mit neuen Gesten vertraut macht, dann meint er damit, dass bestimmte Rhythmen, Melodien, Akkorde, Harmonien oder Modulationen, mit denen wir – wie man sagt – bisher „nichts anfangen konnten“, allmählich einen Ausdruck, eine hörbare Funktion bekommen. Ähnlich wie Gesten einer fremden Kultur an Ausdruck gewinnen, wenn man sich schrittweise mit der Kultur vertraut macht, so braucht es manchmal Zeit, um in zunächst unvertraut klingenden musikalischen Wendungen ausdrucksstarke Gesten zu hören. Diese neuen Gesten werden zu neuen Mustern des Verstehens und helfen, den Horizont unsers musikalischen Verstehens zu erweitern. Wer mit Beethovens Musik vertraut ist, wird zu spätromantischer Musik leichter Zugang finden als jemand, dessen Kenntnis mit Mozart aufhört. Musik kann uns noch in einer anderen Hinsicht mit neuen Mustern des Verstehens vertraut machen.715 Sie kann uns helfen, etwas zu beschreiben, wofür uns bisher die Worte fehlten. So kann man die Atmosphäre einer Stadt am einfachsten beschreiben, indem man sie mit einem Musikstil vergleicht: „Wien ist wie ein Walzer“ und „Berlin ist Tom Waits“. Musik kann uns aber auch unsere eigenen Gefühle und Stimmungen besser verstehen lassen. So kann der Verweis auf eine bestimmte Stelle in einem Musikstück für eine Musikliebhaberin die einfachste und treffendste Art sein, um auszudrücken, wie sie sich gerade fühlt: „Es fühlt sich an wie der Anfang von Chopins Nocturne Op. 27 Nr. 2“ oder „Die Welt zieht an mir vorüber wie ein melancholischer Film, mit Mahlers Adagietto als Soundtrack“.

712

Z, 158. VB, 553. 714 VB, 523. 715 Vgl. Young, The Cognitive Value of Music, 51 f. 713

227

8. Kunst und Leben Kunstwerke fallen nicht vom Himmel – obwohl manche diesen Eindruck machen. Hinter einem Kunstwerk steht in der Regel ein Mensch aus Fleisch und Blut, eine lebende Person, mit Sorgen, Hoffnungen, Überzeugungen und Idealen. Kann sich ein Künstler mit seinem Werk identifizieren, dann wird das Werk zu einem Spiegel seiner Person und seines Lebens. Der Stil verrät uns etwas über die Persönlichkeit und die ins Werk gesetzten ästhetischen Ideale spiegeln die Lebensideale des Künstlers. Ein Kunstwerk sollte aber nicht nur mit dem Künstler in Verbindung stehen, sondern auch eine Verbindung zum Betrachter aufbauen. Kunst ist Wittgenstein zufolge in der Lage, unsere Sicht auf die Welt und unser Leben zu verändern. Sie kann uns zeigen, wie wir glücklich werden. In diesem Kapitel versuche ich, die spärlich gesäten und nur lose verbundenen Bemerkungen Wittgensteins, die den Zusammenhang zwischen Kunst und Leben thematisieren, zu erläutern und in ein stimmiges Gesamtbild einzubetten. 8.1 Gewaltige Kunstwerke Wittgenstein zufolge zeichnet sich „große Kunst“ durch eine gewisse Tiefe und Kraft aus.716 Er spricht von „gewaltigen“ (tremendous) Kunstwerken und denkt dabei in erster Linie an Symphonien von Beethoven und an gotische Kathedralen.717 Solche Werke berühren uns nicht nur, sondern gehen durch Mark und Bein.718 Das Überwältigende dieser Kunstwerke rührt daher, dass ihr Erleben eine existenzielle Dimension hat. Man möchte ausrufen: „soviel Zusammenhang mit Leben und Tod“719. Sie wecken Emotionen, die mit unserer menschlichen Existenz eng verbunden sind, wie Ge-

716

VB, 502. LA, 8. 718 Peter Lewis vergleicht das Gewaltige bei Wittgenstein mit dem Erhabenen bei Kant (Wittgenstein and „The Tremendous Things in Art“, 156). Mehr als eine oberflächliche Ähnlichkeit besteht jedoch nicht. Anders als bei Kant, spielen bei Wittgenstein die Ideen der Unendlichkeit und der Bewusstwerdung der moralischen Erhabenheit des betrachtenden Subjekts keine Rolle. 719 VB, 504. 717

228 borgenheit, Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Erlösung, Ohmacht, Erhabenheit und Glück.720 Gewaltige Kunstwerke erleben wir als ungeheuer kraftvoll. Dieses Kraftvolle zeigt sich uns jedoch nicht als rohe Gewalt, sondern in kultivierter und kunstvoll gebändigter Form. Gleichzeitig sind es die im Werk anklingenden existentiellen Themen und Emotionen, die den kunstvollen Formen Leben, Tiefe, Authentizität und Ausdruck verleihen. In gewaltigen Kunstwerken spüren wir eine rohe, unbewusste Kraft, jedoch in gezähmter, stilvoller Form.721 In aller großen Kunst ist ein WILDES Tier: gezähmt. […] Alle große Kunst hat als ihren Grundbass die primitiven Triebe des Menschen. Sie sind nicht die Melodie (wie, vielleicht, bei Wagner), aber das, was der Melodie ihre Tiefe und Gewalt gibt.722

Wittgenstein zufolge ist es unangemessen, bei gewaltigen Kunstwerken von „richtig“ und „falsch“ zu sprechen. Eine Symphonie von Beethoven oder eine gotische Kathedrale beurteilen wir nicht danach, ob sie gewissen Regeln gehorchen. Solche Werke sind vergleichbar mit Menschen, die eine ausgeprägte Persönlichkeit, die Charisma haben, über den herrschenden Konventionen stehen und auf uns einen starken Eindruck machen, sich uns einprägen. Dagegen wirkt eine elegante Vase oder eine wohlproportionierte Tür eines modernen Gebäudes eher wie ein Mensch, der feine Manieren hat und sich anständig und korrekt benimmt. Hier hören und sehen wir, dass etwas „richtig“ gemacht ist. Solche Werke gefallen, aber sie fesseln nicht. Wir können den gekonnten Umgang mit ästhetischen Regeln wertschätzen, aber wir können die Werke nicht bewundern. Sie überwältigen uns nicht: When we talk of a Symphony of Beethoven we don’t talk of correctness. Entirely different things enter. One wouldn’t talk of appreciating the tremendous things in Art. In certain styles in Architecture a door is correct, and the thing is you appreciate it. But in the case of a Gothic Cathedral what 720

Es ist wohl diese existentielle Dimension von Kunstwerken, die die „Werke der großen Meister“ zu „Sonnen“ macht, „die um uns her auf- und untergehen. So wird die Zeit für jedes große Werk wiederkommen, das jetzt untergegangen ist“ (VB, 471). 721 Vgl. VB, 501: „Auch im höchsten Kunstwerk ist noch etwas, was man ‚Stil’, ja auch, was man ‚Manier’ nennen kann.“ 722 VB, 502. Gmür sieht in der Verbindung von Wildheit und Zähmung eine Nähe zu Nietzsches Ästhetik des Dionysischen und Apollinischen. (Gmür, Ästhetik bei Wittgenstein, 190).

229 we do is not at all find it correct – it plays an entirely different role with us. [Rhees: Here there is no question of degree.] The entire game is different. It is as different as to judge a human being and on the one hand say „He behaves well“ and on the other hand „He made a great impression on me“.723

Von einer Tür eines Gebäudes von Adolf Loos können wir Wittgenstein zufolge sagen, dass sie „zu breit“, „zu hoch“ oder „genau richtig proportioniert“ ist. Dagegen könne bei einer gotischen Kathedrale nicht von „richtig“ und „falsch“ die Rede sein. Aber hinkt dieser Vergleich nicht? Eine Tür ist schließlich ein Teil eines Ganzen, eine Kathedrale dagegen ist ein Ganzes. Vielleicht zeigt der Vergleich lediglich, dass man nur hinsichtlich der Teile eines Werkes von „richtig“ und „falsch“ sprechen kann, nicht aber mit Blick auf das Ganze. Ein Fenster einer gotischen Kathedrale könnte schließlich auch stilistisch „unpassend“ oder „falsch“ proportioniert sein. Wittgenstein möchte aber wahrscheinlich auf einen anderen Punkt aufmerksam machen: Gewisse Kunstwerke richten sich nicht an vorgegebenen Maßstäben aus, sondern setzen neue Maßstäbe. Wittgensteins These wäre also: Nur solche Kunstwerke sind jenseits von „richtig“ und „falsch“ anzusiedeln, die paradigmatisch sind, d.h. die ihre eigenen Maßstäbe setzen. Von einem paradigmatischen Kunstwerk kann man nicht sagen, es sei „richtig“ oder „falsch“, weil dieses Kunstwerk erst festlegt, was als „richtig“ und „falsch“ gilt. Das Werk ist Maßstab, nicht Gemessenes. Auch Schulte liest die zitierte Passage in dieser Weise und meint, man könne „von einem Werk, das seine eigenen Maßstäbe setzt, nicht behaupten, es verstoße gegen sie“724. Bei paradigmatischen Kunstwerken kann man nicht sagen, etwas sei „richtig“ oder „falsch“, ebenso wie man von dem Urmeter in Paris Wittgenstein zufolge weder sagen kann, es sei ein Meter lang noch es sei nicht ein Meter lang: „Man kann von einem Ding nicht aussagen, es sei 1 m lang, noch, es sei nicht 1 m lang, und das ist das Urmeter in Paris.“725 Im Unterschied zum Urmeter hat man paradigmatische Kunstwerke jedoch nicht durch Übereinkunft zum Maßstab gemacht. Welchem Kunstwerk wir einen paradigmatischen Status zusprechen, ist nicht in demselben Maße willkürlich wie die Festlegung einer Maßeinheit. Wir können nur solche Kunstwerke als mustergültig anerkennen, die gleichsam ein in uns schlummerndes Ideal zum Leben erwecken und einen Maßstab explizit 723

VA, 7-8. Schulte, Ästhetisch richtig, 80. Vgl Tilghman, Wittgenstein, Ethics and Aesthetics, 86 ff. 725 PU, § 50. 724

230 machen, der in unserer ästhetischen Praxis schon implizit vorhanden war. Kunstwerke könnten nicht paradigmatisch werden, „wenn sie nicht letzten Endes an eine Neigung in uns selbst appellierten“726, wie Wittgenstein in anderem Kontext schreibt.727 Große Kunst bricht mit Regeln und setzt neue Maßstäbe – sie ist kreativ. Wittgenstein betont aber, dass Kreativität ohne Konformität nicht möglich ist. Ein originelles Kunstwerk, das in einigen Hinsichten neu ist und manche etablierten Regeln umdeutet oder gar bricht, muss nach Wittgenstein mit vielen tradierten Regeln im Einklang stehen, um überhaupt verständlich zu sein und als Kunstwerk einer bestimmten Gattung gelten zu können.728 You can say that every composer changed the rules, but the variation was very slight; not all the rules were changed. The music was still good by a great many of the old rules.729

Die Ausdrucksstärke einer musikalischen Passage verdankt sich oft der Tatsache, dass der Komponist an der Stelle mit den ästhetischen Regeln bricht und die Musik die Erwartungen des Hörers durchkreuzt: Es kommt anders, als man meint. Diese Wirkung kann aber nur zustande kommen, wenn die Hörer überhaupt Erwartungen bilden können. Und dies können sie nur, wenn die Musik an den meisten Stellen den Regeln folgt, sodass der Hörer, dessen Ohr die Regeln verinnerlicht hat, der Musik folgen kann. Das expressive Potential einer Abweichung von einer etablierten ästhetischen Regel verdankt sich also der unhinterfragten Geltung der Regel. Im Fußball zeigt das Antäuschen eines Passes nur Wirkung, weil alle den Pass erwarten. Und alle erwarten den Pass, weil ein Spieler normalerweise passt, wenn er zum Pass ausholt. Täuscht ein Spieler zu oft einen Pass an, verliert die Täuschung ihre Wirkung. Die Abweichung wird zur Regel und die Erwartungen ändern sich. Der Versuch, mit allen Regeln zu brechen, verfehlt seine Wirkung. Ein Musikstück, das keine gewohnten Muster erkennen lässt, lässt den Hörer kalt. Er kann nicht mitgehen. Die Musik 726

F, 34. Vgl. Kapitel 4. 728 Das gilt nach Thomas Tam auch für gewaltige Kunstwerke: „It could very well be that a tremendous thing is tremendous just because it breaks the rules, but understanding the rules, as in all cases of appreciation, is a prerequisite for any real response to the tremendous (On Wonder, Appreciation, and the Tremendous in Wittgenstein’s Aesthetics, 322). 729 LA, 6. 727

231 bleibt unverständlich. Musikalischer Ausdruck findet also irgendwo zwischen Regelkonformität und Regellosigkeit statt. David Best meint: „individual creativity depends upon the existence and grasp of a social practice”730. 8.2 Genie Geniale Werke setzen neue Maßstäbe. Sie geben der Kunst eine neue Regel und schaffen es, dass „der Mensch sich in die neue Regel hineinstürzt“731, wie Wittgenstein in anderem Zusammenhang schreibt. Genialität ist nach Kant nichts anderes als unwillkürliche exemplarische Originalität.732 Wittgenstein dagegen verlangt mehr von einem Genie. Um geniale Werke zu schaffen, brauche es Mut und Charakterstärke: „Das Maß des Genies ist der Charakter“733. Ein Genie benötige nicht nur Talent, sondern auch einen starken „Charakter, der sich in der Form eines speziellen Talents kundgibt“734. Der im Werk zum Ausdruck kommende Charakter des Künstlers, das Geniale des Werks, verdecke dann oft das Talent. Genie ist das, was uns das Geschick vergessen macht. […] Nur wo das Genie dünn ist, kann man das Talent sehen.735 Das Maß des Genies ist der Charakter, – wenn auch der Charakter an sich nicht das Genie ausmacht. Genie ist nicht ‚Talent und Charakter’, sondern Charakter, der sich in der Form eines speziellen Talents kundgibt. Wie ein Mensch aus Mut einem ins Wasser nachspringt, so schreibt ein anderer aus Mut eine Symphonie. (Dies ist ein schwaches Beispiel.)736

Das Beispiel ist deswegen schwach, weil es dabei nicht um die Art von Mut geht, die Wittgenstein im Auge hat, wenn er schreibt: „Man könnte sagen: ‚Genie ist Mut im Talent’“737. Es gibt unterschiedliche Formen des 730

Best, Feeling and Reason in the Arts, 81. BGM, 244. 732 Kant, KdU, § 46. 733 VB, 499. 734 VB, 499. 735 VB, 511. 736 VB, 499. 737 VB, 503. Auch für Kant zeichnet sich das Genie, „welches der Kunst die Regel gibt“, durch Mut zur Originalität aus: „Dieser Mut ist an einem Genie allein Verdienst 731

232 Mutes: Ein Liebesgeständnis kann ebensoviel Mut erfordern wie die Entscheidung, in den Krieg zu ziehen. In beiden Fällen sind jedoch unterschiedliche Arten von Mut gefragt. Wer in der einen Hinsicht mutig ist, muss es nicht in der anderen sein. An welchen Mut denkt Wittgenstein? Welche Art von Mut braucht ein talentierter Mensch, um geniale Werke schaffen zu können? Wittgenstein zufolge ist es in erster Linie der Mut, sich selbst zu sein: Mut zur Authentizität. Charakter zu haben heißt für Wittgenstein, in Taten und Werken auszudrücken, wer man ist, und gesellschaftliche Konventionen nur dann zu übernehmen, wenn man sich diese aneignen und sich in ihnen ausleben kann. Charakterliche Größe besitzt, wer ehrlich mit sich selbst ist, wer sich nichts vormacht und sich nicht verkennt, wer sich also nicht für etwas hält, das er nicht ist: Je weniger sich Einer selbst kennt und versteht um so weniger groß ist er, wie groß auch sein Talent sein mag. Darum sind unsere Wissenschaftler nicht groß. Darum sind Freud, Spengler, Kraus, Einstein nicht groß.738 Der ist nie groß, der sich selbst verkennt.739

Die Aufrichtigkeit mit sich selbst war nicht nur ein Lebensideal Wittgensteins, er sah in ihr auch die Grundlage von Originalität: „Ja schon das ist ein Anfang guter Originalität, nicht sein zu wollen, was man nicht ist“740. „Wenn einer nicht lügt, ist er originell genug“741, schreibt er. Was vielen talentierten Künstlern fehle, sei die in einer schonungslosen Aufrichtigkeit mit sich selbst gründende Originalität. Sie hätten zwar Geschmack, jedoch kein Genie. Mit „Geschmack“ meint Wittgenstein in diesem Kontext eine gewisse „Feinheit der Empfindung“, also ästhetische Sensibilität, ein feines sinnliches und affektives Unterscheidungsvermögen. Sensibilität und Originalität sind aber zwei Paar Schuhe: Ein Maler kann ein ausgeprägtes Gefühl für Formen und Farben haben, ohne dass er in der Lage ist, ausdrucksstarke, ergreifende Werke zu schaffen.

[…] da das Unnachahmliche seines Geistesschwunges durch ängstliche Behutsamkeit leiden würde.“ (KdU, § 46 A178; § 49 A 198-99) 738 VB, 516. 739 VB, 520. Vgl. VB, 497. 740 VB, 534. 741 VB, 534-535.

233 Die Fähigkeit des ‚Geschmacks’ kann keinen Organismus schaffen, nur einen schon vorhandenen regulieren. Der Geschmack lockert Schrauben und zieht Schrauben an, er schafft nicht ein neues Uhrwerk.742 Auch der feinste Geschmack hat mit Schöpferkraft nichts zu tun.743 Geschmack kann entzücken, aber nicht ergreifen.744

Wittgenstein wusste von sich selbst, dass er Geschmack hat. Ob er allerdings auch Originalität besitzt, dieses Urteil hat er anderen überlassen: „Ich vermag nicht zu beurteilen, ob ich nur Geschmack, oder auch Originalität habe“745. Er sah sich in erster Linie als kritischen und reproduktiven Menschen. Sein Scharfsinn und Feingefühl würde ihm zwar erlauben, die intellektuellen und künstlerischen Werke anderer zu verstehen und gezielt zu verbessern, jedoch nicht, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Wittgenstein bringt das Fehlen von Originalität, das bloße Reproduktivsein, an mehreren Stellen mit „dem Jüdischen“ in Verbindung. Er spricht von „jüdischer Reproduktivität“746 und glaubte, Juden seien in der Tendenz eher kritisch und reproduktiv, seien also weniger in der Lage, etwas Eigenes zu erschaffen. Wittgenstein war selbst jüdischer Herkunft. 8.3 Stil und Persönlichkeit Wittgenstein legte in allen Bereichen seines Lebens großen Wert auf Authentizität. Authentisch ist, wer nicht zu sein vorgibt, was er nicht ist, wer also weder anderen noch sich selbst etwas vormacht. Ein Mensch, der nicht mutig genug ist, sich selbst zu erforschen und seine eigenen Gefühle, Gedanken und Wünsche, seine ganze Persönlichkeit in seinen Werken und Taten auszudrücken, ein solcher Mensch wird nach Wittgenstein nichts vollbringen, das man wertschätzen sollte. Ob es sich um ein ausdrucksloses Musikstück, um ein affektiertes Liebesgeständnis oder um eine alltägliche sprachliche Floskel handelt, man möchte in jedem Fall kritisierend sagen:

742

VB 534. VB 534. 744 VB 535. 745 VB 534. 746 VB 476. 743

234 „aber das hast Du ja nur von Anderen gehört, das gehört ja nicht (wirklich) Dir“747. Aufrichtigkeit scheint ein grundlegender Wert unseres Lebens und Schaffens zu sein. Wir möchten uns selbst ausdrücken. Das setzt voraus, dass wir uns nicht verkennen. Die Schwierigkeit ist also eine zweifache: Uns selbst einerseits so zu sehen, wie wir sind, uns mit unseren Überzeugungen, Gefühlen und Wünschen ehrlich auseinanderzusetzen – wie verworren und verdorben sie auch sein mögen. Und andererseits, diese eigenen Gedanken und Gefühle unverstellt auszudrücken, sie treffend zu artikulieren. In der Art, wie wir leben, in den Texten, die wir schreiben und den Kunstwerken, die wir produzieren, sollte sich nach Wittgenstein zeigen, wer wir sind. Die Art, wie man sich ausdrückt oder wie man etwas von sich selbst kundgibt, soll demjenigen angemessen sein, was man ausdrückt und kundgibt. Form und Inhalt sollen sich entsprechen. Dies gilt Wittgenstein zufolge für das Leben ebenso wie für die Kunst und die Philosophie. Paul Engelmann, Architekt und langjähriger Freund Wittgensteins, schreibt: Eben diese Wahrhaftigkeit, diese völlige Angemessenheit des Ausdrucks an das Empfinden, ist das, was Wittgenstein in der Kunst gesucht hat, und es scheint mir, daß eben dieses Suchen auch der Motor seines Philosophierens war.748

Wittgenstein geht an manchen Stellen jedoch noch einen Schritt weiter und meint, was ausgedrückt wird, könne von der Art, wie es ausgedrückt wird, nicht getrennt werden. Die Form soll dem Inhalt nicht entsprechen, sondern sie bestimmt ihn. Man denke an Poesie. Was ein Gedicht zum Ausdruck bringt, kann nur so, nur in dieser Form, ausgedrückt werden.749 Gedichte kann man nicht paraphrasieren. Das Gleiche gilt für Musik. Was eine Melodie ausdrückt, kann keine andere ausdrücken. Wittgensteins permanentes Ringen um den richtigen sprachlichen Ausdruck, um die richtige sprachliche Form eines Satzes vermittelt – zusammen mit einigen Bemerkungen – den Eindruck, als gelte das soeben Gesagte nicht nur für Poesie und Musik, sondern auch für philosophische Texte. So bemängelt er an seinem Schreibstil, dass er mit einem schlechten Tonsatz in der Musik vergleichbar sei, also mit einer schlechten Anordnung und Verteilung einzel747

DB, 47. Somavilla, Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, 103. 749 Vgl. Kapitel 7.1. 748

235 ner Stimmen: „Mein Stil gleicht schlechtem musikalischem Satz“750. Er meint gar, manchmal könne „ein Satz nur verstanden werden, wenn man ihn im richtigen Tempo liest“. Seine eigenen Sätze, ergänzt er, „sind alle langsam zu lesen“.751 Wittgenstein legt hier nahe, dass ein wirkliches Verständnis seiner Sätze davon abhängt, dass man den Stil seines Schreibens und Denkens richtig verstehe. Ein Kunstwerk zu verstehen, heißt oft, sich mit dem Stil des Werks auseinanderzusetzen. So schreibt Nelson Goodman: „Stilerkennung ist ein wesentlicher Aspekt des Verstehens von Kunstwerken und den Welten, die sie präsentieren“752. Das Verstehen und die Wertschätzung des Werks basiert dabei besonders stark auf dem Verständnis des Stils. Wittgenstein zufolge ist das bei Shakespeare der Fall: Die Gleichnisse Shakespeares sind, im gewöhnlichen Sinne, schlecht. Sind sie also dennoch gut — und ob sie es sind, weiß ich nicht — so müssen sie ihr eigenes Gesetz sein. Ihr Klang könnte sie z.B. wahrscheinlich, und zur Wahrheit, machen. Es könnte sein, daß bei Shakespeare die Leichtigkeit, die Selbstherrlichkeit das Wesentliche ist, daß man ihn also hinnehmen müßte, um ihn wirklich bewundern zu können, wie man die Natur, eine Landschaft z.B., hinnimmt. Wenn ich darin Recht habe, so würde das heißen, daß der Stil des ganzen Werkes, ich meine, seiner gesamten Arbeit, hier das Wesentliche, und Rechtfertigende, ist.753

Bevor ich Wittgensteins Stilbegriff näher erläutere, möchte ich einführend einige allgemeine Überlegungen anstellen. Mit dem Ausdruck „Stil“ meint man in der Regel eine „Art und Weise“, wie etwas gemacht wird. So können zwei Zeichner denselben Gegenstand abzeichnen, jedoch auf unterschiedliche Weise, in unterschiedlichem Stil. Nelson Goodman hat aber gezeigt, dass dieses Verständnis von „Stil“ zu eng ist. In seinem Aufsatz The Status of Style weist er darauf hin, dass zum Stil manchmal nicht nur gehöre, wie man etwas sagt, sondern auch, was man sagt: „Stil umfasst gewisse charakteristische Züge sowohl dessen, was gesagt wird, als auch der Art, wie es gesagt wird: Merkmale sowohl des Sujets als auch des Wortlauts, des Inhalts und der Form“754. Ein Biograph könne die öffentli750

VB 505. MS 134, 77. 752 Goodman, Der Status des Stils, 58. 753 VB, 519. Vgl. VB, 569. 754 Goodman, Der Status des Stils, 42. 751

236 che Laufbahn betonen, während ein anderer das persönliche Leben fokussiert – eine Frage des Stils.755 Ein Dichter befasse sich mit dem Zerbrechlichen und Sinnlichen, während ein anderer sich auf das Kraftvolle und Abstrakte konzentriere.756 Goodman schreibt: Düsterkeit kann typisch sein für die Weise, wie ein Schriftsteller Vorgänge in der Natur beschreibt; immer wiederkehrendes Regenwetter kann typisch sein für seine Weise, das Düstere auszudrücken. Was gesagt wird, wie es gesagt wird, was ausgedrückt wird und wie – alles dies hängt eng zusammen und gehört zum Stil.757

Der Inhalt kann jedoch nicht nur den Stil bestimmen, sondern der Stil auch den Inhalt, wie Wittgenstein nahe legen möchte. Der Stil verleiht dem Werk nämlich einen bestimmten Charakter, einen Ausdruck. Goodman schreibt, „was ein Werk ausdrückt, ist häufig ein wichtiger Bestandteil seines Stils. Die Unterschiede zwischen sardonischer, sentimentaler, wilder und sinnlicher Schreibweise sind stilistische“758. Stile kann man charakterisieren, etwa als „dynamisch“, „zart“, „verspielt“ oder „energisch“ etc. Zwei stilistisch unterschiedliche Zeichnungen desselben Objekts drücken etwas anderes aus. Sie stellen zwar dasselbe dar, geben aber etwas anderes zu verstehen. Kunst ist in dieser Hinsicht wie unsere Sprache: Mit ein und derselben sprachlichen Äußerung kann man, je nach Intonation, Mimik, Gestik und Kontext, Verschiedenes zu verstehen geben. Das Wie bestimmt das Was. Der Stil eines Künstlers ist nicht einfach dasjenige, wodurch sich seine Werke von denen anderer Künstler unterscheiden. Es gibt Erkennungsmerkmale, die keine stilistischen Merkmale sind. Meskin unterscheidet in Anlehnung an Goodman zwischen Signatur und Stil: „It is useful then to distinguish style from ‚signature’, where the latter concept picks out the features of a work of art that are most useful for establishing provenance“759. Die auf einem Bild zu findende Unterschrift des Malers oder die 755

Man könnte einwenden, dass auch hier das Wie den Stil ausmacht, nicht das Was: Das Persönliche zu betonen, muss nicht heißen, über etwas anderes zu schreiben, sondern kann bedeuten, anders über dasselbe zu schreiben, nämlich über das Leben eines Menschen: „Verschiedene Dinge zu sagen – das kann heißen, auf verschiedene Weise über etwas Umfassenderes zu reden“ (Goodman, Status des Stils, 41). 756 Goodman, Der Status des Stils, 40. 757 Goodman, Der Status des Stils, 46. 758 Goodman, Der Status des Stils, 45. 759 Meskin, Style, 490.

237 chemischen Eigenschaften der Pigmente sind Signaturen, also Erkennungsmerkmale, jedoch keine Stilmerkmale. Es könnte auch sein, dass sich die Romane eines Literaten von den Werken anderer Autoren dadurch unterscheiden, dass seine Sätze überdurchschnittlich oft mit einem Konsonanten beginnen.760 Solche Merkmale prägen jedoch nicht die Art, wie wir ein Werk wahrnehmen und erleben. Stil aber ist etwas, das wir gestalthaft erleben, ähnlich wie den traurigen Ausdruck eines Gesichts.761 Der Stil ist charakteristisch für ein Werk, indem er den Charakter eines Werks prägt. Oft ist es schwierig, die Merkmale zu benennen, auf denen ein bestimmter stilistischer Gesamteindruck basiert. Wir hören, das muss Mozart sein, wissen aber nicht, woran wir es erkennen. Goodman schreibt: [N]ormalerweise lernen wir einen Stil zu erfassen, ohne dass wir ihn in seine Merkmalsbestandteile zerlegen könnten […] Ein offenkundiger, an einem äußerlichen Schnörkel leicht zu identifizierender Stil wird mit Recht als bloße Manieriertheit verurteilt. Ein komplexer und subtiler Stil widersetzt sich ebenso wie eine präzise Metapher der Reduktion auf eine buchstäbliche Formulierung.762

Nach diesen an Goodman orientierten, einführenden Überlegungen zum Stil möchte ich nun Wittgensteins Stilbegriff näher betrachten. Wenn Wittgenstein von „Stil“ spricht, dann verwendet er in der Regel einen normativen Stilbegriff. In wahrem Stil tue sich – ganz im Sinne der Romantik – etwas Eigenes kund. Steinbrenner zufolge ist Wittgenstein ein „Anhänger der romantischen Stilauffassung, die gerade in dem durch den Stil zum Ausdruck gebrachten Subjektiven die besondere Leistung des Stils erkennt.“763 Stil ist nach Wittgenstein immer Ausdruck eines Geistes – des Zeitgeistes oder des Geistes einer Person, ihrer Persönlichkeit. Geistlose Kunst könne also nicht stilvoll sein. Er schreibt 1930, man könne in der Film- und Automobilgeschichte zwar eine technische Verbesserung erkennen, jedoch keine „Verbesserung – wenn man das so nennen darf – des Kunststils […] Das was alle diese Entwicklung von dem Werden eines Stils unterscheidet, ist die Unbeteiligung des Geistes.“764 In einem Stil, der den Namen verdient, tut sich etwas Eigenes kund. Ob Schreibstil, Musikstil oder gar Lebensstil: Wer sich selbst verkennt, wird 760

Vgl. Goodman, Der Status des Stils, 53. Vgl. Scruton, Beauty, 91. 762 Goodman, Der Status des Stils, 51 und 57. 763 Steinbrenner, Kognitivismus in der Ästhetik, 191. 764 VB, 454. 761

238 Wittgenstein zufolge nicht in der Lage sein, einen eigenen Stil zu entwickeln. Was er produziert, wird eine Collage dessen sein, was er sich von anderen abgeschaut hat, bloße Manier, etwas rein Äußerliches, ohne einheitlichen Charakter, ohne „Physiognomie des Geistes“765, wie Schopenhauer schreibt. Man wird in dem Stil nicht den Menschen erkennen und Echtes von Unechtem nicht trennen können: Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht Echtes von Falschem unterscheiden kann. So mag die Unechtheit des Stils Mahlers zu erklären sein und in der gleichen Gefahr bin ich. Wenn man vor sich selber schauspielert, so muß der Stil davon der Ausdruck sein. Er kann dann nicht der Eigene sein. Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug. Wer in sich selbst nicht hinuntersteigen will, weil es zu schmerzhaft ist, bleibt natürlich auch mit dem Schreiben an der Oberfläche. (Wer nur das Nächstbeste will, kann doch nur das Surrogat des Guten erreichen.)766

Wittgenstein ist mit Buffon, einem französischen Naturforscher des 18. Jahrhunderts, der Ansicht, dass der Mensch sich in seinem Stil spiegelt. Er vertritt also eine physiognomische Theorie des Stils. Bei Werken mit Stil ist die Charakterisierung des Stils zugleich eine Charakterisierung des Künstlers. Gewisse Beschreibungen, die auf den Stil des Künstlers zutreffen, treffen auch auf den Künstler selbst zu. Man denke an Prädikate wie „einfühlsam“, „schlicht“, „verspielt“, „streng“, „düster“, „melancholisch“ etc. Der Stil ist nach Wittgenstein das Bild des Menschen: „Le style c’est l’homme“, „Le style c’est l’homme même”. Der erste Ausdruck hat eine epigrammatische Kürze. Der zweite, richtige, eröffnet eine ganz andere Perspektive. Er sagt, dass der Stil das Bild des Menschen sei.767

765

Schopenhauer, Über Schriftstellerei und Stil, § 282. MS 120, 72v-73r. In dieser Passage geht es Wittgenstein nicht nur um Authentizität, sondern um Selbsterforschung und Selbsterkenntnis. Es ist allerdings fraglich, ob nur Menschen, die sich in einer reflexiven Weise selbst erforschen, zu künstlerischer Größe in der Lage sind. Es gibt schließlich den Typus des naiven Künstlers, der sich selbst ist, ohne sich selbst erforscht zu haben. 767 VB, 561. 766

239 Das Wort „Stil“ leitet sich etymologisch von dem lateinischen Wort „stilus“ her, der Bezeichnung für ein spitzes Schreibwerkzeug. Tatsächlich verändert sich der graphische Stil, wenn man einen anderen Stift zur Hand nimmt – anderer stilus, anderer Stil. Mit Tinte schreibt man anders als mit einem Kugelschreiber, mit einem Pinsel anders als mit einem Bleistift. Der Stift hinterlässt eine Spur in der Schrift, er prägt den Schriftstil. Aber nicht nur der Stift, sondern auch der Mensch hinterlässt eine Spur in der Schrift. Die Schriftarten von Menschen sind unterschiedlich, auch wenn sie mit demselben Stift schreiben. Der eine ist Linkshänder, der andere zittert, der dritte schreibt schnell, der vierte dagegen voller Sorgfalt. Im graphischen Schriftstil kann sich zeigen, ob der Schreiber Links- oder Rechtshänder ist. Kann sich aber auch zeigen, ob er nachdenklich, ängstlich, engstirnig oder selbstsicher ist? Wie kann sich im Stil eines Menschen seine Persönlichkeit, sein Charakter zeigen? Im Rahmen einer physiognomischen Theorie des Stils sollte man unterscheiden zwischen einem Anfänger, dessen Werke technisches Unvermögen und ungewollte Zufälligkeiten erkennen lassen, und einem Könner, der geübt ist, die künstlerischen Techniken verinnerlicht und sein Werkzeug im Griff hat. Stil ist etwas, das man sich aneignen und erarbeiten muss. Hat man seinen eigenen Stil noch nicht gefunden, dann verrät das Werk dem Betrachter lediglich, dass es von einem Anfänger stammt. Über die Persönlichkeit, den Charakter und die Ideale des Anfängers erfährt man dagegen nichts. Hat ein Künstler aber seinen Stil gefunden, einen Stil, mit dem er sich identifizieren kann, dann verrät der Stil auch etwas über den Künstler – sofern dieser sich nicht für etwas hält, das er nicht ist. Eine Charakterisierung des Stils ist dann zugleich eine Charakterisierung des Künstlers. Stilmerkmale wie „verspielt“, „schlicht“, „energisch“ oder „zart“ sind zugleich Persönlichkeitsmerkmale. Sich im eigenen Stil wiederzuerkennen, heißt, sich in ihm zu erkennen geben.768 Danto schreibt: „Wenn der Stil der Mensch ist, ist die Größe des Stils die Größe der Person“769. Wittgenstein zieht tatsächlich eine vergleichbare Konklusion, wenn er schreibt, dass „die Größe dessen, was Einer schreibt, von allem Übrigen abhängt, was er schreibt und tut“770. Er vertritt also die 768

Die Frage, ob ein Stil echt ist oder nicht, ist so schwierig zu beantworten, wie die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten einer Person echt ist oder nicht. Wittgenstein zufolge handelt es sich dabei oft um eine Frage von „unwägbarer Evidenz“. Vgl. Kapitel 5.9. 769 Danto, Verklärung des Gewöhnlichen, 314. 770 VB, 542.

240 gewagte Ansicht, ein Werk sei immer nur so viel Wert, wie die Person, deren Werk es ist. In dieser radikalen Auffassung ist Wittgenstein sicherlich von Karl Kraus beeinflusst worden, einem Autor, den Wittgenstein zeitlebens bewunderte. Von Kraus stammt denn auch der prägnante Satz: „Ein Gedicht ist solange gut, bis man weiß, von wem es ist.“771 Janik und Toulmin schreiben über Kraus: „Die Defekte im Denken, wie im Charakter eines Menschen spiegeln sich, nach Kraus’ Überzeugung, in seinem Sprachgebrauch und in der Struktur seiner Sätze wider. Im guten wie im schlechten Sinn galt für Kraus: le style, c’est l’homme même.“772 Nach McGuinness hatte Wittgenstein „sein Leben lang die gleiche Gewohnheit wie Kraus, das ganze sittliche Wesen einer Person aus einem einzigen unbedachten Satz abzulesen“773. Der Stil gleicht einem unwillkürlichen Verhalten einer Person, durch das sie zu erkennen gibt, wie sie wirklich ist, einem Verhalten, in dem sich ihre Persönlichkeit manifestiert.774 Dieses Unwillkürliche, oft Unabänderliche des Stils hebt Wittgenstein hervor, wenn er schreibt: „Du mußt die Fehler deines eigenen Stiles hinnehmen. Beinahe wie die Unschönheiten des eigenen Gesichts.“775 Das eigene Gesicht hat man nicht gewählt. Auch den eigenen Stil wählt man nicht. Man kann ihn wohl suchen, finden und ausbilden, jedoch nicht wählen. Für den eigenen Stil kann man sowenig wie für den eigenen Charakter. Stil ist Wittgenstein zufolge der „Ausdruck einer allgemein menschlichen Notwendigkeit. Das gilt vom Schreibstil wie vom Baustil (und jedem anderen).“776 771

Kraus, Werke III, 332. Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 84. Vgl. Ebd, 116: „Wie kein anderer Schriftsteller glaubte Kraus, dass sich an jeder Aussage eine unausgesprochene sittliche Dimension zeige, etwas, das auf eine Art ‚prästabilierter Harmonie’ zwischen Sprache und Moral hinweise.“ Auch Arnold Schönberg war ein Anhänger jener physiognomischen Theorie des Stils: „Stil ist die Eigenschaft eines Werkes und beruht auf natürlichen Bedingungen, die den ausdrücken, der ihn hervorbrachte“ (Stil und Gedanke, 32). 773 McGuinness, Wittgensteins frühe Jahre, 74. Auch Kraus sah, ähnlich wie Wittgenstein, in der Authentizität ein Ideal menschlichen Handelns und Schaffens: „Geistige Unabhängigkeit, Wahrhaftigkeit, Echtheit – sie formen jenen Begriff der Integrität, den Kraus als selten gewordenes Kennzeichen des ethisch und künstlerisch Wertvollen ansah.“ (Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 101). 774 Danto schreibt: „Stil ist die Art und Weise, wie der Mensch unter Absehung von allem Erlernten und Erworbenen ist“ (VdG, 305). Stilistische Eigenschaften müßten „unmittelbar und spontan ausgedrückt werden“ (ebd., 313). 775 VB 557. 776 MS 183, 28. 772

241 Ein wichtiger Aspekt dessen, was wir „Stil“ meinen, zeigt sich in dem, was wir als „stillos“ bezeichnen. Das Stillose wirkt uneinheitlich und beliebig. Wir erkennen keinen einheitlichen ästhetischen Charakter. Wir sehen kein inneres Prinzip, das zur Entfaltung kommt. Dagegen hat etwas Stil, wenn es den Eindruck macht, als sei es gleichsam von innen heraus entstanden und nicht bloß von außen zugeschnitten, als sei es die Manifestation einer inneren Notwendigkeit. Stilistische Merkmale machen nicht den Eindruck als seien sie zufällig da, sondern scheinen wesentlich zur Sache zu gehören. Im Stil scheint sich etwas zu entfalten. Man sieht, mit Schiller gesprochen, eine „innere Notwendigkeit der Form“777. Für Wittgenstein leistet die Kategorie des Stils, was für andere Ästhetiker der Begriff des Ausdrucks leistet: Sie stellt eine Verbindung her zwischen Künstler und Werk. Der traurige Ausdruck eines Musikstücks verdankt sich nach Wittgenstein nicht der Tatsache, dass der Komponist traurig war, als er es komponierte. Die Ausdrucksqualitäten des Werks sind losgelöst von den Emotionen des Künstlers. Ein Komponist schreibt fröhliche, ernste und traurige Passagen, ohne selbst Stimmungsschwankungen durchlaufen zu müssen. Was diese unterschiedlichen Passagen allerdings miteinander und mit dem Komponisten verbindet, ist ihr einheitlicher Stil. Jenefer Robinson schreibt dazu: [S]tyle is essentially a way of doing something and […] it is expressive of personality. If a writer has an individual style, then the way she writes has a certain consistency: the same traits of mind, character and personality are expressed throughout her work […] Only those properties which are „standing“ or long-term properties can be considered stylistic. Thus stylistic qualities are likely to be qualities of mind, moral qualities and deep-seated character traits, rather than mood or emotional qualities such as „angry,“ „joyful,“ and „afraid.“ In the same way, we do not treat every angry, joyful or fearful action performed in real life as an expression of basic character or

777

Friedrich Schiller vertritt in Kallias oder über das Schöne die Ansicht, Schön sei, „was sich selber die Regel gibt“ (37) – oder zumindest so wirke, also ungezwungen und frei. In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer „innere[n] Notwendigkeit der Form“ (43). Hierzu passt Wittgensteins Bemerkung: „Die Schönheit einer Sternfigur – eines Sechseck-Sterns etwa – wird beeinträchtigt, wenn man sie symmetrisch bezüglich einer bestimmten Achse sieht“ (MS 137, 34b). Eine Symmetrieachse oder ein Raster, werden sie auch nur vorgestellt, rauben einer Figur ihre Schönheit. Die Figur sieht nun aus, als füge sie sich dem Raster und sei dadurch der Möglichkeit der Selbstentfaltung, ihrer Freiheit beraubt.

242 personality; it is only when someone consistently acts in a choleric or a cheerful way, that we infer to her essentially choleric or cheerful nature.778

Ein Werk kann stilistisch einheitlich sein, auch wenn seine Teile einen unterschiedlichen Ausdruck haben. Ein Musikstück kann fröhliche, traurige, drohende und liebliche Passagen enthalten, und trotzdem in einem einheitlichen Stil komponiert sein. Zwei Gemälde können Unterschiedliches ausdrücken, aber im selben Stil gemalt sein – etwa wenn sie vom selben Maler stammen. Ein weich und zart gezeichnetes Bild einer Landschaft drückt etwas anderes aus als eine weich und zart gezeichnete Kriegsszene. Kendall Walton weist auch darauf hin, dass ein und derselbe Stil in unterschiedlichen kulturellen Kontexten Verschiedenes ausdrücken könne: [S]tyle identity is tied up with the features, rather than with the apparent artist. If features which in some works suggest bold artists, suggest timid artists in works of a later period, we don’t have to say that the works are in different styles; rather the same style which was bold in one context is timid in the other.779

Wenn Wittgenstein schreibt, man könne „einen alten Stil gleichsam in einer neueren Sprache wiedergeben, ihn sozusagen neu aufführen in einem Tempo, das unsrer Zeit gemäß ist“780, dann meint er mit dem Wort „Stil“ weniger den Stil als den ästhetischen Charakter und Ausdruck eines Werkes, den Geist und die Ideale, die es verkörpert. Tatsächlich muss man in neuen Zeiten oft zu neuen Ausdrucksmitteln greifen, um das Alte ausdrücken zu können. Man muss den Stil ändern, um mit ihm weiter das Alte ausdrücken zu können. In wahrem Stil zeigt sich Wittgenstein zufolge nicht nur die Persönlichkeit des Gestalters, sondern immer auch der Geist einer Epoche. Was in einer Epoche möglich ist, ist in einer anderen undenkbar. Die stilistischen Möglichkeiten eines Künstlers sind eingeschränkt durch den Stil der Kultur und der Epoche, in der er lebt. Werke, die in derselben Epoche entstanden sind, teilen in der Regel bestimmte stilistische Merkmale. In ihnen drücken 778

Robinson, Style and Personality in the Literary Work, 232. In manchen Fällen verleiht ein Künstler nur bestimmten Aspekten seiner Persönlichkeit Ausdruck, gewissen Charakterzügen, die in seinen übrigen Tätigkeiten nicht oder kaum zur Geltung kommen, wie Meskin schreibt: „perhaps some authors express aspects of their personalities in writing that they do not express in other contexts“ (Meskin, Style, 498). 779 Walton, Style and the Products and Processes of Art, 60. 780 VB, 535.

243 sich die Ideale einer Zeit aus, gewisse „Maximen des guten und rechten“, wie Wittgenstein schreibt: Die Musik aller Zeiten entspricht immer gewissen Maximen des guten und rechten der selben Zeit. So erkennen wir in Brahms die Grundsätze Kellers etc etc.781 „That was written before Wagner“. The interest of this statement would lie in the fact that on the whole such statements are true when I make them. One can actually judge when a piece of poetry was written by hearing it, by the style.782 Ich glaube, um einen Dichter zu genießen, dazu muß man auch die Kultur, zu der er gehört, gern haben. Ist die einem gleichgültig oder zuwider, so erkaltet die Bewunderung.783

Der österreichische Architekt Adolf Loos, der mit Wittgenstein eine Zeit lang in Kontakt stand und über ihn gesagt haben soll „Er ist ich!“, meinte einmal: Wenn von einem ausgestorbenen volke nichts anderes als ein knopf übrig bliebe, so ist es mir möglich, aus der form dieses knopfes auf die kleidung und die gebräuche dieses volkes, auf seine sitten und seine religion, auf seine kunst und geistigkeit zu schließen.784

Der Stil ist – mit Hegel gesprochen – immer auch eine „Entäußerung“ des Zeitgeistes. In ihm verkörpern sich die Vorstellungen und Werte einer Zeit, das Lebensgefühl einer Generation.785 Jeder Künstler stehe, so Wittgenstein, zwar in einer Tradition und sei von anderen beeinflusst, doch worauf es ankäme, sei das Eigene, dasjenige, worin sich die Persönlichkeit des Künstlers mitteilt: Jeder Künstler ist von Andern beeinflußt worden und zeigt die Spuren dieser Beeinflussung in seinen Werken; aber was er uns bedeutet, ist doch nur seine Persönlichkeit. Was vom Andern stammt können nur Eierschalen 781

MS 183, 59. LA, 32. 783 VB, 570. 784 Gombrich, Style, 358. 785 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, 225: „Im Wie der Malweise können unvergleichlich viel tiefere, auch gesellschaftlich relevantere Erfahrungen sich niederschlagen als in teuren Portraits von Generälen und Revolutionshelden.“ 782

244 sein. Daß sie da sind, mögen wir mit Nachsicht behandeln, aber unsere geistige Nahrung werden sie nicht sein.786

Schulte zufolge hängt nicht nur der Wert eines Werks, sondern auch seine Verständlichkeit davon ab, dass sich „in der Faktur die Persönlichkeit des Schöpfers spiegelt“.787 Wie bei der Sprache gilt also: Was mit einer Äußerung gemeint ist, hängt davon ab, wer die Äußerung gemacht hat, und in welchem Kontext. Wittgensteins Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Person und Werk kulminieren in dem bereits zitierten Gedanken, dass „die Größe dessen, was Einer schreibt, von allem Übrigen abhängt, was er schreibt und tut“788. In einem Werk kondensiert sich in gewisser Weise das ganze Leben des Gestalters. Jemand, der unaufrichtig, eitel und feige ist, wird nach Wittgenstein nichts schaffen, das von Wert ist. Die Eitelkeit und Feigheit wird dem Werk anzusehen sein. Ein Werk zu charakterisieren heißt, den Charakter des Schöpfers zu beschreiben. Der wahre Stil Wittgenstein zufolge in zweifachem Sinne charakteristisch: Er prägt den Charakter eines Werks und manifestiert den Charakter des Künstlers. 8.4 Was die Kunst uns lehrt Nach Wittgenstein ist die Kunst nicht nur in der Lage, uns zu erfreuen, sondern auch, uns etwas zu lehren. In einem Notizbuch hält er im Jahre 1939 fest: Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Dass diese sie etwas zu lehren haben; kommt ihnen nicht in den Sinn.789

Wittgenstein schreibt zwar nicht explizit, dass es eine Aufgabe der Kunst sei, uns etwas zu lehren, sondern nur, dass die Kunst das Potential dazu hat. Die Stelle legt aber zumindest nahe, dass der Wert eines Kunstwerks höher ist, wenn dieses uns nicht nur erfreut, sondern uns auch etwas lehrt. Was aber lehrt uns die Kunst? 786

VB, 482. Schulte, Stilfragen, 71. 788 VB, 542. 789 VB, 501. 787

245 Die Kunst präsentiert uns neue Sichtweisen. Sie zeigt uns vertraute Dinge in einem neuen Licht. Proust vergleicht den Künstler deshalb mit einem „Augenarzt“: Die Behandlung durch ihre [die Künstler] Malerei, ihre Prosa ist nicht immer angenehm. Wenn sie beendet ist, sagt der, der sie ausgeführt hat, zu uns: Jetzt sehen sie einmal! Und nun kommt uns die Welt […] ganz anders vor als die frühere, jedoch überzeugend und klar. Frauen gehen die Strasse entlang, die völlig anders aussehen als die von ehedem, weil sie Renoirs sind […] Auch die Wagen sind Renoirs, das Wasser und der Himmel […].790

Ein Kunstwerk „veräußerlicht eine Weise, die Welt zu sehen“791, wie Danto schreibt. Ähnlich wie Metaphern, laden uns Kunstwerke zu ungewohnten Vergleichen und neuen Sichtweisen ein.792 Wenn die Kunst uns „Sichtweisen präsentiert“, so muss das aber nicht heißen, dass sie uns dazu bringt, die Welt im wörtlichen Sinn anders wahrzunehmen. Nach einem Museumsbesuch sieht die Welt nicht plötzlich aus wie ein Gemälde von Monet oder van Gogh. Aber manche Gegenden wirken auf einmal „malerisch“. Wir sehen da und dort Ähnlichkeiten. Oder wir erkennen eine Stimmung, ein Gefühl wieder, etwa wenn wir eine alltägliche Situation als „kafkaesk“ erleben. Kunst macht uns oft mit neuen Deutungen vertraut, die uns das Altbekannte zwar nicht anders sehen, aber anders erleben lassen. So wie sich das Bild, das man von einer vertrauten Person hat – die Art, wie man ihr Verhalten deutet und einschätzt –, ändern kann, ohne dass man etwas neues über die Person erfahren hat, so kann sich das Bild eines vertrauten Bereiches der Welt, etwa unser Menschenbild, unsere Auffassung der Liebe oder unsere Einschätzung des Todes, durch die Kunst ändern. Die Kunst liefert uns gleichsam eine neue Metapher für etwas Altbekanntes, überträgt ein vertrautes Deutungsschema auf einen anderen Bereich 790

Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Welt der Guermantes, 435. Danto, Verklärung des Gewöhnlichen, 315. Für Franz Koppe muss es sich dabei um eine „Darstellung existenzieller Sichtweisen“ handeln (Kunst als entäußerte Weise, die Welt zu sehen, 97). 792 Da Kunstwerke ähnlich wie Metaphern funktionieren, können sie Danto zufolge auch nicht paraphrasiert werden. Was ein Kunstwerk vermittelt, kann nicht in Worten wiedergegeben werden. Kunstwerke übertragen keine Gedanken, sondern laden uns zu neuen Sicht- und Erlebnisweisen ein, wie Metaphern. (Danto, Verklärung des Gewöhnlichen, 264). Mit Davidsons Worten: „Words are the wrong currency to exchange for a picture“ (What Metaphors Mean, 47). 791

246 und erzwingt so „eine Neuorganisation eines alten Gebiets“793, eine „Reorganisation unserer vertrauten Welt“794. Dies geschieht etwa, wenn Shakespeare schreibt: „All the world’s a stage“. Plötzlich erleben wir, wie oft jeder von uns eine Rolle spielt, ein Schauspieler seiner selbst ist. Figuren der Kunstwelt – wie wir sie aus Romanen, Filmen oder Bildern kennen – prägen sich uns als neue Muster ein, als Vergleichsobjekte. Danach sehen wir die wirklichen Menschen als Variationen literarischer Figuren. So schreibt Berys Gaut: „having read Dickens, we can recognize the Micawbers of the world“795. Gute Kunst macht die Welt zu ihrem Abbild, nicht umgekehrt: „Life imitates Art far more than Art imitates Life“, wie Oscar Wilde schreibt. Romane und Filme bringen auch Aspekte unseres eigenen Lebens, unserer eigenen Persönlichkeit zum Vorschein, die bis anhin unbemerkt geblieben sind. Indem wir uns – beim Lesen eines Buchs oder beim Sehen eines Films – in fiktive Figuren hineinversetzen, lernen wir, wie wir selbst handelt würden, wenn wir in der entsprechenden Situation wären.796 Das imaginative Spiel mit Möglichkeiten bringt Aspekte von uns zum Vorschein, die wir bislang nicht kannten. So gleicht ein gutes Buch, wie Lichtenberg schreibt, einem „Spiegel“, in dem wir uns selbst erforschen können.797 Wir sehen: Die Hölle, das sind die anderen – und Hans Castorp, das sind wir selbst. Künstler machen uns Wittgenstein zufolge mit neuen Paradigmen des Verstehens vertraut. Sie sind keine Entdecker, sondern Erfinder. Sie entdecken nicht das Wesentliche, sondern bringen uns dazu, etwas als wesentlich anzusehen: „Der Künstler sieht das Wesentliche? Er lehrt uns das Wesentliche sehen? – Er stellt etwas als das Wesen hin. Er bringt uns dahin, nun das als wesentlich anzuerkennen.“798 Künstler geben uns etwas an die Hand, womit wir die Welt und uns selbst vergleichen können. Ein solches mustergültiges Vergleichsobjekt ermöglicht uns, die Welt als Variation dieses Musters wahrzunehmen, zu erleben und zu verstehen. Die Kunst erhellt die Phänomene der Welt, indem sie eine eigene Welt erschafft, die – obwohl unwirklich – gewisse Züge mit der wirklichen Welt teilt, diese Zü793

Steinbrenner, Kognitivismus in der Ästhetik, 73. Goodman, Weisen der Welterzeugung, 129; Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, 223. Vgl. 239. 795 Gaut, The Ethical Criticism of Art, 596. 796 Vgl. Gaut, Art and Cognition, 117. 797 Die berühmte Stelle lautet: „Ein Buch ist ein Spiegel, aus dem kein Apostel herausgucken kann, wenn ein Affe hineinguckt“ (Sudelbücher, Heft E, 215). 798 MS, 162b, 48v. 794

247 ge dadurch hervorhebt und im Betrachter einen Aspektwechsel herbeiführt. Berys Gaut zufolge besteht darin der kognitive Wert von Literatur: „The mechanism of seeing-as here, as elsewhere in aesthetics, is crucial: it allows us to apply the imaginative world of the fiction to the real world, and thereby to discover truths about the world“799. Auch nicht-räpresentationale Kunstformen sind in der Lage, Aspekte unserer Welt hervorzuheben und uns neue Erlebnisweisen aufzuzeigen. James Young schreibt: „listening to the music of the nineteenth century, one can gain insight into what it was like to adopt a romantic perspective on life“800. Wittgenstein zufolge zeigt uns die Kunst nicht nur neue Aspekte der Welt, sondern sie macht uns auch darauf aufmerksam, dass die Welt anders aussieht, wenn wir sie anders ansehen, dass unser Blick es ist, unsere Einstellung, die den Dingen Wichtigkeit und Wert verleiht: Alles ist so ernst wie man es nimmt. Und alles ist so wichtig wie man es auffasst. (Das ist das Geheimnis aller Kunst.) Der menschliche Blick hat es an sich, dass er die Dinge kostbar machen kann […]801

In Wittgensteins Tagebucheinträgen von 1916 lesen wir: „Als Ding unter Dingen ist jedes Ding gleich unbedeutend, als Welt jedes gleich bedeutend.“802 Durch die ästhetische Kontemplation eines beliebigen Gegenstandes wird dieser, wenn auch nur für wenige Augenblicke, zur Welt des Betrachters. Der Betrachter geht ganz in der Betrachtung des Objekts auf, hat allein dieses präsent und vergisst die Welt um ihn herum. Seine Welt schrumpft auf diesen einen Gegenstand zusammen. Wittgenstein beschreibt sein eigenes ästhetisches Erlebnis bei der Betrachtung eines Ofens: „Habe ich […] den Ofen kontempliert, so war er meine Welt, und alles andere dagegen blass.“803 Die Kunst zwinge uns zur richtigen Perspektive, meint Wittgenstein. Stellen wir uns vor, wir sitzen im Theater, der Vorhang öffnet sich und wir sehen „einen Menschen allein in seinem Zimmer auf und ab gehen, sich eine Zigarette anzünden, sich niedersetzen“804. Eigentlich eine alltägliche Szene, nur erscheint sie uns, weil wir im Theater sitzen, als tiefsinnig und 799

Gaut, Art and Cognition, 123. Young, The Cognitive Value of Music, 52. 801 MS 106, 247. 802 Tb, 178. 803 Tb, 179. Vgl. MS 146, 36, wo Wittgenstein das kontemplative ästhetische Erlebnis als „übermächtig“ beschreibt. 804 VB, 456. 800

248 wunderbar. Das Theater zwingt uns zu einer Sichtweise, in der wir selbst in den alltäglichsten Dingen eine existenzielle Bedeutsamkeit erahnen. Durch die Kunst, so Wittgenstein, sehen wir das „Leben als ein Kunstwerk Gottes, und als das ist es allerdings betrachtenswert, jedes Leben und Alles. Doch kann nur der Künstler das Einzelne so darstellen, dass es uns als Kunstwerk erscheint […] Das Kunstwerk zwingt uns sozusagen zu der richtigen Perspektive, ohne die Kunst aber ist der Gegenstand ein Stück Natur, wie jedes andre.“805 In seiner Frühphilosophie vertritt Wittgenstein die Auffassung, die Kunst lehre uns, die Welt mit glücklichen Augen zu sehen. So fragt er sich: „Ist das das Wesen der künstlerischen Betrachtungsweise, daß sie die Welt mit glücklichen Augen betrachtet? Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“806 Darin liege der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik, zwischen der Schönheit und einem guten Leben.807 Unter einem guten Leben versteht Wittgenstein nämlich ein glückliches Leben: „Immer wieder komme ich darauf zurück, dass einfach das glückliche Leben gut, das unglückliche schlecht ist.“808 Die Kunst zeige uns, wie wir die Welt mit glücklichen Augen als eine „glückliche Welt“ sehen können. Damit weist sie uns den Weg zu einem gelingenden Leben.809 Gut zu leben heißt für den frühen Wittgenstein, die Welt gleichsam als Kunstwerk Gottes zu sehen, in einer ästhetischen Sichtweise, mit einem „interesselosen Wohlgefallen“, um mit Kant zu reden. Wittgenstein beschreibt die ästhetische Sichtweise, in Anlehnung an Spinoza und Schopenhauer, als eine Perspektive „sub specie aeternitatis“, was soviel heißt wie „aus dem Blickwinkel der Ewigkeit“. Mit dem Wort „Ewigkeit“ ist an 805

VB, 456. Tb, 181. 807 In dem Vortrag über Ethik kommt zum Ausdruck, dass Wittgenstein unter „Ethik“ nicht das versteht, was wir heute darunter verstehen. Ihm zufolge ist die Ethik „eine Untersuchung dessen, was Wert hat, bzw. dessen, was wirklich wichtig ist.“ (VüE, 10). Sie fragt nach „dem Sinn des Lebens“, und erforscht das, „was das Leben lebenswert“ macht, „die rechte Art zu leben“ und „das absolut Gute“ (VüE, 11; 19). Dass Wittgenstein bei dem Ausdruck „Ethik“ nicht an Pflichten gegenüber anderen denkt, belegt auch ein Tagebucheintrag von 1916: „Kann es eine Ethik geben, wenn es außer mir kein Lebewesen gibt? Wenn die Ethik etwas grundlegendes sein soll: ja!“ (Tb, 174). 808 Tb, 172. 809 Diese frühe Auffassung Wittgensteins erinnert an Nietzsche, der in der Geburt der Tragödie meint: „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ (KSA I, 47). Die Verbindung aber bleibt eine oberflächliche, auch deswegen, weil Wittgenstein es bei Andeutungen belässt. 806

249 dieser Stelle „nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit“810 gemeint. Bei der ästhetischen Kontemplation vergessen wir nicht nur unsere Sorgen und Interessen, unseren „Willen“, wie Wittgenstein in Anlehnung an Schopenhauer schreibt, sondern auch die Zeit: Wir leben in der Gegenwart und gehen im Erleben des Gegenwärtigen auf. Und „[n]ur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich“811, schreibt der frühe Wittgenstein. In der ästhetischen Kontemplation werden wir „gleichsam uns selbst los“812, wie Schopenhauer schreibt, und nehmen die unabänderlichen Dinge gelassen und stoisch hin: Wir können, so Wittgenstein, „auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichten“ und sind glücklich, „der Not der Welt zum Trotz“.813 Die Verbindung, die der frühe Wittgenstein zwischen dem Schönen und dem Guten sieht, ist also folgende: Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik.814

Was Wittgenstein mit dem Ausdruck „sub specie aeternitatis“ genau meint, bleibt leider unklar. Es scheint ihm dabei um ein mystisches „Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes“815 zu gehen. Dazu passt die Tagebuchnotiz: „Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So dass sie die ganze Welt als Hintergrund haben.“816 Der Gegenstand, gesehen vor dem Hintergrund der ganzen Welt. Dieser Gedanke ist nicht nur dunkel, sondern auch überraschend, denn mit Blick auf die ästhetische Kontemplation des Ofens schreibt Wittgenstein, der ästhetische Gegenstand werde zur ganzen Welt für den Betrachter – „und alles Andere dagegen blass“817. Wie diese beiden Stellen zusammenpassen, bleibt unklar. Und schließlich schreibt er: „(Es drängt sich der Gedanke auf): Das Ding sub specie aeternitatis gesehen ist das Ding mit dem ganzen logischen Raum gesehen.“818 Der Ausdruck „logischer Raum“ steht in enger Verbindung zum Tractatus. 810

Tb, 169. Tb, 169. 812 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 502. 813 Tb, 176. 814 Tb, 178. 815 TLP, 6.45. 816 Tb, 178. 817 Tb, 179. 818 Tb, 178. 811

250 Dort bestimmt der logische Raum die möglichen Sachverhalte, in denen ein Gegenstand vorkommen kann. Die Gesamtheit dessen, was möglich ist, ist der logische Raum. Wie dieser Gedanke auf die ästhetische Anschauung zu übertragen ist, bleibt ebenfalls unklar. Es gibt noch eine andere – jedoch wenig interessante – Hinsicht, in der Ethik und Ästhetik „Eins“ sind, wie Wittgenstein im Tractatus schreibt: Sowohl bei ethischen als auch bei ästhetischen Aussagen handelt es sich nicht um beschreibende, sondern um wertende Aussagen. Da aber nach Ansicht des frühen Wittgenstein in der Welt keine Werte vorkommen und die Sprache nur mögliche Tatsachen in der Welt beschreiben kann, seien wir gezwungen, über Ethik und Ästhetik zu schweigen.819 Diese Abbildtheorie der Sprache und die damit einhergehende Einengung des sinnvollen Sprachgebrauchs auf beschreibende Sätze hat Wittgenstein später kritisiert. Der frühe Wittgenstein ist der Ansicht, die Kunst zeige uns die Schönheit der Welt – und „das Schöne ist eben das, was glücklich macht.“820 Sein langjähriger Freund Paul Engelmann weist darauf hin, wie wichtig für Wittgenstein bei Kinobesuchen das Happy-End war. Nach Engelmann forderte Wittgenstein von einem Kunstwerk, dass es uns immer auch eine „Lösung“ präsentiert: Wittgenstein hat immer wieder die allgemeine Bedeutung des Happy-End betont. Nicht nur ein Film ohne ein solches schien ihm ein Missverständnis dieser von ihm sehr geschätzten Kunstform zu sein. Er meinte, es sei überhaupt das Wesen der Kunst, zu einem positiven Schluss zu führen. Der Film besonders erschien ihm als ein verkörperter Wunschtraum, der seinem eigentlichen Sinn gemäß nur mit der Erfüllung des Wunsches, der sich in diesem Traum manifestiere, enden könne […] Der eigentliche Kern dieser Anschauung aber scheint mir zu sein, dass Kunst nur sein kann, was in irgendeinem Sinn zu einer Lösung führt; das Kunstwerk ist gewissermaßen ein Exempel für eine solche Lösung.821

Der Ausdruck „Lösung“ evoziert in diesem Zusammenhang – zumindest auch – religiöse Assoziationen. Wittgenstein selbst zieht an manchen Stellen eine Verbindung zwischen Ästhetik und Religion. Mehr als Andeutungen gibt er uns jedoch auch hier nicht. So meint er etwa, „die Kunst zeige uns die Wunder der Natur. Sie basiert auf dem Begriff der Wunder der Natur. (Die sich öffnende Blüte. Was ist an ihr herrlich?) Man sagt: ‚Sieh, wie 819

TLP, 6.41-6.421. Tb, 181. 821 Somavilla, Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen 107. 820

251 sie sich öffnet!’“.822 Die mystisch-religiöse Dimension des Ausdrucks „Wunder“ wird klarer, wenn wir zwei weitere Passagen hinzunehmen. Die erste lautet: „Das künstlerische Wunder ist, daß es die Welt gibt“823. In dem Staunen über die Existenz der Welt sieht Wittgenstein ein Paradebeispiel eines mystisch-religiösen Erlebnisses. Im Tractatus schreibt er: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“824. Die zweite Passage, die in diesem Zusammenhang interessant ist, stammt aus einer späteren Zeit: „Das rein Körperliche kann unheimlich sein. Vergleiche die Art und Weise, wie man Engel und Teufel darstellt. Was man ‚Wunder’ nennt, muß damit zusammenhängen. Es muß sozusagen eine heilige Gebärde sein.“825 Und an einer anderen Stelle schreibt er: „A miracle is, as it were, a gesture which God makes“826. Gibt Wittgenstein hier zu verstehen, dass die Kunst uns die Welt als eine Fundgrube heiliger Gebärden zeigt und der ästhetische Blick gewisse Naturphänomene als Gesten Gottes sieht? Wittgenstein überlässt auch hier das Denken dem Leser. Manche Kunstwerke bergen „Geheimnisse“, wie Wittgenstein schreibt. Es gibt Kunstwerke, die leicht verständlich, und andere, die schwer verständlich sind. Wittgenstein zufolge kann ein Kunstwerk allerdings in einem schlechten und in einem guten Sinn „schwer verständlich“ sein. In einem schlechten Sinn „schwer verständlich“ sind Kunstwerke, die zwar komplex sind, aber keine Tiefe haben. Die Rätsel, die uns die Kunst stellt, sollten Wittgenstein zufolge keine kniffligen Denksportaufgaben sein, sondern Geheimnisse: „Im guten Sinne ‚schwer verständlich’ ist ein Künstler, wenn uns das Verständnis Geheimnisse offenbart, nicht, einen Trick, den wir nicht verstanden hatten“827. Auch das Wort „Geheimnis“ ist, ebenso wie das Wort „Wunder“, mit einem religiösen Nimbus umgeben. Wittgenstein zeigt mit der Wahl seines Vokabulars, dass ästhetische Erlebnisse oft etwas Spirituelles an sich haben. Man denke an den Anblick von Sonnenstrahlen, die eine Wolkendecke durchbrechen und den Gipfel eines Berges „erleuchten“. Wittgenstein sieht in der Ästhetik, ähnlich wie die Romantiker, auch eine Fortsetzung der Religion mit anderen Mitteln. Wittgenstein zufolge ist die Kunst in der Lage, sich mit grundlegenden Themen des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen und tiefe Einsich822

VB, 530. Tb, 181. 824 TLP, 6.44. 825 VB, 521. 826 VB, 513. 827 MS 183, 161. 823

252 ten zu vermitteln. So meint er, dass es „Probleme der abendländischen Gedankenwelt“ gäbe, an die er selbst zwar nicht herankomme, an die aber „Beethoven (und vielleicht teilweise Goethe) herangekommen ist, und mit denen er gerungen hat, die aber kein Philosoph je angegangen hat (vielleicht ist Nietzsche an ihnen vorbeigekommen)“.828 In einer Passage aus dem Jahr 1931 lesen wir: Beethoven ist ganz und gar Realist; ich meine, seine Musik ist ganz wahr, ich will sagen: er sieht das Leben ganz wie es ist und dann erhebt er es. Es ist ganz Religion und gar nicht religiöse Dichtung. Drum kann er in wirklichen Schmerzen trösten wenn die Andern versagen und man sich bei ihnen sagen muß: aber so ist es ja nicht. Er wiegt in keinen schönen Traum ein sondern erlöst die Welt dadurch daß er sie als Held sieht, wie sie ist.829

Beethovens Musik lässt uns spüren, wie es ist, die Welt mit den Augen eines Helden zu sehen, sich nicht abzukehren von dem Elend und dem Leid der Welt, sondern das Schreckliche und Ängstigende des Lebens mit Stärke und Erhabenheit hinzunehmen. Beethoven kann trösten, weil seine Musik uns ein Gefühl, eine Haltung vermittelt, die das Leben erträglich macht – eine Sicht auf die Welt, die das Leben „erhebt“ und die Welt in gewisser Weise von ihrem Leid „erlöst“. Wittgenstein zufolge veräußert Beethovens Musik eine erlösende Weise, die Welt zu sehen. Sie rettet uns vor dem „Irrtum“ des Lebens, um mit Nietzsche zu sprechen, und zeigt uns, wie wir glücklich werden können.830 Wittgensteins Vorstellung davon, was Kunst zu lehren habe, ist stark geprägt von den Ansichten seines Wiener Umfeldes, insbesondere durch Karl Kraus, für den Kunst wesentlich eine Schule unserer Vorstellungskraft und Einfühlungsfähigkeit ist. Janik und Toulmin schreiben in ihrem Buch Wittgensteins Wien:

828

VB, 462. MS 183, 72. 830 Nietzsche schreibt: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, § 33). Scruton schreibt dem Schönen gar eine religiös sinnstiftende und tröstende Wirkung zu: „Art and music shine a light of meaning on ordinary life. And through them we are able to confront things that trouble us and to find consolation and peace in their presence. This capacity of beauty to redeem our suffering is one reason why beauty can be seen as a substitute for religion“ (Why Beauty Matters, BBC Documentary (2009)). In Schuberts Winterreise sieht er eine töstende Erhebung menschlicher Verlusterfahrungen (Beauty. A Very Short Introduction, 108-109). 829

253 Der sittliche Wert der Kunst bestand für Kraus gerade nicht in der flachpädagogischen Gebärde des erhobenenen Zeigefingers, der auf eine laut explizierte moralische Norm hinwies. Sie wirkte vielmehr, indem sie die Grundlage jeder wahren Menschlichkeit: die Vorstellungskraft, die Phantasie, die Fähigkeit des inneren Miterlebens und –erleidens in einer unverzerrten Wahrnehmung der Natur und des Mitmenschen, zum Leben erweckte.831

Auf die moralisch sensibilisierende Funktion von Literatur, Theater und Film wurde von unterschiedlicher Seite hingewiesen. Aristoteles hat den Anstoß gegeben, indem er behauptete, das Empfinden von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) gegenüber fiktiven Figuren einer Tragödie habe eine seelisch „reinigende“, kathartische Wirkung.832 Friedrich Schiller zufolge ist es „die Schönheit, durch welche man zur Freiheit wandert“833. Und Martha Nussbaum meint: „In the war against moral obtuseness, the artist is our fellow fighter, frequently our guide“834. Oliver Scholz spricht von der „Verfeinerung der moralischen Phantasie“ und der „Differenzierung des moralischen Urteils“, zu der uns ein intensives Mitvollziehen narrativer Kunst verhelfen kann.835 Das Eintauchen in eine Geschichte ist immer auch eine Übung in der Kunst der Perspektivenübernahme und der Einfühlung in andere Menschen. Die Beschäftigung mit Literatur und Filmen ist eine Bildung des Herzens, eine éducation sentimentale. Sie vermittelt dem emotional involvierten Leser eine Art von „knowledge by aquaintance“, ein „knowing by vicarious living through“, wie Dorothy Walsh schreibt.836 Jenefer Robinson vertritt gar die These, dass erst eine emotionale Einfühlung in fiktive Charaktere das Verstehen und Interpretieren von Literatur ermöglicht.837 Auch Musik ist in der Lage, uns moralisch zu sensibilisieren. Bereits der Romantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder schreibt: „In der Spiegel der Töne lernt das menschliche Herz sich selber kennen“838. Roger Scruton zu831

Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 108. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b 26. Ich möchte mich hier auf keine Deutung dieser aristotelischen These festlegen. 833 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 11. 834 Nussbaum, „Finely Aware and Richly Responsible“: Moral Attention and the Moral Task of Literature, 528. 835 Scholz, Kognitivistische Ästhetik, 45. 836 Walsh, Literature and Knowledge, 129. 837 Vgl. Robinson, The Importance of Being Emotional. 838 Wackenroder, Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst, 128. 832

254 folge hilft uns die Musik, das Leben besser zu verstehen, da sich in ihr Aspekte unseres Lebens spiegeln, was sich darin zeigt, dass wir Musik mithilfe von Begriffen beschreiben, die sich in erster Linie auf Phänomene unseres Lebens beziehen: [T]he transfer of concepts of life and movement to music is not merely essential to our hearing of music, but also adds something to our understanding of life […] to understand the music trough the concept of life, but also life through its embodiment in music.839 Musical development can also involve a kind of moral development, and musical understanding can thereby lead us into a greater understanding of the human world which is intimated through it.840

Scruton schließt hier auf originelle Weise an eine lange Tradition an. Bereits bei Platon und Aristoteles lesen wir, dass Musik tief in unsere Seele dringe und unseren Charakter forme.841 Kunst lehrt, nicht indem sie ihre Ideale ausspricht, sondern indem sie diese vorzeigt – ähnlich wie ein Lehrer, der Werte dadurch lehrt, dass er sie vorlebt.842 Wittgenstein würde vielleicht nicht so weit gehen wie Kant, der meinte: „das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten“843. Sicher würde er aber mit Hume sagen: „We choose our favourite author as we do our friend“844. Ob es sich um einen Roman, um ein Bild, ein Musikstück, einen Film, ein Gebäude, ein Auto, ein Kleid oder um einen Lampenschirm handelt – immer gilt: Was uns gefällt, ist wie ein Mensch, den wir mögen: Der Roman ist vielseitig, das Bild wirkt leidenschaftlich, die Musik klingt melancholisch, der Film ist tiefsinnig, das Gebäude wirkt bescheiden, das Auto macht einen ernsten Eindruck, das Kleid sieht unbeschwert aus und der 839

Scruton, The Aesthetics of Music, 235. Scruton, Analytical Philosophy and the Meaning of Music, 175. 841 Platon, Politeia, 401b; Aristoteles, Politik, 1340a 20 f.. Platon zufolge sind in einem idealen Staat nur die Tonarten „dorisch“ und „phrygisch“ zugelassen, da nur diese tugendhafte Charakterzüge verkörpern, nämlich Tapferkeit und Besonnenheit (Politeia, 399a). Aristoteles ist der Ansicht, wir würden diejenige Musik bevorzugen, deren Charakter dem unseren am ähnlichsten sei: „es macht jedoch jedem das Freude, das seiner Natur eigen ist“ (Politik, 1342a 25). 842 Dewey verweist auf Garrod, der meinte, „Dichtung lehre, wie Freunde und das Leben lehren, durch das Sein und nicht durch ausdrückliche Absicht.“ (Kunst als Erfahrung, 399) 843 Kant, KdU, § 59. 844 Hume, Of the Standard of Taste, 111. 840

255 Lampenschirm wirkt irgendwie selbstironisch. Wenn wir uns fragen „Was mag ich an Chopins Musik?“, dann ist vielleicht die Antwort, die uns zufrieden stellt: „Ihre Nachdenklichkeit und Melancholie“. Und bei Mozart? „Die Verspieltheit und Leichtigkeit“. Auf die Frage „Was gefällt mir an diesem Gebäude?“ ist die Antwort, die uns zufrieden stellt nicht „seine Proportionen“, sondern „seine Standfestigkeit, das Unbehandelte des Steins, die Bescheidenheit seines Auftretens und die Weisheit, die es ausstrahlt“. Ein Gegenstand gefällt uns, weil er Charaktereigenschaften und Gemütszustände verkörpert, die wir an Menschen schätzen. Das ästhetisch Ansprechende ist manchmal ein Sinnbild eines Lebensideals, die Verdichtung eines Lebens, wie wir es uns wünschen – ein „Versprechen von Glück“, wie Stendhal schreibt. Hier sei daran erinnert, was Alain de Botton und Roger Scruton über die ästhetische Verkörperung von Lebensidealen schreiben. Unser Gefühl für Schönheit und unsere Vorstellung von einem guten Leben sind miteinander verwoben. In unseren Schlafzimmern suchen wir Andeutungen von Frieden, Metaphern für Großmut und Harmonie in unseren Sesseln und einen Hauch Ehrlichkeit und Freigiebigkeit in unseren Wasserhähnen. Eine Säule, die anmutig ihre Last trägt, kann uns tief berühren, aber auch ausgetretene Steinstufen, die Weisheit erahnen lassen, oder eine georgianische Haustür, deren Lünette ebenso Taktgefühl wie Verspieltheit beweist.845 Now there certainly seems to be an internal relation between aesthetic and moral judgment […] We admire works of art, as we admire men, for their intelligence, wisdom, sincerity, depth of feeling, compassion and realism.846 When you look at a costume, a piece of furniture, a building, or a domestic ornament, you spontaneously fit it into a way of life […]. You are presented with a crystallization of social mores, moral values, and religious aspirations, and your judgement of the object reflects your attitude to the social meaning that is revealed in it. (Compare a Bauhaus chair with a chair in the style of Louis XV.)847

Die Idee ästhetisch verkörperter Lebensideale erklärt auf elegante Weise, wie moralische und ästhetische Werte zusammenhängen – ein Zusammenhang, auf den Wittgenstein immer wieder hingewiesen hat. Wittgenstein 845

De Botton, Glück und Architektur, 99. Scruton, Art and Imagination, 245. 847 Scruton, A Bit of Help from Wittgenstein, 314. 846

256 vertritt nämlich eine Position, die Berys Gaut als „Ethicism“ bezeichnet: Gemeint ist die Ansicht, dass die moralische Bewertung von Lebensidealen, die in einem Kunstwerk ausgedrückt sind, ein legitimes Moment einer ästhetischen Einschätzung ist. Gaut schreibt: Ethicism is the thesis that the ethical assessment of attitudes manifested by works of art is a legitimate aspect of the aesthetic evaluation of those works, such that, if a work manifests ethically reprehensible attitudes, it is to that extent aesthetically defective, and if a work manifests ethically commendable attitudes, it is to that extent aesthetically meritorious. […] a work’s manifestations of ethically commendable attitudes is an aesthetic merit in it, since we have reason to adopt a prescribed response that is ethically commendable.848

Wenn die Kunst uns etwas lehrt, dann tut sie das nach Wittgenstein auf ähnliche Weise wie die Religion, über die er schreibt: „Es werden Lebensregeln in Bilder gekleidet“849. Janik und Toulmin meinen, die richtige Art zu leben, eine „Ethik“ im weiten Sinne, könne Wittgenstein zufolge „nicht durch Argumentation gelehrt, sondern in Beispielen moralischer Lebensführung gezeigt“850 werden. Darin liege, so die Autoren, „eine Aufgabe für die Kunst, exemplarisch erfüllt in Tolstois späten Erzählungen, die in Beispielen wahren religiösen Lebens zeigen, was Religion ist.“851 Reinhold Schmücker spricht von der „ethisch-explorativen Funktion“ von Kunst, „die uns Lebenshaltungen, Einstellungen und Sichtweisen gleichsam auf einer Bühne vor Augen führt und uns so die Möglichkeit bietet, sie hypothetisch zu erwägen“852. Neben dieser explorativen Funktion kann Kunst auch eine appellative Rolle spielen. Sie kann zu einem neuen Lebensstil auffordern. So ist für Rilke der steinerne Torso des Apollon ein in Stein gemeißelter Aufruf zu einer Veränderung des eigenen Lebens: „Du musst dein Leben ändern“.853 In einem berühmten Briefwechsel zwischen Engelmann und Wittgenstein geht es darum, wie Kunst in der Lage ist, ein unmöglich in Worte zu fassendes Lebensideal anschaulich zu machen, es nicht zu sagen, sondern zu 848

Gaut, The Ethical Criticism of Art, 589. Vgl. Carroll, Moderate Moralism. VB, 490-491. 850 Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 268. Vgl. WWK, 116: „Das Ethische kann man nicht lehren. Wenn ich einem anderen erst durch eine Theorie das Wesen des Ethischen erklären könnte, so hätte das Ethische keinen Wert.“ 851 Ebd. 852 Schmücker, Funktionen der Kunst, 29. 853 Vgl. Rilkes Gedicht Archaischer Torso Apollos. 849

257 zeigen. Engelmann hatte Wittgenstein ein Gedicht von Uhland geschickt, das die Geschichte eines Grafen Eberhard erzählt, der in jungen Jahren nach Israel pilgert, von dort einen Samen eines Weißdorn mit nach Hause nimmt, diesen einpflanzt und an seinem Lebensende unter dem Baum ruht, der aus dem Samen gewachsen ist. Engelmann schreibt in dem Brief: „Fast alle anderen Gedichte versuchen das Unaussprechliche auszusprechen; hier wird das nicht versucht und genau deswegen gelingt es“. Darauf antwortet Wittgenstein: „Das Uhlandsche Gedicht ist wirklich großartig. Und es ist so: Wenn man sich nicht bemüht das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!“854. Der Reiz, den das Gedicht und das darin gezeichnete Bild auf manche haben, lässt sich tatsächlich kaum in Worte fassen. Jeder Versuch, die „Moral der Geschicht’“ auf den Punkt zu bringen, ist zum Scheitern verurteilt. Das poetische Bild ist eine Metapher für das richtige Leben und spricht als solche für sich selbst, oder eben nicht. Es gibt keine Paraphrase, weder des Gedichts, noch der Metapher, noch des Bildes. Ebenso gibt es keine Paraphrase dessen, was uns eine Melodie ‚sagt’, von der wir den Eindruck haben, in ihr kristallisiere sich unser Leben, sie sei der treffendste Ausdruck unseres Lebensgefühls, eine klingende Metapher für unser Leben.855 Wittgensteins Sterbensworte sollen gewesen sein: „Tell them I’ve had a wonderful life“. Der Ausdruck „wonderful“ mag überraschen angesichts der Tatsache, dass Wittgenstein zeitlebens mit sich selbst und dem Leben gerungen hat. Mit einem wundervollen Leben meinte er wohl im wörtlichen Sinne „ein Leben voller Wunder“. Nach Wittgenstein ist es aber in erster Linie die Kunst, die uns die Wunder der Welt – etwa auch das „künstlerische Wunder […], dass es die Welt gibt“856 – zeigt und uns staunen lässt, anders als die Wissenschaft, die ein Mittel sei, um uns wieder 854

Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, 16-17; 62-64. Vgl. DB, 21. Im Braunen Buch schreibt Wittgenstein, dass die Melodie „Wie aus der Ferne“ aus Schumanns Davidsbündlertänzen für ihn „der ausführlichste und genaueste Ausdruck eines Vergangenheitsgefühls“ sei, eines Gefühls also, das wir haben, wenn wir an ein weit zurückliegendes Ereignis denken (281). 856 Tagebücher, 181. Vgl. Tam, On Wonder, Appreciation, and the Tremendous in Wittgenstein’s Aesthetics, 315. Shir geht in dieselbe Richtung, allerdings einen Schritt zu weit, wenn er schreibt: „Wittgenstein suggests that the factuality is not only the principle of art but the supreme aesthetic value as well“ (Wittgenstein’s Aesthetics and the Theory of Literature, 7). Lewis dagegen meint, was wir in der Kunst bestaunen, sei das Gewaltige (tremendous) (Wittgenstein and „The Tremendous Things in Art“, 159). 855

258 „einzuschläfern“857. Ein Leben ist „wundervoll“, wenn es einem gelungenem Kunstwerk gleicht. Mit den Worten von Richard Hare: „It is as if a man were regarding his own life and character as a work of art, and asking how it should best be completed.“858 Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass auch der Künstler durch seine Arbeit etwas lernt. Der ästhetische Schaffensprozess ist – mit Wittgensteins Worten – idealerweise immer eine „Arbeit an einem selbst“.859 Zu Beginn der Arbeit mag ein Künstler nur eine vage Vorstellung von seinem Werk haben. Während des Schaffens lässt er sich aber von Gedanken, Intuitionen und Gefühlen leiten und wird so zu einem sensiblen Seismographen seines Inneren, dem er mit künstlerischen Mitteln nachspürt. Der Schaffensprozess ist aber nicht nur eine „Entäußerung“ sondern auch eine Klärung des Inneren, wie Collingwood und Dewey betonen: Until a man has expressed his emotion, he does not yet know what emotion it is. The act of expressing it is therefore an exploration of his own emotions.860 In dem Moment, in dem der Maler Farbe auf die Leinwand aufträgt oder sie sich auf der Leinwand vorstellt, ordnen sich auch seine Gedanken und Gefühle.861

Wittgenstein wünschte sich, er wäre in der Lage, eine Melodie zu komponieren, mit der er sich ganz und gar identifizieren kann, eine Melodie, die seine Persönlichkeit und sein Leben in verdichteter Form zusammenfassen würde: Ich denke oft das Höchste was ich erreichen möchte wäre eine Melodie zu komponieren […] Darum schwebt es mir ja als ein so hohes Ideal vor weil ich dann mein Leben quasi zusammenfassen könnte; und es krystallisiert hinstellen könnte. Und wenn es auch nur ein kleines schäbiges Krystall wäre, aber doch eins.862

857

VB, 530. Hare, Freedom and Reason, 150. Vgl. Nussbaum: „The well-lived life is a work of literary art“ (Finely Aware and Richly Responsible, 516). 859 VB, 472. 860 Collingwood, The Principles of Art, 111. 861 Dewey, Kunst als Erfahrung, 90-91. Vgl. 93. 862 DB, 21. 858

259 Der künstlerische Schaffensprozess kann aber auch in einem weiteren Sinn als Selbsterforschung verstanden werden: Spiegeln sich in unseren ästhetischen Vorlieben nämlich unsere Lebensideale wider, dann kann man nicht fragen „Was gefällt mir und warum?“ ohne zu fragen „Wer bin ich und wie möchte ich sein?“. Durch den ästhetischen Schaffensprozess klären und verändern sich nicht nur die ästhetische Ideale des Künstlers – sondern auch seine Lebensideale. In diesem Sinn war die Tätigkeit als Architekt für Wittgenstein ein „Weg der Selbstfindung“, wie Ray Monk schreibt.863

863

Monk, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, 256.

261

9. Ästhetik und Philosophie Zwei Jahre vor seinem Tod, im Jahr 1949, schreibt Wittgenstein: Wissenschaftliche Fragen können mich interessieren, aber nie wirklich fesseln. Das tun für mich nur begriffliche [d.h. philosophische] und ästhetische Fragen. Die Lösung wissenschaftlicher Probleme ist mir, im Grunde, gleichgültig; jener andern Fragen aber nicht.864

Wittgenstein zufolge besteht zwischen philosophischen und ästhetischen Fragen – etwa der Frage, „was an diesem Kleid schlecht ist, wie es gehörte, etc.“ – eine „seltsame Ähnlichkeit“.865 Philosophische Probleme werden in ähnlicher Weise gelöst wie ästhetische Probleme. In beiden Fällen spielen Vergleiche eine wichtige Rolle: Sie beheben nicht nur unsere ästhetischen Unklarheiten, sondern befreien uns auch von philosophischen Verwirrungen. In ästhetischen Diskussionen werfen passende Vergleiche ein klärendes Licht auf unsere ästhetischen Eindrücke und tragen so zum ästhetischen Verstehen bei.866 In der Philosophie decken sie irreführende Bilder auf, die unserem Denken zugrunde liegen, und helfen uns, die Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen – eine Perspektive, welche die philosophischen Probleme zum Verschwinden bringt. Sowohl dem Kunstkritiker als auch dem Philosophen könnte man also mit Novalis nahe legen: „lerne den Zauberstab der Analogie gebrauchen“. Die richtigen Vergleiche bringen Verständnis und Klarheit. Das gilt Wittgenstein zufolge nicht nur für philosophische und ästhetische Fragen, sondern auch für das Verstehen fremder Kulturen und Praktiken. Fremde Verhaltensweisen werden verständlich und nachvollziehbar, wenn wir sie mit unseren eigenen Verhaltensweisen vergleichen, sie als Variationen des Eigenen sehen und im Fremden Vertrautes wiedererkennen. Wittgenstein zufolge haben auch mathematische Untersuchungen gewisse Ähnlichkeiten mit ästhetischen Fragen. Der Mathematiker entdecke neue „Aspekte“ 867 und seine Beweise müssten „anschaulich“868 sein. Zudem gä-

864

VB, 563. VB, 485. 866 Vgl. Kapitel 6.2 und 6.3. 867 BGM, 177, 180. 868 BGM, 173. 865

262 be es zwischen einem richtigen Übergang in der Mathematik und in der Musik eine „genaue Entsprechung“869. In allen drei genannten Bereichen – der Philosophie, der Ethnologie und der Mathematik – gibt es ein Verstehen, das man „ästhetisch“ nennen könnte. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, welche Rolle das ästhetische Verstehen in den drei Bereichen Wittgenstein zufolge spielt. Beginnen werde ich mit der Philosophie. 9.1 Ästhetisches Verstehen in der Philosophie Um die Parallelen zwischen ästhetischen und philosophischen Fragen herausarbeiten zu können, muss zunächst skizziert werden, wodurch sich philosophische Probleme Wittgenstein zufolge auszeichnen, wie sie entstehen und wie sie gelöst werden können. Wittgensteins Philosophieverständnis hängt eng mit seiner Auffassung von Sprache und Bedeutung zusammen. Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte seiner Sprachphilosophie hervorheben: Die Idee der Familienähnlichkeiten und die Auffassung, Sprache sei eine regelgeleitete Tätigkeit. 9.1.1 Familienähnlichkeiten Wenn Philosophen fragen, ob unser Wille frei ist und was wir über die Welt wissen können, dann sollten sie zunächst klären, was sie unter „Wille“, „Freiheit“, „Welt“ und „Wissen“ verstehen. Sie müssen also Begriffe klären und die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke bestimmen. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks wird Wittgenstein zufolge durch die Art und Weise festgelegt, wie wir diesen Ausdruck verwenden: „Der Gebrauch des Wortes in der Sprache ist seine Bedeutung“870. Würden wir „rund“ nennen, was wir bisher als „eckig“ bezeichnet haben, und umgekehrt, so hätten wir damit die Bedeutungen der Wörter „rund“ und „eckig“ vertauscht. Würden wir „Ich liebe dich“ sagen, um unsere Hassgefühle einer Person gegenüber auszudrücken, dann würde „Ich liebe Dich“ bedeuten „Ich hasse Dich“. Die Verwendungsweise eines Wortes oder Satzes legt seine Bedeutung fest. Wer also wissen möchte, was ein sprachlicher Ausdruck bedeutet, muss sich anschauen, wie wir diesen Ausdruck gebrau869 870

BGM, 192. PG, 60.

263 chen, bei welchen Gelegenheiten und mit welchen Konsequenzen. Glock schreibt: „we can learn from the use of a word everything there is to its meaning; use remains the guide to meaning, and conceptual analysis a matter of investigating linguistic use“871. Alltäglich verwendete Ausdrücke wie „ich“, „Stuhl“ oder „weich“ zu definieren, ist sehr schwierig. Viele Ausdrücke sind vage, d.h. sie lassen Grenzfälle zu. Man denke an die Wörter „Haufen“ und „Glatze“. Hinzu kommt, dass wir Wörter in unterschiedlichen Kontexten verschieden verwenden: Was als „weiter Wurf“ gilt, hängt davon ab, was man wirft. Zudem bezeichnen viele Wörter sehr heterogene Dinge: Man muss dabei nicht an mehrdeutige Ausdrücke wie „Ball“ (Fußball und Tanzabend) oder „Bank“ (Sitzbank und Geldinstitut) denken. Auch mit einem Ausdruck wie „Spiel“ bezeichnen wir sehr verschiedene Dinge und Tätigkeiten: Es gibt Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, Machtspiele, Spiele, die man in der Gruppe spielt, zu zweit, oder allein, Spiele, in denen Glück eine große Rolle spielt und solche, in denen es keine Rolle spielt usw. Die Tatsache, dass wir alle diese verschiedenen Tätigkeiten als „Spiele“ bezeichnen, verleitet uns nach Wittgenstein zu der Annahme, es gäbe etwas, das diesen und nur diesen Tätigkeiten gemeinsam ist. Wir sind versucht, zu sagen: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele’.“872 Diese Forderung ist allerdings die Konsequenz eines falschen Bildes unserer Sprache. Der Ausdruck „Spiel“ bezeichnet nicht etwas, das allen Spielen gemeinsam ist und sie zu Spielen macht, denn das gibt es nicht: Es gibt kein Wesen des Spiels. Wer das nicht glaubt, dem rät Wittgenstein: „Denk nicht, sondern schau!“873. Wittgenstein zufolge ist die Annahme, es müsse den Dingen, welche die gleiche Bezeichnung tragen, etwas gemeinsam sein, ein falsches und verhängnisvolles Vorurteil, das dazu beiträgt, dass wir die vielfältige Verwendungsweise eines Wortes aus den Augen verlieren und uns eine „verächtliche Haltung gegenüber dem Einzelfall“874 aneignen. Um uns von dieser Haltung abzubringen, legt uns Wittgenstein eine neue Sichtweise nahe: Die Tätigkeiten, auf die wir uns mit dem Wort 871

Glock, Abusing Use, 209. Glock weist darauf hin, dass zwar gelte, „every difference in meaning is a difference in use“, jedoch nicht das Umgekehrte: „Given the use of a word, we can infer its meaning without further evidence, but not vice versa. This is plausible. One cannot tell from a dictionary explanation of ‘cop’ whether the term is frequently used by British academics. By contrast, one can write the dictionary entry on the basis of a full description of the term’s employment.“ 872 PU, § 66. 873 PU, § 66. 874 BlB, 39.

264 „Spiel“ beziehen, haben mancherlei Ähnlichkeiten miteinander, wie die Mitglieder einer großen Familie. Familienmitglieder haben manchmal mehr, manchmal weniger Ähnlichkeiten miteinander, und nicht alle ähneln sich in denselben Hinsichten: manche haben ähnliche Gesichtszüge, manche lediglich eine ähnliche Nase, andere einen ähnlichen Mund oder ein ähnliches Temperament, manche gehen auf dieselbe Art und andere haben vielleicht eine zum Verwechseln ähnliche Stimme: „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“875. Solche Familienähnlichkeiten bestehen nun nicht nur zwischen den Mitgliedern einer Familie, sondern auch zwischen den einzelnen Verwendungen eines sprachlichen Ausdrucks bzw. zwischen den einzelnen Fällen, auf die ein sprachlicher Ausdruck zutrifft. So bilden die unterschiedlichen Spiele gleichsam eine Familie. Das Wort „Spiel“ bezeichnet eine Familie von Tätigkeiten, die sich in verschiedenen Hinsichten und Graden ähnlich sind. Bei philosophisch interessanten Ausdrücken wie „Wissen“, „frei“, „gut“, „Bedeutung“, „Zeit“ und „gerecht“ verhält es sich ähnlich wie bei dem Ausdruck „Spiel“. Mit dem Wort „frei“ kann, je nach Verwendungskontext, Unterschiedliches gemeint sein. Es ist daher aussichtslos, etwas zu finden, das all dem gemeinsam ist, was wir „frei“ nennen. Wittgenstein zufolge ergibt sich bei philosophisch relevanten Ausdrücken jedoch noch ein zusätzliches Problem, da diese Ausdrücke oft nicht nur eine, sondern mehrere Funktionen haben. Sie verrichten Gelegenheitsarbeiten: „Meinen“ ist eines der Wörter, von denen man sagen kann, dass sie Gelegenheitsarbeiten in unserer Sprache ausführen. Diese Wörter verursachen die meisten philosophischen Verwirrungen. Stell dir eine Institution vor: die meisten Mitglieder haben bestimmte, regelmäßige Funktionen […] Andrerseits gibt es einige Mitglieder, die für Gelegenheitsarbeiten, die jedoch äußerst wichtig sein können, angestellt werden. Unsere Neigung, den Gebrauch wichtiger ‚Gelegenheitsarbeiter’-Wörter so zu beschreiben, als ob sie Wörter mit regelmäßigen Funktionen wären, stiftet die meiste Verwirrung in der Philosophie.876

Wittgenstein zufolge verrichten philosophisch relevante Ausdrücke verschiedene Funktionen, je nach Kontext. Aufgrund der unterschiedlichen Verwendungen haben solche Ausdrücke keine einheitliche Bedeutung, was es unmöglich macht, eine kontextübergreifende Definition zu finden. Die 875 876

PU, § 66. BlB, 74.

265 Suche nach dem Wesen hat damit ein Ende. Sie basierte auf einem falschen Bild unserer Sprache. 9.1.2 Regeln des sinnvollen Sprachgebrauchs Sprache ist Wittgenstein zufolge eine regelgeleitete Tätigkeit. Ähnlich wie beim Schach, wo bestimmte Regeln festlegen, welche Züge zulässig sind und welche nicht, gibt es auch in unserer Sprache Regeln, die festlegen, was als sinnvoller Gebrauch von Sprache gilt. In unserem „Sprachspiel“ gibt es, im Unterschied zum Schachspiel, allerdings kein Regelhandbuch, das für jede mögliche sprachliche Äußerung festlegt, ob sie zulässig ist oder nicht. Wir können die Regeln, nach denen wir spielen, nur selten angeben, erkennen jedoch Regelverstöße, wenn wir ihnen begegnen. Äußerungen wie „Gibst Du mir bitte das runde Viereck!“, „Multipliziere diesen Elefanten mit Rot!“ oder „Schwarz ist heller als weiß“ sind offensichtliche Verstöße gegen die Regeln des sinnvollen Sprachgebrauchs. Mit jemandem, der solche Sätze äußert, fängt man keine inhaltliche Diskussion an, sondern man lehrt ihn, wie die Ausdrücke im Deutschen korrekt verwendet werden. Wenn eine Äußerung sinnlos ist, dann muss dies nicht zwingend daran liegen, dass Wörter auf unpassende Weise zusammengestellt werden. Es kann auch auf die unpassende Situation zurückzuführen sein, in der ein ansonsten verständlicher Satz geäußert wird. Angenommen, jemand hält seiner Liebsten die Türe zum Treppenhaus auf, worauf sie sagt: „Danke, aber ich habe heute noch nichts gegessen“. Was sie mit diesem Satz meinen könnte, bleibt im Dunkeln – und das, obwohl die einzelnen Wörter eine Bedeutung haben und ihre Anordnung grammatikalisch und semantisch korrekt ist. In der tatsächlichen Situation ist die Äußerung jedoch derart unpassend, dass unklar bleibt, was der Sprecher meint. Die Regeln, die festlegen, was zu sagen Sinn hat, kennen wir nicht explizit, sondern implizit. Unser sprachliches Wissen ist ein praktisches Wissen, eine von Kindheit an erworbene Fähigkeit, uns in unterschiedlichen Kontexten verständlich zu artikulieren und auf Äußerungen angemessen zu reagieren. Wir orientieren uns an einer geteilten Verwendungsweise sprachlicher Ausdrücke, verpflichten uns wechselseitig darauf und sanktionieren Regelverstöße. Werden wir allerdings gebeten, die Regeln anzugeben, an denen sich unser Sprachspiel ausrichtet, kommen wir in Schwierigkeiten. Dies liegt einerseits daran, dass unser alltägliches Sprachspiel

266 kein Spiel nach strikten Regeln ist, wie Schach, sondern eher einem improvisierten Ballspiel von Kindern gleicht, bei dem sich manche Regeln erst während des Spielens herausbilden und jederzeit geändert werden können. Ein weiterer Grund ist, dass wir zwischen Regelmäßigkeiten und normativen Regeln nicht immer eindeutig unterscheiden können. Nicht immer können wir entscheiden, ob eine Redeweise bloß ungewohnt oder unzulässig ist. Hinzu kommt, wie bereits angedeutet, dass sehr viele Ausdrücke unserer Sprache vage sind und ihre Bedeutung kontextabhängig ist. Die impliziten Regeln sinnvoller Rede sind in unterschiedlichen Kontexten jeweils andere: in der Sprache der Poesie gelten andere Regeln als in der Mathematik, und in der Mathematik wiederum gelten andere Regeln als in der Alltagssprache. In der Geometrie wird der Ausdruck „rund“ anders verwendet als in alltäglichen Kontexten. Und selbst in alltäglichen Kontexten sind die Kriterien dafür, ob wir etwas „rund“ nennen, von der jeweiligen Verwendungssituation abhängig. Dasselbe gilt für Ausdrücke wie „klug“, „weit“ und „groß“. Wittgenstein nennt das Ensemble impliziter Regeln des sinnvollen Sprachgebrauchs – etwas eigenwillig – „Grammatik“.877 Sätze, die solche Regeln ausdrücken, nennt er „grammatische Sätze“. Beispiele sind: „Junggesellen sind unverheiratet“ oder „Schwarz ist dunkler als Weiß“. Sätze, die nicht grammatisch sind, heißen „empirische Sätze“. Beispiele empirischer Sätze sind: „Junggesellen sind unordentlich“ oder „Der neue Stuhl, den ich mir gestern gekauft habe, ist dunkler als der alte“. Etwas vereinfachend kann gesagt werden: Empirische Sätze beschreiben die Welt, während grammatische Sätze die Regeln ausdrücken, die den Bereich dessen abstecken, was mit sinnvollen Sätzen gesagt werden kann. Woran aber können wir grammatische von empirischen Sätzen unterscheiden? Ein von Wittgenstein vorgeschlagenes Kriterium zur Unterscheidung zwischen empirischen und grammatischen Sätzen ist das Kriterium der sinnvollen Negation: Ob ein Satz grammatisch oder empirisch ist, zeigt sich, wenn wir die Negation des Satzes bilden. Bei empirischen Sätzen ist die Verneinung sinnvoll, während sie bei grammatischen Sätzen sinnlos ist. Betrachten wir den grammatischen Satz: „Jeder Kreis ist rund“. Bilden wir die Negation des Satzes, „Nicht jeder Kreis ist rund“, so zeigt sich, dass der negierte Satz sinnlos ist. Also ist der Satz „Jeder Kreis ist rund“ ein grammatischer. Was aber heißt hier „sinnlos“? Ungefähr soviel: Würde 877

Vgl. PG, 60: „Die Grammatik beschreibt den Gebrauch der Wörter in der Sprache. Sie verhält sich also zur Sprache ähnlich wie die Beschreibung eines Spiels, wie die Spielregeln, zum Spiel“.

267 jemand behaupten, nicht jeder Kreis sei rund, so würden wir ihm beibringen, es gehöre zur Bedeutung des Ausdrucks „Kreis“, dass Kreise rund sind. Jemand, der behauptet, es gäbe eckige Kreise, ist nicht jemand, der zu wenig über Kreise weiß oder unter Verdacht steht, eine neue Entdeckung gemacht zu haben. Er ist jemand, der die Bedeutung der Ausdrücke, die er verwendet, nicht kennt. Wir müssen ihm also beibringen, wie man die Ausdrücke „Kreis“ und „rund“ korrekt verwendet. Ein weiteres Kriterium dafür, ob ein Satz grammatisch ist, ist das Kriterium der Performativität: Nur mit einem empirischen Satz können wir eine informative Behauptung aufstellen oder einen Zug im Sprachspiel machen. Grammatische Sätze hingegen taugen lediglich dazu, jemandem die Regeln des Sprachspiels vor Augen zu führen.878 Die Äußerung eines Satzes wie „Kreise sind rund“ ist nur dann angebracht, wenn ich jemandem die Ausdrücke „Kreis“ und „rund“ beibringen möchte – etwa einem Kind, das unsere Sprache lernt. Äußere ich jedoch im Gespräch mit einem Freund den Satz „Kreise sind rund“, wird er mich fragen, was ich ihm damit zu verstehen geben möchte oder worauf ich anspiele. Es bleibt unklar, welchen Zug im Sprachspiel ich mit meiner Äußerung mache. Man könnte meinen, alle grammatischen Sätze seien „analytische“ Sätze, Sätze also, die allein aufgrund der Bedeutung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke wahr sind. Dies ist jedoch nicht der Fall: Wer auf einen gewöhnlichen Stuhl zeigt und sagt, „Das ist ein Stuhl“, der äußert damit einen Satz, der zwar grammatisch, jedoch nicht analytisch ist. Analytisch ist er deswegen nicht, weil er nicht allein aufgrund seiner Bedeutung wahr ist: „Das ist ein Stuhl“ kann wahr oder falsch sein, je nachdem, worauf der Sprecher zeigt. Der Satz ist jedoch trotzdem ein grammatischer Satz. Wie die Anwendung des Kriteriums der sinnvollen Negation zeigt, ist die Negation des Satzes nämlich nicht falsch, sondern sinnlos. Wer auf einen gewöhnlichen Stuhl deutet und sagt „Das ist kein Stuhl“, der zeigt damit, dass er das Wort „Stuhl“ nicht versteht – vielleicht auch, dass er verrückt ist oder gerade eine Kunst-Performance veranstaltet. Wittgenstein meint: „Man prüft an der Wahrheit meiner Aussagen mein Verständnis dieser Aussagen […] D.h.: wenn ich gewisse falsche Aussagen mache, wird es dadurch unsicher, ob ich sie verstehe.“879 878

Vgl. Glock, Wittgenstein-Lexikon, 155: „Der Kontrast zwischen grammatischen und empirischen Sätzen ist einer zwischen den Regeln für unsere Sprachspiele und Zügen in unseren Sprachspielen, die in Übereinstimmung mit den Regeln ausgeführt werden“. 879 ÜG, §§ 80-81.

268 Im strengen Sinne sollten die Prädikate „grammatisch“ und „empirisch“ nicht auf Sätze angewendet werden, sondern auf konkrete Äußerungen, also auf Satzverwendungen in bestimmten Kontexten. Ein und derselbe Satz kann nämlich in einem Kontext als grammatischer Satz und in einem anderen Kontext als empirischer Satz verwendet werden. Der Satz „Menschen sind Tiere“ wird im Biologieunterricht als grammatischer Satz verwendet, außerhalb des Unterrichts in der Regel jedoch als empirischer Satz, der ungefähr soviel sagt wie: „Wir Menschen sind stark instinktgeleitet“. Wittgenstein ist der Ansicht, dass „der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann“880. Hinzu kommt, dass es Satzverwendungen gibt, die in einem Grenzbereich zwischen grammatischen und empirischen Äußerungen liegen, da es „eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt“881. Es ist nicht immer klar, ob ein Merkmal zu einem Begriff gehört oder nicht. Es gibt einen Bereich von Fällen, wo „Regel und Erfahrungssatz ineinander übergehen“882. 9.1.3 Regelverstöße von Philosophen Wittgenstein zufolge neigt die traditionelle Philosophie und Metaphysik dazu, grammatische Sätze für empirische zu halten. Die Philosophen seien sich nicht bewusst, dass es sich bei metaphysischen Problemen nicht um sachliche, sondern um begriffliche Probleme handelt: Philosophische Untersuchungen: begriffliche Untersuchungen. Das Wesentliche der Metaphysik: dass ihr der Unterschied zwischen sachlichen und begrifflichen Fragen nicht klar ist. Die metaphysische Frage immer dem Anscheine nach eine sachliche, obschon, das Problem ein begriffliches ist.883

Wenn ein Philosoph behauptet „Man kann die Schmerzes eines anderes nicht spüren“, dann glaubt er eine unüberwindbare Kluft zwischen uns Menschen entdeckt zu haben. Ihm drängt sich das „Bild einer physikalischen Unmöglichkeit“ auf, obwohl es sich um eine begriffliche Unmög880

ÜG, § 98. Vgl. BüF I, 32: „Sätze werden oft an der Grenze von Logik und Empirie gebraucht, so dass ihr Sinn über die Grenze hin und her wechselt und sie bald als Ausdruck einer Norm, bald als Ausdruck einer Erfahrung gelten“. 881 ÜG, § 97. 882 ÜG, § 309. 883 BPP I, § 949.

269 lichkeit handelt: Die Äußerung „Ich kann deine Schmerzen spüren“ ist nämlich sinnlos.884 Wittgenstein zufolge denken Philosophen oft, sie hätten eine Entdeckung gemacht, einen neuen empirischen Satz aufgestellt, während sie in Wirklichkeit mit sprachlichen Konventionen brechen und unwissentlich für neue Regeln der sinnvollen Verwendung eines Wortes votieren. Sie glauben, im alten Spiel einen neuen Spielzug zu machen, spielen aber ein neues Spiel: „Verwendest du [einen sprachlichen Ausdruck] gegen seinen ursprünglichen Gebrauch und denkst, du spielest noch das alte Spiel mit ihm, so ist das, als wenn du mit Schachfiguren Dame spieltest und dir einbildetest, das Spiel habe noch etwas vom Geist des Schachs.“885 Dem Metaphysiker sei „nicht klar, dass seine Einwände sich gegen eine Konvention richten“886. Wittgenstein erläutert, was er meint, mit einer Analogie: [Der Metaphysiker ist wie jemand, der] sieht, wie man das Land auf andere Weise teilen kann als nach der Methode, der die gewöhnliche Landschaft entspricht. Er fühlt sich versucht, etwa den Namen „Devonshire“ nicht für die Grafschaft mit ihren konventionellen Grenzen, sondern für ein andersartig begrenztes Gebiet zu gebrauchen. Er könnte das folgendermaßen ausdrücken: „Ist das denn nicht absurd, aus diesem hier eine Grafschaft zu machen, die Grenzen hier zu ziehen?“ Was er jedoch sagt, ist folgendes: „Das wirkliche Devonshire ist dieses.“ Wir können antworten: „Du willst nur eine neue Bezeichnungsweise, und mit einer neuen Bezeichnungsweise werden keine geographischen Tatsachen geändert.“887

Wenn Philosophen behaupten „Alles ist Geist“, „Wir können nichts wissen“ oder „Wir sind in keiner Entscheidung frei“, dann verwenden sie zwar Wörter aus unserer Alltagsprache, erweitern oder verengen ihren Umfang jedoch so stark, dass diese Wörter nicht mehr dasselbe bedeuten wie in unseren alltäglichen Verwendungen.888 Der Metaphysiker möchte – ohne sich dessen bewusst zu sein – unseren Sprachgebrauch und damit die Bedeutung bestimmter sprachlicher Ausdrücke ändern. Damit löst er jedoch nicht 884

Vgl. BlB, 91. Z, 448. 886 BlB, 92. 887 BlB 92-93. Vgl. BlB, 76. 888 Vgl. BPP I, § 51: „Es ist interessant, dass man für die Philosophie eigens Wortverwendungen konstruiert, indem man Worten, die uns wichtig erscheinen, einen weiter ausgebauten Gebrauch vindizieren will, als sie haben“. Wer behauptet, „Alles ist Geist“, der verwendet das Wort „Geist“ Wittgenstein zufolge „auf typisch metaphysische Weise, nämlich ohne Antithese“ (BlB, 77). 885

270 die philosophischen Probleme, die uns beunruhigt hatten, sondern er umgeht sie. Er wechselt das Thema. Die ursprüngliche philosophische Verwirrung aber bleibt, denn sie drängte sich aufgrund des normalen Sprachgebrauchs auf. Darum möchte Wittgenstein „die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück[führen]“889. Die Philosophie, wie Wittgenstein sie propagiert, soll uns an die Grenzen des Sagbaren erinnern und uns die vielfältige Verwendung philosophisch relevanter Wörter vor Augen führen. Sie soll uns daran erinnern, wie wir Wörter wie „denken“, „frei“, „meinen“, „wissen“ und „gut“ in alltäglichen Kontexten verwenden, denn da zeigt sich ihre Bedeutung. 9.1.4 Analogien und Bilder Bei philosophischen Problemen handelt es sich Wittgenstein zufolge um „Missverständnisse, die den Gebrauch von Worten betreffen“890. Wenn uns eine philosophische Frage beunruhigt, dann deswegen, weil wir eine falsche Vorstellung davon haben, wie gewisse sprachliche Ausdrücke verwendet werden. Wir missdeuten unsere Sprache. Werden die sprachlichen Missverständnisse aus dem Weg geräumt, dann verschwinden auch die philosophischen Fragen. Philosophische Probleme basieren Wittgenstein zufolge also auf sprachlichen Verwirrungen und sind insofern bloße Scheinprobleme. Es gibt verschiedene Ursachen, die Philosophen dazu treiben, unseren Sprachgebrauch aus den Augen zu verlieren, ihn falsch zu deuten, von ihm abzuweichen und die Grenzen des sinnvoll Sagbaren zu überschreiben.891 Oft führen uns oberflächliche Merkmale der Sprache in die Irre: So deuten wir einen Satz wie „Ich habe Schmerzen“ nach dem Muster von „Ich habe einen Hund“, weil sie eine ähnliche Form haben. Hunde aber können ihren Besitzer wechseln, Schmerzen nicht. Oder wir sind geneigt zu glauben, Schönheit sei eine objektive Eigenschaft von Dingen, da der Satz „Diese Kugel ist schön“ dieselbe Form hat wie der Satz „Diese Kugel ist rund“. 889

PU § 116. Glock macht zu Recht darauf aufmerksam, dass nach Wittgenstein die bloße Tatsache, dass ein Wort nicht nach den gewöhnlichen Regeln verwendet wird, als solche noch nicht gegen den abweichenden Gebrauch dieses Wortes spricht. Wichtig sei, dass man sich dessen bewusst ist und klar zwischen den zwei Verwendungsweisen unterscheidet (Undogmatic Procedure, 81). 890 PU, § 90. 891 Vgl. Glock, Wittgenstein-Lexikon, 344.

271 Eine weitere Ursache dafür, dass wir überhaupt philosophische Fragen stellen, sind gewisse Bilder und Analogien, die unserem Denken zugrunde liegen. Wittgenstein zufolge denken wir oft in Bildern, gerade dann, wenn wir philosophieren.892 Diese Bilder und Vergleiche werden uns von der Sprache nahe gelegt. So wird uns durch zahlreiche Redeweisen nahe gelegt, es gäbe einen „Fluss der Zeit“. Dieser Vergleich der Zeit mit einem Fluss hält unser Denken gefangen und treibt uns dazu, Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gibt: Ja, das Gleichnis [vom Fluss der Zeit] ist in die Ausdrücke unserer Sprache gelegt, denn wir sagen, eine Krankheit ‚zieht vorüber’, ‚es kommt ein Krieg’ etc. Wir sprechen vom Lauf der Ereignisse, – aber auch vom Laufe der Zeit, – des Flusses, auf welchem die Stämme an uns vorbeiziehen. (‚die Zeit ist da’, ‚die Zeit ist längst vorbei’, ‚es kommt die Zeit’ etc., etc.) Und so kann mit dem Wort ‚Zeit’ das Bild eines ätherischen Flusses untrennbar verbunden sein, mit den Worten ‚Vergangenheit’ und ‚Zukunft’ das Bild von Gebieten, aus deren einem die Ereignisse in das andere ziehen. U.s.f. (‚das Land’ der Zukunft, der Vergangenheit.) Und doch können wir natürlich keinen solchen Strom finden und keine solchen Örter. Unsere Sprache lässt Fragen zu, zu denen es keine Antwort gibt. Und sie verleitet uns die Fragen zu stellen durch die Bildhaftigkeit des Ausdrucks. Eine Analogie hat unser Denken gefangen genommen und schleppt es unwiderstehlich mit sich fort.893

Wenn Bilder und Analogien unser Denken gefangen halten und philosophische Verwirrung stiften, dann besteht der erste Schritt der Klärung darin, diese Bilder und Analogien aufzudecken. Erst dann können wir uns von ihnen befreien. Wir müssen das Problem an der „Wurzel“894 packen, indem wir die Bilder als Bilder entlarven und verstehen, was uns dazu treibt, philosophische Fragen zu stellen und gegen unseren Sprachgebrauch zu rebellieren:

892

PU, § 295: „Ja, wenn wir beim Philosophieren in uns schauen, bekommen wir oft gerade so ein Bild zu sehen […] Nicht Fakten; sondern gleichsam illustrierte Redewendungen“. Vgl. PU, §§ 132, 194. 893 MS 115, 172. 894 VB, 518: „Die Schwierigkeit tief fassen, ist das Schwere. Denn seicht gefasst, bleibt sie eben die Schwierigkeit. Sie ist mit der Wurzel auszureißen; und das heißt, man muß auf neue Art anfangen, über diese Dinge zu denken […] Ist die neue Denkweise festgelegt, so verschwinden die alten Probleme; ja, es wird schwer, sie wieder zu erfassen“.

272 Wenn ich einen philosophischen Fehler rektifiziere und sage, man hat sich das immer so vorgestellt, aber so ist es nicht, so muss ich immer eine Analogie aufzeigen, nach der man gedacht hat, die man aber nicht als Analogie erkannt hat.895

Wenn sich uns eine philosophische Frage aufdrängt, sollten wir uns zunächst darüber klar werden, welche latenten Bilder und Analogien unserem Denken zugrunde liegen und Verwirrung stiften. In dieser Hinsicht ähnelt die Aufgabe des therapeutischen Philosophen derjenigen des Kunstkritikers: Der Philosoph deckt Analogien auf, die unserem Denken zugrunde liegen, während der Kunstkritiker Analogien aufdeckt, die unser Erleben prägen. Der Kunstkritiker macht uns bewusst, warum uns ein Gegenstand gefällt oder was uns an ihm stört. Er sagt vielleicht: „Das Bild wirkt unausgewogen, als würde es nach rechts abfallen“. Oder: „Die Melodie klingt wie ein Frage-Antwort-Spiel“. Solche Vergleiche sind erhellend, da sie uns klar machen, wie wir das Bild sehen und als was wir die Melodie hören. Sie decken die latenten Analogien auf, die unseren ästhetischen Eindruck prägen. Dadurch schaffen sie Klarheit.896 Die Beschreibungen des Kunstkritikers müssen nachvollziehbar sein und wir müssen ihnen zustimmen können. Dasselbe gilt Wittgenstein zufolge für philosophische Erklärungen.897 Sie klären uns über uns selbst auf, in895

BT, 409. Peter Hacker schreibt: „A primary activity of philosophers is to warn against wrong comparisons, wrong similes that are rooted in our forms of expression, without our being altogether conscious of this“ (Hacker, Wittgenstein: Understanding and Meaning, 286). 896 Vgl. Kapitel 6.2 u. 6.3. 897 Und für psychoanalytische Erklärungen. Vgl. DS, 302, 28: „Unsere Methode ähnelt in gewissem Sinn der Psychoanalyse. In ihrer Ausdrucksweise könnte man sagen, das im Unbewussten wirkende Gleichnis wird unschädlich, wenn es ausgesprochen wird. Und dieser Vergleich mit der Analyse lässt sich noch weiter fortsetzen.“ Oets Kolk Bouwsma schreibt: „W[ittgenstein] had himself talked about philosophy as in certain ways like psychoanalysis […] When he became a professor in Cambridge he submitted a typescript to the committee […] Of 140 pages, 72 were devoted to the idea that philosophy is like psychoanalysis” (Wittgenstein: Conversations 1949-1951, 36). Auch Gordon Baker hebt die Ähnlichkeiten mit der Psychoanalyse hervor, wenn er schreibt: „[T]he primary concern is helping individuals to bring to consciousness their own motivations and desires. Philosophical utterances which are often patently absurd are taken to manifest unconscious cravings, drives, prejudices and pictures. It is these things which are the targets of Wittgenstein’s therapeutic activities […] Wittgenstein’s purpose is to win acknowledgement from suffering individuals of what unconsciously influenced them. Proof and refutation are just as alien to his investigations as they are to Freud’s practice of psychoanalysis“ (Wittgenstein’s Method and Psychoanalysis,

273 dem sie aufzeigen, was uns dazu treibt, philosophische Fragen zu stellen. Ähnlich wie für ästhetische Erklärungen gilt für philosophische Erklärungen: „’Explanation’ here is like an utterance supplied by another person – like teaching him to cry“898. Kunstkritiker finden nicht nur die passenden Worte, um zu beschreiben, wie ein Kunstwerk auf uns wirkt, sondern zeigen uns auch Aspekte eines Werks, die wir zuvor nicht wahrgenommen haben. Sie stellen nicht nur Vergleiche an, die unsere ästhetischen Erlebnisse klären, sondern auch solche, die unsere Wahrnehmung und unser Erleben verändern. Sie setzen neue Vergleiche an die Stelle der alten. Darin sieht Wittgenstein auch eine Aufgabe seiner therapeutischen Philosophie. Sie soll nicht nur latente Analogien aufdecken, sondern neue Analogien an ihre Stelle setzen. Ähnlich wie der Kunstkritiker unsere Sichtweise eines Bildes verändert, so verändert der therapeutische Philosoph unsere Auffassung von Begriffen. Er macht uns auf Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten von Wortverwendungen aufmerksam und legt uns nahe, neue Vergleiche an die Stelle der alten zu setzen. So weist er uns etwa darauf hin, dass das Wort „wissen“ mehr Ähnlichkeiten hat mit „können“ als mit „sehen“. Oder er bringt uns dazu, dass wir die Äußerung „Ich habe große Schmerzen“ mit einem „Aua“-Ruf vergleichen und nicht mit Sätzen wie „Ich habe einen großen Hund“. Der Philosoph belässt die Sprache zwar, wie sie ist, zieht jedoch neue Vergleiche und erzwingt dadurch, ähnlich wie der Kunstkritiker, einen Aspektwechsel. Er verändert unsere „grammatische Einstellung“899 zu einem Wort, eröffnet uns eine neue Sichtweise eines Begriffs und hebt dadurch einen anderen Aspekt des Begriffs hervor: Die Lösung [philosophischer] Probleme besteht im Eliminieren des beunruhigenden Aspekts den gewisse Analogien in unserer Grammatik auslösen.

218). Frank Cioffi meint, der Vergleich hinke. Nur für eine banalisierte Version der Psychoanalyse gelte, dass sie der Arbeit des Philosophen, wie Wittgenstein diese versteht, ähnlich ist (Vgl. Making the Unconscious Conscious: Wittgenstein versus Freud). Und Hacker betont zu Recht, dass es sich bei dem Vergleich mit der Psychoanalyse nur um einen Vergleich handelt (Wittgenstein: Understanding and Meaning, 286-287). Zudem schreibt er: „this is but one among many different methods of philosophy […] and not the main one“ (Gordon Baker’s Late Interpretation of Wittgenstein, 106). 898 LA 18, Fn. 5. 899 PG, 85.

274 Die Philosophie verändert den Aspekt. Indem sie andere Analogien aufzeigt. Zwischenglieder einschiebt etc.900 What I give is the morphology of the use of an expression. I show that it has kinds of use of which you had not dreamed. In philosophy one feels forced to look at a concept in a certain way. What I do is to suggest, or even invent, other ways of looking at it.901

Der Philosoph belässt zwar alles beim Alten, stellt jedoch neue Vergleiche an und bringt uns so dazu, das Altbekannte in anderer Weise zu sehen.902 Insofern gleicht die Tätigkeit des Philosophen tatsächlich derjenigen des Kunstkritikers, der uns auch durch Beschreibungen und Vergleiche dazu bringt, ein Bild, das wir bereits kennen, auf neue Weise zu sehen. Kjell Johannessen schreibt: Just like the art critic proceeds by rearranging the visual field made up by a painting, so the philosopher proceeds by making certain rearrangements of given parts of the conceptual field of language […] In both cases the point 900

MS 157b, 14r. Für die Lesart des grammatischen Aspektsehens spricht, dass Wittgenstein den wohlbekannten Gebrauch eines Wortes mit einem wohlbekannten Gesicht vergleicht, das wir zwar jederzeit identifizieren, jedoch nicht beschreiben oder zeichnen könnten. Vgl. BPP II, 221; BPP I, 944. 901 Malcolm, Ludwig Wittgenstein: A Memoir, 43. Wittgenstein vergleicht sein philosophisches Vorgehen mit einer morphologischen Methode, mit der wir nach Goethe die Vielfalt der Pflanzen- und Tierweltwelt und nach Spengler verschiedene Kulturen ordnen und verstehen können: „Was aber tut eine begriffliche Untersuchung? Ist sie eine der Naturgeschichte der menschlichen Begriffe? – Nun, Naturgeschichte beschreibt, sagen wir, Pflanzen und Tiere. Aber könnte es nicht sein, dass Pflanzen in allen Einzelheiten beschrieben worden wären, und nun erst jemand daherkäme, der Analogien in ihrem Bau sieht, die man früher nicht gesehen hatte? Dass er also eine neue Ordnung in diesen Beschreibungen herstellt. Er sagt z. B.: ‚Vergleiche nicht diesen Teil mit diesem; sondern vielmehr mit jenem!’ (Goethe wollte so etwas tun). […] Er sagt ‚Sieh es so an!“ – und das kann nun verschiedenerlei Vorteile und Folgen haben“ (BPP I, § 950). Vgl. Hacker, Wittgenstein: Meaning and Understanding, 332: „That Wittgenstein saw a connection between his method and the morphological method that he associated with Goethe and Spengler is indisputable“. 902 Vgl. PU, 144: „Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, dass er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten: nämlich ihn mit dieser Bilderreihe zu vergleichen. Ich habe seine Anschauungsweise geändert“. Wittgenstein war der Ansicht, „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“ (VB, 483). Ein Philosoph sollte, ähnlich wie ein Poet, durch Metaphern, Bilder und Vergleiche uns dazu bringen, dass wir die Dinge anders sehen. Von sich selbst schreibt er: „Was ich erfinde, sind neue Gleichnisse“ (VB, 467).

275 of giving reasons is of a persuasive nature. It is to get the new ways of experiencing accepted. Their way of speaking is essentially dependent on the use of examples, comparisons, allegories and analogies. It is primarily by way of comparisons, ‘placing things side by side’, that problems are done away with.903

Indem der therapeutische Philosoph neue Vergleiche anstellt und Begriffe mit anderen Bildern hinterlegt, verändert er ihr „Gesicht“, ihren Aspekt. Aufgrund seiner Vergleiche fassen wir philosophisch relevante Begriffe wie „Zeit“, „Denken“ oder „Bedeutung“ anders auf – ähnlich wie wir das Wort „Bank“ anders auffassen, je nachdem, ob wir an ein Geldinstitut oder eine Sitzbank denken. Aber wir sehen nicht nur unsere Sprache anders, sondern auch die Dinge: Wir verstehen die Zeit nicht mehr als Fluss, das Denken nicht mehr als ein privater Vorgang in unserem Geist und Bedeutung nicht mehr als Quasi-Objekt, das wir erfassen, wenn wir etwas verstehen. In der Regel hat der therapeutische Philosoph gute Gründe, alte Vergleiche durch neue zu ersetzen.904 Der alte Vergleich basiert nämlich meistens auf einer verzerrten Ansicht der Verwendungsweise philosophisch relevanter Wörter oder veranlasst uns zu inkonsistenten Wortverwendungen.905 Der Metaphysiker lässt sich von oberflächlichen Merkmalen der Sprache verführen und blendet ihre Verwendung aus. Er sieht nicht hinter die Fassade der Sprache. Manchmal aber steht der Fall anders: Nicht immer können wir jemanden von bestimmten Bildern abbringen, indem wir ihn auf die tatsächlichen Verwendungsweisen der Sprache hinweisen. Manchmal ist sich der Kontrahent über die Grammatik eines Ausdrucks im Klaren, deutet diese aber auf eine Weise, die philosophische Fragen heraufbeschwört. In einem solchen Fall können wir ihn nicht durch die „ruhige Erwägung sprachlicher Tatsachen“906 von seiner Sichtweise abbringen, schließlich kennt er die sprachlichen Tatsachen. Der Streit entsteht, weil er Ähnlichkeiten anders gewichtet und andere Vergleiche anstellt. In einer solchen Situation können wir keine schlagenden Argumente für die eigene Sicht ins Feld führen. 903

Johannessen, Philosophy, Art, and Intrasitive Understanding, 239 u. 245. Glock, Perspectives on Wittgenstein: „from the fact that one can look at something in a certain way it does not follow that it is correct to look at it in this way“ (58). 905 Vgl. Glock, Perspectives on Wittgenstein, 58-59; Hacker, Wittgenstein: Meaning and Understanding, 323; Vgl. Hacker, Gordon Baker’s Late Interpretation of Wittgenstein. 906 MS 142, 121. 904

276 Unsere Gründe müssen, ähnlich wie ästhetische Gründe, eine rational nicht zu rechtfertigende Anziehungskraft haben. Sie müssen einen Reiz ausüben – Wittgenstein spricht von „appeal“.907 Wer in der Ästhetik einen erhellenden Vergleich anstellt, der liefert nicht zwingende Gründe, sondern zeigt Sichtweisen auf, die „für sich selbst sprechen“ müssen. Die vorgeschlagene Sichtweise muss ansprechend sein. Dasselbe gelte in der Philosophie.908 Ästhetische und philosophische Erklärungen zeichnen sich Wittgenstein zufolge dadurch auch, dass man sie „nicht annehmen“ muss.909 9.1.5 Philosophie als Arbeit an sich selbst Die Ursache philosophischer Grundlagendispute liegt Wittgenstein zufolge bisweilen in der Tatsache, dass unterschiedliche Menschen andere Bilder und Gleichnisse ansprechend finden. Welche Gleichnisse man bevorzugt, sei immer auch eine Frage der Mentalität und des intellektuellen Temperaments: Wenn manchmal gesagt wird, die Philosophie eines Menschen sei Temperamentsache, so ist auch darin eine Wahrheit. Die Bevorzugung gewisser Gleichnisse ist das, was man Temperamentsache nennen könnte und auf ihr beruht ein viel größerer Teil der Gegensätze, als es scheinen möchte.910 907

Nach Moore soll Wittgenstein in einer Vorlesung von 1933 gesagt haben: „that aesthetic discussions were like discussion in a court of law, where you try ‘to clear up the circumstances’ of the action which is being tried, hoping that in the end what you say will ‘appeal to the judge’. And he said that the same sort of ‘reasons’ were given, not only in Ethics, but also in Philosophy“ (M, 315). 908 In seinen Vorlesungen zu den Grundlagen der Mathematik soll er gesagt haben: „I may occasionally produce new interpretations, not in order to suggest they are right, but in order to show that the old interpretation and the new are equally arbitrary. I will only invent a new interpretation to put side by side with an old one and say, ‘Here, choose, take your pick’. I will only make gas to expel old gas“ (LFM, 14). Vgl. PU, § 132. 909 MS 137, 21a. In den Vorlesungen zur Ästhetik beschreibt Wittgenstein seine eigene philosophische Tätigkeit als ein Versuch der Überredung, als eine Form philosophischer Propaganda: „What I’m doing is also persuasion. If someone says: ‘There is not a difference’, and I say: ‘There is a difference’ I am persuading, I am saying ‘I don’t want you to look at it like that’ (LA, 27); „I am in a sense making propaganda for one style of thinking as opposed to another. I am honestly disgusted with the other […] It has no charm form e. I loathe it“ (LA, 28). 910 VB, 478.

277 Ob wir mit einer Denkrichtung sympathisieren, hängt Wittgenstein zufolge davon ab, ob wir das Bild ansprechend finden, das der Position zugrunde liegt. Welche Bilder wir ansprechend finden, hängt wiederum davon ab, wer wir sind und wie wir sein möchten. Unsere philosophische „Denkneigung“911 verdankt sich also unseren ästhetischen Vorlieben und unserem Charakter. Teilt man ästhetische Vorlieben, so wird man in philosophischen Grundfragen eher Konsens erzielen. Ein philosophischer Grundlagenstreit, wie der erkenntnistheoretische Streit zwischen Konstruktivisten und Realisten, gleicht insofern einem Streitgespräch zwischen einem Liebhaber barocker Architektur und einem Verfechter des Bauhausstils. Um eine Person von einer philosophischen Grundhaltung zu überzeugen, muss man ihr den Reiz eines Bildes vermitteln. Wittgenstein zufolge bestimmt unsere Persönlichkeit, an welchen Bildern sich unser Denken ausrichtet. Wenn problematische Bilder einen Reiz auf uns ausüben und unser Denken gefangen halten, dann können wir uns nicht von ihnen befreien, ohne an uns selbst zu arbeiten. Um uns von dem Drang, philosophische Fragen zu stellen, zu befreien, müssen wir nicht nur verstehen, wie unsere Sprache funktioniert. Wir müssen auch lernen, vertraute und reizvolle Bilder aufzugeben. Wir müssen uns selbst verändern, damit die Bilder ihren Reiz für uns verlieren. Wittgenstein schreibt: „Wer heute Philosophie lehrt, gibt dem Andern Speisen, nicht, weil sie ihm schmecken, sondern um seinen Geschmack zu ändern.“912 Es ist jedoch keine leichte Sache, die alten Bilder aufzugeben. Schließlich sind sie uns zutiefst vertraut, denn sie liegen in unserer Sprache. Wittgenstein schreibt: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen“913. Wir lassen uns von Redeweisen und oberflächlichen Merkmalen der Sprache immer aufs Neue irreleiten, was dazu führt, dass sich problematische Bilder in unserem Denken einnisten, die unlösbare philosophische Fragen heraufbeschwören: Man hört immer wieder die Bemerkung, dass die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, dass die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das sagen, 911

LSP, § 109. VB, 474. 913 PU, § 115. Vgl. F, 38: „In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt“; PU, § 111: „Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen […] wurzeln so tief in uns wie die Formen unserer Sprache, und ihre Bedeutung ist so groß wie die Wichtigkeit unserer Sprache“. 912

278 verstehen nicht den Grund, warum es so sein muss. Der ist aber, dass unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. Solange es ein Verbum ‚sein’ geben wird, das zu funktionieren scheint wie ‚essen’ und ‚trinken’, solange es Adjektive ‚identisch’, ‚wahr’, ‚falsch’, ‚möglich’ geben wird, solange von einem Fluss der Zeit und von einer Ausdehnung des Raumes die Rede sein wird, usw., usw., solange werden die Menschen immer wieder an die gleichen rätselhaften Schwierigkeiten stoßen, und auf etwas starren, was keine Erklärung scheint wegheben zu können.914

Philosophie ist Wittgenstein zufolge ein Kampf gegen irreführende Bilder, zu denen uns die Sprache verleitet. Unsere Sprache aber können wir nicht einfach ändern. Und das sollten wir auch nicht. Sie hat sich über eine lange Zeit den kommunikativen Bedürfnissen des Alltags angepasst. Wo wir sie brauchen, erfüllt sie ihre Funktion bestens. Die Probleme entstehen Wittgenstein zufolge erst, „wenn die Sprache leerläuft, wenn sie nicht arbeitet“915. Erst wenn wir die Sprache gleichsam von außen betrachten und ihren Gebrauch ausblenden, verfallen wir den falschen Analogien und Bildern. Gegen diese Neigung müssen wir ankämpfen. Wir müssen uns selbst dazu bringen, dass diese Bilder ihren Reiz verlieren. Philosophie gleicht somit einem Kampf gegen sich selbst. Es ist der Versuch, der Versuchung problematischer Bilder zu widerstehen. Philosophieren heißt insofern, an sich selbst zu arbeiten: Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)916

Bei Wittgenstein sind Sätze nicht unwichtig, nur weil sie in Klammern stehen. So auch hier: „Und was man von ihnen verlangt“. Wittgenstein zufolge richten wir uns oft an unangemessenen Idealen aus, wenn wir philosophieren. Eines dieser Ideale ist das der „Kristallreinheit der Logik“, also die Forderung, es dürfe in der Logik keine Unbestimmtheit geben. 914

VB, 470. PU, § 132. 916 VB, 472. Schulte meint, die Philosophie habe für Wittgenstein die Aufgabe einer „Radikalkur“: „Die Philosophie lässt zwar die Fakten, wie sie sind. Den Philosophen jedoch trachtet sie zu verändern, und zwar gehörig zu verändern, denn der Kampf gegen die Verhexung des Verstandes kann nicht weniger sein als der Versuch einer Radikalkur“ (Beschreibung, 141). 915

279 Die Forderung nach möglichst allgemeinen und präzisen Definitionen lässt sich aber mit der Vagheit und Kontextabhängigkeit unserer Sprache nicht vereinbaren. Ein anderes Ideal, an dem sich Philosophen irrtümlich ausrichten, ist das methodische Ideal der Naturwissenschaften: Sie streben nach Verallgemeinerungen und versuchen alles auf ein einziges Erklärungsprinzip reduzieren. Dies treibt sie dazu, selbst da noch weiter zu fragen, wo es nach Wittgenstein nichts mehr zu fragen gibt. Die Schwierigkeit bestehe darin, „etwas als die Lösung anzuerkennen, was aussieht, als wäre es erst die Vorstufe zu ihr“917. Wenn uns philosophische Probleme plagen, sind wir Wittgenstein zufolge „vom Ideal geblendet“918 und „leben nun in der Idee: das Ideal ‚müsse’ sich in der Realität finden“919. Die Realität entspricht jedoch in keiner Weise diesem Ideal. Solange wir dieses Ideal nicht aufgeben, werden wir immer wieder enttäuscht. Wir müssen unsere „Denkneigung“920 ändern, um den Einklang mit der Welt herzustellen.921 Um philosophische Probleme zum Verschwinden zu bringen, reicht die Einsicht in das Funktionieren unserer Sprache nicht. Es braucht auch eine Veränderung unseres Willens. Wir müssen nicht nur unsere Überzeugungen ändern, sondern auch unsere Wünsche und Ideale. Die Schwierigkeit der Philosophie ist Wittgenstein zufolge „nicht die Schwierigkeit der Wissenschaften, sondern die Schwierigkeit einer Umstellung. Widerstände des Willens sind zu überwinden.“922 Was es heißen kann, seine Forderungen anzupassen, vermag uns die Ästhetik zu lehren: Wenn wir ein ästhetisches Objekt betrachten, dann liegen unserer Betrachtungsweise manchmal unpassende Vergleiche und Maßstäbe zugrunde, die den ästhetischen Eindruck und die Einschätzung des Objekts prägen: Wir hören Bob Dylan und sind vielleicht enttäuscht, weil 917

Z, § 314. PU, § 100. 919 PU, § 101. 920 LSP, § 109. 921 Vgl. Jacques Bouveresse, Gesundheit und Krankheit in Philosophie und Leben, 57. Wittgenstein schreibt mit Blick auf existenzielle Probleme: „Dass das Leben problematisch ist, heißt, dass Dein Leben nicht in die Form des Lebens passt. Du musst dann Dein Leben verändern, und passt es in die Form, dann verschwindet das Problematische“ (VB 487). 922 BT, 406. VB, 474: „Nicht eine Schwierigkeit des Verstandes, sondern des Willens, ist zu überwinden“. Vgl. PU, § 217; ÜG, 314. Wittgenstein schließt sich also Platon an, wenn dieser vom Philosophen eine „Umwendung der ganzen Seele“ fordert (Politeia, 521c). 918

280 die Musik „rhythmisch ungenau“ ist und der Sänger „schlecht intoniert“. Oder wir sehen eine Burgruine und stören uns an ihrer „Unvollständigkeit“ und ihrem „schlechten Zustand“. In beiden Fällen ist unser kritisches Urteil unangemessen. Wir messen mit dem falschen Maß. Um zu verstehen, was andere Personen an der Musik von Bob Dylan und an Ruinen finden, müssen wir lernen, Dylans Musik anders zu hören und Ruinen anders zu sehen. Wir müssen unsere Einstellung ändern und uns von bestimmten Idealen und Vergleichen verabschieden. Dies erfordert auch eine Arbeit an uns selbst. Die eigenen ästhetischen Präferenzen zu verändern, kann bedeuten, sich mit einem neuen Selbst- und Weltbild vertraut zu machen und sich eine andere Lebenshaltung anzueignen. Wittgenstein vergleicht die Arbeit an der Philosophie mit der Arbeit eines Künstlers an seinem Werk und meint, beides sei „eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst“. Tatsächlich ist für viele Künstler das Kunstschaffen eine Auseinandersetzung mit sich selbst, ein Prozess der Selbsterforschung. Da sich in unseren ästhetischen Vorlieben unsere Lebensideale spiegeln, steht die Frage „Was gefällt mir und warum?“ in engem Zusammenhang mit der Frage „Wer bin ich und wie möchte ich sein?“. Der ästhetische Schaffensprozess zwingt den Künstler nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit seinen ästhetischen Idealen, sondern auch zu einer Beschäftigung mit seinen Lebensidealen. Die Beschäftigung mit dem Werk ist zugleich eine Beschäftigung mit dem Leben. Die Arbeit am Werk wird zu einer Arbeit an sich selbst. Sie fordert vom Künstler nämlich, sich selbst zu erforschen. Am Beginn seiner Arbeit hat er in der Regel noch keine klare Vorstellung davon, wie sein Werk am Ende aussehen wird. Collingwood meint, dem Künstler werde erst im Verlauf seiner Arbeit klar, was er mit seinem Werk ausdrücken möchte: „Until a man has expressed his emotion, he does not yet know what emotion it is. The act of expressing it is therefore an exploration of his own emotions.“923 Wenn ein Bildhauer Stück für Stück von dem Stein entfernt, dann legt er damit nicht nur eine äußere Form frei, sondern auch sein Inneres, seine eigenen Emotionen und seine Ideale. Er meißelt sein Lebensgefühl in Stein. Ähnliches sollte Wittgenstein zufolge der Philosoph tun. Er sollte in sich gehen und aufdecken, woher der Drang rührt, unlösbare Fragen und uneinlösbare Forderungen zu stellen. Philosophische Arbeit ist Klärungsarbeit, die Mut

923

Collingwood, The Principles of Art, 111.

281 erfordert. Schließlich ist die gesuchte Klarheit im Wesentlichen eine Klarheit über sich selbst.924 9.2 Ästhetisches Verstehen in der Ethnologie Wittgenstein liest Anfang der Dreißigerjahre das Buch The Golden Bough des schottischen Ethnologen James George Frazer. Dieser beschreibt darin zahlreiche magische Bräuche und Rituale von Stammeskulturen. Wittgenstein zufolge missdeutet Frazer allerdings die magischen und religiösen Rituale, wenn er sie als Konsequenz falscher Überzeugungen versteht, als „falsche Physik“ und „falsche Heilkunst“.925 Wittgenstein ist der Ansicht, man sollte diese Praktiken nicht als Dummheiten interpretieren, sondern nachzuvollziehen versuchen, warum diese Menschen sich so verhalten. Er schreibt: „Nie wird es aber plausibel, dass die Menschen aus purer Dummheit all das tun“926. Wittgenstein weist darauf hin, dass wir oft ähnliche Dinge tun: Wir küssen die Fotos unserer Liebsten und wenn wir uns am Tischbein stoßen, dann schlagen wir manchmal zurück, aber nicht, weil wir glauben, wir würden es dem Tisch dadurch „heimzahlen“, sondern weil ein solches Verhalten uns Befriedigung verschafft: „Es bezweckt eine Befriedigung und erreicht sie auch. Oder vielmehr, es bezweckt gar nichts; wir handeln eben so und fühlen uns dann befriedigt.“927 Wenn „der Wilde“ das Bild des Feindes durchsticht, so zeigt das also noch nicht, dass er an magische Beeinflussung glaubt, schließlich baut er „seine Hütte aus Holz wirklich und schnitzt seinen Pfeil kunstgerecht und nicht in effigie“928, wie Wittgenstein betont. „Oder auch so: Gegen morgen, wenn die Sonne aufgehen will, werden von den Menschen Riten des Tagwerdens zelebriert, aber nicht in der Nacht, sondern da brennen sie einfach Lampen.“929 Magische Riten sind nach Wittgenstein keine Mittel, die Welt zu beeinflussen, sondern eine

924

Vgl. Cavell, Aesthetic Problems of Modern Philosophy, 96: „All the Philosopher […] can do is to express, as fully as he can, his world, and attract our undivided attention to our own“. 925 F, 35. 926 F, 29. 927 F, 32. 928 F, 32. 929 F, 40.

282 Art, menschliche Gefühle auszudrücken, Ängsten und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen: Wenn ich, der ich nicht glaube, dass es irgendwo menschlichübermenschliche Wesen gibt, die man Götter nennen kann – wenn ich sage: ‚ich fürchte die Rache der Götter’, so zeigt das, dass ich damit etwas meinen kann, oder einer Empfindung Ausdruck geben kann, die nicht notwendig mit jenem Glauben verbunden ist.930

Die Äußerung „Ich fürchte die Rache der Götter“ legt uns als solche ebenso wenig auf die Annahme von Göttern fest wie die Begrüßungsfloskel „Grüss’ Gott“. Es kommt ganz darauf an, welche Funktion die Äußerung im Sprachspiel hat, welche kommunikative Rolle der Satz spielt: „Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn“931. Wittgenstein möchte zeigen, dass man den Satz „Ich fürchte die Rache der Götter“ in einer rein expressiven Funktion verwenden kann, anstelle eines ängstlich-schuldbewussten Gesichtsausdrucks. Man sollte aus den Äußerungen und Gebräuchen primitiver Kulturen also nicht vorschnell darauf schließen, dass sie abwegige Meinungen vertreten. Dass Menschen an Riten festhalten, auch wenn sie die Meinungen, die ursprünglich mit diesen Riten verknüpft waren, aufgegeben haben, spräche ebenfalls dafür, dass die Meinungen nicht die Grundlage der Riten waren.932 Wittgenstein zufolge sind Frazers Erklärungen der primitiven Gebräuche nicht nur falsch, sondern sie verfehlen das Ziel. Das Verständnis, nach dem wir suchen, erreichen wir nicht, wenn uns jemand wie Frazer kausale Zusammenhänge aufdeckt, sondern wenn wir Ähnlichkeiten sehen. Auch wenn es um das Verstehen fremder Bräuche und Kulturen geht, verpflichtet sich Wittgenstein also dem methodologischen Ideal der „übersichtlichen Darstellung“: „Daher auch die Wichtigkeit des Findens und Erfindens von Zwischengliedern“933, welche „die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeit, den Zusammenhang, der Tatsachen lenken“934. Wenn hier von „Ähnlichkeiten“ die Rede ist, so ist damit zweierlei gemeint: Einerseits die Ähnlichkeiten, die verschiedene fremde Riten und Gebräuche untereinander aufweisen, andererseits die Ähnlichkeiten zwischen den fremden und den eigenen Gebräuchen. Für ein befriedigendes Verständnis der Gebräuche ist 930

F, 36. VB, 571. 932 F, 30. 933 PU, § 122. 934 F, 37. 931

283 Wittgenstein zufolge insbesondere diese zweite Art von Ähnlichkeit, eine gewisse Vertrautheit, entscheidend. Zwischen fremden und eigenen Gepflogenheiten besteht nach Wittgenstein nicht nur eine Reihe von Ähnlichkeiten, sondern auch eine Verwandtschaft. Ihre Herkunft ist letztlich dieselbe. Sie alle haben ihren Ursprung in tief sitzenden allgemeinmenschlichen Gefühlen und Bedürfnissen. Das ist der Grund, weshalb die fremden Rituale etwas Vertrautes an sich haben, das wir von uns selbst her kennen: „[D]as Prinzip, nach welchem diese Gebräuche geordnet sind, ist ein viel allgemeineres als Frazer es erklärt und in unserer eigenen Seele vorhanden, so dass wir uns alle Möglichkeiten selbst ausdenken könnten.“935 Das Faszinierende fremder Rituale besteht darin, dass die Gefühle, die dahinter stehen, uns vertrauter sind, als wir meinen. Die Befriedigung, die wir suchen, wenn wir diese Bräuche verstehen wollen, stellt sich nach Wittgenstein erst ein, wenn wir die fremden Bräuche „mit unsern eigenen Gefühlen und Gedanken in Verbindung“936 bringen. Fremde Menschen zu verstehen heißt, ihr Verhalten in gewisser Weise nachvollziehen zu können, uns selbst in ihnen wiederzuentdecken und ihr Verhalten als Variation unseres eigenen zu sehen. Ethnologische Erklärungen seien unbefriedigend, „wenn sie nicht letzten Endes an eine Neigung in uns selbst appellierten“937. Das Unbehagen, das wir beim Anblick fremder Kulturen und Praktiken verspüren, löst sich Wittgenstein zufolge nicht dadurch, dass wir uns über die Entstehungsgeschichte dieser Praktiken informieren oder genealogische Hypothesen aufstellen. Wir wollen verstehen, was die Menschen an diesen Praktiken finden. Dazu müssen wir versuchen, ihr Verhalten so gut es geht nachzuvollziehen. Schroeder schreibt dazu: „Wir verstehen solche Handlungen, soweit wir darin Züge des uns vertrauten menschlichen Lebens wieder erkennen. Insbesondere aber wenn wir sie mit unseren eigenen Neigungen in Verbindung bringen können.“938 Wir müssen also auf Gemeinsamkeiten aufmerksam werden. Dann können wir uns mit ein bisschen Phantasie „in sie finden“939, wie Wittgenstein schreibt. Oft basieren 935

F, 33. F, 40. 937 F, 34. 938 Schroeder, Das Privatsprachenargument, 122. McGuinness schreibt: „understanding the ritual of a primitive people involves bringing in an inclination we ourselves feel“ (Freud and Wittgenstein, 231). Vgl. Bell, Wittgenstein’s Anthropology, 309; Clack, Wittgenstein, Frazer and Religion, 73 ff. 939 PU II, 568. 936

284 die bizarren Verhaltensmuster nämlich auf Bedürfnissen und Gefühlen, die wir alle kennen. Nur durch ein nachvollziehendes Verstehen verschwindet das beunruhigende Gefühl, welches das fremdartige Verhalten bei uns hinterlässt. Wir müssen lernen, das Vertraute und Natürliche940 im Fremden zu sehen – das Fremde als Variation des Eigenen, und umgekehrt. Fremde Verhaltensweisen zu verstehen, heißt Wittgenstein zufolge, mit ihnen „mitgehen“ können – ähnlich wie wir mit Musik mitgehen können, die wir verstehen.941 Wir müssen in den fremden Verhaltensweisen eine innere Logik finden, die uns in gewisser Weise vertraut ist. Schulte schreibt: Wie Kunstwerke haben [die fremden Gebräuche] eine innere Gesetzmäßigkeit, eine innere Natur, die im Rahmen einer Geschichte entfaltet werden kann […] Aber in dem Maße, in dem wir eine Geschichte über die innere Natur des Fremden erzählen und sie uns verständlich machen können, stoßen wir auf etwas Eigenes, aus innerer Erfahrung Bekanntes – etwas, was uns über unsere eigene innere Natur belehrt.942

So wie uns ein Roman helfen kann, uns selbst besser zu verstehen, so lernen wir auch durch den Versuch, fremde Menschen zu verstehen, oft etwas über uns selbst. Fremdes zu verstehen, heißt immer auch, das Fremde an sich selbst zu verstehen, sein Selbst zu erweitern, um es im anderen wiederzuentdecken. Zwischen dem ethnologischen und dem ästhetischen Verstehen gibt es zwei auffallende Parallelen.943 Der Eindruck, den ein ästhetisch ansprechender Gegenstand auf uns macht, drängt ebenso nach einer Klärung wie der Eindruck, den fremde Verhaltensweisen bei uns hinterlassen. In beiden verbirgt sich Vertrautes. Man sucht nach einem passenden Vergleich und fragt sich: „Woher kenne ich das? Woran erinnert es mich? Irgendwie kommt mir das bekannt vor“. Erst ein passender Vergleich schafft Befriedigung, indem er einen prägenden Aspekt unseres Erlebens hervorhebt.944 Zudem ist das ethnologische Verstehen, ebenso wie das ästhetische, in erster Linie ein Mitgehen-Können. Das Verstehen eines Menschen hat viel Ähnlichkeit mit dem Verstehen einer musikalischen Phrase. Es handelt 940

M, 316. PG, § 72; VB, 548; BGM, 81. 942 Schulte, Naturgeschichte und Verstehen des Fremden, 60-61. 943 Vgl. M, 312 u. 316. 944 Vgl. Kapitel 6.2 u. 6.3. 941

285 sich in beiden Fällen um ein nachvollziehendes Verstehen, um die Fähigkeit, sich hineinzuversetzen. 9.3 Ästhetisches Verstehen in der Mathematik Wittgenstein konstatiert 1936 eine „seltsame Ähnlichkeit“ zwischen ästhetischen und philosophischen Untersuchungen und meint, „besonders in der Mathematik“ käme die Ähnlichkeit zum Tragen: Die seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung (vielleicht besonders in der Mathematik) und einer ästhetischen, etwa, was an diesem Kleid schlecht ist, wie es gehörte, etc. Es heißt eben auch da: „Was passt hier noch nicht?“ und auch da sagt das stumpfere Gefühl: „es ist ja schon alles in Ordnung.“ […] Die Ähnlichkeit reicht sehr weit.945

Wittgenstein zufolge gibt es Parallelen zwischen der mathematischen und einer ästhetischen Richtigkeit: Wenn wir in der Architektur von der „richtigen“ Höhe eines Fensters oder in der Musik von der „richtigen“ Auflösung eines Akkordes sprechen, dann handelt es sich dabei um eine Art von Richtigkeit, der wir auch in der Mathematik begegnen. Er meint sogar, es gäbe eine „genaue Entsprechung eines richtigen (überzeugenden) Übergangs in der Musik und in der Mathematik“946. Moore zufolge soll Wittgenstein in einer Vorlesung gesagt haben „that such a statement as ‚The bass moves too much’ is […] like a piece of Mathematics […] like solving a mathematical problem“947. Die Aufgabe, eine passende Basslinie zu einer Melodie zu schreiben oder eine passende Krawatte zu einem Hemd zu finden, gleicht einer mathematischen Aufgabe. Wenn wir uns fragen, wie die unten stehende Buchstabenreihe stilistisch korrekt fortzusetzen ist, dann ist das Wittgenstein zufolge „ein Problem von der Art der mathematischen Probleme“.

ABC Wie sähe der Buchstabe „D“ aus? 945

Ms 119, 88v-89r. BGM, 192. 947 M, 314. 946

286 Wittgenstein selbst wählt ein musikalisches Beispiel: Nimm ein Thema wie das Haydnsche (Choral St. Antons), nimm den Teil einer der Brahmsschen Variationen, der dem ersten Teil des Themas entspricht, und stell die Aufgabe, den zweiten Teil der Variation im Stil ihres ersten Teiles zu konstruieren. Das ist ein Problem von der Art der mathematischen Probleme. Ist die Lösung gefunden, etwa wie Brahms sie gibt, so zweifelt man nicht; – dies ist die Lösung. Mit diesem Weg sind wir einverstanden. Und doch ist es hier klar, dass es leicht verschiedene Wege geben kann, auf deren jedem wir einverstanden sein können, deren jeden wir konsequent nennen könnten.948

Wittgenstein legt mit solchen Bemerkungen nahe, in der Mathematik gehe es – ähnlich wie bei ästhetischen Überlegungen – darum, zu beurteilen, ob etwas „passt“, „stimmig“ wirkt oder „richtig“ aussieht. Was er mit diesen ambitioniert klingenden Thesen meint, wird klarer, wenn wir uns sein Verständnis von Mathematik näher anschauen. Im Folgenden werde ich also Wittgensteins Philosophie der Mathematik umrisshaft darstellen und dabei insbesondere jene Züge hervorheben, die für den Vergleich mit der Ästhetik relevant sind. 9.3.1 Regeln Wittgensteins Philosophie der Mathematik ist verblüffend radikal. Ihm zufolge ist der Mathematiker „ein Erfinder, kein Entdecker“949. Bei mathematischen Gleichungen wie „5 + 7 = 12“ handle es sich um grammatische Sätze. Die Gleichung „5 + 7 = 12“ legt also fest, was die Zeichen „5“, „+“, „7“, „=“ und „12“ bedeuten, ähnlich wie die Gleichung „i2 = -1“ den korrekten Gebrauch des Zeichens „i“ festlegt. Dass dem so ist, zeigt sich daran, wie wir die Gleichung „5 + 7 = 12“ verwenden: Angenommen, wir wissen, dass in einer Kiste fünf Äpfel und in einer anderen sieben Äpfel liegen – wir haben sie selbst hineingelegt und abgezählt. Nun schütten wir alle Äpfel zusammen und zählen sie, kommen dabei aber auf dreizehn Äpfel. In einem solchen Fall werden wir nicht überrascht feststellen „Fünf und sieben ergibt also nicht zwölf, sondern dreizehn“, sondern wir werden sagen „Ich muss mich verrechnet haben, schließlich ergibt fünf und sieben zusammen zwölf“. Wir verwenden den mathematischen Satz „5 + 7 = 12“ 948 949

BGM, 370. BGM, 99.

287 also als Maßstab, der festlegt, was als korrektes Addieren gilt. Einen Vorgang, bei dem sich aus 5 und 7 die Zahl 13 ergibt, würden wir nicht „Addition“ nennen. Genauso wenig würden wir einen Mann als „Junggesellen“ bezeichnen, wenn er verheiratet ist. Mathematische Sätze haben also den Status von Regeln: Bedenken wir, wir werden in der Mathematik von grammatischen Sätzen überzeugt; der Ausdruck, das Ergebnis, dieser Überzeugtheit ist also, dass wir eine Regel annehmen.950 Ich will doch sagen: Die Mathematik ist als solche immer Maß und nicht Gemessenes.951 Der mathematische Satz soll uns ja zeigen, was zu sagen SINN hat.952

Mathematische Regeln legen fest, welche Zeichenoperationen wir als „Addieren“ und welche wir als „Quadrieren“ bezeichnen. Zudem geben sie uns Regeln an die Hand, nach denen wir aus einem empirischen Satz einen anderen ableiten können: „Ich habe drei Flaschen Bier gekauft. Nun sind wir zu viert. Es fehlt also eine Flasche – wenn jeder eine möchte.“ Der mathematische Satz „3 - 4 = -1“ befähigt und berechtigt uns, solche Schlussfolgerungen zu machen. Er ist ein „inference ticket“.953 Regeln beschreiben nicht, sondern sie schreiben vor. Sie sind nicht wahr oder falsch, sondern sie bewähren sich oder nicht.954 Regeln bewähren sich, wenn die Verhaltensweisen, die sie Vorschreiben, unseren Anlagen und Neigungen entgegenkommen. Sich bewährende Regeln und Konventionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zur Welt, zu uns Menschen und zu bereits bestehenden Konventionen passen. Obwohl Regeln weder wahr noch falsch sind, sind sie also keineswegs beliebig. Uns steht es nicht frei, logische und mathematische Regeln nach Gutdünken zu verändern, denn diese sind gleichsam Resümees unserer Denk- und Lebenspraxis, zur Regel verhärtete Denkgewohnheiten:

950

BGM, 162. BGM, 201. Vgl. BGM, 96. 952 BGM, 164. 953 Vgl. Ryle, The Concept of Mind, 117. Allerdings können auch empirische Sätze inference tickets sein. Es handelt sich also lediglich um eine notwendige, jedoch nicht um eine hinreichende Bedingung für grammatische Sätze bzw. Regeln. 954 BGM, 41. 951

288 Denken und Schließen (sowie das Zählen) ist für uns natürlich nicht durch eine willkürliche Definition umschrieben, sondern durch natürliche Grenzen, dem Körper dessen entsprechend, was wir die Rolle des Denkens und Schließens in unserem Leben nennen könnten.955 Die logischen Gesetze sind allerdings Ausdruck von ‚Denkgewohnheiten’, aber auch von der Gewohnheit zu denken. D. h. man kann sagen, sie zeigten: wie Menschen denken und auch, was Menschen „denken“ nennen.956

Wittgenstein vergleicht das Aufstellen einer mathematischen Regel mit dem Bau einer Strasse, die durch ein Moor verläuft. Der Verlauf der Strasse soll nicht beliebig sein, sondern dem Weg entsprechen, der für uns der „natürlichste“ ist: It is like finding the best place to build a road across the moors. We may first send people across, and see which is the most natural way for them to go, and then build the road that way.957

Wir bilden Strassen, wo sich durch das regelmäßige Abschreiten schon ein Weg gebildet hat. Das heißt, wir machen aus einer Regelmäßigkeit eine Regel. Sobald die Strasse gebaut ist, muss man auf ihr gehen – ansonsten werden wir von unseren Mitmenschen zurechtgewiesen. Wittgenstein spricht davon, dass ein mathematischer Satz wie „3 x 4 = 12“ ein „zur Regel verhärteter Erfahrungssatz“958 sei. Den Regeln, denen wir folgen, liegen also Neigungen zu Regularitäten zugrunde – es gibt eine „Neigung zur Pflicht“, um in Anlehnung an Schiller zu sprechen. In diesem Zusammenhang ist eine Stelle aufschlussreich, an der Wittgenstein mathematische mit musikalischen Regeln vergleicht und meint, wir würden nicht willkürlich irgendwelchen musikalischen Regeln folgen, sondern nur solchen, die uns in gewisser Weise „wohlvertraut“ seien. Eine Zusammenstellung musikalischer Themen müsse eine „Pointe“ haben und einem „in uns schon vorhandenen Paradigma“, einer „Geste“ entsprechen: Damit hängt zusammen: Wir möchten manchmal sagen, ‚es muss doch einen Grund haben, warum auf dieses Thema – in einem Sonatensatz etwa – gerade das Thema folgt’. Als Grund würden wir eine gewisse Beziehung der beiden Themen, eine Verwandtschaft, einen Gegensatz, oder derglei955

BGM, 80. BGM, 89. 957 LFM, X, 95. 958 BGM, 325. 956

289 chen, anerkennen. – Aber wir können ja eine solche Beziehung konstruieren: sozusagen eine Operation, die das eine Thema aus dem andern erzeugt; aber damit ist uns nur gedient, wenn diese Beziehung eine uns wohlvertraute ist. Es ist also, als müsste die Folge dieser Themen einem in uns schon vorhandenen Paradigma entsprechen. […] Man könnte auch fragen: Welche Zusammenstellung von Themen hat eine Pointe, welche keine? Oder: Warum hat diese Zusammenstellung eine Pointe und die keine? Das mag nicht leicht zu sagen sein! Oft können wir sagen: ‚Diese entspricht einer Geste, diese nicht.959

Man kann sich Regeln des Redens, Denkens und Handelns vorstellen, die uns so fremd sind, dass wir sie „nicht mit persönlichem Inhalt erfüllen“ können: man „kann nicht wirklich mitgehen – mit seinem Verstand, mit seiner Person. Es ist ähnlich, wie man sagt: Diese Tonfolgen geben keinen Sinn, ich kann sie nicht mit Ausdruck singen. Ich kann nicht mitschwingen.“960 Solche Regeln können wir uns nicht zu eigen machen. Regeln – mathematische ebenso wie musikalische – müssen zu unserer Lebensform passen. Wir müssen sie uns aneignen und uns selbst in ihnen ausdrücken können. Uns Menschen ist die Geste des Zeigens von Kindheit an vertraut. Wenn jemand mit seinem Finger auf etwas zeigt, dann richten wir unseren Blick ganz natürlich und wie von selbst in die Richtung, in die gezeigt wird. Anderen Tierarten ist dieses Verhaltensmuster fremd: Wenn man vor einer Katze auf ein Objekt zeigt, schaut sie nicht auf den Gegenstand, sondern auf die zeigende Hand. Einer Katze können wir die Zeige-Regel „Richte den Blick dahin, wo der Finger zeigt“ nicht beibringen, da ihr die Neigung fehlt, dieser Regel zu folgen. Jemand, der in dem, was wir einen „logischen Schluss“ nennen, keinen selbstverständlichen und natürlichen Übergang sieht, „der trennt sich von uns, noch ehe es zur Sprache kommt“961, wie Wittgenstein schreibt. Wer nicht sieht, dass aus der Wahrheit der beiden Sätze „Wenn p, dann q“ und „p“ die Wahrheit von „q“ folgt, dem kann man nichts beweisen: „Als letztes Argument, gegen Einen, der nicht so gehen wollte, würde ich nur noch sagen: ‚Ja siehst du denn nicht …!’ – und das ist doch kein Argument.“962 Ein solcher Mensch scheint die logischen Ausdrücke „wenn …, dann …“ anders zu verstehen. Wir müssen ihn also zunächst auf unseren Begriffs959

BGM, 100-101. BGM, 81. 961 BGM, 60. 962 BGM, 50. Vgl. Z, §§ 301-302. 960

290 gebrauch abrichten. Die Situation wäre derjenigen zu vergleichen, in der wir eine Katze darauf abzurichten versuchen, dass sie nicht auf die zeigende Hand, sondern auf das Gezeigte schaut. Ein solches Verhalten liegt aber nicht in ihrer Natur. Was für uns Menschen eine von Natur aus verständliche Geste ist, muss anderen Wesen nicht zwingend etwas sagen. 9.3.1 Beweise Mathematische Erklärungen und Beweise sollen Verständnis, Übersicht und Klarheit schaffen. Dies können sie nach Wittgenstein nur leisten, wenn sie eine Sachlage „anschaulich“963 darstellen. Letztlich muss uns in der Mathematik, ähnlich wie in der Ästhetik und in der Philosophie, eine Sichtweise überzeugen, ein Bild. Er spricht davon, dass wir durch einen mathematischen Beweis „überredet“ werden, gewisse „Erscheinungen (Bilder) als Vorlagen zu nehmen“964. Die Überzeugungskraft eines mathematischen Beweises basiert also auf der Anziehungskraft eines Bildes. Dieses muss in gewisser Weise für sich selbst sprechen. Es muss uns ansprechen und wir müssen geneigt sein, es zu einem Muster unseres Denkens zu machen. Ein Beweis muss nach Wittgenstein eine „einprägsame“ und „charakteristische“ visuelle Gestalt haben, wie ein menschliches Gesicht:965 Was zeigt uns der, der 4 Kugeln in 2 und 2 trennt, sie wieder zusammenschiebt, wieder trennt, etc.? Er prägt uns ein Gesicht ein und eine typische Veränderung dieses Gesichts.966

Wer für die Multiplikation „16 x 16 x 16 x 16“ die Abkürzung „164“ erfindet, der hat nicht bloß eine neue Schreibweise entdeckt, sondern zugleich eine neue Sichtweise, einen neuen „Aspekt“, wie Wittgenstein schreibt. Die Schreibweise als Potenz macht auf die Anzahl der Faktoren aufmerksam und stellt damit eine Verbindung zwischen einer Reihe von Produkten und der Zahlenreihe her.967 Sie macht einen Zusammenhang sichtbar und stellt etwas übersichtlich und einprägsam dar. 963

BGM, 173. BGM, 170. 965 BGM, 151. 966 BGM, 67. Vgl. BGM, 150, 248. 967 BGM, 180. 964

291 Eine neue Sichtweise kann Klarheit, Einfachheit und Übersicht schaffen. Sie kann eine vertraute Gestalt hervortreten lassen, wo wir bisher nur Unzusammenhängendes gesehen haben. Felix Mühlhölzer weist auf eine Bemerkung hin, die deutlich macht, was Wittgenstein im Sinn hat, wenn er davon spricht, der Mathematiker entdecke neue „Aspekte“. Ein besonders plastisches Beispiel […] ist das folgende, von W[ittgenstein] eigens erfundene: Angenommen, Leute hätten das Schachspiel ausschließlich in der notationellen Form gelernt, mit der wir üblicherweise Schachpartien codieren („e2-e4“ „e7-e5“, etc.); insbesondere würden auch die Schachregeln nur in dieser Notation präsentiert, ohne dass man jemals an ein ‚Schachbrett’ und ‚Schachfiguren’, die auf einem Brett ‚gezogen’ werden, dächte. Im Vergleich zu uns, die wir das Spiel mit Brett und Figuren realisieren und entsprechend wahrnehmen, wären diese Leute durch die Beschränkung auf dieses Schreibspiel (wie W[ittgenstein] es nennt) geradezu blind – und wie würden ihnen dann die Augen geöffnet, wenn jemand eines Tages das Brettspiel sozusagen hinzuerfände. Derjenige erfände tatsächlichen einen ‚neuen Aspekt’; aber wie matt ist der Ausdruck „neuer Aspekt“ für das, was sich hier in Wirklichkeit auftut! In Wirklichkeit sehen diese Leute ungleich mehr als zuvor, und sie könne dadurch eben auch sehr viel mehr verstehen. Dieses neue Verstehen sollte sich in neuen Handlungsmöglichkeiten manifestieren, im Falle der Mathematik in neuen Arten und Fähigkeiten der Zeichenverwendung.968

Ein Beweis ist Wittgenstein zufolge ein für uns Menschen einprägsames Paradigma, ein neuer Maßstab, der festlegt, was unter mathematischen Ausdrücken wie „Dividieren“, „Ausklammern“ oder „Logarithmieren“ zu verstehen ist. Insofern schafft ein neuer Beweis einen neuen Begriff. Er legt einen Maßstab, eine Regel fest. Ein Beweis sei gelungen, wenn „der Mensch sich in die neue Regel hineinstürzt“969. Eine mathematische Regel hat aber nur Anziehungskraft, wenn sie „an eine Neigung in uns appelliert“970. Das Befolgen der Regel muss uns leicht fallen und die einzelnen Schritte und Übergänge müssen uns natürlich vorkommen. Die Regel muss eine „einprägsame Gestalt“, ein „Gesicht“971 haben.972 Bei der For968

Mühlhölzer, Braucht die Mathematik eine Grundlegung?, 310. Vgl. MS 122, 90r. BGM, 244. 970 F, 33. 971 Vgl. PU 228: „‚Eine Reihe hat für uns ein Gesicht!’“. Wittgenstein spricht in diesem Paragraphen auch von dem „charakteristischen Zug“ einer Reihe und von dem „Mund der Regel“. Siehe auch BPP, § 505. 969

292 derung nach Einprägsamkeit und Gestalthaftigkeit handelt es sich aber um eine ästhetische Forderung. Wittgenstein möchte mit seinen Überlegungen zeigen, dass die Regeln der Mathematik auf unserer Lebensform und mithin auch auf unserem ästhetischen Empfinden basieren. Er möchte zeigen, „wie viel [zu] der Physiognomie dessen gehört, was wir im alltäglichen Leben ‚einer Regel folgen’ nennen!“973. Ein mathematischer Beweis legt uns durch ein Bild eine Regel nahe. Dieses Bild kann uns aber nicht zwingen, die Regel zu akzeptieren. Wittgenstein ist der Ansicht, dass es in der Mathematik, ähnlich wie in der Musik, „verschiedene Wege geben kann, auf deren jedem wir einverstanden sein können, deren jeden wir konsequent nennen könnten“974. Es gibt Wittgenstein zufolge keine zwingenden Gründe, sich für einen bestimmten Maßstab, eine bestimmte Regel zu entscheiden. Was es gibt, sind praktische Bedürfnisse und ästhetische Vorlieben: Nun, ich könnte ja sagen: der Mathematiker erfindet immer neue Darstellungsformen. Die einen, angeregt durch praktische Bedürfnisse, andre aus ästhetischen Bedürfnissen, – und noch mancherlei anderen. Und denke dir hier einen Gartenarchitekten, der Wege für eine Gartenanlage entwirft; es kann wohl sein, dass er sie bloß als ornamentale Bänder auf dem Reißbrett zieht und gar nicht daran denkt, dass jemand einmal auf ihnen gehen wird.975

Wittgenstein zufolge entscheiden sich Mathematiker manchmal auch aufgrund ästhetischer Kriterien für eine bestimmte Darstellungsweise, wie ein Gartenarchitekt, der beim Entwurf der Wege durch den Garten in erster Linie daran denkt, wie diese Wege aussehen, ob sie das Bild des Gartens verschönern, und nicht, ob sie praktisch angelegt sind und ohne große Umwege zum Ziel führen. Der Mathematiker vollzieht mit seinen Beweisen – ähnlich wie der Kunstkritiker – einen „perceptual proof“. Er zeigt uns etwas. Was uns letztlich überzeugt, ist ein Bild.

972

BPP I, 505: „‚Dieses Gesicht hat einen ganz bestimmten Charakter’ – heißt eigentlich: es ließe sich viel darüber erzählen […] Ist die Situation nicht ähnlich wie die: ‚Jetzt weiß ich weiter!’“. 973 BGM, 422. 974 BGM, 370. 975 BGM, 99. VGM, 96.

293

10. Schluss Wittgenstein zufolge ist es die Aufgabe der Ästhetik, unsere ästhetische Praxis zu beschreiben. Diese Praxis ist allerdings äußerst vielgestaltig. Das macht es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, allgemeine Aussagen zu treffen. Die Kunst gibt es nicht, ebenso wenig wie das ästhetische Erleben, das ästhetische Ideal, das Verstehen von Kunst oder die Rede über ästhetische Objekte. Jeder Fall sieht anders aus. Und doch gibt es Ähnlichkeiten, gewisse Züge, die in leicht veränderter Form immer wieder auftauchen. Einige davon hat Wittgenstein hervorgehoben. Man könnte von Leitmotiven seiner Ästhetik sprechen und sie in folgenden Thesen zusammenfassen: Ästhetische Qualitäten gleichen Aspekten. Mit ästhetischen Urteilen drücken wir in der Regel aus, wie wir etwas erleben. Was ein Kunstwerk ausdrückt, ist von ihm nicht zu trennen. Ein Kunstwerk zu verstehen, heißt sich in ihm zu Hause zu fühlen. Vergleiche beschreiben unsere ästhetischen Eindrücke oft am treffendsten. Wenn wir wissen möchten, warum uns etwas gefällt, dann suchen wir nach Gründen, nicht nach Ursachen. Wir begründen unsere ästhetischen Einschätzungen gegenüber anderen Personen, indem wir sie etwas wahrnehmen lassen. Etwas kann einen ästhetisch „richtigen“ und „falschen“ Eindruck machen. Wenn wir ein ästhetisches Objekt beurteilen, dann legen wir Maßstäbe an, über die wir uns selten im Klaren sind. In unseren ästhetischen Vorlieben spiegeln sich unsere Lebensideale. Der Stil eines Künstlers verrät uns etwas über seine Persönlichkeit. Die Beschäftigung mit Kunst kann eine Schule des Lebens sein. Und schließlich: Die Aufgabe des Philosophen gleicht derjenigen des Kunstkritikers: Beide schaffen Klarheit und lassen uns etwas auf neue Weise sehen. Diese „Thesen“ sind als Resümees unserer ästhetischen Praxis zu verstehen. Wittgenstein präsentiert uns ein skizzenhaftes Bild dieser Praxis und hebt dabei Züge hervor, die er für charakteristisch hält. Insofern gleicht das Bild einer Karikatur, die – wie ich finde – sehr treffend ist und in grundlegenden Fragen der philosophischen Ästhetik Klarheit schafft.

295

11. Literaturverzeichnis Primärliteratur WITTGENSTEIN Ludwig, - Werkausgabe (WA), in 8 Bänden, Frankfurt 1984. - Wittgenstein’s Nachlass: Text and Facsimile Version. The Bergen Electronic Edition (BEE), Oxford 2000. Siglen BlB Das Blaue Buch (WA 5) BrB Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch) (WA 5) BGM Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (WA 6) BPP Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie (WA 7) BT The Big Typescript, hrg. von Nedo, Berlin 2001 CF Conversations on Freud, in: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, hrg. von Cyril Barrett, Berkeley 2007. DS Diktat für Schlick (BEE) DB Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932, 1936-37, hrg. von Somavilla, Frankfurt 1999 ÜF Bemerkungen über Farben (WA 8) F Bemerkungen über Frazers „The Golden Bough“, in: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrg. von Schulte, Frankfurt 1995 LA Lectures on Aesthetics, in: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, hrsg. von Cyril Barrett, Berkeley 2007 LFM Lectures on the Foundations of Mathematics, hrg. von Diamond, Ithaka 1976 LoD Lecture on Description LSP Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie (WA 7) M G. E. Moore, „Wittgenstein’s Lectures in 1930-33, III“, in: Moore, Philosophical Papers, London 1959 MS Manuskript (BEE) PB Philosophische Bemerkungen (WA 2) PG Philosophische Grammatik (WA 4)

296 PO PU Tb TLP TS VB VO VüE ÜG Z

Philosophical Occasions: 1912-51, hrg. von Klagge/Nordmann, Indianapolis 1993 Philosophische Untersuchungen (WA 1) Tagebücher 1914-1916 (WA 1) Tractatus Logico-Philosophicus (WA 1) Typoskript (BEE) Vermischte Bemerkungen (WA 8) Vorlesungen 1930-35, hrg. von Lee und Ambrose, Frankfurt 1989 Vortrag über Ethik, in: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrg. von Schulte, Frankfurt 1995 Über Gewissheit (WA 8) Zettel (WA 8)

Sekundärliteratur ADORNO Theodor, - Ästhetische Theorie, Frankfurt 2003. - Ästhetik (1958/59) (in: Nachgelassene Schriften IV, Vorlesungen, Bd. 3), Frankfurt 2009. ALBER Martin, „‚Jetzt brach ein Licht heran, …’. Über Aspekte des Musikalischen in Biographie und Werk Ludwig Wittgensteins“, in: Wittgenstein und die Musik. Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder: Briefwechsel, Innsbruck 2000. ALDRICH Virgil, - „Pictorial Meaning, Picture-Thinking, and Wittgenstein’s Theory of Aspects“, in: Mind 67 (1958). - Philosophy of Art, New Jersey 1963. ARNHEIM Rudolf, „Expression“, in: Philipson (Hg.), Aesthetics Today, Cleveland 1961. AUDI Robert, - „Acting for Reasons“, in: The Philosophical Review 95/4 (1986). - „Reason/Cause“, in: Dancy/Sosa (Hg.) A Companion to Epistemology, Oxford 2000.

297 AUSTIN John Langshaw, - „Other Minds“, in: Austin, Philosophical Papers, Oxford 1961. - Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 2002. BAKER Gordon, - „Wittgenstein’s Method and Psychoanalysis“, in: Baker, Wittgenstein’s Method. Neglected Aspects, Oxford 2004. BARRETT Cyril / PATON Margaret / BLOCKER Harry, „Symposium: Wittgenstein and Problems of Objectivity in Aesthetics“, in: British Journal of Aesthetics 7/2 (1967). BAZ Avner, „Aspect Perception“, in: Kelly (Hg.), Wittgenstein. Key Concepts, Durham 2010. BEARDSLEY Monroe, - Aesthetics: Problems in the Philosophy of Criticism, Indianapolis 1981. - „What is an Aesthetic Property?“, in: Theoria 39 (1973). BELL Clive, Art, New York 1993. BELL Richard, „Wittgenstein’s Anthropology: Self-Understanding and Understanding Other Cultures“, in: Philosophical Investigations 7/4 (1984). BENDER John, - „General but Defeasible Reasons in Aesthetic Evaluations: The Particularist/Generalist Dispute“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 53/4 (1995). - „Realism, Supervenience, and Irresoluble Aesthetic Disputes“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 54/4 (1996). - „Aesthetic Realism 2“, in: Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2004. BENJAMIN Walter, „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt 1974.

298 BEST David, Feeling and Reason in the Arts, London 1985. BLACK Max, - „Metaphor“, in: Black, Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, New York 1962. - „More about Metaphor“, in: Dialectica 31 (1977). BLACKBURN Simon, - Spreading the Word, Oxford 1984. - „Antirealist Expressivism and Quasi-Realism“, in: Copp (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, New York 2005. BLUMENBERG Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt 1997. BÖHME Gernot, - „Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik“, in: Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995. - „Synästhesien“, in: Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995. BOUVERESSE Jacques, - Poesie und Prosa. Wittgenstein über Wissenschaft, Ethik und Ästhetik, Düsseldorf 1994. - „Gesundheit und Krankheit in Philosophie und Leben“, in: Gebauer/Goppelsröder/Volbers (Hg.), Wittgenstein – Philosophie als „Arbeit an einem selbst“, München 2009. BOUWSMA Oets Kolk, - Wittgenstein: Conversations 1949-1951, Indianapolis 1986. - „The Expression Theory of Arts“, in: Bouwsma: Philosophical Essays, Lincoln 1969. BROWN Stuart, „Observations on Hume’s Theory of Taste“, in: English Studies 20/5 (1938). BUDD Malcolm, - „The Acquaintance Principle“, in: British Journal of Aesthetics 43/4 (2003).

299 - „Wittgenstein on Aesthetics“, in: Budd, Aesthetic essays, Oxford 2008. - „Wittgenstein“, in: Davies et al. (Hg.), A Companion to Aesthetics, Oxford 2009. BULLOUGH Edward, „‚Psychical Distance’ as a Factor in Art and as an Aesthetic Principle“, in: Neill/Ridley (Hg.), The Philosophy of Art: Readings Ancient and Modern, New York 1995. CASCARDI Anthony, „Wittgenstein, Ludwig: Wittgenstein and Literary Theory“, in: Kelly (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics, Oxford 1998. CASEY John, The Language of Criticism, London 1966. CASSIRER Ernst, - „Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie“, in: Berndt/Drügh (Hg.), Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, Frankfurt 2009. - Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1-3, Hamburg 2010. CARROLL Noël, - „Hume’s Of the Standard of Taste“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 43/2 (1984). - „Moderate Moralism“, in: British Journal of Aesthetics 36/3 (1996). - Philosophy of Art. A contemporary introduction, London/New York 1999. - „Aesthetic Experience. A Question of Content“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. CAVELL Stanley, - The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, Oxford 1999. - „Aesthetic Problems in Modern Philosophy“, in: Cavell, Must We Mean What We Say, Cambridge 1969. CHAMORRO-REMUZIC Tomas et al. (Hg.), „Personality predictors of artistic preferences as a function of the emotional valence and perceived complexity of paintings“, Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 4/4 (2010).

300 CIOFFI Frank, - „Explanation, Understanding, and Solace“, in: New Literary History 19/2 (1988). - „Aesthetic Explanation and Aesthetic Perplexity“, in: Cioffi, Wittgenstein on Freud and Frazer, Cambridge 1998. - „Wittgenstein on Freud’s ‚abdominable mess’“, in: Cioffi, Wittgenstein on Freud and Frazer, Cambridge 1998. - „Making the Unconscious Conscious: Wittgenstein versus Freud“, in: Philosophia 37 (2009). CLACK Brian, Wittgenstein, Frazer and Religion, London 1999. COLEMAN Francis, „A Critical Examination of Wittgenstein’s Aesthetics“, in: American Philosophical Quaterly 5/4 (1968). COLLINGWOOD Robin George, The Principles of Art, New York 1958. COOPER David, „Ineffability“, in: Cooper (Hg.), A Companion to Aesthetics, Oxford 1992. CROCHANE Tom, „A Simulation Theory of Musical Expressivity“, in: Australesian Journal of Philosophy 88/2 (2010). DANCY Jonathan, - „Reasons for Actions“, in: Dancy, Practical Reality (PR), Oxford 2000. - „Acting for Good Reasons“, in: Dancy, PR. - „Moral Particularism“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/ archives/spr2009/entries/moral-particularism). DANTO Arthur, - Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt 1991 (The Transfiguration of the Commonplace, Harvard 1981). - „Symbolischer Ausdruck und das Selbst“, in: Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996. DAVIDSON Donald, „What Metaphors Mean“, in: Critical Inquiry 5/1 (1978).

301 DAVIES Steven, - Musical Meaning and Expression, New York 1994. - „Music“, in: Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2005. - „Artistic Expression and the Hard Case of Pure Music“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. - The Philosophy of Art, Oxford 2006. - „Musikalisches Verstehen“, in: Becker/Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt 2007. - „Evolution, Art, and Aesthetics“, in: Davies et al. (Hg.), A Companion to Aesthetics, Oxford 2009. DE BOTTON Alain, Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein, Frankfurt 2006. DEWEY John, Kunst als Erfahrung, Frankfurt 1988 (Englisch: Art as Experience, New York 1980). DICKIE George, - Evaluating Art, Philadelphia 1988. - „Iron, Leather, and Critical Principles“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. DILMAN Ilham, „Von Wright on Wittgenstein: Philosophy and Culture“, in: Johannessen/Nordenstam (Hg.), Wittgenstein and the Philosophy of Culture. Proceedings of the 18th International Wittgenstein Symposium, Wien 1996. DERRIDA Jacques, „Restitutionen – von der Wahrheit nach Maß“, in: Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992. DRETSKE Fred, „Epistemic Operators“, in: Journal of Philosophy 67/24 (1970). DRURY Maurice, „Gespräche mit Wittgenstein“, in: Ludwig Wittgenstein: Portraits und Gespräche, hrg. von Rhees, Frankfurt 1987.

302 DUTTON Denis, „Aesthetics and Evolutionary Psychology“, in: Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2005. ELDRIDGE Richard, „Problems and Prospects of Wittgensteinian Aesthetics“, The Journal of Aesthetics and Art Criticism 45/3 (1987). ELLIOTT Raymond Kenneth, - „The Unity in Kant’s ‚Critique of Aesthetic Judgement’“, in: British Journal of Aesthetics 8/3 (1968). ENGELMANN Paul, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, Wien 1970. FECHNER Gustav Theodor, Vorschule der Ästhetik, Hildeheim 1978. FISCHER Eugen, „The Diseases of the Understanding and the Need for Philosophical Therapy“, in: Philosophical Investigations 34/1 (2011). FOGELIN Robert, Figuratively Speaking, New Haven 1988. FREEDBERG David / GALLESE Vittorio, „Motion, Emotion and empathy in esthetic experience“, in: Trends in Cognitive Science 11/5 (2007). FRITZ Tom, „Universal Recognition of Three Basic Emotions in Music“, in: Current Biology 19/7 (2009). GABRIELSSON Alf, „Emotion Perceived and Emotion Felt: Same or Different?“, in: Musicae Scientiae, Special Issue, 2001-2002. GAUT Berys, - „Art and Cognition“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. - „The Ethical Criticism of Art“, in: Cahn/Meskin (Hg.), Aesthetics. A Comprehensive Anthology, Oxford 2008. GIBBARD Allan, Wise Choices, Apt Feelings, Cambridge 1990.

303 GLOCK Hans-Johann, - „Philosophical Investigations section 128: Theses in Philosophy and Undogmatic Procedure“, in: Arrington/Glock (Hg.), Wittgenstein's Philosophical Investigations, London/New York 1991. „Perspectives on Wittgenstein: An Intermittently Opinionated Survey“, in: Kahane/Kanterian/ Kuusela (Hg.), Wittgenstein and his interpreters: essays in memory of Gordon Baker, Oxford 2007. - „Abusing Use“, in: Dialectica 50/3 (1996). - „Necessity and normativity“, in: Sluga/Stern (Hg.): The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996. - „Forms of Life: Back to Basics“, in: Neumer (Hg.), Das Verstehen des Anderen (Wittgenstein-Studien Bd. 1), Frankfurt 2000. - Wittgenstein-Lexikon, Darmstadt 2000. GMÜR Felix, Ästhetik bei Wittgenstein. Über Sagen und Zeigen, Freiburg/München 1998. GOETHE Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurt 1985. GOLDIE Peter / SCHELLEKENS Elisabeth (Hg.), Who’s Afraid of Conceptual Art?, London/New York 2010. GOLDMAN Alan, - „Realism about Aesthetic Properties“, Journal of Aesthetics and Art Criticism 51 (1993). - Aesthetic Value, Boulder 1995. - „Aesthetic Properties“, in: Davies et al. (Hg.), A Companion to Aesthetics, Oxford 2009. - „There are no Aesthetic Principles“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. GOMBRICH Ernst, - Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London 1960. - „Style“, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1968. - Geschichte der Kunst, Berlin 1995.

304 GOODMAN Nelson, - Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt 1997 (Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 1968). - „Der Status des Stils“, in: Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt 1990. GOPPELSRÖDER Fabian, „Sraffas Geste. Zur späten Philosophie Wittgensteins“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 61/5 (2007). GOVERS Pascalle, - „‚I love my Jeep, because it’s tough like me’. The effect of productpersonality congruence on product attachment“ (mit Ruth Mugge), in: Kurtgözü (Hg.), Proceedings of the Fourth International Conference on Design and Emotion, Ankara 2004. - „Product personality and its influence on consumer preference“ (mit Jan Schoormans), in: Journal of Consumer Marketing 22/4 (2005). GUTER Eran, „Critical Study: An Inadvertent Nemesis – Wittgenstein and Contemporary Aesthetics“, in: British Journal of Aesthetics 45/3 (2005). HACKER Peter, Wittgenstein: Understanding and Meaning. Part I: Essays (mit Gordon Baker), Oxford 2005. - „Gordon Baker’s Late Interpretation of Wittgenstein“, in: Kahane/Kanterian/Kuusela (Hg.), Wittgenstein and his interpreters: essays in memory of Gordon Baker, Oxford 2007. HAGBERG Garry, - Art as Language: Wittgenstein, Meaning and Aesthetic Theory, New York 1995. - „Wittgenstein, Ludwig. Reception of Wittgenstein“, in: Kelly (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics, Oxford 1998. - „Wittgenstein’s Aesthetics“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/ entries/wittgenstein-aesthetics).

305 HANFLING Oswald, - „Wittgenstein on Music and Language“, in: Lewis, WAP. - „‚I heard a plaintive Melody’: (Philosophical Investigations, p. 209)“, in: Dhanker/Kilfoyle (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Critical Assessments of Leading Philosophers, Bd. 4, London/New York 2002. HANSLICK Eduard, „Vom Musikalisch-Schönen“, in: Ammon/Böhm (Hg.), Texte zur Musikästhetik, Stuttgart 2011. HARE Richard, Freedom and Reason, New York 1965. HEIDEGGER Martin, „Der Ursprung des Kunstwerks“, in: Heidegger, Holzwege, Frankfurt 2003. HEIDER Fritz, - „An experimental study of apparent behaviour“ (mit Marianne Simmel), American Journal of Psychology 13 (1944). - Psychologie der interpersonalen Beziehungen, Stuttgart 1977. HERTZBERG Lars, „Wittgenstein on the Nature of Aesthetic Remarks“, in: The Nordic Journal of Aesthetics 5/8 (1992). HERMEREN Goran, „The Variety of Aesthetic Qualities“, in: Bender/Blocker (Hg.), Contemporary Philosophy of Art. Readings in Analytic Aesthetics, New Jersey 1993. HESTER Marcus, „Metaphor and Aspect Seeing“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 25/2 (1966). HOPKINS Robert, - „How to Form Aesthetic Belief: Interpreting the Acquaintance Principle“, in: Postgraduate Journal of Aesthetics 3/3 (2006). - „Beauty and Testimony“, in: O’Hear (Hg.): Philosophy: The Good, the True and the Beautiful, Cambridge 2000. HUME David, „Of the Standard of Taste“, in: Cahn/Meskin: Aesthetics. A Comprehensive Anthology, Oxford 2008.

306 INGARDEN Roman, Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967, Tübingen 1969. ISEMINGER, Gary, „The Aesthetic State of Mind“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. ISENBERG Arnold, - „Critical Communication“, The Philosophical Review, 58/4 (1949) („Kunstkritische Mitteilung“, in: Bittner/Pfaff (Hg.), Das ästhetische Urteil, Köln 1977). JANIK Allan / TOULMIN Stephen, Wittgensteins Wien, München 1985. JOHANNESSEN Kjell, - „Wittgenstein and the Aesthetic Domain“, in: Lewis, WAP. - „Art, Philosophy and Intransitive Understanding“, in: Johannessen/Larsen (Hg.), Wittgenstein and Norway, Oslo 1994. JOHNSTON Paul, Wittgenstein. Rethinking the Inner, New York 1993. JOURDAIN Robert, Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt, Heidelberg 2009. KAGAN Shelly, The Limits of Morality, Oxford 1989. KANT Immanuel, Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1983. KASPAR Rudolf, Wittgensteins Ästhetik. Eine Studie, Wien 1992. KEIL Geert, - Kritik des Naturalismus, Berlin 1993. - Handeln und Verursachen, Frankfurt 2000. - „Über die deskriptive Unerschöpflichkeit der Einzeldinge“, in: Keil/Tietz (Hg.), Phänomenologie und Sprachanalyse, Paderborn 2006. KIVY Peter, - „Hume’s Standard: Breaking the Circle“, in: British Journal of Aesthetics 7/1 (1967). - Sound Sentiment, Philadelphia 1989.

307 - Music Alone: Philosophical Reflection on the Purely Musical Experience, New York 1990 - New Essays on Musical Understanding, Oxford 2001. KOPPE Franz, „Kunst als entäußerte Weise, die Welt zu sehen. Zu Nelson Goodman und Arthur Danto in weitergehender Absicht“, in: Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt 1991. KORSMEYER Carolyn, „Wittgenstein and the Ontological Problem of Art“, in: Personalist 59/2 (1978). LAMARQUE Peter, „Wittgenstein, Literature, and the Idea of Practice“, in: British Journal of Aesthetics 50/4 (2010). LANGER Susanne, Philosophy in a New Key, Cambridge 1942. LEVINSON Jerrold, - „Being Realistic About Aesthetic Properties“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 52 (1994). - „Pleasure and the Value of Works of Art“, in: Levinson, The Pleasures of Aesthetics, New York 1996. - „Musical Thinking“, in: Midwest Studies in Philosophy 27 (2003). - „Aesthetic Properties“, zusammen mit Derek Matravers, in: Aristotelian Society Supplementary Volume 79 (2005). - „Aesthetic Properties, Evaluative Force, and Differences of Sensibility“, Levinson, Contemplating art: essays in aesthetics, Oxford 2006. - „Musical Expressivness as Hearability-as-expression“, in: Kieran (Hg.), Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, Oxford 2006. LEWIS Peter, - Wittgenstein, Aesthetics and Philosophy (WAP), Aldershot 2004. - „Wittgenstein on Music and Words“, in: The British Journal of Aesthetics 17/2 (1977). - „Wittgenstein’s Aesthetic Misunderstandings“, in: Johannessen (Hg.), Wittgenstein and Aesthetics, Bergen 1997.

308 - „Wittgenstein and ‚The Tremendous Things in Art’“, in: Johannessen/Nordenstam (Hg.), Wittgenstein and the Philosophy of Culture, Wien 1996. LIPPS Theodor, - Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst (in: Grundlegung der Ästhetik, Bd. 1), Hamburg 1903. - Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1906. - „Das Wesen der Einfühlung und die Assoziation“, in: Friedrich/Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007. LOOMIS Eric, „Criteria“, in: Jolley (Hg.), Wittgenstein. Key Concepts, Durham 2010. LÜDEKING Karlheinz, - Analytische Philosophie der Kunst, Frankfurt 1988. - „Pictures and Gestures“, in: British Journal of Aesthetics 30/3 (1990). LYCAN William, „Gombrich, Wittgenstein, and the Duck-Rabbit, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 30/2 (1971). MACDONALD Margaret, „Einige Besonderheiten der ästhetischen Argumentation“, in: Bittner/Pfaff (Hg.): Das ästhetische Urteil, Köln 1977. MACE C.A., „On the Directedness of Aesthetic Responses“, in: British Journal of Aesthetics 8/2 (1968). MALCOLM Norman, Ludwig Wittgenstein: A Memoir, Oxford 1984. MAJETSCHAK Stefan, - Ästhetik zur Einführung, Dresden 2007. - „Kunst und Kennerschaft. Wittgenstein über das Verständnis und die Erklärung von Kunstwerken“, in: Lütterfels/Majetschak (Hg.), „Ethik und Ästhetik sind eins“. Beiträge zu Wittgensteins Ästhetik und Kunstphilosophie (in: Wittgenstein-Studien, Bd. 15), Frankfurt 2007. McADOO Nick, „Wittgenstein and Aesthetic Education“, in: Studies in Philosophy and Education 14 (1995).

309 McFEE Graham, „Wittgenstein on Art and Aspects“, in: Philosophical Investigations 22/3 (1999). McGUINNESS Brian, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt 1988. MESKIN Aaron, - „Style“, in: Gaut/Lopes (Hg.), The Routledge Companion to Aesthetics, Oxford 2005. - „Aesthetic Testimony: What Can We Learn from Others about Beauty and Art?“, in: Philosophy and Phenomenological Research 69/1 (2004). MERLEAU-PONTY Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974. MICHOTTE Albert, The perception of causality, Andover 1962. MONK Ray, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, New York 1990 (Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 2004). MONTERO Barbara, „Proprioception as an Aesthetic Sense“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 64/2 (2006). MOTHERSILL Mary, Beauty Restored, Oxford 1984. MÜHLHÖLZER Felix, Braucht die Mathematik eine Grundlegung? Ein Kommentar des Teils III von Wittgensteins Bemerkungen zu den Grundlagen der Mathematik, Frankfurt 2010. MULHALL Stephen, - On Being in the World. Wittgenstein and Heidegger on Seeing Aspects, London 1990. - „Seeing Aspects“, in: Glock (Hg.), Wittgenstein. A Critical Reader, Oxford 2001. NIEDENTHAL Paula et al., „Embodiment in Attitudes, Social Perception and Emotion“, in: Personality and Social Psychology Reviews 9 (2005). NIETZSCHE Friedrich, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hrg. von Colli und Montinari, München 1980.

310 NORTH Adrian, „Individual Differences in Musical Taste“, in: The American Journal of Psychology 123/2 (2010). NUSSBAUM Martha, „‚Finely Aware and Richly Responsible’: Moral Attention and the Moral Task of Literature“, in: The Journal of Philosophy 82/10 (1985). NOVITZ David, „Rules, Creativity and Pictures: Wittgenstein’s Lectures on Aesthetics“, in: Lewis, WAP. ORTONY Andrew, „Beyond Literal Similarity“, in: Psychological Review 87 (1979). OSBORN Harold, „Wittgenstein on Aesthetics“, in: The British Journal of Aesthetics, 6/4 (1966). PATEMAN Trevor, „Wittgensteinian Aesthetics“, in: British Journal of Aesthetics 26/2 (1986). PEIRCE Charles Sanders, - „A Sketch of Logical Critics“, in: Houser/Kloesel (Hg.), The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings (EP), Bd. 2, Bloomington 1998. - „A Syllabus of Certain Topics of Logic“, in: Houser/Kloesel (Hg.), EP, Bd. 2. PERLOFF Marjorie, „‚But isn’t the same at least the same?’ Wittgenstein and the question of poetic translatability“, in: Gibson/Huemer (Hg.), The Literary Wittgenstein, London 2004. PETTIT Philip, „The Possibility of Aesthetic Realism“, in: Schaper (Hg.): Pleasure, Preference and Value: Studies in Philosophical Aesthetics, Cambridge 1983. PROUST Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt 1964. RADFORD Colin, „Characterizing-Judgements and their causal counterparts“, in: Canfield (Hg.), Aesthetics, Ethics and Religion (in: The Philosophy of Wittgenstein. A Fifteen Volume Collection, Bd. 14), New York/London 1986.

311 RAMACHANDRAN Vilayanur, - „The Science of Art. A Neurological Theory of Aesthetic Experience“ (mit Hirstein), in: Journal of Consciousness Studies 6 (1999). - „Synaesthesia: A Window into Perception, Thought and Language“ (mit Hubbard), in: Journal of Consciousness Studies 8/12 (2001). REICHER Maria, Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 2010. RHEES Rush, „Art and Philosophy“, in: Rhees, Without Answers. Studies in Ethics and the Philosophy of Religion, London 1969. RIDLEY Aaron, „Expression in Art“, in: Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2005. ROBINSON Jenefer, - „Style and Personality in the Literary Work“, in: The Philosophical Review 94/2 (1985). - „The Importance of Being Emotional“, in: Robinson, Deeper than Reason. Emotion and its Role in Literature, Music and Art, Oxford 2005. ROGERSON Kenneth, „The Meaning of Universal Validity in Kant’s Aesthetics“, in: The Journal oft Aesthetics and Art Criticism 40 (1982). ROSS Stephanie, „Style in Art“, in: Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2005. ROWE Mark, „Criticism Without Theory“, in: Lewis, WAP. RYLE Gilbert, The Concept of Mind, London 2000. SÄÄTELÄ Simo, - Aesthetics as Grammar. Wittgenstein and Post-Analytic Philosophy of Art, Uppsala 1998. - „‚The strange resemblance’. On Wittgenstein’s comparison between an aesthetic investigation and a philosophical investigation in mathematics“, erscheint in: Tomasi (Hg.), Wittgenstein, Aesthetics, and the Arts, Rom 2012.

312 SACKS Oliver, Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, Reinbek 2008. SCHILLER Friedrich, - Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, hrg. von Berghahn, Stuttgart 2006. - Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, hrg. von Berghahn, Stuttgart 2000. SCHLEGEL Friedrich, Kritische Ausgabe seiner Werke, hrg. von Behler/Anstett/Eichner, Paderborn 1958 ff. SCHMÜCKER Reinhold, „Funktionen der Kunst“, in: Kleimann/Schmücker (Hg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001. SCHOLZ Oliver, „Kognitivistische Ästhetik“, in: Kleimann/Schmücker (Hg.), Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001. SCHÖNBERG Arnold, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (Gesammelte Schriften, Bd.1), Frankfurt 1976. SCHOPENHAUER Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, München 2008. SCHROEDER Severin, - „’Too Low!’: Frank Cioffi on Wittgenstein’s Lecture on Aesthetics“, in: Philosophical Investigations 16/4 (1993). - Das Privatsprachen-Argument: Wittgenstein über Empfindung und Ausdruck, Paderborn 1998. - „Are Reasons Causes? A Wittgensteinian Response to Davidson“, in: Schroeder (Hg.), Wittgenstein and Contemporary Philosophy of Mind, Hampshire 2001. - „The Coded-Message Model of Literature“, in: Allen/Turvey (Hg.), Wittgenstein, Theory and the Arts, London 2001. - „Metapher und Vergleich“, in: Czernin/Eder (Hg.), Zur Metapher. Die Metapher in Philosophie, Wissenschaft und Literatur, München 2007.

313 - „A Tale of Two Problems: Wittgenstein’s Discussion of Aspect Perception“, in: Cottingham/Hacker (Hg.), Mind, Method, and Morality: Essays in Honour of Anthony Kenny, Oxford 2010. SCHULTE Joachim, - „Ästhetisch richtig“, in: Schulte, Chor und Gesetz (CG), Frankfurt 1990. - „Beschreibung“, in: Schulte, CG. - „Chor und Gesetz. Zur ‚morphologischen’ Methode bei Goethe und Wittgenstein“, in: Schulte, CG. - „Stilfragen“, in: Schulte, CG. - „‚The Life of the Sign’. Wittgenstein on reading a poem“, in: Gibson/Huemer (Hg.), The Literary Wittgenstein, London 2004. SCRUTON Roger, - Art and Imagination, London 1974. - „Analytical Philosophy and the Meaning of Music“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 46 (1987). - The Aesthetics of Music, Oxford 1997. - „Wittgenstein and the Understanding of Music“, in: The British Journal of Aesthetics 44/1 (2004). - „Wittgenstein on Music“, in: Scruton, Understanding Music, London/New York 2009. - „A Bit of Help from Wittgenstein“, in: British Journal of Aesthetics 51/3 (2011). - Beauty. A Very Short Introduction, Oxford 2011. SEARLE John, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt 1983. SEEL Martin, - Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt 1997. - Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt 2003. SHARPE Robert, - Music and Humanism. An Essay in the Aesthetics of Music, Oxford 2000. - „Wittgenstein’s Music“, in: Lewis, WAP.

314 SHINER Roger, „Wittgenstein on the Beautiful, the Good and the Tremendous“, in: The British Journal of Aesthetics 14 (1974). SHIR Jay, „Wittgenstein’s Aesthetics and the Theory of Literature“, in: British Journal of Aesthetics 18/1 (1978). SHUSTERMAN Richard, - „Wittgenstein and Critical Reasoning“, in: Philosophy and Phenomenological Research 47/1 (1986). - „Wittgenstein’s Somaesthetics: Explanation and Melioration in the Philosophy of Mind, Art, and Politics“, in: Shusterman, Body Consciousness. A Philosophy of Mindfulness and Somaesthetics, Cambridge 2008. SIBLEY Frank, - „Aesthetic Concepts“, in: Sibley, Approach to Aesthetics (AA), Oxford 2001. - „Aesthetic and Non-aesthetic“, in: Sibley, AA. - „General Criteria and Reasons in Aesthetics“, in: Sibley, AA. - „Particularity, Art and Evaluation“, in: Sibley, AA. SLATER Hartley, „Wittgenstein’s Aesthetics“, in: British Journal of Aesthetics 23/1 (1983). SOLES Deborah, „Understanding Music as Wittgenstein Does“, in: Southwest Philosophy Review 14/2 (1998). SOMAVILLA Ilse (Hg.), Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, Innsbruck/Wien 2006. STEINBRENNER Jakob, - Kognitivismus in der Ästhetik, Würzburg 1996. - „Lassen sich ästhetische Urteile begründen?“, in: Jäger/Meggle (Hg.), Kunst und Erkenntnis, Paderborn 2005. STEINER Mark, „Empirical Regularities in Wittgenstein’s Philosophy of Mathematics“, in: Philosophia Mathematica 17/1 (2009). STOLNITZ Jerome, Aesthetics and the Philosophy of Art Criticism, New York 1960.

315 STRAWSON Peter, - „On Referring“, in: Mind 59 (1950). - „Imagination and Perception“, in: Strawson, Freedom and Resentment (FR), Abingdon 2008. - „Aesthetic Appraisal and Works of Art“, in: Strawson, FR. TAM Thomas, „On Wonder, Appreciation, and the Tremendous in Wittgenstein’s Aesthetics“, in: British Journal of Aesthetics 42/3 (2002). TANNER Michael, „Wittgenstein and Aesthetics“, in: The Oxford Review 3 (1966). TILGHMAN Benjamin, - Wittgenstein, Ethics and Aesthetics, London 1991. - But is it Art? The Value of Art and the Temptation Theory, Hampshire 1994. - „Wittgenstein, Ludwig: Survey of Thought“, in: Kelly (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics, Oxford 1998. - „Reflections on Aesthetic Judgement“, in: British Journal of Aesthetics 44/3 (2004). TODD Cain Samuel, „Quasi-Realism, Acquaintance, and the Normative Claims of Aesthetic Judgement“, in: British Journal of Aesthetics 44/3 (2004). TOLSTOI Leo, What is Art?, London 1985. VISCHER Robert, „Über das optische Formgefühl“, in: Friedrich/Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007. VON WRIGHT Georg Henrik, „Wittgenstein in Relation to his Times“, in: Von Wright, Wittgenstein, Oxford 1982. WACKENRODER Wilhelm Heinrich, „Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik“, in: Ammon/Böhm (Hg.), Texte zur Musikästhetik, Stuttgart 2011.

316 WALSH Dorothy, Literature and Knowledge, Middletown 1969. WALTON Kendall, „Categories of Art“, in: The Philosophical Review 79/3 (1970). WICKS Robert, „Supervenience and Aesthetic Judgement“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 46/4 (1988). WIESING Lambert, Stil statt Wahrheit. Kurt Schwitters und Ludwig Wittgenstein über ästhetische Lebensformen, München 1991. WOELLFLIN Heinrich, „Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“, in: Friedrich/Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007. WOLLHEIM Richard, Art and Its Objects, Cambridge 1980. WORDSWORTH William, „Preface to Lyrical Ballads“, in: Neill/Ridley (Hg.), The Philosophy of Art: Readings Ancient and Modern, New York 1995. WORRINGER Wilhelm, „Abstraktion und Einfühlung“, in: Friedrich/Gleiter, Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007. WORTH Sarah, „Wittgenstein’s Musical Understanding“, in: British Journal of Aesthetics 37/2 (1997). WRIGHT Crispin, Truth and Objectivity, Harvard 1992. YOUNG James, „The Cognitive Value of Music“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 57/1 (1999). ZANGWILL Nick, „The Beautiful, the Dainty, and the Dumpy“, in: The British Journal of Aesthetics 35 (1995). ZIFF Paul, „Gründe in der Kunstkritik“, in: Bittner/Pfaff (Hg.), Das ästhetische Urteil, Köln 1977.

317 ZIMMERMANN Jörg, Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980.