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German Pages 551 [552] Year 2014
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel
173
Georg Raatz
Aufklärung als Selbstdeutung Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings „Bestimmung des Menschen“ (1748)
Mohr Siebeck
Georg Raatz, geboren 1976; Studium der Ev. Theologie in Halle/Saale; 2004–2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Rostock; 2007–2013 Vikariat und Pfarramt; seit September 2013 Theologischer Referent im Amt der VELKD/Hannover.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. e -ISBN PDF 978-3-16-153292-4 ISBN 978-3-16-153291-7 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012/13 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Vor die Rekonstruktion der Genese von Spaldings Bestimmungsschrift stelle ich hier den Dank an diejenigen, die mich in den vergangenen Jahren in unterschiedlichster Weise bei der Genese meiner Studie unterstützt haben. Ein erster und sehr persönlicher Dank gilt Prof. em. Dr. Udo Kern (Rostock), der mir als seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter den nötigen Freiraum gelassen, der die Entstehung der Arbeit mit Interesse und geduldig-ermutigender Anteilnahme sowie mit wertvollen Hinweisen begleitet hat. Ohne seine mecklenburgische Beharrlichkeit und sein stets freundliches Drängen hätte das Projekt wohl zu keinem Abschluss gefunden. Ihm und Herrn Prof. Dr. Rochus Leonhardt (Leipzig) sei für die Gutachten herzlich gedankt. Das theologisch-systematische Interesse verdanke ich neben Prof. Dr. Klaus Tanner (damals Halle) in erster Linie und ganz besonders Prof. em. Dr. Ulrich Barth (Halle), der die Anfangsphase der Arbeit begleitet und der uns Studierende in grundgelehrter wie unnachgiebiger Art auf Abstraktionsebenen geführt hat, auf denen wir uns nach vorläufigem Schwindel zunehmend wohl gefühlt haben. Dass Systematische Theologie nicht ohne eine gedanklich weiträumige religions-, neuzeit‑ und christentumstheoretische sowie theologie‑ und problemgeschichtliche Perspektive zu haben ist, durfte ich von ihm lernen. Seiner Einsicht, dass der Aufklärungstheologie eine eigene Bedeutung für die Genese des Neuprotestantismus in kritischer wie auch konstruktiver Weise zukommt, ist meine Studie verpflichtet. Prof. Dr. Albrecht Beutel (Münster) hat mit seiner mustergültigen Herausgabe der Werke Spaldings die Forschungsarbeit ungemein erleichtert. Dafür und für die Aufnahme in die von ihm herausgegebene Reihe der ‚Beiträge zur Historischen Theologie‘ sei ihm gedankt wie auch Herrn Dr. Henning Ziebritzki, Frau Katharina Stichling und Frau Ilse König für die freundliche verlegerische Betreuung. Ein Dank gilt auch den mecklenburgischen Kirchgemeinden Bützow und Teterow, die mir mehr oder weniger wissendlich den Freiraum zur Fertigstellung der Arbeit gelassen haben. Gedankt sei allen, die das notwendige wie lästige Geschäft der inhaltlichen, stilistischen und orthographischen Durchsicht auf sich nahmen.
VI
Vorwort
Mein letzter Dank richtet sich an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland für die Gewährung großzügiger Druckkostenzuschüsse. Diese Studie ist all denen gewidmet, die in unterschiedlicher Weise am meisten unter ihrer Entstehung gelitten haben. Teterow im Juli 2014
Georg Raatz
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Spaldings Bestimmung des Menschen – Eine erste Orientierung . . . 2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Wiederentdeckung Spaldings in der Theologie . . . . . . . . . . . 2.2 Philosophische und germanistische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Thema, Methode, Anlage und Funktion der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . 4. Zitierweise, Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 9 10 34 53 61
I. Frühe Prägung und erste Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Theologische und philosophische Prägungen durch das Studium in Rostock (1731–1733) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Disputation (1735) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Dissertation (1736) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Bittschrift (1736/38) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Glückwunsch-Schrift (1738) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Schreiben über die Staats-Gottseligkeit (1740) . . . . . . . . . . . 3. Spalding im offenbarungstheologischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Spaldings Vorrede zur Silhouette-Übersetzung (1742/46) . . . . . . 3.2 Spalding im Streit um Mosheims Offenbarungsbegriff . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 65 65 76 79 85 89 93 93 98 101
II. Spaldings Shaftesburyrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die 1. Phase von Spaldings Shaftesburyrezeption in der Peripherie Gottscheds und des Gottschedianismus . . . . . . . . . . . 1.1.1 Gottscheds Shaftesburyrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Spalding im Einflussbereich Gottscheds . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Die „Gedanken über die Verleumdung und Spötterey“ (1742) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104 104 104 107 113
VIII
Inhaltsverzeichnis
1.1.4 Spaldings Überlegungen zur Literaturkritik im Gottschedschen Geiste (1744) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Spalding entdeckt Shaftesbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die 2. Phase von Spaldings Shaftesburyrezeption im Kontext anakreontischer Freundschaftskreise – eine Milieustudie . . . . . . 2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Motive und Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Terminologische Analyse zentraler Begriffsfelder . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Empfindung – Gefühl – Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Der Bestimmungsbegriff – eine Spurensuche . . . . . . . . . . . . 3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Spaldings Shaftesburydeutung in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ (1744) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Spaldings Shaftesburydeutung in der Vorrede zur „Untersuchung über die Tugend“ (Frühjahr 1747) . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Moralische Empfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wolffsche und wolffianisch-metaphysische und poetologisch-ästhetische Implikationen des Empfindungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Das Verhältnis von Moralität und Religion . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Der glückstheoretische Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121 128 131 139 139 144 146 158 179 180 193 196
207 212 215 216
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes als Signatur der poetologisch-ästhetischen Debatten vor 1750 . . . . . . . . . . . . . 223 1. Der Ausgangspunkt: Theoriedimensionen des Empfindungsbegriffs bei Christian Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schulinterne Kritik am Rationalitätsideal Christian Wolffs . . . . . . . . 3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie . . . . . 3.1 Johann Ulrich Königs Geschmackstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die geschmackstheoretische und urteilstheoretische Dimension des Empfindungsbegriffs – Johann Christoph Gottscheds Debattenbeitrag . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik – Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers Debattenbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224 236 240 240
245
255 266
Inhaltsverzeichnis
IX
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen . . . . 1.1 Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen in den „Miscellaneous Reflections“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen im „Soliloquy“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Universumsbegriff als Basis der Ethik und Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Teil-Ganze-Struktur als universales Grundprinzip . . . . . . . . 2.2 Der systemlogische Begriff des Guten und Bösen . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Affektbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Shaftesburys Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Tugend und moralische Empfindung in der „Inquiry“ . . . . . . . . 3.2 Die Ästhetik der Tugend in den „Moralists“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Lust und das Glück der Tugend in der „Inquiry“ . . . . . . . . . 4. Shaftesburys Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Religionstypologie der „Inquiry“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Verhältnis von Tugend und Religion in der „Inquiry“ . . . . . 4.3 Das Verhältnis von Tugend und Unsterblichkeitsglaube in der „Inquiry“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Religion der Ästhetik des Universums in den „Moralists“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269 273 279 292 292 294 296 300 300 307 310 314 314 316 320 322 330
V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Literatur-, wissenssoziologische und biographische Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die bestimmungslogische Struktur des anthropologischen Naturbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bestimmung zum Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Struktur der Empfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Würde und Wert der menschlichen Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Spaldings implizite Kritik der Erbsündenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Goezes Kritik an Spaldings Anthropologie – ein rezeptionshermeneutischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Spaldings implizite Kritik an der lutherisch-orthodoxen Erbsündenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
335 339 352 358 367 375 381 383 387
X
Inhaltsverzeichnis
8. Religion und Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Geburt der Religion aus dem Welt‑ und Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Natürliche Religion – Offenbarungsreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Zusammenfassung mit Rückbezug auf die Kapitel I–IV . . . . . . . . . .
392 392 404 411 417
VI. Systematische Anschlussüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 1. Selbstaufklärung – Selbstdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Glück als Telos der Lebensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anthropologie der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Religionstheorie als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit . . . . . 6. Vernunft und Empfindung – die rational-irrationale Dimension ethisch-religiöser Selbstdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435 442 452 469 481 490 494
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Prolegomena „Wer bin ich? Welche wichtige Frage! Gott, lehre mich recht verstehn. Gieb, daß ich mir die Wahrheit sage Und laß mich achtsam auf mich sehn. Wer sich nicht selbst recht kennen lernt, Bleibt von der Weisheit weit entfernt.“1
1. Spaldings Bestimmung des Menschen – Eine erste Orientierung Wer bin ich und was ist der Mensch? Diese Frage nach der Identität als Humanum ist so zeitlos wie grundsätzlich für bewusstes Leben gültig und beschäftigt den Menschen, seitdem er denken kann. Dennoch ist es kein Zufall, dass sie im Zeitalter der Aufklärung ausdrücklich und methodisch-konzeptionell zu stellen begonnen wurde2, um dann im Rahmen der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte immer dringlicher zu werden. Hatte in der frühneuzeitlich-konfessionellen Einheitskultur3 noch die Anstaltskirche das Deutungsmonopol über die Selbst‑ und Weltdeutung fest im Griff, so beginnt spätestens seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts deren Alleinstellung zu wanken. In einem rasanten, als soziale Ausdifferenzierung beschreibbaren Prozess gesellschaftlich-kultureller Interpretationssysteme machten das moderne Naturrecht und die rationale Staatstheorie den Anfang, und bereits hier stoßen ihre Protagonisten (bspw. Hobbes, Pufendorf, Locke) auf die Frage nach der „ ‚Natur‘ des Menschen“4. Als Epiphänomen dieses durch die konfessionellen Religionsstreitigkeiten beförderten geistigen Ringens um eine rationale Begründung von Staat hat sich auch die Religionsphilosophie von der kirchenamtlichen Theologie zu emanzipieren sowie der 1 Liedstrophe aus Spaldings Gesangbuch von 1778, zitiert nach Karl Barth, Die protestantische Theologie, S. 75. 2 Vgl. exemplarisch die Studie von Christopher Zarnow, die den aufklärungsphilosophischen Identitätstheorien Leibnizens, Lockes und Kants ein erstes großes Kapitel widmet (vgl. Zarnow, Identität und Religion, S. 1; 59–184). 3 Der Begriff der Einheitskultur in dieser Bedeutung geht auf Ernst Troeltschs Kultur‑ und Neuzeittheorie zurück (vgl. bspw. Troeltsch, Soziallehren, Bd. 1, S. 178 ff.; Bd. 2, S. 427 ff.; vgl. auch: Fischer, Die Ambivalenz der Moderne, S. 54 ff.). 4 Vgl. Pannenberg, Problemgeschichte, S. 26 (26 f.); ausführlich vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, S. 3–110.
2
Prolegomena
Einfluss von Kirche und Bekenntnis auf staatliche Ordnungsstrukturen zu beschränken begonnen. Theorie von Religion und Christentum wird ein Thema freier literarischer, philosophischer und theologischer Denker und die „Religion wird zur Privatsache“5. Der englische Deismus spielt dabei eine Vorreiterrolle. So sehr die Motive und Konzepte im Detail divergieren, so sehr ist seinen Vertretern gemein, die Begründung und Plausibilisierung von Religion vom dogmatisch verbürgten Offenbarungsbegriff auf das natürliche Bedürfnis des Menschen umzustellen. Die Anknüpfung am allgemeinen humanen Wahrheitsbewusstsein bedurfte notwendig einer Beantwortung der Frage, was denn eigentlich die Natur des Menschen sei. Davon nicht unberührt blieb auch die Ethik (im engeren Sinne), war sie doch bereits im Kontext des Naturrechtsdenkens und auch innerhalb der gewichtigen moralphilosophischen Dimension der deistischen Religionsphilosophie immer schon zum Thema geworden. Innerhalb der rationalen Ethik kommt die humane Selbsterkundung in der Polarität von konstitutivem Sein und ethischem Sollen des Menschen gleichsam zu sich selbst. Erwägt man vor diesem nur in aller Kürze skizzierten Emanzipationsprozess derjenigen Deutungskulturen, die es mit der Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen am Rande oder genuin zu tun hatten, die zunehmend inflationär bemühte These von der anthropologischen Wende, die in der Regel um die Jahrhundertmitte des 18. Jahrhunderts verortet wird, so scheinen wenigstens ihre Anfänge in der Form des methodischen Ausganges der Staats-, Religions‑ und Moralphilosophie bei der Erkundung der Natur des Menschen innerhalb dieser Denktraditionen zu liegen.6 Dass die deutsche Aufklärungstheologie resp. Neologie in dieser Traditionslinie steht, wurde von unterschiedlicher Seite plausibel gemacht.7 Auch vorliegende Studie wird an Spaldings Shaftesburyrezeption exemplarisch zeigen können, dass die Neologie keinen absoluten Neuanfang bedeutete, sondern ideen‑ und problemgeschichtlich wie auch bildungs‑ und rezeptionsgeschichtlich vom englischen Deismus und ihren Nebengängern abhängig ist. Sein Moral‑ und Religionskonzept weist jedoch auch in der anderen Richtung auf die Entwicklungen am Ende des Aufklärungsjahrhunderts voraus, das neben dem theologischen Rationalismus durch Kants Religionsphilosophie geprägt ist und auch noch Schleiermachers frühes Religions‑ und Ethikkonzept für sich verbuchen kann, die die anthropologische Wende transzendentalphilosophisch und romantisch-idealistisch vollenden. So-
5 Barth,
Die Religionsphilosophie der westeuropäischen Aufklärung, S. 129. diese These nicht abwegig ist, hat bspw. Panajotis Kondylis für das Naturrecht gezeigt, das er in den Kontext eines frühaufklärerischen „Primat[es] der Anthropologie“ stellt (vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 119/147 ff.). 7 Vgl. Barth, Mündige Religion, v. a. S. 223 f.; vgl. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, u. a. S. 85. 6 Dass
1. Spaldings Bestimmung des Menschen – Eine erste Orientierung
3
wohl die ästhetisch-religiöse Anschauungs‑ und Gefühlsdimension8 als auch die Unsterblichkeitsreflexionen Spaldings9 nehmen diverse Theoriemomente der genannten Denker vorweg, wenigstens in Ansätzen. Spaldings programmatischer „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ von 1748, deren Genese sich vorliegende Studie vornehmlich widmet, kommt bereits in dieser Perspektive innerhalb der anthropologischen Wende nicht nur chronologisch, sondern auch anthropologiegeschichtlich eine zentrale Position zu und stellt einen Kristallisationspunkt dar. Eröffnete diese Verortung grosso modo zunächst einen ersten Zugang, birgt das Konzept der anthropologischen Wende weitere hermeneutische Perspektiven auf Spaldings frühes Hauptwerk. Der Begriff der anthropologischen Wende schillert in seiner Vielfalt möglicher und faktischer Bedeutungen und Verwendungsweisen, die jedoch allesamt, wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung, für eine erste Annäherung an Spaldings Bestimmungsschrift weiterführend sind. Die anthropologische Wende bezeichnet zum ersten eine historische Entwicklung des 18. Jahrhunderts, die durch eine für alle Wissens‑ und Wissenschaftsbereiche zu verzeichnende Hinwendung zum Menschen gekennzeichnet ist. Dabei bildet die Genese des Anthropologiebegriffs, auch als Gattungsbegriff10, nur die Spitze des Eisberges, unterhalb derer sich ein breites anthropologisches Diskursspektrum etablierte. Schwankt die Forschung zwischen einer Spätdatierung dieses Vorgangs in die Spätaufklärung11 und einer frühen Datierung um und nach 175012, so kann in Hinsicht auf Spalding eher die Option einer noch früheren Terminierung vertreten werden, die auch deshalb gut begründet sein dürfte, weil sein Bestimmungskonzept ein ganzes Tableau zeitgenössischer anthropologisch imprägnierter Debatten rezipierte und verarbeitet hat, die immer wieder mit der anthropologische Wende in Zusammenhang gebracht werden. Ohne den Begriff der Anthropologie selbst zu verwenden, konzipiert Spalding unter dem Diktum der Bestimmung des Menschen nichts anderes als ein anthropologisches Konzept in nuce. Mit dem Bestimmungsbegriff als Titelbegriff wie auch als Strukturprinzip inauguriert der junge Literat einen innovativen und formalen Integrationsbegriff, der unbelastet von herkömmlichen Anthropologemen ein großes Möglichkeitsfeld inhaltlicher Konkretionen eröffnet. Die Rezeptions‑ und Wirkungsgeschichte in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt 8 Vgl.
Beutel, Aufklärer höherer Ordnung, S. 293 ff. Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXXIII f. 10 Vgl. Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff; vgl. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs Anthropologie. 11 Vgl. bspw. Riedel, Anthropologie und Literatur, S. 96; vgl. Pfotenhauer, Literarische Anthropologie, S. 4. 12 Vgl. Schmidt-Biggemann / Häfner, Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung, S. 168; vgl. Schubert, Das Ende der Sünde, S. 23. 9 Vgl.
4
Prolegomena
gerade durch ihre Variabilität der Adaption die Offenheit und Leistungsfähigkeit des neuen Theoriedesigns13. Damit aber nicht genug. Spaldings Beitrag zur anthropologischen Wende wäre unterbewertet, würde man ihn auf die Lehre vom Menschen im engeren Sinne beschränken. Indem die Reflexionsstufen über die Tugendtheorie in die Religion und Unsterblichkeitshoffnung einmünden, findet hier so etwas wie eine Anthropologisierung der Ethik und Religionsphilosophie im wissenschafts‑ und literatursoziologischen Sinne statt: Ethik und Religionsphilosophie sind nicht mehr Gegenstand theologischer Dogmatik und schulphilosophischer Traktate, sondern sind inkorporiert in eine popularphilosophisch-theologische Schrift, die sich prima facie zunächst mit der Bestimmung des Menschen beschäftigt. Die Ambivalenz ist schon auf einen ersten Blick deutlich: Einerseits rutschen beide Großthemen wissenschaftssystematisch eine Stufe hinunter, anderseits stellen sie nichts weniger dar als unverzichtbare Modi der Beantwortung der Frage: „Wer bin ich?“. Stammt diese Frage aus einem späteren Gesangbuchlied Spaldings, so nimmt sie doch die Haltung des nach seiner Bestimmung fragenden Subjektes aus der Bestimmungsschrift auf. Die Subjektivität und der persönliche Charakter der Frageform stellt eine signifikante und weitreichende Vertiefung im Prozess der anthropologischen Wende dar, denn es handelt sich damit nicht mehr nur um eine abstrakte, wenngleich rationale und herrschaftsfreie, Erörterung, sondern durch die literarische Form des Selbstgespräches findet Spalding den adäquatesten Darstellungsmodus. Oder mit anderen Worten: Anthropologie avanciert in wissenssoziologischer Hinsicht zur existentiellen und selbstdialogischen Auseinandersetzung mit sich selbst. Die anthropologische Wende wird sodann verbunden mit „einem Bedeutungsverlust der Frömmigkeitsliteratur, Ablösung des philosophischen Systems Christian Wolffs und Institutionswandel der Universitäten“, was einen „intellektuellen Raum eröffnet [hat], in dem Fragen der Ästhetik, Anthropologie und empirischen Psychologie in den Vordergrund getreten seien“14. Diese Aufzählung wäre unschwer zu ergänzen. Bemerkenswert ist jedoch, dass fast all diese Aspekte aus je anderen Erörterungszusammenhängen für Spaldings Bestimmungsschrift und deren Genese einschlägig sind: Auch wenn er selbst seinen Text als Erbauungsbüchlein bezeichnet hat, so müsste diese Gattungszuordnung doch wenigstens um das Epitheton popularphilosophisch mit aufklärerischer Absicht spezifiziert werden, um die Differenz zur lutherisch-orthodoxen und pietistischen Erbauungsliteratur zu markieren. Spalding trägt damit selbst zum ‚Bedeutungsverlust der Frömmigkeitsliteratur‘ bei, nimmt aber ihr genuines Anliegen der subjektiven ethisch-religiösen Orientierung auf und gestaltet diese für das Bedürfnis 13 Vgl.
exemplarisch Jannidis, Die Bestimmung des Menschen. Ästhetik und Anthropologie um 1750, S. 5.
14 Zelle,
1. Spaldings Bestimmung des Menschen – Eine erste Orientierung
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bürgerlich-emanzipierter Leser um. – Mit der ‚Ablösung‘ von Christian Wolffs Systemphilosophie befinden wir uns bildungsbiographisch in der Vorgeschichte der Bestimmungsschrift. Vorübergehend glühender Verehrer Christian Wolffs und seiner Theologia naturalis, wendet er sich unter dem Einfluss der Lektüre und Übersetzung Shaftesburys wieder von ihr ab. – Jedoch, und dies betrifft die Hinwendung zur Ästhetik und Psychologie, hat das Wolffstudium Spalding auch mit dem Empfindungsbegriff vertraut gemacht, einer Zentralkategorie der empirischen Psychologie der Halleschen Schulmetaphysik, der dann im Kontext der poetologischen und ästhetischen Debatten der 1730er und 1740er Jahre eine ästhetisch-erkenntnistheoretische Hauptrolle zuwuchs. Diesem Diskurs kommt in Hinsicht auf Spaldings Shaftesburyrezeption eine Brückenfunktion zu, wie auch umgekehrt Spaldings wolffianisch-ästhetisch imprägnierte Lektüre und Übersetzung Shaftesburys diesen der deutschen Debatte zugänglich machte. Ohne schon die genaue Rekonstruktion dieses Prozesses vorwegzunehmen, kann soviel gesagt werden: Die Bestimmungskonzeption verfügt über eine nicht unerhebliche psychologische und ästhetische Tiefendimension. Darüber hinaus wäre zu ergänzen, dass Spaldings relative Würdigung der leiblich-geistigen Sinnlichkeit wie auch die Synthese von Vernunft und Empfindung, von Selbst‑ und Fremdliebe sowie von Ernsthaftigkeit und Vergnügen eine integrative Perspektive auf den ganzen Menschen eröffnet, was v. a. in der literaturwissenschaftlichen Aufklärungsforschung zur anthropologischen Wende immer wieder als eines ihrer Hauptmerkmale charakterisiert wird15. Damit ist deutlich: Nicht nur die anthropologische Grundsignatur der Bestimmungsschrift, sondern auch ihre literarische Form, ihr wolffkritisches Moment, ihre psychologischen und ästhetischen Aspekte sowie die ganzheitlich-integrative Perspektive lassen Spaldings Programmschrift zu einem zentralen Dokument der anthropologischen Wende avancieren. Schließlich verfügt der Begriff der anthropologischen Wende über eine Bedeutungsebene, die auf den beiden erstgenannten aufruht, jedoch noch einmal gänzlich anders gelagert ist. Vor allem im wissenschaftskulturellen Umfeld einer seit den 1970er Jahren auf Anregung der geschichtstheoretischen Arbeiten Odo Marquards16 sich selbst als literarische Anthropologie apostrophierenden Germanistik hat sich ein neues interdisziplinäres „historiographisches Forschungsparadigma[s]“17 etabliert, das von der These ausgeht, dass eine Hermeneutik der Literatur des Aufklärungsjahrhunderts nur über eine genaue Kenntnis der 15 Vgl. bspw. Schings, Der ganze Mensch. – Die Mehrzahl der Aufsätze widmet sich Aufklärungsdenkern bzw. ‑texten der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts resp. der Spätaufklärung. 16 Vgl. Schubert, Ende der Sünde, S. 22; vgl. Leonhardt, Skeptizismus und Protestantismus, S. 75–102. 17 Schubert, Ende der Sünde, S. 23. – Kosenina spricht ähnlich wie Schubert von der literarischen Anthropologie als von einer neuen „Forschungsperspektive“ (Kosenina, Literarische Anthropologie, S. 17(ff.)).
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zeitgenössischen Geistesgeschichte und v. a. anthropologischen Konzepte und Grundannahmen möglich ist18. Im Blick auf Spaldings Bestimmungsschrift hätte dies die methodisch-hermeneutische Konsequenz, diesen Text über seine Oberflächenstruktur einer anthropologischen Programmschrift hinaus in einen anthropologischen Diskursrahmen einzurücken. Dies beträfe dann zum einen die historisch-anthropologischen Grundannahmen, die die literarische Form grundieren, sodann die Frage nach ihrem dogmen‑ resp. erbsündenkritischen Potential und auch dessen konstruktive Kehrseite, die in der leisen Andeutung der Menschenwürde bzw. des Wertes des Menschen angelegt ist und schließlich eine strukturelle und durchgängige Analyse der anthropologischen Textur innerhalb aller zu rekonstruierender Themenbestände (Ethik, Religions‑ und Unsterblichkeitskonzept) notwendig macht. Von daher rücken in vorliegender Studie Fragen in den Vordergrund, die in der bisherigen Forschungsliteratur gar nicht oder nur am Rande verhandelt wurden (vgl. Forschungsbericht). Die epochentheoretische Verortung von Spaldings Bestimmungsschrift innerhalb der Anthropologischen Wende im 18. Jahrhundert wie auch die Andeutungen der hermeneutischen Erschließungskraft eines ‚anthropological turn‘ für die Tiefenstruktur dieses Textes, dürften deutlich gemacht haben, dass in dieser Perspektive dieser neologischen Grundschrift eine programmatische Schlüsselfunktion und paradigmatische Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Ohne dass dies im einzelnen Zusammenhang jeweils zu explizieren sein wird, hat diese Rekonstruktionsmatrix für vorliegende Arbeit eine Leitfunktion. Darüber hinaus dürfen jedoch die anderen sich vom Text her nahelegenden Themenschwerpunkte nicht vernachlässigt werden, die sich in Hinblick auf eine Theorie moderner Religions-, Christentums‑ und Theologiekonzeption als aufschlussreich erweisen. Dies betrifft zum einen den Primat des Ethischen, zum anderen das Avancement des religionstheologischen Aspektes. Zunächst: Das ethische Grundmoment der Bestimmungsschrift ist bereits mit der polaren resp. telelogischen Struktur des Bestimmungsbegriffs selber angelegt, erfährt über die zentrale Position des Tugendabschnittes sowie deren korrelative Verknüpfung mit den folgenden religionstheoretischen Reflexionsstufen eine Vertiefung und schlägt sich schließlich im Modus der Schwerpunktsetzung bspw. auf den Empfindungsbegriff und die durch die literarische Form des Monologs mitbedingte Selbstreflexions‑ bzw. Selbstbestimmungsebene nieder. Diese Ethisierungstendenz, die im Deismus beginnt, in der Aufklärungstheologie und ‑frömmigkeit konjunkturiert und seit dem bürgerlich-liberalen Kulturprotestantismus des 19. Jahrhundert bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts dominant geworden ist19, bedeutet weit mehr als die vielgescholtene 18 Hier seien nur einige grundlegenden Forschungsarbeiten genannt: Schings, Melancholie und Aufklärung; Riedel, Anthropologie und Literatur; Ders. Literarische Anthropologie. 19 Vor allem Paul Tillich hat neben Ernst Troeltsch die christentumsgeschichtliche These vertreten, dass das neuzeitlich-protestantische Christentum, wollte es seine Relevanz für den
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wie gleichermaßen unzutreffende Reduktion von Religion und Christentum auf das Moralische oder gar Moralistische20. Vielmehr entspricht diese mit der religiös-ethischen Emanzipation und dem Autoritätsverlust kirchlich-konfessioneller Lehre einhergehenden Ethisierung dem wachsenden Bedürfnis, Wissenschaft und Theologie, Religion und Literatur als unmittelbare bzw. mittelbare Funktionen der Lebensführungspraxis zu verstehen und damit am Orte subjektiver Personen plausibel machen zu können. Indem Spalding bei der Frage nach der Bestimmung des Menschen als allgemeinstem Ausgangspunkt von Selbstreflexion anknüpft, erhebt er gleichsam diese Tendenz zum Programm. Zudem findet über die Form des Selbstgespräches eine Subjektivierung der ethisch-religiösen Selbstbestimmung statt, die über die Rezeption eines literarisch-fiktiven bzw. allgemein-subjektiven Reflexionsprozesses zur je konkret-subjektiven Applikation anregt. – Dieser Prozess der Ethisierung von Religion und Christentum ist bis heute nicht abgeschlossen und bleibt Aufgabe, solange die ihm zugrundeliegenden gesellschaftsevolutionären Bedingungen unabgegolten sind; sie sind es nicht. Jedwede aktuelle Anthropologisierungs-, Ethisierungs‑ und Subjektivierungsschelte von Seiten kirchlicher und universitärer Theologie, die sich auch gerne mit Relativierungs‑ und Beliebigkeitsverdikten einer latenten bis manifesten Modernekritik anempfiehlt, hätte jedenfalls zunächst das Gegenteil zu beweisen. Zum anderen Punkt. Der religionstheologische Deutungshorizont der Bestimmungsschrift stellt sich aus theologiehistorischer Sicht wie auch aus der Perspektive aktueller Debatten um ein religionstheoretisches Paradigma in der protestantischen Theologie als sinnvoll dar. Die systematisch orientierte Aufklärungstheologiegeschichte wie auch die aufklärungshistorisch interessierte Systematische Theologie sehen zunehmend die Bedeutung des Religionsbegriffes und religionstheologischer Debatten innerhalb der Aufklärungstheologie. Was für den englischen Deismus spätestens seit den grundlegenden Arbeiten von Lechler21 und Troeltsch22 bekannt war und im Bemühen um die Neologie zugunsten anderer Interessenschwerpunkte lange nur im Hintergrund stand23,
modernen Menschen nicht einbüßen, sich von einem dogmatischen zu einem ethischen Christentum entwickelt hat (vgl. Tillich, Christentum und soziale Gestaltung, S. 13). 20 Sogar Hirsch, der der Aufklärungstheologie innerhalb seiner Umformungstheorie des neuzeitlichen Christentums eine Schlüsselrolle zuweist, spricht auch in Hinblick auf die Neologie von „Moralismus“ (Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV, S. 30). Dieser sei jedoch in Hirschs theologiegeschichtlicher Perspektive als Durchgangsoption innerhalb der evangelischen Theologie notwendig gewesen. – Karl Joel schreibt in diesem Sinne: „Sack und Spalding verflüchtigen die Dogmen in Vernunft‑ und Tugendlehre.“ (Joel, Wandlungen der Weltanschauung, S. 733). 21 Vgl. Lechler, Deismus. 22 Vgl. Troeltsch, Deismus. 23 Vgl. Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 15–43.
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rückt seit 30 Jahren ins Zentrum der Aufklärungsdeutung24. Allgemein25 wie auch im Blick auf Spalding26 scheint sich der Begriff der Religionstheologie als forschungsparadigmatische Kategorie durchzusetzen. „Die religionstheologische Reflexion der Neologie bedeutete eine epochale, die überkommenen Gestalten des Christentums modernitätsfähig machende, in ihrer Wirkung bis weit ins 19. Jahrhundert ausstrahlende Umformungsarbeit.“27 Diese wirkungsgeschichtliche These wäre ins 20. und 21. Jahrhunderts zu prolongieren. Denn im Blick auf die Valenz aufklärungstheologischer Reflexionsarbeit für aktuelle religionstheoretische Diskurse hat nach Falk Wagners einschlägiger Studie28 neuerdings v. a. Ulrich Barth mit seinen einschlägigen Studien gezeigt, dass die Entdeckung des Religionsbegriffes im Aufklärungszeitalter als allgemeinstem Bezugspunkt aller theologischer Begründungsarbeit Weichen im Prozess „der Umformung des kirchlichen Protestantismus“29 gestellt habe, die in struktureller Hinsicht im deskriptiven wie auch normativen Deutungsgeschäft moderner Religions‑ und Christentumskultur bis heute Geltung beanspruchen können30. Spaldings Bestimmungsschrift kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, indem sie einerseits die konstruktiv aufbauenden Aspekte der deistischen Religionsdiskurse positiv rezipiert und in die deutsche Debattenlage um 1750 transponiert und andererseits mit zahlreichen Theoriesegmenten auf die großen Entwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts – v. a. Kants und Schleiermachers – vorausgewiesen hat. Damit sind die Perspektiven eröffnet und ist eine erste Orientierung gegeben: Sowohl die historische bzw. forschungsprogrammatische Kategorie der anthropologischen Wende wie auch der Aspekt der Ethisierung und der religionstheologische Deutungshorizont haben in einem ersten Anlauf deutlich machen können, dass Spaldings Konzept einer Bestimmung des Menschen im historischen Prozess der Aufklärung eine Scharnierfunktion innehatte, aber auch darüber hinaus einen religions‑ und christentumsgeschichtlichen Modernisierungsprozess mitinitiiert hat, der bis heute unabgeschlossen ist und zu dem Spalding einen substantiellen Beitrag geliefert hat, über den es sich bis heute nachzudenken lohnt. Dieses Nachdenken beginnt selbstverständlich nicht erst mit vorliegender Arbeit, sondern kann auf einer ganzen Reihe von Forschungsarbeiten aufbauen, die im Einzelnen kritische zu würdigen sind. 24 Vgl.
ebd., S. 53–58; vgl. bspw. Rendtorff, Religion als Problem der Aufklärung. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Er widmet einen ganzen Paragraphen dem Begriff der „Religionstheologie“ (ebd., S. 240 (vgl. 240–246)). 26 Dreesman wählt als Untertitel seiner Dissertation die Formulierung „Die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings“ (vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion). 27 Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, S. 242. 28 Vgl. bspw. Wagner, Was ist Religion, S. 35–54 (§ 3. Zur natürlich-moralischen Religion der Aufklärung). 29 Barth, Aufgeklärter Protestantismus, S. IX. 30 Vgl. Barths einschlägige Aufsätze in: Barth, Aufgeklärter Protestantismus; vgl. ders., Gott als Projekt der Vernunft. 25 Vgl.
2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven
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2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven Der kurze Forschungsbericht, den neuerdings Ulrich Dreesman vorlegt hat, beschränkt sich ausdrücklich auf den „Spalding im Spiegel der Kirchen‑ und Theologiegeschichtsschreibung“31, wenngleich auch hier wichtige neuere Publikationen unberücksichtigt bleiben. Damit beschränkt sich der Autor auf den wohl zentralen Forschungskontext, nämlich auf das Fach, in welchem Spalding selbst professionell zuhause war. Überblickt man die insgesamt übersichtliche Forschungsliteratur, so fällt auf, dass Spalding jedoch nicht nur innerhalb der Theologie – vor allem der Kirchengeschichte, Praktischen Theologie und Systematischen Theologie – Interesse geweckt hat, sondern dass sich ein divergentes Feld unterschiedlicher Forschungskontexte auftut. Neben der Theologie haben sich in den letzten 30 Jahren vor allem die Fachphilosophie und Germanistik bzw. Literaturwissenschaft mit Spalding zu befassen begonnen. Hier können vier Bereiche ausgemacht werden, die allesamt die Rezeption Spaldings betreffen. Spalding wird zunächst als Rezipient des englischen Gentleman-Philosophen Shaftesbury wahrgenommen und spielt in der Literatur zu dessen Wirkungsgeschichte eine prominente Rolle, sowohl in älteren Arbeiten wie auch in jüngeren und jüngsten Studien32. Spalding stand zweitens im Zusammenhang der Mendelssohnforschung bzw. der Rekonstruktion der Debatte zwischen Moses Mendelssohn und Thomas Abbt33 über die Bestimmung des Menschen im Fokus des Interesses. Des Weiteren hat sich neuerdings die Kantforschung mit den Quellen und Wurzeln der Anthropologie des Königsbergers im Werk Spaldings auseinanderzusetzen begonnen.34 Schließlich ist im Kontext der germanistischen Goetheforschung der Versuch unternommen worden, dessen Bildungsbegriff in eine ideen‑ und sprachgeschichtliche Linie mit Spaldings Bestimmungsbegriff einzuordnen.35 – Damit ist deutlich, dass sich das Interesse der drei letztgenannten Bereiche vorrangig auf Spaldings Bestimmungskonzept bzw. Bestimmungsschrift und seine Rezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts richtet. Es ist daher methodisch geboten, die Forschungsliteratur zu Spalding gesondert für die einzelnen Wissenschaftsbereiche und Perspektiven wahrzunehmen und darzustellen, wobei neben dem Anliegen eines breiten Überblicks das Hauptaugenmerk auf der Literatur zum frühen Spalding – von der Disputation bis zur Bestimmungsschrift – aufgrund des Themas dieser Studie liegt. Dabei dient die angebrachte Kritik und Problematisierung der Orientierung und dem 31 Dreesman,
Aufklärung der Religion, S. 25. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur; vgl. Horlacher, Bildungstheorie; vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. 33 Vgl. Lorenz, Skeptizismus und natürliche Religion; vgl. Hinske, Das stillschweigende Gespräch. 34 Vgl. Brandt, Bestimmung des Menschen. 35 Vgl. Jannidis, Bestimmung des Menschen. 32 Vgl.
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Verständnis der Fragestellung, Methode und Schwerpunktsetzung vorliegender Arbeit.
2.1 Die Wiederentdeckung Spaldings in der Theologie Es wäre nicht zu viel zu sagen, dass das Werk Johann Joachim Spaldings seit über zehn Jahren in der Theologie so etwas wie eine Renaissance erlebt. Dies betrifft vor allem die Bereiche der Kirchengeschichte und der Systematischen Theologie, aber auch der Praktischen Theologie, vornehmlich der Homiletik. Dies wird im Einzelnen deutlich werden. Für diese Wiederbelebung steht zuvörderst die von Albrecht Beutel initiierte und besorgte Kritische Ausgabe aller Texte Spaldings, deren erste Abteilung (Schriften) abgeschlossen und weitere in Arbeit sind.36 Damit wurden die Schriften Spaldings der Forschung in einer vorzüglichen, durch informative Einleitungen, Erläuterungen und Register bereicherten Ausgabe zugänglich gemacht. Sodann dokumentiert sich die Wiedergeburt des Neologen in einem Interesse an Spaldings Aufklärungsdenken, das sich in einer Vielzahl einführender und thematisch spezieller Aufsätze, jedoch bislang erst zwei Monographien widerspiegelt. Spalding gehört damit neben Johann Salomo Semler zu den wenigen Aufklärungstheologen, die es geschafft haben, wieder theologisches Forschungsinteresse auf sich zu lenken. Die Motive sind sicherlich divergent und komplex, wenngleich allgemein festzustellen ist, dass sich der Aufschwung der Aufklärungs‑ bzw. Spaldingforschung seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts der Tendenz zu verdanken hat, die allgemein als Abkehr von der Dialektischen Wort-Gottes-Theologie und als Hinwendung zu religionstheoretischen und religionstheologischen Konzepten des 18. und 19. Jahrhunderts zu charakterisieren ist. Dass hier der Weg gleichsam chronologisch nach hinten verlaufen ist, dafür steht exemplarisch die Schleiermacherrenaissance seit den späten 1960er Jahren und der erst darauf folgende Blick in die Zeit davor, ins Aufklärungsjahrhundert. So wenig die These vertreten werden soll, dass die Aufklärungs‑ und Spaldingforschung alleine so etwas wie ein Folgephänomen der Schleiermacherforschung darstellt, so sehr ging auch aus diesem forschungsgeschichtlichen Kontext das Interesse für die Aufklärung hervor. Das geweckte Interesse für religionstheoretische Optionen der Konzeption von Theologie und Christentum hat zunehmend auch wieder die theologiegeschichtliche Epoche in den Blick gerückt, die der Romantik, dem Deutschen Idealismus und auch Schleiermacher vorausging, eben der Aufklärung. Man begann verstärkt, nicht mehr nur die Rezeptionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert zu rekonstruieren, sondern auch nach den Abhängigkeiten und der Prägekraft der Philosophie und Theologie der Aufklärung für die genannten Geistesformationen zu fragen. Grundsätzlich war 36 Vgl.
Spalding, Kritische Ausgabe.
2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven
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man bemüht, gegen die epocheninternen Abgrenzungsbemühungen – man denke nur an Schleiermachers Aufklärungskritik in den Reden über die Religion – die Kontinuitäten nachzuzeichnen. Kurt Nowak hat in seinem Überblick über die evangelisch-theologische Aufklärungsforschung nach 1945 denn auch einen Abschnitt zur „Schleiermacher-Renaissance“ eingeschaltet und deutlich gemacht, dass sich die neuere Schleiermacherforschung verstärkt seiner Verankerung in der Aufklärungstheologie zugewendet hat37. Ein Indiz für diesen Blickwechsel lieferte bereits Eilert Herms mit seiner Studie von 1974 zum ersten System der Wissenschaften bei Schleiermacher, in dessen Genese er Spaldings Religionstheorie einen gewichtigen Platz einräumt.38 Diesen Faden nimmt Albrecht Beutel mit seinem Aufsatz zum Vergleich von Spaldings später Religionsschrift mit Schleiermachers Reden 25 Jahre später wieder auf, um auch hier nicht die Distanz, sondern die Nähe beider Konzeptionen zu betonen39. Darauf werden wir zurückkommen. Jedoch wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neues Interesse an der Aufklärung und an Spalding geweckt. Eine erste Initiative ging von einer Gruppe junger Privatdozenten aus, die theologisch liberal sowie religions‑ und frömmigkeitsgeschichtlich orientiert waren. Der Marburger Kirchenhistoriker und systematische Theologe Horst Stephan besorgte 1908 eine Edition der Bestimmungsschrift.40 Bereits der Titel der von Heinrich Hoffmann und Leopold Zscharnack herausgegebenen Reihe, die mit Spaldings Schrift ins Leben gerufen wurde, macht das theologische und historische Interesse deutlich: „Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus“. Die Schriftenreihe machte es sich zur Aufgabe, den seit Herder und Schleiermacher herrschenden „Kampf wider die Aufklärung“ durch größere „historische Gerechtigkeit“41 zu beenden. Die Aufklärung, so die Hauptthese, habe neben dem Pietismus die „neuprotestantische Entwicklung angebahnt“42 Das Programm der Studien ist es, gegenüber den Stereotypen der bisherigen theologischen Aufklärungsforschung, „mit liebevollem Verständnis das Wesen der aufklärerischen Frömmigkeit selbst an ihren edelsten Vertretern zu studieren“43. Damit rückt das Organ Spalding einerseits theologiegeschichtlich an den Anfang des Neuprotestantismus, andererseits in einen 37 Vgl. Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 44–47. – Nowak erwähnt exemplarisch Arbeiten von Eilert Herms und Günther Meckenstock und setzt sie von der älteren Schleiermacherdeutung, bspw. Wilhelm Diltheys, ab (vgl. ebd., S. 46 f.). 38 Herms, Herkunft, S. 78–82. – Diesen Hinweis verdanke ich Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 29. 39 Beutel, Aufklärer höherer Ordnung. – In dem Kongressband des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft von 1999, auf dem Beutel den diesem Aufsatz zugrundeliegenden Vortrag hielt, findet sich auch eine Edition der 1. Auflage von Spaldings „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ (vgl. Spalding, Religion (2000)). 40 Vgl. Spalding, Bestimmung des Menschen et al. (1908). 41 Stephan, Einleitung, S. 3. 42 Ebd., S. 4. 43 Ebd.
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religions-, frömmigkeits‑ und kulturgeschichtlichen Fokus. Stephan verortet die Studien denn auch in der noch jungen kultur‑ und religionsgeschichtlichen Forschungstradition, die von Dilthey und Troeltsch ihren Ausgang genommen habe. Es ist bemerkenswert, dass bereits im allgemeinen Vorwort zur Reihe das Verdikt, die Aufklärungstheologie sei rationalistisch bzw. intellektualistisch, relativiert wird: „Sie ist gewiß stark intellektualistisch, allein psychologische Gesichtspunkte, im besonderen Gemüt, Gefühl und Empfindung werden aufs stärkste betont.“44 Damit sind zwei Gesichtspunkte angesprochen, die die Herausgabe der Schrift Spaldings wesentlich motiviert haben dürften, nämlich die psychologische und empfindungstheoretische Dimension. Spaldings Bestimmungsschrift solle den Anfang machen, denn sie ist eine der „allerersten und höchststehenden Denkmäler der eigentlichen Aufklärungstheologie in Deutschland“45. Stephan erblickt in Spaldings Text einen neuen Versuch, über den theologischen Wolffianismus und dessen nur teilweise Erweichung der „Herrschaft der Orthodoxie“46 hinauszugehen. Den eigentlichen Beginn der Theologie der Aufklärung setzt der Herausgeber denn auch mit dem Jahr 1748 an, in dem mit August Friedrich Wilhelm Sacks Schrift „Vertheidigter Glauben der Christen“ und Spaldings Bestimmungsschrift gleich zwei programmatische Schriften aus reformierter und lutherischer Feder an die Öffentlichkeit kamen, wobei er der Bestimmungsschrift als „Erstling der Aufklärungstheologie“47 schließlich doch publizistisch den Vorrang gibt.48 In seiner bildungsbiographischen Skizze benennt Stephan für die Frühphase mit Wolff, dem englischen Deismus, vor allem Shaftesbury, Sack, Semler und Baumgarten die für den jungen Gelehrten prägenden Gestalten. Bemerkenswert ist, dass er auch den für Spalding prägenden Dichterzirkel erwähnt: „Auch an der Empfindungsspielerei des Gleimschen Kreises nahm er teil …“49 Die kirchen‑ und theologiegeschichtliche Bedeutung der kirchenleitenden Funktion Spaldings in Berlin bestehe darin – und dabei zeigt sich Stephans genauer Blick auf die Binnendifferenzen der religiösen und theologischen Aufklärung –, dass er als Förderer einer „ernst-christlichen Aufklärungstheologie“ fungierte und damit ein „positives religiös-sittliches und doch dem Zeitbewusstsein entsprechendes Christentum“50 mitbegründete, das sich als Bildungsmacht gegen den herrschenden friederizianischen Deismus zu behaupten hatte. Stephan zeigt ein glänzendes Gespür für die theologiegeschichtliche Bedeutung auch der anderen Schriften Spaldings. Die „Gedanken über den Werth 44 Ebd., 45 Ebd.
46 Ebd.,
S. 5.
S. 6. S. 10. 48 Vgl. ebd. 49 Ebd., S. 7. 50 Ebd. 47 Ebd.,
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der Gefühle in dem Christentume“ (1761) seien die „vornehmste Auseinandersetzung der Aufklärung mit dem Pietismus über die Rolle des Gefühls in der Religion“51. Und die „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ stellt er in eine Reihe mit Herders Religionsschriften und Schleiermachers Reden, ein Hinweis, der erst zum Ende des Jahrhunderts zu eingehenderen Untersuchungen veranlasste, wie bereits angedeutet.52 Stephans ideengeschichtliches Urteil über Spaldings Gesamtschaffen ist gerade im Blick auf die Bestimmungsschrift sehr hellsichtig. Sein Werk bezeichne „den positiven Gehalt der Aufklärungstheologie im engeren Sinne, d. h. der Theologie, die den abflauenden Strömungen des Pietismus und Wolffianismus ihre zeitgemäßen Motive entlehnte, sie mit englischen und arminianischen Einwirkungen verband und so zu einem Bollwerk gegen die Wogen der naturalistischen Aufklärung umwandelte“53. Damit lässt es Stephan nicht bei einer stereotypen Zuordnung Spaldings zur Neologie bewenden, sondern macht deutlich, dass zwischen Wolffianismus und der folgenden Generation, aber auch zwischen Pietismus und Aufklärung klare Zäsuren ohne weiteres nicht mehr zu ziehen sind. Dass heute die Pietismus‑ und Aufklärungsforschung zu ähnlichen Ergebnissen kommen, bezeugt Stephans Weitblick.54 Die weitaus kürzere Einleitung zur Bestimmungsschrift birgt ebenfalls Scharfsinniges. Die Wirkung der Schrift führt Stephan auf die Knappheit, gute Lesbarkeit und Übersichtlichkeit zurück. Ihre Apologetik dokumentiere sich nicht in ausführlichen Auseinandersetzungen, sondern darin, dass sie „positiv eindringlich“55 gehalten sei und sich damit als „rechtes Seitenstück zu der eklektischen Popularphilosophie“56 erweise. Dieser literaturgeschichtlichen Zuordnung schließen sich auch neuere Interpretationen der Bestimmungsschrift an.57 Stephans Neuherausgabe von Spaldings Bestimmungsschrift fand bald Resonanz. Bereits 1913 unternahm Kurt Beckmann mit seiner Dissertation58 den Versuch, in einem rein systematischen Vergleich die Religionsphilosophie Kants und Spaldings ins Verhältnis zu setzen. Er konzentriert sich hierbei auf den Welt‑ und Gottesbegriff sowie auf die Anthropologie. Spalding kommt ausschließlich als popularphilosophischer Wegbereiter für Kant in den Blick.59
51 Ebd.,
S. 8. Herms, Herkunft, S. 78–82; vgl. Beutel, Aufklärer höherer Ordnung; vgl. ders., Spalding und Herder. 53 Stephan, Einleitung, S. 8 f. 54 Vgl. bspw. zum Verhältnis Speners zur Aufklärung: Beutel, Spener und die Aufklärung; vgl. ders., Spener und Spalding; vgl. auch: Barth, Pietismus als religiöse Kulturidee, S. 162 ff. 55 Stephan, Einleitung, S. 10. 56 Ebd., S. 9. 57 Vgl. ausführlich V.2. 58 Vgl. Beckmann, Berührungen Spaldings mit Kant. 59 Vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 26. 52 Vgl.
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Die Edition und Deutung der Bestimmungsschrift von Horst Stephan hat sich auch in Karl Aners Gesamtdarstellung der Aufklärungstheologie „Die Theologie der Lessingzeit“60 von 1929 niedergeschlagen. In seiner Würdigung Spaldings bezieht er sich explizit zustimmend auf Stephans Einleitung, geht aber über das von ihm Gesagte an keiner Stelle hinaus. Auch für ihn kommt Spalding neben A. F. W. Sack und J. W. F. Jerusalem als Bahnbrecher der Neologie und als praktisch-kirchlicher Reformtheologe zu stehen. Aners interpretatorischer Ausgang einerseits bei der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, andererseits bei der dogmenkritischen Leistung der Neologie hat es, so die Vermutung, zur Folge gehabt, dass Spalding für Aner nur am Rande von Interesse war, wenngleich er damit Spaldings dogmenkritische Leistung und seine Verhältnisbestimmung von natürlicher und geoffenbarter Religion zu Unrecht vernachlässigt. Aufmerksamkeit verdienen auch die Arbeiten von Hans Nordmann. In seiner Dissertation61 rekonstruiert er den geistigen, den theologischen und religionsphilosophischen Kontext des Spaldingschen Denkens und Schrifttums. Er bescheinigt Spalding eine eklektische Grundhaltung, die „eine Ableitung bis in die kleinsten Züge hinein bei ihm unmöglich“62 mache. Im Blick auf unsere Studie ist diese Einlassung zugleich Warnung und Ansporn, die bis heute offenen Fragen nach den geistesgeschichtlichen Bezügen der Bestimmungsschrift differenziert zu rekonstruieren. Sein Oeuvre speise sich aus der englischen Moralphilosophie, Wolffscher Aufklärungstheologie und orthodoxem Biblizismus, wobei Shaftesbury vor allen anderen Priorität zukomme. „Mit Shaftesbury Übereinstimmendes bietet fast jeder Abschnitt in Sp.[alding]s Werken“63. Nordmanns Gesamturteil fällt wenig schmeichelhaft aus: Spaldings „Gedankenwelt ist in sich unhaltbar“64. Letztlich scheitere sein System an seinem Unvermögen, aufklärerische Weltanschauung mit biblischem Denken zu vermitteln. Verdienstvoll ist Nordmanns 35seitige Werkbiographie von 1936.65 Hervorzuheben sind hier vor allem die kurzen wie instruktiven Zusammenfassungen der akademischen Qualifikationsarbeiten des jungen Spalding sowie früher Zeitschriftenbeiträge zu unterschiedlichsten Sachthemen, die bis dahin noch vollständig unberücksichtigt geblieben waren. Den Inhaltsangaben der Disputation (1735) und Dissertation (1736) ist Interessantes und Weiterführendes über Spaldings frühe wissenschaftliche Lektüren ausländischer und deutscher Literatur zu entnehmen und der erste Nachweis erbracht, dass und wie stark Spalding in dieser Frühphase einerseits unter dem Einfluss wolffscher und wolffianischer 60 Vgl.
Aner, Theologie der Lessingzeit. Nordmann, Johann Joachim Spalding. 62 Ebd., S. 40. 63 Ebd., S. 41. 64 Ebd., S. 43. 65 Vgl. Nordmann, Leben und Werke. 61 Vgl.
2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven
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Philosophie und Theologie gestanden hat. Andererseits macht Nordmann deutlich, dass Spaldings „Journalschriftstellerei“66 einen über das Fachtheologische im engeren Sinne weiten Horizont aufspannte. Daraus sind erste wichtige Hinweise für Spaldings Beschäftigung mit den zeitgenössischen ästhetischen und literaturtheoretischen Debatten zu entnehmen. Auch einen ersten Blick in die Shaftesbury-Übersetzungen und die von Spalding besorgten Vorreden sowie Hinweise zur Wirkungsgeschichte der Shaftesbury-Übersetzungen im deutschen Geistesleben verdanken wir Nordmanns Arbeit. Spaldings erste Auflage der Bestimmungsschrift würdigt Nordmann als „aus einem Guß“ bestehend und ganz aus dem „Geist Shaftesburys“67 schöpfend. Mit ersten Ansatzpunkten für einen Vergleich der zahlreichen Auflagen dieser Schrift schließt der Bibliograph sein Resümee zur Bestimmungsschrift. Nordmanns würdigende Zusammenfassung von Spaldings „Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthume“ von 1761 mündet in einen Hinweis zur unmittelbaren Rezeptions‑ und Wirkungsgeschichte in den Debatten zwischen Pietismus und Aufklärungstheologie über diese Schrift. Der Spätphase des Spaldingschen Schaffens gibt Nordmann verhältnismäßig wenig Gewicht. Sein Schwerpunkt liegt also auf Spaldings früher und mittlerer Schaffensphase. Er schließt seine Werkschau mit einigen Überlegungen zur Entwicklung innerhalb von Spaldings Oeuvre. Er konstatiert: „Während in der Frühzeit die innere Geschlossenheit und Sammlung der Sp[alding].schen Art sympathisch berührte, so erweckt sie gegen Ende seines Berliner Amtswirkens den Eindruck einer gewissen Erstarrung.“68 Von der „schwungvolle[n] Genialität der ursprünglichen Auffassung von der Bestimmung des Menschen“69 sei im Spätwerk nicht mehr viel zu spüren. Erst wieder das Alterswerk Spaldings, „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von 1797, finde zur Klarheit und Apologetik der Bestimmungsschrift zurück. Für den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg kann man – von den genannten Studien abgesehen – mit Kurt Nowak von einem „antiaufklärerische[n] Klima“70 sprechen, in dem auch die noch junge Spaldingforschung nicht recht gedeihen konnte. In den 1920er und 30er Jahren stehen daher die genannten Werke allein auf weitem neo-orthodox dominiertem Felde. Die kirchenpolitischen Verwerfungen innerhalb der protestantischen Kirchen und Theologie während des Dritten Reiches haben die aufklärungskritische Atmosphäre nur verschärft, so dass im Rückblick gar von einer „Damnatio“71 des gesamten Aufklärungs‑ und Kulturprotestantismus gesprochen werden konnte. 66 Ebd.,
S. 56. S. 58. 68 Ebd., S. 70. 69 Ebd., S. 69. 70 Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 13. 71 Ebd., S. 14. 67 Ebd.,
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Karl Barths „protestantische Theologie im 19. Jahrhundert“ von 1946/7, die auf einer Vorlesung von 1932/33 fußte und eine ausführliche Vorgeschichte des 18. Jahrhunderts und des deutschen Idealismus vorschaltete, kommt zwar im Einzelnen zu einer differenzierten Darstellung, schließlich aber doch zu einem ihrem Programm einer dezidiert theologischen Perspektive verpflichteten negativen Gesamturteil.72 Durch die Politisierung der Theologie und mit ihr auch der historischen Verifizierungen eigener Standpunkte, die nicht ohne generelle Vereinnahmungen auf der einen und ebenso generellen Verdikten auf der anderen Seite einherging, machte sich nach dem 2. Weltkrieg jeder zugleich verdächtig, der sich wieder nüchterner und wissenschaftlich redlicher der Aufklärungsepoche zuwendete. Es ist an erster Stelle Emanuel Hirsch zu nennen. Die fünf Bände seiner „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ sind zum größten Teil der europäischen Aufklärung gewidmet. Dem Urteil Nowaks, es sei ein „Glück und Unglück der Aufklärungsforschung“73, dass Emanuel Hirsch ihr Initiator nach dem Zweiten Weltkrieg war, ist zuzustimmen. Das Glück besteht darin, dass Hirsch die Aufklärung einerseits gesamteuropäisch in den Blick nahm und die Epoche zwischen 1650 und 1800 in den Rahmen seiner Theorie der Umformungskrise des neuzeitlichen Christentums einrückte, die er dezidiert nicht als Verfallsgeschichte deutete. Vielmehr vermag es seine ideen‑ und problemgeschichtliche Analyse, jeweils weiterführende Gesichtspunkte und Entwicklungen herauszuarbeiten. Damit hat er der evangelischen Aufklärungsforschung eine Niveauvorlage geboten, die wohl bis heute unübertroffen ist. Das Unglück besteht darin, dass die kirchen‑ und theologiepolitische Verurteilung Hirschs auch kollateral seine Aufklärungsdeutung traf. Seine Theologiegeschichte zeitigte denn nicht die Wirkung, die ihr aus sachlichen Gründen zugestanden hätte. Spalding ist für Hirsch „das Haupt der praktisch-kirchlich gerichteten Neologie“74. Ihm widmet er in seinem Kapitel zu den Neologen immerhin 16 Seiten. Die Bedeutung der Neologie bestehe in der Reduktion des Lehrbestandes „auf das in praktischer Erfahrung als wahr Erlebbare“75. Es gehe Spalding darum, dem inneren Erleben des Menschen „Wahrheit und Wert von Religion und Christentum“76 zugänglich zu machen. Wie Aner ist Hirsch einerseits an der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung, andererseits an der dogmenkritischen Arbeit dieser Gruppe von Aufklärungstheologen orientiert und erblickt in Spaldings Grundsätzen den gedanklichen Ausgangspunkt, von 72 Vgl. Barth, Die protestantische Theologie, S. 16–152. – Diesbezüglich aussagekräftig sind vor allem die jeweiligen Kapitelzusammenfassungen, in denen Barth sein et ceterum censeo gegen die Aufklärung(stheologie) einschärft. 73 Vgl. Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 15. 74 Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, S. 30. 75 Ebd., S. 15. 76 Ebd., S. 16.
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dem die übrigen Neologen nur im Detail abweichen. Hirsch skizziert bezeichnenderweise den Gedankengang des „Anhangs bey der dritten Auflage“, in dem Spalding gegen spätorthodoxe Kritik seinen positiv-konstruktiven Offenbarungsbegriff entfaltet. Das Neue bei Spalding bestehe auch in der „Auffassung des Christlichen in seinem Verhältnis zum Menschlichen“77, genauer zu dem, was seinem zeitlichen und ewigen Glück förderlich ist. Dieser Hauptgesichtspunkt bedingt es denn auch, dass Hirsch der Bestimmungsschrift selbst mit ihrem Konzept eines natürlichen Tugend‑ und Religionsbegriffes relativ wenig Augenmerk schenkt. Nach dieser Leitperspektive hebe Spalding die Unterscheidung von Fundamentalem und Nichtfundamentalem auf die neue Ebene der Frage nach dem Wesentlichen und Unwesentlichen des Christentums. Demgemäß leite er eine „tiefgreifende Vereinfachung des Christentums“ ein und bereite damit den Weg zum Neuprotestantismus. Diesem Reduktionsverfahren widmet sich Hirsch in Hinsicht auf Spaldings Zugriff auf die dogmatischen Lehrbestände und geht die einzelnen Lehrstücke durch (Heilige Schrift, Trinitäts-, Zweinaturen-, Satisfaktions- und Rechtfertigungslehre). Ohne es direkt auszusprechen, sieht Hirsch in Spaldings Wesensbestimmung des Christentums auch den Ansatz einer Unterscheidung von Theologie und Religion, die dann von Semler auf den Begriff gebracht wurde. Einen besonderen Schwerpunkt legt Hirsch zum einen auf Spaldings Ermäßigung der „augustinischen Lehre von Erbschuld und Erbsünde“. Hier sei er am deutlichsten von der orthodoxen Dogmatik abgewichen. Mit der Kritik der Erbsündenlehre habe Spalding zugleich das „schwerste theologische Fragmal“78 anzupacken begonnen, das die Neologie als ganze beschäftigte. Der Theologiehistoriker stützt sich jedoch mit seiner Interpretation weniger auf die Bestimmungsschrift als vielmehr auf diejenigen Texte Spaldings, in denen er explizit erbsündenkritische Argumente vorträgt. Zum anderen würdigt Hirsch Spaldings Ewigkeitsvorstellung in Hinblick auf die religiös-moralische Funktion des Predigers, wie sie Spalding in seiner Nutzbarkeitsschrift (1772) entfaltet. Diese sei darin zu erblicken, den Sinn der Menschen auf die in Zeit und Ewigkeit liegende moralische Weltordnung zu wecken. Zugleich betont er, dass der Ewigkeitsglaube als Vollendungsglaube ohne jedwede Vergeltungsvorstellung die Selbstzwecklichkeit der Tugend nicht unterminiere. Spaldings praktische kirchengeschichtliche Bedeutung bestehe nach alldem darin, dass er durch seine Unterscheidung von Fundamentalem und Nichtfundamentalem bzw. zwischen Religionspraxis und kirchlicher Lehre die Möglichkeit eröffnet habe, seine Reformideen in der Predigt‑ und Unterrichtspraxis 77 Ebd., 78 Ebd.,
S. 24. S. 29.
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trotz dogmatischem Konservatismus zu übernehmen, was einer „gründlicheren Einfiltrierung des Neuen in Theologie und Kirche“79 förderlich gewesen sei. Joseph Schollmeiers Monographie „Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung“ (1967; Dissertation 1965) stellt so etwas wie eine Pionierleistung für die Spaldingforschung nach 1945 und bis heute einen ihrer festen Referenzpunkte dar. Die Studie unternimmt den Versuch einer umfassenden Interpretation von Spaldings Werk. Der Bestimmungsschrift widmet Schollmeier eine systematische Analyse, wobei er davon ausgeht, dass dieser Text die „Grundfrage“ für Spaldings Denken allgemein formuliere und „die Grundlage [sei], die hinter allen Schriften Spaldings“80 stehe. Instruktiv ist die Rekonstruktion von Spaldings „Kritik an Orthodoxie und Pietismus“81, wobei er sich jedoch ausschließlich auf die Nutzbarkeitsschrift (1772) und die Vertrauten Briefe (1784) bezieht. Der wohl bedeutendste Beitrag Schollmeiers für die Spaldingforschung besteht in der Rekonstruktion der „Quellen von Spaldings Theologie“82. Dabei ist dreierlei bemerkenswert. Zum einen stellt er den schottischen Moral-SenseTheoretiker Francis Hutcheson in seiner Bedeutung für Spalding Shaftesbury zur Seite: „Von nicht geringerer Bedeutung für Spalding als Shaftesbury ist dessen Schüler Hutcheson gewesen.“83 Dies macht Schollmeier an einigen Aspekten des Moral‑ und Religionskonzeptes Spaldings bzw. Hutchesons fest, ohne jedoch im Detail konkrete Belege zu liefern. Diese rezeptions‑ und ideengeschichtliche These ist dann von vielen Spaldingforschern ungeprüft perpetuiert worden (wie im Folgenden deutlich wird). Zum anderen veranschlagt Schollmeier einen nachhaltig prägenden Einfluss des anglikanischen Bischofs und Theologen Joseph Butler auf Spalding. Dieser These kann in unserem Rahmen nicht nachgegangen werden. Denn auch wenn er das Hauptwerk Butlers schon einige Jahre vor seiner Übersetzung von 1756 kennengelernt hat84, so sind doch in der Bestimmungsschrift noch keine Anleihen von Butlers Theologie zu verzeichnen. Schließlich widmet Schollmeier dem Einfluss durch den Berliner reformierten Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack einige Seiten85, den Spalding seit den frühen 1740er Jahren kannte und schätzte. Für unsere Studie ist vor allem die Frage bedenkenswert – auf die Schollmeier jedoch nicht eingeht –, inwieweit Spalding hinsichtlich der Gattung des Selbstgesprächs von seinem neologischen Kollegen abhängig war. Im Ganzen ist in Bezug auf die Methodik der Studie Schollmeiers anzufragen, ob eine Orientierung an den klassischen dogmatischen Lehrtopoi dem Spalding 79 Ebd.,
S. 31.
80 Schollmeier,
Johann Joachim Spalding, S. 56. S. 70–84. 82 Ebd., S. 145 (S. 145–210). 83 Ebd., S. 156. 84 Vgl. ebd., S. 181, Anm. 44. 85 Vgl. ebd., S. 184–210. 81 Ebd.,
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eigenen nichtdogmatischen Charakter seiner theologischen Literatur angemessen ist und ob nicht der konstruktive Beitrag Spaldings zum religionstheologischen Diskurs dadurch zu kurz kommt. Insgesamt ist der Wertung Dreesmans zuzustimmen, dass Schollmeier eine zwar „historisch instruktive, systematisch aber kaum befriedigende Studie“86 vorgelegt habe.87 Hätte Kurt Nowak seinen Bericht zur Aufklärungsforschung in der evangelischen Theologie nach 1945 nur einige Jahre nach 1999 verfasst, wäre er sicherlich in dem Abschnitt zu den „Gestalten des Aufklärungszeitalters“ im Blick auf Spalding zu einem anderen Ergebnis gekommen. Dort gewinnt er den „Eindruck, dass sich die personenbezogene Aufklärungsforschung in der evangelischen Theologie neben mancherlei sonstigen Studien (vor allem zu Spalding, Jerusalem, Toellner) schwerpunktmäßig auf Semler konzentriert“88. Seit den späten 1990er Jahren macht Spalding seinem bis heute bekannteren akademischen Aufklärungstheologen nicht ohne Erfolg Konkurrenz. Er gehört heute mit Semler zu den beiden Neologen, zu denen zahlreiche Einzelstudien erschienen sind, was auch durch zahlreiche Einzeleditionen und die bereits erwähnte Kritische Gesamtausgabe der Schriften Spaldings befördert wurde und wird. Seit Ende der 1990er Jahre ist ein neues editorisches Interesse am Werk Spaldings festzustellen. 1997 hat es Wolfgang Erich Müller unternommen, die Frühschrift über die „Bestimmung des Menschen“ in der Reihe „Theologische Studien-Texte“ beim Verlag Spenner89 und die Spätschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ in der „Bibliothek klassischer Texte“ bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft neu zu edieren. Damit wurden die seit langem nicht mehr zugänglichen Texte mit neuen Ausgaben dem akademischen wie auch interessierten Publikum leicht und preiswert verfügbar gemacht. Gerade für den seminaristischen Gebrauch sind die Texte gut zu verwenden. Die Bestimmungsschrift wird in der Erstausgabe von 1748 und in der letzten Auflage von 1794, zuzüglich der diversen Zugaben, abgedruckt. Dem Ganzen stellt Müller eine Einleitung voran, in der nach einer biographisch-bibliographischen Skizze und editorischen Hinweisen der Gedankengang der Bestimmungsschrift gebündelt zusammengefasst wird. In seinen abschließenden Überlegungen zum kirchen‑ und theologiegeschichtlichen Ort der Bestimmungsschrift würdigt er Spaldings anthropologischen Entwurf: „Es ist das bleibende Verdienst Spaldings, auf die Notwenigkeit aufmerksam gemacht zu haben, daß eine theologische Anthropologie des Bezugs auf die jeweilige Lebenswelt bedarf.“90 Dies betreffe sowohl 86 Dreesman,
Aufklärung der Religion, S. 27. sei gewürdigt, dass die Monographie Schollmeiers eine umfangreiche Bibliographie Spaldings bietet (vgl. Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 233–248), die bis heute für eine Orientierung im Oeuvre des Aufklärungstheologen dienlich ist. 88 Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 75. 89 Das Verdienst Müllers wird leider geschmälert durch die editorische Ungenauigkeit der Textwiedergabe. 90 Müller, Einleitung (Bestimmung des Menschen), S. XIX. 87 Es
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zeitgenössische Denkströmungen (u. a. Shaftesbury), aber auch die Ablösung der Theologie als Leitwissenschaft durch die Philosophie. In seinem Vorwort zur „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“91 nimmt Müller seinen Ausgangspunkt bei der chronologischen Gleichzeitigkeit von Spaldings Alterswerk und Schleiermachers Frühwerk, den ‚Reden über die Religion‘, und mahnt eine stärkere Beachtung der aufklärungstheologischen Wegbereitung für Schleiermachers Religionskonzept an. Wie Schollmeier insistiert auch Müller auf ein prägendes Gewicht Francis Hutchesons auf Spalding92. Dies bleibt nicht nur bei Schollmeier, sondern auch bei Müller weitgehend analytisch unausgewiesen. Während Müller auf die zeitliche wie thematisch-inhaltliche Nähe von Spaldings Religionsschrift zu Schleiermachers Reden vorerst nur hingewiesen hat, so hat diese Fragestellung sowohl aus der Richtung der Schleiermacherforschung wie auch vonseiten der Spaldingforschung bald Resonanz gefunden. Auf dem großen Schleiermacherkongress anlässlich des 200sten Jahrestages der Reden hat sich eine Vielzahl von Beiträgen dem Verhältnis Schleiermachers zur Aufklärung gewidmet. Neben Namen wie Spinoza, Johann August Eberhard, Herder, Kant und Vertretern der englischen Aufklärung taucht der Spaldings gleich zweimal auf. Während Wolfgang Virmonds (Berlin) Vortrag „Bemerkungen zu Schleiermachers Schlobittener Stil-Vorträgen von 1791. Mit einem Exkurs über die ‚Reden‘ (1799) und Spaldings ‚Religion‘ (1797)“ sich nur am Rande mit dem Verhältnis beider Religionskonzeptionen befasst, widmet der Kirchenhistoriker und ausgewiesene Spaldingkenner Albrecht Beutel (Münster) mit seinem Beitrag „Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797)“93 dem Thema gesonderte Aufmerksamkeit. Dies führte dazu, dass im Anhang des Kongressbandes der 1. Auflage von Spaldings Alterswerk „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ die Ehre zuteil wurde, abgedruckt zu werden.94 Beutel rekonstruiert neben den biographischen Kontakten zwischen dem Berliner Konsistorialrat und dem romantischen Prediger „vier zentrale Aspekte“95 der Bestimmung der Religion hinsichtlich ihrer Unterschiede und relativer Gemeinsamkeiten. Diese lassen sich sowohl bezüglich der literarischen Form, der Gefühlsdimension von Religion, der Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral als auch schließlich hinsichtlich des Aspekts der Abhängigkeit des Menschen von Gott ausmachen. In einem letzten Schritt werden in aller Kürze drei weitere Vergleichspunkt benannt: religiöse Individualität, die Funktion in91 Vgl. Spalding, Religion (1997). – Die Edition gibt den Text der 3. Auflage von 1799 wieder. 92 Vgl. Müller, Einleitung (Religion), S. XVII. 93 Vgl. Beutel, Aufklärer höherer Ordnung. 94 Vgl. Spalding, Religion (2000). 95 Beutel, Aufklärer höherer Ordnung, S. 289.
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stitutionalisierter Religion bzw. Kirche und schließlich das Verhältnis von natürlicher und positiver Religion. – Das Verhältnis beider Texte lasse sich in all diesen Punkten – so das Urteil Beutels – nur als ein komplexes Gemenge von Analogien und Differenzen begreifen, wobei Spaldings Religionsschrift als eine „wichtige Voraussetzung“96 von Schleiermachers Reden zu stehen komme. Es lässt sich die „Analogie zwischen den beiden Religionsschriften nicht übersehen“, wenngleich auch die „zwischen ihnen bestehende Differenz“97 deutlich sei. Das Fazit Beutels betrifft aufgrund des Thematisierungskontextes ausschließlich Schleiermacher, der nicht nur als Pietist, sondern auch als Aufklärer höherer Ordnung zu apostrophieren sei.98 Auch wenn sich die Vergleichsstudie vornehmlich dem Alterswerk Spaldings widmet, werden Fragen aufgeworfen, die cum grano salis schon für Spaldings Frühwerk resp. seine Bestimmungsschrift von Interesse sind. Dies betrifft vor allem die Gefühlsdimension. Auch in der „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ (1797) verwendet Spalding neben dem Gefühlsbegriff den Empfindungsbegriff. Es wäre anzufragen, ob Beutel das für die Entwicklung der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts sehr schwer zu bestimmende Verhältnis beider Kategorien, das sich auch in Spaldings Oeuvre widerspiegelt, ausreichend im Auge hat. Festzustellen ist jedenfalls, dass, während Spalding vorzugsweise den Empfindungsbegriff verwendet, Beutel durchgängig von der Gefühlsdimension von Religion spricht99. Albrecht Beutel hat zahlreiche weitere Aufsätze zu Johann Joachim Spalding folgen lassen, in denen zwei Forschungsperspektiven zu erkennen sind. Zum einen geht es dem Kirchenhistoriker, wie bereits in der Spalding-SchleiermacherStudie, um den Vergleich Spaldings mit anderen klassischen neuprotestantischen Konzepten100 sowie in diskursgeschichtlicher Hinsicht um theologische Debatten Spaldings mit berühmten Zeitgenossen.101 Zum anderen hat Beutel einige der zahllosen Predigten des neologischen Kirchenmannes Spalding in frömmigkeits‑ und homiletikgeschichtlicher Perspektive untersucht102 und damit deutlich gemacht, dass theologiegeschichtliche Aufklärungs‑ resp. Spaldingforschung sich nicht nur am Paradigma der dogmen‑ und ideengeschichtlichen Lehrentwicklung zu orientieren habe, sondern dass die Neologie auch religions‑ und christentumspraktisch innovativ war. Damit hat Beutel einen Faden der Auf 96 Ebd.,
S. 309. S. 308. 98 Vgl. ebd., S. 307–310. 99 Vgl. ebd., S. 293–298. 100 Vgl. Beutel, Spener und Spalding. 101 Vgl. Beutel, Spalding und Herder; vgl. ders., Spalding und Goeze [Einleitung]. 102 Vgl. Beutel, Theologie der Predigt nach Spalding; vgl. ders., Aufklärung des Geistes; vgl. ders., Frömmigkeit als Empfindung. – Weiterhin sind Beutels instruktiven inhaltlichen Einleitungen in der Kritischen Spaldingausgabe zu nennen. 97 Ebd.,
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klärungsforschung um 1900 wieder aufgenommen und in das Gewebe seiner Spaldingdeutung eingeflochten. Im Folgenden sollen nur diejenigen Aufsätze Beutels Berücksichtigung finden, die für das Thema vorliegender Studie von Relevanz sind. Hier steht an erster Stelle die Einleitung zur Edition der Bestimmungsschrift in der Kritischen Spaldingausgabe, die einen geringfügig überarbeiteten Aufsatz Beutels wiedergibt.103 Es sind zunächst neben Hinweisen zur Entstehung und zu den Auflagen vor allem Beutels Bemerkungen zur frühen Rezeption, zur Editionsgeschichte und zu freundschaftlichen Korrekturlektüren im Berliner und anakreontischen Literatenkreis aufschlussreich. Das Hauptaugenmerk des Kirchenhistorikers liegt jedoch auf einer ‚frühen Kabale‘ um die Bestimmungsschrift, die in der bisherigen Forschung zur Rezeptionsgeschichte vernachlässigt wurde. Der erste, der sich Spaldings Jugendschrift kritisch widmete, war kein geringerer als Johann Melchior Goeze, der nachmalige Antipode Lessings. Aufschlussreich und für aufklärungsepochale Kommunikationswege von exemplarischer Bedeutung ist Beutels kirchengeschichtlich minutiöse Rekonstruktion der Umstände und der Chronologie, wonach sich der Ascherslebener Diakonus Goeze auf einen in Spaldings Freundeskreisen kursierenden Vorabdruck bezog, der in manchem von der autorisierten 1. Auflage abweicht. Beutel fasst die „vier fundamentale[n] Einwände“104 des Rezensenten bündig zusammen: 1. Undankbarkeit gegen die göttliche Offenbarung, 2. Pelagianismusvorwurf, 3. Bagatellisierung der Angst vorm Tode und 4. Kritik an Spaldings Unsterblichkeitskonzept. Ohne im Detail Beutels Interpretation zu analysieren, so ist doch für die Spaldingforschung mit seinem Hinweis auf Goezes spätorthodox-lutherische Kritik an einer Frühschrift der Neologie ein wichtiger Zugewinn sowohl in methodischer wie auch sachlicher Hinsicht zu verzeichnen. Der methodische Aspekt betrifft die Kontrollierbarkeit der je eigenen Analyse in Bezug auf die in der Bestimmungsschrift zur Debatte stehenden Fragen und Probleme, die dem heutigen Leser nicht ohne weiteres in die Augen springen. Goezes Kritikpunkte helfen diejenigen Themen in den Fokus zu rücken, die nicht nur aus historischer Distanz, sondern bereits damals als problematisch gewertet wurden. Sachlich sensibilisieren die Monita Goezes für eine tiefergehende Analyse von Spaldings Haltung zu diesen Sachpunkten, deren Kritikpotential aufgrund seines gänzlich unpolemischen Stils prima facie nicht unmittelbar ins Auge sticht. Dies betrifft seine Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung bzw. von natürlicher und geoffenbarter Religion, sein Unsterblichkeitskonzept und auch seine implizite Kritik der traditionell-lutherischen (Erb)sündenlehre. Demgemäß bezieht Beutel in seine Deutung der Bestimmungsschrift auch Spaldings „An-
103 Vgl.
Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung]. Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXXIX.
104 Beutel,
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hang zur 3. Auflage“105 ein, in dem der angegriffene Autor nicht direkt repliziere, sondern vielmehr seine Position bezüglich des Verhältnisses von natürlicher Religion und Offenbarungsbegriff ausführe. Eine Gesamtdeutung der theologischen und kirchenreformerischen Leistung Spaldings unternimmt Beutel in seinem Überblicksaufsatz „Johann Joachim Spalding. Populartheologie und Kirchenreform im Zeitalter der Aufklärung“106 von 2003. Hier kann nur derjenige Aspekt benannt werden, der für den Zusammenhang vorliegender Arbeit relevant ist. Beutel vertritt die bildungsgenetische These, dass sich die Entwicklung Spaldings „nicht in distinkt zu unterscheidenden Perioden“ vollzog, jedoch erst seine Rezeption Shaftesburys zu „einer eigenständigen, sein gesamtes Lebenswerk grundierenden Bildung“107 verhalf. Shaftesburys und der Einfluss weiterer westeuropäischer Denker habe dennoch die Prägung durch Christian Wolff nicht nivelliert, sondern ergänzt.108 Es ist jedoch zu fragen, ob Beutels ideengeschichtliche Zuordnung einzelner Theoreme der Bestimmungskonzeption Spaldings ohne weiteres zutrifft. Dies betrifft zum einen seine Verhältnisbestimmung von Moralität und Religion, die der Interpret als „Anverwandlung von leibniz-wolffischen Ideen“109 wertet; zum anderen Spaldings Unsterblichkeitskonzept, das Beutel als Vorwegnahme von Kants Unsterblichkeitspostulat betrachtet110, ohne die shaftesburyanischen Wurzeln zu beachten. So sehr der Hinweis auf Kant zutrifft, stellt sich jedoch die Frage, ob Beutels „transzendentalphilosophische“111 Interpretation des erkenntnistheoretischen Vorbehalts Spaldings hinsichtlich der Unsterblichkeitshoffnung verfängt. Diese Deutung hat Beutel denn auch erst an den zunächst gleichlautenden Abschnitt in seinem Aufsatz zu „Spalding und Goeze“ angefügt112. Vonseiten der Systematischen Theologie hat sich Ulrich Barth mit zwei Aufsätzen zu Spalding geäußert, die in vielerlei Hinsicht eine problemgeschichtliche Vertiefung der Spaldingforschung darstellen. Eingebettet sind sie jeweils in die Konstellationen der Aufsatzbände „Aufgeklärter Protestantismus“113 und „Gott als Projekt der Vernunft“114. Versucht der erste unter den Leitgesichtspunkten „Freiheit, Subjektivität, Kritik“115 jenseits der Unterscheidung von Alt‑ und 105
Vgl. ebd., S. XLIV–XLVIII. Beutel, Johann Joachim Spalding. 107 Ebd., S. 226 f. 108 Vgl. ebd., S. 229. 109 Ebd., S. 231. 110 Vgl. ebd. 111 Beutel, Spalding und Goeze, S. XXXIV. 112 Vgl. ebd. – In diesem Aufsatz übernimmt der Autor zunächst wortlautgerecht einige Abschnitte aus seinem Überblicksaufsatz zu Spalding (vgl. Beutel, Johann Joachim Spalding), um dann jedoch an zitierter Stelle Spaldings letzte Passagen im Unsterblichkeitsabschnitt transzendentalphilosophisch zu interpretieren. 113 Vgl. Barth, Aufgeklärter Protestantismus. 114 Vgl. Barth, Gott als Projekt der Vernunft. 115 Barth, Aufgeklärter Protestantismus, S. VII. 106 Vgl.
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Neuprotestantismus die Entwicklung eines aufgeklärten Protestantismus von Luthers (früher) Theologie über den Pietismus, Aufklärung und Romantik bis hin zu Schleiermacher zu rekonstruieren, so kommt die Aufklärung in dem zweiten Band in der Perspektive auf den „Zusammenhang zwischen Rationalitätsverständnis und Gottesgedanke bzw. Religionsauffassung“116 in den Blick. Dem englischen Deismus und der Neologie widmet sich der Aufsatz „Mündige Religion – Selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive“ seinem Titel gemäß im Hinblick auf deren Beitrag zu einem „wissenssoziologischen Transformationsprozeß neuzeitlicher Religions‑ und Christentumsgeschichte“117. Barth geht es nicht so sehr um epochentheoretische Begründungen und genetische Abhängigkeiten, sondern um strukturelle Äquivalenzen zwischen Deismus und Neologie hinsichtlich ihrer Aufklärung des „religiösen Bewußtseins“118. Stehen Herbert von Cherbury, John Locke, Anthony Collins und John Toland exemplarisch für eine deistische Konjunktur des Konzeptes von natürlicher Religion, das eine „Entkonfessionalisierung des Religionsbegriffs“ und eine „religiöse[n] Emanzipation der Laien“119 als Motive umgreift, so beschließt Barth seinen Durchgang durch die Neologie (Jerusalem, Teller, Tieftrunk) mit Überlegungen zu Spaldings Beitrag zum aufgeklärten Umformungsprozess neuzeitlicher Religionskultur. Mit bildungsgenetischen Hinweisen zu Spaldings Deismusrezeption, die sich explizit v. a. in Spaldings Homiletik dokumentiert, schlägt Barth einen Bogen zum Deismus. Spaldings originärer Beitrag bestehe aber im Vergleich zu seinen deistischen und neologischen Kollegen darin, dass er „aus der Maxime des Prüfens und Selbstdenkens auch methodische Folgerungen hinsichtlich der Entfaltung des Religionsbegriffes zog“120. Dies bewehrt Barth exemplarisch an Spaldings Erstauflage der Bestimmungsschrift von 1748. Die Analyse bezieht sich nicht auf Detailfragen, sondern auf die wissenssoziologische Valenz der literarischen „Darstellungsform“121 und Funktion dieser Schrift. Spaldings Grundthese bestehe darin, dass der anthropologischen Funktion von Religion – Religion entspringe der Frage des Menschen nach sich selbst – auch ihre Darstellungsform zu entsprechen habe, die demgemäß und im Blick auf den skeptischen Zeitgenossen nur in einer nichtautoritativen Anleitung zur humanen Selbstdeutung bestehen könne. Barth stellt in der Spaldingforschung erstmalig heraus, dass hierbei als Reflexionshorizont das „natürliche Glücksstreben“ eine strukturelle Rolle spielt122. Neben 116 Barth, 117 Barth, 118 Ebd.
119 Ebd., 120 Ebd., 121 Ebd.
Gott als Projekt der Vernunft, S. IX f. Mündige Religion, S. 201.
S. 213. S. 221.
122 Frank Grunert hat in seinem Aufsatz zur Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung bereits einige Beobachtungen zu Spaldings Glücksbegriff in der Bestimmungsschrift notiert, diesen jedoch nicht in seiner konstitutiven Relevanz für dessen anthropologisches,
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der glückstheoretischen Perspektive sind Barths bestimmungslogischen Überlegungen wie auch seine Analyse der Korrelation zwischen der „Struktur der Selbstreflexion“123 und der literarisch-rhetorischen Konzeption von besonderem Wert. Barths Hinweis darauf, dass sich das humane Dasein in der Logik von Spaldings Bestimmungsbegriff in „deskriptive und präskriptive Bestimmungen“ ausdifferenziere und dass Spalding implizit von einer „Ebenenunterscheidung zwischen standpunktverhaftetem und reflektierendem Ich“124 ausgehe, gründet in dessen eigener facettenreichen Theorie von Selbstdeutung125. Damit deutet er an, dass Spaldings Bestimmungsschrift nichts weniger als eine komplexe Theorie von Selbstbewusstsein zugrunde liegt, auch wenn er diese nicht explizit ausweist. Dies unterstreicht Barth mit einem Vergleich von Spaldings Bestimmungskonzept mit Hegels Verfahren in seiner „Phänomenologie des Geistes“126. Im Ganzen teile Spalding mit dem Deismus und mit seinen neologischen Kollegen damit in wissenssoziologischer Hinsicht ein und dasselbe Anliegen, das Barth in drei Punkten bündelt: 1. „Allgemeinwerden religiöser Selbstbestimmung, 2. Reduktion des kirchlichen Themenbestandes auf religionspraktisch Relevantes, 3. Entstehung einer religionskompetenten bürgerlichen Öffentlichkeit“127. Darin bestehe der überzeitliche Beitrag Spaldings für die Religionskultur eines aufgeklärten Protestantismus. Der zweite Beitrag Barths geht von der epochentheoretischen These aus, dass sich der Übergang von der Übergangstheologie zur Neologie an der kritischen Überwindung von Christian Wolffs Konzeption einer natürlicher Theologie vollzog. Dies wird an den beiden Wolffianern Hermann Samuel Reimarus und Johann Joachim Spalding exemplifiziert. Der Paradigmenwechsel habe sich v. a. im Übergang vom Begriff der natürlichen Theologie zur natürlichen Religion vollzogen. Wolffs Verdienst bestehe darin, mit seinem Konzept einer Theologia naturalis „die christliche Religion und damit Religion überhaupt auf eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage zu stellen“128. Dabei fungiere die Kategorie der natürlichen Religion als „Nutzanwendung“129 der durch die Theologia naturalis begründeten Lehre. Reimarus und Spalding haben jedoch die Plausibilität ethisches und religionstheoretisches Konzept geltend gemacht (vgl. Grunert, Objektivität des Glücks, S. 355 ff.). 123 Barth, Mündige Religion, S. 222. 124 Ebd. 125 Barth unterscheidet im Kontext seiner Theorie von Selbstdeutung bzw. seiner „Theorie der konkreten Subjektivität“ folgende „strukturelle[n] Grundspannungen“: „Deuten und Erleben, spontane und habitualisierte Selbstdeutung, deskriptive und normative Selbstdeutung, Verwendung allgemeiner Deuteschemata und individuelle Selbstzuschreibung derselben“ (Barth, Gehirn und Geist, S. 459). Die Parallele zu seiner Spaldingdeutung dürfte ins Auge fallen. 126 Vgl. Barth, Mündige Religion, S. 223. 127 Ebd., S. 224. 128 Barth, Theologia naturalis, S. 159. 129 Ebd.
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der „Überzeugungskraft der demonstrativen Vernunft in Sachen Religion“130 aus guten Gründen zu bezweifeln begonnen und einen gänzlich anderen Begriff von natürlicher Religion entwickelt. Auch hier kommt im Blick auf Spalding der Bestimmungsschrift besonderes Augenmerk zu, weil sein grundsätzliches Verständnis von Religion erstmalig anzutreffen ist. Barth resümiert in aller Kürze den Gedankengang früher wolffapologetischer Schriften Spaldings, in denen deutlich wird, dass der junge Theologe zunächst in Wolffs Begriff der natürlichen Religion den „Schlüssel zu einem vernünftigen Christentum“131 erblickte. V.a. durch seine Shaftesburyrezeption sei Spalding jedoch zu einem „gedanklichen Neuaufbruch“132 bewegt worden. Die Philosophie des Engländers konnte vornehmlich in der Spalding schon von Wolff, Gottsched und Andreas Rüdiger her bekannten Debatte um den Glücksbegriff und dessen Relevanz für einen zeitgemäßen Begriff von Religion eine neue Klarheit verschaffen. Von Shaftesbury habe er gelernt, dass in Sachen Glück nicht ein „Machtspruch der Vernunft“133, sondern ausschließlich die je eigene Entdeckung dessen, was wirkliches Glück verbürgt, zum Ziel führt. Auch das intramentale Selbstgespräch als literarische Form bzw. adäquate Darstellung habe Spalding von Shaftesbury adaptiert. Gleichermaßen wie das Glück komme auch die Religion, gleichwohl als Funktion des Glücksstrebens, nur auf dem „Weg der Selbstdeutung des Menschen“ bzw. im Modus einer „freien Aneignung und individuellen Selbstzuschreibung“ zu einer „subjektive[n] Plausibilität am Ort der betroffenen Person“134. Auch hier steht wieder Barths eigenes Konzept von Lebensdeutung im Hintergrund135, womit er indirekt deutlich macht, dass Spaldings shaftesburyanische bzw. glückstheoretische Konzeption von Religion nichts weniger darstellt als einen Meilenstein innerhalb der neuzeitlichen subjektivitätstheoretischen Umformungsbemühungen um Religion und Christentum. Dies wird in seiner Zusammenfassung deutlich: Spalding nimmt „von der Denkfigur des spekulativen Gottesbeweises konsequent Abschied“ und stellt „das religiöse Bewußtsein stattdessen auf eine ethisch-anthropologische Grundlage …, die den Zugang zur Religion der Freiheit individueller Selbstdeutung übergibt“136. 130 Ebd., 131 Ebd., 132 Ebd.
133 Ebd.,
S. 160. S. 167.
S. 168. S. 169. 135 Hier dürfte Barth auf die letztgenannte strukturelle Grundspannung (Verwendung allgemeiner Deuteschemata und individuelle Selbstzuschreibung derselben; vgl. Barth, Gehirn und Geist, S. 458 f.) rekurrieren. Als allgemeine Deuteschemata kommen in Bezug auf die Bestimmungsschrift zum einen klassische theologisch-ethische Topoi in Frage, die sich Spalding bzw. das fiktive literarische Subjekt im Modus des Selbstgesprächs kritisch-konstruktiv zu eigen macht; zum anderen dann aber auch Spaldings eigene Deutungen, die sich wiederum vom Leser individuell zugeschrieben werden können. 136 Barth, Theologia naturalis, S. 171. 134 Ebd.,
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Hatte Ulrich Barth bereits den Glücksbegriff in seiner wissenssoziologischen und religionskonzeptionellen Funktion für Spaldings Bestimmungsschrift in den Blick genommen, so widmet Johann Hinrich Claussen in seiner systematischtheologischen Habilitationsschrift „Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Studien zu einem alltäglichen Begriff“137 Spaldings Glücksbegriff ein ganzes Kapitel138. Schon in der allgemeinen Einleitung zu seinen Studien deutet der Autor die systematische Korrelation zwischen anthropologischer Bestimmung und Glück in einer allgemeinen Weise an: Glück sei die „Erfüllung eigener Anlagen und Bestimmungen“139. Hier wie auch in der Beschreibung der konkreten Freiheit und Offenheit hinsichtlich dessen, was unter Glück und der Bestimmung des Menschen zu verstehen ist, bedient sich Claussen Spaldingscher Grundsätze: „Weder ist man in seinen Bedürfnissen festgelegt, noch vermag man eindeutig zu sagen, was die eigene Bestimmung ist.“140 Bereits die grundlegenden Ausgangsüberlegungen des Autors zur Wichtigkeit einer ideengeschichtlichen Analyse des Glücksthemas erhellen, dass Spaldings Beitrag zur Sache nicht nur als eine aufklärungsepochale Spielart des Glücksgedankens zur Geltung gebracht wird, sondern schon die generellen Aspekte vor Augen hatte wie auch die „Aktualität eines ewigen Themas“141 begründete. Die Neologie und Spalding als einen ihrer prominenten Vertreter stellt Claussen in eine Linie mit der lutherischen Reformation einerseits und Immanuel Kants praktisch-philosophischer Glückskonzeption andererseits142. Spaldings Glücksdenken stellt Claussen zunächst in den Rahmen einer exklusiven protestantismusgeschichtlichen These, dass nämlich die Neologie die „einzige Strömung protestantischer Theologie und Frömmigkeit“ gewesen sei, die „den Glücksbegriff explizit in das Zentrum ihres Nachdenkens gestellt“143 habe. Das Geltendmachen des menschlichen Glücksstrebens und damit die „Wertschätzung des menschlichen Lebens“ stelle im Gegensatz zur lutherischorthodoxen Erbsündenanthropologie nichts anderes dar als „das originäre religiöse Motiv der Neologie“144. Oder anders ausgedrückt: Da es dem Menschen um sein Glück zu tun ist, müsse auch Religion und Christentum als dessen Funktion namhaft gemacht werden. Bei Spalding komme dieses Motiv in besonderer Weise zum Tragen, weil es auch seine schriftstellerische Grundhaltung 137 Vgl.
Claussen, Glück und Gegenglück.
138 „3. Johann Joachim Spalding – Immanuel Kant. A. Die Neologie oder das einfache Glück.“
(Claussen, Glück und Gegenglück, S. 275 (–325)). Der Abschnitt zur Neologie räumt Spalding einen breiten Raum ein, geht aber auch auf andere Neologen ein. Hier interessieren vornehmlich Claussens Ausführungen zu Spalding resp. seiner Bestimmungsschrift. 139 Ebd., S. 2. 140 Ebd., S. 3. 141 Ebd., S. 2. 142 Ebd., S. 35. 143 Ebd., S. 275. 144 Ebd., S. 279.
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bestimmt, vornehmlich in der Bestimmungsschrift. Da das Glück an das je subjektive Glücksstreben rückgebunden ist und damit auch die Religion, kommt Claussen ähnlich wie Ulrich Barth zu dem Schluss, dass die Neologie und mit ihr Spalding „programmatisch am Subjektivitätsgedanken orientierte Theologie und Spiritualität“ repräsentiert, womit selbstredend auch bei ihm deren Modernitätsrichtung betont wird. Ohne alle Beobachtungen des Autors würdigen zu können, sei nur einiges erwähnt. Claussens Rekonstruktion der Glücksstufen der Bestimmungsschrift verfügt zunächst über interessante ideengeschichtliche Rückverweise auf die in den vorherigen Kapiteln erörterten Glückskonzeptionen, v. a. Augustins und Aristoteles’. Sodann betont er die eudaimonismuskritische Dimension des ethischen Glücksbegriffes Spaldings145, wobei auch hier zu fragen ist, ob der unvermeidlich erscheinende Verweis auf Francis Hutcheson mehr ist als nur Perpetuierung der Forschungsliteratur146. Eine genauere Untersuchung bedürfte zudem die lusttheoretische Dimension des Glücksbegriffs. Hinsichtlich der Religionstheorie verweist Claussen drittens erstmals auf die Bedeutung des religiösen HomoiosisMotivs, das Spalding von Shaftesbury übernommen habe147. Dies betrifft viertens auch das vorsehungstheologische Moment148. Seine Ausführungen zu Spaldings Unsterblichkeitsbegriff heben fünftens dessen im Diesseits glücksstiftenden Wert hervor149. Auch sein Hinweis auf den Menschenwürdebegriff ist schließlich in Bezug auf Spalding innovativ, bedürfte jedoch für die Bestimmungsschrift einer genaueren Untersuchung150. Claussens Gesamturteil, dass Spaldings Glücksbegriff deshalb besticht, weil er Glück nicht so sehr in ekstatischen Hochgefühlen und Extremzuständen erblickt, sondern als eine jedem Menschen zugängliche „auf Dauer gestellte[n], harmonisch schöne[n] Grundhaltung“151 zur Geltung bringt, ist – ohne das Ergebnis vorliegender Studie vorwegnehmen zu wollen – rundweg zuzustimmen. Die jüngst erschiene theologisch-systematische Arbeit (Dissertation, 223 Seiten) von Caroline Tippmann „Die Bestimmung des Menschen bei Johann Joachim Spalding“ (Leipzig 2011) stellt den anthropologischen Bestimmungsbegriff in seiner relationalen und teleologischen Dimension ins Zentrum ihrer Studie. Ausgehend von der Quellen‑ und Forschungslage (Kap. 2), die jedoch eine Vielzahl neuerer Forschungsarbeiten zu Spalding aus dem Bereich der Theologie, aber auch Literaturwissenschaft unberücksichtigt lässt, und den zeitgeschichtlichen und biographischen Umständen (Kap. 3) widmet sich Tippmann in den 145 Vgl.
ebd., S. 289. ebd., S. 285; 288 f. 147 Vgl. ebd., S. 292. 148 Vgl. ebd., S. 293 ff. 149 Vgl. ebd., S. 296 f. 150 Vgl. ebd., S. 298. – Claussen bezieht sich auf die späte Religionsschrift Spaldings „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von 1797 (vgl. ebd., S. 298, Anm. 77). 151 Ebd., S. 302. 146 Vgl.
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Kapiteln 4 und 8–10 Spaldings Bestimmungsschrift. Ihr Schwerpunkt liegt ohne Frage auf der begrifflichen Rekonstruktion des Bestimmungsbegriffs (Kap. 8–9). Vielversprechend ist eine parallele Kurzinterpretation der 1. und letzten bzw. 11. Auflage der Bestimmungsschrift sowie eine Entwicklungsgeschichte der Auflagen (Kap. 4), wenngleich die Komplexität des Problems nicht zur Geltung kommt, bspw. der wahrscheinliche Einfluss Immanuel Kants in den letzten Auflagen. Systematisch aus dem Rahmen fällt Kap. 5, in dem sich die Autorin der „übrigen Hauptschriften Spaldings“ unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Tugend und Religion zuwendet. Zur gedanklichen Erschließung des Bestimmungskonzeptes trägt dies wenig aus. Gleiches betrifft das Kap. 6, in dem Tippmann nach dem spezifisch Christlichen im Oeuvre Spaldings fragt, wobei sie diese Frage auf seine Christologie und seinen Christusglauben einengt. Der Sache angemessener wäre wohl eher die Frage danach gewesen, ob und inwieweit die Bestimmungskonzeption selber christentumstheoretisch zu begreifen ist. Die Überlegungen zu den ‚Gedanklichen Einflüssen auf die Theologie Spaldings‘ (Kap. 7) gehen nur in Bezug auf F. W. Sack über schon Bekanntes hinaus. Verdienstvoll ist die grammatische und inhaltliche Analyse des Bestimmungsbegriffs (Kap. 8.1), jedoch bleibt der Bezug zu Spalding unklar. Auch die Überlegungen zum Bestimmungsbegriff als Losung der Aufklärung (Kap. 8.2) erschöpfen ihr Thema nicht. Dass das Ergebnis schließlich in eine Kritik an Spaldings Konzeption in Bezug auf die Soteriologie und Eschatologie mündet, ist schade. Hatte sich die Forschung des 19. Jahrhunderts zu Spalding vor allem dem Aufklärungs-Homiletiker gewidmet152, so wandte sich jüngst wieder eine Studie aus dem Bereich der Praktischen Theologie dem Theologen des 18. Jahrhunderts zu. Die gut 200seitige Dissertation Ulrich Dreesmans unter dem Titel „Aufklärung der Religion – die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings“153 fokussiert jedoch nicht vorrangig die Predigtlehre des Berliner Propstes und Konsistorialrates, sondern „macht es sich zur Aufgabe, Spaldings Beitrag zum aufklärerischen Diskurs über Religion historisch auszuloten und systematisch zu rekonstruieren“154, jedoch in „praktisch-theologischer Absicht“155. Seiner zentralen These nach liege den eminent praktischen „Gelegenheitsschriften“ des Literaten und Theologen ein voraussetzungsreiches wie anspruchsvolles „Theoriekonzept von Religion“156 zugrunde, welches es zu rekonstruieren gelte, denn: „Die Theorie der Religion bildet den Homiletik und Liturgik, Katechetik und Poimenik, Pastoraltheologie und Kirchentheorie integrierenden Reflexionshorizont.“157 152 Vgl.
Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 25, Anm. 86. Dreesman, Aufklärung der Religion. 154 Ebd., S. 51. 155 Ebd., S. 52. 156 Ebd., S. 51. 157 Ebd., S. 52. 153 Vgl.
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Nach Maßgabe der Differenz von individueller, gesellschaftlicher und historisch-krisenhafter Gestalt von Religion rekonstruiert Dreesman zunächst das Freundschaftsmilieu, die englisch-moralphilosophischen Wurzeln, das Konzept der Bestimmung des Menschen wie deren religiöse Dimension. Hier ist es ihm vor allem um die Verschränkung der kognitiven und emotionalen Seite von Religion und um die Frage zu tun, inwieweit das Christentum für Spalding deren „adäquate Darstellung und Auslegung“158 repräsentiert. Erst im Kontext der Analyse der gesellschaftlichen Religion159 geht es dann um die interaktivkommunikative Dimension von Religion und deren praktisch-theologische Konsequenzen in Spaldings Verständnis pastoraler Handlungsfelder einerseits und eines distinkten Begriffs von Kirche angesichts einer Konstitution eines aufgeklärten Staats‑ und Gesellschaftsverständnisses andererseits. Schließlich kommt die Krise der Aufklärung im Ausgang des 18. Jahrhunderts für Dreesman gleichermaßen in der Krise ihres metaphysischen Religionsverständnisses zum Ausdruck, die sich in der kritischen Philosophie diskursiv manifestiert wie auch in Spaldings Auseinandersetzungen mit der nachfriderizianischen Religionspolitik in Preußen biographisch und politisch exemplifiziert. Das systematisch-praktische Interesse Dreesmans ist es, die Relevanz eines aufgeklärten Religionsbegriffes als „Brückenschlag in eine Kultur und Gesellschaft, die sich nicht selbstverständlich als christlich beziehungsweise kirchlich versteht“ deutlich werden zu lassen. Darin zeigt sich ein eminent neuzeit‑ und modernitätstheoretisches Anliegen seitens des Autors, so dass er Spalding im Anschluss an Albrecht Beutel als „Bahnbrecher der theologischen Moderne“160 bezeichnen kann. Diese Perspektive bestimmt auch Dreesmans nur vierseitiges Resümee, in dem er das heutige Christentum in genau dem Problemhorizont verortet, welcher bereits in der Aufklärung angefangen habe, die Bedingungen moderner Religionskultur mitzubestimmen. Spalding habe gerade in seiner Bezugnahme auf zeitgenössische Lebenskultur seiner Religions‑ und Christentumskonzeption ein solches Profil verliehen, welches für diese bis heute Geltung beanspruchen könne. Unter vier allgemeinen Gesichtspunkten fasst Dreesman die Relevanz von Spaldings Religionstheologie zusammen: 1. mündiges Christentum, 2. empfindsame Religion, 3. Kirche als Institution religiöser Bildung und 4. Theologie als Praxistheorie der christlichen Religion. Damit markiert er Spalding als bedeutenden Gesprächspartner für aktuelle Religions-, Christentums-, Kirchentheorie und Konzeption von Theologie, innerhalb derer die Stichworte Dreesmans heute verhandelt werden. Er rückt Spalding mit seiner Interpretation in die Tradition derjenigen praktischen (Aufklärungs)theologen ein, denen es um die Rekon158 Ebd. 159 Vgl.
ebd., S. 133–188. S. 53.
160 Ebd.,
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struktion der (religions)theoretischen Konstitutionsbedingungen praktischer Theologie und pastoraler Praxis – ein Begriff Volker Drehsens161 – zu tun ist. Sicherlich stellt damit die Arbeit denjenigen Beitrag der neuesten Spaldingforschung dar, der einen solch weiten Reflexionshorizont aufspannt, der dem Theorieniveau Spaldings wie auch seiner Relevanz gleichermaßen gerecht zu werden versucht. Es gehört gleichsam zu seinem Programm, aktuelle theologische Reflexionskategorien zur Rekonstruktion Spaldings beizuziehen. Im Detail ist Dreesmans Studie aufschlussreich auch für die in unserer Arbeit im Zentrum stehende Frühphase Spaldings. Dies betrifft zum einen die These, dass das Freundschaftsmilieu, in dem der junge Theologe zuhause war, mit der Rhetorik, der literarischen Stilistik und Gattung und der Art und Weise der Gegenstandsbehandlung in der Bestimmungsschrift in Korrelation steht: Der Unbefangenheit und Freiheit der Freundschaft korreliert ein freier Umgang mit ethischen und religiösen Themen. Die gesellige Kommunikationskultur habe also nicht unwesentlich den undogmatischen und herrschaftsfreien Darstellungsmodus vor allem der Bestimmungsschrift mitbedingt. Diese These und Methode Dreesmans eröffnet erstmals einen genaueren Blick auf die wissenskulturellen resp. ‑soziologischen Entstehungsbedingungen eines aufgeklärten Begriffs natürlicher Ethik und Religion. Es lässt sich jedoch prinzipiell anfragen, ob die Monographie dieser weitgespannten Frage‑ und Aufgabenstellung gerecht wird. So entwickelt die Arbeit zumeist Interpretationsperspektiven, die einer eingehenderen genetischen und exegetischen Analyse bedürften. Im Sinne des programmatischen Geltungsanspruchs Dreesmans in Bezug auf Spaldings Religionstheologie kann die Arbeit aber anregen, die hier aufgenommenen Fäden im Sinne des Autors weiterzuspinnen. Methodisch stellt sich die Frage, ob die rein systematische Anlage auch die entwicklungsgeschichtliche Seite von Spaldings Denken ausreichend berücksichtigt. Dreesman unterlässt eine genetische Rekonstruktion zugunsten einer synchronen Analyse, die die Unterschiede in den Schaffensphasen des Theologen nivelliert. Vorerst seien einige Punkte angedeutet. Dies betrifft zum ersten die Gefühls‑ bzw. Empfindungsthematik. Bereits in Bezug auf Dreesmans Ausführungen zur Verhältnisbestimmung von Neigung, Gefühl bzw. Empfindung und Vernunft bei Shaftesbury ist festzustellen, dass die deutsche Terminologie unvermittelt eingeführt wird und dadurch die Relation von emotiver und kognitiver Dimension innerhalb ethischer und religiöser Erkenntnis unterbestimmt bleibt. Dies betrifft in gleicher Sache Dreesmans Spaldingdeutung. Er identifiziert den Empfindungs‑ und Gefühlsbegriff, ohne die begrifflichen und terminologischen Differenzierungen bei Spalding zu berücksichtigen und die komplexe Vermitt161 Vgl.
Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen.
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lungsstruktur rationaler und emotiver Dimensionen ethisch-religiöser Erkenntnis zu entschlüsseln. Es ist hier des näheren zu fragen, ob Dreesmans Kapitel „Religion und Gefühl“162 mit seiner fast ausschließlichen Analyse der späteren Schrift „Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christentum“ (1761) auch bspw. schon für die Bestimmungsschrift repräsentativ ist, wo der Empfindungsterminus vorherrscht. Des Weiteren gehört sicherlich die Frage, inwieweit Spalding von Shaftesburys und von Hutchesons Moralphilosophie abhängig ist, zu den strittigen Problemen der Spaldingforschung, erfordert die Beantwortung doch eine präzise Kenntnis beider Autoren und ein feines Sensorium für die Differenzen bei der Analyse der Spaldingschen Adaptionen. Methodisch ist es höchst fragwürdig, ob im Modus einer Analyse von Spaldings Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen auf „Shaftesbury und Hutcheson“163 als Wurzeln der moralischen Empfindung bei Spalding verwiesen werden kann, wenn Hutchesons Einfluss unausgewiesen bleibt. Schließlich wäre anzumerken, ob der Begriff der Individualität bzw. individuellen Religion für die Religionskonzeption Spaldings einschlägig ist. Dasjenige, was Dreesman durchaus zutreffend vor Augen hat, wäre wohl besser auf den Begriff der Subjektivität und Privatheit gebracht. Ein Beitrag des Rostocker Praktischen Theologen Andreas Kubik nimmt Spaldings Bestimmungsschrift weniger lehr‑ und dogmengeschichtlich als vielmehr als „Grundschrift einer aufgeklärten Frömmigkeit“ in den Blick und dies in zwei Perspektiven. Zunächst rekonstruiert Kubik das „Frömmigkeitsprofil“ der Schrift Spaldings. In einem zweiten Schritt unternimmt die Studie den Versuch, „aus ihr [scil. Bestimmungsschrift; G. R.] eine Silhouette, einen Typus – weniger eine konkrete Ausformung – aufgeklärter Frömmigkeit herauszudestillieren, der sich im weiteren Verlauf der Christentumsgeschichte durchgehalten hat, der aber im Diskurs um evangelische Formen von Spiritualität und Frömmigkeit seltsam unterrepräsentiert und daher empirisch auch nicht immer leicht zu entdecken ist“164. Damit wird nicht der Anspruch einer Rezeptionsgeschichte erhoben; vielmehr geht es der Sache nach um die Typologie einer aufgeklärten Frömmigkeit, die methodisch ihren Ausgangspunkt bei einem ‚typischen‘ aufklärungstheologischen Text nimmt. „Ihre Absicht ist also zugleich theologiegeschichtlicher, genauer: frömmigkeitsgeschichtlicher wie religionshermeneutischer Art.“165 Eine Religionshermeneutik, die sich der Geltung aufgeklärter Frömmigkeit widmet, – so ließe sich Kubiks Zugriff zusammenfassen – muss sich zugleich deren Genese widmen. Damit weiß sich Kubik dem eigenen Interesse der Neologie verpflichtet, der es nicht nur, aber eben auch um die Etablierung 162 Vgl.
ebd., S. 111–118. S. 74. 164 Kubik, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 1 f. 165 Ebd., S. 2. 163 Ebd.,
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einer neuen Frömmigkeitskultur zu tun war. Der Verfasser reiht sich in einen älteren und jüngeren frömmigkeitsgeschichtlichen Diskurs ein,166 der in der Theologie‑ und Aufklärungsforschung bis dato vernachlässigt worden sei167 und den es zu stärken gelte, – so seine forschungspolitische These. Kubik skizziert zunächst den Charakter und die Methode der Bestimmungsschrift168, analysiert in einem zweiten Schritt ihren Stufenbau169. Problematisch erscheint mir an dieser Stelle die argumentativ-terminologische Amalgamierung Spaldingscher Theoriemomente mit aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen wie Lifestyle-Hedonismus, Sport und Fitness170, um nur einige zu nennen. Trotz des ehrenwerten Anliegens, Spaldings Konzept modernitätshermeneutisch fruchtbar zu machen, sollte die Textanalyse von solchen weitergehenden Überlegungen gesondert erledigt werden. – Dann widmet sich die Studie ausführlich dem Übergang von der Moralität zur Religion171. Die Untersuchungen münden zusammenfassend in eine Heuristik des Frömmigkeitsprofils der Bestimmungsschrift ein, die von Kubik zugleich als Grundsignatur aufgeklärten Protestantismus’ – sowohl in der Theologie wie auch in der gelebten Religion – apostrophiert wird. Genannt werden die Virulenz der Sinnfrage, die Subjektivität der Selbstbestimmung, die Lebensdienlichkeit von Religion, das Streben nach Ganzheit des Lebens, die biographische Dimension von Religion und die Authentizität religiöser Andacht.172 Der kurze Schluss macht noch einmal deutlich, aus welchem Grunde ein frömmigkeitsgeschichtlicher sowie gegenwartsrelevanter Rekurs auf Spaldings Konzept möglich und fruchtbar ist: Zum einen entwickele Spalding bereits vor Schleiermacher ein Konzept gelebter Religion, die die neuzeitliche Krise der Religion bearbeite und zugleich von der nachmaligen Transzendentalphilosophie Kants unbetroffen blieb. Zum anderen stelle Spaldings Neologie ein Synthesemodell theologischer Durchdringung und lebendiger Frömmigkeitskultur dar, die dem „Auseinanderdriften von gelassener (Volks‑)Kirchlichkeit, kritischer Zeitgenossenschaft und ernsthafter religiöser Nachdenklichkeit“173
166
Kubik bezieht sich immer wieder kritisch auf die ältere Arbeit von Heinrich Hoffmann (vgl. Hoffmann, Die Frömmigkeit der deutschen Aufklärung). 167 So sehr seiner diesbezüglichen Epochalisierung der neueren Forschungsgeschichte zur Neologie zuzustimmen ist (vgl. Kubik, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 2 f., Anm. 10), so sehr verwundert es, dass der Autor nicht würdigend auf den frömmigkeitsgeschichtlichen Fokus auch der älteren Forschung eingeht (bspw. Stephan, Zscharnack, Hirsch). 168 Vgl. ebd., S. 3–6. 169 Vgl. ebd., S. 6–9. 170 Vgl. ebd., S. 7. 171 Vgl. ebd., S. 9–14. 172 Leider schließt jeder Abschnitt stereotyp mit einem allgemeinen Hinweis, dass sich der aufgeklärte Protestantismus den jeweiligen Aspekt zu Eigen gemacht habe. Wenigstens einige Stichworte und Namen würden die ohne Frage zutreffende These belegt und deutlich gemacht haben, was und wen der Verfasser konkret vor Augen hat. 173 Kubik, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 19.
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Einhalt zu gebieten in der Lage sei. Darin bestehe Spaldings aktueller Wert sowohl für die systematische wie für die praktische Theologie.
2.2 Philosophische und germanistische Zugänge Neben der immer noch vergleichsweise übersichtlichen theologischen Forschungsarbeit zu Spalding zeichnet sich seit einigen Jahren ein Interesse vonseiten der akademischen Philosophie und Germanistik an Spalding ab, insbesondere an seiner Bestimmungsschrift. Dies begründet sich einerseits durch die anthropologische Fragestellung der Schrift, andererseits aber auch durch die ideen‑ und rezeptionsgeschichtliche Bedeutung, die dem Text im Aufklärungsdiskurs der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zukommt. Im Mittelpunkt steht das Titeldiktum der Bestimmung des Menschen hinsichtlich seiner Vor‑ und Wirkungsgeschichte. Die prominente von Günter Birtsch, Karl Eibl und Norbert Hinske herausgegebene Reihe „Aufklärung: interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte“ widmet diesem Diktum aus theologischer Feder einen ganzen Band. Die Motive für die Beschäftigung mit dem anthropologischen Bestimmungsbegriff lassen sich für den Initiator und Herausgeber des Bandes, den Trierer Philosophen Norbert Hinske, unschwer ermitteln. Er bezieht sich in seiner Einleitung auf sein Konzept der tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung, das der Autor erstmals als Vortrag 1983 vorgetragen und dann 1990 als Aufsatz veröffentlicht hat174. Nach seiner dort entfalteten Typologie kommt dem Begriff der Bestimmung des Menschen der Status einer Basisidee zu, also eines Ideentypus neben dem der Programmideen (Aufklärung, Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit, Perfektibilität175) und Kampfideen (gegen Vorurteile, Aberglaube, Schwärmerei176). Hinske fragt „nach eben jenen Grundideen und ‑überzeugungen, die von der deutschen Aufklärung als ganzer mehr oder minder selbstverständlich als sachlich gerechtfertigt angesehen worden sind und die sie damit als eine geschlossene Bewegung überhaupt erst möglich gemacht haben“177. Insofern Hinske den Bestimmungsbegriff gleichsam in seine Ehrenhalle der Grund‑ resp. Basisideen aufnimmt, erfährt er zugleich einen epochentheoretischen Bedeutungszuwachs, den er in der bisherigen Aufklärungsforschung nicht innehatte; und mit ihm 174 Vgl. Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe in: Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 7–9; vgl. Hinske, Grundideen der deutschen Aufklärung. – Dieser Text ist überarbeitet und ergänzt wiederabgedruckt in: Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 407–458. – Hinske wurde zu diesem Konzept angeregt durch die drei Sammelbände Wyttenbach/Neurohr, Aussprüche des reinen Herzens, die ihrerseits ein „Ideenensemble der deutschen (Spät‑)Aufklärung“ entwerfen, das auch die Idee der Bestimmung des Menschen als Grundidee der Aufklärung enthält (vgl. Hinske, Eine alte Katechismusfrage, S. 3). 175 Vgl. Hinske, Grundideen der deutschen Aufklärung, S. 412–426. 176 Vgl. ebd., S. 426–434. 177 Ebd., S. 408.
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rückt nun auch Spalding in den Fokus dieses Forschungsprogramms. Die erste breitenwirksame Frucht trug Hinskes ideentheoretisches Epochenkonzept in der deutschen Ausgabe des von dem Italiener Raffaele Ciafardone besorgten und bei Reclam erschienenen Einführung und Textsammlung „Die Philosophie der deutschen Aufklärung“, der auch bezeichnenderweise der Aufsatz von Hinske beigefügt wurde. Diese setzt gemäß Hinskes Basisideen mit einem Kapitel „Der Mensch und seine Bestimmung“178 ein. Ohne sich nur allein terminologisch an dem Diktum festzumachen, wird zunächst die Linie von Leibniz über Thomasius und Wolff bis zu Crusius gezogen, um dann im Anschluss an Spalding die Abbt-Mendelssohn-Debatte folgen zu lassen und mit Kants, Lessings und Schillers Bestimmungskonzept zu schließen. Damit erfährt die Idee der Bestimmung des Menschen durch den Einzug in ein Einführungswerk zur deutschen Aufklärung wie auch durch die exzeptionelle Positionierung des Kapitels eine enorme Popularisierung und Aufwertung. Im Blick auf Spalding ist jedoch zu verzeichnen, dass die Bestimmungsschrift in dem Einleitungstext ausschließlich als titelprägender Ausgangspunkt für die Abbt-Mendelssohn-Debatte zu stehen kommt.179 Im Ganzen ist dennoch immerhin bemerkenswert, dass durch die Aufklärungsdeutung Hinskes sowohl die Bestimmung des Menschen als auch Spalding als ihr wirkmächtiger Stichwortgeber in den nichttheologischen Diskurs um die deutsche Aufklärung Einzug zu halten begonnen hat. Als gleichsam nachgeholte Eigenwürdigung Spaldings kann dann der von Hinske besorgte Forschungsband „Die Bestimmung des Menschen“ von 1999 gelten180. Der Band enthält zunächst eine instruktive Einleitung des Herausgebers, in der Hinske die antiken Wurzeln des Bestimmungsgedankens eruiert. Bereits die Spätaufklärung habe auf die antiken Gewährsmänner der Bestimmungsfrage hingewiesen, ohne dass bei Konfuzius, Zoroaster, Aristoteles, Cicero, Epiktet, Persius und Marc Aurel der Terminus explizit vorkommt. Hinske plädiert denn auch für eine Erweiterung der Begriffsgeschichte um „problem‑ und ideengeschichtliche Fragestellungen, ohne die die geschichtlichen Hintergründe nicht zureichend zu erhellen sind“181. Er stellt fest: „Eine umfassende Darstellung des Problems steht bis heute aus“182, auch wenn der Band einige Schlaglichter auf das Problem wirft. Zum Schluss weist er darauf hin, dass Spaldings Bestimmungsschrift nur den einen großen Impuls für die nach 1750 avancierende Anthropologie darstellt, während der andere von Christian Wolffs „Psychologia empirica“ ausging. Auf die zu erwägende bildungs‑ und ideengeschichtliche Verbindungslinie von Wolff zu Spalding und die Interdependenzen geht Hinske nicht ein.
178 Vgl.
Ciafardone, Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 39–119. ebd., S. 43; 70. 180 Vgl. Hinske, Die Bestimmung des Menschen. 181 Hinske, Eine Alte Katechismusfrage, S. 5. 182 Ebd., S. 6. 179 Vgl.
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Der in diesem Band folgende Beitrag des Philosophen und katholischen Theologen Clemens Schwaiger „Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung“183 unternimmt einen Versuch, die noch im Dunklen liegenden Wurzeln des Spaldingschen Diktums auszugraben, der immerhin eine wenngleich „anfanghafte[n] Spurensuche“184 darstellt. Damit kommt erstmals der Bildungsweg Spaldings vor 1748 diesbezüglich in einen schärferen Fokus. Schwaiger gibt zunächst einige sprachgeschichtliche Quellen des Bestimmungsbegriffes an, die Spalding nachweislich gekannt hat, und rekapituliert sodann dessen Rezeption der Philosophien von Wolff und Shaftesbury, wenngleich seine Zuweisung der zweiten „ausdrücklich religiöse[n] Hälfte“ der Bestimmungsschrift zur „Leibniz-Wolffschen Traditionslinie“185 zu hinerfragen ist. Das innovative Moment an Schwaigers Studie besteht in deren traditionsgeschichtlichen Erörterungen zur literarischen Form des Soliloquiums sowie in dem damit einhergehenden Rekurs auf solche Schriften Shaftesburys, die Spalding nicht übersetzt hat, die aber für die Quellenanalyse unerlässlich wie fruchtbar sind. Eine Studie, die sich dezidiert der anthropologischen und individualgeschichtlichen Valenz der Bestimmungsschrift widmet, stammt aus der Feder des Philosophiehistorikers und Kenners sowohl von Aufklärungsphilosophie wie auch ‑theologie Andreas Urs Sommer. Bereits der Titel seines Aufsatzes „Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen“186 macht deutlich, dass er zwei prima facie nichtspaldingsche Reflexionskategorien an ihn heranträgt: einerseits eine sinntheoretische, andererseits eine geschichts‑ bzw. individualtheoretische Fragestellung. Dies verwundert deshalb nicht, weil Sommer ausgewiesener Kenner der aufklärerischen Geschichtsphilosophie und Geschichtstheorie ist. Seine These hinsichtlich der individual‑ wie geschichtsphilosophischen Fragestellung geht zunächst von der Annahme aus, dass allgemein „die um 1750 virulent werdende Frage nach Sinnstiftung durch Geschichte“187 im Aufkommen war. Mit der Abbt-Mendelssohn-Kontroverse beginne eine individualethische und geschichtsphilosophische Diskussion, die sich „bis Anfang des 19. Jahrhunderts hinzieht“188. Spaldings Bedeutung für die geschichtliche Sinnstiftungsdebatte seit der Jahrhundertmitte bestehe darin, mit seiner Bestimmungsschrift zunächst ein Konzept entworfen zu haben, „der individuellen Lebensgeschichte Sinn abzutrotzen“189. Diese Perspektive wurde bald „geschichtsphilosophisch183 Vgl.
Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen. S. 9. 185 Ebd., S. 17. 186 Vgl. Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte. 187 Ebd., S. 183. 188 Ebd., S. 168. 189 Ebd. – Es sei hier darauf hingewiesen, dass Sommer auch die identitätstheoretischen Probleme des individualgeschichtlichen Entwicklungskonzeptes Spaldings rekonstruiert. Sein 184 Ebd.,
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geschichtstheologisch[en]“190 entschränkt, u. a. von seinem Neologenkollegen Jerusalem. Kein Geringerer als Kant stehe hier über die Vermittlung Mendelssohns in der Tradition Spaldings, von dem er sich jedoch mit seiner gattungstheoretischen Fassung des Bestimmungsbegriffs explizit absetze191. Der „universalistischspekulativen Geschichtsphilosophie“ sei durch Spaldings individualhistorischen Ansatz gleichwohl „der Boden bereitet“192 worden. Innerhalb seiner Ausführungen zum Unsterblichkeitskonzept Spaldings kommt nun Sommers geschichtsphilosophische These vor allem zum Tragen. Bei aller Perfektibilität des ethischen Subjektes hienieden und im Jenseits, „deutet Spalding mit keinem Worte an, dass so etwas wie eine Erziehung des Menschengeschlechtes, ein sittlicher oder moralischer Fortschritt in dieser Welt stattfinden könnte“193. Spaldings ethische Vervollkommnung des Einzelsubjektes blende jedweden gattungstheoretischen Entwicklungsaspekt aus. Es stellt sich jedoch im Blick auf Sommers einleuchtende Grundthese die Frage, ob der Prozess des introspektiven Ich sich sachlich als Individualgeschichte im eminenten Sinne darstellt oder nicht vielmehr als allgemeine Struktur selbstreflexiver Subjektivität zu bestimmen ist. Sommer räumt selber ein, es handele sich um den „Gang eines ganz gewöhnlichen Ichs“ und nicht um eine „subjektivistisch verstandene Bestimmung“194. Allererst die Romantik und der deutsche Idealismus haben bekanntlich die humane Individualität zum ethischen und subjektivitätstheoretischen Grundproblem entwickelt.195 Auch Sommers Diktum vom „individualistisch gefassten ‚Fortschrittsdenken‘ “196 überdehnt m. E. Spaldings Subjektkonzept und verdeckt geradezu die Spannung zwischen konkretem literarischem Ich und der rezeptionellen Applizierbarkeit am Orte des Lesers. Seine These hinsichtlich der anthropologischen Bedeutung der Bestimmungsschrift fällt vermittelnd aus: „Die pessimistische Anthropologie paulinisch-augustinischer Provenienz mitsamt Erbsündenlast und prädestinationstheologischem Pessimismus ist zwar nicht einem negativem Vernunftoptimismus, aber doch der Überzeugung gewichen, dass der Mensch mit einiger Anstrengung den Kurs seines Daseins frei zu wählen vermag.“197 Sommer nimmt den Deutungsansatz von Emanuel Hirsch auf, und interpretiert Spaldings Naturkonzept als Rückgriff auf das aristotelische Potenz-Akt-Schema verwundert jedoch, liegt doch im teleologischen Bestimmungs‑ resp. Naturbegriff selber ein Theorem vor, welches sowohl subjektive Identität als auch Perfektibilität gleichsam unter einen Hut bekommt. Dass hier Aristoteles im Hintergrund steht, wäre allererst zu zeigen und betrifft die schwierige Frage nach der begriffsgeschichtlichen Provenienz des anthropologischen Bestimmungsbegriffs. 190 Ebd. 191 Vgl. ebd. 192 Ebd. 193 Ebd., S. 180. 194 Ebd., S. 169 f. 195 Vgl. Barth, Das Individualitätskonzept der Monologen, S. 291–294. 196 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 183. 197 Ebd., S. 167.
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Kritik an der paulinisch-augustinischen Erbsündenlehre. Er verwehrt sich jedoch in einer erfrischend unkonventionellen Diktion gegen gängige Optimismusvorwürfe wider die Aufklärung als ganze und Spalding im Besonderen. Spalding unterdrücke nicht die ethischen und ontologischen „mala“: „Wer bislang der Ansicht war, ‚die‘ Aufklärung habe in einem letztlich besinnungslosen Euphorismus die Welt und den Menschen oder wenigstens deren glorreiche irdische Zukunft nur in Rosatönen wahrgenommen, wird hier von Spalding eines Besseren belehrt.“198 Wie an diesem Zitat zu bemerken, überzeugt überhaupt Sommers Klarheit einerseits und sein abgewogenes Urteil andererseits. Letzteres betrifft nicht zuletzt die geistes‑ und ideengeschichtliche Interpretation der Erweichung des Erbsündendogmas in Spaldings Anthropologie. Sommers Studie besticht des Weiteren durch ihre wissenssoziologische Reflexionsebene, Spaldings Konzept spiegele in „exemplarischer Weise“ einerseits den „antiklerikale[n] Affekt der Aufklärung“ samt Abkehr von traditional-religiösen „Letztverbindlichkeiten“ und „traditionalen Zwängen“199 und positiv gewendet die Genese eines neuzeitlichen Selbstverantwortlichkeits‑ und Freiheitskonzeptes wieder. Sommer verfällt jedoch nicht dem Verdikt gegenüber neologischer Religionstheologie, sie habe sich von Offenbarung und theologischen Begründungszusammenhängen verabschiedet. Vielmehr bestehe ihre Leistung in einer Aufklärung der Theologie selber: „Spalding verwandelt das antitheologische Anliegen der Aufklärung in ein Anliegen der Theologie.“200 Eindrücklich ist besonders Sommers Analyse von Spaldings Sinnlichkeitskonzept, das die Sinnlichkeit entdämonisiere und deren Aporetik nicht autoritär, sondern rein aus der Selbstentdeckungsstruktur des Subjektes begründe. Sommer erblickt zudem in der Stufigkeit der Bestimmungsschrift kein einfaches Überwindungs‑ und Ablösungsschema, vielmehr wird bspw. die Sinnlichkeit als „von der Erbsündenhypothek befreite Sinnlichkeit sehr wohl konstitutiv für das Menschsein und daher gutzuheissen, so lange sie nicht die höhere sittliche Bestimmung des Menschen aushöhlt“201. Es erscheinen jedoch auch einige Interpretamente fraglich. Dies betrifft zunächst Sommers These zum Verhältnis von Moral und Religion: Spalding habe ein „identifikatorisches Verständnis von Religion und Moral“202. Diese Identitätssetzung unterschreitet sicherlich die Komplexität dieser Relation. Hinsichtlich der Religion behauptet Sommer, „Gott wird [von Spalding; G. R.] als personales Wesen gedacht, das sich um die irdischen Belange kümmert“203. Mindestens für die 1. Auflage der Bestimmungsschrift trifft diese theologisch198 Ebd.,
S. 176. S. 169 f. 200 Ebd., S. 170. 201 Ebd., S. 174. 202 Ebd., S. 165. 203 Ebd., S. 174. 199 Ebd.,
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personale Deutung so pauschal nicht zu und verkennt die apersonale Dimension des Spaldingschen Letztbegründungsdenkens. Auch die theologiegeschichtliche und philosophiegeschichtliche Titulierung von Spaldings Religionskonzept als „Physikotheologie“ bzw. als „Leibniz-Wolffschen Optimismus“204 dürfte den durchprägenden Shaftesburyanismus unbegründet ausblenden. Schließlich perpetuiert auch Sommer unbelegt Schollmeiers These, neben Shaftesbury habe wesentlich auch Francis Hutcheson Spaldings Ethikkonzept geprägt205. Abschließend ist kritisch zu fragen, ob Sommers Schlussfolgerung, „[g]erade Spaldings Bestimmung des Menschen hat, über das letztlich sehr konventionelle Versprechen individueller Unsterblichkeit hinaus, keine Weltorientierungsangebote zu machen“206, nicht die diesbezügliche Leistung des Aufklärers in Hinsicht auf die ethische Orientierung in Sachen Lebensführung unterbewertet. Der bereits erörterte Bestimmungsband von Hinske stieß auch in der Literaturwissenschaft auf Interesse, das wohl über den Mitherausgeber der Schriftenreihe zur Aufklärung, den Goetheforscher und ‑herausgeber Karl Eibl vermittelt war. Dies dokumentieren drei Aufsätze207, die sich allesamt der Bedeutung des Begriffs der Bestimmung des Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Perspektiven widmen und Spalding den Status eines Initiators eines breiten Diskurses zurechnen. Der Darmstädter Literaturwissenschaftler und Goetheexperte Fotis Jannidis hat sich in zwei Aufsätzen mit dem auf Spalding zurückgehenden Diktum von der Bestimmung des Menschen beschäftigt. In seinem in derselben Schriftenreihe erschienenen Aufsatz „Die ‚Bestimmung des Menschen‘ – Kultursemiotische Beschreibung einer sprachlichen Formel“208 geht Jannidis von der Feststellung aus, dass um 1800 eine Flut von Schriften den Buchmarkt überströmten, die die Bestimmung des Menschen im Titel führen. Seine leitende Frage ist, warum diese sprachliche Formel so attraktiv war und was sie bedeutete. Der Germanist referiert denn auch die Konjunktur der Forschungsarbeit zur fraglichen Formel und bezieht sich auf Hinskes und Ciaffardones Arbeiten sowie Studien zur Mendelssohn-Abbt-Debatte, die wiederum Kant zu seinem anthropologischen Aufsatz „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht angeregt habe. Damit ist der rezeptionsgeschichtliche Horizont der Spaldingforschung bis Kant ausgeweitet. Wir werden unten sehen, dass dies auch in der aktuellen Kantforschung eine zunehmende Rolle spielt. 204 Ebd.,
S. 175. ebd., S. 172. 206 Ebd., S. 198. 207 Ein thematisch ähnlich gelagerter Beitrag von Jörn Garber (vgl. Garber, Bestimmung des Menschen), der sich der Valenz des anthropologischen Bestimmungsbegriffes in der ethnologischen Kulturtheorie der deutschen und französischen Spätaufklärung widmet, geht auf Spalding an keiner Stelle ein. 208 Vgl. Jannidis, Bestimmung des Menschen. 205 Vgl.
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Nach Jannidis trägt die linguistische Bestimmung der Formel „Bestimmung des Menschen“ als eines Phraseologismus weniger aus als eine über die historische Semantik noch hinausgehende kultursemiotische Analyse. Sein Fokus richtet sich also vornehmlich auf die Prozesse, die den in Frage stehenden Phraseologismus in den Alltagsvorrat einer habitualisierten und selbstverständlich genutzten Formel überführt haben. Jannidis steckt jeweils in einer knappen Heuristik zentrale Bedeutungsdimensionen der Bestimmungsformel ab. Einer der stereotypen Verwendungsweisen dieser Reflexionskategorie bestehe in der Rückkoppellung an den Naturbegriff; eine wesentliche Alternative möglicher Bestimmungskonzepte bestehe in der Unterscheidung von individuellem Menschen und Menschheit in historischer Perspektive; und schließlich: Als Telosbestimmungen beschränken sich die meisten Konzepte auf das semantische Feld von Sittlichkeit, Tugend und Glückseligkeit, nach 1800 um Humanität und Bildung ergänzt. Vor 1790 sei hierzu noch die Unsterblichkeit zu rechnen. Er schlussfolgert, dass die überschaubare Vernetzung mit zentralen Themenbeständen des 18. Jahrhunderts einerseits und die mögliche Varianzbreite im Detail andererseits die Stabilität der Formel „Bestimmung des Menschen“ bedingte. Als formalen Charakter der Formel bestimmt Jannidis die jeweils konnotierte Wertigkeit bzw. Wichtigkeit der Sache, die mit der Formel immer zugleich zur Sprache kommt. Die explizite Wertzuschreibung und Relevanzbetonung gehöre demzufolge wesentlich zur Gattung dazu und diene deren „Auratisierung“209, was wiederum ihrer Stabilisierung genützt habe. Von Bedeutung ist zudem Jannidis’ Resümee zu seiner Zielgruppenanalyse der Bestimmungsschriften. Sie seien in der Regel für ein gebildetes und gelehrtes, aber nicht für ein akademisches Publikum bestimmt gewesen. Von besonderem heuristischen Wert ist Jannidis’ Katalog wohl aller 71 Titel, die zwischen 1740 und 1850 den Bestimmungsbegriff im Sinne einer teleologischen Wesensbestimmung im Titel tragen. Der frühere Aufsatz Jannidis’ „ ‚Bildung‘ als Bestimmung des Menschen – zum teleologischen Aspekt in Goethes Bildungsbegriff“210 nimmt seinen thematischen Ausgangspunkt beim teleologischen Aspekt in Goethes Bildungsbegriff und kommt von hier auf die Bestimmungsformel. Der Aufsatz vertritt die These, dass der aufklärerische Bestimmungsbegriff in transformierter Gestalt in den Bildungsbegriff eingegangen sei, was durch die telelogische Dimension beider Kategorien möglich wurde. Jannidis unternimmt es deshalb in einem ersten Schritt, „die Formel von der ‚Bestimmung des Menschen, wie sie im Auf209 Ebd.,
S. 12. Jannidis, Bildung als Bestimmung des Menschen. – Es sei hier angemerkt, dass Jannidis Hinskes noch nicht veröffentlichter Bestimmungsband (vgl. Hinske, Bestimmung des Menschen) als Druckfahnen zur Verfügung stand (vgl. Jannidis, Bildung als Bestimmung des Menschen, S. 6, Anm. 13). 210 Vgl.
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klärungsdenken geläufig war“211, zu skizzieren, bevor er dann die Bezüge des Bestimmungsbegriffes zum Bildungskonzept Goethes rekonstruiert.212 Jannidis bemerkt ein ideenhistorisches Desiderat hinsichtlich des Gedankens von der Bestimmung des Menschen und verweist auf die Vorreiterrolle des oben erwähnten Raffaele Ciaffardone und die Überlegungen im Kontext der Forschung zu kanonisierten Autoren, bspw. Abbt und Mendessohn und deren Debatte um Spaldings Bestimmungsschrift213; der „auslösende Text wurde dabei aber nur wenig beachtet“214. Es geht Jannidis um den Grund für den Erfolg von Spaldings Bestimmungsschrift: „Dieser liegt wohl eher in der Art seiner Beweisführung begründet.“215 Die Studie besticht durch einige wichtige diesbezügliche Überlegungen. Ein Erfolgsgrund liege darin, dass Spalding ohne Bezug auf die Heilige Schrift oder philosophische Systeme auskomme und allein in dem Rekurs auf die äußere Natur und die innere Natur des Menschen die Bestimmung des Menschen konzeptualisiere. Des Weiteren sei hervorgehoben, dass Jannidis die für das Verständnis von Spaldings Konzept zentrale Unterscheidung zwischen allgemeinem Subjekt und Individuum einführt. Es gehe Spalding bei der Introspektion nicht um die „Besonderheit des Einzelwesens“, sondern um das Wesen „der menschlichen Natur überhaupt“216. Hinsichtlich von Spaldings Unsterblichkeitskonzept stellt Jannidis schließlich fest, dass das Jenseits „nicht mehr nur als Ort der ausgleichenden Gerechtigkeit gesehen, sondern vor allem auch als verlängerter Raum für die Perfektibilitäts-Dynamik des menschlichen Existenz“217 verstanden werden müsse. Überschauen wir Jannidis’ Forschungsbeitrag, so besteht er – von wichtigen Einzelbeobachtungen im Konkreten abgesehen – in dem Bedeutungserweis, den Spaldings Stichwort und Buchtitel für die ideengeschichtliche und kultursemiotische Rekonstruktion spätaufklärerischer Konjunktur des teleologischen Bestimmungsbegriffs und für den Transfer vom Bestimmungsbegriff zum Bildungsparadigma, bspw. bei Goethe, zukommt. Damit erweist sich Spalding nicht nur für die innertheologische und philosophische Anthropologiegeschichtsschreibung von Interesse, sondern auch für eine methodisch diversifizierte Rekonstruktion der Rezeptionsprozesse in den Debatten um 1800. In ähnlicher Weise wie Jannidis hat sich vonseiten germanistischer Literaturwissenschaft auch der Experte für die Weimarer Klassik Wolfgang Albrecht zum Aufklärungsdiskurs um die Bestimmung des Menschen zu Wort gemeldet218. Der 211 Ebd.,
S. 4. Reinhard Brandt weist auf die begriffsgeschichtlichen Linien des Bestimmungs‑ zum Bildungsbegriff bei Herder hin (vgl. bspw. Brandt, Bestimmung des Menschen, S. 84 f.). 213 Vgl. Jannidis, Bildung als Bestimmung des Menschen, S. 5. 214 Ebd. 215 Ebd., S. 7. 216 Ebd. 217 Ebd. 218 Vgl. Albrecht, Bestimmung(en) des Menschen. 212 Auch
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Schwerpunkt liegt methodisch auf einer diskursgeschichtlichen Rekonstruktion der Debatte um den anthropologischen Bestimmungsbegriff im Umfeld Lessings. In seinen expositionellen Ausführungen hebt Albrecht die integrativen Figuren des Spaldingschen Konzeptes hervor: „Körper und Seele, Denken und Fühlen, Sinnlichkeit und Geistigkeit, Eigen‑ und Gemeinnutz sowie Schönheit und Nützlichkeit“219 habe der nach sich selbst fragende Mensch im Gleichgewicht zu halten. Im engen Anschluss an die Ergebnisse des von Hinske herausgegebenen Bestimmungsbandes220 und anderer hier verhandelter Forschungsarbeiten221 zielt seine geraffte Rekonstruktion der Bestimmungsschrift in einer Aufzählung von Defiziten, die erst die nachfolgende Debatte zu bearbeiten begann. Diese betreffen v. a. sein Einmünden in „biblisch gegründete Verheißungs‑ und Vertröstungstheologie“222. Mit seiner Jenseitsperspektive unterschlage er zentrale Probleme um die Erreichung der Bestimmung des Menschen auf Erden.223 Mit der Monographie des Kantforschers Reinhard Brandt „Die Bestimmung des Menschen bei Kant“ (2007)224 liegt eine Arbeit vor, die vonseiten der Kantforschung der Bestimmungsformel wie auch der Bestimmungsschrift Spaldings für die Rekonstruktion der Anthropologie Immanuel Kants eine hermeneutische Schlüsselfunktion zumisst. Der Kantforscher stellt die Analyse der Anthropologie Kants in den Kontext einer eigenen Interpretation der anthropologischen Wende: „Der Übergang vom statischen objektiven Wesen der ontologischen Frage ‚Was ist der Mensch?‘ zur dynamischen, subjektbezogenen und praktischen Bestimmung markiert in der deutschen Philosophie den Weg von Christian Wolff und den Wolffianern zu Kant, oder auch von der ersten zur zweiten Phase der Aufklärung mit der Bruchstelle um 1750. […] An die Stelle der noch von Wolff kultivierten Ontologie tritt um 1750 eine Existenzphilosophie, die sich im praktischen Ich-Bewußtsein verankert weiß.“225 Diese existenzphilosophische Anthropologie habe seit der Jahrhundertmitte das Diktum von der Bestimmung des Menschen zu ihrer Leitfrage erhoben, so dass Brandt gar von einer „Bestimmungsphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“226 sprechen kann: „Mit der Vorstellung von der Bestimmung des Menschen wird ein Geistesgefühl mitgeteilt, das ein wichtiges Element in der Selbstauffassung der zweiten Aufklärungsphase bildete.“227 In dieser Sichtweise kommt der Bestimmungsschrift Spaldings eine epochemachende Bedeutung zu, die nichts geringeres als den dreifachen Epochenwechsel markiert 1. von der durch Wolff geprägten Schul219 Ebd.,
S. 23. Hinske, Bestimmung des Menschen. 221 Vgl. Ebd., S. 22–24 (Anmerkungen). 222 Ebd., S. 24. 223 Ebd. 224 Vgl. Brandt, Bestimmung des Menschen. 225 Ebd., S. 15 f. 226 Ebd., S. 25. 227 Ebd., S. 125. 220 Vgl.
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philosophie hin zur Frage nach der Existenz des Menschen228, 2. von einer theoretischen hin zu einer praktischen Philosophie und 3. von einer „christlichen Offenbarungsreligion“ hin zu einer „universalistischen Moralphilosophie“229. Damit gehe eine wissenssoziologische Entschränkung der Aufklärung einher, die Brandt ebenfalls mit dem Jahr 1748 indirekt mit der Bestimmungsschrift in Verbindung bringt: „Die Aufklärung verschiebt sich nach 1748 von der theoretischen in die praktische Vernunft, vom Erkennen (weniger) zum Wollen (aller).“230 Brandt These bedeutet im Blick auf die Relevanz Spaldings, dass die Bestimmungsschrift von einer Programmschrift der Neologie gar zu einer „Programmschrift der zweiten Phase der deutschen Aufklärung“ avanciert.231 „Die Abwendung von der spekulativen Metaphysik hin zu einer lebenspraktischen, selbstbewussten Philosophie war in England mit Francis Bacon und John Locke und Shaftesbury schon vollzogen und in Frankreich von Voltaire begonnen worden, Rousseau setzte diese Tendenz ungefähr zeitgleich mit Spalding fort.“232 Im Sinne dieser großflächigen Epochendeutung lässt der Ideenhistoriker die Bestimmungsschrift gar mit Descartes Meditationes auf einer Ebene rangieren233. Diese Würdigung Spaldings ist selbstverständlich zu begrüßen, gleichwohl ist ein gewisser Überschwang zu hinterfragen, bspw. wenn Spaldings Text als „Vorzeichnung“234 von Kants moralphilosophischer Religionsphilosophie und Kant als in der „Nachfolge Spaldings (und damit Shaftesburys)“235 stehend zur Geltung gebracht werden soll. En Detail wäre anzufragen zum einen das theologische Konservatismusverdikt gegenüber Spalding236, das sich gegenüber der von Brandt betonten Programmatik der Bestimmungsschrift widersprüchlich ausnimmt. Zum anderen ist die ideengeschichtliche Heraushebung der stoischen Wurzeln des Bestimmungsparadigmas anzufragen, während platonische, epikureische und aristotelische Traditionen ausgeblendet werden237. Brandts Titulierung „Spalding der Stoiker“238 dürfte geistesgeschichtlich und bildungsgeschichtlich zu viel Komplexität reduzieren. Gänzlich überzogen sein dürfte die weltanschauungstheoretische These, „die zweite Epoche der Aufklärung, die 228
„Mit dem Tod Christian Wolffs (1754) lässt sich das Ende der scholastischen Metaphysik verknüpfen, und das Erscheinen des kleinen Werks von Spalding 1748 ist das Fanal einer neuen Selbstauffassung des Menschen, die um 1800 endet.“ (ebd., 134 f.) 229 Ebd., S. 25. 230 Ebd., S. 62. 231 Ebd., S. 61. – Brandt widerspricht sich teilweise selbst, wenn er weiter unten die Bedeutung von Spaldings Bestimmungsschrift als „Symptom für eine Epochenwende“ (ebd., S. 74) relativiert. 232 Ebd., S. 61 f. 233 Vgl. ebd., S. 63. 234 Ebd. 235 Ebd., S. 69. 236 Ebd., S. 19. 237 Vgl. ebd., S. 15; 64; 85; 143. 238 Ebd., S. 143.
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Zeit von ca. 1750 bis 1800, ändert die Weltanschauung der intellektuellen Wortführer in Deutschland profund. Der Leitbegriff dieser Änderung ist die finale Bestimmung des Menschen, mit der der christliche Kirchenglaube praktisch durch eine neostoische Weltanschauung ersetzt wird.“239 Überhaupt scheint Brandts Hauptanliegen darin zu bestehen, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und mit ihr auch Kants Philosophie in den Kontext eines Neostoizismus zu rücken.240 Brandt schreibt ein ganzes Kapitel „Die stoische Herkunft der Bestimmung des Menschen“241. Er überblendet damit in einer gewissen Unausgewogenheit die stoischen Wurzeln zuungunsten der platonischen und neoepikureischen Ideenkonstellationen, wie sie bei Shaftesbury und durch ihn auch bei Spalding anzutreffen sind. Des Weiteren erscheint Brandts bereits angedeutete Sicht, Spalding billige der Erlösungsreligion keine Funktion mehr zu242, fragwürdig, gerade angesichts des Selbstverständnisses Spaldings, wonach die Bestimmungsschrift zwar ohne Bezug auf jedwede offenbarungstheologische Begründung auskommt, Spalding jedoch den Offenbarungsgedanken nicht aufgibt. Es ist zweifelhaft, ob Spalding in dieser Sache „Ideologiekritik“243 betreibe, wenngleich seine Schrift durchaus eine ideologiekritische Tiefendimension hat, die jedoch in ganz anderer Hinsicht offenzulegen wäre. Mark-Georg Dehrmanns Dissertation „Das ‚Orakel der Deisten‘ – Shaftesbury und die deutsche Aufklärung“ (2008)244 stellt den umfangreichsten Beitrag zur Spaldingforschung vonseiten der Germanistik sowie der Shaftesburyforschung dar. Durch seine Arbeit hat es nicht nur Shaftesbury, sondern auch Spalding in die Feuilletons deutscher Tageszeitungen geschafft245. Es ist dem Rezensenten der Süddeutschen Zeitung im Blick auf Spalding rundweg zuzustimmen: „Eine so verstandene Rezeptionsforschung liefert wichtige Beiträge zur Interpretation der Werke des Rezipienten selbst.“246 Der Autor seziert auf 350 Seiten die kontinentale bzw. deutsche Rezeption des englischen Gentlemanphilosophen. Er setzt mit Le Clerc, Leibniz und der Zeitschriftenliteratur vor 1750 ein, um so239
Ebd., S. 135. Auch hier erscheint es als merkwürdige Zurücknahme der Stoizismusthese, wenn Brandt an anderer Stelle eine komplexere ideengeschichtliche Gemengelage einräumt: „Neben, auch gegen stoische Lehrstoffe treten entsprechend problemlos epikureische, skeptische und auch platonische und aristotelische Lehre. Diese Mischlage wird auch dadurch fast unumgänglich, daß bereits in der Antike selbst besonders stoische und platonische Positionen verbunden wurden; dies geht ein in die Antikenrezeption z. B. von Shaftesbury, der einen platonisierenden Stoizismus vertritt, der seinerseits für die deutschen Vorstellungen wichtig wurde, weil Spalding als Shaftesbury-Übersetzer von dieser Verknüpfung abhängig war.“ (ebd., S. 144). 241 Ebd., S. 145(–179). 242 Ebd., S. 26; 73. 243 Ebd., S. 26. 244 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. 245 Vgl. Wieckenberg, Ein Kabinettstück. 246 Ebd., S. 14. 240
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gleich in einem zweiten Kapitel die breiten Spuren zu verfolgen, die Shaftesbury in der deutschen Aufklärungstheologie hinterlassen hat, insbesondere bei Johann Joachim Spalding. Zugleich spielt Spalding in weiteren der vier Kapitel der Arbeit eine zentrale Rolle, vor allem im Kontext der Analyse literarischer Zirkel von Shaftesbury-Lesern in Berlin247. Es kann in diesem Rahmen auch nicht nur ansatzweise eine Würdigung der ganzen Arbeit Dehrmanns erfolgen. Vielmehr beschränkt sich die folgende Lektüre auf den Ertrag der Studie zur Spaldingforschung. Zunächst ist zweierlei zu notieren. Zum einen misst der Autor gegenüber bisheriger Rezeptionsforschung zu Shaftesbury248 dem Theologen Spalding einen ungleich höheren Stellenwert zu. Dies ist unter anderem durch Dehrmanns forschungsmethodische These begründet, nach der sich Rezeption „als realhistorischer Prozess auf einer materiellen Grundlage“ vollziehe und stets in „spezifischen Kommunikationskontexten“249 stehe. Spalding komme in dieser Perspektive mit seiner Übersetzungstätigkeit und seiner Mitgliedschaft in diversen Aufklärungszirkeln eine wirkmächtige Rolle zu. Aber nicht nur dies. Spaldings Funktion bestand zum anderen sachlich in dem „Versuch einer radikalen Umwertung des Engländers“250, so dass Dehrmann in der Überschrift zum Spalding‑ abschnitt auch von dessen „Rechristianisierung Shaftesburys“251 sowie von einer „theologischen Rehabilitation“252 sprechen kann. Vier Interpretationsgesichtspunkte sind für Dehrmanns Deutung von Spaldings Shaftesburyanismus des näheren leitend: 1. Spalding habe mit seinem Zugriff auf Shaftesbury für eine Öffnung für Debatten der Zeit in der Philosophie allgemein und in der noch jungen Ästhetik und entstehenden philosophischen Anthropologie im Besonderen gesorgt. Bereits im Zusammenhang der Analyse Leibnizscher Shaftesburylektüre finden sich für unseren Fokus bemerkenswerte Überlegungen. Für unsere Perspektive ist von Wichtigkeit, dass Dehrmann durchweg den sachlichen und wirkungsgeschichtlichen Konnex von deutscher Schulphilosophie und Shaftesbury namhaft macht. Dabei komme Leibniz eine herausragende Rolle zu253. Seine rationalistische Lesart des Engländers habe nicht wenig dazu beigetragen, dass gerade von der deutschen Schulphilosophie „geprägte Geister wie Gottsched, Mendelssohn oder Sulzer“254 ihre je eigenen und spezifischen Zugänge zu Shaftesbury gefunden haben. Dies betreffe cum grano salis auch Spalding, der seinerseits den Engländer vor dem Hintergrund seiner schulphilosophischen Prägung interpretiert und zudem von ihm Impulse 247 Vgl.
Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 216–270. bspw. Walzel, Shaftesbury; vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur. 249 Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 24 f. 250 Ebd., S. 14 f. 251 Ebd., S. 130. 252 Ebd., S. 154. 253 Vgl. ebd., S. 45–58. 254 Ebd., S. 45. 248 Vgl.
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aufgenommen habe, die den herkömmlichen rationalistischen Philosophiestil gesprengt haben. Damit macht die Studie auf eine bereits vor Spalding anzusiedelnde Vermittlungsleistung zwischen deutschem Rationalismus und angelsächsischer Moral-Sense-Philosophie aufmerksam. Es ist jedoch fraglich, ob Spaldings Shaftesburyanismus hauptsächlich formal dessen Stil betreffe und nicht vielmehr auch sachlicher Natur ist. In jedem Fall betrifft Dehrmanns Beobachtung nicht unwesentlich die Bewertung der philosophischen Prägungen von Spaldings Bestimmungsschrift, bei der die bisherige Forschung von einem relativen Nebeneinander Wolffscher und Shaftesburyanischer Elemente ausging.255 Damit eröffnet Dehrmann einen Deutungshorizont für die Bestimmungsschrift, der von einer komplizierteren begrifflichen Gemengelage auszugehen hat. Spalding habe eine apologetisch motivierte und sachlich auch nicht abwegige Amalgamierung schulphilosophischer Topoi und Shaftesburyanischer Theoreme vorgenommen. Gerade dann verwundert aber, dass Dehrmann im Detail die alte Polarität von Wolffianismus und Shaftesburyanismus stark macht, bspw. in Bezug auf die moralische Empfindung, die eine Alternative zu Wolffs Rationalismus darstelle256. 2. Der Übersetzer habe für die deutschen Diskurse in Bezug auf Shaftesbury ein positives Rezeptionspotential erschlossen. Der Rekonstruktion von Spaldings Shaftesburyrezeption stellt Dehrmann zunächst eine umfängliche Sichtung der frühen aufklärungstheologischen Wahrnehmung des Deisten voran. Hier beweist der Autor ein sensibles Gespür für die gegenüber England und Frankreich divergente Ausgangslage der deutschen Aufklärer in Sachen Religion und Christentum. Die Übergangstheologen Christoph Matthäus Pfaff (1786–1760) und Johann Lorenz Mosheim (1693–1755) stehen am Beginn einer aufmerksamen, kritischen wie zugleich gründlichen Sichtung der Werke Shaftesburys. Ihre frühe Shaftesburyrezeption verdankt sich einer enormen Aufgeschlossenheit gegenüber angelsächsischen Debatten, besonders hinsichtlich der Kontroversen zwischen den sog. Deisten und Freethinkers und der anglikanischen Orthodoxie257. Ihre Deutung stellt sich jedoch als vornehmlich offenbarungsapologetische Kritik an dem britischen Freidenker dar, mit der sie das Feld zwischen 1720 und 1750 dominieren. Zentraler Streitpunkt sei die anthropologische Begründung der Ethik gewesen, die eine offenbarungstheologische Argumentation obsolet mache und damit der Bedeutung des Christentums abträglich sei. Ihr zweifelhaftes Verdienst sei es, dass Shaftesbury in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum theologischen Buhmann avancierte. Demgegenüber kommt Spaldings Position innerhalb des deutschen Rezeptionsprozesse als „radikaler Rezeptionswechsel“258 zu stehen. Sein „Einsatz für Shaftesbury sei es, der die Entstehung 255 Vgl. bspw. Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 17; vgl. Beutel, Johann Joachim Spalding, S. 231. 256 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 137. 257 Vgl. ebd., S. 91. 258 Ebd.
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eines positiven Shaftesbury-Bildes entscheidend mitbegründet hat“259. Spaldings Übersetzungsprojekt apostrophiert der Germanist vor dem Hintergrund der allgemeinen Shaftesburykritik als „waghalsige Pionierleistung“ und als „revolutionär“260. Die ambivalente Deutung Shaftesburys in der deutschen Aufklärungstheologie begründet sich nach Dehrmann in dessen eigener Ambiguität, die sich bereits in den extensiven angelsächsischen Debatten um den Whig Shaftesbury spiegeln261. Die 3. und 4. Interpretationsthese betreffen Spaldings im Anschluss an Shaftes bury unternommene Anthropologisierung seines Ethik‑ und Religionskonzeptes, die vom Naturbegriff ausgehe und ohne offenbarungstheologische Begründung auskomme. Dehrmann versteht Spaldings Shaftesburyanismus als „theologische Gratwanderung“, deren Stärke in der Ermäßigung lutherischer Ethik und Anthropologie bestehe, die jedoch auch in Gefahr sei, die eigenen theologischen „Grenzen zu sprengen“262. Spalding stelle jedoch die Funktion von Offenbarung prinzipiell nicht in Frage. Darüber hinaus weist Dehrmann anhand von Shaftesbury und im Besonderen an Spaldings Shaftesburydeutung und dessen Rezeption nach, dass die Wahrnehmung und Bewertung des englischen Deismus vonseiten der deutschen Aufklärung nicht nur ablehnend, sondern durchaus auch offen und aufnehmend war. Er setzt sich in diesem Punkt von Christopher Voigts These zur deutschen Deismusrezeption ab263, der ohnehin Shaftesbury nicht zum Hauptfeld des englischen Deismus rechnet264. Das IV. Kapitel „Shaftesbury und die Poetik der deutschen Frühaufklärung“ zieht mit den Abschnitten zu Gottscheds Shaftesburyrezeption eine Linie breit aus, die bereits Lothar Jordan in seiner rezeptionsgeschichtlichen Studie265 vorgezeichnet hat. Im Blick auf die Genese von Spaldings Kenntnisnahme des Engländers sind die Leipziger alethophilen Vorlieben für Shaftesbury von Bedeutung, da aus dieser Richtung der unabhängige und umfassend interessierte Literat seine ersten Anregungen zum Shaftesburystudium empfangen haben dürfte. Dehrmann macht jedenfalls auf der Basis beeindruckender Detailkenntnisse auf die Kontakte Spaldings zum Leipziger Literaturpapst und seinen Kreisen aufmerksam266. Daneben verweist der Germanist auf die begrifflichen Anleihen Gottscheds bei dem britischen Philosophen hinsichtlich des Kritik‑ und v. a. des Geschmacksbegriffs inklusive seiner empfindungstheoretischen Implikationen. 259 Ebd.,
S. 92. S. 131. 261 Vgl. ebd., S. 95 ff. 262 Ebd., S. 131. 263 Vgl. Voigt, Deismus. 264 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 94. 265 Vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur. 266 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, bspw. S. 132; 219 f. 260 Ebd.,
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Auch dies dürfte für Spaldings Rezeption vor dem Hintergrund seines Wolffianismus zu vertiefen sein. Dehrmann widmet den 1. Abschnitt des Kapitels der Schilderung des Berliner „empfindsamen Zirkel[s]“267, in dem sich Spalding im Kreise junger Literaten und Gelehrten mit seiner Shaftesburybegeisterung zu Hause wissen konnte und Unterstützung für sein Übersetzungsvorhaben bekam. Die Analyse illustriert, inwieweit Spaldings Rezeption Shaftesburys soziologisch von für das Aufklärungszeitalter typischen Freundschaftskreisen getragen und promoviert wurde. Dazu wertet Dehrmann bisher unbeachtetes Quellen-, v. a. Briefmaterial, aus. Spalding komme nicht etwa nur eine Nebenrolle zu, sondern vielmehr habe der Theologe im Berliner Bunde mit seinen Übersetzungen so etwas wie einen regelrechten Enthusiasmus im reflektierten wie gelebten Shaftesburyanismus geweckt, der sich in diversen und nur zum Teil realisierten Übersetzungsvorhaben manifestierte268. Spaldings Bestimmungsschrift fungiert für Dehrmann als ständiger Referenzrahmen der nachfolgenden Wirkungsgeschichte des Engländers, die sich mit der Wirkungsgeschichte des pommerschen Theologen geradezu amalgamiert269: Sulzer, Mendelssohn, Wieland und selbst schon Gottsched rezipieren Shaftesbury über Spaldings Übersetzungen und zum Teil durch die Brille, die ihnen die Lektüre der Bestimmungsschrift aufgesetzt hat. Insofern avanciert Dehrmanns Dissertation über weite Strecken zu einer regelrechten Spaldingstudie, was beiden Ehre macht. Die Arbeit besticht im Ganzen durch wichtige Einzelbeobachtungen. Dies betrifft zum einen den Hinweis auf Shaftesburys „Soliloquy“ als Quelle für Spaldings Bestimmungskonzept und deren Form des Selbstgesprächs270, zum anderen seine scharfsinnigen Bemerkungen zum Gewissensbegriff als ‚Retheologisierung‘ von Shaftesburys Moral-Sense-Konzept271, um nur einiges zu nennen. Neben den genannten Anregungen, die von Dehrmanns Interpretation ausgehen, sind folgende Anfragen zu stellen. Ein erster Einwand betrifft dessen prinzipiell einleuchtende These, Spalding habe zu einer Rechristianisierung Shaftesburys beigetragen. An den Ausführungen wird deutlich, dass der Germanist implizit eine Differenz von Christentum bzw. christlicher Offenbarung auf der einen und Deismus auf der anderen Seite einzieht, die für eine Rekonstruktion der aufgeklärten Religions-, Christentums‑ und Geistesgeschichte die Komplexität des Phänomens des Christentums zugunsten einer einfachen Alternative unterläuft272. Dies führt dann in der Bewertung 267 Ebd.,
S. 224. ebd., S. 219–229. 269 Vgl. bspw. S. 236; 250; 256; 258; 270; 278; 281; 285; 297; 365 u. ö. 270 Vgl. ebd., S. 141 f. 271 Vgl. ebd., S. 146. 272 Vgl. bspw. ebd., S. 146–153. 268 Vgl.
2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven
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bspw. des Religions‑ und Unsterblichkeitsabschnittes der Bestimmungsschrift zu problematischen Thesen273. Neben der christentumstheoretischen Restriktion auf offenbarungstheologische Begründungsmuster besteht das eigentliche Defizit in der Nichtunterscheidung der materialen von der formal-argumentationslogischen Seite der Sache: Auch wenn Spaldings Religions‑ und Unsterblichkeitsdeutung materialiter mit dogmatischem Unsterblichkeitsdenken kompatibel ist, so ist es für die Bedeutung der Bestimmungsschrift von größerer Relevanz, dass die Begründung nicht offenbarungstheologisch und auch nicht bloß anthropologisch verfährt, sondern die Ideen von Religion und Unsterblichkeit in die rationale und empfindsame Selbsterkenntnisstruktur des Menschen verlagert. Ob sie über das gängige deistische Muster hinausgeht, ist dabei zweitrangig. Daran hängt auch Dehrmanns Bewertung des Spalding’schen Unternehmens als eines „aporetische[n]“274. Eine gewisse einschlägige Unsicherheit dokumentiert sich in der leider weitverbreiteten Identifizierung von natürlicher Religion und natürlicher Theologie275. Gerade im Blick auf Spalding ist in diesem Punkt strikt zu differenzieren, wie zu zeigen sein wird. Zum zweiten verwundert es, dass der Germanist Dehrmann zwar die Vorreden Spaldings zu seinen Shaftesburyübersetzungen analysiert, jedoch keine Silbe über die sprachliche, terminologische und begriffliche Dimension der Übersetzungen selber verliert. Diese erweisen sich als nicht unbedeutend für die Entwicklung zentraler deutscher Begriffe wie Empfindung, Glück und nicht zuletzt Bestimmung. Dies zeitigt denn auch einige terminologische Unschärfen, wie bspw. eine implizite Identifizierung von Empfindungs‑ und Gefühlsbegriff, die das komplizierte Verhältnis beider Begriffe verschleift276. Zum Dritten stellt sich im Blick auf Dehrmanns Gliederung der vier Hauptkapitel die Frage, ob nicht die Rekonstruktion des frühen Berliner Shaftesburykreises um Gleim, Ramler und Spalding vor dem Spaldingkapitel seinen Ort haben müsste; denn erst vor der Folie dieses Milieus ist Spaldings Shaftesburyrezeption recht zu verstehen. Des Weiteren wäre es durchaus sinnvoll gewesen, das Kapitel „IV. Shaftesbury und die Poetik der deutschen Frühaufklärung“ oder wenigstens die Abschnitte 1–3277 dem Spaldingabschnitt voranzusetzen, weil Spalding selber vermittelst der Beschäftigung mit poetologischen Fragen zu Empfindung und Geschmack und seiner Kenntnis der Debatten um den Dichterfürsten Gottsched für sein Shaftesburystudium sensibilisiert wurde. Dehrmann entscheidet sich jedoch für eine Verbindung von chronologischer und systematischer Gliederung, die den hier infrage stehenden Rezeptionsprozess zum Teil verdunkelt. 273 Vgl.
ebd., S. 148 f. S. 153. 275 Ebd., S. 217. 276 Vgl. ebd., S. 144. 277 Ebd., S. 158–209. 274 Ebd.,
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Prolegomena
Dehrmann hat sich zuletzt in einem kleineren Beitrag zur ethikgeschichtlichen Bedeutung der moralischen Empfindung in der deutschen Aufklärung gewidmet, wobei auch Spaldings Moralkonzept und seine Verwendung dieser Kategorie in der Bestimmungsschrift Berücksichtigung findet278. Dem Autor geht es zum einen um das Verhältnis von Empfindung und Rationalität279, sodann um die Spezifik der moralischen Empfindung als Erkenntnismodus innerhalb der Ethik und Religionstheorie und schließlich um eine Würdigung dieser psychologischepistemologischen Figur im Blick auf die Entwicklung einer positiven Anthropologie um 1750280. Damit wird ein zentraler wie struktureller Begriff aus der Bestimmungsschrift – abgesehen von wichtigen Beobachtungen in der Dissertation Dehrmanns – erstmals in der Spaldingforschung zur Geltung gebracht, ohne ihn zugleich pauschal unter der Gefühlsdimension von Moral und Religion zu verbuchen. Damit können wir ein Resümee ziehen und Konsequenzen für die vorliegende Arbeit ableiten.281 1. Hinsichtlich der Beurteilung der Grundsignatur des Spaldingschen Bestimmungskonzeptes wurde zunächst sein individualgeschichtlicher Deutungshorizont gegen eine mögliche geschichtsphilosophische Perspektive namhaft gemacht (Sommer). Dabei wurde deutlich, dass zunächst die grundsätzlichere Frage zu klären wäre, ob es Spalding um die Bestimmung zur Individualität oder nicht vielmehr um die grundsätzlichere subjektivitätstheoretische Bestimmung des Humanums zur ethisch-religiösen Lebensdeutung und ‑führung zu tun ist, noch jenseits individuell-biographischer Ausdifferenzierungsoptionen. Dies betrifft dann keine geringere Frage als die nach der Rezeptions‑ und Applikationsofferte eines konkreten räsonierenden Ichs an den Leser. – Sodann wurde anhand des Verhältnisses von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion die Frage aufgeworfen, wie Spaldings ohne jedwede Bezugnahme zur christlichdogmatischen Lehrtradition auskommende Religionstheologie innerhalb des aufgeklärten Diskurses um Religion und Christentum zu stehen kommt: Handelt es sich überhaupt noch um ein christentumskonzeptionelles Modell (dagegen Dehrmann und Brandt) oder eröffnet nicht gerade die methodische Einbeziehung der frühen Rezeption bspw. durch Goeze und weiterer Texte Spaldings (wie u. a. bei Hirsch und Beutel) einen Interpretationshorizont, in dem Spalding im Kontext neuprotestantischer Umformungsbemühungen verortet werden kann? – Dies betrifft überdies die Frage nach dem wissenssoziologischen Status der Bestimmungsschrift: Handelt es sich um ein Dokument der aufklärungstheologisch-neologischen Lehrentwicklung (so noch Schollmeier) oder eher um ein 278 Vgl.
Dehrmann, Moralische Empfindung. ebd., S. 55. 280 Vgl. ebd., S. 57. 281 Dabei werden die Referenzautoren lediglich in Klammern genannt, ohne die detaillierte Analyse noch einmal zu wiederholen. 279 Vgl.
2. Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven
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literarisches Zeugnis aufgeklärter Frömmigkeitspraxis (Kubik), das im Emanzipationsprozess von Dogmatik und konfessioneller Kirchlichkeit seinen Ort hat (Barth)? Nicht unwesentlich hängt diese Frage mit der Darstellungsform, mit der Bestimmung der Gattung der Spaldingschen Programmschrift sowie mit der bewusstseinstheoretischen Struktur zusammen, die dem Selbstgespräch des mit sich zurate gehenden Ichs zugrunde liegt. – Zudem haben die germanistischen Untersuchungen gezeigt (Jannidis, Albrecht), dass der Bestimmungsbegriff einen anthropologischen Integrationsrahmen bietet, in den Ethik und Religionstheorie als Funktionen der Frage des Menschen nach seinem Sein und Sollen eingeordnet sind. – Daneben konnte schließlich für den Glücksbegriff Ähnliches namhaft gemacht werden (v. a. U. Barth, Claussen). Nach Glückseligkeit als dem letzten Bestimmungsziel strebt der Mensch. Allererst sie ist in der Lage, die subjektive Dringlichkeit moralischer Lebensführung und religiöser Selbst‑ und Weltdeutung am Orte eines jeweiligen Subjektes zu erweisen. 2. Der Schwerpunkt bisheriger Forschungsarbeit zur Bestimmungsschrift resp. Spalding im Allgemeinen lag auf der Rezeptionsgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl hinsichtlich der komplexen Debatten um die Bestimmung des Menschen (Jannidis, Albrecht, Garber) als auch in Bezug auf literarische Kontroversen zwischen Spalding und seinen Zeitgenossen (Beutel). Zunehmend richtet sich das Interesse jedoch auch auf die biographischen und bildungsgeschichtlichen Bedingungen, unter denen Spalding stand und die für die gedankliche Genese der Bestimmungsschrift relevant sind (Schwaiger). Dabei spielten durchgehend Wolff und Shaftesbury eine zentrale Rolle. Jedoch zeigten sich Differenzen hinsichtlich der Fragen nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen Spaldings früherem Wolffianismus und seinem späteren und fraglos dominanteren Shaftesburyanismus sowie nach der konkreten ideengeschichtlichen Zuordnung Spaldingscher Begriffe und Theoreme zu diesen geistesgeschichtlichen Traditionen. Die einfache These, die Ethik Spaldings fuße eher auf Shaftesbury, die Religions‑ und Unsterblichkeitskonzeption stehe hingegen auf wolffianischem Boden (Beutel, Schwaiger) unterschreitet die Komplexität der begriffsgeschichtlichen Synthese, die in allen Teilen der Bestimmungsschrift anzutreffen ist. Dies konnte bereits für die Wolffschen Wurzeln des Begriffs der natürlichen Religion dargetan werden (Barth). Zudem wurde gezeigt, dass die frühe Shaftesburyrezeption im Kontext der leibniz-wolffschen Schulphilosophie und deren Protagonisten (v. a. Gottsched) wie auch im Milieu anakreontischer Literatenkreise um Gleim und Parteigänger ihren Ausgangspunkt hatte (Jordan, Dehrmann). Dabei deutete sich an, dass die deutsche poetologische Geschmacksdebatte inklusive ihrer empfindungstheoretischen Aspekte ein günstiges Klima für die frühe Shaftesburyrezeption bot. Wie Spaldings Funktion innerhalb dieses frühen Shaftesburyanismus zu bestimmen ist, bedarf über erste und verdienstvolle Analysen hinaus einer gründlichen und differenzierten Rekonstruktion, die methodisch zum einen das soziologische Milieu, zum anderen Spaldings
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Shaftesbury-Übersetzungen und die Vorreden einbeziehen muss und die schließlich einer genauen Begriffsanalyse so zentraler Begriffe wie bspw. Empfindung und Bestimmung bedarf. 3. In Hinblick auf die frühe theologische, philosophische und literarische Entwicklung Spaldings sind die bisherigen Forschungsbemühungen über erste Literaturberichte (Nordmann) und biographische Skizzen sowie wichtige Einzelaspekte (Barth) in der Regel nicht hinausgekommen. Hier steht eine ausführliche wie detaillierte Analyse der Bildungsbiographie, der (wissens)soziologischen Bedingungen und der akademischen und freien literarischen Texte des Literaten Spalding noch aus, die zum einen Entwicklungslinien, Brüche und Kontinuitäten beleuchten müsste und zum anderen auch einen exemplarischen Einblick in die Frühgeschichte der Neologie bieten könnte. Dies soll in vorliegender Arbeit geleistet werden. Dazu hat die mustergültige Edition der Kleinen Schriften in der Kritischen Spaldingausgabe282 eine komfortable Quellenbasis bereitet. 4. Der Forschungsbericht hat gezeigt, dass Einzelaspekte der Selbstdeutungsmodi thematisch wurden und dass diese jedoch einer differenzierten begriffs‑ und problemgeschichtlichen Erörterung bedürfen. Diese seien zunächst angedeutet. Das erste betrifft die erbsündenkritische Tiefendimension (v. a. Hirsch, Sommer, Beutel) der Bestimmungsschrift, in erster Linie der moralischen Empfindung. Ohne dass Spalding an einer Stelle einen kontroverstheologisch-polemischen bzw. dogmenkritischen Ton anschlägt, lässt sich eine gegenüber der überkommenen lutherischen (Erb)sündenanthropologie gänzlich andere Grundstimmung feststellen. Durch einzelne Denkfiguren Spaldings werden implizit klassische Topoi der dogmatischen Sündenlehre kritisch konterkariert. Als positives Pendant kommt der Begriff der Würde bzw. des Wertes des Menschen zu stehen (Claussen), also diejenige anthropologische, ethische und rechtsphilosophische Reflexionskategorie, die in der protestantischen Lehre vom Menschen bis zur Neologie keine wesentliche Rolle gespielt hat. Dies beides, das kritische und konstruktive Moment, wäre im Detail zu rekonstruieren. Mit der anthropologischen Sprengkraft des Empfindungsbegriff ist bereits der Begriff gefallen, dem bisher nur ungenügend Aufmerksamkeit gewidmet wurde (abgesehen von Dehrmanns Studien), dem aber in epistemologischer Hinsicht eine strukturelle wie integrative Funktion für das Ganze der Bestimmungsschrift zukommt. Gegen die herkömmliche Entdifferenzierung von Empfindungs‑ und Gefühlsbegriff (Beutel, Dreesman) und die einseitige Provenienzlinie zu Shaftesbury müssen die wolffschen-wolffianischen und poetologisch-geschmackstheoretischen Begriffsdimensionen eruiert werden. Nur so kann man der terminologischen und begrifflichen Komplexität der Empfindungskategorie gerecht werden. – Verfügt die Empfindung über eine lusttheoretische Dimension, so scheint dies auch für den Glücksbegriff zuzutreffen, was bisher unzureichend Beachtung fand (Claussen), 282 Vgl.
Spalding, Kleine Schriften 1+2 [SpKA I,6,1 f.].
3. Thema, Methode, Anlage und Funktion der Arbeit
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jedoch für die affektive Seite der Spaldingschen Ethik-, Religions‑ und Unsterblichkeitskonzeption zentral ist. – Für die beiden letztgenannten Bestimmungsstufen der religiösen Selbst‑ und Weltinterpretation wurden wichtige Hinweise gegeben, die von vorliegender Studie weiter zu verfolgen sind. Die moralische Empfindung verfügt über ein religiös begründetes Perfektibilitätsmoment, das sich innerhalb des Religionsabschnittes auf das von Shaftesbury übernommene platonische Motiv der Homoiosis to theo bezieht (Sommer, Claussen). Die Gottverähnlichung resp. moralische Vervollkommnung stellt dann konsequenter Weise auch in der Unsterblichkeitsreflexion einen Gesichtspunkt dar, der gleichsam die Brücke zur Religion und zur Ethik schlägt und einen einfachen Vergeltungsgedanken verdrängt (Jannidis). Schließlich haben die Verweise auf vorsehungs‑ (Claussen) und gewissenstheologische (Dehrmann) Denkfiguren deutlich werden lassen, dass Spalding bei allem Bemühen um undogmatische und transkonfessionelle Weite gleichwohl traditionell-lutherische Theologumena reintegriert und damit auch Kontinuität stiftet.
3. Thema, Methode, Anlage und Funktion der Arbeit Der Obertitel ‚Aufklärung als Selbstdeutung‘ stellt Spaldings Bestimmungskonzept in eine Perspektive, die einerseits das Epochenspezifische und andererseits die subjektivitäts‑ wie auch deutungstheoretische Dimension avisiert. Diese Perspektive steht über dem Ganzen und findet in den Systematischen Anschlussüberlegungen (Kap. IV) ihren Abschluss. Dem Untertitel gemäß handelt es sich mit vorliegender Arbeit um den Versuch einer genetisch-systematischen Rekonstruktion von Spaldings frühem Konzept der Bestimmung des Menschen. Dabei steht seine Schrift von 1748 „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ im Mittelpunkt. Die Analyse ist in zweifacher Weise zu spezifizieren, wobei ein methodischer von einem ebenfalls methodischen wie auch sachlichen Gesichtspunkt zu unterscheiden ist. Zum einen soll die Bestimmungsschrift genetischrekonstruktiv vor dem Hintergrund der biographisch-bildungsgeschichtlichen Entwicklung Spaldings hinsichtlich ihrer geistes‑ und lebensgeschichtlichen Bedingungen untersucht werden. Zum anderen verfährt diese Methode nicht im interesselosen Raum, sondern in systematischer Absicht. Dies dokumentiert sich in der Darstellung u. a. darin, dass solche Begriffe und Kategorien zu erörtern sind, die in einem systematischen Kontext stehen, der sein organisierendes Zentrum im Konzept einer Bestimmung des Menschen hat. Zugleich meint ‚systematisch‘ jedoch im Sinne theologisch-enzyklopädischer Selbstbestimmung dessen, was unter ‚systematisch‘ verstanden werden muss, auch eine hermeneutische Konzentration auf diejenigen Theoreme, die bis heute eine deskriptive wie auch normative Relevanz für eine moderne Religions‑ und Christentumskultur haben. Das betrifft solche Theoriemomente, die in allen Kapiteln, wenngleich in
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unterschiedlicher Gewichtung und Perspektive, wiederkehrend zur Diskussion stehen. Es seien zur Orientierung die wichtigsten Punkte benannt: An erster Stelle stehen der anthropologische Bestimmungs‑ und Glücksbegriff, die beide vermittels ihrer teleologischen Struktur systematisch verknüpft sind. Beide Reflexionsperspektiven stellen den allgemeinsten Rahmen für Spaldings Konzeption dar, innerhalb dessen sowohl geltungstheoretisch wie auch darstellungstechnisch alle anderen Themen ihren Ort finden. Im Kontext des Bestimmungsbegriffes wie auch im Zusammenhang der literarischgattungstheoretischen Analysen werden sowohl wissenssoziologische als auch subjektivitäts‑ und bewusstseinstheoretische Überlegungen einfließen. Sodann wird dem Empfindungsbegriff als psychologischer, erkenntnistheoretischer und integrativer Zentralkategorie ein besonderer Stellenwert eingeräumt, der in seiner komplexen emotiv-kognitiven Struktur zu rekonstruieren und in seiner Spezifik vom Gefühlsbegriff abzuheben ist. Eng mit dem Empfindungsbegriff hängt Spaldings implizite Kritik der traditionellen lutherischen Erbsündenlehre wie auch seine axiologische Konzeption der Würde des Menschen zusammen. Schließlich gebührt der Religionskonzeption Spaldings hinsichtlich ihrer moralphilosophischen Funktion und empfindungstheoretischen wie auch ästhetischen Dimension ein besonderes Augenmerk. In diesen Themenkomplex gehören die Frage nach dem Verhältnis von natürlicher und geoffenbarter Religion wie auch das kritisch-konstruktive Unsterblichkeitskonzept Spaldings. Die methodische und konzeptionelle Anlage der Arbeit stehen in einem engen Verweisungszusammenhang und werden daher im Folgenden im Zusammenhang skizziert. Hatte die bisherige Spaldingforschung283 bereits ansatzweise die bildungsgeschichtlich vermittelten Denktraditionen eruiert, die im Hintergrund der Bestimmungsschrift stehen, so sollen diese Fäden im I. und II. Kapitel aufgenommen, weiterentwickelt und zu einem Gesamtbild verflochten werden. Als hermeneutischer Orientierungspunkt für die Analyse dient das Themen‑ und Begriffstableau der Bestimmungsschrift, welches dadurch als reifes Ergebnis eines heterogenen und verschlungenen Entwicklungsweges in den Blick kommt. Dabei werden im Sinne des für diese Studie Unwesentlichen manche Gedankenkomplexe aus dem Frühwerk zu vernachlässigen sein. Nur so wird es möglich sein, Spaldings theologisch-philosophische Entwicklung von seinem Theologiestudium an (I.1) über seine akademischen Qualifikationsschriften (I.2.1–2) und frühen Schriften (I.2.3–3.2) bis hin zu den Quellen seiner Shaftesburyrezeption (II.) zu rekonstruieren, ohne sich im Dickicht des Facettenreichtums zu verlieren. Dabei bilden im I. Kapitel Spaldings Rezeption der Philosophie Christian Wolffs (I.2) und seine Position im offenbarungstheologischen Diskurs (I.3) die integralen Klammern. Hier wird ein diese überlagernder chronologischer Dar283 Vgl.
dazu den vorherigen Abschnitt „Forschungsbericht – Kontexte und Perspektiven“.
3. Thema, Methode, Anlage und Funktion der Arbeit
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stellungsmodus einer systematischen Gliederung vorgezogen, weil damit auch Texte zur Geltung gebracht werden, die in der Spaldingsforschung bis dato weitgehend unberücksichtigt geblieben sind. So sehr die Themen dieser ersten Publikationen in Hinblick auf die Bestimmungsschrift prima facie als irrelevant erscheinen, so kann doch gezeigt werden, dass viele Motive und Argumentationsfiguren gleichsam mehr oder weniger von Anfang an mitklingen und nach und nach lauter werden. Liegt der Schwerpunkt in Kapitel I auf Spaldings Wolffianismus, so rückt mit dem II. Kapitel dessen Shaftesburyrezeption ins Zentrum. Diese nimmt aufgrund ihrer Bedeutung für die Bestimmungsschrift beträchtlichen Raum ein. In drei Schritten werden zunächst der biographisch-bildungsgeschichtliche Hintergrund (II.1), die Shaftesburyübersetzungen Spaldings (II.2) und deren Vorreden (II.3) rekonstruiert. Innerhalb der genauen Analyse des biographisch-bildungsgeschichtlichen Hintergrundes wird zum einen zu zeigen sein, dass Spalding im Kontext seiner literarischen Bemühungen und im Kontakt zu Gottsched und seinem Kreis erstmals mit der Literatur Shaftesburys bekannt wurde. Zum anderen verdient seine Verbindung zum anakreontischen Freundschaftskreis eine genauere Aufmerksamkeit, innerhalb dessen sich Spaldings Shaftesburybegeisterung intensiviert und sozial stabilisiert wird. Nur unter Berücksichtigung dieser konkreten „kommunikative[n] Realitäten“284 bzw. „kommunikativen Interaktion“285 kann der spezifische Charakter von Spaldings Shaftesburyrezeption verständlich gemacht werden. Die kontexthermeneutische Analyse wird der Sache nach zeigen, dass Spaldings Entwicklung vom Wolffapologeten hin zum Shaftesburyaner nicht durch einen scharfen Bruch markiert ist. Vielmehr bilden für diesen Prozess seine Kenntnis der Metaphysik und Psychologie Wolffs sowie dessen Umformungen im Debattenkontext der literaturtheoretisch-ästhetischen Bemühungen der Schülergeneration Wolffs, v. a. bei Gottsched, einen begrifflich-kategorialen Vermittlungsmodus. Die bisherige theologische Spaldingforschung hat diesen Gesichtspunkt nahezu unberücksichtigt gelassen, während die germanistische Shaftesburyforschung die genannten Konstellationen zumindest in Grundzügen skizziert hat286. Dieser Ansatz wird in unserer Studie weiterverfolgt. Methodisch gewinnt dieser Abschnitt an Profil durch die Verknüpfung einer Exegese des diesbezüglich autobiographischen Quellenbestandes sowie des einschlägigen Briefwechsels mit der Analyse von Aufsätzen, die Spalding in dieser Zeit verfasst hat. Der rekonstruktiv-interpretative Charakter der Überlegungen ergibt sich aus der insgesamt zu dieser Frage nur sehr spärlichen Quellenlage. Durch Dis-
284 Dehrmann,
Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 25. S. 27. 286 Vgl. den vorherigen Abschnitt 2.2. 285 Ebd.,
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kurs‑ und milieuhistorische Kontextualisierung erfährt die Analyse eine wissenssoziologische Grundierung. Mit der folgenden Rekonstruktion der Shaftesburyübersetzungen wird in der Spaldingforschung methodisch wie auch sachlich Neuland betreten. Um diese Textgattung als Quelle für eine Hermeneutik der Bestimmungsschrift heranziehen zu können, bedarf es einer genauen sprach‑ und begriffsgeschichtlichen Verifikation derjenigen deutschen terminologischen Äquivalente, die Spalding in seiner Übertragung für englische Termini verwendet hat und die dann auch in der Bestimmungsschrift bedeutsam werden. Zunächst wird der Empfindungsbegriff samt des mit ihm korrelierenden Begriffsfeldes im Fokus stehen, der in den Übersetzungen als deutsches Äquivalent einer ganzen Reihe englischer Termini fungiert (II.2.2.1). Ähnliches kann sodann für den Bestimmungsbegriff selber reklamiert werden (II.2.2.2). Hatte sich die bisherige diesbezügliche Begriffsgeschichte vornehmlich der Rezeption und Entwicklung des anthropologischen Bestimmungsterminus’ nach Spalding und in seinem Gefolge zugewendet, soll gleichsam ein Schritt zurück gegangen werden: Ohne andere Prägungen und ideengeschichtliche Linien bestreiten zu wollen, soll die shaftesburyanische Provenienz des Bestimmungsbegriffes Spaldings eruiert werden. Die Untersuchung von Spaldings Vorreden seiner Shaftesburyübersetzungen schließt nahtlos an (II.3). Konnte in den Übersetzungen zunächst seine implizite Shaftesburydeutung methodisch allein auf der Terminologie basierend avisiert werden, so stellen die Vorreden des Übersetzers seine explizite Interpretation der Texte dar, die cum grano salis die Ergebnisse der Übersetzungsanalysen bestätigen werden. Das betrifft in erster Linie wiederum den Empfindungs‑ und Bestimmungsbegriff. Hinsichtlich des Ersteren wird zu erweisen sein, dass Spalding Shaftesburys Moral-Sense-Begriff vermittels des ihm wie dem deutschen Publikum vertrauten Empfindungsbegriffs wolffscher-wolffianischer bzw. poetologisch-ästhetischer Prägung verständlich zu machen versucht (II.3.2.2). Schließlich sind mit dem Verhältnis von Religion und Moralität und dem glückstheoretischen Fokus weitere in Perspektive auf Spaldings Bestimmungsschrift relevante Konzeptbausteine zu erörtern (II.3.2.3 f.). Bereits im I. und ganz zentral dann im II. Kapitel gewinnt der Empfindungsbegriff als Spaldings favorisierte Interpretationskategorie und mit seiner Verwurzelung in der deutschen Schulphilosophie wie auch in den zeitgenössischen poetologisch-ästhetischen Debatten der 1720–1740er Jahre an Prägnanz. Dies hat methodisch zur Folge, dass sich das ganze III. Kapitel der Konjunktur des Empfindungsbegriffes in der deutschen poetologisch-ästhetischen Debatte vor 1750 widmet. Ausgehend vom metaphysisch-psychologischen Empfindungskonzept Christian Wolffs (III.1), das das kategoriale Gerüst des darauf basierenden Diskurses bereitgestellt hatte und als Referenztheorie fungierte, werden die Motive der theoretischen Aufwertung dieses seelenmetaphysisch verankerten sowie basalen Erkenntnismodus’ und ihre Kritik am schulphilosophischen Rationalitäts-
3. Thema, Methode, Anlage und Funktion der Arbeit
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ideal offengelegt (III.2). Hier verbleibt die Studie insofern im bildungs‑ und rezeptionsgeschichtlichen Methodenrahmen, als v. a. mit Gottsched, aber auch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier solche Referenten der ersten und zweiten Schülergeneration Christian Wolffs zur Debatte stehen, die Spalding nachweislich bzw. sehr wahrscheinlich kannte und rezipiert hat (III.3.2; III.4). Eher ideen‑ und begriffsgeschichtlich orientiert ist die Einbeziehung der Geschmackstheorie Königs (III.3.1), deren Analyse für ein Verständnis des Gesamtbildes der einschlägigen Debattenlage unerlässlich ist. Diese kann auch nicht annähernd erschöpfend, sondern ausschließlich mit dem begrenzten Erkenntnisziel rekonstruiert werden, aus welchen Gründen Spalding den Empfindungsbegriff einerseits für seine Shaftesburyübersetzungen in Anspruch nehmen konnte und warum er andererseits diese Kategorie in der Bestimmungsschrift nicht nur für die Ethikkonzeption (im engeren Sinne), sondern als einen alle Bestimmungsstufen betreffenden epistemologischen Integrationsbegriff weiterentwickeln konnte. Ist der begriffliche und systematische Charakter vorliegender Untersuchung in den Kapiteln I–III noch dem genetisch-rekonstruktiven Zugriff untergeordnet, stellen die letzten beiden Kapitel IV und V stärker textexegetisch verfahrende systematische Rekonstruktionen der Philosophie Shaftesburys (IV) und der Bestimmungsschrift Spaldings (V) dar. Während in Kapitel II herausgearbeitet wird, dass Shaftesburys Ethik‑ und Religionskonzept einen zentralen Bezugspunkt für Spaldings Denken darstellte und dass Spalding mit seiner spezifischen Shaftesburyinterpretation den begrifflich-kategorialen Rahmen für seine eigene Bestimmungskonzeption abgesteckt hat, besteht die Funktion des Shaftesburykapitels im Aufbau der Arbeit darin, dessen anthropologisches Philosophieprogramm darzustellen. Es können auch nur diejenigen Theoreme in Erwägung gezogen werden, die in Hinsicht auf Spaldings Rezeption relevant sind. Erst in der Gesamtzusammenfassung im Anschluss an Kapitel V (V.9) wird dann zu fragen sein, wie Spaldings Adaptionen shaftesburyanischer Theorieelemente zu seiner eigenen Shaftesburydeutung wie auch zu Shaftesbury selber ins Verhältnis zu setzen ist. Innovativ für die Shaftesburyforschung ist dabei vor allem die Fokussierung auf den Bestimmungsbegriff und dessen Korrelation mit dem Konzept des Selbstgesprächs (IV.1) sowie auf die Bedeutung des Universumsbegriffs sowohl für Shaftesburys Ethik als auch für dessen Religionstheorie (IV.2). Innerhalb der Analyse seiner Moralphilosophie (IV.3) liegt der Schwerpunkt auf ihrer empfindungs‑ und glückstheoretischen wie auch ästhetischen Theoriedimension, während die Religionsphilosophie (IV.4) in Hinblick auf den Zusammenhang von Tugend und Religion bzw. Unsterblichkeitsglaube und ihr ästhetisch-kontemplatives Moment zu befragen sein wird. Es werden in Kapitel IV nur solche Texte Shaftesburys herangezogen, die Spalding nachweislich oder mit großer Wahrscheinlichkeit kannte. Dies begründet
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sich durch die Thematik und Anlage der Studie, grenzt jedoch ihre Reichweite für die Shaftesburyforschung unweigerlich ein. Auch die verhältnismäßig umfangreiche Forschungsliteratur wird nur insofern Beachtung finden, als sie unmittelbar für vorliegende Interpretation Relevanz beanspruchen kann. Damit sind die Vorarbeiten für eine detaillierte Analyse der Bestimmungsschrift selber geleistet, die mit Kapitel V vorgenommen wird und die gleichsam den Zielpunkt der Studie darstellt. Lediglich die nach der Originalpaginierung nur ganze 26 Seiten umfassende Erstauflage „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ (1748) stellt den Referenztext dar, wobei die durchaus vielfältigen und interessanten Varianten und Ergänzungen der elf vom Autor autorisierten Auflagen287 unberücksichtigt bleiben müssen. Die schon von Clemens Schwaiger288 und erneut von Albrecht Beutel289 angemahnte Aufarbeitung der Publikationsgeschichte und Geschichte der Auflagen würde ein eigenes Arbeitsthema darstellen. Denn dies bedeutete, die Genese der Bestimmungsschrift zwischen 1750 und 1794 in den Kontext der philosophischen Debatten und Entwicklungen der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einzustellen. Die erste beträchtliche Erweiterung findet sich in der 7. Auflage von 1763, die mit 132 Seiten das Büchlein um ca. 100 Seiten anwachsen lässt, und in der 11. bzw. letzten Auflage von 1794, in der Spalding noch einmal Stoff im Umfang von ca. 100 Seiten einfügt (insgesamt 244 Seiten)290. Im Hintergrund dieser letzten Erweiterung steht sicherlich auch Spaldings Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie Kants, was sich in der Einarbeitung kantianischer Begriffe, bspw. des Pflichtbegriffs, niederschlägt291. Eine literatur-, wissenssoziologische und biographische Kontextualisierung (V.1) bildet den Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Form und Reflexionsstruktur (V.2) des Bestimmungskonzeptes. Von struktureller Bedeutung sind zudem auch die Erörterungen zur bestimmungslogischen Matrix (V.3) wie auch zum glückstheoretischen Fokus (V.4), weil beides die Gesamtanlage der Schrift steuert. Mit dem empfindungstheoretischen Schwerpunkt der Rekonstruktion der Ethiktheorie wird der Bogen zu den Kapiteln II–IV geschlagen (V.5), um darauf aufbauend die anthropologischen Konsequenzen zunächst mit dem Wert‑ bzw. Würdebegriff in konstruktiv-positiver Hinsicht (V.6) und sodann mit Spaldings impliziter Kritik an der Erbsündenlehre (V.7) in dogmenkritischer Perspektive herauszuarbeiten. Zur Plausibilisierung dieser dogmenkritischen Hermeneutik, die sich nicht ohne Weiteres von selbst versteht, dient hier methodisch ein rezeptionsgeschichtlicher Zugang über eine frühe Rezension aus der Feder Johann Melchior Goezes (V.7.1). Das Kapitel mündet ein in eine
287 Vgl.
Spalding, BdM, S. IX; XXV–XXVII [Einleitung]. Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 9. 289 Vgl. Spalding, BdM, S. S. XXV [Einleitung]. 290 Vgl. ebd., S. X f. 291 Vgl. dazu das Begriffsregister: Spalding, BdM, S. 334. 288 Vgl.
3. Thema, Methode, Anlage und Funktion der Arbeit
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detaillierte Rekonstruktion der facettenreichen Religionstheorie (V.8.1 f.) inklusive des mit ihm systematisch eng verknüpften Unsterblichkeitskonzeptes (V.8.3). Jeweils kurze Resümees am Ende der Abschnitte sowie umfangreichere Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels bündeln die Ergebnisse, während in der Zusammenfassung im Anschluss an Kapitel V die Interpretation der Bestimmungsschrift mit der Rekonstruktion ihrer Genese ins Verhältnis gesetzt wird. Um eine unnötige Redundanz zu vermeiden, können dort jedoch nicht mehr alle Einzelaspekte wiederholt werden. Die systematischen Anschlussüberlegungen (VI) beziehen sich auf solche Theoriemomente, die sich einerseits aus der Analyse der Bestimmungsschrift ergeben haben und andererseits im Blick auf gegenwärtige theologisch-systematische Debatten besondere Relevanz beanspruchen können. Es handelt sich daher um mehr als nur ein einfaches Resümee der Ergebnisse. Im Mittelpunkt steht Spaldings Beitrag für eine deutungs‑ und subjektivitätstheoretische Begründung von Religion und Christentum (VI.1; 5 f.), die nachhaltige Wirkungsgeschichte seines anthropologischen Bestimmungsbegriffs (VI.2), das systematische Gewicht seines Glücksbegriffs für eine evangelische Theologie des Glücks (VI.3) und die Relevanz seines Wert‑ und Würdebegriffs für aktuelle Debatten um ein protestantisches Konzept von Menschenwürde (VI.4). Jenseits des pluralen methodischen Zugriffs zeichnet sich die Studie aufs Ganze gesehen durch ihren textexegetischen Grundcharakter aus. Dabei dienen in der Regel Zitate nicht nur zur Illustration der Interpretation, vielmehr schließt sich letztere jeweils an erstere an. Dieses Vorgehen verdankt sich zum einen gerade in Hinblick auf die ersten beiden Kapitel I und II dem forschungsgeschichtlichen Sachverhalt, dass die meisten der frühen Quellentexte in der Spaldingforschung erstmals zur Debatte stehen, zum anderen, dass eine genaue begriffs‑ und sprachgeschichtliche Analyse den Bezug zum Referenztext, auch im Interesse des Lesers, herstellen soll. Diese texthermeneutische Methodik wie auch die Tatsache, dass dem relativ kurzen Text der Bestimmungsschrift eine monographische Untersuchung gewidmet wird, verleiht dieser den Charakter einer Spezialstudie. Das wird besonders in Kapitel II deutlich. Hat sich die bisherige Forschung vornehmlich im Modus von Aufsätzen und lediglich einer Überblicksmonographie292, einer Monographie zur Religionstheologie Spaldings293 und einer Studie zur „Bestimmung des Menschen bei Spalding“294 dem bedeutenden Aufklärungstheologen gewidmet, wird hier der Versuch unternommen, Spaldings erste Programmschrift hinsichtlich ihrer Genese und systematischen Relevanz umfassend aufzuarbeiten.
292 Vgl.
Schollmeier, Johann Joachim Spalding. Dreesman, Aufklärung der Religion. 294 Vgl. Tippmann, Die Bestimmung des Menschen bei Johann Joachim Spalding. 293 Vgl.
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Prolegomena
Damit ist ein letzter Punkt bereits angedeutet. Stellt die Untersuchung zunächst einen Beitrag für die Spaldingforschung dar, genauer 1. für die frühe biographische und literarische Phase zwischen Studium (ab 1731) und der Bestimmungsschrift von 1748 im Allgemeinen und 2. für die Entstehungsbedingungen und systematisch-begriffliche Valenz der Bestimmungskonzeption des frühen Spalding im Speziellen, so vermag die Studie sodann auch in theologie-, frömmigkeits-, philosophie‑ und literaturhistorischer Hinsicht einen Beitrag für die Geschichte der Hochaufklärung zu leisten. Der theologie‑ und frömmigkeitsgeschichtliche Erkenntnisgewinn dürfte in drei Punkten bestehen. Zunächst wird zugleich mit der Person Spaldings als einem Hauptvertreter der Neologie die Frühgeschichte dieser aufklärungstheologischen Epoche fokussiert. Für Beutel bestehen die „identitätsstiftende[n] Positionen und Tendenzen“ der Neologie in der „Ablösung von der orthodoxen Dogmatik …, vom ‚scientifischen‘ Methodenpurismus der theologischen Wolffianer“, in einer „zeittypischen Anglophilie“, wobei auch Shaftesbury genannt wird, in dem Programm einer „konsequent propagierten und beförderten Individualisierung der Religion“ und schließlich im Konzept einer „Kompatibilität von Verstand und Gefühl“295. Für Spalding relevant ist auch Beutels Hinweis, dass die Neologie ihr vornehmliches literarisches Medium in einem „auf individuelle Erbauung und praktische Nutzbarkeit abzielenden[,] populartheologischen Schrifttum“296 fand. Alle diese Gesichtspunkte einer Epochenbestimmung treffen cum grano salis auf die frühe Phase des theologischen Bemühens Spaldings zu. Dies verwundert nicht, stellen doch seine Bestimmungsschrift und A. F. W. Sacks Schrift „Vertheidigter Glaube der Christen“ (ebenfalls aus dem Jahr 1748) für Beutel zwei erste sowie „epochenprägende Hauptwerke der Neologie“297 dar. Vorliegende Arbeit vermag es jedoch, gleichsam mit einem exemplarischen wie mikroskopischen Blick den Übergang von der Übergangstheologie bzw. vom theologischen Wolffianismus hinüber zur Neologie in seiner ganzen Komplexität zu identifizieren. Dabei wird bspw. deutlich werden, dass durchaus auch wolffsche und wolffianische Theoriemomente für die Neologie Spaldings fruchtbar geworden sind (vgl. v. a. Kapitel I–III) und damit ein einfaches Ablösungsmodell obsolet ist. Für die Theologie-, Dogmen‑ und Frömmigkeitsgeschichte sind darüber hinaus die Analysen zu Spaldings Kritik der traditionellen Erbsündenlehre (V.7) wie auch seine Rehabilitierung der Würde und des Wertes des Menschen (V.6), aber auch des Glücksbegriffes als anthropologischer Telosidee (V.4) wie auch sein religionstheologisches und ethisches Konzept von Relevanz. Dass Spaldings Bestimmungsschrift nicht nur als theologischer Fachtext, sondern vielmehr für viele Zeitgenossen als popularphilosophische und ‑theologi295 Beutel,
Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, S. 113. S. 114. 297 Ebd., S. 115. 296 Ebd.,
4. Zitierweise, Siglen und Abkürzungen
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sche Orientierung in ihrer aufgeklärten Frömmigkeit fungierte, lässt sie schließlich auch als frömmigkeitsgeschichtliche Quelle zur Geltung kommen (V.2). In philosophiehistorischer Perspektive dürften sich als fruchtbar v. a. die Überlegungen zu Spaldings Wolffapologetik (I.2), seiner Shaftesburyrezeption (II; IV), zur erkenntnistheoretischen Funktion des Empfindungsbegriffes (II.2.2.1; 3.2.1; III; IV.3.1; V.5) und zur Herkunft des anthropologischen Bestimmungsbegriffs (v. a. II.2.2.2; IV.1; V.3) erweisen. Schließlich sollte auch für die germanistische und anglistische Literaturgeschichte die Studie in diverser Hinsicht aufschlussreich sein. Dies betrifft zunächst Spaldings Funktion innerhalb der frühen deutschen Shaftesburyrezeption samt ihrer sprachlich-begrifflichen Dimension sowie deren poetologisch-ästhetischen Diskurskontext (v. a. II.1; 3.2.2; III). Sodann steht die Bestimmungsschrift exemplarisch für die Genese popularphilosophisch-theologischer Literatur um die Mitte des Aufklärungsjahrhunderts (V.1 f.) und schließlich sein gesamtes Schaffen zwischen seinem Studium und der Bestimmungsschrift als ein Beispiel für die Entwicklung eines freien und ungebundenen Literatentums, welches jenseits der Möglichkeit einer eindeutigen wissenschaftssystematischen wie auch literatursoziologischen Zuordnung seit der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts Konjunktur hatte (v. a. I; II; V.1 f.).
4. Zitierweise, Siglen und Abkürzungen Die bibliographischen Angaben im Fußnotentext orientieren sich in der Regel nach den im Literaturverzeichnis in eckigen Klammern vermerkten Kurztiteln. Bei Zitaten aus Textausgaben, in denen die Originalpaginierung notiert ist, wird hinter der Seitenangabe der Ausgabe in eckigen Klammern die Originalpaginierung notiert. Dies betrifft v. a. die Kritische Spaldingausgabe. Fremdsprachige Zitate werden in der deutschen Übersetzung wiedergegeben. Je nach Kontext wird entweder der deutsche oder der fremdsprachige Text in eckigen Klammern (in der Fußnote) wiedergeben. Der Abfolge im Zitat entspricht die bibliographische Angabe im Fußnotentext. Grammatikalisch und syntaktisch erforderliche Veränderungen bzw. Einfügungen innerhalb wörtlicher Zitate werden in eckige Klammern gestellt. Hervorhebungen, Unterstreichungen und Sperrungen im Originaltext werden nicht wiedergegeben bzw. als solche des Autors gekennzeichnet ([Hvhb. G. R.]) In Zitaten wird in der Regel die alte Rechtschreibung und eventuelle Druckfehler beibehalten. Verstehenshinweise innerhalb von Zitaten werden in eckigen Klammern wiedergegeben ([scil ….; G. R.]). Auslassungen innerhalb eines Zitates werden kenntlich gemacht (bei einzelnen Wörtern durch drei Punkte (…), bei ganzen Sätzen durch drei Punkte in eckigen Klammern […]). nicht aber an seinem Anfang bzw. Ende.
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Prolegomena
Folgen mehrere Zitate einer Seite, wird nur mit einer Fußnote eine bibliographische Angabe gegeben. Abgesehen von wissenschaftlich gebräuchlichen Abkürzungen und Siglen wird für Spaldings Bestimmungsschrift das Siglum „BdM“ (vgl. Literaturverzeichnis), für die Standard Edition der Werke Shaftesburys das Siglum „SE“ verwendet. Shaftesbury wird ausschließlich nach der Bandangabe der Standard Edition ohne Kurztitel zitiert. Die Identifikation ist über den Kontext bzw. das Literaturverzeichnis leicht möglich. Zeitschriften, Serien und Lexika sind abgekürzt nach Siegfried Schwertner, IATG (Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete; Berlin / New York 1992).
I. Frühe Prägung und erste Publikationen 1. Theologische und philosophische Prägungen durch das Studium in Rostock (1731–1733) Nachdem Spalding seine Schulzeit in seiner Vaterstadt Tribsees in Schwedischpommern absolviert hatte, studierte er von Ostern 1731 bis Sommer 1733 an der Rostocker Universität Theologie.1 Sein späteres Urteil fällt nicht sehr positiv für die seinerzeit konservative alma mater an der Ostsee aus, insbesondere seine Bewertung der philosophisch-metaphysischen Schulrichtung: „Die Philosophie war fast noch ganz aristotelisch-scholastisch, außer daß einige Lehrer die Denkungsart von Buddeus und Syrbius aus Jena mitgebracht hatten, und auch diese waren selten. Man eiferte wider die Wolfische Philosophie großentheils als gegen ein Ungeheuer, welches man nur vom Hörsagen kennete. Der sel. Hr. D. Aepinus, ein sonst fleißiger und moderater Mann, las die Weltweisheit scholastisch, und dictirte Zusätze wider die Wolfischen Lehren.“2 Zunächst findet mit dem Namen Aepinus’ ein wirkmächtiger Vertreter protestantisch-scholastischer Metaphysik Erwähnung. Franz Albert Aepin (1673–1750) steht fast dreißig Jahre als Theologieprofessor „im Mittelpunkt des ganzen akademischen Lebens in Rostock“3 und prägt nicht unwesentlich die Ausbildung der mecklenburgischen wie vorpommerschen Pastorenschaft. „Seiner theologischen Richtung nach huldigt er der damals zu Rostock herrschenden strenglutherischen, antimystischen, antipietistischen und antirationalistischen Orthodoxie.“4 Vornehmlich der Philosophie Christian Wolffs gilt seine Kritik. Seine viel gelesenen Lehrbücher – die „Introductio in philosophiam“ (1714) und das „Compendium metaphysicae ad theologiam applicate“ (1710) – stehen in der Tradition der Jenaer Scholastik. Aepin nennt in den Vorreden Johann Andreas Schmidt (1652–1726), der in Jena Philosophie und Theologie lehrte, und den Jenaer Metaphysik‑ und Logikprofessor Johann Philipp Treuner (1666–1722).5 Mit diesen steht Aepin in der Tradition der durch Christoph Scheibler (1589–1653)6 vermittelten Metaphysik des Suarez, innerhalb derer der natürlichen Theologie ein zentraler Stellenwert 1 Vgl.
Spalding, Lebensbeschreibung, S. 116 f. [S. 3–5]. S. 116 [S. 3 f.]. 3 Kohfeldt, Rostocker Professoren, S. 26. 4 Wagenmann, Aepin, S. 128. 5 Vgl. Wundt, Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 111. 6 Vgl. Heutger, Scheibler; vgl. Lewalter, Metaphysik des 17. Jahrhunderts, S. 70–75. 2 Ebd.,
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
in der Metaphysik zukam.7 Darauf wird im Kontext der Analyse der Dissertation zurückzukommen sein (vgl. I.2.2). In Bezug auf Aepin erachtet Spalding in seinen autobiographischen Erinnerungen jedoch nur seine kritische Haltung gegenüber der Philosophie Christan Wolffs der Erwähnung wert. Worin diese des näheren bestand, führt Spalding nicht weiter aus. Jedoch wird sodann ersichtlich, dass bereits der junge Theologiestudent, wenn auch gewissermaßen via negationis, einen Grundbegriff der Metaphysik Wolffs erlangt haben konnte. Bereits hier wird es verständlich, warum sich Spalding nur einige Jahre nach seinem Studium als vehementer Verteidiger der Wolffschen Metaphysik in seiner Bittschrift von 1738 gerade gegen die Rostocker Universität richtet. Aus den Aspekten, die Spalding dort hervorhebt, wird – wenngleich im Modus der kontroversen Argumentation – deutlich, in welcher Weise Wolffs Philosophie von Spaldings Rostocker Lehrern in Kritik gezogen wurde (vgl. I.2.3). Schließlich wurde diese Metaphysiktradition durch übergangstheologische Einflüsse vonseiten Franz Buddeus’ (1667–1729) dogmatisch aufgelockert. Dies schlägt sich in den beiden ersten akademischen Schriften Spaldings nieder. Er nimmt auf den berühmten Jenenser sowohl in der Disputation als auch in der Dissertation zustimmend Bezug8 (vgl. I.2.1 f.). Auch mit seiner Meinung zur Qualität der theologischen Ausbildung im engeren Sinne hält Spalding nicht hinter dem Berg: „Alles war ein trockenes Werk des Verstandes und noch mehr des Gedächtnisses. […] Die Predigerkunst sich lehren zu lassen, war ein wichtiges Geschäft; und wie sie gelehret ward, diente sie gerade dazu, die wahre christliche Beredsamkeit zu verderben, und die Erbauung zu verhindern.“9 Auch die Sprachausbildung, Kirchenhistorie sowie die Dogmatik finden Spaldings Lob nicht. Letztere lernte der Student nach den „Schulwörter[n] des König verstehen, (eine nicht geringe Kunst!) und die Pietisten und Unionisten verabscheuen“10. Mit diesem Namen ist der zuletzt in Rostock lehrende Johann Friedrich König (1619–1664) und dessen vielgelesenes Dogmatiklehrbuch „Theologia positiva acroamatica“ von 166411 angesprochen, welches in Rostock lange als Lehrgrundlage dogmatischer Kollegs diente.12 Mit diesem Kompendium – so ein theologiegeschichtliches Urteil – stehe die „Systematik der orthodoxen Scholastik auf ihrem Gipfelpunkt“13. Es fehlte Spalding an einer lebendigen Erkenntnis, die nicht nur angeeignet zu werden beanspruchte, sondern zugleich das fromme und verständige Herz berührte. Es zeichnet sich bereits an dieser Stelle ein Unbehagen an einem 7 Vgl. Barth, Theologia naturalis, S. 154 f.; vgl. Wundt, Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, S. 152 ff. 8 Vgl. Spalding, Disputation, S. 4 [S. 4]; vgl. Spalding, Dissertation, S. 50 [S. 11 f.]. 9 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 9 [S. 4 f.]. 10 Ebd., S. 17 [S. 4]. 11 Vgl. König, Theologia (1664). 12 Vgl. Stegmann, König, S. 207; 232. 13 Weber, Einfluß der protestantischen Schulphilosophie, S. 35.
2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740
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Wissenschaftsstil ab, der rein die rational-kognitive Vermittlung dogmatischer Wissensgehalte forderte. Dass Spalding nicht erst in der Retrospektive des Autobiographen eine kritische Haltung gegenüber der theologisch-philosophischen Ausbildung in Rostock entwickelte, wird daraus ersichtlich, dass er noch während des Studiums in Rostock gegenüber dem theologischen Lehrbegriff seiner Lehrer Skepsis übte und „anderen abwechselnden Vorstellungsarten“, u. a. dem „socinianische[n] Lehrbegriff“14 anhing. Zwischen Spaldings Studium und seiner ersten Pfarrstelle lagen nicht weniger als 15 Jahre. Er war mit Unterbrechungen als Hauslehrer tätig, bildete sich autodidaktisch weiter und widmete sich diversen literarischen Projekten. Zunächst nutzte der junge Theologe die berufliche Ungebundenheit zur wissenschaftlichen Qualifikation, ohne jedoch je eine akademische Laufbahn einzuschlagen und als Universitätslehrer für die Aufklärung zu wirken. Er verfasst eine Disputation und eine Dissertation.
2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740 Hatte Spalding – wie bereits ausgeführt – seit 1733/1734 erste Bekanntschaft mit der Philosophie Christian Wolffs und dem theologischen Wolffianismus gemacht, was in der Disputation einen ersten wenngleich indirekten Niederschlag fand, so zeugt eine Reihe weiterer insgesamt vier kürzerer Publikationen von Spaldings Rezeption der Metaphysik Christian Wolffs. Der beruflich-biographische Hintergrund dieser Jahre kann als unspektakulär bezeichnet werden. Im Herbst 1735 verlässt Spalding, ohne einen genauen Grund in seiner Lebensbeschreibung zu nennen, Greifswald, um bis zum Jahr 1737 seinem Vater in Tribsees bei dessen Amtsgeschäften zur Hand zu gehen.15 Seit 1737 findet der junge Theologe wieder als Hofmeister bei einem Landadligen sein Auskommen. Dieser Broterwerb beschäftigt ihn bis zum Jahr 1740.16 Die freie Zeit nutzt der begabte Absolvent der Rostocker Universität zur weiteren akademischen Qualifikation, autodidaktischen Weiterbildung und zu ersten literarischen Versuchen.
2.1 Die Disputation (1735) Nach dem Studium musste Spalding im Herbst 1733 eine Hauslehrerstelle bei einem Landadligen übernehmen, die er aber nur ein Vierteljahr inne hatte. Nach14 Spalding,
Lebensbeschreibung, S. 117 [S. 5]. ebd., S. 121 [S. 11]. 16 Vgl. ebd., S. 122 f. [S. 14 f.]. 15 Vgl.
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
dem er einige Monate wieder bei seinem Vater in Tribsees verbrachte, nahm er erneut eine Hauslehrerstellung an, diesmal in Greifswald. Diese endete im Sommer 1735, woraufhin Spalding jedoch noch ein halbes Jahr in der vorpommerschen Universitätsstadt zubrachte17 und den Vorsatz fasste, „der erste zu seyn, der unter dem neulich angekommenen Hrn. G. S. Lütkemann (einem besonderen Landsmanne meines sel. Vaters, weil sie beyde aus Malchin in Meklenburg gebürtig waren) disputirte, und die Disputation selbst zu schreiben. Ein Ausspruch Kaisers Julian schien mir so merkwürdig, daß ich de Calumnia Juliani Apostatae in confirmationem Christianae Religionis versa vier bis fünf gedruckte Bogen vollschrieb. Hierin hatte ich beynahe alles gebracht, was ich zu der Zeit über die ganze Materie von der Wahrheit der christlichen Religion wußte, und aus dem Lesen nicht weniger Bücher gesammelt hatte.“18 Die Disputation widmet sich einem Ausspruch des römischen Kaisers Julian, der die Glaubwürdigkeit der Wunder Jesu und damit die „Wahrheit der christlichen Religion“19 beweise. Den Ertrag, den Spalding in der Retrospektive seiner Autobiographie aus seinen Lektüren für die Disputation schöpfte, erblickt er in zweierlei: einerseits in dem „Beweis für die Religion überhaupt, und für die christliche Offenbarung insonderheit, vornehmlich aber die Vorstellung von der innerlichen Vortrefflichkeit des Christentums“20. Damit rücken bereits mit seinem literarischen Erstlingswerk sowohl der Christentums‑ als auch der Religionsbegriff in den Fokus seiner apologetischen Arbeit. Drei Fragestellungen sollen bei der Analyse der Disputation besonderes von Interesse sein: 1. In welchem theologischen Debattenkontext stehen die Thematik und Spaldings These? 2. Welche theologische Entwicklung lässt sich an der Argumentation und verwendeten Literatur seit dem Studium nachzeichnen? 3. Welche Linien weisen in Spaldings spätere Entwicklung? Spaldings detaillierten wundertheologischen Argumentationen können unberücksichtigt bleiben, da es uns nicht so sehr auf seinen Beitrag zur Wunderdebatte im engeren Sinne, sondern vielmehr auf solche Leitmotive ankommt, die im Blick auf Spaldings Entwicklungsgang relevant sind. In der Einleitung21 führt der Disputant in den unmittelbaren Debattenkontext ein, innerhalb dessen er seinen Traktat verortet. Allgemein soll seine Disputation einen Beitrag gegen die Zerstörung des „omne religionis sanctissimae fundamentum [des ganzen Fundamentes der heiligsten Religion]“22 durch die „deistae recentiores [jüngeren Deisten]“23 leisten. Einen zentralen Streitpunkt in 17 Vgl.
ebd., S. 117–120 [S. 5–9]. S. 120 [S. 9 f.]. 19 Ebd., S. 120 [S. 9]. 20 Ebd., S. 120 [S. 10]. 21 Vgl. Spalding, Disputation, S. 3 f. [S. 3–5]. – Die im Folgenden in eckigen Klammern gesetzten deutschen Übersetzungen stammen vom Verfasser vorliegender Studie. 22 Ebd., S. 3 [S. 3]. 23 Ebd., S. 8 [S. 8]. 18 Ebd.,
2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740
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dem europäischen Diskurs um die Thesen und Argumente des englischen Deismus stellt die Beurteilung der Wunder Jesu dar, die Spalding als die „missionis divinae (Christi) documenta certissima [sichersten Dokumente der göttlichen Sendung (Christi)]“24 bezeichnet, denen er daher seinen ganzen apologetischen Ehrgeiz widmet. Spalding hat hier konkret den Streit um Thomas Woolstons Wunderkritik vor Augen, auf den er sich auch explizit in den §§ XII und XXV bezieht. Dieser Konflikt nahm seinen Ausgangspunkt in England und weitete sich nach und nach auch ins kontinentale Westeuropa und nach Deutschland aus, was sich in einer Vielzahl von Verteidigungs‑ und noch mehr Gegenschriften dokumentierte. Die Wunderthematik beschäftigt den englischen Deismus von Anbeginn, die Debatte kulminiert aber erst in seiner Spätphase.25 Die Protagonisten sind in England besagter Thomas Woolston und Peter Annet auf der einen und Thomas Sherlock auf der anderen Seite. Den Ausgangspunkt markiert jedoch Anthony Collins „Discourse of Free-Thinking“26, in dem er die Beweiskraft von Wundern prinzipiell in Frage stellt. Es folgt eine Flut von Gegenschriften. In diesen Streit mischt sich Thomas Woolston zuerst 1725 mit seiner Schrift „The Moderator“27 ein, die ihrem Namen gemäß einen Vermittlungsversuch darstellt. Damit aber nicht genug. Er verfasst in den Jahren 1727–29 sechs „Discourses on the miracles of our Saviour“28, denen noch zwei weitere Verteidigungsschriften folgen, mit denen der von theologischer Seite Geschmähte und auch gerichtlich Verfolgte die massiven Kritiken zu parieren versucht. Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Spaldings einschlägiger Arbeit stirbt der Engländer denn auch im Gefängnis, zu dem man ihn wegen seiner unorthodoxen Wunderkritik verurteilt hatte.29 Die These Woolstons ist eine doppelte. Zum einen bestreitet er die Historizität der Wunder, zum anderen ihre Beglaubigungsfunktion für die Gottessohnschaft Jesu. Die Umstände der Erzählungen, die Unglaubwürdigkeit der Zeugen und die Widersprüche zwischen den Evangelien stellen für Woolsten ernstzunehmende Indizien für die Fiktionalität der Wundergeschichten dar. Nur als „Lehrerzählungen gleichnishaften Charakters“30 und durch mystisch-allegorische Auslegung haben sie einen Sinn, der sich jedoch einer Vielzahl der Zeitgenossen Woolstons ebenso wenig erschloss wie seine größtenteils scharfsinnigen Beobachtungen im Detail und seine daraus folgenden Schlüsse. Woolstons Abhandlungen eröffneten einen literarischen Diskurs, in dem nicht weniger als ca. 60 Gegenschriften die Amtszimmer von orthodoxen an24 Ebd.,
S. 4 [S. 4]. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, S. 315 ff.; Voigt, Deismus, S. 61 ff. 26 Vgl. Collins, Discourse of Free-Thinking. 27 Vgl. Woolston, Moderator. 28 Vgl. Woolston, Discourse. 29 Vgl. Lechler, Deismus, S. 295. 30 Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, S. 316. 25 Vgl.
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
glikanischen Pastoren und Bischöfen verließen. Die berühmteste von ihnen verdient deswegen in unserem Kontext Erwähnung, weil sie die Glaubwürdigkeit der Wunderzeugen in den Mittelpunkt ihrer Apologetik stellt, der sich auch Spaldings Disputation widmet. Sie stammt von dem damaligen Dechanten von Chichester und nachmaligen Londoner Bischof (seit 1748) Thomas Sherlock. „The Tryal of the Witnesses of the Resurrection“ erschien zuerst 1729, dann bis 1755 in dreizehn Auflagen und zählte zu den populärsten antideistischen Schriften der Zeit31. Der Streit kocht noch einmal hoch, als Peter Annet unter dem Pseudonym Moralphilosopher eine Schrift gegen Sherlocks Apologese richtet. Neben dem Aufweisen von Widersprüchen zwischen den Zeugenaussagen ist Annets These die, dass die Zeugen wohl besser nicht Apostel und Anhänger gewesen wären, sondern unbeteiligte Zeitgenossen, die unparteiisch berichtet hätten. Es folgen Repliken von Sherlock und Dritten. Ohne auf den Verlauf des Streites en detail eingehen zu können32, ist für unseren Zusammenhang wesentlich, dass Spalding sich mit seiner Disputation einem aktuellen Thema zuwendet und mit dem Nachweis unparteiischer glaubwürdiger Wunderzeugen einen zentralen Aspekt dieser Debatte aufgreift. Ganz im Sinne von Thomas Sherlocks Zeugenapologetik und einer Kritik an Peter Annets Diskreditierung der Zeugenschaft der Apostel unternimmt Spalding den Versuch, einen solchen Zeugen namhaft zu machen, dessen antichristliche Haltung als Beweis für seine Glaubwürdigkeit steht. Dass Spalding sich auch in die apologetische und teilweise explizit antiwoolstonianische Literatur der deutschen Übergangstheologie und englischen Kirchentheologie eingearbeitet hat, zeigt eine Vielzahl von ihm zitierter Titel.33 In § I führt Spalding in die Quelle ein, in der Aussagen des Kaisers Julian überliefert sind. Die zehn Bücher des Cyrill von Alexandrien „Adversus Julianum“ enthalten Passagen aus den drei Büchern, die Julian gegen das Christentum verfasst hat. In einer dieser Passage bezeugt jener – und das in einer abfälligen Weise –, dass Jesus Lahme und Blinde geheilt sowie Dämonen beschworen habe. In § II liefert nun Spalding einen ersten Baustein in der moralischen Beweisführung, in der die Wahrscheinlichkeit des Zeugnisses Julians bewiesen wird. Sein zeugentheoretischer Grundsatz lautet: Je neutraler bzw. je feindlicher ein Zeuge gegen dasjenige eingestellt ist, dessen Wahrheit er bezeugt, desto glaubwürdiger sei sein Zeugnis. Dies treffe nun auf Julian zu: Sein Zeugnis sei aufgrund seiner feindlichen Einstellung gegen die Lehre Jesu und dessen Bekenner unbedingt 31 Vgl.
Sherlock, Tryal of the Witnesses.
32 Eine Zusammenfassung des literarischen Streites findet sich
323.
bei Lechler, Deismus, S. 289–
33 Vgl. v. a. die genannten und zitierten Autoren und Titel in Spalding, Disputation, § VIII f., S. 11 f. [11 f.]; § XII, S. 14 f. [S. 14 f.]; § XIV, S. 18 [S. 17]; § XX, S. 24 [S. 24]; § XXIV, S. 29 f. [S. 27 f.]; § XXV, S. 31 ff. [S. 29 f.].
2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740
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glaubwürdig. Darüber hinaus könne Julians intellektuelle und moralische Integrität nicht in Zweifel gezogen werden34. Im Blick auf die Wunderberichte im Neuen Testament selber unterscheidet Spalding vier Möglichkeiten, wie diese gedeutet werden können. Sie können 1. frei erfunden und fabulös sein, 2. natürlich erklärt oder als Gaukeleien entlarvt werden, 3. von höheren – guten oder bösen – Geistern bewirkt worden sein, oder aber auch 4. „denique fuerunt veri effectus divini, auctoritatem atque missionem Christi firmissime commonstrantes [schließlich waren es wahre göttliche Wirkungen, die die Autorität und auch Sendung Christi am stärksten zeigen]“35. Bei der Widerlegung der zweiten Möglichkeit einer Wundererklärung bezieht sich Spalding auf Thomas Woolston, den er als „alterus quasi Julianus [quasi ein anderer Julian]“36 bezeichnet und dessen Wunderkritik er als Hass gegen die christliche Religion versteht. Der Engländer begreife die Wunder Jesu entweder als Gaukeleien oder als natürliche Vorkommnisse. Die Kausalzusammenhänge, die Vielzahl der Beobachter und die Vielzahl der Wunder sprechen nach Spaldings Beurteilung jedoch gegen beide Deutungen und für den wirklichen Wundercharakter der Vorkommnisse. Die Disputation nimmt ab dem § XVII eine Wendung, durch die der Text über die traditionelle Wunderapologetik hinausweist und zugleich dokumentiert, dass sich Spalding in der Zeit nach dem Studium extensiv und intensiv in die zeitgenössische theologische Literatur und deren Diskussionen eingearbeitet hat. In seiner Lebensbeschreibung schreibt er dazu: „Ich ward zuvörderst veranlasst, manches gute Buch mit Ernst und Aufmerksamkeit zu lesen. Ich ward von einem in das andere geführt, und mein Geschmack an der Wissenschaft, und vornehmlich an diesem Theil derselben, ward mehr erweckt und vermehrt.“37 Mit letzterem meint Spalding die „Erwägung der Beweise für die Religion überhaupt, und für die christliche Offenbarung insonderheit, vornehmlich aber die Vorstellung von der innerlichen Vortrefflichkeit des Christentums“38. Genau diesem Thema widmet sich nun Spalding im zweiten Teil seiner Disputation. Den Anlass zu diesen Überlegungen gibt für Spalding der gängige wunderkritische Einwand, dass die Mirakel Jesu auch von bösen Geistern hätten gewirkt sein können. Damit fiele die Beweiskraft der Wunder, die auf der Annahme ihrer göttlichen causa efficiens beruhe, dahin. Der Beweis der Göttlichkeit Jesu durch die Wunder schlägt an dieser Stelle um in einen Beweis der Göttlichkeit der Wunder und der Lehre Jesu. Die Beweisrichtung dreht sich gleichsam um und eröffnet eine Reflexionsrichtung, die die engeren Bahnen der Wunderapologetik verlässt. Denn die Lehre Jesu und seine Wunderhandlungen müssen sich in dieser 34 Vgl.
ebd., §§ III f., S. 6 [S. 6]. § IV, S. 9 [S. 9]. 36 Ebd., § XII, S. 15 [S. 14]. 37 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 120 [S. 10]. 38 Ebd. 35 Ebd.,
70
I. Frühe Prägung und erste Publikationen
Hinsicht an einem vorgängigen Begriff der Wahrheit der Religion ausweisen lassen. Spalding benennt zunächst vier Parameter der religionis veritas (§ XVII), die er sodann erläutert (§§ XVIII–XXI). Eine wahre Religion müsse zum ersten mit dem wahren und heiligen Willen Gottes konform sein und dürfe „naturales veritates omnes circa deum & res divinas [alle natürlichen Wahrheiten bezüglich Gott und der göttlichen Dinge]“39 nicht aufheben, sondern müsse sich ihnen unterordnen. Dieses Kriterium erfüllen nach Spalding die Lehren Christi, indem sie die Einheit Gottes, die göttlichen Eigenschaften, die Telosbestimmung des Menschen, die Pflichten des Menschen und die rechte Verehrung Gottes illustrieren: „Nec minima religionis naturalis pars evertitur. Omnes potius veritates ejus clariore lumine illustrantur. [Nicht der kleinste Teil der natürlichen Religion wird umgestürzt. Vielmehr wurden alle ihre Wahrheiten mit klarstem Licht illustriert].“40 Das zweite Merkmal der wahren Religion erblickt Spalding in der Beförderung des Menschen „ad aeternam felicitatem [zur ewigen Glückseligkeit]“. Sie bestehe „ex intima unione cum Ente perfectissimo [aus der inneren Einheit mit dem vollkommensten Seins]“. Diese sei jedoch auf dem Wege „ideae nostrae naturales de Justitia atque Misericordia divina [unserer natürlichen Ideen von der göttlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit]“ nicht zu erlangen. Die christliche Religion gebe dem Licht der Vernunft Nachhilfen an die Hand, so dass sie „nobis viam rectissimam ad aeternam felicitatem monstrat [uns den rechtesten Weg zur ewigen Glückseligkeit zeigt]“41. Es seien jene jedoch mit der Vernunft vereinbar. Der Sache nach bezieht sich Spalding an dieser Stelle in altprotestantischer Manier auf die Satisfaktionslehre. Ein drittes Kriterium wahrer Religion erblickt Spalding in ihrer Funktion für die Tugend des Menschen. Auch diesem kann die ethische Lehre Christi mit seinem vertieften Sittlichkeitsbegriff in der Bergpredigt – auf sie bezieht sich Spalding der Sache nach – standhalten. Viertens und letztens habe sich eine vera religio auch durch ihre Nützlichkeit für die „rem-publicam [Öffentlichkeit]“ und allgemein für die „felicitatem temporalem [zeitliche Glückseligkeit]“ auszuzeichnen. Dieses Kriterium, dem die Lehre Christi mit ihrer Morallehre wiederum voll und ganz entspricht, verteidigt Spalding auch gegen die religionskritischen Invektiven der „Atheorum atque Deistarum [Atheisten und Deisten]“42, dass nämlich die Religion ausschließlich zur Wohlfahrt und als Außenstütze des politischen Standes erfunden worden sei. Ohne hier Spaldings Argumente detailliert zu rekonstruieren, lassen sich doch Motive aufzeigen, die Spaldings theologisch-philosophische Entwicklung nach seinem Studium widerspiegeln. 39 Spalding,
Disputation, § XVII, S. 22 [S. 20]. § XVIII, S. 22 [S. 21]. 41 Ebd., § XIX, S. 23 f. [S. 22]. 42 Ebd., § XXI, S. 26 [24 f.]. 40 Ebd.,
2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740
71
Zunächst ist festzuhalten, dass in Spaldings Apologie des Christentums in der Disputation drei Begriffe zum ersten Mal nicht nur Verwendung finden, sondern eine zentrale argumentative Funktion innerhalb seines Beweisganges haben. Dies sind die Begriffe der natürlichen Religion, der Glückseligkeit – der ewigen und zeitlichen – und der Tugend. Zum Begriff der natürlichen Religion. Dessen Quellen wollen wir im Blick auf Spalding deshalb etwas ausführlicher ergründen, weil sich mit Spalding innerhalb der Aufklärungstheologie der Paradigmenwechsel von der natürlichen Theologie zur natürlichen Religion vollzog, die dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine rasante Konjunktur erlebte, um dann am Ende des Aufklärungsjahrhunderts bei Kant und Schleiermacher in diejenige Theorieform einzumünden, die sich unter dem Titel Religionsphilosophie durchgesetzt hat.43 Während der fertige Entwurf Spaldings erst in der Bestimmungsschrift von 1748 zu greifen ist, liegen doch die bildungsbiographischen Anfänge bereits in seiner ersten Publikation. Der Terminus der natürlichen Religion stand in der späteren altprotestantischen Dogmatiktradition und lutherischen Schulmetaphysik am Ausgang des 17. Jahrhunderts gänzlich im Schatten des Begriffes der natürlichen Theologie bzw. Theologia naturalis. Dieser Topos fand seit der „Introductio in theologiam“ (1679) des Jenenser Theologieprofessors Johannes Musäus und dem bis ins 18. Jahrhundert hinein viel benutzten „Compendium theologiae positivae“ (1. Aufl. 1686) von dessen Schüler Johann Wilhelm Baier auch Eingang in die protestantische Lehrbildung und bedeutete eine partielle Revision der reformatorischen und bis ans Ende des 17. Jahrhunderts reichenden Vorbehalte gegenüber einer Kompetenz der ratio in Sachen Theologie.44 Spaldings Verwendung dieser Kategorie in der Disputation dürfte also noch keine Frucht seines Studiums an der streng lutherisch-orthodoxen Universität Rostock gewesen sein. Es stellt sich daher die Frage, welcher anderweitigen Einflüsse sich seine selbstverständlich anmutende Verwendung dieser Kategorie verdankte. Dazu müssen wir uns Spaldings Entwicklung nach seinem nur zweijährigen Theologiestudium anhand seiner Autobiographie sowie anhand der impliziten Hinweise in der Disputation selber vor Augen führen. Zum einen konstatiert der Autobiograph, dass ihm zunächst nach Beendigung des Studiums der „socinianische Lehrbegriff“ wahrscheinlich erschien, den er aber bald wieder zugunsten „abwechselnde[r] Vorstellungsarten“45 ablegte. Mehr 43 Vgl.
Feiereis, Umprägung der natürlichen Theologie. dazu Barth, Theologia naturalis, S. 155 f. – Die Aufwertung war auch mitbedingt durch die Rezeption des frühen englischen Deismus und einer gegen jenen gerichteten apologetischen Rechtfertigung der christlichen Religion, die sich bei aller Kritik der ‚englischen Atheisten‘ letztlich jedoch den Argumentationsstandards dieser religionsphilosophischen Avantgarde wenigstens formal anzupassen hatte. 45 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 117 [S. 5]. 44 Vgl.
72
I. Frühe Prägung und erste Publikationen
als dass Spalding gegenüber seinen bisherigen Prägungen „zu wanken“ begann und eine gewisse Offenheit für andere und womöglich neue theologische Strömungen entwickelte, lässt sich aus diesen und anderen mageren Anspielungen nicht ablesen. Dies ändert sich jedoch hinsichtlich seiner Entwicklung, die er für die Zeit der zweiten Hälfte des Jahres 1733 namhaft macht. Nach einer vierteljährigen Stellung als Hofmeister bei einem Landedelmann im Herbst/Winter 1733 begab sich der Candidat wieder in seines Vaters Haus, wo er bei einem Kollegen desselben, einem gewissen Herrn M[agister?] Schulz, verschiedene Schriften Christian Wolffs sowie der theologischen Wolffianer Georg Bernhard Bilfinger und Israel Gottlieb Canz kennen lernte.46 „Sie waren mir erst eine fremde finstre Welt. Desto mehr aber griff ich meinen Fleiß und meine Aufmerksamkeit an, und meine Freude war unausssprechlich, als ich mit der Zeit so viel Licht und Ueberzeugung darin fand, oder zu finden glaubte, als ich noch sonst nirgends angetroffen hatte.“47 Damit zeichnet sich eine philosophische und theologische Umorientierung ab, die in den folgenden Jahren auf den jungen Gelehrten und dessen erste Publikationen einen nicht unwesentlichen Einfluss gehabt hat. Während er im Philosophiestudium bei Aepin noch in antiwolffscher Polemik geschult worden war, wendet er sich nun Wolff und seinen theologischen Gewährsmännern zu.48 Dieser Umschwung, den Spalding in seiner Lebensbeschreibung in der Metaphorik pietistischer Bekehrungserlebnisse schildert, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Wolffianismus durchaus stärker in der Lehrtradition der Rostocker Universität stand als Spalding hier vorgibt. Dies wird im Kontext der Analyse der Dissertation noch zu zeigen sein (vgl. I.2.2). Es ist zunächst von Bedeutung, dass sein neuerlicher Wolffianismus auch ein Licht auf unsere Frage hinsichtlich der Genese seines Konzeptes der natürlichen Religion wirft. Was diesen Begriff anbetrifft, so gehört er bei Christian Wolff zunächst nicht zum gängigen Begriffsinstrumentarium und ist in seinen Publikationen bis 1723 nicht anzutreffen. Allererst in der „Luculenta commentatio“49, die in dem Jahre seiner Vertreibung aus Halle50, also 1723, erschien, findet sich der Terminus erstmals im Oeuvre Wolffs. Auch danach ist er häufiger anzutreffen, ohne jedoch je über den Begriff der natürlichen Theologie quantitativ wie auch systematisch die
46 Vgl.
ebd., S. 118 [S. 6]. ebd. 48 Schollmeier schätzt wohl die Rolle Bilfingers und Canz’ für Spalding richtig ein, wenn er schreibt: „Was Spalding bei der Lektüre von Bilfinger und Canz wohl am meisten beeindruckt und überrascht hat, ist der von ihnen erbrachte ‚Nachweis‘, daß Wolffs Philosophie und die christliche Theologie bestens harmonieren ….“ (Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 15, Anm. 4.) 49 Vgl. Wolff, Luculenta commentatio. 50 Zu diesem Vorgang vgl. Beutel, Causa Wolfiana; vgl. Gerlach, Streit in der Aufklärung, S. 79–93. 47 Vgl.
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Oberhand zu gewinnen.51 Wie kam es dazu? Wolffs „Luculenta commentatio“ war eine Replik auf eine erste Schmähschrift seines schärfsten Kontrahenten, des Hallenser pietistischen Dogmatikers Joachim Lange (1670–1744)52, der Wolffs Metaphysik in Kritik zog, indem er sie als nachteilig für die natürliche Religion diskreditierte. Bereits vorher fand in diversen antiwolffschen Schriften vonseiten des pietistischen Flügels der Halleschen Theologischen Fakultät der Begriff der natürlichen Religion Verwendung.53 Allererst durch diese Angriffe war Wolff veranlasst, in seine „Luculenta commentatio“ und weitere Erwiderungsschriften diesen Begriff aufzunehmen. Sein Hauptargument lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die natürliche Theologie in der Form der Gottesbeweise stelle als rationale Stütze der Theologie zugleich auch ein unumstößliches Fundament für die natürliche Religion dar. „Natürliche Religion war für ihn [scil. Wolff] nurmehr die Nutzanwendung des in der Theologia naturalis zur Stützung des Offenbarungsglaubens entfalteten Lehrbestandes.“54 Wenn wir davon ausgehen, dass Spalding bereits zur Zeit der Abfassung der Disputation die zwei nur ein Jahr später in der Dissertation zitierten Schriften Wolffs kannte (vgl. I.2.2), in denen Wolff den Begriff der natürlichen Religion gebraucht, dann könnte Spaldings Kenntnis und Verwendung des Begriffes der natürlichen Religion durchaus durch sein Wolffstudium mitbedingt worden sein. Fragen wir, welche Denkströmung des weiteren Spalding in der Zeit um 1735 neben der wolffschen Schulphilosophie und dem theologischen Wolffianismus in dieser Richtung geprägt haben könnten, so gibt seine akademische Qualifikationsarbeit einige weitere Hinweise. Zunächst fällt auf, dass Spalding eine Vielzahl englischer, französischer und deutscher apologetischer Literatur rezipiert, die allesamt den Begriff der Religion resp. der christlichen Religion im Titel führen oder zumindest diesen zur zentralen Reflexionskategorie erheben.55 Damit eröffnet sich neben der Debatte um Christian Wolff eine zweite Quelle für Spaldings Verwendung des Begriffs der christlichen bzw. natürlichen Religion, die von der Renaissancephilosophie über das neuzeitliche rationale Naturrecht bis hin zur jüngeren westeuropäischen und übergangstheologischen Diskussion reicht. Ohne den Rezeptionsprozess genau rekonstruieren zu können, scheint es doch sehr wahrscheinlich, dass Spalding durch seine Beschäftigung mit Christian Wolff, dem theologischen Wolffianismus und weiteren diversen Diskursen um den Begriff der christlichen resp. natürlichen Religion die Relevanz dieses Begriffsfeldes für die apologetischen Fragen der Zeit erkannt hat.
51 Vgl.
zu Wolffs einschlägiger Entwicklung Barth, Theologia naturalis, S. 157 ff. Lange, Caussa. 53 Vgl. Barth, Theologia naturalis, S. 157 f. 54 Ebd., S. 159. 55 Vgl. u. a. Spalding, Disputation, § X, S. 12 f. [S. 12]; § XIII, S. 15 ff. [15 ff.]; § XIX, S. 23 f. [S. 22 f.]; § XX, S. 24 f. [S. 23 f.]; § XXIII, S. 28 f. [S. 26 f.]. 52 Vgl.
74
I. Frühe Prägung und erste Publikationen
Auch wenn in der Disputation noch keine ausgearbeitete Theorie der natürlichen Religion anzutreffen ist, so beginnt doch hier Spaldings Auseinandersetzung mit einer Kategorie, die später zu einem Zentralbegriff seines Denkens avancieren wird. Neben dem Begriff der natürlichen Religion verfügt für Spalding der Begriff der Glückseligkeit über eine kriteriologische Funktion für den Wahrheitswert einer Religion. Für die Frage, von welcher Denktradition Spalding diesbezüglich geprägt wurde, kann es wohl aufgrund der nur kurzen Ausführungen in der Disputation und der Komplexität der Glücksdebatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keine erschöpfende Antwort geben. Es lassen sich jedoch Vermutungen anstellen. Christian Wolff, also Spaldings damaliger philosophischer Gewährsmann, hatte die Wissenschaft allgemein und auch explizit die natürliche Theologie im Besonderen als Funktionen nicht nur der theoretischen Vernunft, sondern auch der Realisierung der Glückseligkeit des Menschen verstanden. Damit dürfte Spalding spätestens über sein Wolffstudium mit dieser Kategorie bekannt gemacht geworden sein. Spalding scheint jedoch – sieht man auf seine Terminologie in der Disputation von felicitas aeterna und felicitas temporalis – des Weiteren von anderer Seite zu seinen glückstheoretischen Überlegungen motiviert worden zu sein. In seiner Lebensbeschreibung bemerkt er, dass er während einer weiteren Hofmeisterstellung im Jahre 1734 in Greifswald bei einem gewissen Professor Schwarz56 mit einem seinerseits antiwolffianisch eingestellten Magister Ahlwardt (später Professor für Logik und Metaphysik57) bekannt wurde: „Bald opferte ich ihm meinen ganzen Wolfianismus auf, da Er nach Rüdigerschen Grundsätzen philosophirte.“58 Auch wenn er bald hernach „zu der ersten Fahne wieder zurückkehrte“59 – gemeint ist Wolff –, liegt die Vermutung nahe, dass er die in der Disputation herangezogene Unterscheidung von ewiger Glückseligkeit und zeitlicher Glückseligkeit dem philosophisch-metaphysischen Wolffkritiker Andreas Rüdiger (1673–1731) verdankte.60 Dieser hatte jene glückstheoretische Differenzierungshinsicht von Christian Thomasius, seinem Hallenser Lehrer, übernommen.61 Neben Wolffs und Rüdigers Glückskonzeptionen hat sicherlich auch Spaldings Rezeption der Übergangstheologie dazu beigetragen, dem Begriff der Glückseligkeit eine zentralere religions‑ und christentumskonzeptionelle Rolle anzuweisen.62 Während Spalding bereits im Studium von Johann Franz Buddeus 56 Spalding,
Lebensbeschreibung, S. 118f [S. 7 f.]. Wolfes, Ahlwardt. 58 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 119 [S. 8]. 59 Ebd. 60 Vgl. Wundt, Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 82–98. 61 Vgl. dazu Grunert, Objektivität des Glücks, S. 353–355. 62 Vgl. Spaemann, Glück, Sp. 702. – Spalding bemerkt in seiner Lebensbeschreibung, dass er bereits in seiner Studienzeit mit der „Denkungsart von Buddeus [scil. Johann Franz Buddeus; 57 Vgl.
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Kenntnis nahm, so bezieht er sich in der Disputation ausdrücklich zustimmend sowohl auf diesen wie auch auf Johann Lorenz Mosheim.63 Uns kommt es hier auf die glückstheoretischen Differenzierungen innerhalb und zwischen den genannten Schulrichtungen nicht so sehr an wie auf den grundlegenderen Sachverhalt, dass Spalding die aktuellen Debatten um den Glücksbegriff offensichtlich zur Kenntnis nahm und vor diesem Hintergrund die Glücksförderlichkeit als Kriterium für die wahre Religion und für das Christentum in Anschlag bringt. Hatte die Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie die Erlösungslehre, den ordo salutis sowie die Ethik noch fast unter gänzlicher Absehung vom Glücksbegriff formuliert, so kann Spalding nun seine Überlegungen zur Kriteriologie einer wahren Religion resp. des Christentums und seine Gedanken zum diesseitigen Wohl des Menschen in ein Konzept humaner Glücksseligkeit einbinden, ohne dass schon insgesamt von einem glückstheoretischen Reflexionsrahmen gesprochen werden könnte. Eher meldet sich bereits leise ein Thema an, das sich dann bei Spalding zu einem Leitmotiv weiterentwickeln wird. Zugleich rückt mit dem Ewigkeitsaspekt der Glückseligkeit erstmals ein Aspekt in Spaldings Blickfeld, der in der Schrift über die „Staats-Gottseligkeit“ (vgl. I.2.5) und schließlich dann in der Bestimmungsschrift (vgl. V.7) eine zentrale Bedeutung erlangen wird. Das Dritte, das im Blick auf Spaldings spätere Begrifflichkeit von Bedeutung sein wird, ist der Tugendbegriff. Auch die Tugend sei neben der Verträglichkeit mit der natürlichen Religion, der Förderlichkeit zur Glückseligkeit und zum öffentlichen Wohl ein wesentliches Kriterium für die Wahrheit der Wunder Christi. Dies hängt mit dem Begriff der natürlichen bzw. wahren Religion aufs engste zusammen, denn, „veram & divinam religionem solidis rationibus serium virtutis studium maximopere urgere [daß die wahre und göttliche Religion mit soliden Gründen auf einem ernsten Studium wahrer Tugend nachdrücklichst bestehen muß]“64, sei evident. Angewendet auf das Christentum zeige sich, dass die „doctrinam Christi moralem [Morallehre Christi]“65 dieses Kriterium ohne Abstriche erfülle. Spaldings einschlägige Ausführungen zeigen, dass er noch von den dogmatischen Prämissen der Erbsündenlehre ausgeht und von seinem späteren Tugendbegriff im Sinne der moralischen Empfindung weit entfernt ist. Es gilt für unseren Kontext also nicht mehr festzuhalten, als dass Spalding in seiner moralphilosophische Terminologie bereits in der Disputation den Tugendbegriff verwendet. Dass dieser in der Disputation noch nicht unangefochten zu
G. R.] und Syrbius [scil. Johann Jakob Syrbius; G. R.]“ (Spalding, Lebensbeschreibung, S. 116 [S. 3]) bekannt gemacht geworden war, und auch gleich in der Einleitung der Disputation bezieht er sich zustimmend auf Buddeus (vgl. Spalding, Disputation, S. 4 [S. 4]). 63 Vgl. Spalding, Disputation, [Einleitung] S. 4 [S. 4], § XXV f., S. 31 ff. [S. 29 ff.]. 64 Ebd., § XX, S. 24 [S. 23]. 65 Ebd.
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Spaldings moralphilosophischem Hauptbegriff avanciert ist, zeigt u. a. die konkurrierende Verwendung des Pflichtbegriffs66. Fassen wir zusammen: Spalding widmet sich mit seiner Disputation einem aktuellen Thema, das ihn nötigt, sich in die umfängliche Literatur des Wunderdiskurses einzuarbeiten. Damit kommt er erstmals mit den weitverzweigten Geflechten des angelsächsischen deistisch-antideistischen Diskurses und dessen Rezeption vonseiten der deutschen Übergangstheologie in Berührung. Im Kontext seiner wunderapologetischen Argumentation rücken zum ersten Mal die Kategorien der natürlichen Religion, der Glückseligkeit und der Tugend in Spaldings Fokus. Es konnte gezeigt werden, dass auch Spaldings seit 1733 einsetzende Begeisterung für die Philosophie Christian Wolffs, der theologischen Wolffianer und zeitweise auch für Andreas Rüdiger den theoretischen Boden für die Integration dieser Kategorien in seine Beweisführung bereitete.
2.2 Die Dissertation (1736) Ein Jahr nach seiner Disputation verfasst Spalding eine lateinische Dissertation, seine zweite akademische Qualifikationsschrift. Dieses Unternehmen stößt jedoch, wie seiner diesbezüglichen autobiographischen Notiz zu entnehmen ist, auf Widerstände: „Ich konnte es mir indessen doch auch nicht aus dem Sinn bringen, daß es schön sey, ein Philosoph, und noch dazu ein Wolfianer zu seyn. Ich handelte nach meiner Fähigkeit drey bis vier dahin gehörige metaphysische Fragen ab, die ich zu Rostock unter einem meiner ehemaligen Lehrer vertheidigen wollte. Dieser war viel zu wenig Wolfisch, als daß er meine Philosophie hätte durchgehends billigen sollen. Er nahm weg, setzte hinzu, veränderte, und so ward die Dissertation unter dem Titel: Bigae quaestionum metaphysicarum 1736 gedruckt und vertheidigt.“67 Als der erwähnte Lehrer lässt sich über den Titel der Dissertation Peter Christian Kämpfer (1702–1755) identifizieren. Als Schüler des Rostocker Professors Franz Albert Aepinus stand er in der Rostocker Metaphysiktradition, die er ab 1735 als Professor an seine Schüler weitergab. Die Betreuung von Spaldings Dissertation zählt zu seinen ersten Mentorierungen. Die Andeutungen des Promovenden lassen ahnen, dass die damaligen Auseinandersetzungen zwischen lutherisch-spätorthodoxer Metaphysik und der neueren Metaphysik Christian Wolffs und seiner Schule in dem Promotionsverfahren ihren Niederschlag gefunden hat. Die im Originaldruck 30 Seiten umfassende Dissertation setzt mit einem Proömium ein, in dem Spalding sein Verständnis der neueren Entwicklung der Metaphysik skizziert, um dann zwei Quaestiones zu bearbeiten. Die erste Quaestio widmet sich der Frage, „[v]trum Metaphysica plus damni, quam emo66 Vgl.
ebd., § XX, S. 25 [S. 23]. Lebensbeschreibung, S. 121 [S. 12].
67 Spalding,
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lumenti adferat Reipublicae Christianae? [ob die Metaphysik mehr Schaden oder Nützlichkeiten für das Christentum bewirkt?]“68; die zweite Quaestio fragt, „[v]trum possibilitas quorumdam, quae non existunt actu, sufficienter probari queat, & digna sit disquisitione? [ob die Möglichkeit irgendwelcher Dinge, die nicht in Wirklichkeit existieren, schlüssig bewiesen werden könne und einer Untersuchung würdig sei?]“69. Wie bereits angedeutet, kann es im Rahmen dieser Arbeit nicht der Anspruch der Analyse sein, den genauen Argumentationsgang der Dissertation zu rekonstruieren und diese in den Kontext der aktuellen metaphysischen Debattenlage einzuzeichnen. Vielmehr beziehen sich die die folgenden Überlegungen vornehmlich auf Spaldings prinzipielle Position, wie er sie im Proömium skizziert. Die Diskussion der beiden Fragen wird ausschließlich in Bezug auf die Frage zu berücksichtigen sein, inwieweit sich Spalding auf Christian Wolff und wolffianische Positionen bezieht. Das Proömium setzt mit einer allgemeinen Bewertung des derzeitigen Zustandes der Metaphysik ein. Während die Metaphysik seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und dem Beginn des 18. Jahrhunderts in eine Krise geraten sei und eher einem „febricitantis cerebri deliria [fieberndem Gehirndelirium]“70 glich, konnte sie ihren verdienten Stellenwert für die Wissenschaft wiedererlangen: „Digna profecto est … felicitas, qua pristino honori restitutam, & variis modis emendatam hodie videmus Metaphysicam [Es ist wirklich ein Glück, auf welche Weise wir die mit früherer Ehre restituierte und auf verschiedene Weise verbesserte Metaphysik sehen […]].“71 Zum Beweis dieser metaphysikgeschichtlichen Diagnose bezieht sich Spalding nun zunächst nicht unmittelbar auf Christian Wolff, sondern auf Worte des „Viri acutissimi, & ingeniosissimi JOANNIS CHRISTOPH. GOTTSCHED [des scharfsinnigsten und geistreichsten Mannes, Johann Christoph Gottsched]“72. Aus dessen Schrift „Oratio pro utilitate et necessitate metaphysicae“ von 1734 zitiert Spalding eine längere Passage, in der der Leipziger Professor für Poesie, Logik und Metaphysik die Repristination der Metaphysik fordert. Gottsched selbst hatte nur zwei Jahre vor Spaldings Dissertation unter dem Titel „Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit“73 ein Metaphysiklehrbuch vorgelegt, mit dem er in der Tradition seines Lehrers Christian Wolff steht. Damit wird deutlich, dass Spalding sein Interesse für Wolff auf dessen Schülerkreis ausweitet und mit Gottsched einen Vertreter kennenlernt, der für seine spätere literarische Tätigkeit noch bedeutsam werden wird (vgl. II.1). 68 Spalding, Dissertation, S. 43 [S. 5]. – Diese und die folgenden in eckigen Klammern gesetzten Übersetzungen stammen vom Verfasser vorliegender Arbeit. 69 Ebd., S. 61 [S. 20]. 70 Vgl. ebd., S. 42 [S. 4]. 71 Ebd., S. 41 [S. 3]. 72 Ebd. 73 Vgl. Gottsched, Weltweisheit.
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Im Kontext der Behandlung der ersten Quaestio wird deutlich, in welche Metaphysiktradition sich Spalding mit seiner prinzipiellen These, dass die Metaphysik für das Christentum nützlich sei, hineinstellt: „Nec desunt recentiori aeuo primi census Philosophi, qui notitiam DEO naturalem Metaphysicae ambitu complectuntur, quo sinter hic tantum nominabimus Renatvm Cartesivm, Christophervm Scheiblervm, Andream Rvdigervm & Christianvm Wolfivm, egregium academiae Marpurgensis hodie ornamentum [Nicht fehlen neuere Philosophen, die die natürliche Erkenntnis Gottes in der Metaphysik mit Eifer betreiben, von denen wir nur nennen Renatus Cartesius, Christoph Scheibler, Andreas Rüdiger und Christian Wolff, heute ein außerordentliches Schmuckstück der Marburger Akademie]“74. Die Aufzählung der Namen, v. a. die Nennung Christoph Scheiblers, macht deutlich, dass Spalding bewusst eine Kontinuität von der in Rostock durch Aepin sowie von dessen Schülern vermittelten Metaphysik und der neueren Metaphysik Christian Wolffs herstellen will. Denn beide stehen in der Tradition der Suarez-Scheiblerschen Metaphysik75, die sich u. a. dadurch auszeichnete, innerhalb der Metaphysik nicht nur die Ontologie, sondern neben Kosmologie und Psychologie auch die natürliche Theologie zu verhandeln. Demgemäß spielen in Wolffs Metaphysik die natürliche Theologie, insbesondere die Gottesbeweise, eine zentrale Rolle. Hier liegt auch der Grund, warum Spalding in der Metaphysik Wolffs, Gottscheds und anderer ein Bollwerk gegen den aufkommenden Atheismus erblickt und an ihnen den Nutzen der Metaphysik für die christliche Religion demonstrieren kann. Spaldings Bezugnahme auf Christoph Scheibler fungiert also einerseits dazu, seinen Rekurs auf Christian Wolff vor den Rostocker Lehrern sachlich zu rechtfertigen und damit der allgemeinen Skepsis seiner Universitätslehrer gegenüber der rationalistischen Metaphysik Wolffs das Fundament zu entziehen. Andererseits ist es ein Indiz dafür, dass Spaldings „Bekehrung“ zu Wolff und zum Wolffianismus nicht etwa einen strikten Bruch mit seiner Rostocker Metaphysikausbildung bedeutete und dass er um diese Kontinuität auch selbst wusste. Dies spricht auf Seiten des Promovenden für ein hohes Kenntnismaß der Geschichte der protestantischen Schulmetaphysik, das sich immer wieder in der Dissertation zeigt. In § III stellt er bspw. mit den Namen Christoph Scheiblers, Johannes Weiss’ und Andreas Schmidts wiederum nur solche Vertreter der protestantischem Metaphysik zusammen, welche die natürliche Theologie zur Metaphysik rechneten. Der Jenenser Andreas Schmidt war zudem Lehrer von Aepin, womit Spalding eine subtile wie geschickte Ver-
74 Spalding,
Dissertation, S. 43 [S. 5]. Entwicklung der Barockscholastik und protestantischen Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts vgl. Lewalter, Metaphysik des 17. Jahrhunderts, S. 21ff; 60 ff. – Ulrich Barth stellt dies für Wolff ausführlich dar (vgl. Barth, Theologia naturalis, S. 146 ff.; v. a. S. 154 f.). 75 Zur
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bindung zu seinem vormaligen Rostocker Professor herstellt und ihn indirekt in eine Entwicklungslinie mit Christian Wolff rückt.76 In der Dissertation schlägt sich nun erstmals Spaldings Studium Wolffs und der theologischen Wolffianer77 nieder und es wird ersichtlich, welche Werke er von diesen kannte. Im Hinblick auf Wolff ist zunächst bemerkenswert, dass Spalding die Deutsche Metaphysik von 172078 kannte. Darauf wird im Zusammenhang der Rekonstruktion des Empfindungsbegriffs Wolffs Bezug zu nehmen sein, die sich vornehmlich auf Wolffs Deutsche Metaphysik bezieht (vgl. III.1). Des Weiteren finden Wolffs „Monitum an Commentationem Luculentam“ von 1723 und die „Anmerckungen“ zur Deutschen Metaphysik von 1724 Erwähnung79, die Spalding mithin kannte, wie bereits im Kontext der Analyse der Disputation ausgeführt wurde (vgl. I.2.1). Fassen wir zusammen: Hinsichtlich Spaldings früher Bildungsgeschichte konnte gezeigt werden, dass sein Wolffianismus entgegen seiner eigenen retrospektiven Deutung keinen totalen Bruch mit seiner universitären Ausbildung bedeutete, sondern mit dieser in einer metaphysikgeschichtlichen Traditionslinie stand. Dies betraf vor allem die Stellung der natürlichen Theologie in der Metaphysik und deren daraus erwachsende Funktion einer begrifflichen Grundlage jedweder Christentumsapologetik. Hatte man sich in der Forschung bis dato eher treu an Spaldings autobiographischer Interpretation dieser Entwicklungsphase orientiert80, konnte die Analyse der Dissertation deutlich machen, dass sich Spalding durchaus der inneren Vermittelbarkeit der Rostocker Lehrtradition mit der neuen Metaphysik Wolffs und des theologischen Wolffianismus bewusst war. Dass Spalding seiner Rostocker Universität verbunden war, zeigt eben dieses Vermittlungsbemühen in der Dissertation. Diese hier noch eher unterschwellige Ambition entwickelt sich in Spaldings erster Publikation als freier Literat, der wir uns im Folgenden widmen, zu einem regelrechten Missionierungseifer.
2.3 Die Bittschrift (1736/38) In der Zeit nach Abfassung der Dissertation reift bei dem jungen Gelehrten die Idee, sich als freier Schriftsteller zu versuchen: „[D]ie Ehre, ein Schriftsteller zu seyn, und als ein solcher gelobt zu werden, hatte für mich etwas sehr 76 Vgl. auch Spalding, Dissertation, S. 64 ff. [S. 23 ff.]. – Hier stellt Spalding den Wolffianer Bilfinger in eine Reihe mit Abraham Calov (1612–1686), Christoph Scheibler und Martin Albrich (1630–1694). 77 Spalding bezieht sich hier auf Georg Bernhard Bilfingers Schriften „De origine et permissione mali“ von 1724 und „Dilucidationes philosophicae de Deo, anima humana, mundo“ von 1725. 78 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik. 79 Vgl. Spalding, Dissertation, S. 62 [S. 21]. 80 Vgl. Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXVIII.; vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 31.
80
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anziehendes. Ich beschäftigte mich mit allerley kleinen Aufsätzen …“81. Dieser Beschluss dokumentiert sich in den folgenden Jahren bis zur Bestimmungsschrift (1748) in diversen Aufsätzen und Übersetzungsprojekten. Den Anfang dieser „Journalschriftstellerei“82 markiert eine emphatische Apologese der Philosophie Christian Wolffs. Zwei Jahre nach seiner Dissertation erscheint ein zwanzigseitiger Text mit dem merkwürdigen Titel: „Der Wolffischen Philosophie Bittschrift an die Academie zu R** ans Licht gestellt von Einem Liebhaber der Wahrheit“83. Dieser Wahrheitsliebhaber ist Spalding, und er hatte die Bittschrift wahrscheinlich bereits 1736 oder 1737 verfasst, einem Rostocker Verleger zugesandt, von dem die dortige Theologische Fakultät das Manuskript übernahm. Es ist daher sehr wahrscheinlich und gilt in der Forschung als unstrittig, dass mit der ‚Academie zu R**‘ die Rostocker Universität gemeint ist.84 Über einen Freund geriet dann ein Exemplar an einen namentlich nicht bekannten Verlag in Frankfurt/Leipzig, der den Text 1738 publizierte.85 Die Interpretation des Textes steht vor einer gewissen Schwierigkeit, denn Spalding bedient sich in dieser „launige[n] literarische[n] Etüde“86 des literarischen Mittels der Personifikation, indem er die Philosophie Wolffs höchst selbst ihre Bitte um Aufnahme an die Universität Rostock richten lässt. Es stellt sich also die Frage, ob sich Spalding mit den Thesen und Argumenten in Übereinstimmung weiß, die er der Wolffschen Philosophie in die Feder diktiert. Sicherlich kann mit einer Identifikation mit der hier vorgetragenen Apologie gerechnet werden, da sie Spaldings vornehmliche Motivation zu diesem publizistischen Unternehmen darstellen dürfte. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Spalding mit der Bittschrift sein eigenes Verständnis der Philosophie Wolffs vorträgt. Weder wird es Anspruch der folgenden Analyse sein, Spaldings implizite Wolffinterpretation nach ihrer Sachgemäßheit zu beurteilen noch ausführlich auf die entsprechenden Referenztheorien bei Wolff selber Bezug zu nehmen. Vielmehr soll rekonstruiert werden, welchen Theorieelementen Spalding seine Wolffapologetik widmet und welches Theologie-, Religions‑ und Christentumsverständnis diese impliziert. Zunächst lässt Spalding die Wolffsche Philosophie ihr Bedauern darüber Ausdruck verleihen, dass ihr von den Rostocker Gelehrten „Feindschaft“87 entgegengebracht wird. Auch wenn diese unbegründet sei, so billige sie doch das Anliegen der Rostocker, „alles das zu verabscheuen, was wider die richtigen Wahrheiten 81 Spalding,
Lebensbeschreibung, S. 122 [S. 13]. Leben und Werke, S. 56. 83 Vgl. Spalding, Bittschrift. 84 Vgl. Spalding, Kleinere Schriften 1, S. 434 [Erläuterungen]. 85 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 122 [S. 13]. 86 Beutel, Johann Joachim Spalding, S. 229. 87 Spalding, Bittschrift, S. 77 [S. 3]. 82 Nordmann,
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unserer Religion und wider bewährte Meinungen alter Gottes-Gelehrten streitet […] Was ist löblicher, als ein reiner Eyfer für die Religion? Was ist absonderlich zu unsern Zeiten vortrefflicher? Je mehr der Schwarm eingebildeter Frey-Geister zunimmt, desto mehr soll auch billig die Standhafftigkeit zunehmen, diesen Leuten ihre Thorheit aufzudecken.“88 Im Kampf gegen die aufkommende Religionskritik erklärt sich die Philosophie Wolffs mit den Rostockern einig. Spalding lässt also von vornherein keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er Wolff nicht als Religions‑ und Christentumsgegner versteht, sondern als deren Apologeten. Auch wenn der Begriff der ‚Frey-Geister‘ nicht näher bestimmt wird, so subsummiert Spalding darunter diejenigen, die er genauer als „Irreligioniste[n]“ und „Atheist[en]“89 bezeichnet. Spalding lässt die Philosophie Wolffs darauf Bezug nehmen, dass ein „Beschuldigen der Atheisterey“ auch gegen diese vorgebracht wurde. Dieser Vorwurf wird abgewendet. „Führe ich von GOtt ab, und öfne ich die Thüre zur Atheistery? Eine Anklage, die gar zu wichtig und darum desto abscheulicher ist, weil sie durch nichts bewiesen worden.“90 Wolff sei nicht nur kein Atheist und er streue nicht „den Samen der Unglaubens und der Gottlosigkeit“91 aus, sondern streite mit seinem metaphysischen Begriff eines höchsten und notwendigen Wesens gegen jedweden Atheismus. Im Kontext dieser Argumentation ist zweierlei bemerkenswert. Hatte sich bereits in der Disputation angedeutet, dass Spalding den Begriff der natürlichen Religion dem Begriff der Theologia naturalis vorzieht, so bestätigt sich hier dieser Befund. Obwohl es Spalding gerade in der Bittschrift mit der Verteidigung des demonstrativischen Gottesbeweises der Sache nach um Wolffs Kernstück der natürlichen Theologie zu tun ist, verwendet er auch hier vornehmlich den Begriff der Religion92, den der natürlichen Theologie hingegen gar nicht. Sein Interesse richtet sich also mithin nicht so sehr auf die rationale Begründung eines metaphysischen Gottesbegriffes, sondern vielmehr auf deren positive Funktion für die Religion. Dies wird auch deutlich, wenn Spalding die Wolffsche Philosophie sich rühmen lässt: „Niemand hat den Unglauben und die stoltze Thorheit der Atheisterey mit stärckeren Waffen, als ich, bestritten.“93 Nicht nur in der rationalen Begründung der natürlichen Theologie, sondern auch in der Verbesserung der Frömmigkeit scheint also nach Spalding Wolffs ganzes apologetisches Anliegen innerhalb der Theologia naturalis zu liegen. Sodann verdient Spaldings epistemologische Qualifizierung von Wolffs Demonstrationsmethode eine nähere Erläuterung. Seine Beweise seien „Sonnen
88 Ebd.,
S. 77 [S. 3 f.]. S. 78 [S. 4]. 90 Ebd., S. 82 [S. 8]. 91 Ebd., S. 82 [S. 8]. 92 Vgl. ebd., S. 77 f. [S. 3 f.] 5×. 93 Ebd., S. 91 [S. 16]. 89 Ebd.,
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klar“ und dürfen über „keine Undeutlichkeit“94 verfügen. Allein die Demonstration könne deutliche Erkenntnis von der Existenz Gottes generieren. Dies bestätigt auch die Entgegensetzung seines Beweisverfahrens gegenüber enthusiastischer Schwärmerei: „Ein Anhänger von mir [scil. Wolffs Philosophie; G. R.] hat nicht die Gefahr, ein Enthusiast zu werden. Er lernet in allen Dingen und in allen Begriffen Deutlichkeit suchen. Die Enthusiasterey liebet die Dunckelheit, und ist ein Dunst=Cörper, der bey dem Lichte verschwindet.“95 Wolff begreife also den erkenntnistheoretisch oberen Bereich der deutlichen Erkenntnis als alleinigen Grad von Erkenntnis, der jeden Zweifel ausräumen und unbedingte Gewissheit generieren kann. Damit sind implizit bestimmte Bereiche der unteren Erkenntnisvermögen als für die Theologia naturalis unzureichende Mittel ausgeschlossen, die dem notwendigen Rationalitätsgrad – nämlich der Deutlichkeit der Demonstration – nicht entsprechen. Dies betrifft u. a. die undeutlichen und damit nur klaren und verworrenen Empfindungen96, die ohnedies bei Wolff keine Relevanz für die Moralität und Gotteserkenntnis haben. Als Quelle stand Spalding hierfür Wolffs Deutsche Metaphysik von 1720 zur Verfügung, die er nachweislich bereits im Zusammenhang seiner Dissertation zur Kenntnis genommen hatte.97 Es wird sich zeigen, dass sich Spaldings Bewertung der nichtdeutlichen bzw. durch Empfindung vermittelten moralischen und religiösen Erkenntnis im Kontext seiner Rezeption der poetisch-ästhetischen Debatten und seiner Shaftesburyrezeption wandeln wird. Eine zweite Gemeinsamkeit erblickt Spalding im Kampf gegen den Pietismus, ohne diesen explizit zu benennen, insonderheit in dessen Kritik an der Metaphysik und der natürlichen Theologie. „Man hat sich ohngefähr seit einem halben Jahrhundert mit dem abgeschmacktesten Einwurffe geschleppet, daß es bey der Seligkeit auf die Beschaffenheit der Erkenntnis und der Begriffe von göttlichen Dingen gar nicht ankomme: Ein untrügliches Merckmahl, daß man wider die Vernunfft handelt.“98 Spalding hatte bereits während seines Studiums von seinen Rostocker Lehrern die „Pietisten und Unionisten verabscheuen“99 gelernt, wie er in seiner Autobiographie ironisch bemerkt. Schon in seiner Dis94
Ebd., S. 83 [S. 9]. S. 92 [S. 17]. 96 Vgl. zu Wolffs Empfindungsbegriff vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 194–234; §§ 749–831. – Dass Spalding Wolffs Konzeption der Empfindung zur Zeit der Abfassung der Bittschrift bereits kannte, machen seine diesbezüglichen Ausführungen deutlich (vgl. Spalding, Bittschrift, S. 89 [S. 14 f.]). 97 Vgl. Spalding, Dissertation, S. 62 [S. 21], vgl. auch Spalding, Kleinere Schriften 1, S. 433 [Erläuterungen]. 98 Spalding, Bittschrift, S. 78 [S. 4 f.]. 99 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 117 [S. 4]. – Neben der kontroverstheologischen Polemik gegen die Pietisten standen in Rostock nach Spaldings Aussage auch die sog. Unionisten im Visier der Lutheraner. Mit diesen sind diejenigen Theologen gemeint, die im Sinne der Helmstedter Irenik eines Johann Calixt einen dogmatischen Ausgleich zwischen Luthertum und Reformiertentum herstellen wollten. 95 Ebd.,
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sertation findet sich eine in Übereinstimmung mit dem kontroverstheologischen Geist der Rostocker Universität sich wissende kritische Auseinandersetzung mit der Metaphysikkritik des Spiritualismus, Pietismus und Indifferentismus eines Johann Konrad Dippel (1673–1734), Joachim Lange (1670–1744) und Gottfried Arnold (1666–1714), auf die er sich in der Dissertation namentlich bezieht.100 Auch Christian Wolff hatte, wie bereits oben angedeutet (vgl. I.2.1), während seiner Zeit in Halle mit seiner Metaphysik die vehemente Kritik seiner pietistischen Kollegen, besonders von Joachim Lange, auf sich gezogen, woraufhin Wolff schließlich Halle 1723 verlassen musste. Auf diesen Konflikt nimmt der Text denn auch explizit Bezug.101 Spalding wusste also um die grundsätzliche Übereinstimmung der Wolffschen Metaphysikkonzeption und der metaphysischen Lehrtradition in Rostock sowie um deren gemeinsamen daraus erwachsenen Auseinandersetzungen mit dem Halleschen Pietismus. An diesem Punkt setzt Spalding in seiner Schrift an. Er beruft sich in seiner Apologie argumentativ geschickt auf diesen gemeinsamen pietismuskritischen Standpunkt und appelliert gegenüber den Rostockern an dieses prinzipielle Einvernehmen. Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung im Kampf gegen Atheismus und Pietismus mangele es nach Meinung Spaldings jedoch den Rostocker Verteidigern der wahren Religion an einem: „Ich will es kurz sagen: Es mangelt daran, daß Sie mich [scil. Philosophie Wolffs; G. R.] aufnehmen.“102 Während Wolff in vielen Universitäten freundliche Aufnahme gefunden habe, ist die Rostocker Universität die einzige, die „einen Abscheu vor mir [scil. Philosophie Wolffs; G. R.]“103 hat. Diese Abscheu der Rostocker führt Spalding neben dem Atheismusverdikt auf vier weitere Vorwürfe zurück, die sich allesamt gegen diverse Theoreme von Wolffs Metaphysik richten, für unseren Erörterungszusammenhang aber keiner genaueren Analyse bedürfen. Es sind samt und sonders solche Vorwürfe, die auch bereits Wolff in der „Luculenta commentatio“ gegen die Halleschen Pietisten abwehrte und die Spalding offenkundig aus zwei einschlägigen Schriften Wolffs kannte.104 Spalding lässt schließlich die Philosophie Wolffs die Schlussfolgerung ziehen, dass alle gegen sie vorgebrachten Vorwürfe auf falschen Schlussfolgerungen beruhen. Daher bemüht sie sich nun, von der Rostocker Akademie nicht nur für nicht schädlich, sondern für nützlich erachtet zu werden, denn: „Niemand hat den Unglauben und die stolze Thorheit der Atheistery mit stärckeren Waffen, 100 Vgl.
Spalding, Dissertation, S. 51 f. [12 f.]. Spalding, Bittschrift, S. 80 [S. 6]. 102 Ebd., S. 79 [S. 5]. 103 Ebd., S. 80 [S. 6]. 104 Spalding zitiert bereits in seiner Dissertation (vgl. Spalding, Dissertation, S. 62 [S. 21]) Wolffs „Monitum ad commentationem luculentam“ (vgl. Wolff, Monitum) und Wolffs „Anmerckungen“ zur Deutschen Metaphysik (vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik (Anmerkungen)). 101 Vgl.
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
als ich, bestritten“105. Mit seiner rationalen Metaphysik und Theologie verfüge er jedoch nicht nur über ein Bollwerk gegen den aufkommenden Atheismus, sondern zugleich gegen jedweden religiösen Enthusiasmus.106 Des Weiteren lässt Spalding die Philosophie Wolffs sich noch der kritischen Frage nach ihrem Begriff der Offenbarung und des Wunders zuwenden. Nach Wolff seien übernatürliche Offenbarungen Gottes möglich, insofern sie übervernünftig, jedoch nicht widervernünftig sind. Dies betreffe bspw. die „so nothwendige Lehre von dem Mitler-Amte und der allervollkommensten Genugthuung unsers theuresten Heilandes“107. Als übervernünftig und übernatürlich sei auch die Geistwirkung bei der Bekehrung von Menschen zu beurteilen, die aufgrund der Außerordentlichkeit als Wunder zu bezeichnen sei. Auch mit diesem Begriff von Offenbarung und Wunder weiß sich die Philosophie Wolffs mit den Lehren der Rostocker Gelehrten einig. Die personifizierte Philosophie Wolffs zieht nun zu Ende der Bittschrift die Schlussfolgerung, dass ihr von der Rostocker Akademie ein gebührender „Großmuth“ entgegengebracht werden sollte, den sie aufgrund ihrer Verdienste im metaphysischen Bemühen gegen den Atheismus und pietistischen Enthusiasmus verdiene. Zusammenfassend sollen vier Aspekte hervorgehoben werden. Zunächst beginnt mit der Bittschrift eine ganze Reihe von kleineren Publikationen, in der sich Spaldings publizistische Ambition niederschlägt und die sich auf unterschiedlichste Themenbereiche kaprizieren. Waren die Disputation und die Dissertation formal noch im Paragraphenstil des gelehrten Traktates gehalten, so zeigt sich in der Bittschrift erstmals Spaldings literarischer Gestaltungswille. Sodann bestätigt sich das in der Dissertation andeutende Anliegen Spaldings, Wolffs Metaphysik in ihrer religions‑ und christentumsapologetischen Valenz zu würdigen und gegen falsche Vorwürfe vonseiten der späten Orthodoxie wie auch des Pietismus zu verteidigen. Genau darin gründet auch Spaldings Verwendung des Begriffsfeldes der natürlichen und christlichen Religion. Dass sich Spalding der gemeinsamen metaphysikgeschichtlichen Wurzeln der Rostocker Metaphysiktradition und der Metaphysik Wolffs bewusst war, wie er bereits in der Dissertation signalisiert hatte, wird hier nicht explizit, jedoch implizit durch die Bittschrift selber sowie sein Insistieren auf deren gemeinsames apologetisches Interesse deutlich. Zum Dritten bezieht sich Spalding in seiner Begründung der Rationalität von Religion und Christentum auf Wolffs Konzeption einer Vermittlung zwischen und einer Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung. Schließlich deutet sich an, dass Spalding Wolffs Konzeption der Erkenntnisver-
105 Spalding,
Bittschrift, S. 91 [S. 16]. ebd., S. 92 [S. 17]. 107 Ebd., S. 93 [S. 18]. 106 Vgl.
2. Christentumsapologetik und Wolff-Rezeption zwischen 1735 und 1740
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mögen inklusive seines Empfindungsbegriffs im Rahmen seiner Wolffstudien zur Kenntnis genommen hat.
2.4 Die Glückwunsch-Schrift (1738) In demselben Jahr, in dem Spaldings Bittschrift publiziert wurde, schreibt Spalding einen weiteren Aufsatz. Dieser erscheint zunächst unter dem Titel „Glückwunsch-Schrift an Herrn Zach. Dav. Schulemann aus Sültze i.M. wegen der ihm neulich in Rostock öffentl. beygel. Magisterwürde“ in Greifswald.108 Der Text wurde 1741 unter dem Titel „Die Vortheile der Herrschaft einer gesunden Weltweisheit, in einem Träume, an den Hrn. M. Zachar. David Schulemann“ in den von Johann Joachim Schwabe herausgegebenen „Belustigungen des Verstandes und des Witzes (Verlag Breitkopf, Leipzig) wiederabgedruckt, der auch in die Kritische Spalding-Ausgabe eingegangen ist.109 Auf diesen publizistischen Vorgang wird in Abschnitt II.1.1.2 ausführlicher zurückzukommen sein. – Es ist an dieser Stelle kritisch zu fragen, ob die Verortung des Textes in der Kritischen Spalding-Ausgabe gemäß dem Erscheinungsjahr von 1741 der Maxime der chronologischen Reihenfolge der Edition gerecht wird. Die hier gewählte Positionierung direkt nach der Bittschrift begründet sich dreifach: Zunächst kann nach der Schilderung in der Lebensbeschreibung als sicher gelten, dass der Wiederabdruck mit dem Text des Druckes von 1738 identisch ist.110 Deshalb ist sodann im Sinne der chronologisch-genetischen Rekonstruktionsmethode das Erscheinungsdatum von 1738 und damit die Entstehung des Textes in demselben Jahr zu berücksichtigen. Es begründet sich schließlich inhaltlich über die sachliche Nähe zur Bittschrift, die die Glückwunsch-Schrift in den Kontext der Wolff-Rezeption rückt. In der Schrift reagiert Spalding auf die Verleihung der Magisterwürde an einen gewissen Zacharias David Schulemann, der Spalding vermutlich an der Rostocker Universität beigewohnt hat. Von eben diesem Herrn Schulemann berichtet Spalding in seiner Lebensbeschreibung Folgendes: „Ein guter Freund, der sel. Hr. Schulemann, der nachher 1743 als Assessor der philosophischen Fakultät und Collegiat des kleinen Fürsten-Collegii zu Leipzig starb, erhielt eine Abschrift davon [scil. der Bittschrift der Wolfischen Philosophie]; von ihm müssen dergleichen in andere Hände gekommen seyn; und darauf sah ich den Aufsatz gedruckt.“111 Über die Motive der Glückwunsch-Schrift erfahren wir aus der Lebensbeschreibung sowie aus der Schrift selber nichts. Jedoch kann aus Schulemanns Veröffentlichungsbemühung bezüglich der Bittschrift Spaldings 108 Dieser Separatdruck von 1738 ist bibliographisch ohne Angabe des Verlages verzeichnet und nicht mehr auffindbar (vgl. Spalding, Kleinere Schriften 1, S. XI [Einleitung]). 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 124 [S. 16 f.]. 111 Ebd., S. 122 [S. 13].
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wie auch aus dem Inhalt des Glückwunschschreibens geschlossen werden, dass beide die Begeisterung für Christian Wolffs Metaphysik verband. Zunächst stellt sich der Text der Gattung nach formal als Brief dar: Er redet Schulemann als „Werthester Freund!“112 an. Des näheren enthält der Brief als Hauptteil eine ausführliche Schilderung einer „im Zeitgeschmack gehaltene[n] Traumerzählung“113. Zuvor exponiert Spalding in einer kurzen Einleitung den sachlichen Anlass und seine These. Die Lektüre einer neuen „Streitschrift“ habe ihn zu der These veranlasst, dass nämlich „kein Krieg weniger rühmlich, als derjenige, welcher wider die Wahrheit geführet wird“114, sei. Das Problem bei der Beurteilung dieses Krieges bestehe darin, dass sich alle beteiligten Kriegsparteien auf der Seite der Wahrheit wähnen und ihre Standpunkte mit Eifer und Überzeugung vortragen. Dieses „Einnehmende in dem Vortrage“ mache es dem Leser bei einer mangelnden eigenen „deutlichen Ueberlegung“ und im Zustande „undeutlicher Gedanken“115 unmöglich, den Wahrheitswert der Standpunkte zu eruieren. Zur Veranschaulichung seiner These schildert Spalding einen wirklichen oder fiktiven Traum, in dem er eine bizarre Szenerie vorführt. Bevor der Gedankengang skizziert wird, sei angemerkt, dass Spalding auch hier wie bereits in der Bittschrift von der epistemologischen Differenz deutlicher und undeutlicher Erkenntnis wie auch von der Prävalenz deutlicher Begriffe ausgeht. In einer unbestimmten neblig-dunklen Atmosphäre kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen personifizierten religiösen, charakterlichen und wissenschaftlichen Einstellungen und Haltungen. Damit bedient sich Spalding wie bereits in der Bittschrift des literarischen Mittels der Personifikation. Zunächst tritt der Unglaube auf, gegen den in der Dunkelheit und „bey dem Mangel des Lichts“116 auch die Standhaften keine Gegenwehr leisten können. Verschwistert mit der Ruchlosigkeit führe der Unglaube „zu der äußersten Verwirrung“117. Dagegen zu kämpfen sei die geschwächte „Liebe zur Wahrheit“ nur fähig mit der Hilfe des Lichtes, das von der „Weltweisheit“ ausgehe: „Ich erfreute mich, daß es um uns immer heller ward, und meine Hoffnung nahm zu, daß ich den Ursprung dieser Klarheit völlig entdecken würde. Ich hatte nicht lange vergeblich zu hoffen. Ich erblickte die Weltweisheit in der vortrefflichen Gestalt, die ich von ihr vermuthete.“118 112 Spalding,
Glückwunsch-Schrift, S. 117 [S. 145].
113 Nordmann, Leben und Werke, S. 52. – Dies wird bereits im Titel des Wiederabdrucks von
1741 in den „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ bzw. in der Kritischen Spalding-Ausgabe kenntlich gemacht: „Die Vortheile der Herrschaft einer gesunden Weltweisheit, in einem Träume, an den Hrn. M. Zachar. David Schulemann“ (Spalding, Glückwunsch-Schrift, S. 117). 114 Spalding, Glückwunsch-Schrift, S. 117 [S. 145]. 115 Ebd., S. 117 f. [S. 146]. 116 Ebd., S. 119 [S. 148]. 117 Ebd., S. 120 [S. 149]. 118 Ebd., S. 120 f. [S. 159 f.].
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Es schickt sich nun eine Schar bestehend aus Bosheit, Hass, Einfalt, Neid und Argwohn an, gepaart mit Leichtgläubigkeit, Vorurteil und Schwärmerei gegen die wahre Weltweisheit aufzulehnen119 und unter dem Deckmantel „der Aufrichtigkeit, des Mitleidens, der Gottesfurcht und der guten Vernunft“120 das Licht der Weltweisheit wieder zu vernebeln. Jedoch: „Die Weltweisheit schüttelte einigemal ihre Fackel, und solche brannte darüber so helle, daß das heftigste Arbeiten ihrer Widersacher nichts dagegen helfen wollte.“121 Die Tugend, Weisheit und Glückseligkeit des Staates folgten auf den Sieg der Weltweisheit. Daneben wurden auch die „Dichtkunst und die Beredsamkeit“ befördert, indem sie in dem neuen Licht alles „Abgeschmackte“ und die „seltsamen Zierrathen“ von sich warfen, „bis man sie in einer ganz natürlichen Tracht sah, wodurch ihre Schönheit um ein großes erhöhet ward“122. Auf welche rhetorischen und poetologischen Rezeptionen der neueren Metaphysik sich Spalding bezieht, wird zwar nicht explizit von ihm benannt, jedoch ist es sehr wahrscheinlich, dass Spalding vorrangig die wolffianisch geprägte Poetologie bspw. eines Gottsched meint, den er spätestens seit seiner Dissertation kannte. Der Leipziger Wolffschüler hatte in seiner Dichtkunst von 1729/30123 und in seiner Metaphysik von 1733/34124 auf der Grundlage Wolffs eine eigene Metaphysik und eine eigene Theorie der Dichtung entworfen. Zudem waren bereits 1735 die „Meditationes philosophicae de nonullibus ad poema pertinentibus (Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes)“ des bedeutenden Wolffschülers Alexander Gottlieb Baumgarten in Halle/Saale erschienen, die ihrerseits auf der Basis der metaphysischen Konzeption der unteren Erkenntnisvermögen bei Wolff aufruhten. Ob Spalding Baumgarten und diese Meditationes zum Zeitpunkt der Glückwunsch-Schrift kannte, ist nicht zu eruieren. Der Sieg der Weltweisheit gegen den Unglauben verhalf jedoch vor allem dem Glauben und der „geoffenbarte[n] Religion“ wieder zur Geltung: „Die geoffenbarte Religion befand sich auf einem erhabenen Orte, wohin ich bisher meine Augen noch nicht gerichtet hatte. Das Licht der Weltweisheit war mir behülflich, den Weg dahin zu finden, und zugleich auch schon etwas von ihrer vollkommenen Gestalt zu entdecken.“125 Mit der ‚vollkommenen Gestalt‘ spielt Spalding sicherlich auf das Christentum an, insofern seine Lehren und Praktiken durch das Licht der Metaphysik geläutert sind. Es geht ihm vornehmlich um deren „Stärke und Nutzbarkeit“ für den „heiligsten Glauben in seiner Vortrefflichkeit“126, d. h. den Wert der Metaphysik für die christliche Religion. Spaldings 119 Vgl.
ebd., S. 121 f. [S. 150 f.]. S. 122 [S. 152]. 121 Ebd., S. 123 [S. 152]. 122 Ebd., S. 124 [S. 154]. 123 Vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst. 124 Vgl. Gottsched, Weltweisheit. 125 Spalding, Glückwunsch-Schrift, S. 124 f. [S. 155]. 126 Ebd., S. 125 f. [S. 156]. 120 Ebd.,
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Metaphysikapologie begründet sich also auch in dieser Schrift über deren Nutzen für die Religion resp. christliche Religion. Am Schluss dieses „popularphilosophischen Gedankenspiel[s]“127 verlässt Spalding die Ebene der Traumschilderung und redet den Freund noch einmal direkt an. Spalding bekundet seine Hoffnung, dass der Weltweisheit wieder die Geltung verschafft wird, die ihr gebührt. Damit nimmt die Glückwunsch-Schrift den thematischen Faden der Dissertation und der Bittschrift wieder auf und hält in einem wiederum anderen literarischen Gewand erneut ein Plädoyer für die positive Funktion der neueren Metaphysik für die Religion allgemein und das Christentum im Besonderen. Wen Spalding mit den „vortrefflichen Männern“ dieser Metaphysik, denen es beizustehen gilt, meint, lässt sich nur indirekt über die Dissertation und die Bittschrift rekonstruieren, nämlich vornehmlich Christian Wolff, aber auch Gottsched und die in ihrer Tradition stehenden theologischen Wolffianer. Auch hier ist, wie bereits in den vorangegangenen einschlägigen Texten, die Stoßrichtung eine doppelte: Einerseits richte sich die neuere Metaphysik gegen das „verwegene Geschrey der Spötter, mit welchem sie über die Lehren unseres göttlichen Erlösers herfahren“, andererseits gegen die „Verwirrung der neuen Heiligen“. Sein Fazit lautet: „Ein Ungläubiger thut vielleicht der wahren Religion nicht mehr Schaden, als ein Schwärmer. Denn dieser machet die Einfältigen zu Schwärmern, und die etwas Vernünftigen zu Ungläubigen.“128 Was Spalding mit den Spöttern und Ungläubigen bzw. den Heiligen und Schwärmern konkret vor Augen hat, lässt sich auch nur allgemein und vermutungsweise mit dem Pietismus sowie mit religions‑ und christentumskritischen Optionen deistisch-aufklärerischer Publizistik in Zusammenhang bringen. Beide seien sich in der irrigen Ansicht einig, dass „Vernunft und Offenbarung einen ewigen Streit“ kämpfen. Dagegen wendet sich Spaldings vehemente Apologie der neueren Metaphysik, die sich auf der religions‑ resp. christentumstheoretischen Prämisse begründet, dass Christentum und Vernunft zum einen vereinbar sind und dass zum anderen die christliche Religion auf der natürlichen Vernunft aufruhe und diese erhöhe: „Das Christenthum fordert nicht von uns, daß wir aufhören sollen, vernünftig zu seyn; sondern es erhöhet unsere natürlichen Kräfte.“129 Zusammenfassend verdienen fünf Aspekte Erwähnung: Zum ersten erweist sich Spalding wie bereits in der Bittschrift als experimenteller und einfallsreicher Literat, der sich mit der Gattung des Briefes und der Traumschilderung literarischer Formen bedient, die in der nichtakademischen Publizistik der Aufklärung seiner Zeit üblich zu werden begannen. Sodann kann die Traumschilderung und damit der Hauptteil des Textes als ein Drama mit aufklärungsprogrammatischer 127 Nordmann,
Leben und Werke, S. 52. Glückwunsch-Schrift, S. 126 [S. 156]. 129 Ebd., S. 126 [S. 157]. 128 Spalding,
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Emphase bezeichnet werden. Besonders die Semantik von Nebel, Dunkelheit vs. Licht und Klarheit spiegelt Spaldings Haltung als eines Apologeten der Aufklärung wider, wie sie in seinen vorherigen Texten nicht anzutreffen war. Spätestens seit diesem Text ist Spalding als Vertreter der theologischen Aufklärung anzusprechen, was sich mit der Bittschrift allererst angedeutet hatte. Diese Aufklärung verspricht sich der Skribent zum Dritten – wie bereits in der Dissertation und in der Bittschrift – von der neueren Metaphysik eines Christian Wolff und seiner Schule. Diese verdiene viertens ihren Geltungsanspruch durch ihre doppelte Stroßrichtung: Einerseits entziehe sie überzogenen religions‑ und christentumskritischen Positionen die rationale Grundlage, indem sie „Vernunft und Offenbarung in voller Harmonie sieht“130; andererseits helfe sie damit, die Schwärmereien des Pietismus vernünftig zu überprüfen. Schließlich sei notiert, dass Spalding auch in der Glückwunsch-Schrift Kenntnis von Wolffs Epistemologie und von der Rezeption der neueren wolffianisch imprägnierten Poetologie andeutet.
2.5 Das Schreiben über die Staats-Gottseligkeit (1740) 1740 verfasst Spalding einen Text unter dem Titel „Schreiben eines Pommerschen Geistlichen an eine vornehme Frau von der Staats-Gottseligkeit“131. Auch wenn der Autor selbst in der Retrospektive sein literarisches Produkt abschätzig beurteilt132, bietet das Schreiben einen Einblick in Spaldings Bildungsgeschichte dieser Zeit. Spalding richtet an eine vornehme – meint hier adlige – Frau ein Schreiben, in dem er diejenigen Erscheinungsformen von Religion und Christentum anprangert, die einzig auf Klugheitskalkül und Ehrsucht beruhen. Der biographische Hintergrund dürfte durch Spaldings gesellschaftliche Stellung als Hauslehrer verständlich sein: Der aus einem kleinstädtischen Pastorenhaushalt stammende Kandidat wird in die höheren Kreise des vorpommerschen und mecklenburgischen Landadels eingeführt, wo er auch an Gesellschaften und Empfängen teilgenommen haben dürfte. Dabei scheinen ihn – wie sein Schreiben vermuten lässt und wie im Folgenden deutlich wird – vornehmlich die weiblichen Mitglieder dieses Standes interessiert zu haben, wenigstens was die Beobachtung und Bewertung ihrer Frömmigkeit anbelangt. Vor dem Hintergrund dieser neuen Erfahrungen unternimmt Spalding als kritisch-distanzierter Beobachter den Versuch einer Analyse der Frömmigkeitsgestalt vornehmer Damen. Hinsichtlich dieser schichten‑ und geschlechtsspezifischen Religiosität stellt Spalding zeitdiagnostisch eine zweifache Entwicklung fest. Zum einen scheine 130 Nordmann,
Leben und Werke, S. 53. Schreiben eines pommerschen Geistlichen an eine vornehme Frau von der Staats-Gottseligkeit, Wahrheitsburg. Veritophilus 1740 (Spalding, Staats-Gottseligkeit, S. 96). 132 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 123 [S. 15]. 131 Spalding,
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
sich ein Wandel im Verhältnis von Wohlstand und Frömmigkeit abzuzeichnen. Während sie in ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis gerückt seien – so Spalding ohne weitere Erläuterung, zeichne sich eine Gegenbewegung ab, die dem Christentum zunächst zum Vorteile gereiche. Dass dies aber nicht ohne Weiteres der Fall sei, stellt Spaldings zweite und eigentliche Beobachtung dar: Diese neue Form der Religion stellt nichts als ein bloßes Epiphänomen eines Anständigkeitsethos dar, welchem es ausschließlich um den äußeren Schein zu tun ist. „Um in diesem Wohlstand vollkommen zu seyn, ist man auf den Entschluß gefallen, gottselig zu werden. Fromme seyn, um artig zu heissen? In Wohlstand andächtig werden? Eine Staats=Gottseligkeit? In der That eine wunderliche Mischung!“133 Damit wird deutlich, dass Spalding mit dem frömmigkeitstypologischen Begriff der Staatsgottseligkeit keine Frühform einer civil religion vor Augen hat, sondern lediglich das Phänomen mit diesem Begriff benennt, welches man auch als Anständigkeitsreligion näher bezeichnen könnte. Diese äußere Anständigkeit beruhe nun aber nicht bloß auf kultischer Religionsausübung, sondern bestehe in einer bestimmten religiösen Haltung. Diese bringt Spalding zwar nicht auf den Begriff, beschreibt sie aber folgendermaßen: „Man soll von der innerlichen Versicherung der Gnade GOttes; von dem süssen Geschmacke, der auf den Durchbruch folget; von den Ergötzlichkeiten, die in dem Augenblicke der Vereinigung mit Christo empfunden werden; von der geistlichen Dürre; und von dergleichen Dingen ausführlich handeln. Sie bezeigt sich über eine iegliche Predigt sehr vergnügt, welche diese großen Empfindungen am sinnlichsten, das ist, wie sie redet, sehr beweglich und deutlich vorgetragen hat.“134 Eine andere „Frau von ***“ redet „von der Bekehrung, von dem Gefühl der göttlichen Liebe, von der Einsenkung in GOTT. Sie beseufzete, dass das wahre und innerliche Erfahrungschristentum sich so gar wenig zeige.“135 Innerlichkeits-, Gefühls und Empfindungsdimension, das Insistieren auf eigene religiöse Erfahrung, auf das Bekehrungserlebnis und auch die Christusfrömmigkeit weisen samt und sonders auf pietistische adlige Frömmigkeitszirkel hin, in die es Spalding verschlagen zu haben scheint und deren religiöse Vorstellungen Spalding treffend zusammenfasst. Diese depravierte Form pietistischer Frömmigkeit unterzieht Spalding einer doppelten Kritik. Es sei in diesem Kontext vermerkt, dass Spalding eine negative Konnotation mit der Empfindungsdimension dieser „Erfahrungs-Christen“ verbindet, insofern das Raisonnement über die „innerlichen Empfindungen“136 zum Grundbestand dieser pietistischen Anständigkeitsreligion gehöre. Zum einen stelle sich die Staatsgottseligkeit als eine rationalitätsfeindliche Religion dar: „Sie sind keine sonderliche Freunde von den Schrifften, die in der Religion und Frömmigkeit deutlich erklären oder gründlich überzeugen. Sie 133 Spalding,
Staats-Gottseligkeit, S. 99 [S. 5]. S. 101 [S. 7]. 135 Ebd., S. 102 [S. 7 f.]. 136 Ebd., S. 104 [S. 10]. 134 Ebd.,
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halten das vor eine Höhe der Vernunfft, die sich dem Geiste GOttes widersetzet. Sie preisen vielmehr die Anweisungen zu dem geheimen und unbegreiflichen Christentum.“137 Die Deutlichkeitsmaxime der Wolffschen und Wolffianischen Epistemologie bzw. natürlichen Theologie wird von diesem Frömmigkeitstyp abgelehnt. Zum anderen demaskiert Spalding diesen Frömmigkeitstypus als unmoralisch und gar nicht aus genuin religiösen Motiven entspringend. Vielmehr verdanke er sich einer gewissen Mode, d. h. einer auf ungeprüfter Nachahmung beruhender Religiosität sowie Anständigkeitskonvention und Ruhmsucht. Er stelle eine Verdeckungsstrategie der eigentlichen innerlichen Beschaffenheit dar. „Die Begierde, sich zu erheben und sich hervor zu thun, ist dem Menschen durchgehends natürlich. Wir haben insgesamt die Neigung, das besondere, das ausserordentliche, das wundersame an uns zu zeigen.“138 Gerade das Insistieren auf die Innerlichkeitsdimension der Frömmigkeit ermögliche es den Damen, die wirkliche Gestalt ihrer Frömmigkeit zu verbergen. „Die Beschaffenheit des innerlichen kömmt hier in keine Betrachtung. Diese wird nicht erkannt; Folglich kan sie zu den Urtheilen der Leute nichts beytragen.“139 Gegen dieses Konzept einer auf Schein ruhenden Modefrömmigkeit entwirft Spalding mit kurzen Strichen seine Theorie wahrer Gottseligkeit resp. Religion und Christentum: „Die Gottseligkeit besteht in denjenigen Pflichten, davor die erkannten göttlichen Eigenschaften und Vollkommenheiten die BewegungsGründe sind. Die Religion, das Christenthum begreifft die gantze Einrichtung in sich, die das gütigste Wesen, zur Erlangung einer unendlichen Glückseligkeit, uns zu gute gemacht hat. […] Man will überzeugt seyn, dass auf die Einrichtung dieses Lebens die höchste Stuffe der Glückseligkeit oder die Unglückseligkeit, als ein gewisser Ausgang, stehe. […] Ein Mensch sey vor seine höchste Glückseligkeit im rechten Ernst besorgt.“140 Ausgangspunkt seiner hier nur in Umrissenen skizzierten Religions‑ und Christentumskonzeption ist der Begriff der Sorge um die unendliche Glückseligkeit bzw. „zukünfftige Ewigkeit“141. Das Streben danach bilde das eigentliche anthropologische Movens der Religion und diese stelle den Inbegriff dessen dar, was zur Erreichung dieser Glückseligkeit fungiere. Der Sache nach besteht sie in einer bestimmten Dimension menschlicher Pflichten. Mit dem Pflichtbegriff ist nun die ethische Dimension als das Wesentliche von Religion und Christentum in den Blick genommen. Religion stelle die Befolgung bestimmter Pflichten dar, nämlich derjenigen, die durch die Erkenntnis Gottes erkannt werden. Diese Erkenntnis bestimmt nun Spalding – in Entgegensetzung zur gewohnheitsmäßigen Anständigkeits‑ und Modefrömmigkeit – näher. „Die Einrichtung aber ist vortreflich, wenn man die Lehren des Christenthums nicht 137 Ebd.,
S. 103 [S. 8]. S. 106 [S. 12]. 139 Ebd., S. 108 [S. 14]. 140 Ebd., S. 110 f. [S. 15 f.]. 141 Ebd., S. 111 [S. 16]. 138 Ebd.,
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vor das Gedächtniß, sondern vor den Verstand lernet, wenn man durch deutliche Begriffe der göttlichen Wahrheiten die Ueberführung erweckt, die nicht auf ein blosses Nachsagen gegründet ist.“142 Religiöse Erkenntnis besteht aus einem vernünftigen, d. h. begrifflich-deutlichen Verstehen der Lehren des Christentums vermittelst rationaler Begriffe von den göttlichen Wahrheiten, d. h. vermittelst einer vorgängigen natürlichen Theologie. Im Hintergrund steht selbstverständlich auch hier wieder die Prägung durch die rationale Theologie Wolffs und des theologischen Wolffianismus. Religion und Christentum stellen sich also für Spalding als ein komplexer Reflexionsprozess dar, der sich seiner Grundstruktur nach in einer vernünftigen Überprüfung und Aneignung christlicher Lehrgehalte realisiert. Dieser religiöse Erkenntnisprozess evoziert notwendig eine Reduktion des christlichen Lehrbestandes auf die für die Glückseligkeit wesentlichen Gehalte: „Wie hoch will man überdem die Anzahl der nothwendigen und wesentlichen Lehren des Christenthums setzen? Der Weg zur Seligkeit ist an sich kurtz.“143 Allererst mangels einer „gründlichen Erkäntniß in der Religion“144 können sich frommscheinende Überschüsse in das religiöse Betragen einschleichen, die jedoch einen Abweg vom Kern der Religion darstellen.145 Zum Wesenskern von Religion und Christentum als ‚Weg zur Seligkeit‘ gehören für Spalding – wie bereits angedeutet – Tugenden und Pflichten, die durch eine „richtige[n] Sitten-Lehre“146 erkannt werden. Allein diese Erkenntnis bewahre vor falschem religiösen Eifer und der Praxis falscher „Gebräuche“147. Auch hier stehen wie schon in der Disputation Tugend‑ und Pflichtbegriff nebeneinander, ohne dass Spalding die Spannung, die durch diese differenten ethischen Grundbegriffe erzeugt wird, auflöst. Es zeigt sich eine gewisse Unentschiedenheit, welcher moralphilosophischen Grundkategorie der Vorzug zu geben sei. Zusammenfassend müssen folgende Aspekte hervorgehoben werden: Zunächst manifestiert sich in dem Schreiben Spaldings Ressentiment gegenüber dem Pietismus, das sich bereits in seinen vorherigen Veröffentlichungen deutlich geäußert hat, nun im Modus einer detaillierten Analyse pietistischer Frömmigkeit, wie er sie in adligen Kreisen kennengelernt hatte. Dieses Thema wird ihn zeit seines Ringens um eine dem aufgeklärten Menschen adäquate Religions‑ und Christentumsgestalt beschäftigen. Sowohl die erkenntnistheoretische Tiefenschicht der Bestimmungsschrift wie auch der dezidierte empfindungs‑ und gefühlstheoretische Diskurs in der Gefühlsschrift von 1761 stellen eindrückliche Zeugnisse einer der anspruchsvollsten aufklärungstheologischen Diskussionsbeiträge der kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Pietismus dar. 142 Ebd., 143 Ebd., 144 Ebd. 145 Vgl.
S. 112 [S. 17]. S. 113 [S. 18].
ebd.
146 Ebd.
147 Ebd.,
S. 114 [S. 19].
3. Spalding im offenbarungstheologischen Diskurs
93
Sodann entwickelt Spalding in dieser Publikation erstmals eine wolffianisch geprägte Religions‑ und Christentumskonzeption in nuce, in der er dem Glücksbegriff und der Moralität eine zentrale Rolle zuweist. Er greift mit der Glückseligkeit, Tugend und Pflicht solche Reflexionskategorien auf, die bereits in der Disputation von Bedeutung waren und nun zu Grundbegriffen seines ethischen Religions‑ und Christentumskonzeptes avancieren. Mit dem Begriff der unendlichen bzw. ewigen Glückseligkeit rückt der Unsterblichkeitsgedanke in den Fokus. Im Vergleich mit der Disputation gewinnt die ethische Qualifizierung der Religion deutlich an Gewicht. Des Weiteren wird durch das Insistieren auf die Rationalität wahrer Frömmigkeit im Sinne Wolffs deutlich, dass Spalding auch hier noch Vorbehalte gegenüber der Empfindungsdimension innerhalb der Religion hat. Sein Modell vernünftig-ethischer Religions‑ bzw. Christentumspraxis stellt in dieser Hinsicht das Gegenmodell zur pietistischen Empfindungsreligion dar. Spaldings an dieser Stelle erstmals greifbare Auseinandersetzung mit dem pietistischen Frömmigkeitstyp mündet 20 Jahre später in seine Gefühlsschrift148. Schließlich ist der Aufsatz anthropologisch von einem Differenzierungskonzept bestimmt, welches zwischen falschem Schein und wahrem Sein, äußerer Erscheinung und inneren Beweggründen strikt unterscheidet und sich die moralische Entlarvung und Demaskierung religiöser Ausdrucksformen und Gebaren zur Aufgabe macht. Hierin beweist Spalding einen gewissen „psychologischen Scharfblick“149. Diese – wenn man so sagen will – negative Anthropologie bestimmt auch den Aufsatz „Gedanken über die Verleumdung und Spötterey“ (1742), der im folgenden Kapitel Gegenstand der Untersuchung sein soll (vgl. II.1.1.3).
3. Spalding im offenbarungstheologischen Diskurs 3.1 Spaldings Vorrede zur Silhouette-Übersetzung (1742/46) Wann sich Spalding mit dem Werk des Franzosen Étienne de Silhouette auseinanderzusetzen begann, ist aus der Lebensbeschreibung nur ungefähr zu rekonstruieren. Dort schreibt er: „Ich wandte einen Theil des Jahres 1742 auf die Übersetzung der Versuche des Abts Trublet, wovon auch bereits einige Bogen abgedruckt wurden. Die Frau v. Steinwehr beschwerte sich auf diese erhaltene Nachricht bey dem Verleger, Hrn. Weitbrecht, daß sie bereits vor einigen Jahren eine fertige Uebersetzung dieses Werks ankündigen lassen [sic!]. Auf mein eigenes Anrathen nahm er ihre Arbeit in Verlag. Ich übersetzte darauf das Schreiben des Hrn. Silhouette, von der Stärke und Schwäche der menschlichen Vernunft, 148 Vgl.
Spalding, Werth der Gefühle. Leben und Werke, S. 52.
149 Nordmann,
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
das Werk des le Clerc, vom Unglauben, und die Sittenlehrer des Shaftesbury.“150 Es ist also anzunehmen, dass Spalding 1742/43 die Übersetzung des Franzosen fertigstellt, die er dann jedoch erst 1746 unter dem Titel „Des Herrn von Silhouette Schreiben von der Stärke und Schwäche der menschlichen Vernunft und von der Nutzbarkeit einer geoffenbarten Religion. Aus dem Frantzösischen übersetzt“ beim Rostocker Verleger Koppe publiziert. Warum zwischen Übersetzung und Veröffentlichung ein größerer Zeitraum liegt, ist nicht mehr zu ergründen. Mit der Stellung dieses Abschnittes im Gesamtkapitel wird davon ausgegangen, dass auch der hier zur Debatte stehende „Bericht des Uebersetzers an den Leser“, also Spaldings einleitendes Vorwort, nicht erst 1746, sondern in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Übersetzung entstand. Dieser dreizehnseitige Text befasst sich vornehmlich mit einer damals die europäischen Gemüter bewegenden Debatte, die zwischen dem Schweizer Gelehrten Jean-Pierre de Crousaz (1663–1750) und dem englischen Dichterphilosophen Alexander Pope (1688–1744) entbrannt war und in die sich bald weitere Diskursteilnehmer – v. a. aus England und Frankreich – einschalteten. Dieser Gelehrtenstreit kann hier nicht in extenso, sondern nur insoweit Gegenstand der Analyse sein, als es für das Verständnis von Spaldings Rezeption desselben erforderlich ist. Der literarische Streit ist verwickelt. Den Ausgangspunkt bildet Popes „Essay on Man“ von 1733/34, auf das besagter Crousaz einige Jahre später mit zwei Schriften reagiert. Auf diesen Vorgang nimmt Spalding indirekt Bezug: „Der alte Herr von Crousaz zu Lausanne, dem itzo nicht leicht ein der leibnitzischen Weltweisheit etwas gleich sehender Schatten begegnet, mit welchem er sich nicht herumschlägt, zog in diesem Geist auch wider Popens unsterbliches Werk von dem Menschen zu Felde. Er fand die Fatalisterey darin, so wie er sie im Leibnitz findet; und er sagt dieses, und seinen Unwillen darüber, der Welt in zwo unterschiedenen Schriften.“151 Bereits kurze Zeit später reagierte mit dem Briten und theologisch orthodoxen Deismuskritiker William Warburton (1698–1779) ein Freund Popes mit einer Replik, in der er Crousaz’ Leibnizianismusvorwurf gegen Pope auf dessen Benutzung der französischen sehr freien und in Versform gehaltenen Übersetzung des „Essay on Man“ durch Jean-Francois du Belay du Resnels (1692–1761) zurückführte.152 Spalding schreibt dazu: „Hier zeigte es sich, daß Herr Crousaz weniger wider Popen, als wider den Abt Resnel gestritten, denn die Vorstellung und Auswickelung der in dem Grundtext befindlichen Ausdrücke nahm unzählige Anstöße weg, die der poetischen Uebersetzung allein
150 Spalding,
Lebensbeschreibung, S. 126 [S. 20]. Vorrede Silhouette, S. 165 f. [S. 4]. – Spalding spielt auf Crousaz’ „Examen de l’Essay de Monsieur Pope sur l’homme“, Amsterdam 1737 und seinen „Commentaire sur la traduction en vers de Mr. L’abbé Du Resnel, de l’Essay de M. Pope sur l’homme“, Genf 1738, an. 152 Vgl. Resnel, Essai. 151 Spalding,
3. Spalding im offenbarungstheologischen Diskurs
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zur Last kamen.“153 Warburton decke auf, dass Crousaz bei Pope nur leibnizianische Theoreme kritisiere, die sich jedoch ausschließlich der resnelschen Übersetzung154 verdankten: „[D]er englische Dichter muß ganz andere Meynungen gehabt haben, als der deutsche Weltweise, und dann wird er freygesprochen.“155 Spalding verweist auf die Quelle seiner diesbezüglichen Kenntnisse:156 Bereits 1740 hatte der Hamburger Barthold Hinrich Brockes Popes „Essay on Man“ ins Deutsche übersetzt und zusammen mit Warburtons Erwiderungen gegen Crousaz in der deutschen Übersetzung von B. J. Zwick in Hamburg publiziert.157 In diese Debatte schaltet sich nun Silhouette ein, indem er eine neue französische Übersetzung von Pope vorlegen möchte, um mit dieser die zu weitreichenden Missverständnissen Anlass gebende Übertragung Resnels abzulösen, so jedenfalls in der Sicht Spaldings: „Weil aber der Angriff von einem Franzosen geschehen war, so hielte man es auch für nöthig, daß diese Nation einen Gegengift dawider in die Hände bekommen möchte, und auf diese Weise fand der Herr von Silhouette Gelegenheit, sich nicht bloß als einen Uebersetzer, sondern auch als einen Vertheidiger um Popen verdient zu machen. Er ward hiebey eben noch kein Schriftsteller im eigentlichsten Verstande, sondern er bediente sich nur der Briefe, worin Herr Warburton seinen Freund gerechtfertiget hatte, und richtete dieselben nach seiner Art ein. Diese machen den andern Theil der ‚Melanges de Philosophie & de Litterature‘ aus, die im Jahr 1742 der Aufschrift nach zu Londen bey Wilhelm Darres heraus kamen, und deren erster Theil aus den gleich anfangs genannten übersetzten Schriften von Popen bestehet. Er hat dem ganzen Werke Betrachtungen über den Geschmack in Uebersetzungen vorgesetzt, und zu den Briefen gegen Crousaz hat er zuletzt denjenigen hinzugefügt, welchen ich hiemit im Deutschen bekannt mache.“158 Damit wird deutlich, dass Silhouettes von Spalding übersetzte Schrift im Kontext der anthropologisch153 Spalding,
Vorrede Silhouette, S. 166 [S. 5]. Spalding die Pope-Übersetzungen Resnels kennt, beweist ein Zitat am Ende seines Aufsatzes von 1744 (vgl. Spalding, Von dem Recht der Critik, S. 144 [S. 29]). Dieses Zitat stammt aus Resnels Übersetzung von Popes „Essay on Criticism“, die er 1737 zusammen mit der Übertragung des „Essay on Man“ herausgab (vgl. Hellwig, Alles ist gut, S. 118). 155 Spalding, Vorrede Silhouette, S. 166 [S. 5]. 156 Vgl. ebd., S. 167 [S. 6]. 157 Vgl. ebd. – Spalding bezieht sich auf: „Hrn B. H. Brockes, Aus dem Englischen übersetzter Versuch vom Menschen, des Herrn Alexander Pope, Esq., nebst verschiedenen andern Uebersetzungen und einigen Gedichten. Nebst einer Vorrede und eines Anhangs von Briefen, worinnen die Einwürfe des Herr C … wider den Essay on Man beantwortet werden; aus der History of the Works of the Learned übersetzt von B. J. Zwick, Hamburg, verlegts [sic!] Christian Held, 1740“. – Zur Rezeptions‑ und Übersetzungsgeschichte von Popes „Essay on Man“ in Deutschland im 18. Jahrhundert vgl. Baasner, Alexander Popes Essay on Man, S. 189–214. 158 Spalding, Vorrede Silhouette, S. 167 [S. 6 f.]. – Spalding meint hier Étienne de Silhouettes „Melanges de Litterature et de Philosophie“, London 1742, die dessen Übersetzung von William Warburtons „Lettres philosophiques et morales ou l’on donne une explication raisonnée du systeme de M. Pope dans son essai sur l’homme“ enthalten (vgl. Spalding, Kleinere Schriften 1, S. 444 [Erläuterungen]). 154 Dass
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I. Frühe Prägung und erste Publikationen
moralphilosophischen Pope-Crousaz-Debatte entstanden ist, und dass Spalding sie auch ganz in diesem Zusammenhang rezipiert hat.159 Sieht man vorerst von dem Inhalt der übersetzten Schrift ab, so wird deutlich, dass Spalding sich in anthropologische und moralphilosophische Auseinandersetzungen einliest und damit eine thematische Linie verfolgt, die auch Spaldings beide Aufsätze der Jahre 1742 und 1744 aufzuzeigen sein wird (vgl. II.1.1.3 f.). Die Schrift Silhouettes, die Spalding der deutschsprachigen Gelehrtenrepublik bekannt machen wollte, beinhaltet entgegen der Erwartung, die die bisherige Analyse erweckt haben könnte, weder eine moralphilosophische noch eine anthropologische Fragestellung im engeren Sinne. Vielmehr ordnet sie der Übersetzer in die Auseinandersetzungen um die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung resp. natürlicher und geoffenbarter Religion ein, die sich im Gefolge der Auseinandersetzungen mit den sog. Freigeistern immer dringlicher stellt. Seine Ausgangsthese verdankt sich seiner Überzeugung, dass „gegen die so mannigfaltige Freygeisterey auch die Mannigfaltigkeit der Gegenmittel nicht ohne Nutzen seyn würde“160. Es geht Spalding vor allem um die Frage, „ob eine geoffenbarte Religion nöthig sey“ und wie es um deren „ungemeine Nutzbarkeit“161 stehe. Seine Frage beantwortet er in seiner Einleitung nicht als bloße Paraphrase Silhouettes, sondern er gibt zu erkennen, dass es sich mit seinen Ausführungen um sein eigenes Konzept handelt, das jedoch in Übereinstimmung mit dem Inhalt der übersetzten Schrift stehe.162 Von dieser hermeneutischen Prämisse kann die folgende Rekonstruktion ausgehen. Zur Beantwortung der offenbarungstheologischen Fragestellung führt Spalding zunächst die feinsinnige Unterscheidung zwischen dem Erweis der Notwendigkeit und Nutzbarkeit von Offenbarung an: Während die Notwendigkeit einer Offenbarungsreligion schwerlich zu beweisen sei, könne dagegen „den Freygeistern die ungemeine Nutzbarkeit einer besondern göttlichen Offenbarung“163 für die Welt begreiflich gemacht werden. Problematisch erscheint dabei Spalding eine bestimmte Spielart der Verhältnisbestimmung von natürlicher und geoffenbarter Religion, die nämlich behauptet, dass die Bedingungen einer Genugtuung Gottes aus natürlichen Gründen erwiesen werden können, „daß jedoch der Höchste die Art dieser Genugthuung besonders habe bekannt machen müssen“164. Damit lasse man die „Vernunft nicht in ihrer natürlichen Blöße“ und traue der „sich selbst gelassene[n] Vernunft“165 mehr zu als sie zu leisten in der Lage ist, indem geoffenbarte Wahrheiten als von der Vernunft gedachte gedeutet 159 Der
französische Originaltitel ist nicht nachzuweisen (vgl. ebd., S. 441 [Erläuterungen]). Vorrede Silhouette, S. 167 [S. 7]. 161 Ebd., S. 167 f. [S. 7–9]. 162 Vgl. ebd., S. 170 [S. 12]. 163 Ebd., S. 168 [S. 9]. 164 Ebd., S. 169 [S. 10]. 165 Ebd. 160 Spalding,
3. Spalding im offenbarungstheologischen Diskurs
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werden. Diese – so Spaldings Gegenthese – brauche zunächst aufgrund ihrer Undeutlichkeit und Ungewissheit „eine besondere Aufklärung ihrer Einsichten“, die sodann durch übernatürliche Wahrheiten komplementiert werden müssen. Diese beträfen das Naturrecht, die Gotteserkenntnis, die Unsterblichkeit, die Gewissensangst vor göttlichen Strafen, die allesamt allein durch Offenbarungswahrheiten aus dem Status der Ungewissheit herausgeführt werden können166. Dabei kommt es Spalding vornehmlich auf die geoffenbarte Vergewisserung in Hinsicht auf „das zukünftige Leben“167 an. Die Offenbarung hat also die Doppelfunktion der Unterstützung der Vernunft und ihrer Komplementierung. Aufgrund dieser Funktion erübrige sich jedweder offenbarungshermeneutische Verdacht zugunsten eines Verständnisses von Offenbarung als einer Sache, „daran uns gelegen ist“168. Offenbarungsreligion erweist sich in dieser vernunftkritischen Perspektive mithin als notwendige Angelegenheit des Menschen, um im Anschluss an Spaldings Formulierung sein Diktum aufzugreifen, welches seine bereits hier angelegte anthropologische Begründung der Religion resp. Offenbarungsreligion auf den Begriff bringt.169 Über Spaldings Begriff der „natürliche[n] Religion“ und deren positive Reichweite ist aus dem Text nichts zu erfahren. Vielmehr greift er das Problem gänzlich von der Seite der Nützlichkeit übernatürlicher Offenbarung an. Es darf jedoch nicht daraus geschlossen werden, dass Spalding der natürlichen Vernunft in Sachen Religion die Kompetenz vollständig abspricht. Worin diese aber bestehen könnte, darüber schweigt sich der Übersetzer aus. Mit diesem Konzept weiß er sich grundsätzlich mit Silhouettes Schrift einig, wenngleich er hinsichtlich dessen metaphysischer Voraussetzungen im Detail auch Kritik an dem Franzosen anmeldet, die ihn als Schüler John Lockes ausweisen.170 Dies tue seiner Apologie des Christentums keinen Abbruch, um die es Spalding mit seiner Übersetzung ausdrücklich gehe.171 Bezüglich der Frage nach der Verankerung von Spaldings Offenbarungskonzept in der Vorrede zur Silhouetteübersetzung innerhalb seiner bisherigen einschlägigen Überlegungen, kann darauf verwiesen werden, dass er sowohl mit seinem Vernunftbegriff wie auch mit seinem komplementären Offenbarungsbegriff nahtlos an Christian Wolffs Theorem der übernatürlichen Offenbarungs-
166 Vgl.
ebd., S. 169 f. [S. 11]. S. 172 [S. 15]. 168 Ebd., S. 170 [S. 12]. 169 Der Begriff der Angelegenheit avanciert bei Spalding zu einer anthropologischen und religionstheoretischen Formalkategorie ersten Ranges (vgl. die Register und die entsprechenden Vorkommen in Spalding, BdM und Kleinere Schriften 1) und kulminiert in seiner Spätschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von 1797 zum titelprägenden Terminus (vgl. Spalding, Religion). 170 Vgl. Spalding, Vorrede Silhouette, S. 170 f. [S. 12 ff.]. 171 Vgl. ebd., S. 172 [S. 16]. 167 Ebd.,
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wahrheiten anknüpfen kann, das er bereits in der Disputation und in der Bittschrift gewürdigt hatte (vgl. I.2.1/2.3). Resümierend lässt sich sagen, dass die Übersetzung von Silhouettes Schrift für Spalding mit einer Rezeption der westeuropäisch-deutschen Debatte um Alexander Popes anthropologisches Konzept in dessen „Essay on Man“ einherging, hinsichtlich der sich Spalding in seinen einleitenden Ausführungen als vorzüglicher Kenner erweist. Auch sein Offenbarungsbegriff ist sodann eingebettet in die Reflexion auf das, woran dem Menschen gelegen ist. Sein Konzept von Offenbarungsreligion steht also in einem allgemeinen anthropologischen Reflexionshorizont. Schließlich gilt Spaldings apologetisches Interesse in diesem Text hauptsächlich der geoffenbarten resp. christlichen Religion, womit Spalding sein seit den ersten Publikationen verzeichnetes christentumsapologetisches Bemühen weiterverfolgt. Im gleichen Zeitraum ist Spalding in einen literarischen Gelehrtenstreit verwickelt, in dem es den Kontrahenten ebenfalls um einen adäquaten Offenbarungs‑ resp. Wunderbegriff zu tun ist und dem sich der folgende Abschnitt zuwendet.
3.2 Spalding im Streit um Mosheims Offenbarungsbegriff In den von Johann Carl Dähnert im Greifswalder Verlag Weitbrecht herausgegebenen „Pommerschen Nachrichten von gelehrten Sachen“ erscheinen im Jahre 1745 drei kürzere Texte von Spalding.172 In seiner Lebensbeschreibung schreibt er dazu: „Ein in diesen letztern [scil. Pommersche Nachrichten] 1745 gedrucktes Schreiben über die mosheimische Erklärung der übernatürlichen Kraft des göttlichen Wortes erweckte mir einen Gegner an Herrn Overbeck in Lübeck. Nach dreyen Briefen von jedem Theile hörete der Streit auf.“173 Es handelt sich um einen schriftlichen Disput zwischen einem gewissen Herrn Overbeck aus Lübeck und Spalding über deren Meinung zu Johann Lorenz von Mosheims (1994–1755) Theorie der supranaturalen Kraft des göttlichen Wortes. Während beide Korrespondenten im Journal anonym bleiben, lassen sich über die Lebensbeschreibung Spaldings die Kontrahenten identifizieren.174 Der schriftlichen Auseinandersetzung ging wahrscheinlich eine mündliche Unterredung voraus, auf die sich Spalding eingangs des ersten Schreibens bezieht175. Die Texte Spaldings sind als Briefe verfasst und richten sich direkt an den Diskussionspartner. Die vergleichsweise unklare Diktion macht es dem Interpreten nicht immer leicht, die eigentliche Aussageabsicht Spaldings zu rekonstruieren. 172 Zur
Editionsgeschichte vgl. Spalding, Kleinere Schriften 1, S. XI f. [Einleitung]. Lebensbeschreibung, S. 126 f. [S. 21 f.]. 174 Mit Overbeck handelt es sich wahrscheinlich um Johann Daniel Overbeck (1715–1802), den späteren Rektor des Kieler Gymnasiums (vgl. Spalding, Kleinere Schriften, S. 441 [Erläuterungen]). 175 Vgl. Spalding, Schreiben über Mosheim 1, S. 145 [S. 91]. 173 Spalding,
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Auf das erste und zweite Schreiben reagiert Overbeck mit einer kurzen Replik176, die Spalding jeweils mit dem zweiten bzw. dritten Schreiben erwidert. Von inhaltlicher Bedeutung ist ausschließlich das erste Schreiben, während Spalding in den beiden folgenden Entgegnungen ausschließlich Missverständnisse aufseiten Overbecks aufklärt. Der publizistische Vorgang dieser gelehrten Auseinandersetzung wirft ein Schlaglicht auf die durch das Zeitschriftenwesen stabilisierte Debattenkultur der Zeit, an der sich Spalding rege beteiligt. Es geht uns jedoch im Folgenden nicht um eine Interpretation dieses Disputes und auch nicht um die Frage, wie Spaldings Interpretation Mosheims zu bewerten ist, sondern vielmehr um die Rekonstruktion von Spaldings Position hinsichtlich der in Frage stehenden theologischen Sache. Es steht in Frage, ob zur moralisch-religiösen Bekehrung „eine gewisse thätige Kraft Gottes“ notwendig und ob diese Gnade Gottes „über alles Vermögen der Natur sey“177. In der zustimmenden Beantwortung dieser Frage und auch darin, dass gegen den Wundercharakter dieser Wirkkraft Gottes vonseiten aufklärerisch-religionskritischer Zeitgenossen dagegen unberechtigte Skepsis geäußert werde, weiß sich Spalding mit seinem Kontrahenten einig. Wen Spalding mit diesen „Leute[n], die aus einer oder der andern Ursache zum Zweifeln geneigt sind“178 konkret vor Augen hat, ist nur indirekt zu ermitteln. Es handelt sich bei dem von Spalding referierten Argument um deistisches Gemeingut, und auch der Bezug auf Mosheim spricht für die Annahme, dass Spalding den deistischen Topos der Wunderkritik im Blick hat; denn Mosheim war neben Baumgarten einer der ersten deutschen Theologen, der eine kritische, aber sachliche Auseinandersetzung mit dem Deismus führte.179 Den Punkt, an dem sich der Dissens festmacht, expliziert Spalding an einer nicht ganz leicht zu verstehenden Passage aus der „Sittenlehre“180 Mosheims, also der Schrift des Übergangstheologen, auf die sich Spalding und Overbeck beziehen. Der Kernsatz lautet: „Gott kann, wer zweifelt daran? Mit seinen Wahrheiten ein Vermögen verbinden, den Verstand zu überzeugen und den Willen zu heiligen, das daran beständig haftet, und so lange wirket, als Menschen da sind, die desselben bedürfen.“181 Der Streit zwischen Overbeck und Spalding entzündet sich nun an deren unterschiedlicher Interpretation von Mosheims Argument. Während sich Overbeck Mosheim kritiklos anschließe, stellt sich für 176 Vgl. die Überschrift des zweiten Schreibens und den Hinweis zu Beginn des dritten Schreibens, Spalding, Schreiben über Mosheim 2/3, S. 155/163 [S. 463/729]. 177 Spalding, Schreiben über Mosheim 1, S. 145 [S. 91 f.]. 178 Ebd., S. 145 [S. 92]. 179 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 116–119; vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 2, S. 359 f.; 371. 180 Vgl. Spalding, Schreiben über Mosheim 1, S. 146 f. [S. 92f]. – Es handelt sich um Mosheims „Sitten-Lehre der Heiligen Schrift“, 9 Bde., Helmstedt 1735–1753. Bis 1745 waren bereits die Teile 1–3 erschienen. 181 Spalding, Schreiben über Mosheim 1, S. 148 [S. 94].
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Spalding die Frage: „Allein wie wird denn eine thätige göttliche Kraft an der Seele stat finden können, die kein Wunderwerk ist?“182 Würdigen kann Spalding an Mosheims Apologetik, dass der Übergangstheologe eine vermittelnde Position zwischen einem spätorthodoxen Supranaturalismus auf der einen und einem deistischen Naturalismus auf der anderen Seite einnimmt. Denn: „Nun ist nicht mehr eine jede geistliche Veränderung des Sinnes ein übernatürlicher Einfluß des allerhöchsten Wesens. Nun werden nicht mehr bey einer jeden Stuffe der wahren Besserung eigentliche Wunder und Werke der Allmacht gebraucht. Nun wird die Seele nicht mehr in der nach ordentlichen Regeln gehenden Reihe ihrer Gedanken unzähliche mahl verändert. Alle diese grossen Wirkungen sind Folgen eines einigen anfänglichen Wunders, wodurch Gott eine Kraft in die Welt gebracht, die zu diesen Absichten auf immer hinlänglich ist.“183 Diese Ermäßigung eines supranaturalen Wunderbegriffs vonseiten Mosheims begrüßt Spalding grundsätzlich, jedoch meldet er zwei Zweifel an. Zunächst vertritt Spalding die Ansicht, dass eine außerordentliche Kraft Gottes von der der Natur verliehenen Ordnung unterschieden werden müsse. Spalding bezweifelt, dass Gott „den geoffenbarten Wahrheiten gleich zu Anfangs einmal für allemal ein Vermögen zu überzeugen und zu bewegen“ beigelegt habe. Vielmehr müsse „göttliche Kraft der geistlichen Wahrheiten nach ihrem Begriff ganz was anders seyn, als ein bloß von Gott ursprünglich herrührendes Vermögen“184. Die „erleuchtende Kraft der heil. Schrift“ in Hinsicht „der bekehrenden geistlichen Wahrheit“ liege auf einer anderen Ebene göttlicher Macht als die „täglichen Veränderungen natürlicher Dinge“185. Die zweite Anfrage betrifft die Möglichkeit von Mosheims diesbezüglicher These, dass Gott „mit seinen Wahrheiten ein Vermögen verbinden“186 kann. Das Vermögen einer Wahrheit bzw. eines Begriffes besteht für Spalding einzig und allein in deren Deutlichkeit und der daraus entstehenden ethisch-religiösen Motivationskraft. Ein Unterschied ist daher ausschließlich in der Kraft des verstehenden Verstandes anzunehmen, nicht in der Wahrheit resp. im Begriff selber. „Hieraus scheinet mir klar zu seyn, daß niemand einer Wahrheit ein beständig an ihr haftendes Vermögen beylegen könne, deutlicher erkannt zu werden, als es sonst an und für sich ihrem Wesen nach möglich wäre; oder, welches einerley ist, daß niemand einer Wahrheit eine besondere ausserordentliche Kraft zu überzeugen einmal für allemal geben könne.“187 Spalding schlussfolgert, dass ausschließlich die Fähigkeit des Menschen, diese Wahrheiten
182 Ebd.,
S. 147 [S. 93]. S. 148 [S. 94 f.]. 184 Ebd., S. 149 [S. 95]. 185 Ebd., S. 150 [S. 96]. 186 Ebd., S. 150 [S. 99]. 187 Ebd., S. 151 [S. 100]. 183 Ebd.,
4. Zusammenfassung
101
und Begriffe zu verstehen, durch eine übernatürliche göttliche Kraft gestärkt werden könne.188 Wenn wir die Analyse zusammenfassen, dann ist zunächst zu bemerken, dass sich Spalding erstmals wieder einem theologischen Spezialproblem widmet, während ihn sein schriftstellerischer Weg seit der Dissertation in diverse philosophische und literarische Gefilde geführt hatte. Mit seinen Überlegungen zum Wundercharakter göttlicher Kraft in Hinsicht auf die ethisch-religiöse Haltung des Menschen wendet er sich einem Thema zu, das – was die Wunderthematik anbelangt – bereits in seiner Disputation thematisch wurde (vgl. I.2.1). Zudem berühren sie ein ganzes Bündel von Kernfragen der Epoche, das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, von Natur und Gnade, Rechtfertigung und Heiliger Schrift, die seit dem Aufkommen des englischen Deismus bis zum aufklärungstheologischen Rationalismus die religionsphilosophischen und theologischen Debatten prägte und zwischen pietistischem sowie spätorthodoxem Supranaturalismus auf der einen und deistisch aufklärerischen Positionen auf der anderen Seite ausgefochten wurden.189
4. Zusammenfassung Wenn wir auf die Rekonstruktion der biographischen, bildungsgeschichtlichen und publizistischen Entwicklung des Zeitraumes zwischen 1731 bis 1745 zurückschauen, dann zeichnen sich Brüche, aber auch Kontinuitäten im privaten, beruflichen und literarischen Werdegang des jungen Spalding ab. Im Vorwort zum entsprechenden Band, in dem die in diesem ersten Kapitel zu analysierenden Texte Spaldings vorbildlich ediert worden sind, notiert der Herausgeber zwar zutreffend, dass diese „ganz unterschiedliche, thematisch breit gestreute Gegenstände zur Darstellung“ bringen. Der damit begründete Verzicht auf eine „orientierende ‚Einleitung‘ “190 deutet jedoch eher an, dass sich die Rekonstruktion dieser frühen Publikationen Spaldings die schwierige wie grundsätzliche Frage zu stellen hatte, welche biographischen und bildungsbiographischen Umstände die Kontinuitäten und Diskontinuitäten dieser literarischen Phase mitbedingt haben und worin diese der Sache nach bestehen. Der Fokus dieses Resümees wird überdies in der Fluchtlinie des Themas vorliegender Studie auf diejenigen Aspekte einzustellen sein, die für Spaldings spätere Entwicklung
188 Vgl.
ebd., S. 153 [S. 101 f.]. dazu die einschlägigen Kapitel in Karl Aners „Theologie der Lessingzeit“ (vgl. Aner, Theologie der Lessingzeit, v. a. S. 180ff; 291 ff.). 190 Spalding, Kleine Schriften 1, S. V f. [Vorwort]. – Mit der Analyse von Spaldings frühen Texten konnte ein Forschungsdefizit begonnen werden zu bearbeiten, welches Beutel in seinem Vorwort zu dem entsprechenden Band der Spaldingsedition notiert (vgl. ebd.). 189 Vgl.
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hin zur Shaftesburyrezeption und schließlich zu seinem ersten Hauptwerk, der „Bestimmung des Menschen“ von 1748 von Bedeutung sind. Die biographische Situation Spaldings ist für einen jungen Theologen in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht untypisch. Nach seinem eher kurzen Studium an der Universität Rostock ist ihm der direkte Weg ins Pfarramt zunächst verwehrt. Der Absolvent muss sich mit einigen Anstellungen als Hauslehrer meist bei Landadligen in Mecklenburg und Vorpommern begnügen, die zudem durch längere Aufenthalte bei seinem Vater unterbrochen werden. Nach 1745 muss Spalding noch weitere vier Jahre warten, bevor er im Frühjahr 1749 sein erstes Pastorat in Lassan antreten kann.191 Diese relative Ungebundenheit, so prekär sie auch unter hauswirtschaftlichem Blickwinkel gewesen sein mag, ermöglichte es aber Spalding, seinen wissenschaftlichen und geistig-literarischen Interessen nachzugehen sowie auch selbst schriftstellerisch produktiv zu sein. Bereits sein Studium in Rostock bildet die komplexe theologie‑ und geistesgeschichtliche Situation dieser Zeit ab. Im Modus kontroverstheologischer Polemik vonseiten der lutherisch-orthodoxen Dogmatik und Metaphysik seiner Lehrer lernt Spalding übergangstheologische Lehroptionen und die Philosophie Christian Wolffs kennen, deren Kritik wohl eher seine Neugierde als die beabsichtigte Abscheu erregt haben dürfte. Einen ersten Niederschlag findet sein gewecktes Interesse in den beiden akademischen Qualifikationsschriften. Die Christentumsapologetik der Disputation dokumentiert Spaldings frühe Beschäftigung mit angelsächsisch-deistischer wie auch antideistischer Literatur, mit Christian Wolff und seinen theologischen Seitengängern. Auch sein Gespür für anthropologische Grundbegriffe wie natürliche Religion, Glückseligkeit und Tugend offenbart Spalding hier erstmals, die dann für seine Shaftesburyrezeption Bedeutung bekommen werden, um in der Bestimmungsschrift ganz im Zentrum der eigenen Konzeption zu stehen. Die Analyse der Disputation wie auch der Dissertation hat zutage gebracht, dass Spalding sich – entgegen seiner späteren Selbstdeutung und der herrschenden Forschungsmeinung – der Vermittelbarkeit der Rostocker Lehrtradition und der Metaphysik Wolffs bewusst war. Zwischen seiner Prägung im Studium und diesen beiden Texten besteht also eine relative Kontinuität. Es beginnt hier schon leise Spaldings engagiertes Einsetzen für die Metaphysik Christian Wolffs, deren religions‑ und christentumsapologetische Valenz der Theologe gegen deren Gegner und Kritiker ins Feld führt. Die Bittschrift ist dann vorrangig und offen seiner Wolffapologetik gewidmet, die sich auch in den zwei folgenden Aufsätzen zur Darstellung bringt. Diese kasualliterarischen Texte spiegeln allesamt Spaldings literarische Ambition wieder, die sich an deren eigentümlicher Gattungsspezifik und Gestaltung zeigt. Die ungeachtet der diversen Thematiken sich durchhaltende Grundthese besteht darin, dass Wolffs Metaphysik sowohl 191 Vgl.
Spalding, Lebensbeschreibung, S. 135 [S. 36].
4. Zusammenfassung
103
überzogener Religions‑ und Christentumskritik wie aber auch pietistischer Frömmigkeitsoptionen als alternative Option gegenüber stehe, die durchaus mit der metaphischen Tradition lutherisch-orthodoxer Provenienz vermittelbar ist. Mit der Glückwunschschrift äußert sich erstmals eine aufklärerische Ambition, die sowohl metaphorisch als auch sachlich in den Vordergrund tritt. Eine Aufklärungsfunktion kommt zunächst der Metaphysik und natürlichen Religionskonzeption Wolffs zu. Aus seiner Wolffapologetik zieht sich ein Faden in seine Auseinandersetzung um die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung in der Vorrede zur Silhouetteübersetzung und seinen Beiträgen zur Mosheimdebatte. Von nicht geringer Bedeutung ist Spaldings Skizze einer eigenen Religions‑ und Christentumskonzeption in der Schrift zur „Staatsgottseligkeit“. Hier sind mit der ethischen Dimensionierung von Religion und Christentum, der Glücks‑ und Unsterblichkeitsperspektive solche Kategorien bereits in seinen Fokus gerückt, die dann später in den Dokumenten seiner Shaftesburyrezeption und in der Bestimmungsschrift ins Zentrum stehen. Schließlich sind einige Seitenmotive zu erwähnen, weil sie sich in der Folgezeit zu Grundthemen entwickeln werden. Zum einen zeugen einzelne Bemerkungen und Anspielungen von Spaldings Kenntnis der Epistemologie und Empfindungskonzeption Wolffs sowie der zeitgenössischen poetologischen und ästhetischen Debatte. Sodann ist zu registrieren, dass seit der Disputation immer wieder eine Auseinandersetzung mit dem Pietismus sowie mit der angelsächsisch-westeuropäischen Debatte stattfindet. Spaldings Position ist in beide Richtungen eher ablehnend. Spaldings literarische Entwicklung lässt sich abschließend in literatursoziologischer Perspektive in die allgemeine Tendenz der Zeit einrücken. Hatte er sich in den akademischen Schriften noch in lateinischer Sprache und im Paragraphenstil zu eher theologischen Spezialfragen geäußert, so widmet er sich als freier Schriftsteller in aufklärerischer und kritischer Absicht diversen Themen, die er in unterschiedlichen Zeitschriften und literarischen Gattungen einem breiteren interessierten Publikum präsentiert. Nicht mehr der gelehrte Fachtheologe und ‑philosoph, sondern der an ethischen wie auch religions‑ und christentumskonzeptionellen Fragen interessierte bürgerliche Zeitgenosse ist nun angesprochen.
II. Spaldings Shaftesburyrezeption 1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe 1.1 Die 1. Phase von Spaldings Shaftesburyrezeption in der Peripherie Gottscheds und des Gottschedianismus Zwar gebührt Johann Christoph Gottsched spätestens seit seiner Würdigung durch Karl Aner als eines „geheimen Vorläufer[s] der Neologie“1 ein Ehrenplatz in der Frühgeschichte der Theologie der Lessingzeit; jedoch wurde dieser dem Leipziger aufgrund seiner diversen theologisch-dogmatischen Ermäßigungen und vornehmlich wegen seines einschlägigen Einflusses auf Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem zugewiesen.2 Diese These Aners lässt sich unschwer auf Spalding ausziehen. Denn Spaldings Übergang von einem theologischen Wolffianismus zu seiner shaftesburyanisch geprägten anthropologischen, ethischen und religionstheologischen Programmatik in den Vorreden seiner Shaftesburyübersetzungen und schließlich in der Bestimmungsschrift ist auch durch seinen Kontakt zum Leipziger Literaturbetrieb um Gottsched mitbedingt. Diese These soll in drei Schritten erhärtet werden. Es gilt zunächst, Gottscheds eigene Shaftesburyrezeption zu skizzieren (1.1.1), bevor in einem zweiten Schritt die Umstände rekonstruiert werden (1.1.2), unter denen es zu einem Kontakt Spaldings nach Leipzig erst hat kommen können und der sich auch in zwei seiner Publikationen literarisch niederschlug (1.1.3–4), um schließlich Spaldings frühe Shaftesburyrezeption im Einflussbereich Gottscheds in den Blick zu nehmen (1.1.5). 1.1.1 Gottscheds Shaftesburyrezeption Shaftesbury war bis ca. 1730 in Deutschland vor allem durch kurze Notizen und Rezensionen in Zeitschriften bekannt geworden und in der Regel im Rekurs auf antideistisch-apologetische Literatur aus England mit dem „Makel des Religionsfeindes“ behaftet worden. Eine durchschlagende Revision dieses „schlechte[n] Ruf[s]“3 konnten auch die renomierten Würdigungen aus der Feder Leibniz’ und Le Clercs nicht bewirken. Zu diesem Ergebnis kommt Mark-Georg Dehrmann
1 Aner,
Theologie der Lessingzeit, S. 199. ebd., S. 195 ff. 3 Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 87. 2 Vgl.
1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe
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in seiner gründlichen Analyse dieser frühen Phase der Shaftesburyrezeption in Kontinentaleuropa resp. Deutschland.4 Einen gehörigen Schub erfährt die Shaftesburyrezeption in Deutschland allererst mit Johann Christoph Gottscheds ambitionierter Anwaltschaft für den bisher weitgehend verfemten Engländer. „1729, als noch kaum jemand in Deutschland Shaftesbury kannte, als sich der Verdacht der Theologen erst zu formieren begann und Shaftesburys Name in Zeitschriften erst selten an die Öffentlichkeit drang – zu diesem Zeitpunkt bereitete der junge Gottsched dem Engländer einen großen Auftritt innerhalb der deutschen frühaufklärerischen Poetik.“5 Hatte die ältere Forschung zur Shaftesburyrezeption in Deutschland den Leipziger zugunsten der bedeutenderen Wieland, Herder, Lessing6, Schiller und Goethe noch ganz links liegen lassen7 oder eine prinzipielle Unvereinbarkeit von wolffianischem Rationalismus und englischem Enthusiasmus angenommen und demgemäß Gottsched eine rationalistische Verzeichnung Shaftesburys unterstellt8, so würdigen spätestens seit dem Aufsatz von Lothar Jordan9 neuere Studien Gottscheds Leistung für die frühe Shaftesburyrezeption. Jordan führt Gottscheds Interesse für Shaftesbury auf Leibniz zurück, der schon sehr früh seine Verehrung für den englischen Philosophen in zwei Aufsätzen dem deutschen Publikum offenbart hatte10. Es dürfte neben sachlichen Gründen diese rezeptionsgeschichtliche Linie mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass Gottsched den vermeintlich unüberwindbaren Hiatus zwischen seiner leibnizianisch-wolffschen Prägung und Shaftesbury nicht für unüberwindlich zu halten vermochte.11 Damit ist es kein Zufall, dass es mit Gottsched ein Wolffianer war, der mit seiner Poetik zwischen den bisher als unvereinbar erscheinenden Theorietraditionen der rationalistischen Schulphilosophie und Shaftesburys Philosophie zu vermitteln versuchte. Innerhalb von Gottscheds Bemühen um Shaftesbury lassen sich zwei Strategien unterscheiden, die für unseren Zweck im Folgenden nur skizziert werden brauchen. Die eine besteht in seiner eigenen theoretischen Auseinandersetzung 4
Vgl. das 1. Kapitel „ ‚Mylord Schaftsburg‘ auf dem Kontinent: Die frühe Rezeption in Zeitschriften“ in Dehrmanns Studie (Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 28–88). 5 Ebd., S. 157. 6 Mainuschs gar nicht so alte Behauptung, dass Lessing der „erste deutsche Autor“ gewesen sei, „der die Bedeutung Shaftesburys erkannte“ (vgl. Mainusch, Shaftesbury und seine frühen deutschen Leser, S. 109) ist bereits im Blick auf Gottsched, spätestens aber im Blick auf Spalding schlicht als abwegig zu bezeichnen. 7 Vgl. Walzel, Shaftesbury. 8 Vgl. die Literaturangaben bei Dehrmann, Shaftsybury und die deutsche Aufklärung, S. 157, Anm. 6. 9 Vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur. 10 Vgl. ebd., S. 419 bzw. 423, Anm. 19; Zu Leibniz’ Shaftesburyrezeption vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 45–58. 11 Vgl. ebd., S. 160; 171 f.
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mit Shaftesburys Konzepten von Literatur und Kritik im Zusammenhang seiner Poetologie; die andere verfolgte mit diversen Übersetzungsprojekten, Shaftesbury im Originaltext, aber in deutscher Sprache bekannt zu machen. Gottsched scheint sich nicht so sehr für die primär ethischen und religionsphilosophischen Schriften des Gentlemanphilosophen, sondern vielmehr als Poetologe und Literaturkritiker für dessen literaturtheoretisch relevanten Werke zu interessieren. An drei Stellen in seinem Oeuvre nimmt Gottsched denn auch auf Shaftesburys einschlägige Schrift „Soliloquy or Advice to an Author“ aus dem ersten Band der „Characteristicks“ Bezug, und in dem „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ von 1729/30 übersetzt er überdies thematisch entsprechende längere Passagen aus den „Miscelleanous Reflections“.12 Der Sache nach geht es Gottsched um eine kritische Würdigung von Shaftesburys Geschmacks‑ und Kritikkonzeption. Dehrmann macht deutlich, dass Gottscheds Geschmack‑ und Kritikbegriff shaftesburyranisch geprägt ist. Ob gar von einer Identität bzw. Adaption gesprochen werden kann, bleibt dabei fraglich.13 Die Analyse von Gottscheds Geschmacksbegriff wird aufweisen, dass er nicht minder in der terminologisch-begrifflichen Tradition der Wolffschen Metaphysik verankert ist (vgl. III.3.2), wie auch Dehrmann indirekt einräumt: „Der Geschmack wird, nach Leibniz’ Vorgabe, nun konsequent in das Modell der schulphilosophischen Vermögenspsychologie eingetragen“14, wobei dem Empfindungs‑ und Urteilsbegriff vorrangige Bedeutung zukomme. Neben Gottscheds kritik‑ und geschmackstheoretischer Prägung durch Shaftesburys „Soliloquy“ adaptiert der Leipziger Poetologe auch die ethische Zweckbestimmung der Literatur. Gottsched regt ausdrücklich in seiner wirkmächtigen „Dichtkunst“ an, Shaftesburys „Soliloquy“ ins Deutsche zu übertragen.15 Infolgedessen entstehen die ersten beiden Übertragungen dieser Schrift des englischen Grafen im Dunstkreise Gottscheds: erstmals in einer Übersetzung von Georg Venzky 1738 und dann bereits nur acht Jahre später 1746 von einem anonymen und bis heute unbekannten Übersetzer.16 Damit war Shaftesbury in deutscher Sprache zuerst mit dieser Schrift ins breitere Bewusstsein des gebildeten Deutschland getreten. 12 1. In der Vorrede zu seiner Übersetzung von Bernard Fontenelles „Gespräche der Todten und Plutons Urtheil über dieselben“ von 1727 nimmt Gottsched kritisch zu Shaftesburys Überlegungen zur literarischen Form des Dialogs (vgl. Gottsched, Bernhards von Fontenelle Gespräche [Vorrede]). 2. vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst. 3. Gottsched bezieht sich in „Zufällige Gedanken von dem Bathos in den Opern“ von 1734 auf Shaftesburys Kritik an der neueren englischen Literatur (Shakespeare, Johnson, Milton etc.) in dessen „Soliloquy“ (vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur, S. 414 f.). 13 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 159 f.; 171. 14 Ebd., S. 173; vgl. auch S. 174 f. 15 Vgl. ebd., S. 193. 16 Vensky übersetzt den Titel mit „Unterredungen mit sich selbst“ (vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur, S. 414). Zudem findet sich eine Liste der frühen Shaftesburyübersetzungen bei Jordan (vgl. ebd., S. 421).
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Es war denn nicht nur die allgemeine „kulturelle[r] Breitenwirkung“17 der Leipziger Schule, die der Shaftesburyrezeption Vorschub leistete und den Engländer für das deutsche gelehrte und interessierte Publikum hoffähig machte, was auch für Spalding als literaturbegeisterten Theologen namhaft zu machen wäre. Vielmehr kann im Blick auf die frühe Shaftesburyrezeption des jungen Theologen eine Vermittlung durch Gottsched festgestellt werden. 1.1.2 Spalding im Einflussbereich Gottscheds Der Name Gottscheds fiel bereits im I. Kapitel an verschiedenen Stellen. Spaldings Kenntnisnahme des Metaphysikapologeten Gottsched war schon in der Einleitung seiner Dissertation nachzuweisen (vgl. I.2.2), und in seiner Glückwunsch-Schrift bezog sich Spalding auf die neuere Rhetorik und Poetologie, die mit Gottsched aufs engste verbunden ist, ohne dass der Name von Spalding zitiert wird (vgl. I.2.4). Dieser Aufsatz hat jedoch eine Nachgeschichte, die Spalding in einen engeren Kontakt mit Gottsched und seinem Kreis bringt. Dieser Vorgang soll ausführlicher darstellt werden. Seit 1740 verbringt Spalding die Jahre bis 1742 wieder bei seinem Vater und Bruder in Tribsees und unterstützt den ersteren in seinen Amtsgeschäften.18 Eine Bewerbung aufs Pfarramt nach Wismar vom Sommer 1740 schlägt fehl.19 In diese Situation beruflichen Misserfolges fällt jedoch ein erfreuliches Ereignis, welches Spalding in seinen literarischen Ambitionen bestärkt haben dürfte. Dies hängt mit seiner bereits besprochenen Glückwunsch-Schrift aus dem Jahre 1738 und deren Nachgeschichte zusammen. „Ich hatte 1738 auf den vorhin gedachten sel. Herrn M. Schulemann bei der Erlangung seiner Magisterwürde in Jena ein Glückwunschschreiben drucken lassen. Es schmeichelte mir nicht wenig, solches unerwartet in die Belustigungen des Verstandes und Witzes eingerückt, und mit dem ersten Bande dieser Monatsschrift nebst einem sehr höflichen Schreiben vom Herrn M. Scheibe in Leipzig zugeschickt zu sehen. Ich ward durch sein Verlangen nach mehreren Beyträgen aufgemuntert, ließ es aber doch an einem, der darauf folgete, genug seyn.“20 Die benannte zweite Veröffentlichung meint Spaldings Aufsatz mit dem Titel „Gedanken über die Verleumdung und die Spötterey“, die in der Märzausgabe des Jahres 1742 in dem Leipziger Journal „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ erscheint. Diese Monatsschrift stellt nicht etwa nur ein unbedeutendes Provinzblatt, sondern eine bedeutende Publikationsplattform dar, auf der viele junge Gelehrte und später namhafte Literaten ihre ersten literarischen und poetischen Meriten verdienten.
17 Dehrmann,
Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 158. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 123 [S. 15]. 19 Vgl. ebd., S. 123 f. [S. 16]. 20 Ebd., S. 124 [S. 16 f.]. 18 Vgl.
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Die „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ erschienen in Leipzig von Juli 1741 bis zum Juni 1745 unter der Herausgeberschaft Johann Joachim Schwabes. Dieser war 1733 als studierter Theologe aus Helmstedt nach Leipzig gezogen, wo der von ihm verehrte Johann Christoph Gottsched wirkte. Dort arbeitete er denn auch zunächst in verschiedenen Arbeitskreisen und Zeitschriften unter der Ägide Gottscheds mit.21 Durch seine Mitarbeiterschaft in den „Critischen Beyträgen“ und der Herausgabe der „Sammelbände für die Deutsche Gesellschaft“ seit 1736 sowie andere Herausgeberschaften sammelte Schwabe Erfahrungen sowohl als Autor wie auch als Redakteur. „Überblickt man nun Schwabes Leben bis zum Jahre 1741, so fällt vor allem seine rückhaltlose innere wie äußere Abhängigkeit von seinem Lehrer auf. […] Alles in allem war er demnach ein Erzgottschedianer in seiner dichterischen, journalistischen und wissenschaftlichen Produktion.“22 Hinsichtlich der „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ ist jedoch festgestellt worden, dass der Einfluß Gottscheds v. a. in das erste Drittel des Erscheinens reicht, während sich seit 1743 eine Abkehr von dem dominanten Mentor abzeichnete. Die Beiträge Spaldings fallen also in diese erste Phase zwischen 1741–1742, die ganz im Banne Gottscheds gestanden hat. Dieser überwachte die Auswahl der Autoren, der Beiträge und selbst das Lektorat der Beiträge, die nicht selten um unliebsame Passagen gekürzt wurden.23 Gottscheds Ambition wird bereits dadurch deutlich, dass er selbst und seine Frau für das Eröffnungsheft je einen Artikel beigetragen und damit die Programmatik und Prominenz des Journals intoniert haben.24 Zu den regelmäßigen Autoren der Zeitschrift gehören – um nur einige zu nennen – Johann Elias Schlegel, Abraham Gotthelf Kästner, Gottlob Benjamin Straube, Karl Christian Gärtner, Johann Andreas Cramer, während der prominenteste Lieferant von Beiträgen der junge Christian Fürchtegott Gellert gewesen sein dürfte, der in fast jedem Heft eine Fabel veröffentlichte. Wie kam es nun, dass Spaldings einige Jahre alte Glückwunsch-Schrift in das Augustheft 1741 der „Belustigungen“, also das zweite Heft, aufgenommen wurde? Die äußeren Umstände sind schnell geschildert. In den ersten drei Jahrgängen bedient sich Schwabe der damaligen Sitte, ungefragt bereits veröffentlichte Beiträge unverändert oder überarbeitet wiederabzudrucken. Durch solches „literarische Piratentum“25 ist Schwabe auch an Spaldings Aufsatz gekommen, wie die oben zitierte Passage aus dessen Lebensbeschreibung dokumentiert. Dehrmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass Spalding schon mit seiner Bittschrift (vgl. I.2.3) von der Leipziger Gesellschaft der Alethophilen um Ernst Christoph Graf von Manteuffel und die beiden Gottscheds als Gesinnungs21 Vgl.
dazu die einschlägige Arbeit von Ulbrich, Belustigungen des Verstandes. S. 73. 23 Vgl. ebd., S. 87 ff. 24 Vgl. ebd., S. 22. 25 Ebd., S. 180. Ulbrich zitiert aus Spaldings Lebensbeschreibung die einschlägige Passage, um das damals noch übliche Gebahren der Zeitschriften zu illustrieren (vgl. ebd., S. 179 f.). 22 Ebd.,
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genosse wahrgenommen wurde. Luise Gottsched hatte ein satirisches „Responsum theologicum“ auf Spaldings „Bittschrift“ für den Diskurs innerhalb des Kreises der Alethophilen verfasst.26 Die sachlichen Gründe sind komplexer. Zu diesem Zwecke wollen wir die Vorrede Schwabes im ersten Heft analysieren, die gleichsam das Programm des neuen Journals enthält. Allgemein entspricht die neue Monatsschrift dem Anliegen Gottscheds, Kritik und Produktion zu trennen und mit diesem Periodikum ein Exempel gegen das französische und schweizerische Vorurteil zu statuieren, die deutsche Poesie sei wertlos.27 Schwabe und Gottsched beschlossen, als Reaktion gegen solche neuerdings wieder vorgetragenen Einwürfe mit einem neuen Veröffentlichungsorgan zu replizieren, welches aber nun nicht in polemischen Kritiken, sondern im positiven Gegenbeweis seine Methode fand.28 Indem sich die „Belustigungen“ schwerpunktmäßig nicht auf Übersetzungen, Rezensionen, Kritiken und literaturtheoretische Beiträge kaprizierten, enthielt das Programm eine innovative Note gegenüber bisherigen Leipziger Periodika. Ulbrich kann die „Belustigungen“ allgemein so in den Entwicklungsgang der Jahre einordnen: „So sieht man denn aus den moralischen Wochenschriften zwei entwicklungskräftige Zweige des Journalismus entstehen: den kritischen und den belletristischen. […] [A]ls ersten Vertreter des anderen wird man die ‚Belustigungen des Verstandes und des Witzes‘ ansehen müssen.“29 Der belletristische Charakter schlägt sich bereits in der programmatischen Vorrede nieder: „[M]an ist gesonnen, allerhand wohlgeratene kleine flüchtige Stücke, sie mögen von einer Materie handeln, von was für einer sie wollen, poetisch oder prosaisch und entweder gedruckt oder ungedruckt seyn, wenn sie nur deutsch geschrieben worden, in dieser Monatsschrift zusammen tragen. […] Es sollen darinnen Abhandlungen aus allen Theilen der Weltweisheit und von allen Arten der freyen 26 Der Text blieb unveröffentlicht, ist jedoch von Döring publiziert worden (vgl. Döring, Leipziger Aufklärung, S. 154–157). – Dehrmanns Hinweis, dass Spalding bereits 1738/39 in Kontakt mit Schwabe stand und in selbigem Zeitraum einen seiner Texte in die „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ aufgenommen habe, kann schon deshalb nicht korrekt sein, weil diese Monatsschrift allererst 1741 gegründet worden war (vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 220). 27 Vgl. Schwabe, Belustigungen, Bd. 1, Vorrede, S. 6. 28 Eleazar Mauvillon hat 1740, also ein Jahr vor dem Erscheinen der „Belustigungen“, den alten Vorwurf wiederholt, dass der Mangel an großen Dichtern in Deutschland auf mangelnden Geist im deutschen Volk zurückzuführen sei. Diese Schmährede wurde von den Schweizer Gottschedantipoden aufgenommen, wodurch der Streit zwischen Leipzig und der Schweiz wieder neues Pulver bekam. „Abgesehen von einzelnen empörten Stimmen, die sich zu einer poetischen Zurückweisung erhoben, wie z. B. Johann Elias Schlegel, sollten die ‚Schaubühne‘ und die ‚Belustigungen‘ einen allgemeinen positiven Beweis von der Selbständigkeit und Mannigfaltigkeit deutscher künstlerischer Schaffenskraft bringen.“ (Ulbrich, Belustigungen des Verstandes, S. 57) Dass dieses Programm nicht ganz durchgehalten wurde, beweist der polemische Artikel „Der Deutsche Dichterkrieg“ von Gottsched höchstselbst im ersten Monatsheft, auf welchen heftige Reaktionen folgten, und der auch in den „Belustigungen“ Spuren hinterließ (vgl. ebd., 22). 29 Ebd., S. 19.
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Künste vorkommen.“30 Damit ist thematisch und literarisch ein weitgespanntes Feld umrissen, welches von Schwabe nun auch hinsichtlich der Gattungen näher bestimmt wird: „Alle Gattungen von Schriften, die im Reich der Dichtkunst und Beredsamkeit können gezogen werden, als Fabeln, Dichtungen, Allegorien, Träume, Gespräche, Schreiben, Oden, Cantaten, Schäfergedichte, Elegien, Satiren, Lehrgedichte, und Versuche von größeren Poesien wird man in diese Sammlung aufnehmen. Indessen ist man doch gar nicht Willens, allgemeine Hochzeitscherze, Leichenklagen, und Glückwünsche allhier aufzuheben, welche uns in die Hände fallen. Wenn diese Schriften nicht so beschaffen sind, dass sie auch andern ergetzlich, angenehm und nützlich seyn können, welche nicht mit an der Hochzeitstafel gesessen, oder die Leiche begleitet haben. So dürfen sie auch keines Nachdrucks von uns befürchten.“31 Im Blick auf Spaldings Schreiben an Schulemann dürfte Schwabes Urteil gespalten gewesen sein. Einerseits handelt es sich mit einer Glückwunsch-Schrift um eine Textsorte derjenigen Kasualliteratur, die gerade von der Monatsschrift ausgeschlossen werden sollte. Andererseits handelt es sich um eine Traumschilderung und darin um eine allegorische Dichtung, die ausdrücklich als Gattung bzw. literarisches Mittel erwünscht wird.32 Darüber hinaus erfüllt Spaldings Aufsatz den Anspruch, ‚auch anderen ergetzlich, angenehm und nützlich‘ zu sein, so dass Schwabe sich zur Aufnahme entschieden haben dürfte. Überdies entspricht Spaldings Glückwunsch-Schrift dem Kriterium, witzige und zugleich vernünftige Themen zu traktieren, „ohne sich pedantisch dabey zu erweisen“33; handelt es sich doch um einen witzigen Einfall, den Sieg der Weltweisheit als nützliche Angelegenheit des Menschen und der Religion in einem Traume zu schildern, und Charaktere, Begriffe und Kategorien als Personen auftreten zu lassen. Dem Inhalte nach passt daher Spaldings Glückwunsch-Schrift durchaus ins Programm, auch wenn es der Sache nach um eine Apologie der Metaphysik geht. Damit repräsentiert Spalding zwar nicht die poetische Grundtendenz der Belustigungen, steht jedoch mit seinem philosophischen Thema nicht alleine da.34 30
Schwabe, Belustigungen, Bd. 1, Vorrede, S. 11 ff. Ebd., S. 13. 32 Im 6. Stück (Bd. 1, Auf das Jahr 1741. Christmonat) findet sich ein anonymer Artikel mit dem Titel „Erzählung eines Traumes“. Im 1. Stück (Bd. 3, Auf das Jahr 1742. Heumonat) findet sich ein anonymer Artikel unter dem Titel „Ein Traum“. Im 3. Stück (Bd. 1, Auf das Jahr 1741. Herbstmonat) widmet Gottlieb Wilhelm Rabener einen Artikel der Gattung des Glückwunschschreibens unter der Überrschrift „De epistolis gratulatoriis … Oder deutlicher zu reden: Von der Vortrefflichkeit der Glückwunschschreiben nach dem neuesten Geschmacke. Wodurch Herrn N. N. als Derselbe die hohe Schule rühmlichst verließ, Ergebenheit bezeugen wollte Dessen aufrichtigster Freund und Diener Martin Scribler, der Jüngere“ (vgl. Ulbrich, Belustigungen des Verstandes, S. 26; 31; 24). 33 Schwabe, Belustigungen, Bd. 1, Vorrede, S. 14. 34 Im 1. Stück (Bd. 1, Auf das Jahr 1741. Heumonat) widmet sich eine Ode der „Thorheit der Gottesverächter“, im 4. Stück (Bd. 1, Auf das Jahr 1741. Weinmonat) stellt ein ungenannter Autor „Philosophische Mumaßungen von dem Aufenthalte der abgeschiedenen Seelen“ an, im 31
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Über diese inhaltlichen, gattungstheoretischen und poetologischen Gesichtspunkte hinaus hatte es sich Schwabe mit seinen Belustigungen zur Aufgabe gemacht, Nachwuchsförderung zu betreiben. „Es ist eine mit von den Absichten dieser Unternehmung, viele geschickte Köpfe unter uns, welche weder Gelegenheit haben, noch deren Umstände es zulassen, ganze Bände von Schriften zu verfertigen, hervorzuziehen, und bekannter zu machen.“35 Spalding passt in jeder Hinsicht in dieses Autorenprofil. Denn die Glückwunsch-Schrift stellt seine zweite Veröffentlichung dar, sieht man von den akademischen Qualifikationsschriften einmal ab. Der publizistische Vorgang des Wiederabdrucks in dem Leipziger Journal hat für Spalding Folgen. Er zeigt sich über die Aufnahme erfreut, die ihn bestärkt, sich zu den avantgardistischen Dichtern Deutschlands rechnen zu dürfen. Sie dürfte ihn ermutigt haben, sich in poetologische, literaturkritische und allgemein-schöngeistige Thematiken einzuarbeiten, um dem hohen Anspruch des Gottschedschen Organs gerecht zu werden. Ob er sich mit Gottscheds Poetologie eingehender beschäftigt hat, ist nicht zu eruieren, jedoch sehr wahrscheinlich, war Spalding doch der Leipziger Literaturpapst spätestens seit seiner Dissertation kein Unbekannter mehr. Auch insofern Gottsched selbst Schüler Christian Wolffs war, wird Spalding seine neue Orientierung nicht als Bruch mit seiner bisherigen Prägung verstanden haben. Das unmittelbare Ergebnis der literarischen Würdigung Spaldings durch die Leipziger sind zwei kürzere Aufsatze. Der erste, „Gedanken über die Verleumdung und die Spötterey“, wurde dann auch von Schwabe in die Märzausgabe von 1742 aufgenommen. Den anderen Artikel, „Von dem Recht der Critik über die moralischen Fehler sinnreicher Schriften“, veröffentlichte Spalding jedoch nicht mehr in den „Belustigungen“, sondern in dem Greifswalder Journal „Kritische Versuche zur Aufnahme der deutschen Sprache“ im Jahr 1744. Warum die Zusammenarbeit zwischen Spalding und Schwabes resp. Gottscheds Publikationsorgan nicht über eine zweite Veröffentlichung hinaus fortdauerte, darüber könnte nur spekuliert werden, da Spalding sich dazu in seiner Lebensbeschreibung nicht ausspricht. Zu diesem Vorgang tritt ein weiteres bildungsbiographisches Ereignis hinzu, welches seinerseits Spaldings thematische und publizistische Umorientierung seit den frühen 1740er Jahren verständlich macht. Eine Notiz in seiner Lebensbeschreibung enthält einen Hinweis, durch welche Umstände das Interesse des schöngeistig interessierten Theologen umgeprägt worden sein könnte. Dort schreibt er bezüglich seiner Tätigkeit als Hauslehrer bei einem Landadligen im 1. Stück (Bd. 1, Auf das Jahr 1742. Jenner) stellt Christoph Friedrich Neander Mutmaßungen über die „Größe des Schöpfers in dem Weltgebäude“ an und im 3. Stück (Märzmonat) stellt ein unbekannter Autor den „Beweis, dass diese Welt unter allen die beste sey“ auf (vgl. Ulbrich, Belustigen des Verstandes, S. 22 ff.). 35 Schwabe, Belustigungen, Bd. 1, Vorrede, S. 15.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Zeitraum zwischen 1737 und 1740 folgendes: „Während dieses Aufenthaltes fand ich unter den Büchern eines benachbarten Predigers und vertrauten Freundes meines Vaters die Unschuldigen Nachrichten. Ich las darin die Anzeigen von so vielen Büchern mit einer Begierde und einem Wohlgefallen, dergleichen ich bis dahin kaum jemals empfunden hatte. Besonders reizte mich darin die auswärtige Litteratur; und überhaupt war dies der Anfang zu demjenigen, was nachmals nebenher so ziemlich mein Steckenpferd geworden ist: Bücherkunde und Journallektüre.“36 Das Periodikum „Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen theologischen Sachen“, das Spalding im Zitat anspricht, stellt ein reines Rezensionsorgan dar, welches pro Jahr in einigen sogenannten Ordnungen erschien. In diesem Journal wurde nicht nur ältere und aktuelle deutsche, sondern auch ausländische, v. a. englische und französische Literatur publiziert. Inwieweit Spalding auf diesem Wege Kenntnis von derjenigen französischen und englischen Literatur bekommen hat, von der er in seiner eigenen literarischen Tätigkeit expliziten Gebrauch gemacht hat, kann letztgültig nicht gesagt werden. Diesbezüglich sind jedoch zwei Tatsachen bemerkenswert: Zunächst findet in den „Unschuldigen Nachrichten“ eine permanente Auseinandersetzung mit pietistischer und englischer deistisch-freidenkerischer Literatur statt, zumeist in einem eher kritischen Sinne. Sodann sind in dem Rezensionsorgan Besprechungen einiger Bücher anzutreffen, die dann später von Spalding übersetzt worden sind. Im Jahrgang 1709 findet sich eine Besprechung von Shaftesburys „Moralists“, dessen Autor aber nicht namentlich genannt wird. Das Urteil des Rezensenten: „Die Dialogi sind sehr schön und emphatisch/fast nach Platonis Art verfertigt/ welche sie aber auch leider darinnen exprimiren/daß sie zu einem subtilen Enthusiasmo anleiten.“37 Wenn also Spalding in den Jahren 1737–1740 auch die Bände der Unschuldigen Nachrichten vor 1737 zugänglich gewesen sein sollten, dann könnte er über seine ‚Journallektüre‘ erste Kenntnis von Shaftesburys „Moralists“ bekommen haben. In jedem Falle begann sich sein Interesse in Richtung westeuropäischer Literatur zu bewegen. Während also bis ca. 1740 Spaldings literarisches Interesse in verschiedensten Konstellationen der Bedeutung der Metaphysik, vornehmlich der Christian Wolffs, für Religion und Christentum galt, beginnt er nach 1737 parallel dazu, sich mit ausländischer, zunächst französischer, dann englischer Literatur zu beschäftigen. Diese Entwicklung wird in den 1740er Jahren in eine Reihe von Aufsätzen und Übersetzungsprojekten einmünden, wobei die „Gedanken über die Verleumdung und die Spötterey“ von 1742 diese eröffnen. Sie sind ein erstes Produkt sowohl von Spaldings neuem Kontakt nach Leipzig wie auch seiner Beschäftigung mit ‚auswärtiger‘ Literatur, zumal französischer, wie die folgende Analyse zeigen wird. 36 Spalding, 37 Löscher,
Lebensbeschreibung, S. 13 [S. 15]. Unschuldige Nachrichten, S. 694 f.
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1.1.3 Die „Gedanken über die Verleumdung und Spötterey“ (1742) Spaldings „Gedanken über die Verleumdung und die Spötterey“ stellen einen relativen thematischen Bruch zu seinem bisherigen Oeuvre dar. Während die Glückwunschschrift der Sache nach noch ganz der seit der Dissertation thematisierten Apologetik der Metaphysik und der ihr zugrundeliegenden Pietismuskritik gewidmet war, wendet sich nun der von Gottscheds Gnaden approbierte Jungliterat in seinem direkt für die „Belustigungen“ bestimmten Aufsatz einer anderen Thematik und mit der französischen Moralistik einer bisher von ihm unbeachteten geistesgeschichtlich-literarischen Tradition zu. Dass diese womöglich über seine Rezeption ausländischer Literatur mitbedingt sein könnte, wurde im vorherigen Abschnitt deutlich zu machen versucht. Die Hinwendung zu moralisch-moralistischen Überlegungen kann jedoch über den thematischen Zuschnitt des Veröffentlichungsorgans nur bedingt begründet werden. Moralisch-moralistische Aufsätze finden sich zwar in den „Belustigungen“, stellen aber eine mäßig repräsentierte Thematik dar.38 Wenngleich Spalding ethische Fragestellungen seit seiner Disputation berührt hat, dann doch bisher ausschließlich im Kontext religions‑ und christentumskonzeptioneller Überlegungen und im Anschluss vor allem an die pflichttheoretische Ethiktradition Christian Wolffs. Des weiteren hatte bereits die zwei Jahre zuvor erschienene Schrift über die „Staats-Gottseligkeit“ der Sache nach eine moralistische Analyse pietistischer Frömmigkeitspraxis enthalten, in der Spalding jedoch an keiner Stelle auf die französische Moralistik Bezug nahm. Ethische und moralistische Fragen waren also Spalding nicht ganz neu, treten aber nun in einem neuen geistesgeschichtlichen Reflexionshorizont ins Zentrum seines Interesses. Worum geht es nun in dem Aufsatz genau? Dies ist nicht leicht zu bestimmen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass der Aufsatz zwar über weite Strecken eine psychologische, bisweilen tiefenpsychologische Begründung des humanen Phänomens der Verleumdung und des Spottes leistet, unversehens aber auch eine literaturkritische Schlagseite bekommt, wenn er die französische Moralistik als Verleumdungsstrategie be‑ und verurteilt. Der Aufsatz changiert also zwischen einer moralisch-psychologischen und einer literaturkritischen Untersuchung. Eine andere Schwierigkeit bereitet es, den ideen‑ und philosophiegeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten. Vor allem Spaldings Verhältnis zur besagten französischen Moralistik stellt sich ambivalent dar. „Man kann es nicht leugnen, daß in der Welt mehr gelästert, als gelobt wird. Dieß ist eine Erfahrung, von der wir die Ursache itzo suchen wollen.“39 So die 38 Es seien nur einige Titel genannt: „Gedanken von der Freundschaft“, „Die Liebe und das Glück“, „Scherzschreiben von der Treue und Beständigkeit“, „Probierstein der Freundschaft“, „Betrachtungen über den Beruf“, „Der Ehestand“; „Die Tugend“, „Die Liebe“ (vgl. Ulbrich, Belustigungen des Verstandes, S. 25–28). 39 Spalding, Gedanken über die Verleumdung, S. 127 [S. 270].
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
empirische Diagnose und Ausgangsthese Spaldings. Mit Verleumdung meint Spalding nicht nur die „erdichteten Lästerungen“, sondern auch die „schlimmen Nachrichten und Urtheile, die wirklich gegründet sind“40. Das Phänomen, das Spalding vor Augen hat, besteht darin, dass zum einen die Verleumdung das Lob überwiege und dass die Menschen „mehr Vergnügen an dem Bösen, welches sie an andern wahrzunehmen meynen, als an dem Guten finden“41. Zum anderen basiere die Verleumdung nicht auf rationalen absichtsgeleiteten Überlegungen, sondern auf einem irrationalem Trieb und Affekt. „Ist es überlegte Absicht? oder ists ein Trieb, an welchem das Nachdenken keinen Theil hat? Ich will nicht sagen, daß die erstern Quellen gar nicht sollten gefunden werden; aber sie sind unfehlbar die seltensten.“42 Affektiv ist das Phänomen der Verleumdung mit Lebhaftigkeit, Hitze, Vergnügen und Lust begleitet, während sich das Lob der kühlen Überlegung verdanke. Es geht Spalding in der Analyse des Verleumdungsphänomens gerade darum, die lusttheoretisch-affektive Dimension der Verleumdung psychologisch zu rekonstruieren. „Ich will den Grund der Erfahrung untersuchen, welche uns die Menschen zum Verleumden so fertig zeiget. Dieses werde ich erhalten, wenn ich erklären kann: Warum die Menschen mehr Vergnügen an dem Bösen, welches sie an anderen wahrzunehmen meynen, als an dem Guten finden, und warum die Bekanntmachung des erstern mehr Lust verursachet, als des letztern.“43 Bevor Spalding seine eigene Antwort entwickelt, referiert und kritisiert er andere mögliche Erklärungsmuster, die das Phänomen nur unzureichend ergründen. Von Bedeutung für unseren Zusammenhang ist diejenige Erklärung, „die ein ganz moralisches Ansehen hat“44. Die Grundstruktur dieser Begründung besteht in der Behauptung, dass Verleumdung deshalb das Lob überwiegt, weil beim Menschen das Böse das wahre Gute dominiere. „Wie verderbt ist die Welt! Wie viele Fehler sind unter den Menschen! Wie wenig wahres Gute!“45 Dieses „Vorurtheil“ vertreten auch gewisse Sittenlehrer. „Das Vorurtheil ist einmal festgesetzet, daß sich mehr Böses als Gutes in der Welt findet. Es giebt unter den Sittenlehrern nicht wenige, die für diese Wahrheit mit großer Macht streiten, und sie besonders weit treiben. Die Esprits und die Rosche-foucaulds sind in diesen Stücken ungemein scharffsinnige Leute.“46 Beide zitierten Namen stehen für zwei bedeutende Hauptvertreter der französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts: Francois de Marcillac, Herzog von La Rochefoucauld (1613–1680) 40 Ebd.,
S. 128 [S. 271 f.]. S. 128 f. [S. 272]. 42 Ebd., S. 127 [S. 270]. 43 Ebd., S. 128 f. [S. 272]. 44 Ebd., S. 129 f. [S. 273]. 45 Ebd., S. 130 [S. 273]. 46 Ebd. 41 Ebd.,
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und Jacques Esprit (1611–1677). Spalding erblickt zutreffend die moralistische Argumentationsfigur dieser Autoren in der Aufdeckung der affektiven Tiefendimension und der Differenz von Faktizität und Schein hinsichtlich der ethischen Qualität menschlicher Handlungen: „Sie zeigen uns alles von der schlimmen Seite. Wo wir nichts, als die glänzendsten Tugenden, sehen, da nehmen sie die Decke hinweg, und o Himmel, welche Mängel! Welche Absichten! welche Bewegungsursachen, welch ein lasterhafter Grund.“47 Diese moralische Entlarvungsstrategie der französischen Moralistik meint Spalding nun ihrerseits demaskieren zu müssen, – gleichsam als Moralist zweiter Stufe. Sie wird als eine Art der Verleumdung bestimmt, die sich aus Argwohn und Ehrsucht speise. Verleumdung wird so weit gefasst, dass nicht nur die verleumderische Rede, sondern auch das verleumderische Gedenken hineingerechnet wird. Dabei bezieht sich Spalding auf einen dritten großen Vertreter der französischen Moralistik: „Sie reden nicht viel, saget Brüyere, sie denken desto mehr; und sehr gut von sich selbst, aber sehr schlecht von andern.“48 Jean de La Bruyères (1645–1696) Hauptwerk „Les Charactères de Théophraste, traduits du grec, avec les Charactères ou les moeurs de ce siecle“ (1. Aufl. 1688) stellen eine freie Übersetzung der Charaktere des Theophrast dar, der Bruyère umfangreiche unter Sachgruppen zusammengefasste aphoristische Reflexionen über sein Jahrhundert sowie über anthropologische, philosophische und moralische Themen hinzufügt. Dieses Werk, dass Spalding scheinbar gut kannte, thematisiert nun auch im 11. Kapitel „De l’homme [Vom Menschen]“ die Differenz zwischen Verleumdung und Spötterei in einem Sinne, die derjenigen Spaldings entspricht, wie wir weiter unten sehen werden. Die moralistische Erklärung der Verleumdung erscheint Spalding defizitär, da sie zwar von der objektiven Seite her die Sache plausibel zu machen versuche, jedoch die subjektiv-affektive Dimension nicht erklären kann. „Man muß eine ganz eigene Quelle in sich haben, welche alle diese Wirkungen mit einer gleichsam mechanischen Thätigkeit hervorbringt. Es muß eine Neigung in uns seyn, welche in dieser Art Gedanken und Reden ihre natürlichen Sättigungen hat. Und so befinden wir es auch: Die Eigenliebe ist diese Quelle, diese Neigung.“49 Die Eigenliebe stelle eine unbewusste den Menschen vollständig dominierende Neigung dar, die Spalding auch als Trieb bezeichnen kann. „Wie unumschränkt und zugleich wie verborgen ist diese Herrschaft. Ihr gedenket nicht an diesen Trieb! Das thut nichts. Er befiehlet euch doch, und ihr gehorcht ihm.“50 Die verhaltens bzw. deutungstheoretische Konsequenz der psychischen Struktur der Eigenliebe wird von Spalding so gezogen, dass das Gute jeweils anderer Menschen vom Subjekt als Übel für das Selbst gedeutet wird. Bonität wird vom jeweiligen Subjekt 47 Spalding, Gedanken über die Verleumdung, S. 130 [S. 274]. – Vgl. Balmer, Europäische Moralistik, S. 89. 48 Spalding, Gedanken über die Verleumdung, S. 131 [S. 275]. 49 Ebd., S. 132 [S. 276]. 50 Ebd.
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als das Je-Seinige bestimmt: „Wir machen also aus uns selbst die Reichthümer des Guten und Bösen, des Löblichen und des Tadelnswürdigen. […] Dieß suchet der Mensch. Er ist ein Mittelpunkt. Er dreht sich in seinem eigenen Kreise. Er hat eine über alle Maaße mächtige Centripetalkraft, das Rühmliche und Vorzügliche an sich zu ziehen.“51 Das wäre aber nach Spalding anthropologisch noch zu gut vom Menschen geurteilt, denn das an ihm selbst als gut Bestimmte kann auch am anderen Subjekt statthaben. Deshalb wird auch das ihm Ähnliche am Orte des je Anderen ins Negative umgedeutet. Diese Strategie mache das Wesen der Verleumdung aus. „Man wird noch mehr herunter gesetzt, wenn andere stärker schimmern. Das ist unerträglich. Wird es also nicht natürlich seyn, daß man, so viel möglich ist, alles neben sich herum niederdrücken muß, wenn man recht kenntlich hervorragen will?“52. Während der Schwerpunkt des Aufsatzes bis jetzt auf der Verleumdung lag, wird nun die Spötterei im Modus eines Vergleiches mit der Verleumdung hinsichtlich ihrer moralischen Bewertung eingeführt. Das Urteil fällt ambivalent aus. Während sich die Verleumdung nur auf fremde Menschen bezieht, macht der Spötter auch seine Freunde zum Gegenstand der Lächerlichkeit. Darin besteht ein negativer Überschuss gegenüber der Verleumdung. „Das Nachtheilige, was sie vorbringen, ist immer noch weit allgemeiner. Sie nehmen niemand aus. Der vertraute Freund ist nicht sicherer, als ein unbekannter Fremder. Dummodo risum excutiat, sibi, non hic cuiquam parcet amico. Hor.“53 Spalding bezieht sich in seiner Theorie des Spottes auf die Sermonen bzw. Satiren des Horaz. Wie Spaldings Horaz-Kenntnis vermittelt ist, lässt sich nur vermutungsweise rekonstruieren. Sicherlich gehörte Horaz zum klassischen Bildungskanon höherer Schulen und Universitäten. Darüber hinaus ließe sich im Blick auf Spalding namhaft machen, daß Gottsched seiner „Critischen Dichtkunst“ eine Übersetzung von Horaz’ „Ars poetica“ voranstellt und damit seinerseits die Horazrezeption angeregt hat. Damit würde ein Indiz mehr für Spaldings Gottschedrezeption vorliegen. – Das Zitat verfügt über eine Tiefenschicht, die unsere oben exponierte These bestätigt. Im Gewande des Zitates verweist Spalding darauf, dass seine Theorie der Verleumdung und des Spottes auch über eine literaturkritische Dimension verfügt, kommt doch das von ihm bemühte Zitat bei Horaz in einem Kontext zu stehen, in dem er eine Dichterkritik, eine Kritik der dichterischen Spottsucht, der Satire und in eins damit der Gattung der Tragödie vorträgt. Diese literaturkritische Konnotation seiner Theorie des Spottes bestätigt sich, wenn Spalding von der moralischen Verfassung spottender Schriftsteller urteilt: „Sie 51 Ebd.,
S. 132/134 [S. 277 f.]. S. 134 [S. 278]. 53 Ebd., S. 134 [S. 279]. – Spalding zitiert hier aus den „Sermones“ (Liber I, Sermo IV, 34 f.) des Horaz. In der Übersetzung von Schöne und Farber lautet das Zitat: „Wenn nur ein Gelächter herausspringt, dann kennt er gegen den Freund, ja gegen sich selbst keine Schonung“ (Horatius, Satiren/Sermones, S. 41). 52 Ebd.,
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[scil. die tugendhafte Gemüthsverfassung bei der Spötterei; G. R.] ist oft nur gar zu boshaft und giftig. Sie entspringet vielfältig aus einem bittern und feindseligen Grunde des Herzens. Man kann hievon an einer großen Anzahl von Schriftstellern Beyspiele finden.“54 Damit wird deutlich, dass Spalding im Kontext einer moralphilosophischen Abhandlung über ein allgemein-humanes Phänomen sein literaturkritisches Interesse dokumentiert, welches hier noch ganz im Hintergrund verbleibt und seinem moralphilosophischen Beweisziel dient. Mit dem Konnex von Literatur und Moralität klingt jedoch ein Thema an, welches dann im 1744’er Aufsatz im Mittelpunkt seines Interesses steht (vgl. II.1.1.4). Der moralische Wert bzw. Unwert des Spottes bemisst sich zum einen an der intentionalen Ebene, zum anderen an der Wirkung desselben. Hinsichtlich der subjektiven Disposition des Spötters fällt die Wertung positiver aus als bezüglich der Verleumdung: „Ich habe dennoch gesagt, daß sie [scil. Spötter; G. R.] besser sind, als die ernsthaften Verleumder; ich sage es daher, weil ich den Grund ihres Herzens in dieser Absicht nicht so böse finde. […] Es ist nicht die innerliche Abneigung gegen das menschliche Geschlecht; es ist nicht die boshafte Begierde, andere schlechter zu wissen, wodurch sie aufgebracht werden. Man findet vielmehr, daß sie bisweilen über sich selbst spotten.“55 Damit besteht die eine Differenz zwischen Verleumdung und Spott in der Ursache: Verleumdung basiert auf Eigenliebe als boshafter Begierde, Spott auf dem Verlangen nach Erheiterung. Jedoch erfährt der Spott bezüglich seiner Wirkung relativ zur Verleumdung eine moralische Abwertung, denn der Spott macht alle menschlichen Angelegenheiten zum Gegenstand des Gelächters und entwürdigt sie damit. „Jener [scil. Verleumder; G. R.] machet mich verhaßt; dieser [scil. Spötter; G. R.] durch hundert lustige Einfälle lächerlich.“ Spalding bestimmt das Verhältnis als eine Gegenläufigkeit von Intention und Wirkung: Die Intention des Spötters ist weniger böse als die des Verleumders, aber die Wirkung des Spottes ist schädlicher als die der Verleumdung, da sie ihm die Ehre der Verachtung versagt: „Man wird dem Nichts weit näher gebracht.“56 Dass Spaldings moralistische Analyse in Auseinandersetzung mit der französischen Moralistik steht, wie bereits angedeutet wurde, wird alleine sachlich durch das Begriffsfeld von Verleumdung, Spott, Eigenliebe und Neid deutlich, beinhaltet es doch moralistische Grundkategorien und Themen par excellence, wie sie bei den zitierten Autoren prominent anzutreffen sind.57 Über diese allgemeine Beobachtung hinaus soll an zwei Beispielen Spaldings unmittelbare Nähe zu La Bruyére und Rochfoucauld gezeigt werden. 54 Spalding,
Gedanken über die Verleumdung, S. 135 [S. 280]. S. 134 f. [S. 279]. 56 Ebd., S. 136 [S. 281]. 57 Vgl. La Bruyère, Charaktere, S. 15; 96 f.; 104; 242; 244; 255 f.; vgl. La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, Eigenliebe: Nr 1–3; 13; 81; 83; 88; 228; 236; 247; 261 f.; 312; 324; 494; 509; Neid: Nr. 27–29; 95; 280 f.; 328; 376; 406; 433; 476; 486. 55 Ebd.,
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Dass Spalding zunächst formal in der Doppelthematik von Verleumdung und Spott sowie auch sachlich in deren Verhältnisbestimmung auf La Bruyère fußt, kann direkt an einem Zitat des Franzosen gezeigt werden. „Menschen, die uns unser Gut durch Gewalttat oder ungerechte Machenschaften rauben oder durch Verleumdung die Ehre abschneiden, geben gewiß deutlich zu erkennen, daß sie uns hassen; doch das heißt noch keineswegs, daß sie jede Achtung vor uns verloren haben: darum ist es wohl möglich, daß wir uns einmal mit ihnen aussöhnen und sie sogar unserer Freundschaft würdigen. Spott dagegen kann man von allen Beleidigungen am wenigsten verzeihen; denn er ist die Sprache der Verachtung und ihr unmißverständlichster Ausdruck; er greift die Menschen in ihrer innersten Verschanzung an, in ihrem Selbstgefühl; er sucht sie in ihren eigenen Augen lächerlich zu machen; und so kommt ihnen zum Bewußtsein, daß der andere die denkbar schlechteste Meinung von ihnen hat, und sie werden unversöhnlich. Unser Hang, über andre zu spotten, die Leichtfertigkeit, mit der wir sie herabsetzen und verachten, ist eine Ungeheuerlichkeit; genau wie unser Zorn gegen die, welche uns verspotten, tadeln und verachten.“58 Es ist unschwer zu erkennen, dass sich Spaldings Vergleich von Spott und Verleumdung cum grano salis La Bruyères Verhältnisbestimmung dieser beiden Haltungen der Sache nach anschließt. Des Genaueren soll die ideengeschichtliche Abhängigkeit am Begriff der Eigenliebe gezeigt werden, der Spaldings grundlegende psychologische, ethische und anthropologische Kategorie darstellt. Wenn er auch die Rochefoucaulds und Esprits kritisiert, ist doch unübersehbar, dass dieser Vorbehalt zwar die Haltung und Begründungsstruktur der moralistischen Verleumdung betrifft, sein Konzeption der Eigenliebe jedoch durchaus auf seine Rezeption der französischen Moralisten zurückgeführt werden kann. Der Begriff des amour-propre bekommt in der französischen Moralistik eine negative Schlagseite59, indem er die anthropologisch positive Funktion der Eigenliebe, wie sie seit Aristoteles’ PhilautosKonzeption und der stoischen Oikeiosis-Lehre und auch noch in der christlichen Erbsündentheologie vertreten wurde60, ignoriert und die Eigenliebe moralischmoralistisch abwertet. Unter den Moralisten war es vor allem Rochefoucauld, der ein Konzept der Eigenliebe (franz. amour-propre bzw. amour de soi) ent58 Der deutschen gelehrten Öffentlichkeit war 1742 in deutscher Sprache nur folgendes Buch von La Bruyère zugänglich: La Bruyère, Vernünftige und sinnreiche Gedancken (Danzig 1739). Aus diesem Werk stammt auch das Zitat. 59 Vgl. Dierse, Selbstliebe, Sp. 472. 60 Die Selbstliebekonzepte der Alten Kirche kennen in der stoischen Tradition einen doppelten Begriff von amor sui. Der eine stellt den Inbegriff oder die affektive Quelle der Sünde, der andere den Selbsterhaltungstrieb dar. Augustin bspw. unterscheidet zwischen amor sui als superbia bzw. Sünde auf der einen Seite und Selbsterhaltung auf der anderen Seite, während Boethius den Begriff der sui caritas zur Bezeichnung des gebotenen amor sui gebrauchte. Thomas führt die Unterscheidung von ordinatus et inordinatus amor sui ein, wobei erstere geboten, letztere die Wurzel der Sünde darstellt (omnium peccatorum radix). (Vgl. Fuchs, Amour-propre, Sp. 206 ff.)
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wickelt und dieses im Zentrum seines „von starkem Pessimismus geprägten Menschenbildes“61 verortet. Dass Spalding mit seinem Begriff der Eigenliebe in der Tradition des von ihm zitierten La Rouchefoucauld steht, soll an sechs Begriffselementen von dessen Amour-propre-Konzept exemplifiziert werden, die auch Spalding mit seinem Begriff der Eigenliebe verbindet, wie zum Teil bereits gezeigt wurde. Zum ersten stellt Rochefoucauld die Dominanz der Neigung über die (moralische) Rationalität ins Licht. „Die Eigenliebe ist klüger als der klügste Mann der Welt.“62 Zum zweiten verbleibt diese innerpsychische Herrschaftsstruktur verborgen und unbewusst: „Der Mensch glaubt oft, selbst zu führen, wenn er geführt wird, und während sein Geist auf sein Ziel zustrebt, zieht ihn sein Herz unvermerkt nach einem anderen hin.“63 Zum dritten besteht durch diese Differenz von Tiefenschicht und Oberfläche eine Differenz von Schein und Sein bzw. Tugend und Trieb der Eigenliebe, deren Aufklärung Rochefoucaulds moralistisches Grundmotiv darstellt.64 „Was wir für Tugend halten, ist oft nur eine bunte Reihe von Handlungen und Interessen, die das Schicksal oder unser eigenes Geschick zu einem Ganzen verbunden hat; und nicht immer aus Tapferkeit und Keuschheit sind die Männer tapfer und die Frauen keusch.“65 Zum vierten besteht die Struktur der Eigenliebe, wie bei Spalding66, darin, Selbst und Welt zu unterscheiden wie auch nur dasjenige zu lieben, welches einen Bezug zum Selbst hat sowie daran auch die Bonität einer Sache zu bemessen.67 „Wir lieben alles nur in bezug auf uns und folgen nur unserem Geschmack und Vergnügen, wenn wir unsere Freunde uns selbst vorziehen …“68 Damit hängt zum fünften der Neid zusammen. Auch der Begriff des Neides spielt bei Spalding und La Rochefoucauld im Kontext des Eigenliebekonzeptes eine zentrale Rolle. „Man muß eine Wolke machen, damit man vor dem brennenden Glanze eines fremden Verdienstes unter Schatten komme. Ich gerathe, gleichsam unvermerkt, auf die Wirkung des Neides, indem ich von der Quelle der Verleumdung handele.“69 Ganz ähnlich Rochefoucauld: „Der Neid ist eine Leidenschaft, die ein Gut anderer nicht ertragen kann.“70 Schließlich wird die Freundschaft in den Schatten der Eigenliebe hineingezogen: Nur der sei Freund, der im Dienste der Eigenliebe 61
Ebd., Sp. 208. Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, S. 3 (Maxime Nr. 4). 63 Ebd., S. 8 (Maxime Nr. 43). 64 Vgl. Balmer, Europäische Moralistik, S. 89. 65 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, S. 3 (Maxime Nr. 1). 66 Vgl. Spalding, Gedanken über die Verleumdung, S. 132 [S. 276]. 67 „Außer dieser subjektiven Empfindlichkeit (sensibilité, 528) kennt La Rochefoucauld keinen objektiven Maßstab für den Grad der Betroffenheit durch Widerfahrnisse und deren Wertung als gut oder übel. Nichts anderes als die Bekräftigung oder Verletzung der Eigenliebe ist ausschlaggebend für das Selbstgefühl und das Verhältnis zu den Mitmenschen, wie es in den Leidenschaften erlitten und ausgetragen wird.“ (Balmer, Europäische Moralistik, S. 90 f.). 68 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, S. 14 (Maxime Nr. 81). 69 Spalding, Gedanken über die Verleumdung, S. 133 [S. 278]. 70 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, S. 7 (Maxime Nr. 28). 62 La
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steht. „Was die Menschen Freundschaft genannt haben, ist nur eine Verabredung zur gegenseitigen Schonung der Interessen und zum Austausch guter Dienste; es ist schließlich nur ein Handeln, bei dem die Eigenliebe stets auf ihren Gewinn bedacht ist.“71 Betrachten wir abschließend Spaldings Untersuchung hinsichtlich ihrer moralphilosophischen Grundstruktur, so fällt zunächst die deskriptive und introspektive Perspektive ins Auge, die jeglichen normativen Appell ausspart. Psychologisch tiefsinnig analysiert er die psychische und kommunikative Struktur der Verleumdung und des Spottes. Des näheren ist es Spaldings Intention, die irrationale, affektive und psychische Struktur der Verleumdung und des Spottes auszuleuchten. Die Verleumdung verfügt mit der Eigenliebe über eine die moralische Rationalität dominierende unbewußte Neigungs‑ und Triebdimension als Bewegungsgrund und geht mit dem Begleitreflex des Lustgefühls einher. Hierin ist die anthropologische Tiefendimension des moralistischen Konzeptes Spaldings zu erblicken: Menschliches Verhalten ist neigungsbedingt, triebgesteuert und verfügt damit über eine Affekt-, Unbewußtheits‑ und Irrationalitätsdimension. Die Eigenliebe stellt einen anthropologische Grundstruktur dar, die das Selbst‑ und Weltverhältnis nicht nur mitbedingt und im stoischen Sinne transzendierbar ist, sondern gänzlich dominiert. Das Weltverhältnis bzw. Verhältnis zu anderen Menschen ist geprägt durch eine „innerliche Abneigung gegen das menschliche Geschlecht“ bzw. eine „boshafte Begierde, andere schlechter zu wissen“72. Es deutet sich an, dass Spalding mit seinem Eigenliebekonzept einen allgemeinen anthropologischen Pessimismus verbindet. Er entschränkt seine Theorie an mindestens zwei Stellen denn auch explizit ins Anthropologische: „Der Mensch theilet alles, was da ist, alles, was er sieht und kennt in zweene Theile. Das eine ist das Selbst, das andere ist die ganze übrige Welt.“73 „Dieß suchet der Mensch, Er ist ein Mittelpunct. Er drehet sich in seinem eigenen Kreise.“74 Spalding zeigt damit indirekt an, dass es ihm hier nicht nur um eine Theorie der Verleumdung und des Spottes geht, sondern um allgemeine anthropologische Aussagen, die er im Modus einer konkreten moralphilosophischen Thematik vorträgt: Verleumdung und Spott entspringen der Eigenliebe, die als natürliche Grundneigung des Menschen zu verstehen ist. Resümierend sollen zwei Aspekte hervorgehoben werden: Zunächst ist festzuhalten, dass sich Spalding mit seiner Analyse der moralischen Phänomene der Verleumdung, des Spottes und der Eigenliebe erstmals einem genuin moralisch-moralistischen Thema zuwendet. Dabei konnte ein direkter Einfluss der französischen Moralistik, v. a. La Bruyères und Rochefoucaulds, eruiert werden. Sodann konnte deutlich gemacht werden, dass Spaldings 71 Ebd.,
S. 14 (Maxime Nr. 83). – Vgl. auch Maximen Nr. 80–88 (S. 14 f.). Gedanken über die Verleumdung, S. 135 [S. 279]. 73 Ebd., S. 132 [S. 276]. 74 Spalding, Von dem Recht der Critik, S. 134 [S. 278]. 72 Spalding,
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moralistischen Erörterungen über eine anthropologische Tiefendimension verfügen. Auch mit dieser ist Spalding in der Tradition der pessimistischen Anthropologie der französischen Moralistik verankert. Hierbei gilt der affektivunbewussten Dimension der humanen Neigung zur Eigenliebe sein vorrangiges Interesse. Diese Affekt-, Neigungs‑ und Triebschicht des Menschen erfährt dabei eine negative Würdigung. Spalding erweist sich in seiner diesbezüglichen Analyse als genauer Beobachter psychischer Strukturen. 1.1.4 Spaldings Überlegungen zur Literaturkritik im Gottschedschen Geiste (1744) Spaldings beruflicher Werdegang hatte ihn 1742 wieder auf eine Hauslehrerstelle verschlagen. Die Erziehung des Sohnes des schwedischen Kammerherrn v. Wolfradt beschäftigte ihn bis zum Sommer 1745, weil sich die Aussicht auf eine Gouvernementspredigerstelle in Stralsund nach anfänglich guten Aussichten schließlich zerschlagen hatte.75 Wie bereits erwähnt, beschließt Spalding mit der Veröffentlichung der „Gedanken über die Verleumdung und die Spötterey“ seine nur zwei Stücke umfassenden Beiträge für die Leipziger „Belustigungen“ und wechselt zu lokalen Journalen. In seiner Lebensbeschreibung heißt es dazu: „In diese Jahre [scil. ca. 1740–46; G. R.] gehören auch verschiedene Aufsätze in den greifswaldischen kritischen Versuchen (von dem Rechte der Kritik über die moralischen Fehler sinnreicher Schriften) und den pommerschen Nachrichten.“76 Es handelt sich mit der erstgenannten Zeitschrift um die Monatsschrift „Critische Versuche zur Aufnahme der deutschen Sprache“, welche sich vornehmlich philologischen, sprachgeschichtlichen, literaturkritischen und poetologisch-rhetorischen Themen widmete sowie auch umfangreiche Rezensionen einschlägiger zeitgenössischer Literatur publizierte. In diesem Journal veröffentlicht Spalding 1744 im 13. Stück einen neun Seiten umfassenden Aufsatz unter dem Titel: „Von dem Recht der Kritik über die moralischen Fehler sinnreicher Schriften“. Spaldings Bemerkung in seiner Lebensbeschreibung lässt vermuten, dass er in diesem Periodikum mehrere Beiträge publiziert hat. Dies kann jedoch bis dato nicht bestätigt werden, da die Mehrzahl der Artikel in den „Critischen Versuchen“ anonym veröffentlicht wurde. Durch den Inhalt dieses Journals können einige Vermutungen über Spaldings Rezeption zeitgenössischer Literatur angestellt werden. Denn es ist damit zu rechnen, dass ihm als wenig begütertem Hauslehrer in seiner ‚Bücherkunde und Journallektüre‘ vor allem die regionalen Medien zur Verfügung standen. Diese Vermutung, dass er die „Critischen Versuche“ tatsächlich nicht nur als Publikationsorgan nutzte, sondern auch als Leser rezipierte und seinen Beitrag in den 75 Vgl.
Spalding, Lebensbeschreibung, S. 125 [S. 18 f.] S. 126 [S. 20].
76 Ebd.,
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Diskursrahmen des Greifswalder Organs einrückte, bestätigt er mit einer Bemerkung in seinem Aufsatz: „Es ist bereits an einem Ort dieser Versuche mit vielem Grunde angemerket worden, daß ein Dichter zwar auch suchen müsse, durch seine Arbeit zu ergötzen; aber dieses dürfe doch nicht sein letzter Endzweck seyn.“77 Spalding erweist sich hier als aufmerksamer Leser des Greifswalder Periodikums. Im Blick auf seine spätere literarische Betätigung und Themenstellungen soll auf vier in den „Critischen Versuchen“ veröffentlichte Rezensionen und Repliken hingewiesen werden, die sich der zeitgenössischen Debatte um Gottscheds Poetologie und Baumgartens ersten ästhetischen Entwurf widmen. Im 4. Stück (1742) rezensiert ein namentlich nicht genannter Autor Johann Christoph Gottscheds „Critische Dichtkunst“78 und im 6. Stück (1742) findet sich eine anonyme Besprechung von Alexander Gottlieb Baumgartens „Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus“, in denen der Wolffschüler bereits 1735 seine poetologische und ästhetische Theorie in nuce entworfen hat, die er dann in der „Metaphysica“ (von 1739) und der „Aesthetica“ (von 1750 ff.) in extenso entfaltet79. Im 15. Stück nimmt sich noch einmal ein 34seitiger Beitrag indirekt derselben Schrift Baumgartens an und greift damit in die Debatte ein. Es ist eine Replik auf eine Verteidigung der Baumgartenschen Schrift durch dessen Hallenser Schüler und Nachfolger Georg Friedrich Meier: „V. M. Georg Friedrich Meiers Vertheidigung der Baumgartenschen Erklärung eines Gedichts, wider das 5. Stück des I. Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste“. Georg Friedrich Meier war den Lesern der „Critischen Versuche“ bereits über eine Rezension im 11. Stück bekannt („M. Georg Friedrich Meier Gedanken von den Scherzen“), die im 12. Stück weitergeführt wurde („Fortsetzung der Gedanken von den Scherzen“).80 – Im Blick auf Spalding lassen diese Beiträge darauf schließen, dass der junge Literat spätestens seit 1743 bzw. 1744 Kenntnis von den poetologischen Debatten um Gottscheds, Meiers und Baumgartens Poetikkonzeptionen gehabt haben dürfte. Bestätigt wird diese Vermutung einer eingehenden Auseinandersetzung mit Gottsched, Baumgarten und Meier durch zwei biographische Daten. Im Frühjahr 1745 unternimmt Spalding zunächst als Hofmeister des Herrn von Wolfradt eine mindestens zweimonatige Reise nach Halle, wo er u. a. auch Georg Friedrich Meier trifft.81 Näheres kann der Autobiographie nicht entnommen werden. Von Halle reist er sodann auch nach Leipzig, um dort sowohl den Redakteur der „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“, also Johann Joachim Schwabe, 77 Spalding, Von dem Recht der Critik, S. 139 [S. 24]. – Dass Spalding aufmerksam die literarischen Organe studierte, in denen er selbst publizierte, beweist auch ein diesbezüglicher Hinweis in seiner Vorrede zur Silhouetteübersetzung (vgl. Spalding, Vorrede Silhouette, S. 171 [S. 14]). 78 Vgl. Critische Versuche, Bd. 1, S. 413 ff. 79 Vgl. ebd, S. 593. 80 Ebd., Bd. 2, S. 500 ff. 81 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 127 [S. 23].
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als auch keinen Geringeren als Johann Christoph Gottsched zu treffen: „Von Halle aus reisete ich auf einige Tage nach Leipzig in der Zeit der Messe, und lernte daselbst nur die Herren Gottsched und Schwabe kennen.“82 Dieser persönliche Kontakt lässt einmal mehr auf eine genauere Kenntnis nicht nur der sekundären Literatur, sondern auch der Veröffentlichungen Gottscheds und Meiers, evtl. auch Baumgartens, rückschließen. Scheinen diese Überlegungen auch etwas vage und für den unmittelbaren Kontext wenig relevant, so sind sie doch für ein sinnvolles Verständnis von Spaldings Shaftesburyrezeption unerlässlich. Dass schon der 1742er Aufsatz – wenn auch nur am Rande – über literaturkritische Implikationen und Motive verfügt hatte, haben wir im vorherigen Abschnitt zeigen können. In dem 1744er Aufsatz nun handelt es sich weniger um eine literaturkritische Analyse irgendeines poetischen Werkes als vielmehr um eine theoretische Abhandlung zur wesentlichen Funktion von Literaturkritik. Spalding setzt ein mit einer zeitdiagnostischen Analyse des Zusammenhangs zwischen der literaturgeschichtlichen Entwicklung und der Literaturkritik in Deutschland, die in eine gegenläufige Doppelthese mündet: Die „Künste des Witzes, der Beredsamkeit und der Sprache unter den Deutschen“ verdanken sich zwar der Kritik, die daher Hochachtung verdiene; jedoch bedarf auch sie einer kritischen Analyse, da in ihr „Ausschweifungen und … Misbräuche“83 festzustellen seien. Gerade die Unmäßigkeit des literaturkritischen Tadelns führt Spalding – und hierin schließt er sich der Sache nach nahtlos an den 1742er Aufsatz an – auf den Darstellungswillen der „schlimme[n] Gemüthsart“ der Kritiker zurück: „Es ist immer eher möglich, auch in dem gegründeten Tadel der Fehler, eine schlimme Gemüthsart zu hegen, als bey dem rechtmässigen Lobe der Schönheiten. […] Ich frage mich oft: Warum tadeln doch diese Herren so unendlich viel mehr, als sie loben?“84 Damit nimmt er den in dem Aufsatz von 1742 leise gesponnenen anthropologischen und moralistikkritischen Faden hier wieder auf und zieht ihn ins Literaturkritische aus: Nicht nur dem Menschen allgemein sei ein Hang zur Verleumdung bzw. Tadel eigen, sondern im Besonderen auch dem Literaturkritiker. Negativ bescheidet er den Erklärungsversuch, dass der Tadel der Funktion von Literaturkritik gerecht werde, nämlich „zur Verbesserung des Geschmacks“ der Verfasser und Leser beizutragen; denn auch die „Bemerkung und Ergründung der Schönheiten“85 erfülle diesen Zweck. Auch wenn Spaldings Aufsatz in der Geschichte der Theorie der Kunst‑ und Literaturkritik wenig Beachtung geschenkt wurde, so kann doch würdigend hervorgehoben werden, dass er mit seiner These, nicht so sehr zu tadeln, sondern vielmehr zu loben, seinen Finger in eine Wunde der Literaturkritik und ihrer Theorie in der Aufklärung gelegt hat. Gegen Rainer Baasners Globalurteil, erst „Wieland und dann 82 Ebd.,
S. 128 [S. 24]. Von dem Recht der Critik, S. 137 [S. 21]. 84 Ebd., S. 137 f. [S. 22]. 85 Ebd., S. 138 [S. 23]. 83 Spalding,
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die Romantiker“ hätten begonnen, auch „die lobenswerten Seiten der Literatur hervorzuheben“86, kann im Blick auf Spalding gesagt werden, dass schon er ein allgemeines Desiderat der aufgeklärt-aufklärerischen Theorie und Praxis der Literaturkritik aufgezeigt hat. Es ist nun Spalding nicht darum zu tun, den Tadel in toto als unbotmäßig zu desavouieren, sondern er stellt vielmehr eine besondere Form desselben ins Zentrum seiner Kritik. Gemäß seiner Maxime einer Entsprechung von der Art des Fehlers und der Vehemenz des Tadels sei das Missverhältnis zwischen der Heftigkeit des Tadels und der Nichtigkeit des Fehlers auf der einen und die damit einhergehende fehlende Kritik wirklicher Fehler auf der anderen Seite problematisch. Was sind nun für Spalding wirkliche Fehler? Sein Begriff des literarischen Fehlers wird in einen anthropologischen Horizont eingerückt: Literaturkritik und ihre Fehleranalyse müsse sich dem „Ziel aller menschlichen Beschäfftigungen“ widmen, welches in „der letzten allgemeinen Vollkommenheit“87 bestehe. Von dieser allgemeinen Vollkommenheit ist die Vollkommenheit des Menschen ein integraler Bestandteil, so dass die Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung des Menschen der Zweck der „witzigen Künste“ als auch folgerichtig der Kunstkritik ist. „Die witzigen Künste haben einen letzten Zweck, und das kann kein anderer seyn, als den Menschen auf eine angenehme Art zu bessern.“88 Da nun die eigentliche Vollkommenheit des Menschen in dessen Moralität besteht, muss die Gattung der moralischen Fehler ins Zentrum der Kunstkritik rücken. Denn diese betreffen die Zweckbestimmung der Kunst wesentlich, während stilistische und andere Fehler als unwesentlich in den Hintergrund zu treten haben. In der Zweckbestimmung der Literatur nimmt Spalding die von Horaz überlieferte antike poetische Maxime des prodesse et delectare auf, zeichnet aber in diese dichotomische Zweckbestimmung die Unterscheidung von mittelbarem Zweck und Endzweck ein: Es sei richtig, „daß ein Dichter zwar auch suchen müsse, durch seine Arbeit zu ergötzen; aber dieses dürfe doch nicht sein letzter Endzweck seyn.“89 Hierin bezieht er sich wie bereits in den „Gedanken von der Verleumdung“ (vgl. II.1.1.3) auf Horaz: „Non satis est risu diducere rictum Auditoris. Hor.“90 Das Zitat stammt aus dem 10. Sermon (Liber primus) von Horaz. Im Kontext von dessen Kritik an dem Satirendichter Lucilius fällt diese poetische Invektive: „Ich meine, es kann nicht genügen, das Maul des Hörers zu breitem Lachen aufzureißen“91. Von einer moralischen Letztabzweckung der Satire bzw. Poesie allgemein ist in diesem Sermon nicht die Rede. Spalding reißt also das Diktum, wenn er es denn direkt von Horaz zitiert, gänzlich aus seinem 86 Baasner,
Literaturkritik im 18. und 19. Jahrhundert, S. 24. Von dem Recht der Critik, S. 139 [S. 23]. 88 Ebd., S. 139 [S. 23 f.] 89 Ebd., S. 139 [S. 24]. 90 Ebd. 91 Horatius, Satiren/ Sermones, S. 81. 87 Spalding,
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Kontext92. Es verwundert, warum Spalding sich nicht auf die „Ars poetica“ des Horaz bezogen hat, die mit ihrem prodesse et delectare unmittelbarer auf seiner argumentativen Linie liegt93: Das prodesse sei der Endzweck, das delectare nur ein mittelbarer Zweck der Kunst resp. Literatur. Nach der Bestimmung dieses Endzweckes habe sich demgemäß die Funktion der Kunstkritik zu richten: „Ist aber eine angenehme Vorstellung der Tugend und alles, was dazu behülflich seyn kann, die Hauptabsicht der Wercke, die von dem Witze herrühren, so müssen sie auch nothwendig überhaupt danach geschätzet, und in besondern Fällen darnach beurtheilet werden können.“94 Damit wird das poetische prodesse ethisch bestimmt und die poetische Vollkommenheit besteht in ihrem Nutzen für die Tugend, wonach sich auch die Kunstkritik zu richtet habe: „Und die Critik, die sie nach ihrer Uebereinstimmung mit den Regeln der Vollkommenheit prüfen soll, würde ihre Pflicht überaus nachlässig ausrichten, wenn sie sich nicht bey diesem Punkt nach dem Grade seiner Wichtigkeit aufhielte.“95 Mit seiner moralischen Abzweckung der schöngeistigen Literatur fährt er in reinstem Gottschedschem Fahrwasser, hatte doch auch der Leipziger in seiner „Critischen Dichtkunst“ der Poesie die Funktion ästhetischer Moralerziehung zugesprochen Hatte Spalding bereits in seinen „Gedanken über die Verleumdung“ eine fundierte Kenntnis französischer Literatur bekundet, so nimmt er auch in seinem 1744er Aufsatz auf einige französische Philosophen und Literaten Bezug. Dass er bei seiner Rezeption auswärtiger Literatur zunächst tatsächlich eher der französischen als der englischen zugetan war, davon gibt er indirekt am Ende seines Aufsatzes Zeugnis: Spalding zitiert eine längere Passage aus Alexander Popes „An Essay on criticism“ (1711) aus der französischen Übersetzung Jean Francois du Bellay du Resnel „Essai sur la critique“ von 1730.96 Dass Spalding diesen Franzosen kannte, wurde bereits bei der Analyse der Vorrede zur SilhouetteÜbersetzung gezeigt (vgl. I.3.1). Darüber hinaus beruft sich Spalding mit seiner Kritik an der einseitigen Bestimmung der Poesie zur Belustigung auf Pierre Bayle: „Bayle, der grosse Vertheidiger der Unflätereyen, will doch mit denjenigen Schriftstellern nichts zu thun haben, die zu keinem anderen Ende schlüpfrige Erzählungen und Beschreibungen machen, als die ihnen ähnliche Gemüther der Leser zu belustigen.“97 Indirekt meint Spalding, zudem auch in Nicolas Boileau-Despréaux 92 Es sei hier angemerkt, dass Georg Friedrich Meier in seinen „Gedancken von Schertzen“ von 1744 dieselbe Sentenz von Horaz zitiert (vgl. Meier, Gedancken von Schertzen, § 90, S. 116). Darauf, dass Spalding Meier kannte, wurde bereits verwiesen. Ob Spalding die Schrift des Hallensers wirklich kannte, kann mit letzter Sicherheit nicht gesagt werden. Sowohl das Horazzitat als auch die thematischen Berührungen mit Meiers Konzeption legen dies jedoch nahe. 93 Vgl. Horatius, Ars poetica, S. 24–27. 94 Spalding, Von dem Recht der Critik, S. 139 [S. 24]. 95 Ebd., S. 139 f. [S. 24]. 96 Vgl. ebd., S. 144 [S. 29]. 97 Ebd., S. 142 [S. 27].
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
(1636–1711), den er bereits in den „Gedanken über die Verleumdung“ zitierte98, einen Gewährsmann der ethischen Funktion der Literaturkritik zu haben.99 Ohne diese Behauptung zu erörtern, so erhellt doch Spaldings Kenntnis Boileaus auch seine Bezugnahme auf Longin100, den nach Aristoteles und Horaz bedeutendsten Literaturtheoretiker der Antike. Es ist wahrscheinlich, dass Spalding Longin über Boileau kennengerlernt hat, der sich seinerseits im Kontext seiner literaturkritischen Studien nicht nur mit Horaz’ „Ars poetica“, sondern auch mit Longins Schrift „Vom Erhabenen“ befasst hat und diese 1674 ins Französische übersetzte, wodurch die Longin-Rezeption des 18. Jahrhunderts angeregt und belebt wurde.101 Wie Spalding auf Boileau gestoßen ist, kann nur vermutet werden: Wenn Spalding Gottscheds Critische Dichtkunst kannte, dann kann er dort neben der viel zitierten „Ars poetica“ von Horaz auch auf Boileaus „L’art poetique“ gestoßen sein, auf die sich Gottsched des Öfteren bezieht.102 Gottsched nimmt denn auch direkt auf Longin bezug, wenn auch eher kritisch103. An Longin interessiert Spalding nun vor allem dessen Begriff des Erhabenen: „Wenn wir dem Longin glauben, so sind die Kunstrichter auch deswegen zu einer besondern Schärfe gegen die Beleidigungen der Tugend verbunden, weil dadurch der Geschmack verderbet, und der Geist zu dem wahren Erhabenen unfähig gemacht wird. Die Leidenschaften der Wollust sagt er, bringen uns in eine Sclaverey, oder stürzen uns vielmehr in einen Abgrund, welcher alle unsere grossen Geschicklichkeiten verschlinget. So bald ein Mensch die Beobachtung der Tugend aus den Augen setzet, so kann er seine Gedanken nicht mehr recht erheben, noch etwas als gemeines sagen; seine ganze Seele wird mit einer allgemeinen Verderbniß überschwemmet; Alles edle und grosse verwelket und vertrocknet gleichsam von selbst in ihm.“104 Mit seinem Rekurs auf Longin vertieft Spalding seine Theorie der moralischen Kunstkritik um einen wesentlichen Gesichtspunkt. Der Endzweck der Poesie, die moralische Vervollkommnung des Menschen, hat also noch eine weitere Funktion. Unmoralische Poesie mache den Geist zum wahrhaft Erhabenen unfähig. Was heißt das? Zum ersten ist die Frage zu klären, ob mit dem wahrhaft Erhabenen die moralische Vollkommenheit 98
Vgl. Spalding, Staats-Gottseligkeit, S. 115 [S. 20]. Spalding, Von dem Recht der Critik, S. 140 [S. 25]. 100 Spalding spielt auf den bedeutenden Autor und Philosophen Dionysius Kassius Longinus (ca. 210–273) an, der sich mit seinem griechischen Traktat „Peri hypsous [Vom Erhabenen]“ (vgl. Longinus, Vom Erhabenen) in die europäische Geschichte der Kunst‑ und Literaturtheorie eingeschrieben hat. (vgl. Spalding, Kleine Schriften I, S. 439 [Erläuterungen]). 101 Vgl. Zelle, Schönheit und Erhabenheit, S. 59 ff. 102 . Vgl.Gottsched, Critische Dichtkunst, II, § 20, S. 162; III, § 18, S. 182; § 25, S. 188; IV, § 2, S. 196; § 29, S. 222; VI, § 31, S. 279; VII, § 32, S. 315; § 33, S. 316 f.; VIII, § 19, S. 343; § 25, S. 350; IX, § 13, S. 363; § 28, S. 379; XI, § 2, S. 422; § 4, S. 424; § 17, S. 437; § 21, S. 442; XII, § 6, S. 461; § 24, S. 480. 103 Vgl. Ebd., VIII, § 25, S. 350; XI, § 2, S. 422; § 22, S. 443; § 27, S. 449. – Vgl. Kemper, Deutsche Lyrik, S. 255. 104 Spalding, Von dem Recht der Critik, S. 142 f. [S. 27 f.]. 99 Vgl.
1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe
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oder eine geistige Einstellung gemeint ist, die über das Moralische hinaus auch anderes einbezieht. Die All-Aussagen des Zitates lassen letzteres vermuten: ‚alle unsere grossen Geschicklichkeiten‘, ‚seine ganze Seele‘, ‚alles edle und grosse‘. Tugendhafte Poesie und moralische Literaturkritik haben also über die moralische Vervollkommnungsfunktion hinaus eine basale geistig-seelische Funktion, nämlich die Fähigkeit zu begründen, die Gedanken zu erheben und den „höhern Fähigkeiten“ der Menschen keine „Hinderungen in den Weg“105 zu legen. Die psychologische Begründung besteht darin, dass die Untugend darin gründet, den Leidenschaften der Wollust das Feld zu überlassen, wodurch der Sinn von allem Hohen und Edlen ‚in einen Abgrund‘ abgelenkt wird. Spalding rückt also seine Überlegungen zur Funktion von Kunstkritik nicht nur in einen allgemeinen moralphilosophischen, sondern darüber hinaus auch in einen psychologischen und anthropologischen Reflexionskontext ein. Ungeachtet der in dem Aufsatz anzutreffenden vor allem französischen Autoren und Spaldings Vermeidung jedweder Bezugnahme auf die im vorherigen Abschnitt benannten Vertreter der deutschen ästhetisch-poetologischen Debatte dieser Jahre, deuten doch einige Termini an, dass Spalding diese kannte und sich in seinem Grundkonzept mit dem, was Kunst resp. Literatur bedeuten, mit ihnen im Wesentlichen einig wusste. Dies betrifft sowohl den Begriff der Schönheit wie auch den der Vollkommenheit und des Geschmacks. Diese stellen Grundkategorien der ästhetisch-poetologisch imprägnierten metaphysischen Psychologie bzw. psychologischen Poetologien und ästhetischen Konzepte der 1730er und 1740er Jahre dar, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird (vgl. III. Kapitel). Hier seien jedoch mit Hinweis auf diese Debatten, die mit den Namen Wolffs, Gottscheds, Baumgartens und Meiers verbunden sind, die Traditionslinien schon grob angedeutet. Einem in diese Richtung weisenden Indiz sei hier nachgegangen. Spalding spricht von der „poetischen Vollkommenheit“106 und qualifiziert damit den Vollkommenheitsbegriff terminologisch in einer Weise, die unmittelbar auf Baumgartens frühen Entwurf einer Poetologie verweist. Dort heißt es in § 11: „Poeticum dicetur quicquid ad perfectionem poematis aliquid facere potest [Poetisch soll alles das genannt werden, was zur Vollkommenheit eines Gedichtes irgendetwas beizutragen vermag]“107. Neben dem Vollkommenheitsbegriff als poetologischer Kategorie findet sich bei Baumgarten auch der Begriff des Geschmacks, wenngleich dieser nicht den systematischen Rang wie bei Gottsched erhält.108 Hatte Spalding bereits in der Bittschrift allgemein von der Notwendigkeit der Geschmacksverbesserung gesprochen109, so findet sich der Geschmacksbegriff in hiesigem Aufsatz nun in einem kunsttheoretischen 105 Ebd.,
S. 143 [S. 28]. S. 138 [S. 22]. 107 Baumgarten, Meditationes philosophicae, § XI, S. 12 f. 108 Vgl. ebd., § XCII, S. 68 ff. 109 Vgl. Spalding, Bittschrift, S. 89 [S. 14]. 106 Ebd.,
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Kontext wieder: Kunstkritik sei nicht nur als Kritik der moralischen Qualität zum Zwecke der Tugend selber bestellt, sondern auch, um den Geschmack des Künstlers wie auch des Rezipienten zu heben. Diese „Verbesserung des Geschmacks“110 gelinge vornehmlich durch das kritische Lob der tugendfördernden Kunstprodukte. Abschließend sind folgende Aspekte hervorzuheben: Zunächst zeigt Spalding mit seinem Aufsatz, dass er sich im Rahmen der Kooperation mit dieser Monatsschrift in ästhetische und poetologische Debatten der Schülergeneration Wolffs eingearbeitet hat. Indizien vor allem einer Kenntnis Gottscheds und Alexander Gottlieb Baumgartens konnten namhaft gemacht werden. Damit pflügt er thematisches Neuland unter, wobei ihn dabei die literaturkritische Thematik weniger nachhaltig beschäftigen wird als die in deren Hintergrund stehenden theoretischen Konzepte, die er vermittelst seiner einschlägigen Studien kennenlernt. Sodann rückt mit der Zweckbestimmung der Kunst resp. schöngeistigen Literatur auch in diesem Kontext die Moralität bzw. die Tugend ins Visier des jungen Literaten. Darüber hinaus zeichneten sich anthropologische Überlegungen ab, die in der Logik der Zweckbestimmung der Literatur in Richtung einer Konzeption der Bestimmung des Menschen zur Tugend bzw. anderen ‚höhern Fähigkeiten‘ weisen. Und schließlich konnte gezeigt werden, dass sich Spaldings Rezeption ‚auswärtiger‘ Literatur im Zusammenhang des 1744er Aufsatzes fortsetzte. 1.1.5 Spalding entdeckt Shaftesbury Betrachten wir zunächst die diesbezügliche Passage in Spaldings Autobiographie: „Um diese Zeit fing ich das Englische zu lernen an, und eins der ersten Bücher, die ich in dieser Sprache las, war Shaftesbury.“111 Zieht man den weiteren Kontext des Zitates in Betracht, ergibt sich ein Zeitraum zwischen 1738 und 1742.112 Nimmt man den unmittelbar vorhergehenden Passus ernst, in dem Spalding von der geschilderten Zusammenarbeit mit den Leipziger „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ berichtet, dann fällt der Beginn in die Zeit um und nach 1742. Dies wird zudem plausibel, bezieht man in diese Chronologie der Lebensbeschreibung drei Sachverhalte ein. Zum einen besteht eine sachliche Differenz zwischen dem moralphilosophischen Grundtenor der französischen Moralistik resp. Spaldings Eigenliebekonzeption im Aufsatz von 1742 auf der einen und dem Ansatz der shaftesburyanischen Moralphilosophie auf der anderen Seite: „Ob ich ihn [scil Shaftesbury] 110 Spalding,
Von dem Recht der Critik, S. 138 [S. 23]. Lebensbeschreibung, S. 124 [S. 17]. 112 Diese Interpretation vertritt ohne Begründung Schollmeier in seiner biographischen Chronologie, indem er den Beginn der Shaftesburyrezeption in die Jahre 1740–42 verlegt (vgl. Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 18). 111 Spalding,
1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe
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gleich bey weitem nicht ganz verstand, so rührte mich doch seine Art zu denken und zu schreiben ausnehmend. Der Verdacht, den ich aus anderen Nachrichten gegen ihn in Absicht auf die christliche Religion gefasst hatte, fiel zwar nicht ganz weg; aber seine Sittenlehre hatte so sehr meinen Beyfall, daß ich kühn genug war, ihn übersetzen zu wollen. Die Grundsätze von dem moralischen Gefühl und von der uneigennützigen Tugend fanden etwas mit ihm so sympathisirendes in meiner Seele, daß ich ganz von ihm hingerissen ward.“113 Das Konzept der uneigennützigen Tugend ist schlechterdings unvereinbar mit dem pessimistischen Ton der Theorie der Eigenliebe, so dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Spalding den 1742er Aufsatz noch nach seiner ersten Shaftesburylektüre verfasst haben könnte. Auch für unsere These, dass Spalding über Gottsched zur Shaftesburyrezeption angeregt worden ist, spricht der Sachverhalt, dass sich in diesem Zitat Spaldings Bewertung Shaftesburys gleichermaßen positiv und emphatisch ausnimmt, wie diejenige Gottscheds. Sodann spricht seine beinahe ausschließliche Verwendung französischer Autoren im 1742er Aufsatz dafür, dass das Erlernen des Englischen erst auf deren Abfassung folgte. Schließlich – und darauf liegt hier das Gewicht – zeugte der Aufsatz von 1744 mit seiner literaturkritischen Thematik, mit seinem Rekurs auf poetologische Literatur und mit seiner These, dass schöngeistige Literatur einen moralischen Zweck zu verfolgen und sich demzufolge auch die Kritik an diesem Kriterium zu orientieren habe, davon, dass Spalding im Kontext seiner Kooperation mit den Leipziger „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ in intensive Auseinandersetzung mit Gottscheds Poetologie getreten ist. Dafür spricht neben dem Befund der Analyse des Aufsatzes von 1744 auch die Tatsache, dass Spalding Gottsched (und Schwabe) persönlich in Leipzig aufsuchte (vgl. II.1.1.4), was auf ein näheres und über den publizistischen Kontakt hinausgehendes inhaltliches Interesse verweist. Wenn also Spalding Gottscheds Poetologiekonzeption aus dessen „Critischen Dichtkunst“ kannte, dann ist er unweigerlich auch auf dessen emphatischen Rekurs auf Shaftesbury gestoßen und damit auf dessen dort zitiertes „Soliloquy or Advice to an Author“ und seine „Miscellaneous Reflections“. Auch wenn Spalding in den folgenden Jahren zwei andere Werke des Engländers übersetzte, so ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass er diese beiden Werke kannte, sehr groß. Darauf vereisen nicht nur konkrete Indizien, sondern vor allem die literarische Gestalt der Bestimmungsschrift als eines Selbstgespräches (vgl. V.2). Es wurde bereits angedeutet, dass Spalding über seine Journallektüre diverse Notizen und Rezensionen – zumeist kritische – von Shaftesbury zu Kenntnis genommen haben könnte; dieser Befund wird im Zitat bestätigt. Im Zuge seiner durch Gottsched angeregten wohlwollenden eigenen Lektüre im Original 113 Spalding,
Lebensbeschreibung, S. 124 [S. 17].
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
revidierte Spalding sein Urteil, vor allem in Bezug auf Shaftesburys Tugendkonzeption. „Der erhabne Platonismus der ‚Rhapsody‘ (oder die Sittenlehrer) hatte meine ganze Bewunderung, und ich fing meine Uebersetzung dabey an. Die Empfindung von dem Mangel der dazu nöthigen Kräfte brachte mich davon auf eine Zeit lang zurück.“114 Er beginnt mit der Übersetzung der „Moralists, A Philosophical Rhapsody“, die er jedoch zunächst aufgrund mangelnder Kräfte und zugunsten anderer Projekte wieder auf Eis legt, um sie jedoch einige Zeit später wieder in Angriff zu nehmen und zu vollenden: „Ich wandte einen Theil des Jahres 1742 auf die Übersetzung der Versuche des Abts Trublet, wovon auch bereits einige Bogen abgedruckt wurden. […] Ich übersetzte darauf das Schreiben des Hrn. Silhouette, von der Stärke und Schwäche der menschlichen Vernunft, das Werk des le Clerc, vom Unglauben, und die Sittenlehrer des Shaftesbury.“115 Die relative und absolute chronologische Einordnung der ersten Shaftesburyübersetzung in Spaldings literarisches Schaffen erscheint ausgehend von dem Zitat und in Bezug auf die Publikationsdaten problematisch. Denn Spaldings Übersetzungen von Silhouettes „Schreiben von der Stärke und Schwäche der menschlichen Vernunft“ und Jean Le Clercs „Untersuchung des Unglaubens“ erschienen erst 1746 bzw. 1747116, während Shaftesburys „Sitten-Lehrer oder Erzählung philosophischer Gespräche“ bereits 1745 herausgebracht wurden. Schenken wir der autobiographischen Erinnerung Spaldings Glauben, so lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit folgendes Bild zeichnen: Hatte Spalding ca. 1742 mit dem Erlernen der englischen Sprache begonnen und ist er über Gottsched mit Shaftesbury bekanntgeworden, so begann er alsbald, also noch 1742, mit der Übersetzung der „Moralists“, unterbrach dieses Projekt zugunsten dreier anderer Übersetzungsarbeiten jedoch wieder und vollendete die Übertragung der „Moralists“ erst danach, spätestens bis zum Februar 1744, dem Datum seines Schreibens, das er seiner Übersetzung voranstellt117. Abschließend sei noch auf einen wertvollen Hinweis Dehrmanns aufmerksam gemacht. Wie bereits erwähnt, stand im Hintergrund Gottscheds, Schwabes und der „Belustigungen“ die Gesellschaft der Alethophilen. Dass die Publikationen der Spaldingschen Shaftesburyübersetzungen als Titelvignette das Motiv einer von Johann Georg Wachter entworfenen alethophilischen Gedenkmünze enthielten118, weist wenigstens darauf hin, dass der Verleger Haude (Berlin) und Spalding dieses Projekt auch als im Geiste dieses Kreises begriffen. Sogar die Vermutung, dass von diesem Kreis unmittelbar oder mittelbar Spalding zu seinem Unternehmen ermutigt wurde, hat vor dem Hintergrund der Ausführungen Einiges für sich. 114 Ebd.,
S. 124 f. [S. 17 f.]. S. 126 [S. 20]. 116 Vgl. ebd., S. 127 [S. 22]. 117 Vgl. Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 22. 118 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 220. 115 Ebd.,
1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe
131
1.2 Die 2. Phase von Spaldings Shaftesburyrezeption im Kontext anakreontischer Freundschaftskreise – eine Milieustudie Die deutsche Anakreontik um die Mitte des 18. Jahrhunderts war eine literarisch-poetische Bewegung, die von einer Gruppe zumeist akademisch gebildeter Jünglinge getragen wurde.119 Sie nahm ihren Ausgangspunkt in Leipzig um Gottsched120, wanderte dann nach Halle, von wo aus die Absolventen sie in ihre beruflichen Wirkungsstätten mitnahmen. Ein neues Zentrum wurde Berlin. Die Anakreontik kann in einem gewissen Sinne aber auch als akademische Bewegung verstanden werden und dies aus mindestens zwei Gründen. Zum einen stand sie in all ihren Phasen in engem Kontakt sowie in Abhängigkeit und Auseinandersetzung mit den aktuellen philosophischen und ästhetischen Debatten. Während Gottsched und seine Adepten ihrer Anakreontik wolffsche und eigene metaphysische und poetologische Ideen zugrunde legten, wussten sich die Hallenser, Laublinger, Berliner und Halberstädter Freunde von der wolffianischen, aber gottschedkritischen bis antigottschedianischen Ästhetik der Hallenser Alexander Gottlieb Baumgartens und dessen Schülers und Nachfolgers Georg Friedrich Meier beeinflusst. Anakreontik kann in diesem Sinne als lyrische Anwendung ästhetisch-poetologischer Ideen verstanden werden und bildet gleichsam ein Musterbeispiel der Korrelation von Theorie und Applikation. Zum anderen kann das Etikett des Akademischen auf die Anakreontik geklebt werden, weil sie sich auch philologischer und übersetzerischer Kärrnerarbeit verpflichtet wusste. Dies betrifft sowohl die Übertragungen der griechischen Anakreontea wie auch die Übersetzung zeitgenössischer Literatur, eben auch nicht zuletzt Shaftesburys.121 Die Anakreontik war aber auch eine Bewegung, die ein eigenes an ihren poetischen Idealen orientiertes Milieu pflegte. Sie ist ein Musterbeispiel für eine der „prägenden Sozialideen des achtzehnten Jahrhunderts“122, nämlich der Freundschaft. Das, was für die Konjunktur dieser Lebensform, die dem 18. Jahrhundert auch den Titel des Freundschaftsjahrhunderts verlieh, typisch war, die soziale Mobilität und Offenheit einerseits und das Bedürfnis nach neuen Formen der Bindung und Verbindlichkeit123 andererseits, ist vornehmlich an den Kreisen in Halle und Berlin exemplarisch zu studieren. Den Anfang machten die jungen 119 Zur
Anakreontikforschung vgl. Betz, Anakreontik, S. 1–17. die „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ enthalten einige anakreontische Stücke (vgl. das Inhalts‑ und Mitarbeiterverzeichnis in Ulbrich, Belustigungen des Verstandes, S. 22–54). – Dass die „Belustigungen“ im anakreontischen Kreis gelesen wurden, erhellen einige Passagen u. a. aus einem Brief von Götz an Uz vom 13. Mai 1747, Uz an Gleim vom 17. Febr. 1744, Gleim an Uz vom 29. März 1744 (vgl. Kertscher, Zweiter Hallescher Dichterkreis, S. 59 ff.; 71 ff.). 121 Vgl. dazu Zeman, Deutsche anakreaontische Dichtung, S. 170. 122 Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 55. 123 Vgl. Drehsen, Freundschaft, Sp. 371.; vgl. Adam, Freundschaft und Geselligkeit. 120 Auch
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Studenten der Theologie und Philosophie Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719– 1803), Johann Peter Uz (1720–1786), Johann Nikolaus Götz (1721–1781) und anfangs Paul Jakob Rudnik (ca. 1718–1740/41) seit 1740 in Halle an der Saale. Dort standen die Freunde unter dem philosophischen Katheder Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Angeregt durch Uz schmiedete man den Plan einer Gesamtübersetzung der anakreontischen Oden. Nahe standen dem Hallenser Kreis auch Samuel Gotthold Lange (1711–1781) und Immanuel Jakob Pyra (1715–1744), die im nahe der Universitätsstadt gelegenen Dorf Laublingen einen stärker religiös inspirierten Dichterzirkel pflegten.124 Rudnik starb bereits im Winter 1740/41 und Gleim wie auch Pyra gingen 1741 bzw. 1742 nach Berlin, so dass Götz und Uz alleine das Werk beginnen mussten. Die Ausgabe der Oden Anakreons erschienen dann endlich 1746. Gleim selber begann erst in selbigem Jahre mit einer eigenen Übertragung ins Deutsche.125 In Berlin angekommen sammelte vor allem Gleim erneut einen Kreis von alten und neuen Gesinnungsgenossen um sich und führte das Projekt des „künstlerischen Freundschaftsbundes“126 fort. Zu diesem stoßen auch Ewald von Kleist, im Jahr 1745 auch für kurze Zeit Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) wie im selben Jahr auch Spalding. Wie kam es zu Spaldings Berlinaufenthalt? Während seiner Hofmeisterstelle beim Grafen von Wolfradt in Plüggentin (1742–1745) macht er Bekanntschaft mit einem Grafen von Bohlen. Dieser Kontakt hat für den Hauslehrer berufliche Folgen. Anlässlich einer Reise, die Spalding mit seinem Zögling nach Halle, Leipzig, Berlin und Hamburg unternimmt, lernt er in Berlin auf Empfehlung von Bohlens unter anderem den schwedischen Gesandten von Rudenskjöld kennen. Ende 1745 kommt es dazu, dass auf erneute Vermittlung durch von Bohlen Spalding bei dem schwedischen Diplomaten „auf eine Zeit lang die Verrichtungen eines Sekretärs“127 übernehmen konnte. Diese Vertretungsstelle hatte Spalding bis zum Frühjahr 1747 inne. In dieser Berliner Zeit – Spalding sollte 1764 als Propst und Konsistorialrat in die Stadt an der Spree zurückkehren – war es Spalding neben seiner Sekretärstätigkeit möglich, „gute Bekanntschaften zu erneuern und zu machen“128. Neben dem Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786), deren lange Freundschaft Spalding wegen dessen herzlicher Art und Gelehrsamkeit wertvoll war, lernt er auch Gleim, durch diesen Ewald von Kleist und auch Johann Peter Süßmilch (1707–1767) sowie Johann Georg Sulzer (1720–1779) kennen.129 Viel mehr über Spaldings anakreontische Freund124 Vgl.
Kertscher, Zweiter Hallescher Dichterkreis, S. 8. Geschichte der Übersetzungen und ihrer literarischen Vorlagen vgl. Zeman, Deutsche anakreontische Dichtung, S. 98 ff. 126 Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 218. 127 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 129 [S. 26]. 128 Ebd., S. 130 [S. 27]. 129 Vgl. ebd., S. 131 f. [S. 29 f.]; S. 136 [S. 37]. 125 Zur
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schaftsbande lassen seine Erinnerungen nicht verlauten. Jedoch erfahren wir aus vielen Briefen, die neben dem persönlichen Gespräch ein zentrales Kommunikationsmedium und einen Lebensnerv des Freundschaftsbundes ausmachten, einiges mehr über Spaldings anerkannte Position innerhalb des Kreises und über die allen gemeinsame Shaftesburybegeisterung, die sich in manchem bis zum Kult steigerte. Diese dokumentieren, dass das Berliner Freundschaftsmilieu dem von Spalding bereits 1742 begonnenen Shaftesburyprojekt den sozialen Rahmen boten und den nötigen Aufwind gaben, was sich in Spaldings zweiter Shaftesburyübersetzung, nämlich der „Inquiry“, fruchtbar manifestieren sollte. Auch dass sich der Spaldingsche Freundschaftszirkel über die in der Lebensbeschreibung erwähnten Literaten und über Berlin auszog und u. a. Johann Peter Uz, Karl Wilhelm Ramler, Albrecht von Haller130 und Friedrich von Hagedorn131 einschloss132, wird in den zahlreichen Briefen deutlich. Die ohnehin rege Briefkultur der Geistesgenossen gewann noch an stabilisierender Bedeutung, als die Freunde aus den Zentren gleichsam in die Provinz diffundierten.133 Die folgende detaillierte Analyse der Briefe verfolgt den Zweck, das freundschaftlich-gesellige Milieu und shaftesburybegeisterte Atmosphäre des Kreises vorzustellen, weil allererst dadurch Spaldings fortgesetzte Bemühungen um den Engländer plausibel werden. Und schließlich fiel auch die Idee zur und die Genese der Bestimmungsschrift in diese Zeit, die immer wieder Gegenstand des brieflichen Austausches zwischen den Freunden war. Als Briefkorpora stehen uns zunächst die von Gleim herausgegebenen Briefe Spaldings an Gleim134 zur Verfügung, zudem ein von Wilhelm Körte 1804 aus Gleims Nachlass herausgegebener Briefwechsel desselben135 und schließlich der 1899 bzw. 1906 von Carl Schüddekopf publizierte Briefwechsel zwischen Gleim und Uz136 sowie zwischen Gleim und Ramler137. Mit der Analyse dieser Briefe soll es uns um die Rekonstruktion von Spaldings Freundschaftsverbindungen und deren Diskurs um Shaftesbury gehen. Spaldings erster persönlicher Kontakt zum Anakreontikerkreis wurde initiiert durch seine Bekanntschaft mit Gleim, den er im Juni 1746 durch Zufall in einer 130 Zu v. Hallers Shaftesburyanismus vgl. Rieck / Gysi, Geschichte der deutschen Literatur, S. 164. Zu Spaldings Bekanntschaft mit v. Haller vgl. Spalding, Briefe, S. 30 [S. 35; Mai 1748]. Bereits in seinem 1744er Aufsatz erwähnt er v. Hallers Gedicht vom „Ursprung des Bösen“ (vgl. Spalding, Von dem Recht der Kritik, S. 138 [S. 22]). 131 Zu Hagedorns Shaftesburyanismus vgl. Rieck/Gysi, Geschichte der deutschen Literatur, S. 219. Zu Spaldings Bekanntschaft mit Hagedorn vgl. Spalding, Briefe, S. 13 [S. 15; August 1747]. 132 Zur Bedeutung dieser Literaten für die frühe Shaftesburyrezeption vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur, S. 412. 133 Vgl. zur Briefkultur im 18. Jahrhundert: Nörtemann, Briefthoeretische Konzepte. 134 Vgl. Spalding, Briefe. 135 Vgl. Körte, Briefe der Schweizer. 136 Vgl. Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Uz. 137 Vgl. Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Ramler.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Berliner Buchhandlung kennenlernte138. Es sei hier angemerkt, dass Gleim sich schon vor seiner Spaldingbekanntschaft für Shaftesbury interessierte und um Spalding als Shaftesburyübersetzer wusste. Dies lässt eine Bemerkung in einem Brief vom Juni 1745 an Ramler vermuten, nach der er seinem Freund meldet, dass Shaftesburys „Sitten-Lehrer“ bei Haude im Druck seien, womit Spaldings Übersetzung gemeint ist.139 Und spätestens seit November 1746 besaß er ein Exemplar der „Characteristicks“ des Engländers.140 Beide Shaftesburyianer pflegten in ihrer gemeinsamen Berliner Zeit bis zum Herbst 1747 eine innig-schwärmerische Freundschaft und beide waren fast täglich „beisammen, entweder zu philosophieren, oder die hiesigen Mädchens witziger zu machen“141. Der Kreis weitet sich jedoch für Spalding aus. Der vertraute Ton in den Briefen seit dem Juli 1747142 von Spalding an Gleim, in denen Spalding auf Johann Peter Uz143, Johann Georg Sulzer und Karl Wilhelm Ramler Bezug nimmt, lässt eine Bekanntschaft bereits für die hier besprochenen Jahre zwischen 1745–1747 wahrscheinlich erscheinen. Mindestens eine Kenntnisnahme Spaldings durch Ramler bestätigen drei von dessen Briefen an Gleim: „Ist mir Herr Spalding halb so gut wie ich ihm bin, so besitzt er den höchsten Grad der Freundschaft.“144 Nur einige Tage später phantasiert Ramler über ein imaginäres Arkadien, in dem er mit Gleim „von Spaldingen“145 sprechen würde; und einige Wochen später lässt Ramler über Gleim schon Grüße an Spalding ausrichten: „Grüßen Sie den wehrten Grafen Schaftesbury, den Appelles und den Aristoteles“146, wobei mit dem ‚Grafen Schaftesbury‘ Spalding gemeint ist.147 Ramler ist neben Gleim und Sulzer in einem besonderen Maße an Spaldings Freundschaft gelegen, denn immer wieder soll Gleim Spalding von ihm Grüße ausrichten.148 Der Theologe steht bei Ramler in hohem Ansehen, als Freund sowie als Kenner und Übersetzer Shaftesburys. In der Lebensbeschreibung berichtet Spalding von einer langjährigen Brieffreundschaft mit Johann Georg Sulzer (1720–1779), der erst 1747 nach Berlin überwechselte und den Spalding auch nach 1749 persönlich kennenlernte: „Während dieses meinen einsamen Lebens [scil. als Landpfarrer in Lassahn von 138
Vgl. Körte, Brief der Schweizer, S. 36 [Brief Sulzers an Gleim vom Juli 1746]. Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 223. 140 Vgl. Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Uz, S. 102. 141 Vgl. ebd., S. 118. 142 Vgl. ebd., S. 125, 211 u. a.; Spalding, Briefe, S. 10 f. [S. 13; Juli 1747]; S. 16 [S. 18; November 1747]. 143 Die Freundschaft Spaldings mit Uz geht auch aus einem Brief Uz’ an Gleim vom 10. September 1746 hervor (vgl. Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Uz, S. 211). 144 Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Ramler, S. 41 [Brief Ramlers an Gleim vom Juli 1746]. 145 Ebd., S. 46 [Brief Ramlers an Gleim vom August 1746]. 146 Ebd., S. 51 [Brief Ramlers an Gleim vom August 1746]. 147 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 224. 148 Vgl. Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Ramler, S. 74; 75; 77 u. a. – Vgl. auch Spalding, Briefe, S. 10 f. [S. 13; Juli 1747]; S. 13 [S. 15; August 1747]; S. 30 [S. 35; Mai 1748]. 139
1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe
135
Frühjahr 1749–1757; G. R.] ward ich mit dem Hrn. v. Arnim auf Sukow in der Ukermark, einem großen Gönner und Kenner der Gelehrsamkeit bekannt, und durch seinen Vorschub lernte ich auch erst den würdigen Hrn. Sulzer persönlich zu Sukow kennen, nachdem ich schon seit einigen Jahren mit ihm in einem freundschaftlichen Briefwechsel gestanden.“149 Wann der briefliche Kontakt zwischen beiden begann, lässt sich über den Briefwechsel Sulzers und Gleims rekonstruieren.150 Aus einem Brief Sulzers an Gleim vom 15. Juli 1746 lässt sich eine Bekanntschaft Sulzers mit Spalding bereits für diese Zeit nachweisen. „Ich glückwünsche Ihnen zu der neuen Freundschaft mit Spalding. Mir werd’ ich aber nicht zu glückwünschen haben, denn nach dem Begriffe, den man mir von diesem Manne gemacht hat, wird er mich bei Ihnen, ohne seinen Willen, wenigstens ein Paar Grade heruntersetzen. Bereden Sie doch Ihren Freund, daß er uns den ganzen Shaftesbury so übersetzt, wie seine Ethic. Es würde sehr viel zur Aufnahme des guten Geschmacks beitragen, wenn dieses unvergleichlichen Mannes Schriften gemeiner würden. Er hat neben den guten Einsichten in die Sittenlehre, unendlich viel Witz; bei mir hat er Lucian ausgestochen, den ich sonst für den witzigsten Autor gehalten. Seine Miscellanies sind ein königlicher Schatz von Witz von Bonsens.“151 Die Freundschaftsofferte Sulzers rührt also von dessen Kenntnisnahme von Spaldings Übersetzung der „Moralists“ her, die Sulzer anscheinend motivierte, über Gleim auch mit Spalding selber in Kontakt zu treten. Bemerkenswert ist hier, dass Spalding bestärkt wird, nach den „Moralists“ gar den ‚ganzen Shaftesbury‘ zu übersetzen. Der briefliche Kontakt zwischen Spalding und Sulzer beginnt dann auch auf Vermittlung Gleims im September 1746: „Es ist Ihr Glück, daß Sie endlich schreiben, und einen Brief vom Herrn Spalding haben beilegen können. Ich bin Ihnen für die Vermittlung oder Stiftung dieser neuen Freundschaft vielen Dank schuldig. Herr Spalding ist ein sehr liebenswürdiger Mann, auf dessen Freundschaft ich mir was einbilde.“152 Der bereits erwähnte persönliche Kontakt zwischen Spalding und Sulzer kann über einen Brief Sulzers an Bodmer nun exakt auf Pfingsten 1750 datiert werden: „Uebermorgen reise ich auf’s Land [scil. Lassahn; G. R.], um Herrn Spalding zu sehen, von dem ich auch sagen möchte: Die beste Seele, die in den Körper gestürzt ist.“153 Dass Sulzer schon vor Spaldings Weggang aus Berlin den Plan gehegt hatte, ihn dort zu besuchen, äußert er gegenüber Gleim wie folgt: „Und sie haben mir Herrn Spaldings Abschiedsbrief so lange zurückgehalten ohne diese Zeit zu benutzen, mich auf eine so betrübte Nachricht vorzubereiten? Ich bin in der That sehr betrübt. Sie schreiben mir auch nicht einmal, wohin er 149 Vgl.
Spalding, Lebensbeschreibung, S. 135 f. [S. 37]. Sulzers Shaftesburyanismus vgl. Rieck / Gysi, Geschichte der deutschen Literatur, S. 270 ff. – Zu Spaldings Bekanntschaft mit Sulzer vgl. Spalding, Briefe, S. 10 ff. [S. 13 f.]. 151 Körte, Briefe der Schweizer, S. 35 f. 152 Ebd., S. 38 [Brief Sulzers an Gleim vom September 1746]. 153 Ebd., S. 143 [Brief Sulzers an Bodmer von Pfingsten 1750]. 150 Zu
136
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
gereist, an welchem Ort er sich aufhalten, was für ein Leben dort für ihn seyn wird. Ich kann mich kaum trösten, daß ich diesen werthen Mann habe von Berlin reisen lassen, ohne ihn zu besuchen. Wenn Sie etwas dazu beitragen können, daß unsere Freundschaft ununterbrochen fortgesetzt wird, so beschwöre ich Sie, es zu thun.“154 Der bis dato einzige bekannte Brief Sulzers an Spalding fand sich auch im Gleimnachlass und bezieht sich ebenfalls auf Spaldings Wegzug aus Berlin: „Ich habe mich von der Bestürzung und der Betrübniß, in die mich Ihr Abschiedsbrief gesetzt hat, noch nicht erholt. Die erste Zeile war ein Donnerschlag in meinen Ohren. – Warum haben Sie mich zu dieser betrübten Zeitung nicht vorbereitet, wie man einem Sohne nach und nach sagt, daß sein Vater gestorben sey? Ich habe ein so zärtliches Herz, daß ein solcher unvermutheter Schlag mich in eine lang dauernde Betrübniß setzt, weil er sehr tief eindringt. Warum sollt’ ich es Ihnen nicht sagen, daß mir die Nachricht von Ihrer Entfernung Thränen ausgepresst hat? Wenigstens können Sie daraus sehen, wie sehr ich Sie liebe und hoch achte. Ich sehe es als einen unersetzlichen Verlust an, daß ich Sie in Berlin nicht kennengelernt, und dadurch die Hoffnung verloren habe, Ihre Freundschaft so zu gewinnen, wie ich sie mir wünschte. Denn wie kann ich hoffen, daß Sie einen Menschen, den Sie nur aus ein Paar Briefen kennen, und aus einigen Bogen, die er ohne besondre Absicht, sich daraus erkennen zu machen, geschrieben hat, einer recht vertrauten Freundschaft würdigen, und den recht lieben, den Sie niemals gesehen haben? Mit meinem Exempel darf ich mich nicht trösten. Ich habe ungleich mehr Gründe, Sie hoch zu achten und zu lieben. Ich habe indeß nicht alle Hoffnung verloren; denn so lange Sie nicht aus der Welt gehen, so lange hoffe ich noch, Sie zu sehen. Ist Ihr Vorsatz fest, Berlin nicht wieder zu besuchen, so ist auch meiner fest, Sie da aufzusuchen, wo Sie immer seyn mögen! – Erzeigen Sie mir nur die Freundschaft, mich von Ihrem Aufenthalt und Ihren Umständen zu unterrichten, und erlauben Sie mir das süsse Vergnügen, künftig mein ganzes Herz, wenigstens schriftlich, gegen Sie auszuschütten.“155 Dieser warme bis zum Überschwang und zur Sentimentalität abdriftende Ton bestimmt im Ganzen die Briefpassagen, in denen Sulzer sich über Spalding äußert und illustriert die persönliche Beliebtheit, der sich Spalding bei ihm und seinen Poeten‑ und Philosophenfreunden erfreuen durfte. Aus ihm erhellt, welch hohes Ansehen Spalding in Berlin genossen haben muss. Dieses betraf, wie bereits anklang, vor allem Spaldings Shaftesburyübersetzungen, der er seine hohe literarische Reputation verdankte und die eine Dynamik ausgelöst zu haben scheinen, die Spaldings Bemühungen um den Engländer bestärkten. So sehr die Charaktere, Interessen und literarischen Ambitionen der Freunde auch differierten, so fanden sie in Shaftesbury eine gemeinsame Mitte: „Shaftesbury
154 Ebd., 155 Ebd.,
S. 55 f. [Brief Sulzers an Gleim von 1747]. S. 57 f. [Brief Sulzers an Spalding vom April 1747].
1. Biographisch‑bildungsgeschichtliche Hintergründe
137
besaß für die Gruppe eine identitätsstiftende Funktion.“156 Immer wieder ist in den Briefwechseln von Spalding in Bezug auf seine Shaftesburyübersetzungen die Rede, wie bspw. in einem Brief Gleims an Uz vom 30. Juni 1746, in dem er auf Spalding zu sprechen kommt, „welcher den Sittenlehrer des Schaftsburi … übersetzt hat“157. Jedoch beflügelte der Shaftesburyenthusiasmus des Literatenkreises, nicht nur Spaldings Weiterarbeit an seinem Übersetzungsprojekt, sondern motivierte auch einige seiner Freunde in gleicher Richtung. Dies betrifft v. a. Gleim, Sulzer und Ramler. Aus den bisweilen schwer zu deutenden Stellen in Gleims Briefwechsel mit Ramler kann man zum einen auf eine Übersetzung des „Letter concerning Enthusiasm“ schließen. „Ich werde alsdann auch ihre Uebersetzung vom Enthusiasmus lesen, die man doch sonst auf keine Weise zu lesen bekommt.“158 Im August 1748 befindet sich Gleim scheinbar in der letzten Phase der Übersetzung, die er aber auch bis Oktober desselben Jahres nicht beenden kann: „Ihr Schaftesbury muß in der That bald folgen, sonst droht Herr Langemarck die Französische Uebersetzung vom Enthusiasm hier auflegen zu lassen, die er sich gestern by Neaulme bestellt hat. Doch vielleicht schreckt sie diese Drohung nicht, weil sie etwa schlecht gerathen seyn wird. Aber hören Sie wol was ärgers! Herr Sulzer hat seine Übersetzung auch noch liegen und er und ich könnten uns verschwören sie zu vollenden.“159 Wenn man den dringenden Ton Ramlers einrechnet, wird Gleim spätestens seit Anfang 1747 an der Arbeit gesessen haben. Zum anderen soll an dieser Stelle eine Vermutung geäußert werden, die die oben erwähnte zweite Übersetzung des „Soliloquy“ von 1746 betrifft. Der Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler enthält einige dunkle Bemerkungen160, die darauf hinweisen, dass Gleim bereits um 1745/1746 herum an einer Shaftesbury-Übersetzung gearbeitet hat. Wenn diese nicht die noch 1748 unvollendete Übersetzung des „Letter concerning Enthusiasm“ betreffen, dann könnte es sich um die genannte und bis heute keinem Autor zugeordnete Übersetzung des „Soliloquy“ handeln.161 Wenn dies zutrifft, dann sind im nächsten Umkreis Spaldings Shaftesburys „Soliloquy“ und der „Letter concerning Enthusiasm“ übersetzt worden, wovon er unbedingt Kenntnis gehabt und diese Schriften studiert haben wird. Aber nicht nur Spalding und Gleim engagieren sich in der Shaftesburyübersetzung. Es wurde deutlich, dass auch Sulzer an einer Übersetzung der „Letter 156 Dehrmann,
Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 224. Briefwechsel Gleim und Uz, S. 118. 158 Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Ramler, S. 139 [Brief Ramlers an Gleim vom August 1748]. 159 Ebd., S. 152 [Brief Ramlers an Gleim vom Oktober 1748]. 160 Vgl. u. a. ebd., S. 6 [Brief Gleims an Ramler vom Juni 1745]. 161 Vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur, u. a. S. 421. 157 Schüddekopf,
138
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
concerning Enthusiasm“ zur gleichen Zeit wie Gleim gearbeitet haben könnte und dass die Freunde sich gleichsam in einem Übersetzungswettstreit wähnten. Dehrmann hat bereits darauf hingewiesen162, dass Sulzer nicht etwa erst durch Spalding zu Shaftesbury „bekehrt“ wurde, sondern vielmehr schon spätestens 1746163 dessen Werke kannte, auch Spaldings Übersetzung der „Moralists“. Wie sehr die Freundschaft und der Briefwechsel durch den gemeinsamen Referenten Shaftesbury mitbegründet war, kann aus dem von Dehrmann erwähnten Sachverhalt ermessen werden, dass Sulzer dem Berliner Vertrauten das Manuskript seiner „Philosophischen Unterredungen“ zur kritischen Lektüre übersandte. Die unübersehbare Prägung dieses erst 1750 publizierten Textes durch Shaftesburys „Moralists“ lässt unschwer darauf schließen, dass er Spalding in seiner Eigenschaft als Shaftesbury-Experten für diese ehrenvolle Aufgabe erkoren hatte.164 Aus einer Passage in einem Brief Ramlers an Gleim klingt auch Ramlers Wunsch durch, sich ebenfalls am Projekt der Shaftesburyübersetzung beteiligen zu wollen: „Imgleichen o Shaftesbury wo bleibst du? In dem neuen Büchersaal ist von ihm das Urtheil des Hercules eingerückt … worden; die Uebersetzung aber ist hertzlich schlecht geraten: Bald werden wir also theils sehr gut, theils sehr schlecht den gantzen Schaftesbury haben. Ich wollte selbst übersetzen, wenn er nur ein Buch geschrieben hätte, das drey Blätter dick wäre.“165 Dieser Plan gewinnt endlich an Gestalt, nachdem Gleim die Autorenexemplare von Spaldings Übersetzung der „Inquiry“ an die Freunde versandt hatte. Am 1. September 1747 schreibt Ramler an Gleim: „Ich will das Englische, das ich so lange ausgesetzt habe, zu lernen anfangen. Sechs und zwanzig Tage, oder so lange bis die Birnen reif werden, brauche ich wol zum Lesen? Denn ehe will ichs nicht versuchen, ehe ich nothdürftig lesen kan. Schaftesbury allein verdient es um mich, daß ich seiner Sprache ein autodidactos werde […] Ich kan mich auf keins [scil. als Shaftesburys „Inquiry“ in Spaldings Übersetzung; G. R.] besinnen, was ich gerne lesen möchte und zwar so fein langsam wie den Schaftesbury.“166 Vor dem Hintergrund dieser freundschaftlichen Atmosphäre, die Spalding auch als das „edelste[n], was der Himmel zum Trost des Menschlichen Lebens auf die Erde gesandt“167 hat, apostrophieren konnte, fällt sein Urteil über die 162 Vgl.
Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 230. ebd., S. 229 f. 164 Wie wertvoll Sulzer Spaldings Urteil war, erhellt aus folgenden Briefen: vgl. Körte, Briefe der Schweizer, S. 41; 44; 56 [Briefe Sulzers an Gleim vom Oktober 1746, März 1747 u. April 1747]. 165 Schüddekopf, Briefwechsel Gleim und Ramler, S. 150 [Brief Ramlers an Gleim vom September 1748]. 166 Ebd, S. 88 [Brief Ramlers an Gleim vom September 1747]. 167 Spalding, Briefe, S. 89 [S. 112; Januar 1753]. – Dreesman hat die Bedeutung des aufgeklärten Freundschaftskultes für Spaldings Selbstverständnis und sein späteres Religionskonzept deutlich gemacht (vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 55–64). 163 Vgl.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
139
Berliner Zeit in seiner Lebensbeschreibung denn auch durchgehend positiv aus und lässt die anakreontischen Vergnügungen durchklingen: „Mein Aufenthalt in Berlin war angenehm, ich hatte Zeit für mich, so wol zum Arbeiten als zum Vergnügen. Ich übersetzte also des Shaftesbury Untersuchung über die Tugend, und ließ selbige im Jahr 1747 mit einem vorgesetzten ausführlichen Schreiben drucken, worin ich einen Entwurf der Shaftesburyschen moralischen Grundsätze zu geben mich unternahm.“168 Da das ‚vorgesetzte Schreiben‘ auf den 6. Februar 1747 datiert ist, dürfte die Fertigstellung der Übersetzung und die Abfassung der ausführlichen Einleitung eine der letzten Arbeiten gewesen sein, die Spalding vor seiner Abreise aus Berlin im Frühjahr des Jahres noch erledigt hat. Die Übersetzung von Shaftesburys „Inquiry“ wird einen Großteil der Zeit des Berliner Aufenthalts in Anspruch genommen haben und ist ohne Frage das große Projekt dieser knapp 1½ Jahre gewesen.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen 2.1 Motive und Textgrundlage Bevor wir zur Analyse der Terminologie der Übersetzungen selber kommen, sollen einige Bemerkungen zu Spaldings Beweggründen, zur Chronologie, Datierung und zur Textgrundlage seiner Shaftesburyübersetzungen gemacht werden. Spalding benennt in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ drei Beweggründe für sein Übersetzungsprojekt. Zum einen hält er es allgemein für eine Pflicht, die „Auctores classici der Ausländer, diejenigen, in welchen sich der eigne Geist ihrer Nation besonders gesammelt zu haben scheinet“169 der deutschen Geisteswelt bekannt zu machen. Spalding versteht also Shaftesbury bereits in der Mitte der 1740er Jahre als einen englischen Klassiker, während gerade erst in dieser Zeit eine breitere Shaftesburyrezeption in Deutschland einsetzt, um sich erst im Gefolge der Spaldingschen Übersetzungen rasant zu beschleunigen. Worin genau Spalding bei dem englischen Philosophen diesen ‚eigenen Geist‘ seiner Nation erblickt, bleibt dunkel, kann aber wohl indirekt über sein Verständnis der übersetzten Werke in den Vorreden eruiert werden. Darauf wird die Untersuchung im Kontext von deren Analyse zurückkommen (vgl. II.3). Es kann jedoch rein formal aus der Tatsache, dass Spalding eine Notwendigkeit sieht, der deutschen Geisteswelt die als englisch apostrophierte Philosophie Shaftesburys näher zu bringen, geschlossen werden, dass er Differenzen zwischen ihr und der zeitgenössischen deutschen Geisteskultur festgestellt hatte.
168 Spalding, 169 Spalding,
Lebensbeschreibung, S. 132 [S. 31]. Vorrede Sitten-Lehrer, S. 4.
140
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Über dieses Motiv hinaus teilt der virtuelle Briefschreiber zum zweiten seine ‚Empfindungen und Rührungen‘ mit, die sich bei der Rezeption von Shaftesburys Texten einstellen: „Ich bin von der weitläufigen Gelehrsamkeit in den alten und auch neuen Schriftstellern, von dem vernünftigen Gebrauch dieser Belesenheit, von der philosophischen Tiefsinnigkeit, von der richtigen Critik, und bey dem allen von dem lebhaftesten Witz und einem ihm eigenthümlichen kühnen, aber allemal gründlichen Schwung der Gedanken gerühret worden. Man weiß nicht, sagt Hr. Barbeyrac, ob man in seinen Schriften mehr die Schönheit und Hoheit der Schreibart, oder die Artigkeit und Mäßigung des Schriftstellers, oder die Richtigkeit, Feinheit und Lebhaftigkeit der Gedanken bewundern soll.“170 Spalding stellt sich selbst also als einen enthusiasmierten wie wohlwollenden Kritiker Shaftesburys vor, sowohl was die literarisch-ästhetische als auch was die gedanklich-inhaltliche Seite anbelangt. Auch aus dieser literaturkritischen Perspektive kann also Spalding dem deutschen Leser Shaftesburys „Moralists“ anempfehlen. Damit erfüllen sich bei Shaftesbury diejenigen literaturkritischen Ansprüche, die Spalding etwa zeitgleich in seiner Theorie der Literaturkritik im 1744er Aufsatz dargelegt hatte, wonach neben der regelästhetisch-formalen Seite in erster Linie die inhaltlich-gedankliche Seite die Qualität von Literatur ausmache (vgl. II.1.1.4). Mit dem Begriff des „gründlichen Schwungs der Gedanken“171 bezeichnet er hier dasjenige Theorem, welches er in dem Kritikaufsatz auf den auf Longin zurückgeführten Begriff der Erhabenheit und der Erhebung der Gedanken bringt. Während er hier in der Vorrede den Gehalt der Erhabenheit nicht näher ausführt, kann aber über den einschlägigen Aufsatz der Begriff der Erhabenheit mit der moralische Zwecksetzung von Literatur identifiziert werden. Da dort die wahre Erhabenheit durch die moralische Zwecksetzung bestimmt wird, ist es wahrscheinlich, dass Spalding auch in der Vorrede mit dem Prädikat ‚Schwung der Gedanken‘ ebenfalls den moralischen Gehalt konnotierte. Dies wird im Folgenden bestätigt. Obwohl sich Spalding in dieser Zeit mit der zeitgenössischen Literaturtheorie und Literaturkritik beschäftigt hat und – wie eben beispielhaft gezeigt – auch als Literaturkritiker verstand, widmet er sich nun dem englischen Philosophen nicht in erster Linie als einem Literaturtheoretiker und Kritiktheoretiker, sondern intendiert mit der Übersetzung der „Moralists“ sowie der „Inquiry“ gerade eine gegenläufige Rezeptionsentwicklung. Spalding – und hierin besteht wohl das entscheidende Motiv für die Auswahl dieser beiden Werke des Engländers – möchte das Bild, das das deutsche Publikum von Shaftesbury bis dato gehabt habe, zurechtrücken: „Ich rechne Ihren Verfasser mit dahin [scil. zu den Auctores classici der Ausländer], und Sie thun anitzo wohl, dass sie denselben nicht als einen Kunstrichter, wie er einmal in unserer Sprache erschienen, son170 Ebd. 171 Ebd.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
141
dern als einen Weltweisen, welches sein hauptsächlicher Charakter ist, zeigen. […] Wir sind geneigt zu wissen, was ein so vortrefflicher Kopf in denjenigen Dingen denkt, die uns alle mit nicht geringer Wichtigkeit angehen. Das Leben ist allemal mehr Werth, als der Geschmack“172 Spalding nimmt hier wohl Bezug auf die deutsche Rezeption Shaftesburys um Gottsched herum, innerhalb derer der Gentlemanphilosoph vornehmlich als Kunstkritiker, Literaturtheoretiker und Kritiktheoretiker wahrgenommen worden ist. Wie bereits oben dargestellt (vgl. II.1.1.1), übersetzte Gottsched selbst einige einschlägige Passagen, v. a. aus Shaftesburys „Soliloquy or Advice to an Author“, und regte die erste deutsche Übersetzung dieser Schrift (1738) an, auf die hier Spalding anzuspielen scheint. Der fingierte Briefschreiber gibt uns hier erneut ein Indiz für das literarische Milieu, in dem er auf Shaftesbury aufmerksam geworden sein dürfte. Es scheint Spalding jedoch alsbald den Eindruck einer Einseitigkeit gehabt zu haben, dass dieser enge literaturtheoretische Rezeptionshorizont dem seiner Einschätzung nach ‚eigentlichen‘ Shaftesbury nicht gerecht werde. Gegen diese verengte Perspektive aus Richtung des Leipziger Poetologie‑ und Literaturkritikbetriebes möchte Spalding mit seinen Übersetzungen den Engländer als ‚Weltweisen‘, d. h. als Philosophen, Metaphysiker und Ethiker, beim deutschen Publikum breiter bekannt machen. Damit fügt sich Spaldings programmatische Umlenkung der Shaftesburyrezeption im deutschsprachigen Raum ein in seine Abkehr vom Leipziger Literaturpapst Gottsched und in gewisser Hinsicht auch von der Beschäftigung mit der Literaturtheorie im engeren Sinne. Auch darauf wurde bereits mit Verweis auf die Publikation des Aufsatzes „Von dem Recht der Kritik über die moralischen Fehler sinnreicher Schriften“ in einem anderen als dem Gottschedschen Veröffentlichungsorgan hingewiesen (vgl. II.1.1.4). Der Sache nach begründet er sein Interesse für Shaftesbury als Weltweisen damit, dass er sich als solcher mit denjenigen Dingen beschäftigt, die uns im Leben im Gegensatz zu ästhetisch-literarischen Fragen des Geschmacks ‚wirklich angehen‘. Auf dieses Diktum des ‚angehens‘ resp. der ‚Angelegenheit‘ wird in der Analyse der Übersetzung und der Vorreden noch genauer einzugehen sein (vgl. II.2.2.2 bzw. 3.2.1). Was Spalding bei Shaftesbury als Weltweisheit und als Angelegenheit des Lebens versteht, geht aus einer Bemerkung hervor, die er in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ macht: „Solten Sie indessen noch Willens seyn, wie ich doch kaum hoffe, eben dieses Verfassers Untersuchung von der Tugend und dem Verdienst, als dessen hauptsächlichstes Werk, und worinne eigentlich dasjenige enthalten ist, was seinen Lehrbegriff characterisirt, zu übersetzen, so würde ich Ihnen rathen, nicht sowol Anmerkungen, als vielmehr eine zusammenhangende Abhandlung beyzufügen, und darinne dieses moralische Systema genau zu prüfen.“173 Spalding bezeichnet die „Inquiry“ als Shaftesburys 172 Ebd.
173 Ebd.,
S. 15.
142
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
eigentlichen ‚Lehrbegriff‘ und als solcher enthalte er Shaftesburys ‚moralisches Systema‘, seine Moralphilosophie. Damit wird zum einen klar, dass Spalding, wenn er von Shaftesbury als einem Weltweisen bzw. Metaphysiker spricht, dem es um Fragen des Lebens gehe, er in erster Linie dessen Moralphilosophie vor Augen hat; und zum anderen, dass er die religionsphilosophische Dimension der „Inquiry“ offensichtlich ganz unter die Moralphilosophie subsumiert und einordnet: Religionsphilosophie stellt sich bereits indirekt von dieser Charakterisierung der Tugenduntersuchung her für den jungen Theologen als ein theoretisches Epiphänomen der Moralphilosophie dar, so sehr er die Religion auch an sich selbst würdigt. Aus der zitierten Passage können noch folgende Schlussfolgerungen gezogen werden, dass nämlich Spalding zum ersten bereits spätestens im Frühjahr 1744 den Plan hegte, auch Shaftesburys Tugenduntersuchung zu übersetzten. Was Spalding mit der ‚beyzufügenden Abhandlung‘ meint, kann zum zweiten nur vermutet werden, denn ob diese Abhandlung überhaupt, in der Vorrede zur Tugenduntersuchung oder gar erst mit der Bestimmungsschrift realisiert worden ist, muss offen bleiben. Es hätte jedoch im letztern Fall die Konsequenz, dass Spalding seinerseits die „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“, die ja unmittelbar nur ein Jahr nach Erscheinen der Übersetzung der „Inquiry“ herauskam, als einen Kommentar bzw. eine Auseinandersetzung mit dem ‚moralischen Systema‘ Shaftesburys verstanden habe. Diese prospektive Selbstdeutung wäre jedenfalls – wie die weitere Untersuchung zeigen wird (vgl. v. a. IV. und V. Kapitel) – sachlich durchaus zutreffend. Dass Spalding mit seinen Übersetzungen in der Tat dazu beigetragen hat, den Wagen der Shaftesburyrezeption ganz im Sinne seines rezeptionspolitischen Motives in die intendierte Richtung zu schieben, ist durch die einschlägige Forschung bereits gezeigt worden. Mehr indirekt als direkt geht die ältere Forschung zur Shaftesburyrezeption im 18. Jahrhundert wie selbstverständlich davon aus, dass vor allem Shaftesburys Ethik, Ästhetik und Naturtheologie und damit – auf die Schriften abgebildet – seine „Moralists“ und seine „Inquiry“ auf die geistigen Heroen des Jahrhunderts gewirkt haben.174 Explizit macht die neuere Studie von Lothar Jordan en passant darauf aufmerksam, dass beispielsweise Wieland und Lessing mit Shaftesbury über Spaldings Shaftesburyübersetzungen bekannt geworden seien.175 Hinsichtlich der Textgeschichte von Shaftesburys „Moralists“ und der „Inquiry“ und damit auch zur Textgrundlage von Spaldings beiden Übersetzungen ist sodann bemerkenswert, dass die „Moralists“ in einer editio princeps 1709 entstanden und auf eine kürzere und in vielen Passagen differente anonym 174 Vgl. Walzel, Shaftesbury, S. 416–437; vgl. Grudzinski, Shaftesburys Einfluss auf Wieland; vgl. Weiser, Shaftesbury. 175 Vgl. Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur, S. 413.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
143
veröffentlichte Version von 1704 unter dem Titel „The Sociable Enthusiast; A Philosophical Adventure, Written to Palemon“ zurückgehen. Der 1709er Text wurde geringfügig überarbeitet von Shaftesbury dann in seine „Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times“ von 1711, die alle seine bis dahin entstandenen Hauptwerk in drei Bänden beinhalteten, aufgenommen. Diese Texte von 1704 und 1711 haben auch Eingang gefunden in den Haupttext der heute gebräuchlichen zweisprachigen kritischen Standard Edition.176 Auch die „Inquiry“ ist in verschiedenen Versionen überliefert. Bereits 1699 hatte John Toland ohne Autorisierung von Seiten Shaftesburys einen Text mit dem etwas kürzeren Titel „An Inquiry concerning Virtue“ herausgebracht, den dann Shaftesbury mit erheblichen Änderungen, Auslassungen und Erweiterungen, unter dem oben genannten Titel in den „Characteristicks“ veröffentlichte. Diese drei Bände der „Characteristicks“ erlebten bereits drei Jahre später, also 1714, eine zweite Auflage. Inwieweit Shaftesbury noch selber – er verstarb bereits ein Jahr früher auf einem Erholungsurlaub in Neapel – diese Edition betreut und alle Veränderungen autorisiert hat, ist fraglich.177 Spalding nun aber legte seinen Übersetzungen diesen Text der 2. Auflage der „Characteristicks“ zugrunde. Dass er diesen 1714er Text benutzt hat, fand bis dato keine Beachtung. Auch das Vorwort zur Reprintausgabe von 2001 bemerkt nur: „The translation is based on the text of the edition in the Characteristics.“178 Ein Vergleich der Spaldingschen Übersetzung mit der Standard Edition, die im Kritischen Apparat u. a. die Varianten von 1714 verzeichnet, lässt aber darüber keinen Zweifel zu.179 Im Blick auf die „Moralists“ bedeuten die Varianten der 2. Auflage gegenüber der 1709er Erstveröffentlichung und dem Text in der 1. Auflage der „Characteristicks“ von 1711 nur geringfügige Differenzen, die keine wesentlichen inhaltlichen Konsequenzen haben.180 Hinsichtlich der „Inquiry“ ergibt sich ein ähnliches Bild, jedoch soll auf eine Variante aufmerksam gemacht werden, die im Blick auf die Shaftesburyrezeption im 18. Jahrhundert, die ja wie bereits erwähnt 176 Vgl.
Shaftesbury, SE, II,1+3. „Consequently, one cannot assume that the 1714 edition represents Shaftesbury’s ‚last will‘….“ (Shaftesbury SE, II,2, S. 16 [Editors’ Introduction]). – Ausführlich zur Textgeschichte setzt das Buch von Horst Meyer (vgl. Meyer, Limae Labor) in Kenntnis. 178 Spalding/ Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. XIV [Vorwort des. Hrsg.s]. – Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass 2001 von Heiner F. Klemme und Manfred Kuehn eine Reprintausgabe der Spaldingschen Übersetzung der „Moralists“ in Bristol/ GB publiziert wurde. In der sieben Bände umfassenden Reihe „The Reception of British Aesthetics in Germany. Seven Significant Translations“ werden klassische deutsche Übersetzungen englischer ästhetischer Klassiker neu zugänglich gemacht. 179 Vgl. exemplarisch: Spalding/ Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 27 f.; 38 mit Shaftesbury, SE, II,1, S. 24 f.; 38 f.; Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 57; 64 f. mit Shaftesbury, SE, II,2, S. 56 f.; 68 f. 180 Die B-Auflage von 1714 variiert in drei Hinsichten: Zum einen in Auslassungen einzelner Wörter und Wortgruppen, zum anderen in sprachlichen Glättungen und zum dritten in Einschaltungen ganzer Sätze. 177
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
stark auf den Spaldingschen Übersetzungen basierte, von Bedeutung ist. Im Teil II,1 weist eine Variante der B-Auflage eine signifikante Veränderung gegenüber der 1. Auflage auf. In der 1714er Auflage schaltete Shaftesbury zwei Sätze ein: „Nor can it with-hold its Admiration an Extasy, its Aversion and Scorn, any more in what relates to one than to the other of these Subjects. So that to deny the common and natural Sense of Sublime and Beautiful in Things, will appear an Affection merely, to any one who considers duly of this Affair.“ Spaldings Übersetzung: „Gleicherweise kann er seine Bewunderung und Entzückung, seine Verabscheuung und Verachtung bey der einen Art der Dinge so wenig zurückhalten, als bey der andern. Wer also gehörig erwäget, der wird finden, dass man nicht ohne eine Art gezwungenem Wesen die allgemeine und natürliche Empfindung des Erhabenen und Schönen leugnen kann.“181 Damit wird hier an einer zentralen Stelle das Relat der natürlichen humanen Empfindung über die Schönheit hinaus um das Phänomen der Erhabenheit bereichert. Im Kontext des Shaftesburykapitels wird auf die Erhabenheitsdimension zurückzukommen sein (vgl. IV.1.2; 4.2; 4.4). Es wäre überdies ein eigenes Thema, die Shaftesburyrezeption von Moses Mendelssohn, über Lessing bis hin zu Friedrich Schiller hinsichtlich dieses Sachverhaltes zu analysieren. Dass Spalding seinen Übersetzungen die zweite Auflage der „Characteristicks“ zugrunde legte und damit auch sein Verständnis auf diesen Texten basiert, hat die methodische Konsequenz, dass bei der in Kapitel IV erfolgenden Analyse der für Spalding einschlägigen Theoriesegmente Shaftesburys gegebenenfalls auch die B-Auflage mitberücksichtigt werden muss.
2.2 Terminologische Analyse zentraler Begriffsfelder „Nicht für jedes Wort einer Sprache findet sich in jeder anderen das genaue Aequivalent.“182 Dieses Diktum von Schopenhauer zur Problematik von Übersetzungen allgemeinen muss in Hinblick auf die hier vorliegende Textgattung noch einmal präzisiert und verschärft werden. Übersetzungen theoretisch-philosophischer Texte stellen nämlich in erhöhtem Maße Deutungen dar, da mit der verwendeten Terminologie einerseits immer auch eine Begrifflichkeit konnotiert wird, die dem Übersetzer und d em vom Übersetzer vorgestellten impliziten Leser geläufig ist. Andererseits werden aber auch durch terminologische Rückgriffe festgeprägte Begriffsbestimmen umgeprägt und bereichert. Insofern diese Umbestimmungen von Begriffen die Fachterminologie einer philosophischen Sprache variieren, kann die Bedeutung von Übersetzungen nicht leicht überschätzt werden. Darüber hinaus lassen sich bereits auf der Ebene der Analyse 181 Shaftesbury, SE II,2, S. 69 [Apparat]. bzw. Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64 f. 182 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, S. 601.
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terminologischer Äquivalente zum einen Motive und Interpretationshinsichten aufseiten des Übersetzers erkennen. Von hier aus können gegebenenfalls dann zum anderen präzisere Rückschlüsse auf die begriffliche Prägung des Übersetzers durch den von ihm übersetzten Autor gezogen werden. All diese allgemeinen Überlegungen treffen nun in besonderem Maße auch auf Spaldings Shaftesburyübersetzungen zu, denn Shaftesbury gehört zu denjenigen Philosophen, die seit den 1740er Jahren das geistige Klima und die Sprachbildung in Deutschland nicht unerheblich mitgeprägt haben. Bereits von diesen Beobachtungen aus dürfte eine terminologische Analyse der Spaldingschen Übersetzungen von ideen‑ und begriffsgeschichtlichem Interesse sein. Eine terminologische Analyse dieser Übersetzungstexte wurde bis dato in der einschlägigen Forschungsliteratur sowohl zu Spaldings philosophischen Prägungen als auch in den diversen Studien zur Shaftesburyrezeption in Deutschland nicht in Angriff genommen. Insofern letztere mit den Übersetzungen Spaldings in unmittelbarem Zusammenhang steht und von ihm eine breitere Rezeption des Engländers in Deutschland allererst ihren Anfang nimmt, dürften folgende Analysen auch einen grundlegenden Beitrag zum deutschen Shaftesburyverständnis im 18. Jahrhundert allgemein darstellen.183 Um diese Analyse methodisch einigermaßen in den Griff zu bekommen, beschränkt sie sich auf die terminologische Dimension der Übersetzungen und hier wiederum auf zwei Perspektiven. Zum einen sollen die folgenden Überlegungen in der Blickrichtung sowohl auf Spaldings Vorreden zu den Übersetzungen als auch auf seine Bestimmungsschrift von 1748 erfolgen, denn allererst vermittelst dieser Analyse kann die Shaftesburydeutung der Vorreden und auch die prägende Bedeutung der Philosophie Shaftesburys für die Bestimmungsschrift terminologisch wie begrifflich sicher zugeordnet werden. Zum anderen sollen die Motive für Spaldings Übersetzungsäquivalente vor dem Hintergrund seiner philosophischen und damit einhergehenden begrifflich-terminologischen Prägung vonseiten Christian Wolffs und der deutschen Poetologie‑ und Ästhetikdebatten der 1730er und 1740er Jahre rekonstruiert werden. Die unweigerlich zirkuläre Interpretationsperspektive zielt also auch auf eine Rekonstruktion des begrifflich-philosophischen Horizontes, vor dem Spalding den englischen Moralphilosophen versteht und dieses Verstehen bereits mehr oder weniger bewusst in die Übersetzung einfließen lässt. Da nicht bekannt ist, ob und gegebenenfalls mit welchem Wörterbuch Spalding gearbeitet hat, wird in der folgenden Analyse jeweils ein damals sehr gebräuchliches Wörterbuch von Christian Ludwig [Ludovici] als lexikalischer Vergleichreferent herangezogen.184
183 Eine Untersuchung zu deutschen Shaftesburyübersetzungen liegt zu den Übersetzungen des „Soliloquy or Advice to an Author“ vor (vgl. Portmann, Shaftesburys Soliloquy). 184 Vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French.
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Die Leitfrage lautet also: Welche relevanten shaftesburyianischen Termini übersetzt Spalding aus welchen Gründen mit welchen terminologischen Äquivalenten, auf die er zum einen in den Vorreden sein Augenmerk richten wird und die dann auch zum anderen in der Bestimmungsschrift zentrale Bedeutung erhalten werden. 2.2.1 Empfindung – Gefühl – Geschmack Bekanntlich stellt Shaftesburys Moral-Sense-Begriff dasjenige Theorem dar, mit welchem er sich Eingang in die Ethikgeschichte verschafft hat. Was man in ihr als Moral-Sense-Ethik bezeichnet, geht auf ihn zurück. Hält man nun vor dem Hintergrund der allgemeinen Annahme, dass Spalding – in welchem Maße auch immer – von Shaftesbury beeinflusst wurde, in den Vorreden Spaldings zu seinen Übersetzungen und auch in der Bestimmungsschrift Ausschau nach dem nächst denkbaren deutschen Äquivalent, nämlich ‚Sinn‘ bzw. ‚moralischer Sinn‘, so könnte der weitestgehend negative Befund glauben machen, der junge Theologe sei in diesem zentralen Punkte von Shaftesbury nicht geprägt worden. Vermittelst einer Analyse der Terminologie der Übersetzung und deren begrifflichen Implikationen wird jedoch deutlich, dass es sich durchaus anders verhält. Spalding übersetzt in der Regel das englische Sense im Sinne des moral Sense bzw. Sense of Right and Wrong mit dem deutschen Wort ‚Empfindung‘185. Da in der Bestimmungsschrift der Empfindungsbegriff die psychologische und erkenntnistheoretische Zentralkategorie darstellt und bereits in den Vorreden breit thematisiert wird, liegt die Vermutung nahe, dass Spaldings Empfindungsbegriff in hohem Maße von Shaftesburys Begriff des Sense auf der einen und auch denjenigen englischen Äquivalenten auf der anderen Seite mitbestimmt ist, die Spalding ebenfalls mit ‚Empfindung‘ übersetzt.186 Die Analyse nähert sich im Folgenden den begrifflichen Exklusionen und Implikationen des Spaldingschen Empfindungsbegriffes über die jeweils anderen deutschen Äquivalente von Sense einerseits und die jeweils anderen englischen Äquivalente von ‚Empfindung‘ andererseits. a. Sense als Sinn(e) und Empfindung. Wenn Shaftesbury mit Sense nicht den Sachverhalt, den er gewöhnlich mit Sense of Right and Wrong bestimmt, sondern die äußeren Sinne bezeichnet, dann übersetzt Spalding nicht mit
185 V.a. im I. Buch, Teile 2 und 3 ist der Begriff des Sense of Right and Wrong prominent vertreten und erfährt hier seine begriffliche Bestimmung. – Das zeitgenössische Wörterbuch von Ludovici übersetzt das englische Sense mit Sinn, Fühlen, Fühlung, Empfindung, Bewegung des Gemüts, Verstand, Witz, Fähigkeit, Meinung und Erachten (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 606). 186 In der Bestimmungsschrift von 1748 ist der Terminus ‚Empfindung‘ 23×, ‚empfinden‘ 7× und ‚empfindlich‘ 2× anzutreffen und stellt damit rein quantitativ den am häufigst vorkommenden begrifflichen Terminus dar.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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‚Empfindung‘, sondern durchaus mit ‚Sinn(e)‘187 und deutet damit indirekt an, dass er für den englischen Sense-Terminus nicht grundsätzlich, sondern nur in bestimmter Bedeutung ‚Empfindung‘ als deutsches Pendant verwendet. Über diesen Sinn bzw. Sinne verfügen alle „sensible Creatures [mit Sinnen ausgestattete[n] Geschöpfe]“ bzw. „empfindenden Kreaturen“188, also nicht nur Menschen; und diese Sinne beziehen sich auf die „subjects of Sense [Gegenstände[n] der Sinneswahrnehmung]“ bzw. „sensible Thinks [sinnlich wahrnehmbare[n] Dinge]“, also die „Gegenstände der Sinne“189 bzw. „sinnlichen Dinge“190. Damit wird deutlich, dass Spalding zum einen für das englische Sense durchaus den Terminus ‚Sinn‘ kennt und zum anderen den sachlichen Unterschied zwischen Sense als äußerem Sinn und als Sense of Right and Wrong durch eine terminologische Differenz markieren will. Der Status beider Sachverhalte – des äußeren Sinnes und Wahrnehmung äußerer Dinge auf der einen und des ästhetisch und der ästhetisch-moralischen Erfahrung auf der anderen Seite – ist vom Übersetzer vermittelst der terminologischen Varianten unterschieden. Nun wäre es durchaus auch möglich, Sense auf der ästhetisch-moralischen Bedeutungsebene mit ‚Sinn‘ zu übersetzen und diesen gleichsam als nicht-sinnlichen oder inneren Sinn näher zu bestimmen. Spalding bringt also hier in eins mit dem rein terminologischen Differenzierungsmotiv auch einen gewissen Vorbehalt gegenüber der bei Shaftesbury durchaus feststellbaren, wenngleich nicht explizit ausgeführten vermögenstheoretischen Dimension des Moral-Sense-Theorems zum Ausdruck. Dies kann an einer Passage verdeutlicht werden: „For ’tis not instantly we acquire this Sense by wich these Beautys are discoverable. […] But Who is there that once thinks of cultivating this Soil, or of improving any Sense or Faculty which Nature may have given of this Kind? [Denn nicht im Handumdrehen erwerben wir den Sinn, durch den diese Schönheiten zu entdecken sind. […] Aber wer denkt denn daran, ebendiesen Boden zu kultivieren oder irgendeinen Sinn, irgendeine Fähigkeit zu veredeln, welche die Natur in ebendieser Art gegeben haben mag?]“ „Denn wir bekommen nicht mit einmal
187 Vgl. bspw. Shaftesbury, SE II,2, S. 66; 66; 72; 190; 230 bzw. Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 63; 64; 68; 147; 173; Shaftesbury, SE II,1, S. 280; 312; 316 bzw. Spalding/Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 208; 228; 232 f. – Problematisch ist der Gebrach in Shaftesbury, SE II,1, S. 208; 280; bzw. Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 157; 206, weil hier nicht ganz deutlich ist, ob Shaftesbury von den äußeren Sinnen oder demjenigen Sinn spricht, der dem Senses of Right and Wrong korrespondiert. 188 Shaftesbury, SE II,2, S. 66 [SE II,3, S. 60] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 63. – Im Folgenden wird jeweils der englische Originaltext der StandarEdition und zum Vergleich die deutsche Übersetzung der Standard-Edition und die Übertragung Spaldings zitiert. 189 Shaftesbury SE II,2, S. 66 [SE II,3, S. 60]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64. 190 Shaftesbury, SE II,2, S. 68/SE II,3, S. 61/Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 65.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
die Empfindung, wodurch diese Schönheiten müssen wahrgenommen werden. […] Aber wer denkt iemal daran, diesen Boden zu bauen, oder eine Empfindung und Fähigkeit, welche uns die Natur hierinne vielleicht gegeben hat, zu stärken?“191 Hier läge vom Kontext her und durch die Parallelisierung von Sense und discover bzw. ‚Sinn und wahrnehmen‘ und Sense und Faculty bzw. ‚Sinn und Vermögen‘ die Übersetzung mit ‚Sinn‘ näher als die gezwungen wirkende Übertragung mit ‚Empfindung‘.192 Wie begründet sich dieser Vorbehalt? Er kann im Blick auf Spalding verständlich gemacht werden, führt man sich die Bedeutung von Sinn in der Vermögenspsychologie Christian Wolffs auf der einen und den engeren Begriff von Sense in der Bedeutung der äußeren Sinne in Shaftesburys „Moralists“ auf der anderen Seite vor Augen. Letzterer äußert in einer Passage explizit seinen Vorbehalt gegenüber der Funktion der Senses in der Bedeutung äußerer Sinnlichkeit hinsichtlich der ästhetischen und ästhetisch-moralischen Erfahrung193, wohingegen eine notwendige terminologische Aufklärung der Tatsache, dass auch die ästhetisch-moralische Wahrnehmungsart auf einen Sense zurückgeführt wird, in den beiden Werken nicht erfolgt und Shaftesbury also selber die sinntheoretische Dimension der ästhetisch-moralischen Erfahrungsstruktur unbestimmt und damit im Halbdunkeln lässt. Spalding nun als Wolffianisch gebildeter Shaftesburyleser ist dieser engere Sinn-Begriff in der Bedeutung der fünf äußeren Sinne von der Psychologie Christian Wolffs her vertraut194 (vgl. v. a. I.2; III.1). Von daher legt sich eine erste Erklärung seiner terminologischen Äquivalenz von ästhetisch-moralischem Sense mit ‚Empfindung‘ nahe. Sowohl von Shaftesburys eigens vorgenommener Restriktion der Reichweite des Sense-Begriffes (im engeren Sinne der sinnlichen Wahrnehmung) als auch von Spaldings sachlicher und terminologischer Orientierung an der Vermögenspsychologie der Metaphysik Christian Wolffs her wird es verständlich, warum der Übersetzer den Terminus ‚Sinn‘ für Shaftesburys moral Sense umgeht und den Empfindungsbegriff vorzieht. Der Terminus ‚Empfindung‘ fungiert für Spalding jedoch nicht nur als Äquivalent zu Sense, sondern stellt für eine ganze Klasse englischer Begriffe gewissermaßen einen integrativen Begriff dar. Neben Sensation195 und feel196, gibt Spalding mit dem Terminus ‚Empfindung‘ und ‚empfinden‘ auch die englischen 191 Shaftesbury, SE II,1, S. 326 [SE II,3, S. 310] / Spalding /Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 239. 192 Vgl. auch Shaftesbury, SE II,1, S. 114; 326 [SE II,3, S. 210; 309]/Spalding/Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 90; 239. 193 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 354–360 [SE II,3, S. 322–326] /Spalding /Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 260–63. 194 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 223, S. 125; 697 [Sachenregister]. 195 Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt sensation mit Fühlung, Empfindung (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 606). 196 Das Wörteruch von Ludovici übersetzt feel mit fühlen, empfinden, betasten, begreifen, anrühren (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 261).
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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Termini Sentiment197, Affection198 und (Pre)possession199, Pitch200, Temper201, Conscience202 und perceive203 wieder, jedoch nicht durchgängig, sondern nur in einschlägigen Zusammenhängen. Wir wollen im Folgenden die einzelnen Übersetzungsvarianten hinsichtlich ihrer Bedeutungsdimension für Spaldings Empfindungsbegriff analysieren. b. Ästhetisch-moralische Empfindung als Analogon zu Sensation. Sensation wird von Spalding neben Sense (und neben feel) am häufigsten mit ‚Empfindung‘ wiedergegeben.204 Dies entspricht auch der ihm geläufigen wolffianisch-schulphilosophischen Terminologie, die für die lateinische sensatio ‚Empfindung‘ verwendet.205 Spalding übersetzt kontextbezogen an einer Stelle sensation mit ‚sinnliche Empfindung‘206 und macht damit eine grundsätzliche Differenz zwischen sinnlicher und nichtsinnlicher Wahrnehmung auf. Diese Deutung wird auch durch die Übersetzung des englischen Apprehension of these Sensations mit ‚Empfindungen der Sinnlichkeiten‘207 bestätigt, indem hier indirekt der Empfindungsbegriff als Oberbegriff für sinnliche und nichtsensualistische Rezeptionsstrukturen bestimmt wird. Damit wird zum einen zugleich verständlich, dass Spalding Shaftesburys Sensation-Begriff eher als sinnliche Rezeptionsstruktur versteht208, 197
Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 66; 68 [SE II,3, S. 60 f.] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64 f. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt sentiment mit Erachten, Meinung, Gedanke, Gutdünken (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 607). 198 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 28; 120 [SE II,3, S. 45; 80]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 40; 101. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt affection mit Zuneigung, Liebe, Gunst, Lust, Begierde, Freundlichkeit, Neigung, Gemütsneigung (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 13). 199 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 92 [SE II,3, S. 71] / Spalding /Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 80. 200 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 104 [SE II,3, S. 206] / Spalding / Shaftesbury, SittenLehrer, S. 84. 201 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 114 [SE II,3, S. 211] / Spalding / Shaftesbury, SittenLehrer, S. 91. 202 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 342 [SE II,3, S. 317] / Spalding / Shaftesbury, SittenLehrer, S. 250. 203 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 90 [SE II,3, S. 199] / Spalding /Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 73. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt perceive mit vernehmen, merken, vermerken, sehen, verstehen, fassen, begreifen (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 501). 204 Vgl. u. a. Shaftesbury, SE II,1, S. 85; 88; 164; 194; 260; 340 (3×) [SE II,3, S. 196; 198; 234; 249; 280; 316 (3×)] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 70; 71 f.; 126; 146; 148; 194; 249 (3×). 205 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, S. 674 [Register der lateinischen Kunst-Wörter]. 206 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 84 [SE II,3, S. 196] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 70. 207 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 94/Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 76. 208 Dies wird auch bestätigt durch die Übersetzung von sensation mit Sinnlichkeit (vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 84; 86 [SE II,3, S. 196] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 69; 70.) – In Shaftesbury, SE II,1, S. 92 [SE II,3, S. 200] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer,
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während Sense sowohl Empfindungen allgemein als auch nichtsinnliche Empfindungen – wie eben ästhetisch-moralische Empfindungen – bezeichnen kann; und zum anderen, dass sein Empfindungsbegriff in die Nähe zum Begriff der Apprehension209 rückt, der von Spalding auch mit ‚Gefühl‘210, ‚Vorstellung‘211 und ‚Wahrnehmung‘212 wiedergegeben wird und vermittelst dieser Bedeutungsdimensionen die Komplexität des Spaldingschen Empfindungsbegriffes zum Ausdruck bringt. Deutlich wird dieses über das Sinnliche hinausweisende Verständnis des Sense-Begriffes als Rezeptionsstruktur für ästhetische und moralische Phänomene auch an der Übersetzung des Terms Internal Sensation mit ‚innerliche Empfindung‘: „Now as this Difference is immediately perceiv’d by a plain Internal Sensation, so there is withal in Reason this Account of it; that wathever Things have Order, the same have Unity of Design, and concur in one, are Parts of one Whole, and are intire Systems [Wie nun dieser Unterschied unmittelbar durch eine deutliche innere Empfindung wahrgenommen wird, so gibt es überdies nach der Vernunft die folgende Begründung dafür: daß alle Dinge, die Ordnung haben, auch Einheit des Plans haben und in eins zusammenlaufen, Teile eine einzigen Ganzen oder für sich vollständige Systeme sind].“ Spaldings Übersetzung: „Da nun dieser Unterschied [scil zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen Gebilden] von einer unverdorbenen innerlichen Empfindung unmittelbar wahrgenommen wird, so kan man dieß überhaupt, als einen Grundsatz annehmen. Alle Dinge, die eine Ordnung, wie auch eine Einheit der Absicht haben, und in Eins zusammenstimmen, das sind Theile eines einzigen Systems, oder an sich vollständige Systeme.“213 Damit, dass Spalding hier Sensation mit ‚Empfindung‘ und nicht mit ‚sinnliche Empfindung‘ oder ‚Sinnlichkeit‘ übersetzt, wird klar, dass er das Phänomen ästhetischer und moralischer Erfahrung zwar in Analogie zur sinnlichen Sensation, aber als eine innerliche und nicht rein sinnliche Empfindung bestimmt. Im Terminus plain Internal Sensation erblickt Spalding gewissermaßen eine Explikation des ästhetisch-moralisch valenten Sense-Begriffes, der demzufolge nun in Abgrenzung zu Sensation als sinnlicher Empfindung mit ‚Empfindung‘ wiedergegeben werden muss und in erster Linie S. 75 übersetzt Spalding Kind of Sensation mit ‚sinnliche Art‘ bezüglich verschiedener Formen des Vergnügens und stellt auch hier den Aspekt des Sinnlichen an der sensation heraus. 209 Vgl. auch Shaftesbury, SE II,1, S. 356 [SE II,3, S. 324]/Spalding/Shaftesbury, SittenLehrer, S. 261. 210 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 98 [SE II,3, S. 75]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 86. 211 Shaftesbury, SE II,1, S. 260 [SE II,3, S. 280] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 194. – SE II,2, S. 102; 106 [SE II,3, S. 77; 78] /Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 88; 91 f. 212 Shaftesbury, SE II,2, S. 102 [SE II,3, S. 77] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 89. – SE II,1, S. 356 [SE II,3, S. 324] / Spalding / Shaftesbury, SittenLehrer, S. 261. 213 Shaftesbury, SE II,1, S. 164 [SE II,3, S. 234] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 126.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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nicht-sinnliche und eben innerliche Empfindungen bezeichnet. Hier fügt sich auch Spaldings Übersetzung des englischen perceive mit ‚empfinden‘ ein214, da auch hier die Internal Sensation durch perceive als ein unmittelbares Differenzbewusstsein bestimmt wird, welches gemäß dem komplexen Begriff von perceive zwischen sinnlicher Wahrnehmung und auf sinnlicher Wahrnehmung beruhender gefühlsmäßiger Erkenntnis changiert. c. Empfindung vs. Feel und Sentiment. Die Termini Feel215 und Sentiment216 stellen neben Sensation und Sense die nächsthäufigen Äquivalente zum Empfindungsbegriff dar und haben ebenfalls Erschließungsfunktion für Spaldings Verständnis des Empfindungsbegriffs, wenn verständlich wird, weshalb Spalding nicht Feel mit dem nächstliegenden Äquivalent ‚Fühlen‘ oder ‚Gefühl‘ und Sentiment mit den möglichen entsprechenden Termini ‚Meinung‘ und ‚Gefühl‘ wiedergibt. „Wou’d you then appeal, said he, from the immediate Feeling and Experience of one who pleas’d, and satisfy’d with what he enjoys [Würden Sie also, sagte er, Einspruch erheben gegen die unmittelbare Empfindung und Erfahrung von jemandem, der Vergnügen und Befriedigung findet durch das, was er genießt]?“ Spalding übersetzt: „Wollten Sie den Richterspruch verwerfen, sagte er, den einer, der woran Lust hat, und durch den Genuß desselben befriediget wird, aus seiner unmittelbaren Empfindung und Erfahrung thut?“217 Es wird hier in der Übersetzung durch die Entsprechung von immediate Feeling und ‚unmittelbare Empfindung‘ deutlich, dass Spalding feel mit ‚empfinden‘ übersetzt und folglich die Begriffsmomente des shaftesburyanischen Feel-Begriffes in seinen Empfindungsbegriff mit einfließen lässt. Shaftesbury bestimmt das Gefühl und Spalding in seiner Übersetzung und demzufolge seinen Empfindungsbegriff durch eine Urteils‑ und Lustdimension. Eine Urteilsdimension korrespondiert dem Begriff des feel auch in einer anderen Passage in den „Moralists“, wobei hier gleichermaßen aufseiten Shaftesburys und Spaldings eine terminologischbegriffliche Bestimmtheitsintention durch die explikative Funktion der Klam214
Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 90 [SE II,3, S. 199] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 73. 215 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 42; 84; 204; 244; 324; 344 [SE II,3, S. 175; 196; 252; 272; 308; 319]/ Spalding/ Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 40; 69; 153; 182; 236; 253. – Spalding übersetzt in bestimmten Kontexten Feel auch mit ‚Gefühl‘ oder ‚Fühlen‘ (vgl. bspw. Shaftesbury, SE II,1, S. 42; 254; 350 [SE II,3, S. 175; 277; 321] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 41; 190; 256; Shaftesbury, SE II,2, S. 66; 130 [SE II,3, S. 60; 89] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64; 109). 216 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 338 [SE II,3, S. 315] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 247 – Shaftesbury, SE II,2, S. 66; 68 [SE II,3, S. 61] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64; 65. – Spalding übersetzt sentiment in bestimmten Kontexten auch mit ‚Meinung‘ (vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 38; 104 [SE II,3, S. 174; 206] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 38; 83). 217 Shaftesbury, SE II,1, S. 84 [SE II,3, S. 196] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 69.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
merbemerkung vorausgesetzt werden muß. „No sooner are Actions view’d, no sooner the human Affections and Passions discern’d (and they are most of’em as soon discern’d as felt) than straight an inward Eye distinguishes, and sees the Fair and Shapely, the Amiable and Admirable, apart from the Deform’d, the Foul, the Odious, or the Despicable [Kaum werden Handlungen beobachtet, kaum menschliche Neigungen und Leidenschaften erfasst (und die meisten von ihnen werden so bald erfaßt wie gefühlt), so unterscheidet geradewegs ein inneres Auges und sieht einerseits das Schöne und Wohlgeformte, das Liebenswürdige und Bewundernswerte und andererseits das Ungestalte, das Häßliche, das Abscheuliche oder das Verachtenswerte].“ Spalding übersetzt: „So bald die Handlungen betrachtet werden, so bald die menschlichen Neigungen überdacht werden, (und sie werden mehrentheils eben so bald überdacht, als empfunden) so fort siehet ein innerliches Auge das Schöne und Annehmliche, das Liebens‑ und Bewunderungswürdige, und unterscheidet es von dem Hässlichen, dem Schändlichen, dem Hassenswürdigen und Verächtlichen.“218 Shaftesbury thematisiert hier die Unmittelbarkeit von Wahrnehmung und ästhetisch-moralischem Beurteilen des Wahrnehmungsrelates, indem er das feel und das discern219 (überdenken und empfinden) in eine Gleichzeitigkeit setzt. Indem nun Spalding feel auch hier bewusst und bestimmt mit ‚empfinden‘ übersetzt, rückt er den Empfindungsbegriff in die Nähe des ästhetisch-moralischen unmittelbaren Beurteilens, welches Shaftesbury vorzugsweise mit dem Begriff des feel expliziert. Dass es sich zum einen in Shaftesburys Verständnis beider Termini – feel und Sense – nicht etwa um Synonyme handelt, sondern dass er durchaus zwischen beiden im Sinne einer temporalen Vorordnung des Sense vor dem feel unterscheidet, wird aus folgenden beiden Zitaten deutlich: „The disorder he feels from a Sense of what is shameful and odious in it-self, not of what is hurtful or dangerous in its Consequences [Die Verwirrung, die er empfindet, kommt aus einem Gefühl von etwas, was an sich beschämend und abscheulich ist, nicht von etwas, was in seiner Auswirkung schädlich oder gefährlich ist].“ Spalding übersetzt: „Die Verwirrung, die er fühlet, entsteht aus einer Empfindung von etwas, das an sich selbst schimpflich und hassenswürdig, nicht, das in seinen Folgen schädlich oder gefährlich wär.“220 Erst das feel generiere hier die urteilende Vorstellung von Ordnungs‑ und Unordnungsverhältnissen und damit gegenüber der hier basaler bestimmten Empfindung eine höherstufige Reflexionsform. Diese Gestuftheit
218 Shaftesbury, SE II, 1, S. 344 [SE II,3, S. 319] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 253. 219 Das Wörterbuch von Ludovici übersetzt discern mit ‚ein Ding von einem anderen unterscheiden, einen Unterschied machen, etwas merken‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 199). 220 Shaftesbury, SE II,1, S. 350 [SE II,3, S. 321] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 256 f.
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des shaftesburyanischen Feel-Begriffes integriert Spalding in seinen Begriff der Empfindung, dessen Komplexität bei ihm dadurch gesteigert wird. Dass Spalding zum anderen mit Shaftesburys Feel-Begriff in der Tat das Beurteilungsmoment verbindet, wird indirekt im Rückschluss auch deutlich aus folgender Passage, in der der Übersetzer entweder das ‚Judgment‘ oder das ‚Sentiment‘ in Verbindung mit ‚Judgment‘ mit ‚gleichsam fühlen‘ übersetzt. „[F]or thus, and no otherwise, he is capable of having a Sense of Right and Wrong; a Sentiment or Judgment of what is done thro just, equal, and good Affection, or the contrary [denn so und nur so ist es in der Lage, einen Sinn für Recht oder Unrecht zu besitzen, eine Empfindung oder ein Unterscheidungsvermögen für das, was aus einer gerechten, billigen und guten und was aus einer entgegengesetzten Gemütsbewegung heraus getan wird].“ Spalding übersetzt: „Denn so allein und nicht anders ist es fähig, eine Empfindung von Recht und Unrecht zu haben, und dasjenige zu beurtheilen und gleichsam zu fühlen, was aus einer rechtmäßigen, billigen und guten Neigung, oder aus dem Gegenteil geschehen ist.“221 Die folgende Passage stellt eine Explikation des vorher eingeführten zentralen Begriffes des reflected Sense bzw. reflektierte Empfindung dar und macht die hier vorgelegte These plausibel, dass das urteilstheoretische Reflexionsmoment des feel mit dem Begriffsmoment der Reflektiertheit der ästhetisch-moralischen Empfindung von Spalding in den Empfindungsbegriff selber aufgenommen wird, der gleichsam eine Integrationsfunktion für die komplexe Struktur von Wahrnehmung (basaler Empfindungsbegriff) und Beurteilung (feel) darstellt und von hieraus eine Übersetzung des feel mit Empfindung (im komplexen und integrativen Sinne) verständlich macht. „The Mind, which its Spectator or Auditor of other Minds, cannot be without its Eye and Ear; so as to discern Proportion, distinguish Sound, and scan each Sentiment or Thought which comes before it. It can let nothing escape its Censure. It feels the Soft, and Harsh, the Agreeable, and Disagreeable, in the Affections; and finds a Foul and Fair, a Harmonious, and a Dissonant, as really and truly here, as in the outward Forms or Representations of sensible Things [Ein Geist, der zum Betrachter oder Zuhörer gegenüber einem jeweils anderen Geist wird, kann nicht ohne Auge oder Ohr sein, die ihn befähigen, Proportionen oder Gedanken zu prüfen, die sich ihm darbieten. Seiner Beurteilung kann er nichts entgehen lassen. Er fühlt das Sanfte, das Rauhe, das Angenehme und das Unangenehme in den Gemütsbewegungen und empfindet hier ein Widerwärtiges und ein Anziehendes, eine Harmonie und eine Dissonanz genauso real und trefflicher wie in den äußeren Formen und Erscheinungsweisen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge].“ Spalding übersetzt: „Der Geist, der ein Zuschauer und Zuhörer anderer Geister ist, muß sein Auge und Ohr haben, die Verhältnisse wahrzunehmen, die Töne zu unterscheiden, und eine iede vor221 Shaftesbury, SE II,2, S. 70 bzw. Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 67.
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kommende Empfindung oder Gedanken zu beurtheilen. Er kann nichts seiner Prüfung entwischen lassen. Er fühlet das Sanfte und Rauhe, das Einträchtige und Mishellige in den Neigungen; und findet hier ein Garstiges und Schönes, ein Uebereinstimmendes und Widriges so wirklich und so richtig, als irgend in einer Melodey, oder in den äusserlichen Bildungen und Vorstellungen sinnlicher Dinge.“222 Dass Spalding auf den Beurteilungsaspekt Wert legt, macht in dieser zentralen Passage der Tugenduntersuchung die Übersetzung des englischen scan mit ‚beurtheilen‘ deutlich, denn scan legt durchaus andere Übersetzungsmöglichkeiten näher als ‚beurteilen‘. Der ‚fühle‘-Satz stellt eine Explikation des ‚beurteile‘-Satzes dar und macht insofern einsichtig, dass das Fühlen das Beurteilen impliziert und als ein zentrales Moment in den Begriff des reflected Sense bzw. der ‚reflektierten Empfindung‘ eingeht. Von dieser Definition des reflected Sense her wird es verständlich, dass Spalding grundsätzlich den shaftesburyanischen Terminus feel mit dem in dieser Weise begrifflich bestimmten Terminus ‚Empfindung‘ (im komplexen und integrativen Sinne) wiedergeben kann. Diese terminologische und begriffliche Analyse konnte aber noch nicht verständlich machen, weshalb Spalding dann nicht den Gefühlsterminus zu seiner Zentralkategorie bestimmt hat. Die terminologische Präferenz des Empfindungsbegriffes vor dem Gefühlsbegriff und die Überordnung des Empfindungsbegriffs (im Sinne des Moral-Sense) über den Gefühlsbegriff lassen sich aus zweierlei Gründen erklären. Zum einen ist es wiederum vor dem Hintergrund von Spaldings philosophischer Herkunft aus der wolffschen Schulphilosophie und dem theologischen Wolffianismus verständlich, dass er mit dem Gefühlsbegriff nur wenig anfangen konnte, da dieser bei Wolff ausschließlich den tactus als einen der fünf Sinne bezeichnet und für moralische oder ästhetische Erfahrung keine Relevanz hat. Und selbst in den deutschen poetologischen und ästhetischen Debatten der 1730er bis 1740er Jahre erhält der Gefühlsbegriff noch nicht die bedeutende Rolle, die ihm dann erst nach 1750 durch Moses Mendelsohn, Johann Georg Sulzer, Johannes Nikolaus Tetens und Johann August Eberhard und endlich Immanuel Kant bzw. Friedrich Schleiermacher zukommt.223 Den Wechsel von der Ästhetik der ersten Schülergeneration Wolffs zur Ästhetik der zweiten Generation, die in den 1760er Jahren überdies durch deren Hinwendung zur englisch-empirischen Philosophie geprägt war, fasst Alfred Baeumler treffend in die kurze Formel zusammen: „In Baumgartens Theorie war vom Gefühl überhaupt nicht die Rede, bei Mendelsohn nimmt es die wichtigste Stelle ein.“224 – So ist es auch verständlich und bezeichnend, dass allererst die vollständige Übersetzung von Shaftesburys „Characteristicks“ durch Ludwig Heinrich Christoph Hölty und Johann Heinrich Voss aus den Jahren 1776–79 den Terminus Sense sowohl 222 Shaftesbury, SE II,2, S. 66/68 [SE II,3, S. 61] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64. 223 Vgl. Frank / Oesterle, Gefühl, Sp. 82–89. 224 Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 117.
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in den „Moralists“ als auch in der „Inquiry“ grundsätzlich mit dem Gefühlsterminus wiedergibt225. Dieser musste also aufs Ganze der Entwicklung gesehen Spalding noch höchst ungeeignet für die Bezeichnung einer solch komplexen ästhetisch-moralischen Rezeptionsstruktur erscheinen, wie sie mit Shaftesburys Sense‑ und Feel-Begriff bezeichnet ist. Auf der anderen Seite hatte aber die deutsche Poetologie und Ästhetik in der ersten Jahrhunderthälfte solche Begriffselemente auf den Empfindungsbegriff übertragen, die über Wolffs Empfindungsbegriff hinausgingen und die es Spalding durchaus möglich gemacht haben, diesen zum Integrationsbegriff des allgemeinen Sachverhalts moralisch-ästhetischer Erfahrung zu erheben. Dies kann hier nur angedeutet werden, bevor es dann im Anschluss an die Analyse der Vorreden breiter ausgeführt wird (vgl. III. Kapitel). Diesen Befund bestätigt auch Spaldings Übersetzung des Sentiment-Begriffes. Die von Spalding verwendeten deutschen Äquivalente decken zum einen die möglichen Bedeutungen dieses seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts v. a. in Frankreich und England konjunkturierenden Begriffes ab. Im Französischen gewinnt der Terminus in den ästhetischen Debatten um Bouhour, Crousaz, La Motte und auch Leibniz die Bedeutung eines ästhetischen Instinkts, einer ungegründeten Meinung und eines gefühlsmäßgen Urteils.226 Spalding kann den shaftesburyanischen Sentiment-Begriff in diesem Sinne sowohl mit „Meinung“227 als auch mit „gleichsam fühlen“ bzw. „gefühlsmäßig beurteilen“228 übertragen und teilt damit das Changieren des Sentiment-Begriffes zwischen Emotionalität und Rationalität, Gefühl und Verstand mit den Bedeutungen dieses Begriffes in deutschen Übersetzungen französischer und englischer Autoren und als deutsches Lehnwort in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bevor er dann nach ca.1770 mehr und mehr zum Gefühlsbegriff tendierte.229 Indem Spalding Sentiment auch mit ‚geistliche Empfindung‘230 übersetzen kann, be225 Vgl.
Shaftesbury / Hölty / Voss, Shaftesburys philosophische Werke. dazu die immer noch erhellenden Ausführungen von Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 29–36. 227 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 38; 104 [SE II,3, S. 174; 205] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 38; 83. 228 Vgl. Shaftesbury, SE II, 2, S. 70 [SE II,3, S. 62]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 67. – An dieser Stelle erzeugt Spalding eine gewisse begriffliche Unschärfte, da er hier das englische Sentiment or Judgment mit ‚beurtheilen und gleichsam fühlen‘ übersetzt und damit entweder die Reihenfolge der Glieder vertauscht und damit in den Begriff des sentiment eine Gefühlsdimension, oder aber in den Sentiment-Begriff eine Urteilsstruktur sowie in den Begriff des Judgment eine Gefühlsdimension einträgt. 229 Vgl. Sauder, Empfindsamkeit, S. 3. – Exemplarisch sei die Zuordnung der englischen/ französischen Begriffe sensation und sentiment bei Johann Karl Wezel zitiert: „Wir wollen daher die Empfindungen der fünf Sinne Sensationen, und die andere Gattung Gefühle nennen.“ (Wezel, Versuch, S. 14.) 230 Vgl. Shaftesbury, SE II, 2, S. 194 [SE II,3, S. 116] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 149. – Diese Übersetzung findet sich auch noch bei Karl Heinrich Heydenreich (vgl. Heydenreich, Empfindung und Phantasie, S. 180). 226 Vgl.
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stätigt er die These bezüglich seines Verständnisses von ästhetisch-moralischer Empfindung im Gegensatz zu Sensation, dass nämlich diese eher die sinnliche Empfindung, Sentiment hingegen die geistlichen Empfindungen als gleichsam internal Sensations bezeichnet. Von dieser Unterscheidung her legt es sich für Spalding nun auch nahe, Sentiment in Hinsicht auf nicht bloß sinnliche, sondern vielmehr ‚geistliche‘ ästhetische und ästhetisch-moralische Rezeptionsstrukturen einfach mit ‚Empfindung‘ zu übersetzen231 und damit in Analogie zum FeelBegriff sowohl das gefühls-, urteilstheoretische und auch intramentale Begriffsmoment in den Empfindungsbegriff zu importieren. d. Empfindung und Geschmack. Zunächst scheint Spalding eine gewisse Affinität zum Geschmacksbegriff zu haben, denn er übersetzt nicht nur die englischen Termini taste (5×)232, relish (4×)233 und das spanisch/italienische gusto234, die als englische Äquivalente dem Geschmacksbegriff nahe liegen, sondern auch fancy (2×)235, genius236, inclin’d to237, sensation238 und humour239 in bestimmten Zusammenhängen mit dem Geschmacksbegriff, was von der Bedeutung dieser Begriffe her nicht unbedingt zwingend ist. Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass in den „Moralists“240 diejenigen Begriffe, die Spalding mit Ge231 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 66 [SE II,3, S. 61]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64; 65 – Shaftesbury, SE II,1, S. 338 [SE II,3, S. 315] /Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 247. 232 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 39; 85; 100; 326; 378 [SE II,3, S. 174; 196; 203; 310; 334] / Spalding/ Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 38; 70; 80; 238; 275. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt taste mit ‚Geschmack, der Verstand eine Sache zu unterscheiden‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 685). 233 Shaftesbury, SE II,1, S. 78; 82; 114; 239 [SE II,3, S. 193; 195; 210] /Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 65; 68; 90 f.; 239. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt relish mit ‚Geschmack‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 567). 234 Shaftesbury, SE II,1, S. 366 [SE II,3, S. 329] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 268. 235 Shaftesbury, SE II,1, S. 22; 158 [SE II,3, S. 166; 232] /Spalding / Shaftesbury, SittenLehrer, S. 26; 122. – Das Wörterbuch übersetzt fancy u. a. mit ‚Phantasie, Einbildungskraft, Gedanke, Meinung‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 255). 236 Shaftesbury, SE II,1, S. 30 [SE II,3, S. 170] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 32. – Zum Zusammenhang von gusto und genio / genius in der spanischen Moralistik vgl. Schümmer, Entwicklung des Geschmacksbegriffs, S. 126 f. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt genius mit ‚ein guter und böser Engel, die angeborene Art, natürliche Zuneigung, Lust zu etwas‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 301). 237 Shaftesbury, SE II,1, S. 36 [SE II,3, S. 173] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 37. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt incline to mit ‚neigen, biegen, treiben, sich neigen, geneigt sein, Lust und Liebe zu etwas haben‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 367). 238 Shaftesbury, SE II,1, S. 114 [SE II,3, S. 210] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 91. 239 Shaftesbury, SE II, 1, S. 20 [SE II,3, S. 165] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 25. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt humour u. a. mit ‚plötzliche Lust‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 352). 240 In der „Inquiry“ kommen englische Äquivalente dessen, was Spalding gewöhnlich mit Geschmack übersetzt, nicht vor.
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schmack übersetzt, in zwei Passagen in einen engeren begrifflichen Kontext zum Begriff des Sense of Right and Wrong zu stehen kommen und sich damit eine moralphilosophische Umwidmung der von Hause aus eher ästhetischen Kategorie anbahnt.241 „Answer me, Philocles, you are such a Judge of Beauty, and have so good a Taste of Pleasure; Is there any thing you admire, so fair as Friendship? Or any thing so charming as a generous Action? [Antworten Sie mir, Philokles, der Sie so viel von Schönheit verstehen und einen so guten Geschmack in Sache Vergnügen haben: Ist irgend etwas von dem, was Sie bewundern, so schön wie Freundschaft? Oder irgend etwas so bezaubernd wie eine edelmütige Handlung?].“ Spaldings Übersetzung: „Antworten Sie mir, Philocles, da Sie eine so grosse Kenntniß von der Schönheit, und einen so feinen Geschmack in der Wollust haben; ist wohl etwas von dem, was Sie bewundern, so schön, als die Freundschaft? Oder ist etwas so reizend, als eine großmüthige That?“242 Der Geschmacksbegriff wird hier vom fiktiven Dialogpartner Theocles in einer ästhetisch-moralischen Bedeutung verwendet, indem er ihn auf das moralische Phänomen der Freundschaft bezieht. Indem Spalding dem Geschmacksbegriff eine begrifflich integrative Funktion zuordnet, wie aus der Zusammenfassung verschiedenster englische Begriffsausdrücke unter den deutschen Terminus Geschmack gefolgert werden kann, so dürfte sich der Übersetzer auch hier mit der Verwendung des Geschmacksbegriffes der extensionalen Ausweitung dieser Kategorie auf die moralische Erfahrung und der begriffssystematischen Nähe zum Empfindungsbegriff voll bewusst gewesen sein, die im folgenden Zitat deutlich wird: „How long e’er a true Taste is gain’d! How many things shocking, ho many offensive at first, which afterwards are known and acknowledg’d the highest Beautys! For ’tis not instantly we acquire this Sense by wich these Beautys are discoverable [Wie lange dauert es, bis ein wahrer Geschmack ausgebildet ist! Wie viele Dinge sind zunächst schockierend, wie viele zunächst anstößig, die hernach als die höchsten Schönheiten erkannt und anerkannt werden! Denn nicht im Handumdrehen erwerben wir den Sinn, durch den diese Schönheiten zu entdecken sind].“ Spalding übersetzt: „Wie lange währet es, ehe der richtige Geschmack gebildet wird! Wie manches kömmt uns im Anfange seltsam und anstößig vor, welches hernach für die höchste Schönheit erkannt wird! Denn wir bekommen nicht mit einmal die Empfindung, wodurch diese Schönheiten müssen wahrgenommen werden.“243 Spalding verbindet durch seine Terminologie den Geschmacksbegriff in einer bestimmten Weise mit dem Empfindungsbegriff, 241 Dass Shaftesbury in der ästhetischen Debatte zu Hause war, kann hier nur textlich mit einem Indiz angedeutet werden. An einer Stelle bezieht er sich auf das dann vielerseits rezipierte von Bouhour stammende Diktum je ne sais quoi über das sentiment der Schönheit (vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 344 [SE II,3, S. 318]/ Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 252.). 242 Shaftesbury, SE II,1, S. 100 [SE II,3, S. 203 f.] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 80. 243 Shaftesbury, SE II,1, S. 326 [SE II,3, S. 310] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 238 f.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
indem er den zweiten Satz nicht etwa als vermögenstheoretische Explikation versteht, wie er von Shaftesbury gemeint sein dürfte. Schon dass Spalding das this mit dem unbestimmteren Artikel ‚die‘ übersetzt macht deutlich, dass er ganz im Duktus seines Empfindungsbegriffs die Singularität des hier gemeinten Sense-Begriffes in der Bedeutung, dass der Geschmack einen bestimmten Sensus resp. Sinn darstellt, verdecken will. Möglich wäre die Deutung, dass der Übersetzer dennoch den Geschmacksbegriff in einer vermögenstheoretischen Bedeutung verstanden wissen will, der als Vermögen intramentaler ästhetischer und ästhetisch-moralischer Empfindungen zu stehen kommt. Damit beginnt der Geschmacksbegriff die vermögenstheoretische Leerstelle auszufüllen, die Spalding durch das Zurückdrängen des Sense als Sinn aufgerissen hat: Der ästhetisch-moralische Geschmack als seelisches Vermögen steht gleichsam hinter der ästhetisch-moralischen Empfindung und stellt damit die Bedingung ihrer Möglichkeit dar. Diese Interpretation wird innerhalb der Analyse der Vorreden bestätigt werden (vgl. II.3). Auch hier dürfte es nicht von ungefähr für die Rekonstruktion der Motive Spaldings sein, dass in der deutschen poetologischen, geschmackstheoretischen und ästhetischen Debatte ebenfalls der Empfindungsbegriff die psychologischerkenntnistheoretische Basiskategorie des Begriffs eines Geschmacksurteils als eines ästhetischen Grundvermögens darstellt. Dies wird im III. Kapitel auszuführen und zu erläutern sein. 2.2.2 Der Bestimmungsbegriff – eine Spurensuche Spalding nimmt bekanntlich in den Titel seiner ersten großen Schrift den Terminus der Bestimmung auf und stiftet damit einen im 18. Jahrhundert titel‑ und theorieprägenden Begriff. Auch im Text der Bestimmungsschrift verwendet er ihn und dessen Verbform insgesamt 6×.244 Schon im Blick auf die Interpretation der Bestimmungsschrift legt es sich nahe, den Zusammenhang zu rekonstruieren, innerhalb dessen Spalding diese Kategorie in ihrer anthropologischen Bedeutungsebene entdeckt und zu seiner philosophisch-anthropologischen Leitkategorie entwickelt hat. Die Untersuchung wird auch die Motive in den Blick nehmen, die Spalding dazu veranlasst haben, all das, was er in der Bestimmungsschrift thematisch macht, in sein Konzept der Bestimmung des Menschen zu integrieren. Denn es versteht sich keineswegs von selbst, dass der lutherische Theologe erstmalig in der Wissenschafts‑ und Literaturgeschichte eine Anthropologie, Ethik‑ und Religionstheorie unter den formalen Bestimmungsbegriff subsumiert. Clemens Schwaiger weist zwar darauf hin, dass bereits 1739 in Tübingen eine Schrift von Christoph Friedrich Schott und Philipp Ulrich Moser unter dem Titel „Dissertatio moralis, de praecipua hominis destinatione“ erschienen war und 244 Vgl.
Spalding, BdM, S. 10; 13; 16; 22; 24 (2×) [S. 2; 15; 18; 23; 25; 26].
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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dass der Greifswalder Magister und nachmalige Professor für Logik und Metaphysik Peter Ahlwardt eine undatierte und unveröffentlichte Schrift mit dem Titel „Abhandlung über die wahre Bestimmung des Menschen“ verfasst hat245. Vor allem der letzten Spur nachzugehen würde sich schon deshalb lohnen, weil Spalding nach seinen autobiographischen Angaben zwischen 1734 und 1735 von Ahlwardt geprägt wurde246; jedoch ist einerseits nicht sicher, ob Ahlwardt den Text vor 1748 verfasst hat und andererseits, ob Spalding diesen Text gegebenenfalls kannte. Da Spalding auf die genannten Titel und Autoren im Kontext seiner autobiographischen Reflexionen zur Genese der Bestimmungsschrift und auch sonst an keiner Stelle Bezug nimmt und im Rahmen dieser Arbeit vornehmlich die Shaftesburyrezeption und deren Einfluss auf die Bestimmungsschrift rekonstruiert werden soll, können diese Hinweise Schwaigers unberücksichtigt bleiben, wenngleich ihnen gesondert nachzugehen aus begriffsgeschichtlichen Gründen lohnenswert wäre. Wie im Forschungsbericht ausgeführt, hat Norbert Hinske in seinem Aufsatz „Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung“ den Versuch unternommen, die in der Forschungslandschaft zur deutschen Aufklärung zu Tage tretende Vielschichtigkeit und durch Detailforschung hervorgerufene Unübersichtlichkeit eines immer bunter werdenden Epochenmosaiks einer kategorialen Reduktion zu unterziehen. Methodisch ist dieser Versuch angelegt als eine Typologie tragender Ideen der deutschen Aufklärung, die das diffuse Material gleichsam unter eine Matrix bestimmender Leitgedanken zusammenzufassen beansprucht. „Am leichtesten lassen sich diese Ideen wohl in drei Gruppen zusammenfassen, nämlich in Programmideen, Kampfideen und Basisideen. Die erste Gruppe artikuliert die positiven Zielsetzungen der deutschen Aufklärung, die zweite markiert ihre Frontstellungen und die dritte schließlich bringt jene anthropologischen Fundamente zur Sprache, auf denen diese Bewegung als ganze eher stillschweigend basiert.“247 Diese Anlage einer Gesamtdeutung der deutschen Aufklärung hat zum ersten Mal in der Historiographie der deutschen Aufklärungsforschung die Möglichkeit eröffnet, die Idee der Bestimmung des Menschen im Setting der Grundideen nicht nur vorkommen zu lassen, sondern darüber hinaus als tragende Basisidee zu exponieren. Vermittelst dieser ideentypologischen Aufwertung einer bis dahin eher marginalisierten Thematik rückt nun auch bei Hinske der prominenteste Protagonist dieser Basisidee – Johann Joachim Spalding – ins Blickfeld. Hinske vermerkt, dass nach Spalding und der an dessen Bestimmungsschrift in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts anschließenden Mendelssohn-Abbt-Debatte es „kaum einen Autor der deutschen
245 Schwaiger,
Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 8 [Anm. 7]. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 119 [S. 7 f.]. 247 Hinske, Grundideen der deutschen Aufklärung, S. 412. 246 Vgl.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Spätaufklärung [gab], bei dem das Stichwort nicht in dieser oder jener Form anklingt“248. Hinskes Aufsatz fungiert in Raffaele Ciafardones Textband zur Philosophie der deutschen Aufklärung als Beigabe, der Hinskes aufklärungshermeneutischem Programm einer Ideentypologie entsprechend mit einem Kapitel „Der Mensch und seine Bestimmung“ einsetzt.249 Spalding kommt hier zentral in der Mitte zwischen Leibniz, Thomasius, Wolff und Crusius auf der einen und Abbt, Mendelssohn, Kant, Lessing und Schiller auf der anderen Seite zu stehen. Es deutet sich hier schon von Hinskes für eine Basisidee verhältnismäßig übersichtlichen Bemerkungen – er widmet dieser Basisidee keine halbe Seite – und auch von Ciafardones einschlägigem Kapitel her dreierlei für das Verständnis dieser Kategorie und die bisherige Forschungsgeschichte an: Zum ersten wird der Begriff der Bestimmung des Menschen unterminologisch weit gefasst als Bezeichnung der seit der Frühaufklärung bis zur Spätaufklärung in verschiedensten Kontexten traktierten anthropologischen Fragestellung. Zum zweiten fungiert Spaldings Bestimmungsschrift in dieser Perspektive vor allem als Ausgangspunkt der nachfolgenden Debatten, die dann auch im Mittelpunkt der Begriffsgeschichte stehen. Dass allererst aufgrund der 1748er Programmschrift und in der darauf folgenden Auseinandersetzung um diese Schrift der Bestimmungsbegriff nicht nur der Sache nach, sondern auch terminologisch die anthropologische Literatur und Debatte zu prägen begonnen hat, ist bereits von der einschlägigen Forschung zum Begriff und zur Anthropologie der Aufklärung allgemein bis hin zu Kant gezeigt worden.250 Damit trat bisher im Gefolge dieser Schwerpunktsetzung auf die Spätaufklärung drittens – und hier zeichnet sich ein Defizit ab – die Frage nach den Ursprüngen der Bestimmungsthematik und vor allem der terminologisch-begriffliche Fassung dieses anthropologischen Grundproblems unter das Diktum von der Bestimmung des Menschen in Hinblick auf Spalding zurück. Die folgende Analyse geht von der Annahme aus, dass auch hier Spaldings Shaftesburyrezeption und speziell die Analyse der Terminologie seiner Übersetzungen etwas Licht ins begriffsgeschichtliche Dunkel bringen kann. Im Blick auf Spaldings Bestimmungsbegriff wie auch hinsichtlich der anthropologischen Bestimmungsthematik im Allgemeinen wird deutlich, dass eine Wurzel in der Philosophie Shaftesburys liegt. 248 Ebd.,
S. 435. Ciafardone, Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 39–119. 250 Vgl. Hinske, Das stillschweigende Gespräch.; vgl. Lorenz, Skeptizismus und natürliche Religion.; vgl. D’Alessandro, Wiederkehr eines Leitworts. – Bemerkenswert ist, dass der Artikel ‚Bestimmung des Menschen‘ im Historischen Wörterbuch der Philosophie Spalding ausschließlich benennt und zudem seine Bestimmungsschrift noch unzutreffend auf das Jahr 1797 datiert. Angelegt ist der Beitrag denn auch in keiner Weise begriffsgeschichtlich im Sinne einer Geschichte diese Diktums, sondern allgemein als ein Abriss der Anthropologie von der Antike bis zur Moderne. Erhellendes über die Genese des Bestimmungsbegriffes erwartet man denn auch vergeblich (vgl. Grawe, Bestimmung des Menschen). 249 Vgl.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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Clemens Schwaiger hat sich erstmals diesem Problem gewidmet. Ausgehend von seiner Feststellung, dass Spalding das Persiuszitat – „Quid sumus? Et quidnam victuri gignimur? (Was sind wir? Zu welcher Art Leben geboren?)“ – als Motto seines Bestimmungstraktates wohl der Lektüre von Shaftesburys „Miscellaneous Reflections“ (III,1) verdanke, stellt Schwaiger lediglich fest, dass Spalding sowohl die Leitfrage als auch den Leitfaden seiner Antwort, der sich an der Analyse der Natur des Menschen orientiere, diesem Zitat und dem Kontext des Persiuszitates in dieser Schrift Shaftesburys verdanke.251 Seine Entdeckung, dass nämlich Shaftesbury in eben diesem Zusammenhang das dem lateinischen Verb destinare entlehnte englische Verb destine verwendet252, lässt er jedoch ohne eingehende Interpretation stehen.253 Er beschränkt sich methodisch vielmehr auf den sachlichen Gehalt der anthropologischen Ausgangsfrage und Spaldings Reflexionsverfahren. Genau an dieser Stelle bleibt nun aber die Frage offen, warum er die anthropologische Fragestellung unter dem Terminus der Bestimmung firmieren lässt und wo die Idee Spaldings ihren sprach‑ und begriffsgeschichtlichen Ursprung hat, seine Anthropologie, Ethik und Religionstheorie ausdrücklich in den formalen Rahmen der Frage nach der Bestimmung des Menschen zu stellen. Weil Spalding mit diesem Titel und seiner damit eingenommenen anthropologischen Fragestellung nicht nur inhaltlich die Debatten der zweiten Hälfte des Aufklärungsjahrhunderts geprägt hat, sondern – vielleicht viel stärker – sprachlich-terminologisch mit dem Diktum von der ‚Bestimmung des Menschen‘ seine Wirkung zeitigte, soll in unserem Kontext die Herkunftsfrage nach dem Bestimmungs-Begriff um eben jene sprachlich-terminologische Dimension vertieft werden. Auch hier bieten sich die Shaftesburyübersetzungen als einigermaßen aufschlussreiche Quellen an, weil Spalding in ihnen den Bestimmungsterminus als deutsches Äquivalent in einer solchen Weise verwendet, die Aufschluss über die Genese seines Verständnisses dieses Begriffes gibt. Die leitende Frage der folgenden Untersuchung wird sein, welche Bedeutung der Bestimmungsbegriff als Übersetzungsäquivalent verschiedenster englischer Termini hat und welche Schlüsse sich daraus für Spaldings Präferenz dieses Terminus und seine Motive ziehen lassen, den Bestimmungsbegriff als eine systematische Leitkategorie in den zeitgenössischen anthropologischen Diskurs zu implementieren. Die Analyse der einschlägigen Stellen verfährt methodisch jeweils so, dass 1. der systematische Kontext des jeweiligen Vorkommens des Bestimmungs251 Vgl.
Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 13. us be suppose a Man, who resolving to imploy his Unterstanding to the best purpose, considers Who or What he is; Whence he arose, or had his Being; to what End he was design’d; and to what Course of Action he is by his natural Frame and Constitution destin’d. [Nehmen wir einmal an, ein Mensch beschließt, von seinem Verstand den bestmöglichen Gebrauch zu machen, und überlegt dann, wer oder was er ist, woher er entstand oder seine Existenz erhielt, zu welchem Zweck er erschaffen wurde und zu welcher Handlungsweise er kraft seiner natürlichen Beschaffenheit und Veranlagung bestimmt ist.]“ (Shaftesbury, SE, I,2, S. 192 [S. 193]). 253 Vgl. dazu Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 13. 252 „Let
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
begriffes bei Shaftesbury eruiert wird, um den theoretischen Status des Begriffes bestimmen zu können, innerhalb dessen Spalding ihn verwendet, dass 2. die Bedeutungsdimensionen im deutschen Übersetzungstext und gegebenenfalls die Bedeutungsverschiebungen gegen den englischen Originaltext und deren eventuellen Motive und 3. mögliche Bedeutungsimplikationen und Begriffsmotive vom englischen Ursprungswort bzw. Kontext her in Hinsicht auf den deutschen Bestimmungsbegriff rekonstruiert werden. Über vorsichtige Erwägungen einer Spurensuche können die Analysen aufgrund des eher übersichtlichen Materials und der anzuratenden methodischen Vorsicht, die bei der Analyse einer Übersetzung zu walten hat, jedoch nicht hinauskommen. Das deutsche Verb ‚bestimmen‘ kommt in Spaldings beiden Shaftesburyübersetzungen 7×, das davon abgeleitete Verbalsubstantiv ‚Bestimmung‘ 3×254, davon jedoch nur einmal in den „Sitten-Lehrern“ vor, so dass sich die folgende Analyse vornehmlich der „Inquiry“ bzw. Spaldings Übersetzung widmet. Wie bereits am Empfindungsbegriff gezeigt wurde, versammelt Spalding – typisch für seine Übersetzungspraxis – auch mit dem Bestimmungs-Terminus als singulärem Äquivalent etliche englische Begriffe unter einen Terminus. Die Wörter ‚Bestimmung‘ und ‚bestimmen‘ stellen die Übersetzungsäquivalente der englischen Wörter Determination255, Course256, scope257 bzw. provide-for258, determine259, destine260, Inclination261 bzw. wrought upon262 und intend263 dar264. 254 Wir sehen hier von Spaldings unterminologischer jeweils einmaliger Verwendung des Begriffes ‚bestimmt‘ als Übersetzung von certain (Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 197 bzw. Shaftesbury, SE II,2, S. 266) und als Übersetzungszusatz im Sinne von ‚sicher‘ (Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 201 bzw. Shaftesbury, SE II,2, S. 270) ab. 255 Vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 338 [SE II,3, S. 315] / Spalding / Shaftesbury, SittenLehrer, S. 247. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt determination mit ‚Schluß, Beschluß, Bestimmung, Entscheidung‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 193). 256 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 146 [SE II,3, S. 96] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 118. – Das Wörterbuch von Ludovici übersetzt course mit ‚Lauf, Weg, Straße, Ordnung, Art und Weise zu leben‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 163). 257 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 240 [SE II,3, S. 136] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 181. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt scope mit ‚Zweck, Ziel, absehen, vorhaben‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 598). 258 Vgl. Shaftesbury, SE II, 2, S. 48 [SE II,3, S. 53]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 53. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt provide for u. a. mit ‚versorgen, ausrüsten, verschaffen, verordnen, anordnen‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 524). 259 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 44; 46; 50 [SE II,3, S. 51; 52; 53] /Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 50; 51; 53. 260 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 100 [SE II,3, S. 76] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 87. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt destine mit ‚bestimmen, verordnen, beschließen, zueignen, widmen‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 192). 261 Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt inclination mit Neigung, Zuneigung, Geneigtheit, Lust (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 367).
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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Den Makrokontext der ersten fünf zu analysierenden Vorkommen des Bestimmungsbegriffes bildet Shaftesburys Begriff des Universums bzw. des „Systems aller Dinge“265. Dieses Konzept repräsentiert die metaphysische Grundannahme seiner Theorie von Gutheit und Tugend als derjenigen Art von Bonität, die ausschließlich rationalen Wesen zukommt, mithin auch dem Menschen. Diese Konzeption bildet den argumentativen Ausgangspunkt seiner Moralphilosophie und wird dem 1. Buch, 2. Teil („Der Ursprung der Tugend“266) im Wesentlichen mit den ersten beiden Abschnitten („Die Verknüpfung der besonderen Wesen zu einem Ganzen“267; „Die Güte der Neigungen“268) vorangestellt. Während diese Theorie im Shaftesbury-Kapitel (vgl. IV.2) dieser Arbeit detailliert rekonstruiert wird, sollen hier nur diejenigen Grundbestimmungen benannt werden, die zum Verständnis der in Frage stehenden Passagen notwendig sind. Der Begriff des Guten wird von Shaftesbury systemtheoretisch formal gefasst. Die Bonität einer Entität konstituiert sich ausschließlich vermittelst ihrer Relation zu einem übergeordneten System, als deren Teil diese fungiert. Die systemische Struktur von Teil‑ Ganze-Relationen findet nun Anwendung auf verschiedenen Ebenen: von körperlich-organischen Funktionszusammenhängen über Gattungssysteme, deren Gattungsglieder die Teile desselben repräsentieren, und Systeme relational aufeinander bezogener Gattungssysteme als Teil-Systeme bis hin zum „allgemeinen System der ganzen Welt“269 als der Totalität aller Teilsysteme. Die Relation der jeweiligen Teile zum System hat ihren realen Grund in ihrer spezifischen Verfassung, die sie zu einem Teil eines Systems konstituieren. Demgemäß stehen bspw. Organe qua Konstitution bzw. Funktionsweise mit dem Organismus als Ganzem in einem Bezugszusammenhang, und die Bonität eines Organs bemisst sich mithin ausschließlich an seiner Funktion für das Organismus-System. In Hinsicht auf Lebewesen („sensible Creatures [mit Sinnen 262 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 108 [SE II,3, S. 108] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 93. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt work upon u. a. mit etwas bewegen, erregen (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 780). 263 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 230 [SE II,3, S. 132] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 175. – Das Wörterbuch von Ludovoci übersetzt intend mit ‚wollen, willens sein, gesinnt sein, des Vorhabens sein, im Sinn haben‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 380). 264 Des weiteren übersetzt Spalding in einem unspezifischen Sinne noch die englischen Termini regulate mit ‚Bestimmung‘ (vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 218 [SE II,3, S. 127] /Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 166) und ascertain mit ‚bestimmen‘ (vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 270 [SE II,3, S. 148] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 201). 265 Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 55. 266 Ebd., S. 49. – Shaftesburys Original verfügt über keine Überschriften. Diese stammen von Spalding, der sie auch in einem Inhaltsverzeichnis zur Orientierung des Lesers seiner Übersetzung hinzufügt. 267 Ebd., S. 49. 268 Ebd., S. 57. 269 Ebd., S. 55.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
ausgestattete[n] Kreatur]“ bzw. „Kreatur …, die Empfindungen hat“270) – also auch den Menschen – stellen die Gattungssysteme den nächsten Bezugsrahmen dar, innerhalb dessen sich die Bonität eines einzelnen Gattungswesens in ihrer Relation zum System begründet. Shaftesbury spezifiziert die allgemeine system‑ und gattungstheoretische Konzeption des Guten nun noch einmal hinsichtlich dieser Klasse von Entitäten. Bei ihr ist die Relation einzelner Lebewesen zur jeweiligen Gattung oder zu anderen Gattungen nicht nur durch die somatische Konstitution, sondern auch und eigentlich durch die Leidenschaften und Neigungen („Passions or Affections [Leidenschaft oder ein[es] Gefühl[s]]“ bzw. „Leidenschaft oder Neigung“271) als der ihr spezifischen Konstitution begründet. Demgemäß bemisst sich auch die Bonität einer empfindenden Kreatur an der Relation der Neigungen und Leidenschaften zum Gattungssystem. „When in general, all the Affections or Passions are suted to the publick Good, or Good of the Species, as above-mention’d; then ist he natural Temper intirely good [Wenn … im allgemeinen alle Gemütsbewegungen oder Leidenschaften auf das öffentliche Wohl oder das Wohl der Gattung hingeordnet sind, dann ist die natürliche Gemütsart ganz und gar gut].“ Spaldings Übersetzung: „Wenn überhaupt alle Neigungen oder Leidenschaften auf die vorhin gedachte Art dem gemeinen Beßten, oder dem Beßten der ganzen Gattung gemäß sind, alsdenn ist die natürliche Sinnesart völlig gut.“272 Dieser Grundstruktur entspricht auch Shaftesburys Begriff der Natur resp. des Natürlichen: Natürlich ist ein Teil in seiner system‑ bzw. gattungsfördernden Funktionsweise. Damit ist aber noch keineswegs die spezifisch humane Bonität, nämlich die Tugend, erreicht. Von dieser kann hier noch abgesehen werden, da die folgenden fünf Vorkommen des Bestimmungsbegriffes allesamt allgemeine Grundstrukturen darstellen, die nicht nur – aber eben auch – auf den Menschen zutreffen. Wir wollen den Ausgangspunkt der Begriffsanalyse von einem Zitat nehmen, in welchem sich Shaftesbury am Eingang des 2. Buches der „Inquiry“ noch einmal auf seine im 1. Buch entfaltete und systemtheoretisch eingebettete Theorie der natürlich-sozialen bzw. gattungsbezogenen Neigungen zurückbezieht und damit der Sache nach in den skizzierten Zusammenhang gehört. „Nor will any one deny that this Affection of a Creature towards the good of the Species or common Nature, is as proper and natural to him as it is to many Organ, Part or Member of an Animal-Body, or mere Vegetable, to work in its known Course, and regular way of Growth [Und niemand wird bestreiten, daß diese Art von Zuwendung gegenüber dem Wohle der Art oder der gemeinsamen Natur einem 270 Shaftesbury, SE II,2, S. 54 [SE II,3, S. 55] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 57. 271 Shaftesbury, SE II,2, S. 54 [SE II,3, S. 56] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 57. 272 Shaftesbury, SE II,2, S. 64 [SE II,3, S. 59] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 62.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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Geschöpf genauso angemessen und natürlich ist, wie es für ein Organ, einen Teil oder ein Glied eines Tierkörpers oder eines pflanzlichen Wesens angemessen und natürlich ist, in seiner bekannten Weise und einem regelmäßigen Wachstumsprozeß zu funktionieren].“ Spaldings Übersetzung: „Es wird auch niemand leugnen können, dass diese Neigung (scil. soziale Neigung; G. R.) einer Kreatur zu dem Beßten der Gattung oder der gemeinschaftlichen Natur derselben eben so eigenthümlich, gehörig, und natürlich sey, als es einem sinnlichen Werkzeuge, Theil oder Gliedmaß eines animalischen Körpers oder blossen Pflanze natürlich und eigen ist, ihrer fürgeschriebenen Bestimmung und Einrichtung gemäß zu wirken.“273 In argumentationslogischer Hinsicht ist es Shaftesbury an dieser Stelle um die Natürlichkeit der sozialen Neigungen zu tun. Methodisch bedient er sich zur Illustration dieser Natürlichkeit der Analogie von altruistischen Affekten und der Funktionsweise animalischer und vegetativer Organe bzw. Organismen als exemplarischem Fall von natürlicher Funktionalität innerhalb eines Systems von Teil-Ganze-Strukturen: So natürlich wie die Wirkungsweise pflanzlicher und tierischer Organismen funktioniert, so natürlich stellt sich auch die soziale Neigung bei Lebewesen resp. beim Menschen ein. Im letztern Analogieglied des Zitates bedient sich Shaftesbury nun des englischen Begriffes des known Course. Die Standard Edition übersetzt wörtlicher als Spalding die ganze Sequenz, innerhalb derer dieser Begriff zu stehen kommt, ‚to work in its known Course, and regular way of Growth‘, stärker am englischen Original orientiert mit der Sequenz ‚in seiner bekannten Weise und einem regelmäßigen Wachstumsprozess zu funktionieren‘274. Hingegen übersetzt Spalding verkürzend die Phrase mit ‚ihrer fürgeschriebenen Bestimmung und Einrichtung gemäß zu wirken‘. Dabei entspricht die ‚fürgeschriebene Bestimmung‘ dem known Course und die ‚Einrichtung‘ dem regular way of Growth. Es bedarf keiner philologischen und anglizistischen Spitzfindigkeiten, um festzustellen, dass hier eine im englischen Original wohl explikativ aufgebaute Sequenz durch die Konstellation der beiden differenten Begriffe ‚Bestimmung‘ und ‚Einrichtung‘ transformiert wird. Spalding verwendet hier – so viel kann prinzipiell aufgrund der konstatierten Spannung zwischen englischem Original und seiner sperrigen Übersetzung gesagt werden – bewusst den Bestimmungsbegriff und den Begriff der Einrichtung. Es fragt sich also, welche Bedeutungselemente für den Bestimmungsbegriff rekonstruiert werden können und in welchem begrifflichen Verhältnis dieser zum Begriff der Einrichtung steht. 273 Shaftesbury, SE II,2, S. 144/146 [SE II,3, S. 96] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 118. 274 Die Voss/Hölty-Übersetzung scheint hier sowohl dem englischen Original als auch der Übersetzung Spaldings Rechnung tragen zu wollen, indem sie den Bestimmungsbegriff gleichsam in die Übersetzung einschiebt: „seiner Lebensart und Bestimmung oder seinem gehörigen Wachsthum gemäß zu wirken“ (Shaftesbury / Voss / Hölty, Shaftesburys philosophische Werke, Bd. 2, S. 96.).
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Zum ersten erfährt der Bestimmungsbegriff durch die Übertragung des known mit ‚fürgeschrieben‘ eine normative Konnotation. Die Bestimmung wird hier nicht im Sinne einer Ist-Bestimmung verstanden, über die eine Entität qua Existenz verfügt, sondern als eine Soll-Bestimmung und damit als eine kontrafaktische Anmutung an das zu Bestimmende, in unserem Falle die vegetabilischen oder animalischen Teile und in Bezug auf die mit dem Vergleich zu erhellende Sache die soziale Neigung bzw. deren Subjekt. Darüber kann auch die Analogisierung der sozialen Neigung mit natürlichen pflanzlichen und tierischen Funktionsweisen keinen Zweifel lassen, da der Begriff des Natürlichen hier einmal im Blick auf die soziale Neigung ebenfalls im Sinne eines normativen Naturbegriffes nur sinnvoll verstanden werden kann, während der Begriff des Natürlichen hinsichtlich der vegetabilischen und animalischen Funktionsweisen im Sinne einer Notwendigkeitskategorie verstanden werden muss. Im differenten Begriff des Natürlichen hat gleichsam die Analogie ihre Grenze. Dieser normativen Struktur der Soll-Bestimmung entspricht auch die hier implizierte Differenz von Gemäßheit und Nicht-Gemäßheit des zu Bestimmenden Relates. Die Norm der Bestimmung besteht formal in der Bestimmungsgemäßheit des zu Bestimmenden; der Sache nach handelt es sich um die normative Bestimmung eines Lebewesens (inkl. des Menschen), der natürlichen sozialen Neigung gemäß zum Besten der Gattung zu wirken. Zum zweiten drängt sich eine Vermutung hinsichtlich des englischen Terminus Course auf. Dieser Begriff stellt eine Prozesskategorie dar. Indem Spalding sie mit dem Terminus der Bestimmung übersetzt, könnte auch dieses deutsche Äquivalent eine solche Konnotation für den Übersetzer gehabt haben. Der Sache nach ist dies auch nicht abwegig, denn die Bestimmungsgemäßheit stellt sich nicht unvermittelt ein, sondern zwischen Soll-Bestimmung und ihre Entsprechung tritt als Realisierungsmedium ein Prozess. Ob dieser als Reflexionsprozess, realer Prozess oder in dieser Doppelstruktur bestimmt ist, bleibt hier jedoch offen. Damit ist noch nichts über die begriffliche Differenz von Einrichtung und Bestimmung und ihre Relation gesagt, die ja Spalding hier durch seine eigenwillige Übersetzung einträgt, insofern der Bestimmungsbegriff als Korrelat des Begriffs der Einrichtung fungiert. Über deren Zuordnungsverhältnis geben die folgenden beiden Zitate Auskunft, die nun direkt innerhalb des eingangs skizzierten Kontextes zu stehen kommen. „For instance, if an Animal has the Proportions of a Male, it shews he has relation to a Female. And the respective Proportions both of the Male and Female will be allow’d, doubtless, to have a joint-relation to another Existence and Order of things beyond themselves. So that the Creatures are both of’em to be consider’d but Parts of another System: which is that of a particular Race or Species of living Creatures, who have some one common Nature, or are provided for, by some one Order or Constitution of things subsisting together, and co-operating towards their Conservation and Support [Zum Beispiel, wenn
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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ein Lebewesen männliche Proportionen besitzt, so zeigt das eine Beziehung zu einem weiblichen Partner an. Und die jeweiligen männlichen und weiblichen Proportionen lassen zweifellos auf eine gemeinsame Beziehung zu einer anderen Existenz und Ordnung jenseits ihrer selbst schließen. So daß beide Lebewesen zusammen als Zeile eines anderen Systems betrachtet werden, nämlich des Systems einer bestimmten Art oder Gattung lebender Wesen, die eine bestimmte gemeinsame Natur haben, oder die bestimmt sind von der Ordnung oder Verfassung der Dinge, die miteinander da sind und zu ihrer Erhaltung und Förderung zusammenwirken].“ Spalding übersetzt: „Wenn, zum Beyspiel, ein Thier die Einrichtung eines Männleins hat, so erhellet daraus, daß es sich auf ein Weibchen beziehe. Und bey den sich auf einander beziehenden Einrichtungen des Männleins und Weibchens muß man ohne Zweifel erkennen, daß sie eine weitere gemeinschaftliche Beziehung auf eine andere Existenz und Klasse von Wesen ausser sich selber haben. So daß diese beiden Kreaturen als Theile eines andern Systems anzusehen sind, nämlich desjenigen, welches aus einer besondern Gattung und Geschlecht solcher lebendigen Geschöpfe bestehet, die eine gewisse gemeinschaftliche Natur haben, oder bey welchen sich einerley Verfassung und Einrichtung befindet, und wodurch sie gewisser maßen bestimmet werden, zusammen zu leben, und ihre Erhaltung und Versorgung gemeinschaftlich zu befördern.“275 Die Sachfrage, die Shaftesbury mit diesem Exempel veranschaulichen will, besteht darin: Wodurch begründet sich überhaupt ein Systembezug einzelner Entitäten resp. Lebewesen? Strukturell und unter Abstraktion von dieser Beispielebene konstituiert sich die Verwiesenheit auf andere Wesen durch eine komplementäre bzw. identische ‚Verfassung und Einrichtung‘. Die Zugehörigkeit zu einer Gattung begründet sich durch die ‚gemeinschaftliche Natur‘. Der Naturbegriff entfaltet sich nun in der Unterscheidung von ‚Verfassung und Einrichtung‘ auf der einen und Bestimmung auf der anderen Seite. Die bereits in der Known-Course-Passage exponierte aber unaufgeklärte Konstellation von Bestimmungs‑ und Einrichtungsbegriff kann über diese Stelle genauer rekonstruiert werden. Spalding beantwortet die offen gebliebene Frage, indem er die unbestimmtere durch das englische by konstruierte präpositionale Zuordnung beider Relate mit einem Art Kausalsatzgefüge übersetzt: Die gattungsspezifische Bestimmung gründet auf der gleicherweise gattungsspezifischen Verfassung und Einrichtung. Dass sich Spalding hier dieser Interpretationsdimension seiner Übersetzung durchaus bewusst ist, indiziert er semantisch durch das eingeschobene Interpretamen ‚gewissermaßen‘, welches im englischen Text keinen Anhaltspunkt hat. Die finale Grundstruktur dieser auf einer gemeinschaftlichen bzw. gattungsspezifischen Einrichtung gründenden Soll-Bestimmung besteht in der Bestimmung zur Sozialität um der Selbst‑ und Gattungserhaltung willen. 275 Shaftesbury, SE II, 2, S. 48/Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 53.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Der englische Terminus provide verfügt über eine semantische Tiefendimension, die womöglich auch für Spaldings Begriff des Bestimmens als dessen deutsches Äquivalent in Anschlag gebracht werden kann. Das Wort provide ist ein englisches Lehnwort vom lateinischen Verb providere bzw. nomen actionis providentia und birgt eine vorsehungstheologische Bedeutungskonnotation. In der lateinischen Dogmatiktradition wird traditionell im Rahmen der Lehre von der Vorsehung das deutsche Wort Vorsehung mit providentia wiedergegeben. Da Spalding die lateinischen „Schulwörter[n] des König“276 durchaus studiert hat, war ihm die lateinische Fachterminologie ohne Frage geläufig. Dieses Lehrstück differenzierte sich in der Regel aus in die Unterabteilungen providentia ordinaria und die providentia extraordinaria. Während letztere die supranaturale Wirkweise Gottes thematisch machte, worunter v. a. die Wunder gefasst wurden, und damit den Naturzusammenhang außer Kraft setzte, hat die providentia ordinaria ihr Wesen darin, sich in den Naturzusammenhang einzufügen.277 Bezieht man diese Unterscheidung auf die hier in Frage stehende Verwendung von provide bzw. ‚bestimmen‘, so ist mit der natürlichen Bestimmung zur Sozialität und zur ‚Erhaltung und Versorgung‘ die Lehre von der providentia ordinaria berührt. Insofern kann man durchaus zum einen sagen, dass der Bestimmungsbegriff in dieser Bedeutungsperspektive gleichsam eine gebrochene Beerbungskategorie der klassischen Vorsehungslehre repräsentiert; und dass zum anderen damit der Bestimmungsbegriff und die Frage nach der Bestimmung des Menschen in dieser Hinsicht auch die Vorsehungslehre im Sinne der natürlichen Providenz zum organisierenden Zentrum der Moral‑ und Religionsphilosophie aufzuwerten in der Lage ist. Damit würde sich die Konjunktur der Frage nach der Bestimmung des Menschen einzeichnen lassen in die allgemeine Erfolgsgeschichte der Vorsehungslehre im 18. Jahrhundert.278 Unmittelbar im Anschluss an die Provide-Passage exemplifiziert Shaftesbury die Konstitutionsbedingtheit der Bestimmung eines Lebewesens, indem er nun die Teil-Ganze-Relation auf das natürliche System tierischer Gattungen abbildet und das, was man heute in der Biologie als Nahrungskette bezeichnet, bestimmungslogisch formuliert: „The heedless Flight, weak Frame and tender Body of this latter Insect, fits and determines him as much a Prey, as the rough Make, Watchfulness and Cunning of the former, fits him for Capture, and the ensnaring part [Der achtlose Flug, die schwache Konstitution und der zarte Körper dieses Insekts machen geeignet und determinieren es genauso zum Beutetier, wie der robuste Bau, die Wachsamkeit und Arglist der anderen sie zum Fangen und Umgarnen geeignet macht].“ Spalding übersetzt: „Der unvorsichtige 276 Spalding, Lebensbeschreibung, S. 117 [S. 4]. – Gemeint ist das im 18. Jahrhundert im lutherischen Lehrbetrieb weit verbreitete Dogmatiklehrbuch des Rostocker Dogmatikers Johann Friedrich König (vgl. König, Theologia (1664)]. 277 Vgl. Luthardt, Kompendium, S. 185 ff. 278 Vgl. Scheliha, Glaube an die göttliche Vorsehung, S. 214–222.
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Flug, die schwache Struktur und der zarte Körper dieses letztern Insekts [scil. Spinne; G. R.] macht und bestimmet es eben so eigentlich zu einem Raube, als das erstere wegen seiner grausamern Natur, wegen seiner Wachsamkeit und Verschlagenheit aufgelegt ist, zu rauben und zu bestricken.“279 Spalding übersetzt das englische determine mit dem deutschen ‚bestimmen zu‘ und macht damit die teleologische Struktur konstitutionsabhängiger Bestimmtheit von Lebewesen als Struktur einer Bestimmung-zu-etwas semantisch deutlich. In diesem Abschnitt der Tugenduntersuchung findet sich aber neben der begrifflichen Struktur des Bestimmungsbegriffes als Bestimmung-zu-etwas der Terminus der Bestimmung noch zwei Mal als Übersetzungsäquivalent des englischen Verbes determine, hier aber in der Bedeutung einer begrifflichen Bestimmung-als-etwas.280 Diese Bedeutung von determinare bzw. ‚determinieren‘ dürfte Spalding als Wolffianer von dessen Logik her bekannt gewesen sein, in der der Begriff der Determination eine Grundkategorie der Begriffslogik darstellt.281 Damit kann im Blick auf alle drei bisher analysierten Vorkommen und unter Absehung der begrifflogischen Bedeutung des Bestimmungsbegriffes resümiert werden, dass der hier rekonstruierte konstitutionstheoretische Bestimmungsbegriff eine naturtheoretische und teleologische Grundstruktur bezeichnet. Jedoch hat diese auch anthropologische und ethische Valenz, insofern der Begriff der Bestimmung zur Gattungssozialität auch die theoretische Basis für Shaftesburys Theorie der sozialen Neigungen und der Tugend darstellt. Den Kontext zweier weiterer Vorkommen des Bestimmungs-Terminus stellt innerhalb der Tugenduntersuchung die Verhältnisbestimmung von Tugend und Religion im 3. Teil des 1. Buches („Einfluß der Religion in die Tugend“282) dar. Nachdem Shaftesbury das Wesen der Tugend bestimmt hat (1. Buch, 2. Teil), analysiert er im Anschluss daran (3. Teil) in drei Schritten die positive und negative Funktion verschiedener theistischer und atheistischer Weltkonzeptionen für die Moralität. Hier bringt er die im 1. Teil exponierte Typenlehre von Gottesbegriffen zur Anwendung (vgl. dazu ausführlich IV.4.1). Nr. 4 Im 2. Abschnitt dieses Kapitels rekonstruiert Shaftesbury die depravierende und stützende Funktion verschiedener Welt‑ und Gottesbegriffe für den Begriff von Gut und Böse, Recht und Unrecht. Prinzipiell lassen sich zwei Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung von Gottesbegriff und einem Begriff von Gut 279 Shaftesbury, SE II, 2, S. 50 [SE II,3, S. 53] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 53 f. 280 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 44; 46 [SE II,3, S. 51; 52] /Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 50; 51. – Auch in der Übersetzung der „Moralists“ verwendet Spalding für das englische Verbalsubstantiv determination das deutsche Substantiv ‚Bestimmung‘ im Sinne einer Begriffsbestimmung (Shaftesbury, SE II,1, S. 338 [SE II,3, S. 315] /Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 247). 281 Vgl. Wolff, Deutsche Logik, § 1–57, S. 123–151; 258–264 [Anmerkungen zum 1. Kapitel]. 282 Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 76.
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und Böse im Bewusstsein des ethischen Subjektes unterscheiden, die jedoch beide unter der religiösen Grundannahme stehen, dass Gottes Tun und Lassen als schlechterdings gut zu werten sind und Ehrfurcht und Nachahmung fordern: Zum einen kann ein rationaler Begriff von Gut und Böse als Kriterium für das ethische Wesen Gottes gelten; zum anderen kann im umgekehrten Sinne das religiös-ethische Subjekt davon ausgehen, dass („the mere Will, Decree, or Law of God be said absolutely to constitute Right and Wrong [der bloße Wille, die bloße Anordnung oder das bloße Gesetz Gottes allein und absolut als das gilt, was Recht und Unrecht begründet]) „daß der bloße Wille, Rathschluß oder Gesetz Gottes schlechterdings erst das Recht und Unrecht mache“283. Dieser voluntative Gottesbegriff eskamotiert nach Shaftesbury die ethische Wertdifferenz von gut und böse, so dass nach und nach auch das natürlich-ethische Bewusstsein durch derartige religiöse Indoktrination in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Diesen letzteren Typus religiös-ethischer Urteilsbildung exemplifiziert Shaftesbury nun anhand zweier zentraler dogmatischer Lehrstücke, ohne diese direkt zu identifizieren: „Thus if one Person were decreed to suffer for another’s flault, the Sentence wou’d be just and equitable. And thus, in the same manner, if arbitrarily, and without reason, some Beings were destin’d to endure pertual Ill, and others as constantly to enjoy Good; this also wou’d pass under unter the same Denomination [Wenn somit eine Person dazu bestimmt wäre, für das Vergehen einer anderen zu leiden, so wäre der Urteilsspruch gerecht und billig, und ebenso wäre es, wenn einige Wesen willkürlich und grundlos immerdar Böses erdulden müßten und andere sich ebenso beständig des Guten erfreuen dürften].“ Spalding übersetzt: „Wenn eine Person verurtheilet würde, für das Verbrechen einer andern zu leiden; so würde das ein gerechtes und billiges Urtheil seyn. Gleicherweise, wenn einige Wesen bloß willkürlich und ohne Grund zu einem unaufhörlichen Elende, und andere hergegen zu einer beständigen Glückseligkeit bestimmt wären; so würde es nicht weniger gerecht und billig heissen müssen.“284 Sowohl die stellvertretende Strafe als auch die unbegründete Vorherbestimmung und v. a. diejenige zum ‚unaufhörlichen Elende‘ desavouieren als göttliche Willensbekundungen die begriffliche Differenz von Gut und Böse. Es ist unschwer auszumachen, dass Shaftesbury hier auf die Satisfaktionslehre und die Lehre von der doppelten Prädestination anspielt. Auf die implizite moralphilosophisch motivierte Dogmenkritik kann hier jedoch nur in Hinblick auf unseren Zusammenhang eingegangen werden. Deutlich ist, dass Spalding das englische Verb destine (Lehnwort vom lateinischen Verb destinare) mit dem deutschen Verb ‚bestimmen‘ übersetzt. Damit rückt der Bestimmungsbegriff grundsätzlich in eine prädestinationstheologische 283 Shaftesbury, SE II,2, S. 100 [SE II,3, S. 76] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 87. 284 Shaftesbury, SE II,2, S. 100/Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 87.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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Bedeutungsebene ein. Es lassen sich jedoch darüber hinaus Rückschlüsse von der impliziten Kritik der doppelten Prädestination her für den Bestimmungsbegriff ziehen. Denn insofern Shaftesbury im weiteren Kontext allein einen ethischplatonischen Gottesbegriff der „highest perfection Goodness [vollkommenster Güte] „der vollkommensten Güte“285 als moralitätsfördernde religiöse Hintergrundannahme und die Glückseligkeit als letztes Telos des Menschen bestimmt, wird der Prädestinationsgedanken ausschließlich in seiner Form als Prädestination zur Glückseligkeit in Geltung gelassen. Damit erfährt der Prädestinationsbegriff bei Shaftesbury eine Transformation von einer soteriologischen Differenzkategorie zu einer anthropologischen Allgemeinbestimmung des Menschen. Mit der allgemein-humanen Prä-Destination bzw. Bestimmung aller Menschen zur Glückseligkeit rückt der Bestimmungsbegriff auch in eine glückstheoretische Perspektive ein. Diese Intention Spaldings, den positiv gefassten Bestimmungsbegriff explizit mit dem Glücksbegriff zu konnotieren, wird sprachlich dadurch deutlich, dass er die englische Sequenz constantly to enjoy Good terminologisch auf den Begriff der ‚beständige[n] Glückseligkeit‘ bringt. Mit der glückstheoretischen Bedeutung ist aber erst der halbe prädestinationstheologische Anteil am Bestimmungsbegriff benannt, handelt es sich doch nicht nur um Glückseligkeit im Sinne einer diesseitigen Glückseligkeit, sondern um ‚beständige Glückseligkeit‘. Mit der Ewigkeitsdimension der Prädestinationsvorstellung kommt also der Unsterblichkeitsaspekt der ethisch-humanen Bestimmung in den Blick. Unter den Bedingungen eines ethischen Gottesbegriffes kann also von einer Prädestination nur noch im Sinne einer allgemeinen Bestimmung des Menschen zur ewigen Glückseligkeit gesprochen werden. Die Vorstellung der Bestimmung des Menschen zur ewigen Glückseligkeit transzendiert damit auch die endlichen Bedingungen ihrer Realisierbarkeit. Innerhalb desselben Makrokontextes verwendet Spalding noch ein zweites Mal den Bestimmungsterminus. Im 3. Abschnitt analysiert Shaftesbury nun nicht wie im vorherigen den Einfluss religiöser Vorstellungen auf den moralischen Begriff von Gut und Böse bzw. die moralische Empfindung selber, sondern vielmehr die Wirkung diverser Gottesvorstellungen auf Einstellungen und Neigungen, die ihrerseits die moralische Empfindung stützen oder konterkarieren. Shaftesbury unterscheidet hinsichtlich der Gehorsamsstruktur gegenüber einem höchsten Wesen zwei mögliche Gottesbegriffe: „It must be either in the way of his Power, as presupposing some Disadvantage or Benefit to acrue from him; or in the way of his Excellency and Worth, as thinking it the Perfection of Nature to imitate and resemble him [Dies muß entweder mit Blick auf seine Macht geschehen, indem man einen Nachteil oder einen Nutzen von ihm erwartet, oder aber weil man es wegen seiner Erhabenheit und Würde für die 285 Shaftesbury, SE II,2, S. 134 [SE II,3, S. 91] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 111.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Vollendung der eigenen Natur hält, es nachzuahmen und ihm zu gleichen].“ Spalding übersetzt: „Dieß muß geschehen [scil. Gehorsam gegen ein höchstes Wesen; G. R.] entweder wegen seiner Macht, in der Meinung, daß uns von ihm Vortheil oder Leid widerfahren könne; oder auch wegen seiner Vortrefflichkeit und Würdigkeit, da man glaubet, daß die Vollkommenheit unserer Natur darinne bestehe, ihm nachzuahmen und ihm ähnlich zu sein.“286 Der Bestimmungsterminus kommt nun innerhalb der Analyse des ersteren Gottesbegriffes zu stehen. Shaftesbury rekonstruiert die moralische Wirkung des Gehorsams gegenüber einem Gott, der ausschließlich in seiner Funktion als ‚mächtiger Oberherr‘ begriffen wird, und der sein Wesen darin hat, seinen unbedingten Willen allein durch ‚Belohnungen und Strafen zu erzwingen‘. Die moralische Konsequenz erblickt Shaftesbury in der Externalisierung der moralischen Einstellung auf die rein äußerliche Einhaltung der moralischen Norm („good Conduct [guten Verhaltens]“ bzw. „gutes Betragen“287), wobei noch in keiner Weise die Sphäre der Sittlichkeit, sondern allererst die juridische Ebene der Sittlichkeit erreicht ist. Shaftesbury exemplifiziert diese Struktur anhand des bloßen Gehorsams von Tieren, woran die uns interessierende Passage anschließt: „For however orderly and well those Animals, or Man himself upon like Terms, may be induc’d to act, whilst the Will is neither gain’d, nor the Inclination wrought upon, but Awe alone prevails and forces Obedience; the Obedience is servile, and all that’s done thro it, merely servile [Denn wie sehr man diese Tiere oder gar den Menschen selbst unter solchen Bedingungen auch dazu bringen mag, sich ordentlich und gut zu benehmen, während weder der Wille gewonnen ist noch die Neigungen umgelenkt sind, vielmehr allein die Furcht überwiegt und den Gehorsam erzwingt, so ist doch dieser Gehorsam sklavisch und alles, was durch ihn getan wird, nur sklavisch].“ Spalding übersetzt: „Denn die gedachten Thiere, oder der Mensch selbst, mögen sich in solchen Umständen so ordentlich bezeigen, als sie immer wollen; so lange der Wille selbst nicht gewonnen, so lange die innere Neigung nicht auf das Gute bestimmet, sondern die Furcht allein der herschende Antrieb des Gehorsams ist, so lange ist der Gehorsam selbst sklavisch, so lange ist auch alles, was ein solcher Gehorsam wirket, schlechterdings sklavisch.“288 Die wörtlichste Übersetzung würde wohl das wrought upon mit ‚hinarbeiten‘, ‚hinführen‘ oder ‚umbilden‘ wiedergeben, während Spalding diese Sequenz mit ‚auf das Gute bestimmet‘ übersetzt. Der Begriff des Bestimmens erhält hier die Bedeutung einer reflexiven Ausrichtungsstruktur, da sich die innere Neigung 286 Shaftesbury, SE II,2, S. 108 [SE II,3, S. 79] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 92. 287 Shaftesbury, SE II,2, S. 108 [SE II,3, S. 79] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 93. 288 Shaftesbury, SE II,2, S. 108 [SE II,3, S. 79] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 93. – Die Form wrought stellt eine literarische bzw. poetische Variante der regelmäßigen Vergangenheitsformen von work (worked) dar.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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auf das Gute oder auf das Böse – von dem jeweils anderen sich umlenkend – hin ausrichten kann. Insofern vorausgesetzt ist, dass die ‚innere Neigung‘ sich auf das Gute oder Böse hin ausrichten kann, so kann der Begriff des Bestimmens hier nur im Sinne einer freien Selbstbestimmung der Grundeinstellung (inclination) sinnvoll verstanden werden. Im Blick auf einen möglichen Begriff der Bestimmung des Menschen zur Tugend könnte man von dieser Stelle her sagen, dass diese sich immer nur im Modus einer freien reflexiven Bestimmung bzw. Selbst-Bestimmung des Grund-Affektes als teleologische Ausrichtung auf das moralisch Gute hin realisiert. Oder kurz gefasst: Die Bestimmung des Menschen zum spezifisch humanen Guten, nämlich zur Tugend, bedeutet Bestimmung zur Selbst-Bestimmung. Andernfalls wäre die Stufe der Moralität überhaupt noch nicht erklommen. Die letzten beiden zu interpretierenden Stellen kommen im Kontext des 2. Buches der Tugenduntersuchung („Von der Verbindung und den Bewegungsgründen zur Tugend“289) zu stehen. Hatte Shaftesbury im 1. Buch („Von der Natur der Tugend“290) nur in Hinsicht auf die Funktion der Religion von der Durchsetzungs‑ und Motivationsproblematik der Tugend gehandelt, so widmet er den ganzen 2. Teil seiner „Inquiry“ einer umfassenden Thematisierung dieser Frage. Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet die These, dass die Moralität der Glückseligkeit nicht nur nicht abträglich sei, sondern dass erstere vielmehr die Bedingung von letzterer darstelle. Den übergeordneten Zusammenhang bildet der 1. Abschnitt im 2. Teil, den Spalding mit der Überschrift „Verhältnis der natürlichen Neigungen zur Glückseligkeit“291 auf den Begriff bringt. Shaftesbury illustriert den notwendigen Zusammenhang zwischen Natürlichkeit bzw. natürlicher Neigung und Glückseligkeit sowie die depravierende Wirkung der unnatürlich übermäßigen sinnlichen Wollust mit einem Beispiel aus der Tierwelt: „When he comes, at any time, to have the Accommodations of Life at a cheaper and easier rate than was at first intended him by Nature, he is made to pay dear for ’em in another way; by losing his natural good Disposition, and the Orderliness of his Kind or Species [Sobald es zu irgendeiner Zeit wohlfeiler und leichter zu den Annehmlichkeiten des Lebens gelangt, als es ihm von der Natur zugedacht war, muß es auf andere Weise teuer dafür bezahlen, indem es seine von Natur aus gute Verfassung und die seiner Art oder Gattung eigene Lebensordnung verliert].“ Spalding übersetzt: „Wenn sie [scil. eine animalische Kreatur; G. R.] einmal ihre Verpflegung um einen leichtern und wohlfeilern Preis bekömmt, als es die Natur für sie bestimmt hatte, so ist ihre Einrichtung so beschaffen, daß sie solches auf eine andere Art theuer bezahlen muß, indem ihr gutes Naturell, und die ihrer Gattung sonst eigenthümlichen Regelmäßig289 Spalding/ Shaftesbury,
Untersuchung über die Tugend, S. 117. ist die Überschrift des ganzen 1. Buches (Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 39). 291 Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 141. 290 Dies
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
keit dabey verlohren gehet.“292 Spalding übersetzt das englische Verb intend mit ‚bestimmen‘, was von der lexikalischen Bedeutung von intend her durchaus möglich, aber eben auch nicht zwingend ist. Wir können also auch hier von einer bewussten Verwendung des Terminus des Bestimmens ausgehen. Abgesehen von der der Beispielebene geschuldeten Restriktion dieser Bestimmungen auf nichtvernünftige Lebewesen, können für den Bestimmungsbegriff folgende Momente namhaft gemacht werden. Seine Struktur besteht darin, dass die Natur als Bestimmungsinstanz eine Entität zu einer Verhaltensweise bestimmt und dass die Gemäßheit zu dieser bestimmten Verhaltensweise einen guten Zustand bzw. die Nichtgemäßheit einen negativen Zustand evoziert. Zum ersten wird hier die Kontrafaktizitäts‑ bzw. Soll-Struktur der Bestimmung als einer Bestimmung-zuetwas deutlicher als in den vorherigen Vorkommen des Terms ersichtlich. Die Möglichkeit der Nicht-Gemäßheit zur Bestimmung und ihre Normativität werden hier implizit in Rechnung gestellt. Die Natürlichkeit der Bestimmung besteht mithin nicht in einem Automatismus der Bestimmungsgemäßheit, sondern ausschließlich in ihrer Entsprechung zur Gattungsspezifik. Zum zweiten impliziert der Bestimmungsbegriff eine Intentionalitäts‑ und Iterationsstruktur. Mit der Bestimmung zu einer spezifischen Verhaltensweise ist noch keineswegs die eigentliche Absicht der Bestimmung eingeholt, sondern vielmehr weist sie über sich hinaus auf ein übergeordnetes und eigentliches Telos. Strukturell evoziert also eine Bestimmungsstufe das Erreichen einer nächst höheren Bestimmungsstufe als wesensgemäßem Zustand. Liest man das Zitat in seinem Kontext und im Blick auf Shaftesburys moralphilosophisches Beweisziel, so ist mit dem Begriff der der ‚Gattung eigentümlichen Regelmäßigkeit‘, den wir formal als positiven Zustand einer Entität bestimmt haben, nichts anderes als die Glückseligkeit des Menschen gemeint, die eben ausschließlich vermittelst einer dem Menschen natürlichen – und das heißt moralischen – Verhaltensweise realisiert werden kann. Das moralphilosophische Beweisziel des am animalischen Verhalten exemplifizierten Argumentes besteht also im Blick auf den Bestimmungsbegriff darin, dass die natürliche Bestimmung des Menschen eine iterative und jeweils intentionale Verweisungsstruktur aufweist, deren eines Glied in der Bestimmung zur natürlichen sozialen Neigung besteht (als moralphilosophischem Äquivalent zur richtigen Ernährungsweise des Tieres), und die ihr übergeordnetes Telos in der Bestimmung des Menschen zur Glückseligkeit hat (als moralphilosophischem Äquivalent der gattungseigentümlichen Regelmäßigkeit). Diese Interpretation wird auch durch die letzte zu interpretierende Stelle bestätigt, die nun unmittelbar auf die anthropologisch-ethische Ebene zu sprechen kommt und das Beweisziel des Abschnittes zusammenfasst: „The Inclination, when suppress’d, breeds Discontent; and on the contrary affords a healing 292 Shaftesbury, SE II,2, S. 230 [SE II,3, S. 132] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 175.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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and enlivening Joy, when acting at its liberty, and with full scope [Wenn diese Neigung unterdrückt wird, erzeugt sie Unzufriedenheit, im gegenteiligen Falle jedoch heilende und belebende Freude, wenn sie Freiheit und vollen Spielraum hat].“ Spaldings Übersetzung: „Wird diese Neigung [scil. gesellige Neigung; G. R.] unterdrücket, so gebieret sie Misvergnügen; Dahingegen verursachet sie eine lebhafte und reizende Freude, wenn sie mit voller Freyheit und ihrer Bestimmung gemäß handelt.“293 Die englische Phrase with full scope legt von der englischen Wortbedeutung keineswegs die Übersetzung mit ‚Bestimmung gemäß‘ nahe. Die Höltyübersetzung und die Standard Edition nehmen mithin mit ihren textnäheren Übersetzungsvarianten den Bestimmungs-Terminus auch nicht in Anspruch.294 Damit zeichnet sich auch hier eine bewusste Verwendung des Bestimmungsterminus ab, die Auskunft gibt über Spaldings Verständnis des Begriffes. Zweierlei wird für den Bestimmungsbegriff deutlich. Zum einen transformiert Spalding die im englischen Text intendierte quantitative Realisierungsdimension der Neigung, die mit scope bezeichnet ist, in eine Gemäßheits‑ bzw. Entsprechungsrelation zwischen Neigung und ihrer Bestimmung. Damit wird das bestätigt, was sich in der Wrought-upon-Stelle angedeutet hat, dass nämlich Spalding nicht nur von der Bestimmung von Wesenheiten resp. des Menschen, sondern auch von einer Soll-Bestimmung und Bestimmungsgemäßheit moralischer Einstellungen sprechen kann: Die natürliche soziale Neigung des Menschen ist bestimmt zu ihrer freien Realisierung zum Besten der Gattung. Während sodann innerhalb der Intend-Stelle aufgrund der exemplifikativen Argumentationsebene nur formal von einem defizitären bzw. wesensgemäßen Zustand zu sprechen war und nur über den Kontext eine glückstheoretische Dimension des Bestimmungsbegriffes namhaft gemacht werden konnte, wird die Bestimmungsgemäßheit der natürlich-sozialen Neigung explizit mit dem Begriff des Vergnügen und der Lust bzw. des Missvergnügens in ein Bedingungsgefüge gestellt: Die Bestimmungsgemäßheit der natürlichen sozialen Neigung stellt die Bedingung erstrebter ‚lebhafter und reizender Freude‘ dar. Letztere repräsentiert bei Shaftesbury die affektive Dimension der Glückseligkeit. Demgemäß verfügt also die Bestimmung des Menschen zum Glück über eine Lustdimension.295 Mit dem Bestimmungsbegriff ist das teleologische Moment einer begrifflichen Doppelstruktur benannt, dem – wie bereits angedeutet – ein konstitutionstheoretischer Begriff der menschlichen Natur korrespondiert. Im Kontext der Course‑ und der Provide-Passagen entsprechen dem Bestimmungsbegriff 293 Shaftesbury, SE II,2, S. 240 [SE II,3, S. 136] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 181. 294 Die Voss/Hölty-Übersetzung übersetzt diese Sequenz mit „wenn sie Raum und Freyheit hat zu wirken“ (Shaftesbury / Voss / Hölty, Shaftesburys philosophische Werke, S. 171). 295 Shaftesbury verwendet für die Bezeichnung der Lustdimension wechselweise und synonym die Wörter enjoyment, lust, pleasure, satisfaction, die Spalding ebenfalls wechselweise mit ‚Lust‘, ‚Freude‘, ‚Wollust‘ und ‚Vergnügen‘ übersetzt.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
die Begriffe der Verfassung und Einrichtung. („Creatures, who have some one common Nature, o rare provided for, by some one Order or Constitution of things subsisting together, and co-operating towards their Conservation and Support [Wesen, die eine bestimmte gemeinsame Natur haben, oder die bestimmt sind von der Ordnung oder Verfassung der Dinge, die miteinander da sind und zu ihrer Erhaltung und Förderung zusammenwirken],“) Geschöpfe, „die eine gewisse gemeinschaftliche Natur haben, oder bey welchen sich einerley Verfassung und Einrichtung befindet, und wodurch sie gewisser maßen bestimmt werden, zusammen zu leben, und ihre Erhaltung und Versorgung gemeinschaftlich zu befördern“296, seien nach Shaftesbury als Teile eines Systems zu verstehen. Der deutsche Terminus ‚Anlage‘ geht bei Spalding auf Shaftesburys englisches Äquivalent Form zurück, der in der „Inquiry“ zusammen mit dem Begriff Constitution zu stehen kommt und gewissermaßen Spaldings Set an einschlägigen Begriffen komplettiert.297 In diesen Zusammenhang sollen noch zwei bzw. drei andere Termini Spaldings einbezogen werden, die beide in der Bestimmungsschrift mehr oder weniger prominent vertreten sind und auch in der Vorrede zur Übersetzung der Tugenduntersuchung von ihm in einen Zusammenhang mit dem Bestimmungsbegriff gebracht werden:298 ‚Endzweck‘, ‚Angelegenheit‘ und ‚angehen‘. Die Begriffe der ‚Angelegenheit‘ und des ‚angehens‘ werden in der Analyse der Übersetzungsvorreden zu den Übersetzungen, im Shaftesburykapitel und innerhalb der Analyse der Bestimmungsschrift wieder aufgenommen (vgl. II.3.2.1; IV.1.1 f.; V.8); und der Angelegenheitsbegriff bekommt spätestens in der Nutzbarkeitsschrift (1772) quantitativ und der Sache nach größere Bedeutung299 und avanciert endlich in Spaldings Spätwerk „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ (1797)300 zum Titelbegriff und indiziert damit die anthropologische Tiefendimension dieser religionsphilosophischen Spätschrift Spaldings. Die Termini ‚Zweck / Endzweck‘ und ‚Angelegenheit‘ kommen ebenfalls v. a. innerhalb der systemtheoretisch-kosmologischen Basistheorie am Anfang der Tugenduntersuchung zu stehen. Mit ‚Angelegenheit‘ übersetzt Spalding 296 Shaftesbury, SE II,2, S. 48 [SE II,3, S. 53] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 53. 297 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 190 [SE II,3, S. 114] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 147. 298 Vgl. Spalding, Vorrede Tugenduntersuchung, S. 9 f. 299 Vgl. das Begriffsregister in Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes. 300 Dass Spalding noch in seiner Spätschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von Shaftesburys Terminologie geprägt ist, zeigt dessen Erläuterung des Titels in der Einleitung. „Was mit der Aufschrift dieses kleinen Werks gemeint sey, wird ohne Zweifel keiner Erklärung bedürfen. Jedermann versteht die Redensarten: sich eine Sache angelegen seyn lassen, sie zu Herzen nehmen, sich für ewas interessieren, und andere ähnliche.“ (Spalding, Religion, S. 9). Mit dem Angelegenheitsbegriff fasst Spalding erklärtermaßen diverse Formulierungen resp. Redensarten zusammen, was auch seine Übersetzungen widerspiegeln.
2. Analyse der Shaftesburyübersetzungen
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die englischen Termini interest301, concern302 und affair303, mit ‚Endzweck‘ den englischen Terminus end. „We know that every Creature has a private Good and Interest of his own; which Nature has compell’d him to seek, by all the Advantages afforded him, within the Compass of his Make. […] There being therefore in every Creature a certain Interest or Good; there must be also a certain End, to which every thing in his Constitution must naturally refer [Wir wissen, daß jegliche Kreatur ein auf sie selbst bezogenes Gutes und Interesse hat, das zu suchen die Natur sie mit allen ihr gegebenen Mitteln in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zwingt. […] Da also in jeder Kreatur ein gewisses Interesse oder Gutes immanent ist, muß es auch ein bestimmtes Endziel geben, auf das sich jedes Ding in seiner Verfassung von Natur aus bezieht].“ Spalding übersetzt: „ Wir wissen, dass ein iedes Geschöpf seine besondere Angelegenheit, sein eigenthümliches Gut für sich hat, nach welchem es wegen aller der Vortheile, die ihm insbesondere dadurch zuwachsen, aus Antrieb der Natur trachtet. […] Giebt es nun bey einem ieden Geschöpf eine gewisse Angelegenheit und ein Gut, so muß da auch ein gewisser Endzweck vorhanden seyn, auf welchen sich in seiner Einrichtung alles natürlicher Weise beziehen muß.“304 Damit wird deutlich, dass der Zweckbegriff und der Begriff der Angelegenheit semantisch eng mit dem Begriff der Bestimmung und dem konstitutionstheoretischen Begriff constitution bzw. ‚Einrichtung‘ zusammenstehen, indem auch sie bei Shaftesbury allgemeine ontologische bzw. biologische teleologische Totalitätskategorien und in Hinsicht der Angelegenheiten bzw. des Endzweckes des Menschen als einer Teilklasse aller möglichen Entitäten anthropologische Grundbegriffe darstellen. Semantisch eng verwandt mit dem Angelegenheitsbegriff ist Spaldings auf den ersten Blick terminologisch unspezifisch erscheinendes deutsches Äquivalent für den englischen Terminus relate, das er aber auch für concern verwenden kann: das deutsche Verb ‚angehen‘. Der Zusammenhang von ‚Angelegenheit‘ und ‚angehen‘ wird am anschaulichsten in folgendem Zitat, da hier beide Termini zusammen zu stehen kommen und das Verb ‚angehen‘ das englische concern übersetzt, was wir bereits unter dem deutschen Äquivalent ‚Angelegenheit‘ kennen gelernt haben. „Or can you think it of me in earnest, that being Man, and conscious of my Nature, I shou’d have yet so little of Humanity, as not to feel the Affection of a Man? Or feeling what it natural towards my Kind, that I shou’d hold 301 Vgl. bspw. Shaftesbury, SE II,2, S. 44 (2×) [SE II,3, S. 51] /Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 50 (2×) – Shaftesbury, SE II,1, S. 42 [SE II,3, S. 175] / Spalding/ Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 40. 302 In der Übersetzung der „Moralists“ übersetzt Spalding das englische concern in einschlägigem Sinne mit ‚Angelegenheit‘ (vgl. bspw. Shaftesbury, SE II,1, S. 90; 378; 380 [SE II,3, S. 199; 334; 335]/Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 73; 276; 278.). 303 Vgl. Shaftesbury, SE II, 2, S. 50 [SE II,3, S. 54]/Spalding/Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 54. 304 Shaftesbury, SE II,2, S. 44/Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 50.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
their Interest light, and be indifferently affected with what affects or seriously concerns them? [Oder denken Sie im Ernst von mir, daß ich, der ich ein Mensch und mir meiner Natur bewußt bin, dennoch so wenig Menschlichkeit haben sollte, nicht die Neigungen eines Menschen zu fühlen? Oder daß ich für mein Geschlecht die natürlichen Gefühle hege und doch seine Belange geringachten sollte und gleichgültig bleiben gegen das, was es berührt oder ernsthaft betrifft?]“ Spaldings Übersetzung: „Oder können Sie im Ernst von mir gedenken, dass ich, der ich ein Mensch, und mir meiner Natur bewusst bin, so wenig Menschlichkeit habe, dass ich die Neigungen eines Menschen nicht empfinden sollte? Oder dass ich bey der Empfindung dessen, was gegen meine Gattung zu empfinden natürlich ist, ihre Angelegenheit geringe halten, und bey demjenigen gleichgültig seyn sollte, was sie wirklich betrifft und angehet?“305 Wie hängen hier Angelegenheit und angehen zusammen? Es handelt sich bei der ‚Angelegenheit‘ um das Interesse der Gattung, die wiederum insofern den Menschen ‚angehet‘, als er als Gattungswesen auf seine Gattung bezogen ist. Die Angelegenheit der Gattung wird insofern zur Angelegenheit des einzelnen Gattungswesens, weil eine Dependenz besteht zwischen der Bezugname des Einzelnen auf die Angelegenheit der Gattung und der eigenen subjektiven Glückseligkeit: „All other things relating to us are preserv’d with Care, and have some Art or Oeconomy belonging to ’em; this which is nearest related to us, and on which our Happiness depends, is alone commited to Chance: And Temper is the only thing ungovern’d, whilst it governs all the rest [Alle anderen Dinge, die sich auf uns beziehen, werden mit Sorgfalt bewahrt und haben irgendeine ihnen zugehörige Kunst oder Lebensordnung; nur dies allein, das sich am engsten auf uns bezieht und auf dem unser Glück beruht, wird dem Zufall überlassen, und die Gemütsart ist das einzige, was ohne Lenkung bleibt, während es doch alles übrige lenkt].“ Spaldings Übersetzung: „Alles, was uns sonst angehöret, suchen wir mit vieler Fürsorge zu erhalten, und haben für iedes eine gewisse Haushaltungskunst; nur das allein, was uns am nächsten angehet, und wovon unsere Glückseligkeit abhänget, wird dem Glücksfall überlassen; und die einzige Gemüthsbewegung wird nicht eingerichtet, die doch alles übrige einrichtet.“306 In diesem Zusammenhang rückt Shaftesbury die zentrale Frage nach demjenigen, was uns ‚am nächsten angeht‘, nämlich die rechtschaffene Gemüthsverfassung, in eine glückstheoretische Perspektive hinein. Spalding macht mit seiner spezifischen Rezeption der englischen Äquivalente seines Bestimmungsbegriffes und deren semantisch verwandter Begriffe – Endzweck, Angelegenheit und Angehen – deutlich, dass für 305 Shaftesbury,
SE II,1, S. 42/Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 40. SE II,1, S. 176 [SE II,3, S. 239 f.] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 134. – Auch in Shaftesbury, SE II,1, S. 360 [SE II,3, S. 325 f.] / Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 61, bezieht sich das ‚angehen‘ als Äquivalent zum englischen relate auf die Funktion der Erforschung der Schönheit hinsichtlich der Glückseligkeit als dasjenige Relat, welches den nach Glück strebenden Menschen ‚angeht‘. 306 Shaftesbury,
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
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ihn die glückstheoretische Zentralperspektive bei Shaftesbury sowie deren Konnex mit dem Bestimmungsbegriff von Relevanz ist. Auf diese These werden wir im Kontext der Analyse der Vorreden (vgl. II.3) sowie der Bestimmungsschrift (vgl. V.3 f.) zurückkommen. Denn von der terminologischen Verschränkung von Anlage, Bestimmung, Angelegenheit und Glückseligkeit in der Übersetzung der „Inquiry“ auf der einen und der bestimmungslogischen Grundkonzeption der Bestimmungsschrift auf der anderen Seite, kann dort für den Glücksbegriff eine zentralere Funktion erwartet werden, die dort jedoch prima facie von der Oberflächenstruktur der Bestimmungsstufen – Sinnlichkeit, Geist, Tugend, Religion und Unsterblichkeit – gleichsam überblendet ist.
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen Spalding stellt seinen beiden Shaftesburyübersetzungen eine 18 bzw. eine 35seitige Einleitung voran. Neben den Übersetzungen stellen diese Texte die primären Quellen für Spaldings Shaftesburydeutung dar. Nimmt man die relative Unsicherheit in der Bestimmung des Einflusses Shaftesburys auf Spalding in der im Forschungsbericht erörterten älteren und auch neueren Forschungsliteratur zur Kenntnis, dann verwundert es, dass eine umfassende Untersuchung dieser Texte bis dato noch nicht unternommen worden ist.307 Denn allererst vermittelst ihrer Analyse kann sich eine Rekonstruktion des Shaftesburyanismus Spaldings im Allgemeinen und der Bestimmungsschrift im Besonderen einer hermeneutischen Engführung wenigstens teilweise entheben. Diese bestand in der bisherigen einschlägigen Forschung darin, ausgehend von der Bestimmungsschrift die Abhängigkeit von Shaftesybury rein ideen‑ und begriffsgeschichtlich rekonstruiert zu haben, ohne die vermittelnde Funktion der Vorreden zu berücksichtigen. Dies wäre methodisch keineswegs problematisch und prinzipiell auch anders gar nicht möglich, wenn der in Frage stehende Autor nicht selbst Dokumente seiner eigenen Shaftesburyhermeneutik hinterlassen hätte. Da wir mit den genannten Textsorten über solche Quellen verfügen, ist es methodisch geboten, gleichsam Spaldings explizite Shaftesburyinterpretation zur Grundlage einer Analyse seiner impliziten Verarbeitung shaftesburyanischer Theoreme in der Bestimmungsschrift ins Kalkül zu ziehen. Jedoch steht auch die Analyse der Vorreden ihrerseits wiederum vor einem hermeneutischen Problem, welches mit dieser Textgattung mutatis mutandis prinzipiell einhergeht. Dieses besteht darin, dass Spaldings einleitende Bemerkungen ihrer Funktion nach zunächst Inhaltsübersicht bieten wollen und erst 307 Erste Hinweise lieferten Schollmeier (vgl. Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 145ff) und jüngst Dehrmanns Studie (vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 130ff; 216 ff.).
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
sekundär auch eine Deutungsebene enthalten. Dies betrifft vor allem die Vorrede zur „Tugenduntersuchung“, während sich Spalding in der Einleitung zu den „Sitten-Lehrern“ erklärtermaßen auf der Interpretations‑ und Bewertungsebene bewegt. Die Interpretation der Vorrede zur „Tugenduntersuchung“ steht gegenüber der Vorrede von 1744 vor der Schwierigkeit, dass Spalding ihr den Zweck gibt, „von des Grafen von Schaftesbury Grundsätzen in der Sittenlehre einigen Abriß zu machen“308. Jedoch steht diese methodische Restriktion des Übersetzers nicht grundsätzlich einer Rekonstruktion auch dieses Textes als einer Interpretation entgegen, da er mindestens über drei Ebenen verfügt, die Einblick in Spaldings Shaftesburyverständnis gewähren. Zum einen kann eine Wertungsebene eruiert werden, auf der Spalding bestimmte Begriffe, Theoreme und Thesen Shaftesburys in den Mittelpunkt seiner Zusammenfassung stellt und damit das für ihn Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheidet. Eine zweite Interpretationshinsicht besteht darin, die terminologische Analyse der Übersetzungen auf mögliche Motive Spaldings zurückzuführen. Schließlich verfügt die Vorrede über eine begriffliche Tiefenschicht hinsichtlich des wolffianischen sowie poetologisch-ästhetischen Bezugsrahmens, innerhalb dessen Spaldings Shaftesburyverständnis zu stehen kommt.
3.1 Spaldings Shaftesburydeutung in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ (1744) Seiner Übersetzung stellt Spalding eine Vorrede mit dem merkwürdigen Titel „An den Leser. Man hat gut gefunden, folgendes Schreiben an den Ubersetzer stat einer Vorrede hierher zu setzen“309 voran. Schon von der Überschrift her ergibt sich zum einen die Frage nach dem Status dieses Textes: Handelt es sich um ein Schreiben an den Leser oder an den Übersetzer? Zum anderen ergibt sich die Frage, ob ein ‚Schreiben an den Uebersetzer‘ überhaupt eine Verfasserschaft Spaldings zulässt. In der Forschung ist man darüber geteilter Meinung. Während noch Schollmeier und Schwaiger diese Frage nicht in Erwägung ziehen und selbstverständlich die Vorrede auch dem Übersetzer zuschreiben, geht Michael Albrecht in seiner Bibliographie ebenso unbegründet davon aus, dass dieser Text nicht von Spalding stammt.310 Auch die Kritische Spaldingausgabe nimmt diesen Text in den entsprechenden Band I,6,1 nicht auf, ohne dies zu begründen.311 Ausschließlich Heiner F. Klemme geht in seiner englischen Einleitung zum Wiederabdruck von Spaldings Übersetzungstextes auf die Frage ausdrücklich ein, ohne jedoch sein Votum zu begründen: „The Introduction, called ‚A letter to the 308 Spalding,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 173 [S. 3]. Sitten-Lehrer, S. A 2. 310 Vgl. Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 155, Anm. 24; vgl. Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 15, Anm. 40; vgl. Albrecht, Aufklärung bei Spalding, S. 14. 311 Vgl. Spalding, Kleine Schriften 1, S. VII ff. 309 Spalding/ Shaftesbury,
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
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Translator‘, was also most probably written by Spalding himself.“312 Leider lässt die Bemerkung in der Autobiographie313 Spaldings auch keinen strengen Schluss auf seine Autorschaft zu, wenngleich es wahrscheinlich ist, dass Spalding explizit darauf hingewiesen haben würde, wenn dieses ‚Schreiben‘ nicht von ihm selbst verfasst worden wäre.314 Ein Indiz dafür, dass es sich mit diesem Einleitungstext um eine Text-Inszenierung Spaldings selber handelt, stellt die Etikettierung des ‚Schreibens an den Uebersetzer‘ als eines „vertrauten Briefe[s]“315 dar. Diese Gattungsbezeichnung, welche dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer weit verbreiteten literarischen Mode avancierte316, und in der sich ja dann auch Spalding selber mit seinen „Vertrauten Briefen, die Religion betreffend“ (1. Auflage 1784) versucht hat, stilisiert veröffentlichte Texte als einen vertrauten brieflichen Austausch, der ausschließlich als freundschaftliche Mitteilung freier Überlegungen unterhalb der Grenze lehrhafter Verbindlichkeit erscheinen sollte. Vermittelst dieser Intimitätsanmutung sollte Vertrauen beim Leser in die Wahrheitstreue und Offenheit des Autors erzeugt werden. Einen solchen vertrauten Brief nun schreibt auch Spalding gleichsam an sich selbst, der er sich als einen fingierten kritischen aber wohlgesonnen Begutachter des Übersetzungsprojektes maskiert. Dafür lassen sich zwei Motive namhaft machen. Zum einen könnte die Überlegung für Spalding leitend gewesen sein, dem Leser ein unvoreingenommenes und neutrales Urteil über den Inhalt der übersetzten Schrift zur Verfügung zu stellen, die von einem Übersetzer wohl eher nicht zu erwarten wäre. Damit hängt auch der zweite Beweggrund zusammen. Shaftesbury gilt der gelehrten theologischen Zunft als Freidenker und als Deist. Sowohl die Übersetzung als auch die Stellungnahmen zu seinem Werk und den dogmenkritischen Implikationen seiner Moral‑ und Religionsphilosophie waren grundsätzlich dem kritischen Auge der kirchlichen und theologischen Rechtgläubigkeit ausgesetzt. Dass Spalding sich als Kandidat für ein lutherisches Pfarramt eine direkte Positionierung versagte, könnte demnach auch als Vorsicht zu werten sein: „Ich weiß wohl, in welchem Verdacht der Graf von Schaftesbury stehet, und Ihnen, Mein Herr, muß es gleichfalls nicht unbekannt seyn, daß dieß vielleicht das widrigste von den Urtheilen ist, die bey Ihrer Unternehmung auf Sie fallen können. Die Ungläubigen, absonderlich in Engelland, halten diesen berühmten Mann für einen Helden in ihrer Partey [scil. Deismus, Freidenker; G. R.], und er ist ihnen dort bey nahe 312 Spalding/ Shaftesbury,
Sitten-Lehrer, S. XVII [Vorwort des Hrsg.s]. die Shaftesburyschen Sittenlehrer sind bey Haude zu Berlin mit einem vorgesetzten Schreiben 1745 herausgekommen.“ (Spalding, Lebensbeschreibung, S. 127 [S. 22]). 314 Eine Rezension in den „Pommerschen Nachrichten von gelehrten Sachen“ (3, 1745, S. 726 f.) zu der Übersetzung von Spalding geht davon aus, dass das vorgesetzte Schreiben vom Übersetzer stammt (vgl. Rezension Sitten-Lehrer/ Pommersche Nachrichten, S. 727). 315 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 14. 316 Vgl. Spalding, Vertraute Briefe, S. XXVIII f. [Einleitung der Hrsg.]. 313 „Und
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
das, was den unsrigen Bayle ist.“317 In der Tat spielt die Verortung Shaftesburys im Deismus und in der Bewegung der Freidenker in der Vorrede eine nicht unerhebliche Rolle;318 dazu im Anschluss mehr. Die folgende Analyse orientiert sich an der Gliederung des Einleitungsschreibens. In einem ersten Abschnitt (S. 4 f.) richtet sich Spalding an den Leser mit der Absicht, ihm die Absichten und Motive seines Übersetzungsvorhabens darzulegen. Dies wurde bereits oben (vgl. II.2.1) verhandelt. Den Hauptteil (S. 5–16) nimmt Spaldings kritische Apologetik von Shaftesburys Religionsphilosophie ein, die er als Verteidigung gegenüber möglichen Einwänden darstellt (dazu Abschnitt a.). Im letzten Teil (S. 16–21) widmet sich Spalding mit der moralischen Empfindung der Zentralkategorie von Shaftesburys Moralphilosophie überhaupt und gewährt damit einen ersten Einblick in seinen Begriff derselben (dazu Abschnitt b.). a. Das prinzipielle Verdachtsmoment, welches Spalding von Shaftesbury abgewendet wissen will, verdankt sich der Tatsache, dass Shaftesbury in England zum „Helden der Partei der Ungläubigen“319 gerechnet wird, die Spalding vorwiegend mit dem Epitheton ‚Freygeister‘ bzw. ‚Freygeisterey‘ belegt. Spaldings Strategie ist es nun, nicht etwa die Freigeisterei als solche zu verteidigen, sondern vielmehr eine Differenzierung innerhalb dieser von Deutschland aus kritisch beäugten westeuropäischen Bewegung zu markieren.320 Diese stelle keine einheitliche Größe dar, sondern es lasse sich eine „zügellose Freygeisterey“ von einer „beste[n] Classe der Freygeister“321 unterscheiden. Das Differenzkriterium stellt die unterschiedliche Stellung beider zur natürlichen Religion dar. Die zügellose Freigeisterei – so Spaldings etwas abwegige These – vertrete die Theorie einer natürlichen Religion ausschließlich aus dem Grunde, um sie gleichsam als „Nothwehr[e]“322 gegen Kritik und Vorwürfe zu gebrauchen und nach dem Siege endlich ganz abzulegen. Dieser Täuschungsvorwurf stellt eine Stereotype in der deutschen Deismuskritik dar und wurde bereits von Mosheim gegen Shaftesbury geäußert323, ohne dass sich Spalding direkt auf ihn bezieht. Spalding vergleicht diese Tarnstrategie mit dem analogen Verfahren der sogenannten „schlechten Epicurer[n]“, die die reine und erhabene geistliche Wollust und hohe Lust des 317 Spalding,
Vorrede Sitten-Lehrer, S. 5. verzeichnet schon eine zeitgenössische Rezension: „Der vorangesetzte Brief erkläret auf eine lebhafte Art den Charakter des vornehmen Engl. Verfassers, giebet von dem Inhalt der philosophischen Gespräche einen Begrif, und zeiget, mit wie wenig Recht des Shaftesbury Gedanken mit den Meynungen des Pöbels unter den Freygeistern in eine Classe gesetzet werden können.“ (Rezension Sitten-Lehrer/ Pommersche Nachrichten, S. 727). 319 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 5. 320 Zur frühen Shaftesburykritik in Deutschland vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 28–130. 321 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 7 f. 322 Ebd., S. 6. 323 Vgl. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 116 f. 318 Dies
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Geistes ebenfalls nur vorschieben, um sie schlussendlich ihren „niederträchtigen Grundsätze[n] der Sinnlichkeit“324 aufzuopfern. „Alsdann gehöret weder das reine Vergnügen des Gemüths zu dem Charakter des erstern [scil. schlechten Epikureer; G. R.], noch die so hoch gepriesene natürliche Religion zu dem Charakter des anderen [scil. zügellose Freigeister; G. R.].“325 Inwieweit die klassischen Autoren der sogenannten Freigeister – Spalding hat hier wohl John Toland und Anthony Collins vor Augen, die er namentlich nennt – diesem Verdikt entsprechen und überhaupt als Vertreter der Lehre von einer natürlichen Religion verstanden werden können, muss in Frage gestellt werden. Dass Spalding dies tut, zeugt nicht gerade von einer direkten Kenntnis dieser Autoren als vielmehr von einer Wiederholung antideistischer Stereotypien. Shaftesbury jedenfalls wird von dieser Partei der zügellosen Freigeister von Spalding ausgenommen und der besten Klasse derselben zugerechnet, die ihren Vorzug eben ihrer ehrlichen Stellung zur natürlichen Religion verdanke. Um die Rechtgläubigkeit des Grafen in der natürlichen Religion zu erweisen, entkräftet Spalding mögliche Einwände gegenüber Shaftesburys Religionskonzept in den „Moralists“. Der erste betrifft dessen problematische und schwankende Position gegenüber dem Begriff einer jenseitigen Vergeltung, der zweite bezieht sich auf Shaftesburys angeblichen Pantheismus. Inwieweit diese Einwände auf Spalding selber zurückgehen oder einen realen Anhaltspunkt in den zeitgenössischen Debatten um Shaftesbury haben, darüber gibt uns Spalding keine Auskunft und kann hier auch unberücksichtigt bleiben. Zum ersten Einwand. Dieser hat seinen Anhaltspunkt an einer gewissen Widersprüchlichkeit hinsichtlich des Gedankens einer jenseitigen Vergeltung im Gesamtwerk Shaftesburys. Spalding stellt ausdrücklich – und der Sache nach auch zutreffend – fest, dass Shaftesbury in den „Moralists“ den „unleugbaren Nutzen der zukünftigen Belohnungen und Strafen in Ansehung der Tugend“326 zugestehe. Seine Kritik betrifft ausschließlich Shaftesburys andernorts – er zitiert hier eine längere Passage aus den „Miscellaneous Reflections“ – vorgetragene Polemik gegenüber dieser Vorstellung, in der er die Ideen von Teufel und Hölle, jenseitiger Belohnung und Strafe als Kindermärchen abwertet und damit das Kind mit dem Bade ausschütte.327 Spalding konstatiert also ein Schwanken in Shaftesburys Haltung in besagter Frage und führt diese auf eine grundsätzlich fragwürdige Ansicht auch dieser ‚besten Klasse der Freigeister‘ zurück. Der Vorwurf Spaldings gegen sie, also auch Shaftesbury, besteht in einer Kritik des vernunfttheoretischen Vorbehaltes gegenüber dem Offenbarungsbegriff. Das der freidenkerischen Offenbarungskritik zugrunde gelegte Theorem der Selbstgenügsamkeit der menschlichen Vernunft in der Ethik bestimmt Spalding als 324 Spalding, 325 Ebd.
326 Ebd., 327 Vgl.
Vorrede Sitten-Lehrer, S. 7.
S. 9. Shaftesbury, SE, I,2, S. 218 f.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
eine Form des Hochmutes, die als Konsequenz den Unglauben bzw. Vorbehalte ‚wider die Offenbarung‘ nach sich zögen328. Genau diesem Insistieren auf die Suffizienz der praktischen Vernunft verdanke sich das Schwanken hinsichtlich der Frage nach der Vergeltungslehre. Worin nun der Zusammenhang zwischen diesem Schwanken und dem Vorbehalt gegenüber dem Offenbarungsbegriff des genaueren besteht, bleibt dunkel. Verständlich wird dies nur, wenn man davon ausgeht, dass Spalding den Begriff einer jenseitigen Vergeltung zu den Offenbarungswahrheiten rechnet, aufgrund dessen Shaftesbury eben auch zur Nivellierung dieses kirchlichen Aberglaubens in den „Miscellaneous Reflections“ motiviert wurde, während er ihm in den „Moralists“ eine relative Gültigkeit zuerkannte, die er hier jedoch ohne Rückbezug auf Offenbarungswahrheiten rein aus der Rationalität der inneren moralischen Motivationsproblematik begründet. Einen anderen Grund für Shaftesburys prinzipiellen Vorbehalt gegenüber dem Vergeltungsgedanken erblickt Spalding in dessen Überbewertung des „hohen Geschmack[s] in der Sittlichkeit“329. Spalding nimmt in dieser Frage eine zwischen einem ästhetischem Tugendbegriff und dem Vergeltungsgedanken vermittelnde Position ein. Während der Engländer den ‚hohen Geschmack in der Sittlichkeit‘ in seiner ethischen Motivationskraft insofern übertrapaziere, als er den Gedanken einer jenseitigen Vergeltung als Motivationsstruktur mancherorts aufgeben kann, bewertet Spalding die Fähigkeit des ‚richtigen Geschmacks an der natürlichen Schönheit des Guten, Anständigen und Rechtschaffenen‘ nüchterner: „Der reinste Antrieb zur Tugend kann freylich in dem feinen und richtigen Geschmack an der natürlichen Schönheit des Guten, Anständigen und Rechtschaffenen bestehen, ohne daß man doch deßwegen das andere so nachdrücklich und thätige Hülfsmittel der Verachtung Preis geben darf. Ich bin gut dafür, die Welt würde den Verlust zu ihrem Schaden empfinden, wenn man ihr diese wichtigen Bewegungsgründe entzöge, und der Graf von Schaftesbury würde, nach dem Urtheil eines neuen scharfsinnigen Schriftstellers unter seinen Landesleuten, alle Menschen eben so leicht zu Lords machen, als ihnen allein seinen feinen und hohen Geschmack in der Sittlichkeit beybringen.“330 Deutlich wird hier zunächst, dass Spalding Shaftesburys ästhetischer Ethikkonzeption ohne prinzipiellen Vorbehalt gegenübersteht. Dies ist vor dem Hintergrund seiner Ausbildung in orthodox-lutherischer Sündenanthropologie durchaus nicht ohne weiteres selbstverständlich. Jedoch insistiert Spalding gegenüber Shaftesburys bisweilen ablehnender Haltung gegen den Vergeltungsglauben auf die prinzipielle Verwiesenheit der Theorie eines ästhetischen Tugendbegriffes und des Gedankens einer jenseitigen Vergeltung; denn die moralische Einstellung als Geschmack am sittlich Schönen bedürfe als ‚Hülfsmittel‘ und ‚Bewegungsgrund‘ 328 Vgl.
Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 8. S. 11. 330 Ebd., S. 10 f. 329 Ebd.,
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des Vergeltungsgedankens. Eine Vergeltungslogik in einer moralkonstitutiven Bedeutung lehnt Spalding mit Shaftesbury also ab, während ihr Spalding aber in der Funktion einer Motivationsstruktur durchaus eine relative Geltung zurechnet, worin er sich mit dem Shaftesbury der „Moralists“ in Übereinstimmung weiß. Dies verdankt sich in diesem Kontext auch einer nüchternen Einschätzung des moralischen Geschmacksvermögens seitens Spaldings. Er restringiert die Reichweite des Geschmacksbegriffes bildungs‑ bzw. erziehungstheoretisch: Der Geschmack in der Moralität stellt kein natürliches Vermögen dar, sondern verdankt sich eines Bildungs‑ und Erziehungsprozesses. Shaftesburys Theorie des ethischen Geschmacks wird also von Spalding als eine enthusiastische und hypertrophe Verallgemeinerung eines Genieethos relativiert: Da nicht ‚alle Menschen‘ einen solchen ‚feinen und hohen Geschmack in der Sittlichkeit‘ auszubilden in der Lage seien, bleibt die Moralität des ‚gemeinen Mannes‘ strukturell auf den Vergeltungsgedanken angewiesen. Bei Lichte besehen schließt sich also Spalding Shaftesburys relativen moralphilosophischen Vorbehalten gegenüber dem Vergeltungsgedanken in den „Moralists“ in der Sache an und kritisiert ausschließlich Shaftesburys unvermittelte Polemik in den „Miscelleanous Reflections“ als eine gewisse Widersprüchlichkeit gegenüber den „Moralists“, die sich den zwei dargelegten Motiven verdankte. Bereits hier in der Einleitung zu den „Sitten-Lehrern“ zeigt sich, dass sich Spaldings Verständnis von Shaftesburys kritischer Relativierung des Vergeltungsgedankens durchaus differenzierter darstellt als die bisherige Forschung vermuten läß331. Schollmeier sieht zwischen Shaftesbury und Spalding hinsichtlich der Frage nach der Vergeltung eine unvermittelbare Differenz: „Bei Shaftesbury trägt die Tugend ihren Lohn in sich selbst; die höchste moralische Stufe hat der erreicht, der tugendhaft ohne den Lohn-, Straf‑ und Unsterblichkeitsgedanken ist. Hiergegen hat Spalding von Anfang an Einspruch erhoben; er fordert beide Gedanken als Stütze der Tugend, weil die Glückseligkeit des Tugendhaften im irdischen Leben durch das unverschuldete Leid getrübt oder gar vernichtet wird.“332 Auch noch die jüngeren Publikationen von Clemens Schwaiger und Albrecht Beutel, die sich ebenfalls dieser Frage widmen, markieren deutliche Unterschiede. Schwaiger spricht vorsichtiger als Schollmeier von einer Akzentverschiebung innerhalb der Religionsphilosophie. Der Sache nach erblickt aber auch er zwischen Shaftesbury und Spalding einen Dissens. Denn Spalding vertrete in Opposition gegen Shaftesbury die Ansicht, dass dem künftigen Leben nicht jeder Nutzen abzusprechen sei.333 Auch ob die Vervollkommnungsdimension des Unsterblichkeitsbegriffs bei Spalding ganz leibnizianisch-wolffianisch ist, ist in dieser strikten Zuweisung zweifelhaft, da auch Shaftesbury den Gedanken 331 Aus
der älteren Literatur vgl. Nordmann, Johann Joachim Spalding, S. 37. Johann Joachim Spalding, S. 155. 333 Vgl. Schwaiger, Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 15. 332 Schollmeier,
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
kennt, dass die Tugendhaftigkeit allererst im Jenseits ihrer Vervollkommnung und Vollendung zugeführt werden könne.334 Beutel vermutet in dem Gedanken einer völligen dereinstigen Zusammenstimmung von Tugend und Glückseligkeit und auch jenseitigen Perfektibilisierung der Moralität Abweichungen Spaldings von Shaftesburys.335 So sehr Beutel zuzustimmen ist, dass diese beiden Ideen auf Kant vorausweisen, so sehr ist es unzutreffend, dass Spalding sich in ihnen von Shaftesbury unterscheidet. Schwaiger und Beutel ordnen aufgrund dieser problematischen Deutung von Shaftesburys und Spaldings Unsterblichkeitstheorien die einzelnen Bestimmungsstufen in der Bestimmungsschrift verschiedenen philosophischen Traditionen zu, was nach unserer Interpretation unbegründet erscheinen muss: Während die ersten Bestimmungsstufen (Sinnlichkeit, Vergnügen des Geistes und Tugend) von Shaftesburys System geprägt seien, stehen die Abschnitte Religion und Unsterblichkeit unter dem Einfluß der Linie Leibniz-Wolff.336 Dieses Verständnis gründet wohl zum einen auf einer geradezu stereotypen Missdeutung von Shaftesburys kritischen Invektive gegenüber der Vorstellung von jenseitigem Lohn und Strafe als einer völligen Absage an jegliche Unsterblichkeitsideen, und zum anderen auf der Ausblendung von Spaldings eigener differenzierten kritisch-vermittelnden Interpretation in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“. Die strikte Zuordnung der Religions‑ und Unsterblichkeitskonzepte in der Bestimmungsschrift scheint bereits von unserer Analyse der Vorrede her problematisch und muss durch eine genaue Rekonstruktion von Shaftesburys und Spaldings Unsterblichkeitsgedanken auf ihre Evidenz hin überprüft werden (vgl. IV.4.2; V.8). Zur Widerlegung des Pantheismusvorwurfes. Spalding bezieht sich auf einen nicht mehr zu verifizierenden „Argwohn […], den man gegen Sie [scil. Spalding; G. R.] wegen der Meinung Ihres Verfassers von dem Wesen Gottes geäussert hat“337. Nachdem Spalding seinen relativen Vorbehalt gegenüber Shaftesburys schwankender Einstellung zum Vergeltungsglauben dargestellt und damit – literarisch geschickt – die Kritikbereitschaft des imaginären vertrauten Briefschreibers dem lesenden Publikum signalisiert hat, lässt er nun denselben einen Vorwurf vollends entkräften, der sich auf Shaftesburys Gottesbegriff bezieht. Die zentrale Invektive, die man gegenüber Shaftesbury und seinem Übersetzer erhoben habe, bestehe im Vorwurf des Pantheismus. „Denn das ungereimte Lehrgebäude der Pantheisterey stösset diese gänzlich um [scil. natürliche Religion; G. R.], und ich wundere mich aufs äusserste, dass die Deisten, die noch für wirk334 Vgl. Shaftesbury, SE II, 2, S. 124 [SE II,3, S. 86 f.] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 104 f. 335 Vgl. Beutel, Johann Joachim Spalding, S. 231; Ders., Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXXIII f. 336 Vgl. Schwaiger, Spaldings Betsimmung des Menschen, S. 17; vgl. Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXXIII. 337 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 11.
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liche Deisten wollen gehalten seyn, auf Leute von dieser Secte groß thun. Toland wollte gleichsam eine eigene Kirchengemeinschaft daraus machen, und Collins, der nur vor wenigen Jahren verstorbene Heerführer der Freidenker in Engelland und getreue Schüler von jenem, war auch hierinne sein geschworener Glaubensgenosse.“338 Diesen Vorwurf des Pantheismus will Spalding von Shaftesbury abwehren. Das Hauptargument besteht bei dem lutherischen Theologen wohl darin, dass Shaftesburys Konzept der natürlichen Religion mit einem pantheistischen Gottesbegriff nicht vereinbar sei. Spalding wehrt die Invektive gegen Shaftesbury ab, indem er sie auf zwei problematische hermeneutische Einstellungen zu dieser Schrift zurückführt. Die eine betrifft die Abstraktion von deren immer in Rechnung zu stellendem poetischen Charakter. „Vielleicht vergisst man, daß die mehresten hierher gezogenen Stellen in einem ziemlich poetischen Vortrage vorkommen, der ohne Streit eine gewisse Nachsicht erfodert. Das Recht, was Haller und Pope in diesem Stück von ihren Beurtheilern begehren können, muß man auch dem Lord Schaftesbury einräumen.“339 Rechtgläubigkeitspathos und das Insistieren auf einen „festgesetzten Lehrbegriff“ können also durchaus pantheistische Anklänge in diesem „nicht systematisch geschriebenen Buche“340 vermuten lassem, dies aber nur unter der Voraussetzung des hermeneutischen Missverständnisses, dass es sich mit den „Moralists“ um eine lehrhafte Abhandlung und nicht um einen fiktiven poetisierenden Dialog handele, der „alles gleichsam in einer andern Wendung vorstellet und in einem ganz neuen Lichte“341 zeige. Der andere hermeneutische Einwand gegen den Pantheismusverdacht hängt mit dem ersten zusammen. Er betrifft die isolierte Inanspruchnahme dieser poetisch-pantheisierenden Passagen, die jedoch dem Gesamtduktus der Schrift in keiner Weise entsprächen. Shaftesbury nehme selber durch „vielfältige Erklärungen“342 dem Pantheismusvorwurf den Wind aus den Segeln. „Ist in der Natur alles Absicht; Ist die Welt nach einem gewissen Entwurf und Endzweck gemacht; Gehen die darinne getroffenen Veranstaltungen allemal auf ein abgezieltes allgemeines Bestes, wie es in verschiedenen Stellen klärlich bezeuget und behauptet wird: So haben wir ein von der Welt unterschiedenes und freyes herrschendes Wesen; so ist die natürliche Religion in Sicherheit.“343 Über diese Elemente eines Begriffes eines wahren Deismus bzw. einer natürlichen Religion verfüge Shaftesburys Religionsbegriff in den „Moralists“, so dass ein Pantheismusvorwurf nicht aufrechtzuerhalten sei. Dass diese Interpretation Spaldings auch der Intention Shaftesburys in den „Moralists“ durchaus entspricht, hat 338 Ebd., S. 13 f. – Dass der Pantheismus‑ und Spinozismusvorwurf zu den antideistischen Stereotypen zu rechnen ist, zeigt auch gerade im Blick auf den hier erwähnten John Toland Christopher Voigt (vgl. Voigt, Deismus, S. 30–40). 339 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 12. 340 Ebd., S. 15. 341 Ebd., S. 12. 342 Ebd., S. 13. 343 Ebd.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Horst Meyer gezeigt. Nach seiner Analyse der Textgeschichte habe Shaftesbury aufgrund des von orthodoxer Seite vorgetragenen Pantheismusvorwurfes gegenüber dem Erstentwurf „The Sociable Enthusiast“ von 1704 in den „Moralists“ von 1709 entsprechende Änderungen vorgenommen, die diesem Einwand den Boden entziehen sollten.344 Damit gibt Spalding en passant Einblick in sein Verständnis natürlicher Religion. Zu ihr rechnet er im Zitat darüber hinaus, dass sich natürliche Religion und Pantheismus ausschließen, folgende Begriffselemente: 1. die Annahme einer Schöpfung der Welt, 2. die Zweckmäßigkeit dieser Welt als ganzer, 3. die Zweckmäßigkeit der Natur hinsichtlich dieses Weltzwecks und 4. die Zielgerichtetheit aller Ereignisse auf diesen Endzweck als allgemeines Bestes (Vorsehung). Als Hauptargument gegen den Pantheismus kommt 5. die aus diesen Bestimmungen resultierende Annahme eines höchsten von der Welt differenten (supranaturalen) und freien Wesens zu stehen. b. Nachdem Spalding die Haupteinwände gegen seinen Autor abgewendet hat, widmet er sich nun in einem zweiten Hauptteil der Vorrede dem „hauptsächlichsten Inhalt“345 der „Moralists“. Diesen erblickt der Übersetzer in Shaftesburys Theorem der moralischen Empfindung. An dieser Stelle äußert sich Spalding in seinem Oeuvre zum ersten Mal ausdrücklich und zudem in einem ausnehmend zustimmenden Sinne zum Begriff der Empfindung, der bereits die Analyse der Übersetzungen beschäftigte und der – wie bereits angedeutet – in der Bestimmungsschrift von 1748 den zentralen erkenntnistheoretischen Grundbegriff darstellen wird. „Ich gestehe es Ihnen, dass ich davon eingenommen bin. Die moralische Empfindung hat meiner Meinung nach so etwas grosses, und mit der weisen Güte des Schöpfers sowol, als mit der Erfahrung so übereinstimmendes an sich, dass ich sie als eine ungezweifelte Sache ansehe.“346 Spalding erblickt zunächst in Shaftesburys Theorie der moralischen Empfindung den eigentlichen und wesentlichen Inhalt der „Moralists“ und stellt dies nicht nur in einem neutralen Sinne fest, sondern gleichsam in der Metaphorik eines ästhetischen Erlebnisses und einer emphatischen Zustimmung zu diesem Konzept. Spalding setzt nicht – wie man unvoreingenommen von einem orthodox-lutherisch ausgebildeten Theologen erwarten könnte – die Theorie der moralischen Empfindung der lutherischen Sündenanthropologie entgegen, sondern als Bewertungsparameter fungieren vielmehr ein rationaler und ethischer Gottesbegriff und die Empirie moralischer Faktizität. Spalding scheint jedoch nicht nur Shaftesbury vor Augen zu haben, denn er bemerkt gleich im Anschluss an dieses Statement, dass sich diese Kategorie überhaupt, „sonderlich seitdem Hutchinson [sic, scil. Francis Hutcheson; G. R.] sie mit so vielem Fleiß und Verstande ins Licht gesetzet“347, 344 Meyer,
Limae Labor, S. 358–362. Vorrede Sitten-Lehrer, S. 16.
345 Spalding, 346 Ebd.
347 Ebd.,
S. 16 f.
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als Zentralbegriff in der englischen Moralphilosophie durchgesetzt habe. Damit gibt Spalding zu verstehen, dass er sich bereits spätestens im Frühjahr 1744 über sein Shaftesburystudium hinaus mit der anglo-schottischen moralphilosophischen Debatte auseinandergesetzt hat, die in der Historiographie gerade ihrem zentralen Theorem der moralischen Empfindung ihren Namen als MoralSense-Philosophie bzw. ‑Ethik verdankt348. Er erwähnt mit Francis Hutcheson den Hauptvertreter der schottischen Moral-Sense-Schule. Da Spalding nirgends einen näheren Einblick in seine Lektüre und Rezeption Hutchesons gibt, fällt eine Auswertung dieser singulären Bemerkung äußerst schwer. Joseph Schollmeier hat die These vertreten, dass Spalding stärker von Francis Hutcheson als von Shaftesbury beeinflusst worden sei.349 Dass Spalding den Schotten zur Kenntnis genommen hat, kann von dieser Bemerkung her sicher angenommen werden; dass Schollmeiers These jedoch in dieser Bestimmtheit und Entgegensetzung wirklich tragfähig ist, wird hier bestritten. Die Prämisse unserer Studie besteht vielmehr darin, dass Spaldings Anknüpfungen an die Moral-Sense-Philosophie vornehmlich von seiner Shaftesburyrezeption her zu begründen ist. Dies entspricht nicht nur der Quellenlage, sondern kann auch in der Sache gezeigt werden (vgl. IV; V). Spalding setzt sich jedoch abgesehen von seinem grundsätzlichen Einvernehmen mit dieser Kategorie in ein kritisches Verhältnis zu Shaftesburys spezifischem Begriff bzw. dessen Bestimmung des Relates der moralischen Empfindung. Seinen argumentativen Ausgangspunkt stellt die Feststellung dar, dass zwei Interpretationsmöglichkeiten zu unterscheiden seien: „Ist es die Schönheit der Handlung und der dazu gehörigen Verfassung des Gemüths, die wir bey der Tugend und mit solcher Lust empfinden? Oder ist es die Vollkommenheit, welche wir theils damit in der Welt hervorbringen, theils aber als unsern Bewegungsgrund erkennen und zu erkennen geben, ohne sie befördern zu können?“350 Spalding unterscheidet also zwei mögliche Relate der moralischen Empfindung, deren von den benannten Differenzen unabhängige Struktur in der Empfindung einer Lust bestehe.351 Der eine Begriff der moralischen Empfindung habe seinen Grund in der Empfindung von Schönheit, und diese ästhetische Lust sei bezogen auf die zu empfindende Schönheit der äußeren Handlung und auf die psychische Gesamtverfassung, die dieser zugrunde liegt. Das andere Verständnis der moralischen Empfindung erfasse das Relat nicht in einem primär ästhetisch charakterisierten Phänomen, sondern in einer Perfektibilitätsstruktur, die sich zum einen auf die Realisierungsgestalt der Tugend als Vollkommenheit in der Welt und zum anderen auf die gänzlich unabhängig von ihrem Realisierungsmodus 348 Vgl. u. a. Rohls, Geschichte der Ethik, S. 360 ff.; Schrader, Ethik und Anthropologie, S. 10 ff. 349 Vgl. Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 156–167. 350 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 17. 351 Vgl. ebd., S. 17; 18.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
begriffene subjektiv-moralische Disposition bzw. Einstellung, die die Vollkommenheit der Welt als Telosbestimmung vorstellig macht, beziehe. Spalding ordnet nun den ästhetischen Begriff der moralischen Empfindung Shaftesburys Konzeption in den „Moralists“ zu, reklamiert aber für den vollkommenheitstheoretischen Empfindungsbegriff größere Plausibilität, den er noch einmal näher erläutert: „Mich dünckt, die erste Quelle unserer Neigungen und aller Thätigkeiten in unseren Neigungen ist die Empfindung der Vollkommenheit. Dieß ist ein Trieb der Natur, und dieß ist zugleich nach der weisen Einrichtung Gottes der Grund aller Sittlichkeit. Lasset diese Empfindung auf eine allgemeine Vollkommenheit, auf die Vollkommenheit des Gantzen gehen; Lasset daraus eine beständige Begierde werden, sich an der höchsten und alles in sich fassenden Vollkommenheit zu vergnügen, eine Begierde, auch die davon abgeleitete Vollkommenheit der Welt im Gantzen zu lieben und zu suchen; Diese sich so ausbreitende Neigung der Seele, wobey so wenig niedriges und eigennütziges stat hat, verdienet den liebenswürdigen Nahmen der Tugend.“352 Die basale Grundstruktur aller Neigungen und neigungsbasierten Handlungen bestehe darin, dass ihnen die Empfindung einer Vollkommenheit zugrunde liegt. Man könnte auch sagen: Die Neigung richtet sich auf nichts, was nicht dem Subjekt der Neigung vorgängig als Vollkommenheit repräsent ist. Diese intentionale Strebestruktur auf eine Vollkommenheit hin stellt Spalding als eine Triebstruktur dar, die den ‚Grund aller Sittlichkeit‘ konstituiert. Grundlegend für die Sittlichkeit ist die Empfindung einer besonderen Art von Vollkommenheit, nämlich nicht einer partikularen, sondern einer allgemeinen Vollkommenheit. Es stellt sich nun die Frage, ob bereits dieser allgemeine Vollkommenheitstrieb die Tugend des Menschen darstellt, oder ob allererst eine reflexive Bezugnahme auf diese Struktur Moralität begründet. Welche dieser Interpretationen zutrifft, entscheidet sich an der Verhältnisbestimmung des Triebes nach einer allgemeinen Vollkommenheit auf der einen und zur beständigen Begierde und Vergnügen auf der anderen Seite. Zunächst kann für die erste Interpretation namhaft gemacht werden, dass bereits der Trieb eine Begierde darstellt, die ausschließlich durch ihre Beständigkeit die Qualität der Tugend erhält: Die Auf-Dauer-Stellung des Triebes zur allgemeinen Vollkommenheit stiftet die Tugendhaftigkeit. Darüber hinaus kann jedoch zwischen dem basal-humanen Vollkommenheitstrieb und der ‚Begierde, sich an der Vollkommenheit zu vergnügen‘ unterschieden werden. Letztere stellt eine reflexive Struktur dar, in der diese allgemeine triebhaft verfolgte Vollkommenheit bzw. der entsprechende Trieb wiederum zum Gegenstand einer Begierde wird. Während der Trieb sich noch im Unbewußten bewegt, wird er nun auf einer zweiten Stufe ins Bewusstsein gehoben und seinerseits Gegenstand einer Begierde sowie eines Lustempfindens. Erst auf dieser zweiten Stufe kann von Tugend gesprochen werden. 352 Ebd.,
S. 17 f.
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Damit ist aber noch gar nicht die hier angelegte Doppelstruktur des Vollkommenheitsbegriffs in Erwägung gezogen. Die Figur der ‚höchsten und alles in sich fassenden Vollkommenheit‘ ist einigermaßen dunkel, mit ihr könnte aber Spalding die religiöse Idee einer letztinstanzlichen Vollkommenheit als Differenz zur ‚Vollkommenheit der Welt im Ganzen‘ verstehen. Beide stehen wiederum in einem reflexiven wechselseitigen Ableitungsverhältnis: Zum einen führt die Vollkommenheit des Ganzen (Weltbegriff) das reflektierende Subjekt auf die Vorstellung einer alles in sich fassenden Vollkommenheit (Gottesbegriff), die mit Lust verbunden ist. Zum anderen bedingt die Begierde an der höchsten alles umfassenden Vollkommenheit die Begierde nach der ‚davon abgeleiteten Vollkommenheit der Welt‘, deren ethische Dimension darin zum Ausdruck kommt, dass diese universale Vollkommenheit zum Gegenstand der Neigung und des Streben wird (‚zu lieben und zu suchen‘). Es bietet sich jedoch auch hier eine alternative Lesart an, die das Ableitungsverhältnis und damit die religiöse Dimension ausblendet. Nach dieser würde sich die Reflexionsgestalt folgendermaßen darstellen: Die Vorstellung einer allgemeinen Vollkommenheit evoziert die Begierde und die Lust an dieser, die allererst die ethische Strebestruktur aufruft, diese allgemeine Vollkommenheit ‚zu suchen‘. Beide Lesarten sind mit der grundgelegten Interpretation vereinbar. Jede würde aber noch einmal eine Binnendifferenzierung einzeichnen: Die erste unterscheidet zwischen allgemeiner und alles in sich fassenden Vollkommenheit und die zweite differenziert die bloße Vorstellung von dem Erstreben der Vollkommenheit. Grundsätzlich unterscheidet also Spalding hier in der Vorrede von 1744 zwischen einer ästhetischen Empfindung von Schönheit auf der einen und einer Empfindung von Vollkommenheit auf der anderen Seite. Inwieweit Spaldings exklusive Zuordnung des ästhetischen Modells zu Shaftesbury zutrifft, muss als Interpretation der „Moralists“ in Frage gestellt werden. Denn auch hier kommt dem Vollkommenheitsbegriff neben dem Begriff der Schönheit eine wesentliche systematische Bedeutung zu.353 Dass Spalding denn auch mit seiner Differenzierung keinen strikten Gegensatz markiert wissen möchte, zeigt sich an seiner diesen Punkt abschließenden Bemerkung, dass die „Vereinigung beyder Meinungen wenig Schwierigkeit“354 habe: Sowohl der Schönheitsbegriff als auch der Vollkommenheitsbegriff verfügen über eine begriffliche Affinität zum je anderen Relat. Jedoch stellt sich die Frage nach den Gründen für Spaldings Unterscheidung, Polarisierung und seine Präferenz der vollkommenheitstheoretischen Fassung 353 Vgl. bspw. Shaftesbury, SE II,1, S. 64 [SE II,3, S. 185]/Spalding/Shaftesbury, SittenLehrer, S. 55. – Hier spricht Shaftesbury explizit vom Trieb zur und der Liebe der Ordnung und Vollkommenheit. 354 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 18.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
des Begriffes der moralischen Empfindung. Da er sich hierüber nicht äußert, können nur vage Vermutungen angestellt werden. Der Vorzug des Vollkommenheitsbegriffes könnte sich allgemein seiner Prägung v. a. durch Christian Wolff, aber auch durch die wolffianisch geprägten poetologisch-ästhetischen Debatten verdanken. Sowohl Wolffs ethischer Ansatz in der Metaphysik als auch seine Ethik selber können als Vollkommenheitstheorien verstanden werden. Spaldings Begründung der Sittlichkeit in dem Trieb der Natur zur Vollkommenheit spiegelt – cum grano salis – den Ansatz von Wolffs Grundlegung der Ethik wieder355, in der der Vollkommenheitsbegriff die Zentralkategorie darstellt. Es lassen sich für diese Interpretation zwei Indizien benennen. Das eine besteht darin, dass auch Wolff explizit von der Empfindung der Vollkommenheit im Kontext der unteren Begehrungsvermögen in der Deutschen Metaphysik sprechen kann. Das andere Indiz hängt damit eng zusammen; denn auch bei Wolff evoziert diese Empfindung von Vollkommenheitsphänomenen Lust.356 Auch in den poetologisch-ästhetischen Konzepten bspw. Gottscheds und Baumgartens bezieht sich die Empfindung des Geschmacks auf Vollkommenheitsphänomene, die das Schönheitsurteil allererst evozieren (vgl. III. Kapitel). Von dieser Traditionslinie und dem skizzierten Zusammenhang von Vollkommenheit und Schönheit her stellt sich die Frage, wie sich Spaldings gewisser Vorbehalt gegenüber der schönheitstheoretischen Dimension des Begriffes der moralischen Empfindung begründet. Auch diese Frage kann nur vermutungsweise beantwortet werden. Grundsätzlich scheint Spalding in dieser Phase seiner Shaftesburyrezeption die ästhetische Dimension der moralischen Empfindung zugunsten ihrer basaleren vollkommenheitstheoretischen Fassung zurückzudrängen. Dies dokumentiert sich bereits eingangs der Vorrede in einem gewissen Ressentiment gegenüber dem Geschmacksbegriff: „Das Leben ist allemal mehr werth, als der Geschmack.“357 Dieser Vorbehalt wiederholte sich bei der Beurteilung des „hohen Geschmack[s] in der Sittlichkeit“358, auf den bereits rekurriert wurde. Dass jedoch Spalding die schönheits‑ und geschmackstheoretische Fassung des Tugendbegriffs nicht in Bausch und Bogen ablehnt, wird auch deutlich: „Der reinste Antrieb zur Tugend kan freylich in dem feinen und richtigen Geschmack an der natürlichen Schönheit des Guten, Anständigen und Rechtschaffenen bestehen …“359 Aber nicht nur die Fassung des Empfindungsbegriffes macht Spalding thematisch, sondern er problematisiert auch die diesem humanen Vermögen „beygelegte Kraft“360. Damit wiederholt sich eine leise Kritik an der moralischen Emp355 Vgl. Wolff, Deutsche Ethik, I. Teil, §§ 1–220 [Von dem Thun und Lassen des Menschen überhaupt]. 356 Vgl. dazu die Ausführungen zu Wolff in III.1. 357 Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 5. 358 Ebd., S. 11. 359 Ebd., S. 10. 360 Ebd., S. 17.
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findung, die sich bereits hinsichtlich des ‚hohen Geschmacks in der Sittlichkeit‘ ausgesprochen hatte. Wie dort wird mit der ‚beigelegten Kraft‘ die prinzipielle moralphilosophische Motivationsproblematik angesprochen sein und damit die Frage, inwieweit die moralische Empfindung als die psychische Grundlage des hohen Geschmacks in der Sittlichkeit auch in der Lage ist, das als gut empfundene am Orte des eigene Subjektes zu realisieren. Da Spalding in der Vorrede eine Antwort auf diese von ihm aufgeworfene Frage – sieht man von den Ausführungen zum Vergeltungsglauben ab – schuldig bleibt, wird man eine solche erst durch die Analyse der Bestimmungsschrift erwarten können. Der Sache nach berührt Spalding im Blick auf diese Schrift keine geringere Frage als die Verhältnisbestimmung der Bestimmungsstufen der Religion und Unsterblichkeit zur Stufe der Tugend. Hier deutet sich jedenfalls bereits eine leichte Akzentverschiebung in der Bewertung der Bedeutung der Religion und Unsterblichkeitsvorstellung für die Moralität gegenüber Shaftesbury an.
3.2 Spaldings Shaftesburydeutung in der Vorrede zur „Untersuchung über die Tugend“ (Frühjahr 1747) Wir wollen uns für die Rekonstruktion der Vorrede zur „Untersuchung über die Tugend“ an der geradezu enthusiastischen Schlussbemerkung orientieren, in der Spalding sachliche Schwerpunkte andeutet, die für ihn von besonderer Relevanz sind und demgemäß auch den Duktus des Vorwortes mitbestimmen: „Lassen Sie, mein Herr, mich mit der Anmerkung schliessen, dass der Begriff einer Tugend, welche auf die natürliche Neigung, auf die Empfindung der allgemeinen Wohlgewogenheit gegen die Menschen beruht, etwas sehr grosses und rührendes an sich hat. Welch eine edle Aehnlichkeit mit dem gütigen Vater aller Wesen! Welch eine reiche Quelle von Glückseligkeit, da keine Glückseligkeit ohne Liebe seyn kann! Es ist ein unendlich erfreulicher Gedanke für mich, dass es eine Religion in der Welt giebt, die das schönste, was das menschliche Herz empfinden kann, zu einem klaren und einfältigen Hauptgrundsatz ihrer ganzen Sittenlehre macht.“361 Spalding zeigt sich ‚gerührt‘ von Shaftesburys ‚Begriff einer Tugend‘. Damit beschließt er seine Rekonstruktion gleichsam im Modus einer begeisterten ästhetischen Stellungnahme bezüglich derjenigen Kategorie, die ihrerseits bei Shaftesbury über eine ästhetische Dimension verfügt. Der Übersetzer setzt sich als literarisch und literaturkritisch versierter Schriftsteller mit seiner Einleitung gleichsam in eine Entsprechung zur „Inquiry“. Zunächst drückt sich hier – wie bereits in der Vorrede von 1744 – eine grundsätzliche Zustimmung zu Shaftesburys Theorie der Tugend aus. Hier fallen denn auch mit dem Neigungs‑ und Empfindungsbegriff diejenigen beiden Begriffe, die für
361 Spalding,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 195 [S. 38].
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Spaldings Zusammenfassung bestimmend sind und in dessen spezifischem Verständnis von Shaftesburys Tugendkonzept eine wesentliche Rolle spielen. Der Analyse dieses Themenkomplexes widmet sich Abschnitt 3.2.1. Es lassen sich überdies im Zitat drei Themenkomplexe ausmachen, die sich allesamt auf Shaftesburys ‚Begriff einer Tugend‘ beziehen: Zunächst nimmt er mit dem Theorem der Gottähnlichkeit der Tugend bzw. des tugendhaften Menschen Bezug auf eine bestimmte religionstheoretische und anthropologische Dimension der Tugend. Spalding setzt Shaftesburys Begriff der moralischen Empfindung ins Verhältnis zum Topos der Gottverähnlichung, wovon in der „Inquiry“ jedoch nur in einem vermittelten Sinne die Rede ist, wenn Shaftesbury sich des platonisch-platonistischen teleologischen Motivs der Homoiosis to theo362 bedient: „It must be either in the way of his Power, as presupposing some Disadvantage or Benefit to accrue from him; or in the way of his Excellency and Worth, as thinking it the Perfection of Nature to imitate and resemble him [Dies muß entweder mit Blick auf seine Macht geschehen, indem man einen Nachteil oder einen Nutzen von ihm erwartet, oder aber weil man es wegen seiner Erhabenheit und Würde für die Vollendung der eigenen Natur hält, es nachzuahmen und ihm gleich zu werden].“ Spaldings Übersetzung: „Dieß [scil. Gehorsam gegen die Gottheit; G. R.] muß geschehen entweder wegen seiner Macht, in der Meinung, daß uns von ihm Vortheil oder Leid widerfahren könne; oder auch wegen seiner Vortrefflichkeit und Würdigkeit, da man glaubt, daß die Vollkommenheit unserer Natur darinne bestehe, ihm nachzuahmen und ihm ähnlich zu seyn.“363 Spalding scheint mit dem Ähnlichkeitscharakter den dogmatischen Topos der Gottebenbildlichkeit und damit einen Begriff der dogmatischen Anthropologie zu konnotieren, der in der lutherischen und altprotestantischen Tradition eher ein Randdasein fristete. Damit kann bereits von dieser kurzen resümierenden Bemerkung her die Vermutung geäußert werden, dass sich Spalding durchaus der theologisch-anthropologischen Sprengkraft der „Inquiry“ bewusst war. Denn insofern die Gottähnlichkeit des Menschen an die moralische Fähigkeit des Menschen gekoppelt ist, verfügt Shaftesburys Tugendkonzept über eine anthropologische Tiefendimension: Das shaftesburyanische Theorem der natürlichen Tugend des Menschen stehe für Spalding auch – so könnte man sagen – für die Rehabilitation der Würdebestimmung des Menschen. Es wird in der Analyse der Vorrede deutlich werden, dass Spalding nicht nur in diesem Punkt Shaftesburys „Inquiry“ bzw. Moralphilosophie in eine anthropologische Perspektive einzurücken bemüht ist. Im Blick auf die Einleitung
362 Vgl.
u. a. Platon, Theaitetos 176b. – Vgl. Barth, Gott ähnlich werden. SE II,2, S. 108 [SE II,3, S. 79] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 92. – Darauf, dass das Gottverähnlichungstheorem durch Shaftesbury an Spalding vermittelt wurde, hat bereits Claussen hingewiesen (vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 292). 363 Shaftesbury,
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selber ist auch bemerkenswert, dass er in diesem Schlussstatement über die kurze Bemerkung zur Gottähnlichkeit der Tugend nicht ausdrücklich auf Shaftesburys differenzierte Verhältnisbestimmung von Moralität und Religion eingeht, wenngleich er dieser Thematik in der Vorrede immerhin fünfzehn Seiten seines Referates widmet. Es kann also vermutet werden, dass innerhalb des Themenkomplexes Tugend – Religion Spalding seinen Fokus ganz auf das Ähnlichkeitstheorem richtet. Im Blick auf die Bestimmungsschrift kann schon vorausblickend angedeutet werden, dass dann auch bei Spalding selber das Theorem der Gottverähnlichung eine zentrale Rolle spielen wird (vgl. V.8). Es ist daher methodisch geboten, innerhalb der einschlägigen Analyse (vgl. II.3.2.3) auf diesen Aspekt ein besonderes Augenmerk zu legen. Sodann geht es ihm um den Konnex und die Koinzidenz von Tugend und Glückseligkeit. Es deutet sich an, dass mit der Übersetzung der Tugenduntersuchung und ihrer Einleitung der Glücksbegriff noch stärker als bisher sowie in seiner ethischen Valenz in den begrifflichen Horizont Spaldings eintritt (Abschnitt 3.2.4). Er benennt schließlich die christentumstheoretische Dimension des shaftesburyanischen Tugendbegriffes: Das Christentum – denn dieses wird im Zitat gemeint sein – stelle diejenige Religion dar, die den rational entwickelten ethischen Grundsatz der natürlichen Neigung, d. h. der Neigung zum Besten der ganzen Gattung, ebenfalls zum ‚Hauptgrundsatz‘ seiner Sittenlehre gemacht habe. Spalding unternimmt also mit seiner Übersetzung den Versuch, Shaftesburys Tugendkonzeption Geltung zu verschaffen, indem er sie als eine rationale Moralphilosophie deklariert, die der Sache nach nichts anderes darstelle, als was auch das Christentum zum Kern seiner ‚ganzen Sittenlehre‘ bestimmt habe. Auf diesen Aspekt nimmt er jedoch bemerkenswerterweise an keiner Stelle der Vorrede ausführlichen Bezug. Insofern jedoch für Spaldings Verhältnisbestimmung von Religion und Christentum auch seine Anmerkungen zum Theismus‑ bzw. Deismusbegriff einschlägig sind, muss auf diesen Punkt der Fokus gerichtet werden (in Abschnitt 3.2.3). Darüber hinaus müssen noch zwei weitere Aspekte Berücksichtigung finden, die Spalding hier nicht in seiner Schlussbemerkung nennt, die aber im Blick auf das Verständnis von Spaldings Shaftesburyrezeption von besonderem Gewicht sind. Zum einen muss im Abschnitt 3.2.3 Spaldings Interpretation von Shaftesburys Stellung zum Vergeltungsgedanken rekonstruiert werden, die uns bereits in der Analyse der 1744er Vorrede beschäftigt hatte. Zum anderen muss im Anschluss an die Analyse der moralischen Empfindung Spaldings Rekonstruktion dieser Kategorie noch einmal unter der Perspektive des begriffsgeschichtlichen Hintergrundes in den Blick genommen werden. Es wird sich zeigen, dass Spalding hier noch stärker als in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ wolffsche und wolffianische poetologische und ästhetische Kategorien in seine Interpretation einfließen lässt (Abschnitt 3.2.2).
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3.2.1 Moralische Empfindung Auf den Seiten 7–11 widmet sich Spalding der Analyse von Shaftesburys Begriff einer moralischen Empfindung, der auch schon in der Vorrede zu den „SittenLehrern“ und bereits in den Übersetzungen selber von Bedeutung war. Hier vertieft und modifiziert Spalding sein Verständnis dieser Kategorie signifikant. Er folgt dem Aufriss der einschlägigen Abschnitte in der „Inquiry“ und setzt mit einer Skizze der Universumskonzeption sowie der systemtheoretischen Theorie des Guten und Bösen ein und geht dann zum Begriff der Neigung und Empfindung über. Genau auf den Übergang von der Theorie der Neigung als Vermögen empfindender Kreaturen, wo Shaftesbury seine Theorie der Tugend und den Begriff des Sense bzw. reflected Sense einführt, nimmt Spalding im folgenden Zitat Bezug: „Der Mensch aber, in so weit er Vernunft und die Fähigkeit allgemeiner Begriffe besitzt, ist eben dadurch noch zu was mehrers aufgelegt. Er siehet nicht allein die äusserlichen Gegenstände und richtet seine Neigung darauf, sondern er siehet auch diese Neigung selbst. Er ist sich bewußt, daß seine Neigung sich für den Gegenstand schickt, daß seine daraus entspringende Handlung so ist, wie sie seyn soll. Seine Dankbarkeit, seine Großmuth, sein Mitleiden, seine Leutseligkeit sind so viel neue Gegenstände seines Anblicks und seines Wohlgefallens.“364 Zunächst kann festgestellt werden, dass Spalding sich sehr eng an dem einschlägigen Abschnitt in der „Inquiry“ orientiert.365 Jedoch fällt auf, dass er den zentralen Terminus der ‚reflektierten Empfindung‘ hier vermeidet und auch sonst an keiner anderen Stelle seiner Vorrede verwendet. Er expliziert vielmehr zunächst basal dasjenige, was er dann mit dem Empfindungsbegriff terminologisch fasst, wahrnehmungspsychologisch mit dem Begriff des ‚Sehens‘: Primärneigungen als intentionale Strukturen – wie Mitleid etc., über die Tier und Mensch gleichermaßen verfügen – werden am Orte des vernunftbegabten und allgemeiner Begriffe fähigen Menschen ihrerseits noch einmal Gegenstand einer Wahrnehmung zweiter Ordnung. Die moralische Empfindung wird also auch von Spalding insofern der Sache nach als eine Reflexionsfigur vorgestellt, als sie sich nicht auf äußere, sondern mentale Einstellungen und daraus resultierende Handlungen rückbezieht. Diese Rezeptionsstruktur schließt zum einen eine bewusste Wahrnehmung einer Übereinstimmungs‑ bzw. Angemessenheitsrelation ein, nämlich zwischen den 364 Spalding,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 176 [S. 8]. Abschnitt in der Übersetzung Spaldings: „Bey einem Wesen, welches zu allgemeinen Begriffen aufgelegt ist, sind nicht die blossen äusserlichen und in die Sinne fallenden Dinge allein die Gegenstände seiner Neigung; sondern eben die Handlungen selbst, und die Neigungen des Mitleidens, der Leutseligkeit, der Dankbarkeit, und deren Gegentheil, wenn sie dem Geist durch die Ueberlegung vorgestellet werden, so werden sie gleichfalls Gegenstände desselben. Solchergestalt entstehet vermittelst dieser reflektierten Empfindung eine andere Art von Neigung gegen die Neigungen selbst, die man bereits empfunden hat, und die nun der Gegenstand eines neuen Wohlgefallens oder Misfallens geworden sind.“ (Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 63 f.; vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 66 [SE II,3, S. 60]). 365 Der
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Primärneigungen (Mitleid etc.) und den entsprechenden Handlungen auf der einen und ihren Bezugsgegenständen auf der anderen Seite. Der Nachsatz – ‚daß seine daraus entspringende Handlung so ist, wie sie seyn soll‘ – impliziert eine kriteriologische Dimension bzw. einen normativen Begriff von Gutheit, der bei der Wahrnehmung einer Angemessenheit zugrunde liegen muss. Auch wenn Spalding an dieser Stelle diese ‚Fähigkeit allgemeiner Begriffe‘ nicht näher erläutert, so kann doch vom Mikrokontext her geschlossen werden, dass im Gegensatz zum Tier dem Menschen ein Begriff eines allgemeinen Besten bzw. des übergeordneten Bezugssystems366 – nämlich der Gattung – möglich ist, der wiederum als normativer Begriff des zu Sollenden in der reflexiven Empfindung fungiert. Damit rückt zwischen die Primärneigung und die reflexive Empfindung eine begriffliche Vorstellung, die mithin zwar der moralischen Empfindung zugrunde liegen muss, diese aber nicht an sich als eine begriffliche Kognitionsleistung charakterisiert. Spalding zieht also in diese zusammenfassende Darstellung vermittelst der Angemessenheits‑ und Sollstruktur bereits eine Erläuterung der begrifflichen Dimension der moralischen Empfindung hinein. Zum anderen evoziere diese Empfindung einer Angemessenheit ein sich unmittelbar einstellendes ‚Wohlgefallen‘. Während Shaftesbury aus diesem Wohlgefallen ausdrücklich eine andere Art von Neigung entspringen lässt, differenziert Spalding zwischen dem primären Neigungs‑ und Handlungsgefüge und der „Neigung gegen die Neigungen“367 – die wir auch als Sekundärneigung bezeichnen können – nicht ausdrücklich. Dass Spalding bereits in den Begriff des Wohlgefallens die Neigungsstruktur einschließt, wird im folgenden Zitat deutlich, in dem er nun auch den Terminus der Empfindung verwendet: „Er nimmt gleichfalls eben dieß [scil. Mitleid etc.; G. R.] nicht so bald an anderen wahr, so ziehet es auch daselbst so gleich seinen Beyfall und sein Vergnügen auf sich. Die Uebereinstimmungen zwischen den Neigungen und ihren Gegenständen rühren ihn allenthalben, wo er sie antrifft. Er empfindet dieses schöne Verhältnis den Augenblick, und diese Empfindung ist lauter Lust.“368 Es können an dieser Stelle vier Interpretationshinsichten des Empfindungsbegriffes namhaft gemacht werden: Zum ersten interpretiert Spalding die moralische Wahrnehmung als eine solche, die sich primär auf die je eigenen Neigungen rückbezieht, jedoch auch für die Rezeption der Affekte und Handlungen je anderer moralischer Subjekte in Anspruch genommen werden kann. Diese Interpretation ist von Shaftesburys Theorie des „reflected Sense“369 her nicht zwingend, aber durchaus plausibel, da der Reflexionscharakter allererst vermittelst dieser Deutung einsichtig gemacht 366 Zwei Seiten weiter übersetzt Spalding „Notion of a publick Interest [Begriff von öffentlichem Wohl]“ (Shaftesbury, SE II,2, S. 68/70 [SE II,3, S. 62]) mit „Begriff von einem allgemeinen Beßten“ (Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 66). 367 Ebd., S. 64. 368 Spalding, Vorrede Tugenduntersuchung, S. 176 [S. 8]. 369 Shaftesbury, SE II,3, S. 60.
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
werden kann: Moralische Empfindung ist primär moralische Selbsterkenntnis und erst sekundär Beurteilung je anderer Subjekte. Jedoch könnte in dieser Überlegung bezüglich der beiden möglichen Relate der moralischen Empfindung auch der Grund dafür liegen, dass er auf den Terminus ‚reflektierte Empfindung‘ als Bezeichnung für die moralische Erkenntnisstruktur als ganze verzichtet, da sie in Bezug auf andere Personen nicht unmittelbar als reflektierte bzw. selbstbezogene Wahrnehmungsstruktur zu bestimmen ist. Im Folgenden spricht Spalding denn auch nur einfach von Empfindung. Zum zweiten wird hier deutlich, dass Spalding durchaus der Sache nach von einer sekundären Neigung ausgeht, die aus der Wahrnehmung einer Übereinstimmungsrelation resultiert und auf dem Vergnügen an dieser basiert. Denn das Verb ‚rühren‘ stellt bei Spalding in der Regel das deutsche Äquivalent zum englischen Verb affect dar.370 Zum dritten bestimmt er die Empfindung als eine unmittelbare Wahrnehmungs‑ bzw. Erkenntnisstruktur. Dies wird durch die Formulierungen ‚so bald‘, ‚so ziehet es auch daselbst so gleich‘, ‚rühren … allenthalben‘ und ‚den Augenblick‘ indiziert. Da diese Unmittelbarkeitsstruktur in der „Inquiry“ nicht eigens expliziert wird, kann hier also ein Motiv namhaft gemacht werden, welches Spaldings Präferenz des Empfindungsterminus verständlich macht und das er im Folgenden der Vorrede näher bestimmt. Schließlich wird die im vorherigen Zitat bereits mit dem Begriff des Wohlgefallens angedeutete Lustdimension hier nun zugespitzt und näher bestimmt. Spalding geht nicht nur davon aus, dass die Empfindung Lust evoziert, sondern vielmehr dass sie ihrem Wesen nach eine Lustempfindung darstelle. Diese begründet sich auf die Rezeption eines ästhetisch bestimmten Phänomens, nämlich eines ‚schönen Verhältnisses‘, wie er die ‚Uebereinstimmungen zwischen Neigungen und ihren Gegenständen‘ nun näher bestimmt. Sowohl die Identifikation von Empfindung und Lust als auch die ausdrückliche ästhetische Begründung der Lustdimension der Empfindung gehen über Shaftesburys Bestimmungen der moralischen Empfindung in der „Inquiry“ hinaus, in der gegenüber den „Moralists“ der Begriff der Schönheit eine nebengeordnete Rolle spielt. Damit kann gegenüber der Vorrede von 1744 eine gedankliche Entwicklung verzeichnet werden; denn wir hatten oben festgestellt, dass Spalding in seiner Vorrede zu den „Moralists“ ausdrücklich noch dem Vollkommenheitsbegriff als Relation der Empfindung den Vorzug gegenüber dem Begriff der Schönheit gegeben hatte. Der Vollkommenheitsbegriff spielt nun in dem vorliegenden Einleitungstext keine ausdrückliche Rolle mehr und wird vom Begriff des Schönen bzw. der Schönheit funktional abgelöst. Einen Grund für diese ästhetische Umorientierung stellt sicherlich Spaldings Vergleich von ästhetischer Wahrnehmung (im engeren Sinne) und moralischer Empfindung dar: „So wenig es einem gesun370 Vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 170 [SE II, 3, S. 108] / Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 137; vgl. Shaftesbury, SE II,1, S. 84 [SE II,3, S. 196] /Spalding / Shaftesbury, Sitten-Lehrer, S. 69.
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den Auge möglich ist, in den ihm vorkommenden Figuren und Gestalten kein Schönes oder Häßliches wahrzunehmen; so wenig es einem gut beschaffenen Ohr möglich ist, von keinem Wohlklang oder Uebelklang an den Tönen gerühret zu werden, eben so wenig kann die Seele bey der sittlichen Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit, die in ihren Gesichtskreis gebracht wird, ohne Empfindung bleiben.“371 Spalding stellt eine strukturelle Analogie von ästhetischer Rezeption optischer und akustischer Phänomene auf der einen und der Wahrnehmung sittlicher Gehalte (Primärneigungen und Handlungen) auf der anderen Seite fest. Diese Äquivalenz besteht zum einen in der Notwendigkeit und Unverfügbarkeit der Wahrnehmung, die eine Näherbestimmung der Unmittelbarkeitsstruktur darstellt: Eine Enthaltung eines Wohlgefallens oder Missfallens, einer Lust oder Unlust ist nicht möglich und damit von einer bewussten Entscheidung unbetroffen.372 Dieselbe Immedialität des ästhetischen Urteils ist auch bei der moralischen Empfindung anzutreffen. Beziehen wir diese Betonung der Unmittelbarkeit zurück auf die oben analysierte Relation der moralischen Empfindung auf das spezifisch humane Vermögen allgemeiner Begriffe im Allgemeinen und den Begriff des Besten des übergeordneten Bezugssystems bzw. der Gattung im Besonderen, so ist verwunderlich, dass Spalding diese Spannung nicht eigens thematisch macht. Es kann daher nur vermutet werden, dass diese rational-begriffliche Vermitteltheit keinen eigenen Reflexionsakt innerhalb der moralischen Erkenntnisstruktur darstellt, sondern gleichsam als unbewusster Rückgriff auf stets im mentalen Hintergrund präsente Allgemeinbegriffe stattfindet. Zum anderen gründet die strukturelle Ähnlichkeit auf dem ästhetischen Element der moralischen Gehalte selber. Denn was Spalding hier als ‚sittliche Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit‘ bestimmt, stellt sich als Explikat des ‚schönen Verhältnisses‘ vom Zitat oben dar: Sittliche Empfindungsobjekte weisen Regelmäßigkeits bzw. Unregelmäßigkeitsstrukturen auf, wobei die Allgemeinbegriffe als Regel fungieren und die jeweiligen Neigungen bzw. Handlungen dieser Regel entsprechen können. Insofern diese in Relation zueinander stehen, kann Spalding auch von einem ‚schönen Verhältnis‘ sprechen. Hinsichtlich der lusttheoretischen Dimension des Empfindungsbegriffes bestätigt sich hier die obige Analyse. Während Spalding bei der optischen Wahrnehmung den genuin affekttheoretischen Begriff der Rührung verwendet, die auf Wohlgefallen resp. Lust basiert, kann er entsprechend bei der moralischen Wahrnehmung von Empfindung sprechen, insofern er diese ebenfalls mit Lust identifizieren kann. Damit ist auch eine begriffliche Nähe und Anschlussfähigkeit des Empfindungs‑ und des Neigungsbegriffes angelegt:373 Da eine Neigung 371 Spalding,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 176 [S. 8]. Bezugsstelle in der „Inquiry“ stellt sicherlich Shaftesbury, SE II,2, S. 68 [SE II,3, S. 61]/ Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 64 dar. 373 Der Terminus ‚Neigung‘ stellt in der Regel das Übersetzungsäquivalent zu Shaftesburys Terminus Affection dar. 372 Die
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auf einer Wahrnehmung eines möglichen Neigungsrelates beruht, verfügt sie über eine erkenntnistheoretische bzw. empfindungstheoretische Dimension; und insofern eine Empfindung ein Wohlgefallen bzw. eine Lust evoziert, verfügt sie über eine affekttheoretische Dimension. Genau diese Spannung zwischen unbewusst begrifflich vermittelter und affektiver Erkenntnisstruktur stellt denn auch den Grund für Spaldings Zustimmung zu dieser Rezeptionsstruktur dar: „Ist es nicht vortheilhaft, dass wir in dem, woran uns so viel gelegen ist, in dem, was unsere Bestimmung, und dasjenige, was wir seyn oder nicht seyn sollen, betrifft [scil. Tugend], dass wir darinne, sage ich, nicht dem mühsamen und langweiligen Wege der Vernunftschlüsse allein überlassen sind, sondern weit kürzer dahin geführet werden können [scil. durch die Empfindung]?“374 An dieser Stelle treten wir gleichsam ins Zentrum von Spaldings Shaftesburydeutung in dieser Vorrede, gibt er doch einen unmittelbaren Einblick in die Motive und Gründe dafür, warum er hier seinen Überlegungen zu Shaftesburys Empfindungsbegriffs so viel Raum gibt und auch, warum ihm er in seiner gut ein Jahr später entstehenden Bestimmungsschrift eine solch zentrale Rolle zuweist. Spalding stellt die Relevanz dieser Kategorie unter Inanspruchnahme des Bestimmungsbegriffes dar. Damit fällt zum ersten Mal – sieht man von der oben analysierten Verwendung des Bestimmungsterminus in den Übersetzungen ab – derjenige Terminus, der ein Jahr später prominent im Titel der Bestimmungsschrift wiederkehren wird und damit das organisierende Zentrum seiner eigenen moral‑ und religionsphilosophischen Überlegungen darstellt. Es wird ersichtlich, dass bereits sein Verständnis der „Inquiry“ von einer bestimmungslogischen Perspektive mitbestimmt, wenn nicht geleitet ist: Die Tugend wird als Sachverhalt thematisch, der die Bestimmung des Menschen betrifft, und sie weist sich gerade darin in ihrer Bedeutung für die humane Selbstdeutung aus. Mit der Phrase ‚woran uns so viel gelegen ist‘ nimmt Spalding implizit den Begriff der Angelegenheit wieder auf, der in der Übersetzung als Äquivalent zu den englischen Termini interest, concern und affair fungierte; dies wurde in der Analyse der Übersetzungen bereits dargestellt. Hier nun bekommt diese auf den ersten Blick nebensächliche Kategorie eine Begründungsfunktion für den Zusammenhang der Bestimmungsthematik und des Empfindungsbegriffs. Denn allererst die Qualifizierung der Frage nach der Bestimmung des Menschen als einer nicht nur theoretischen und wissenschaftlichen Frage des Fachphilosophen, sondern als einer solchen, die jeden Menschen betrifft, kann einsichtig machen, weshalb gerade die Empfindung die adäquate Erkenntnisform darstellt. Genau diese Valenz der Tugend für die Frage nach der Bestimmung des Menschen als einer allgemeinhumanen Problematik begründet Spaldings Insistieren auf die Unmittelbarkeit der einschlägigen Erkenntnisart. Die Empfindung stelle gegenüber den Vernunftschlüssen eine epistemologisch basale Rationalitätsform dar, 374 Spalding,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 177 [S. 9 f.].
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die jedem Menschen eigen ist und ihn befähigt, in dieser Frage unabhängig von hochstufigen Erkenntnisprozessen zu Antworten zu finden. Mit der expliziten Entgegensetzung von Empfindung und Vernunftschlüssen stellt sich Spaldings Favorisierung des Empfindungsbegriffes auch als eine Absetzbewegung vom wolffschen-wolffianischen Wissenschaftsideal der scientifisch-geometrischen Methode der Demonstration dar. Spalding beginnt hier die von Shaftesbury innerhalb der systemtheoretischen Universumskonzeption angelegten theoretischen bestimmungslogischen Überlegungen zu organologisch-teleologischen Ordnungsgesichtspunkten innerhalb des Tierreiches und der Stellung des Menschen innerhalb des Universums zu einer allgemein-menschlichen Ausgangsfrage auszubauen. Moral und Religion werden nicht autoritativ und normativ andemonstriert, sondern vielmehr als notwendige Funktionen des nach seiner Bestimmung fragenden Menschen ausgewiesen und damit plausibel gemacht. Es wird nicht nur in diesem Zitat, sondern bereits in den Eingangspassagen der Vorrede deutlich, dass Spalding zum einen seine Deutung von Shaftesburys Tugendkonzeption in einen anthropologischen Horizont einrückt und zum anderen auch die Rezeption des Lesepublikums durch diese Fokussierung steuern will. Denn es ist damit nicht nur ein systematisches Interesse verbunden, vielmehr knüpft Spalding schon pointiert am Anfang der Vorrede an das selbstverständliche und vorausgesetzte Interesse des virtuellen Lesers als Menschen an: „Wenn man so gut, wie Sie, die wahren Angelegenheiten des Menschen zu schätzen weiß; so kann einem dasjenige, wovon hier die Rede ist, unmöglich gleichgültig dünken. Was ist die Tugend? und was hat sie für Vortheil von der Religion? Das sind zwo Fragen, die uns schon so nahe angehen, daß sie unser Nachdenken erwecken können.“375 Es bekommen hier die Begriffe der ‚Angelegenheit‘ und des ‚angehens‘ die Funktion eines anschlussrationellen Ausweises des lebensweltlichen Interesses an den Themen Tugend und Religion und damit auch ihrer allgemeinhumanen Geltung: Tugend resp. moralische Empfindung und Religion werden als Sachverhalte nicht an sich selbst verständlich, sondern erst, wenn sie als ‚wahre Angelegenheiten‘ des nach sich selbst fragenden Menschen dargestellt werden können. Dieser Begründungszusammenhang von Bestimmungsfrage und Angelegenheitsbegriff auf der einen und Empfindungsbegriff als adäquatem Erkenntnismodus auf der anderen Seite motiviert in der Vorrede auch Spaldings differenzierte Rekonstruktion der psychischen und erkenntnistheoretischen Struktur der Empfindung: „Halten Sie das, was dabey [ scil. bei der moralischen Empfindung; G. R.] in Ihnen vorgehet, für ein wirkliches Urtheil der Seele nach Gründen, deren sie sich nur nicht deutlich bewusst ist; so müssen Sie von der Empfindung des Angenehmen und Widerlichen in der Musik eben das sagen. Diese augenblickliche Wahrnehmung in dem Gehör von dem Wohlklang oder Uebelklang 375 Ebd.,
S. 165 f. [S. 4].
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unterschiedener Töne ist alsdann auch ein wirkliches obgleich ohne Bewusstsein geschehenes Urtheil der Seele von der Proportion oder Disproportion der Anzahl der Zitterungen in der Luft. Da aber das letztere von keinen Vernunftschlüssen abhänget, und deswegen bey jedermann eine Empfindung heißet, so werden Sie auch mit gleichem Recht diesen Namen der moralischen Empfindung gönnen.“376 Mit der Formulierung ‚halten Sie das‘ deutet Spalding an, dass das nun Folgende sich erklärtermaßen nicht auf der bloßen Referatsebene bewegt, sondern dass er sich auf eine Interpretationsebene mit dem Ziel begibt, das Wesen der moralischen Empfindung und die Berechtigung der Verwendung dieses Begriffe dem Leser plausibel zu machen. Spalding liefert hier der Sache nach eine Begründung dafür, warum es möglich ist, die moralische Erfahrung eben als Empfindung zu bestimmen. Die Strategie ist wiederum die eines Vergleiches von moralischer Empfindung mit der musikalischen Wahrnehmung bzw. musikalisch-ästhetischen Urteilsstruktur. Mit dem Urteilsbegriff nimmt er eine erkenntnistheoretische Kategorie in Anspruch, die bei Shaftesbury selber keine wesentliche Rolle für den Begriff des Sense of Right and Wrong spielt. – Spaldings Gedankengang ist einigermaßen verschlungen und stellt sich zunächst folgendermaßen dar. Seine Rekonstruktion des Begriffs der moralischen Empfindung gründet auf der Feststellung, dass es sich hier um ein ‚Urteil der Seele nach nichtdeutlichen Gründen‘ handele. Diese für ihn nicht weiter zu begründende Evidenz stellt das argumentative Mittelglied dar: von einem solchen Urteil kann auch bei ästhetischen Wahrnehmungen, bspw. in der Musik, gesprochen werden. Die ästhetische Urteilsstruktur lässt sich nun weiter charakterisieren als eine solche, die nicht auf Vernunftschlüssen basiert. Die Grunddifferenz zu Vernunftschlüssen ist nicht inhaltlicher Natur, sondern besteht darin, dass Empfindungen im Gegensatz zu Vernunftschlüssen ‚viel kürzer‘ und nicht auf so ‚mühsamem und langweiligem Wege‘ generiert werden. Hier liegt der Grund, warum dieses Urteil auf einer Empfindung basieren muss. Von hier aus schließt nun Spalding auf die moralische Erfahrung: Wenn sie 1. wie die ästhetische Wahrnehmung als Urteil zu bestimmen ist und wenn 2. dieses Urteil wie beim ästhetischen Urteil nicht auf Vernunftschlüssen basiert, und wenn 3. ein solches nicht von Vernunftschlüssen abhängiges Urteil als Empfindung bestimmt wird, so kann endlich auch die moralische Erfahrung als Empfindung bezeichnet werden. Damit ist auch eine Erklärung gefunden für den Befund in der Analyse der Übersetzungen, dass nämlich Spalding sowohl Shaftesburys engl. Sense als auch andere Termini konsequent mit dem Empfindungsbegriff übersetzt. Wie sind nun das ästhetische Urteil und mithin auch das moralisch-ästhetische Urteil des näheren strukturiert? Der Sache nach bedeutet Urteil in diesem Sinne nicht die Verbindung zweier Begriffe bzw. eine begriffliche Subsumption eines Dinges bzw. Begriffes unter einen Allgemeinbegriff, sondern eben die qualitativ376 Ebd.,
S. 177 f. [S. 10 f.].
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ästhetische Beurteilung eines Dinges bzw. Sachverhaltes. Diese verfügt über eine komplexe Struktur. Zunächst bezieht sich die Wahrnehmung auf in sich mannigfaltige akustische, optische bzw. moralische Gehalte. An ihnen rezipiert sie sodann entweder Proportionalitätshinsichten, Übereinstimmungsrelationen oder deren Gegenteil. Im Falle moralischer Empfindungs-Urteile nun werden entweder Übereinstimmungen oder Nichtübereinstimmungen zwischen Neigungen bzw. Handlungen mit einem Begriff des Guten perzipiert. Dieses Urteil evoziert schließlich unmittelbar Wohlgefallen bzw. Missfallen, Lust bzw. Unlust. Damit kann im Blick auf die moralische Empfindung festgehalten werden, dass es sich keineswegs um eine bloße sinnesphysiologische Perzeption handelt – wie Spaldings wahrnehmungspsychologische Metaphorik bisweilen vermuten ließ (sehen, wahrnehmen) –, sondern vielmehr um eine komplexe und begrifflich vermittelte Beurteilungsstruktur. Hier findet Spalding nun eine Lösung für die oben angesprochene Spannung zwischen begrifflicher Vermittlung auf der einen und Unmittelbarkeit auf der anderen Seite. Die moralische Empfindung als Beurteilungskomplex stellt ein ‚wirkliches Urteil nach Gründen, deren sie sich nur nicht deutlich bewusst ist‘ und als ‚ein wirkliches obgleich ohne Bewusstsein geschehenes Urtheil der Seele‘ dar. Zum einen wird eine Differenz von Bewusstheit und Nicht-Bewusstheit eingezogen. Mit den Gründen kann nun nichts anderes gemeint sein als die benannten Übereinstimmungsrelationen zwischen Begriff des moralisch Guten und der jeweiligen Neigung bzw. neigungsevozierten Handlung, denn die Empfindung der Lust/Unlust stellt gleichsam die bewusste Seite des Urteils dar. Das moralische Urteil kommt also am Orte des urteilenden Subjektes aufgrund der Unbewusstheit des begrifflichen Urteilsgrundes und der Spontaneität als unmittelbares Urteil bzw. bloße Lustempfindung zu Bewusstsein. Zum anderen rückt Spalding den Sachverhalt des moralischen Empfindungsurteils grundsätzlich in eine psychologische Perspektive ein, wenn er von einem ‚Urteil der Seele‘ spricht. Die Begriffe Empfindung, Urteil, Lust, Bewusstheit etc. stellen sich für Spalding als psychologische Kategorien dar, womit er sie in einen systematischen und kategorialen Rahmen einstellt, der bei Shaftesbury selber keine Rolle spielt. Wir werden im folgenden Abschnitt (3.2.2) auf diese Beobachtung zurückkommen. Ein Problem stellt die Verwendung des Gefühls‑ und Geschmacksbegriffes dar, deren Verhältnisbestimmung zum Empfindungsbegriff wir uns nun widmen wollen. Zunächst zum Gefühlsbegriff: „Sie [scil. Seele] hat einmal ihren Sinn, der für diese Gegenstände gemacht ist, der das, was sich darinne schickt und nicht schickt, fühlet, und der sie dabei mit Bewunderung und Entzückung, oder mit Unlust und Abscheu erfüllet. Diese Wahrnehmung, dieses Gefühl des Anständigen, der Uebereinstimmung der Ordnung in den Neigungen gegen das allgemeine Beßte, dieß macht eigentlich tugendhaft;“377 Betrachtet man das Zitat 377 Ebd.,
S. 176 [S. 8 f.].
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in seinem Kontext, so stellt es eine weitere Explikation dessen dar, was unter einer moralischen Empfindung des näheren zu verstehen ist. Zunächst werden hier – wie bereits für das Empfindungsurteil allgemein festegestellt – auch die Begriffe des Sinnes und des Gefühls als Relate der Seele in einen psychologischen Theorierahmen gestellt. Die Seele habe einen spezifischen Sinn, der nicht für äußerlich-sinnliche, sondern für ethische Gehalte bestimmt ist, nämlich das ‚Gefühl des Anständigen‘. Fragt man, weshalb Spalding hier auf diese Begriffe zurückgreift, so können nur begründete Vermutungen angestellt werden. Der Empfindungsbegriff stellt für Spalding als Wolffianer eine allgemeine psychologische und erkenntnistheoretische Kategorie dar, der im Bereich der fünf Sinne jeweils diesen gemäß noch einmal spezifiziert werden kann: in Empfindungen des Geschmackssinnes, Gehörsinnes etc. Wurde nun die moralische Erfahrung von Spalding als Empfindung bestimmt, legt es sich für ihn nahe, auch in einer den fünf äußeren Sinnen analogen Weise einen zugrunde liegenden Sinn vorauszusetzen. – Warum nun an dieser Stelle gerade der Gefühlssinn in Anspruch genommen wird, kann nur durch einen Rückbezug auf unsere einschlägige Analyse der Übersetzungstexte eruiert werden. Dort hatten wir festgestellt, dass Spalding noch gewisse Ressentiments gegenüber dem Gefühlsbegriff hegte, indem er das engl. feel / feeling und sentiment in der Regel mit ‚Empfindung‘ übersetzte. Damit kann erst einmal festgehalten werden, dass von seinem relativen Vorbehalt gegenüber dem Gefühlsbegriff in der Vorrede zur „Inquiry“ nicht mehr die Rede ist und er in gewisser Weise die von ihm in der Übersetzung noch unterdrückte Terminologie in der vorliegenden Vorrede durchaus in Anspruch nimmt. Jedoch ist für die Aufklärung dieses Wandels gerade seine marginale Verwendung in den Übersetzungen erhellend. Vor allem die Übertragung des engl. sentiment mit der Phrase „gleichsam fühlen“378 und „geistliche Empfindung“379 gibt Einblick in die gedankliche Verarbeitung einer für Spalding zunächst noch problematisch anmutenden Bezeichnung einer ästhetischen bzw. moralischen Erfahrung mit dem ihm von Wolff her als Tastsinn bekannten Gefühlsbegriff: Nur in einer vergleichend-analogen Bedeutung kann die moralische Empfindung auch als Gefühl bezeichnet werden und nur insofern es nicht mit einem der fünf äußeren Sinne verwechselt, sondern als geistlicher Sinn begriffen wird.380 – Des weiteren hatten wir an zwei Stellen festgestellt, dass Spalding den Gefühlsbegriff in Anspruch nimmt, wo es sich vom englischen Original keineswegs unbedingt angeboten haben würde. Er übersetzt die englischen Termini Apprehension und Reflection mit 378 Spalding / Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 67; vgl. Shaftesbury, SE II,2, S. 70. 379 Ebd., S. 149; vgl. Shaftesbury, SE II, 2, S. 192. 380 Es wurde bereits oben auf Spaldings retrospektive Bewertung der „Inquiry“ in der Lebensbeschreibung hingewiesen, wo er statt des Begriffes der moralischen Empfindung den des ‚moralischen Gefühls‘ benutzt. Durch die „Inquiry“ wurde er zur Übersetzungstätigkeit angeregt, da ihn die „Grundsätze von dem moralischen Gefühl und von der uneigennützigen Tugend“ (Lebensbeschreibung, S. 124 [S. 17]) hingerissen hatten.
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
205
„Gefühl“381 bzw. „reflectiertem Gefühl“382 und signalisiert damit, dass die eher allgemeinen englischen Begriffe unter in Anspruchnahme des Gefühlsbegriffes zu spezifizieren seien. Das bedeutet für den Gefühlsbegriff zum einen, dass er von Spalding erst einmal grundsätzlich als ein Rezeptions‑ bzw. Erkenntnismodus verstanden wird. Dies wird im Zitat auch durch die explikative Funktion des Gefühlsbegriffes hinsichtlich des Wahrnehmungsbegriffes bestätigt. Zum anderen verfügt der Gefühlsbegriff über eine lusttheoretische Dimension, die in diesem Zitat deutlich wird. Das moralische Gefühl erzeugt ein Gefühl der Lust bzw. Unlust. Der Gefühlsbegriff bietet sich also aufgrund dieser wahrnehmungs‑ und lusttheoretischen Begriffsdimensionen als Spezifikation und als der jeweiligen Empfindung zugrunde liegender Sinn förmlich an. Denn Spalding hat – wie oben gezeigt – auch beim Empfindungsbegriff diese beiden Begriffshinsichten betont. – Dass Spalding in der Tat mit dem Gefühlsbegriff so etwas wie einen moralischen Sinn benennen will, erhellt auch aus den übrigen beiden Vorkommen des Begriffes: „[S]o ist bey einem ieden, der in dieser seiner Religion [scil. Religion mit einem unmoralischen Gottesbegriff; G. R.] kein Heuchler, sondern ihr aufrichtig zugethan ist, die Verderbung und Verkehrung des Gefühls von Recht und Unrecht unausbleiblich.“383 „Die Vorstellung von einer durchgängigen Unregelmäßigkeit und Verwirrung im Ganzen ist schwerlich geschickt, das Gefühl von der Ordnung in sittlichen Dingen zu erhalten.“384 Beide Stellen haben ihren Kontext in der Verhältnisbestimmung von Tugend und Religion, der hier nur insofern von Bedeutung ist, als die religiösen Umstände verhandelt werden, unter denen die Moralität gestützt bzw. korrumpiert wird. Durch diverse religiöse Vorstellungen könne das Gefühl von Recht und Unrecht erhalten oder verderbt werden. Insofern Spalding hier nicht den Empfindungsbegriff, sondern den Gefühlsbegriff verwendet, kommt er als eine Größe zu stehen, die nicht die je aktuale moralische Erkenntnis betrifft, sondern vielmehr eine Art vorausgesetztes Vermögen bzw. Einstellung bezeichnet. Wenn das Gefühl moralisch intakt oder verderbt ist, dann ist auch die moralische Empfindung dementsprechend verfasst. Diese hier versuchte Deutung kann – dies sei eingeräumt – über einen Vermutungsstatus nicht hinauskommen, da Spalding keine explizite Verhältnisbestimmung bzw. Abgrenzung beider Begriffe vornimmt. Eine ähnliche Unsicherheit besteht auch hinsichtlich Spaldings Verständnis des Geschmacksbegriffes, wie er auch im folgenden Zitat andeutet: „Nennen Sie es [scil. Moralische Empfindung; G. R.] übrigens wie Sie wollen, nennen Sie es moralischen Sinn, oder moralischen Geschmack, oder Gewissen, oder gar, wenn Sie 381 Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 86. – Das Wörterbuch von Ludivici übersetzt apprehension mit ‚Sinn, Witz, Verstand, Begriff, Sorge, Argwohn‘ (vgl. Ludovici, A dictionary English, German and French, S. 29). 382 Spalding/ Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, S. 149. 383 Spalding, Vorrede Tugenduntersuchung, S. 180 [S. 15]. 384 Ebd., S. 187 [S. 25].
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
dreist genug dazu sind, ein innerliches Licht; das alles gilt mir gleich.“385 Spalding nimmt hier wieder ausdrücklich die Interpretationsebene ein, indem er den Leser direkt anspricht und ihm verschiedene Deutungen vorstellt, wie die moralische Empfindung näher bestimmt werden kann. Zunächst kann angenommen werden, dass er mit diesen Bestimmungshinsichten bemüht ist, Anschlussrationalität zu diversen theologischen, religiösen und philosophischen Debatten herzustellen. In diesem Zusammenhang führt er auch den Geschmacksbegriff ein, auf den er im Folgenden der Vorrede mehrmals zurückgreifen wird. An dieser Stelle wird klar, dass Spalding explizit von einem ‚moralischen Geschmack‘ spricht, obwohl die englischen Termini taste, relish u.ä. in Shaftesburys „Inquiry“ und auch der deutsche Geschmacksbegriff in Spaldings Übersetzung keine Rolle spielt. Wir haben im Rahmen der Analyse der Übersetzungen zeigen können, dass der Geschmacksbegriff lediglich in den „Sitten-Lehrern“ vorkommt, auch hier jedoch niemals im ausdrücklichen Sinne eines moralischen Geschmackes oder Geschmacks des Guten/Rechten bzw. Bösen/Unrechten. Damit bestätigt sich die Beobachtung, dass Spalding hier nicht einfach Shaftesburyreferat vorträgt, sondern den Geschmacksbegriff als Interpretationskategorien bewusst verwendet. In welchem Sinne versteht nun Spalding diese Kategorie? Zum einen stellt er die Begriffe ‚moralischer Sinn‘ und ‚moralischer Geschmack‘ auf eine kategoriale Ebene, so dass der Geschmacksbegriff entweder eine Explikation oder einen Wechselbegriff zum Begriff des moralischen Sinnes darstellt. Damit kann Spalding neben dem Gefühlsbegriff auch den Geschmacksbegriff in der Bedeutung eines der moralischen Empfindung zugrunde liegenden Sinnes bzw. sinnähnlichen Vermögens verwenden. Zum anderen versieht Spalding den Geschmacksbegriff mit dem Epitheton ‚moralisch‘. Spalding unterscheidet also einen moralischen Geschmack von einem ästhetischen Geschmack im engeren Sinne. Dies bedeutet jedoch nicht, dass beide Geschmacksformen strukturell völlig verschieden sind, sondern vielmehr bietet sich der Geschmacksbegriff gerade aufgrund seiner ästhetischen Dimension als Wechselbegriff an. Die Funktion des Geschmacksbegriffes könnte also darin bestehen, die Analogie von ästhetischer und moralischer Erfahrung terminologisch zu erfassen. Denn auch die moralische Erfahrung verfügt über eine ästhetische Dimension, insofern auch das Gute und Rechte als eine Schönheit bestimmt werden kann: „Der ist weise, der diesen vortheilhaften Bewegungsgrund [scil. Bewusstsein der Vergeltung als Vereinigungsbedingung von Tugend und eigenem Besten; G. R.] so zu gebrauchen weiß, daß er seine Seele dabey nicht durch einen eingeschränkten Eigennutz erniedrigt, noch an der innern Schönheit des Rechts und des Guten den Geschmack verlieret.“386 Insofern das Gute und Rechte Schönheitsphänomene darstellen, kann die moralische Empfindung auch als Geschmack bestimmt werden. Im Gegensatz jedoch zur äußeren Schönheit 385 Ebd., 386 Ebd.,
S. 177 [S. 10]. S. 186 [S. 24 f.].
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
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sinnlich wahrnehmbarer Dinge stellt die moralische Schönheit eine innere und damit „ ‚edlere Schönheit[en]“387 dar. Darüber hinaus wird aus dem Zitat der Kontext klar, innerhalb dessen Spalding den Geschmacksbegriff verwendet, nämlich im Zusammenhang der Rekonstruktion des negativen und positiven Einflusses religiöser Einstellungen auf die Moralität. Insofern Spalding hier von den Modalitäten der Einübung, Reinerhaltung bzw. Verderbung der moralischen Empfindung handelt, kann Spalding den Geschmacksbegriff verwenden, der die Habitualisierungsdimension und deren Umstände namhaft macht.388 Auch der Geschmacksbegriff wird also von Spalding als ein der Empfindung zugrunde liegender Sinn bzw. Vermögen verstanden. Darin besteht folglich auch eine Analogie des Geschmacks‑ und Gefühlsbegriffs. Es stellt sich nun aber die Frage, aus welchem Grunde Spalding diese beiden Begriffe in einem scheinbar äquivalenten Sinne verwenden kann. Spalding äußert sich zu diesem Problem nirgends. Vermutlich bezieht er sich mit beiden Begriffen auf je verschiedene Hinsichten der moralischen Empfindung: mit dem Gefühlsbegriff auf die affektiv-lusttheoretische, mit dem Geschmacksbegriff auf die ästhetische Dimension. 3.2.2 Wolffsche und wolffianisch-metaphysische und poetologisch-ästhetische Implikationen des Empfindungsbegriffs Spaldings Vorrede zur „Inquiry“ hat – wie bereits einleitend gesagt – zunächst die Funktion, den Grundgedanken des Engländers in kurzen Strichen dem Leser vorzustellen. Schaut man sich nun die Terminologie im Zusammenhang des Empfindungsbegriffes genauer an, fällt auf, dass der Text über eine Tiefendimension verfügt, die darin besteht, dass Spalding in der Paraphrase Shaftesburys unvermittelt Kategorien gleichsam einschmuggelt, die nicht auf Shaftesbury selber, sondern vielmehr auf die wolffsche und wolffianisch geprägte Metaphysik, Poetologie und Ästhetik zurückgeführt werden müssen. Wir gehen im Folgenden die einschlägigen Zitate noch einmal durch, wodurch es sich begründet, dass Wiederholungen in Kauf genommen werden müssen. 387
Ebd., S. 193 [S. 35]. solcher rechtschaffener Theist, der an der Gottheit, die er anbetet, nichts anders findet, als was einer unendlichen Güte, und der wesentlichen unveränderlichen Ordnung und Richtigkeit gemäß ist, muß eben dadurch nothwendig seinen eigenen Geschmack von dem Guten und Bösen so viel reiner behalten, und für aller Verkehrung und Verderbung desselben so viel sicherer seyn.“ (Spalding, Vorrede Tugenduntersuchung, S. 181 f. [S. 17]). „Die Seele hat noch keinen Geschmack, kein innerliches Wohlgefallen an der Güte, an der Ordnung, an der Gerechtigkeit, wenn sie bloß aus Erwartung eines Privatvortheils gute, ordentliche und gesetzmäßiges Handlungen vollbringet ….“ (Ebd., S. 182 [S. 18]). „So viel fehlet ihm also schon, daß er seinen Geschmack an dem Schönen überhaupt nicht so sehr üben kann: und von diesem Mangel der Uebung wird gewiß auch der moralische Geschmack bald leiden. Die Vorstellung von einer durchgängigen Unregelmäßigkeit und Verwirrung im Ganzen ist schwerlich geschickt, das Gefühl von der Ordnung in sittlichen Dingen zu erhalten.“ (Ebd., S. 187 [S. 25].) 388 „Ein
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
„Halten Sie das, was dabey [ scil. moralische Empfindung; G. R.] in Ihnen vorgehet, für ein wirkliches Urteil der Seele nach Gründen, deren sie sich nur nicht deutlich bewusst sein; so müssen Sie von der Empfindung des Angenehmen und Widerlichen in der Musik eben das sagen. Diese augenblickliche Wahrnehmung in dem Gehör von dem Wohlklang oder Uebelklang unterschiedener Töne ist alsdann auch ein wirkliches obgleich ohne Bewusstsein geschehenes Urtheil der Seele von der Proportion oder Disproportion der Anzahl der Zitterungen in der Luft. Da aber das letztere von keinen Vernunftschlüssen abhänget, und deswegen bey jedermann eine Empfindung heißet, so werden Sie auch mit gleichem Recht diesen Namen der moralischen Empfindung gönnen.“389 Bereits von der Terminologie her stellen sich sowohl der Empfindungsbegriff, Urteilsbegriff, als auch der Begriff des Grundes, der Seele, des Angenehmen, des Bewusstseins und v. a. der Deutlichkeit bzw. Undeutlichkeit als Termini dar, die nicht ohne weiteres auf Shaftesburys Theoriesprache zurückgeführt werden können. Diese Feststellung plausibilisiert die Frage nach dem begrifflichkategorialen Hintergrund von Spaldings Shaftesbury-Hermeneutik. Unmittelbar bietet sich hier seine Prägung durch die Philosophie Christan Wollfs an. Daneben muss die Poetologie‑ und Ästhetikdebatte der 1730er und 40er Jahre Berücksichtigung finden und hier v. a. die Vertreter, die Spalding – wie bereits gezeigt werden konnte (vgl. I.2.2/4; II.1.1.2; 1.2) – bekannt gewesen sind: v. a. Johann Christoph Gottsched und Georg Friedrich Meier. Es können zunächst nur Beobachtungen notiert werden, die im folgenden III. Kapitel in den einschlägigen Debattenzusammenhang eingezeichnet werden sollen. Dort kommen dann auch die entsprechenden Referenztexte zur Sprache. Die Verwendung des Empfindungsbegriffes begründet Spalding zum ersten mit der Verwandtschaft der moralischen Erkenntnisstruktur mit der ästhetischen Erfahrung und ihrer Differenz zur Erkenntnis im Modus von Vernunftschlüssen. Damit bestimmt Spalding den Empfindungsbegriff implizit als eine erkenntnistheoretische Kategorie, die basaler strukturiert ist als Vernunftschlüsse. Beide Termini stellen Grundbegriffe der empirischen Psychologie Christian Wolffs dar, wobei in der in seiner Tradition stehenden Metaphysik, Psychologie und Poetologie sowie Ästhetik die Empfindung als poetisch-ästhetische Erkenntnisart rasant an Bedeutung gewann. Es liegt also die Vermutung nahe, dass Spaldings Inanspruchnahme des Empfindungsbegriffes als Übersetzungsäquivalent und Grundbegriff für seine Shaftesburydeutung in der Vorrede zur „Tugenduntersuchung“ auf seine Kenntnis dieser Kategorie durch seine Prägung durch Wolff und dessen Schüler zurückzuführen ist. Dies wird evident, bezieht man Spaldings Näherbestimmung der ästhetischen und moralischen Empfindungen ein: Eine Empfindung stelle zum zweiten ein ‚Urteil der Seele dar‘. Damit rückt Spalding den Empfindungsbegriff explizit in eine psychologische Perspektive, die bei 389 Ebd.,
S. 177 [S. 10 f.].
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
209
Shaftesbury keine Rolle spielt. Die Erwägungen über die Empfindung stellen also für Spalding – wissenschaftsystematisch gesprochen – psychologische Überlegungen dar, als welche er sie in der Wolffschen und wolffianischen Metaphysik kennengelernt hat. Der Übersetzer bringt die Empfindung auch mit dem Begriff des Urteils in Verbindung. Damit bezieht sich Spalding auf die urteilstheoretische Fassung des Empfindungsbegriffes, die in eben dieser Begriffsrelation auch in der metaphysischen und poetologischen Theorie des Schönen und des Geschmacks bei Gottsched anzutreffen ist: Eine Empfindung bezüglich ästhetischer Gehalte ist eine komplexe Beurteilungsstruktur. Der Urteilsbegriff war bei Wolff noch ganz im Bereich höherer Rationalität (Verstand und Vernunft im engeren Sinne) verortet und beginnt erst nach Wolff, innerhalb der benannten Theoriezusammenhänge an empfindungstheoretischer Valenz zu gewinnen. Empfindungsurteile basieren zum dritten auf nichtdeutlichen Gründen.390 Mit dem Begriff der Nichtdeutlichkeit nimmt Spalding die Wolffsche Differenzierungshinsicht von Erkenntnis in deutliche und nichtdeutliche (klare bzw. dunkle) auf. Empfindungserkenntnis stellt in dessen Metaphysik grundsätzlich nichtdeutliche Erkenntnis dar. Dieser nichtdeutliche Erkenntnismodus qua Empfindungen wird dann von Wolffs Schülern zur zentralen erkenntnistheoretischen Kategorie in poetologischer und ästhetischer Hinsicht aufgebaut.391 Die Intention Spaldings wird von hierher deutlicher: Seine Integration der Differenzhinsicht deutlich / nichtdeutlich bzw. klar in seine Shaftesburyinterpretation verdankt sich der Einsicht, dass zwischen dem ihm von Wolff und aus der Poetologie und Ästhetik bekannten Empfindungsbegriff und der moralischen Erkenntnis bei Shaftesbury eine strukturelle Äquivalenz besteht. Der Leser seiner Vorreden und Übersetzungen soll gleichsam Shaftesbury vor dem Hintergrund der wolffschenwolffianschen Schulphilosophie verstehen können. Vier weitere wolffsche-wolffianische Bedeutungshinsichten des Empfindungs begriffes können an folgendem Zitat namhaft gemacht werden: „So wenig es einem gesunden Auge möglich ist, in den ihm vorkommenden Figuren und Gestalten kein Schönes oder Häßliches wahrzunehmen, so wenig es einem gut beschaffenen Ohr möglich ist, von keinem Wohlklang oder Uebelklang in den Tönen gerühret zu werden, eben so wenig kann die Seele bey der sittlichen 390 Das Insistieren auf die Qualität der Empfindungen als sinnliche, undeutliche bzw. klare wird auch noch in der 28 Jahre jüngeren Nutzbarkeitsschrift deutlich: „Undeutliche Vorstellungen, die eine sinnliche Klarheit haben, wircken am meisten und allgemeinsten, weil sie Empfindungen erregen, und wenn man dieß mit der Redensart meinet, daß christliche Beßerung öfter von dem Herzen, als von dem Verstande, anfange, so bin ich völlig damit einig, obgleich doch auch immer Erkenntniß dabey zum Grunde liegen muß, sie sey nun eingehüllt und mit Dunckelheit umgeben, als sie wolle.“ (Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes, S. 202 [S. b 182].) 391 Die Unterscheidung von Klarheit und Deutlichkeit (clare et distincte) stammt nicht erst von Wolff, sondern geht in dieser Bedeutung auf Leibniz zurück, der gegen die cartesianische Theorie des clare et distincte eine Art erkenntnistheoretische Stufentheorie entwickelt (vgl. dazu Leibniz, Meditationes, S. 25–47; vgl. Buchenau, Sinnlichkeit als Erkenntnis, v. a. S. 203).
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit, die in ihren Gesichtspunkt gebracht wird, ohne Empfindung bleiben. Sie hat einmal ihren Sinn, der für diese Gegenstände gemacht ist, der das, was sich darinne schickt und nicht schickt, fühlet, und der sie dabey mit Bewunderung und Entzückung, oder mit Lust und Abscheu erfüllet.“392 Der moralischen Empfindung wird fünftens ein Sinn zugrunde gelegt, womit er psychologisch näher bestimmt wird. Der Begriff des Sinnes kann natürlich nicht nur für die deutsche Schulphilosophie reklamiert werden, sondern stellt auch bei Shaftesbury eine Zentralkategorie dar. Wie wir aber bereits gezeigt haben, nimmt Spalding den Sinnbegriff in der Übersetzung in der Regel nicht als deutsches Äquivalent zum Sense-Begriff in Anspruch. Auch hier kann wiederum grundsätzlich auf Wolffs Empfindungsbegriff verwiesen werden, denn jeder Empfindung korreliert bei ihm ein bestimmter Sinn: optischen Empfindungen der Gesichts-Sinn, akustischen Empfindungen der Gehör-Sinn etc. Jedoch spricht Wolff nicht von einem ästhetischen oder moralischen Sinn. Für diese Hinsicht des Sinnbegriffes kann jedoch die Linie Gottsched – Meier und auch Alexander Gottlieb Baumgarten in Erwägung gezogen werden, der wir uns im III. Kapitel widmen. Die moralische Empfindung verfügt sechstens über eine lusttheoretische Dimension, indem mit ihr der Begleitreflex einer Lust oder Unlust einhergeht. Sowohl bei Wolff als auch dann in der poetologisch-ästhetischen Theoriebildung spielt der Lustbegriff als emotives Korrelat zur Empfindungserkenntnis eine zentrale Rolle. Der Vorzug von Empfindungen vor Vernunftschlüssen verdankt sich siebentens bei Spalding auch der Einsicht – und dies hängt mit der Lustdimension zusammen –, dass diese im Gegensatz zu jenen nicht nur das Erkenntnisvermögen, sondern das ganze Gemüt und damit auch das Begehrungsvermögen mitbestimmen und sich damit bereits von ihren inneren Konstitutionsbedingungen als moralisch valent erweisen. Der Begriff der ‚Bewunderung‘ steht hier gleichsam als Statthalter für den Zusammenhang von Empfindung als Erkenntnisstruktur und Begehrungsvermögen. Ein Indiz für diese Interpretation bietet Spaldings Verwendung des Begriffs der Rührung, der die affektiv-motivationale Seite der Empfindung moralischer Schönheit und Vollkommenheit thematisch macht: „Können nun blosse Beschäftigungen des Verstandes, die mit so schönen Gegenständen zu thun haben, schon die Seele auf eine so angenehme Weise bewegen; wie viel rührender muß denn die Schönheit, die Vollkommenheit, die Regelmäßigkeit seyn, daran das Herz Theil nimmt!“393 Bereits in Wolffs Metaphysik resp. empirischer Psychologie stellt der Empfindungsbegriff einen Brückenbegriff zwischen Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen dar, insofern ihm auch im Kontext des unteren Begehrungsvermögens eine Funk392 Spalding, 393 Ebd.,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 176 [S. 8 f.]. S. 190 [S. 31].
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
211
tion zukommt. Der Begriff der Bewunderung, der Bewegung, der Rührung und des Herzens als Evozienten der ästhetischen Empfindung spielen dann in Georg Friedrich Meiers Theorie der schönen Künste eine zentrale Rolle. Nur so viel sei schon hier angedeutet. Meier verhandelt innerhalb des Kapitels „Vom sinlichen Leben der Gedanken“394 die strukturelle Verkoppelung der sinnlichästhetischen Erkenntnis mit dem zweiten Seelenvermögen, dem Begehrungsvermögen: Erkenntnis wahrer Schönheit impliziert eine Affektion des Begehrungsvermögens. – Wie ist dies in Hinblick auf Spaldings ja bereits als moralisch qualifizierte Empfindung zu verstehen? Es scheint trivial zu sein, dass moralische Empfindungen in Beziehung zum Begehrungsvermögen stehen. Dies ist es aber gemäß der ethiktheoretischen Grunddifferenz von ethischer Begründungs bzw. Erkenntnisebene und Durchsetzungs‑ bzw. Motivationsebene nicht. Moralische Vorstellungen müssen nicht zwangsläufig am Orte des Erkenntnissubjektes eine moralische Aneignung der Erkenntnisgehalte bewirken, sondern können ganz im Rationalen verbleiben. Die Erkenntnis dessen, was gut ist, hat nicht per se zur Konsequenz, dass dies auch subjektiv angeeignet und praktisch umgesetzt wird. Gerade aber die moralische Empfindung als basaler Erkenntnismodus ethischer Bonität – so Spaldings implizite These – weist im Gegensatz zu subtilen Demonstrationen eine Applikations‑ und Motivationsstruktur auf. Darin besteht ihr struktureller Vorteil gegenüber den Vernunftschlüssen, die zwar deutliche Erkenntnis generieren, der aber kein Lustaffekt und demgemäß auch keine Rührung korrelieren müssen. Hier wird auch achtens das Motiv für Spaldings Referenz auf den Begriff der Schönheit deutlich, der in der „Inquiry“ keine große Rolle spielt. Rührung und Bewunderung kann nur nichtdeutliche Erkenntnis qua Empfindung evozieren, die sich in der Poetik und Ästhetik bei Gottsched und Meier immer an sinnlichen Vollkommenheits‑ resp. Schönheitsphänomenen aufbaut. Schönheit – so die Grundthese – stelle eine sinnliche Vollkommenheit dar. Um also die Rührungsdimension der moralischen Empfindung stark machen zu können, richtet Spalding den Fokus viel schärfer auf den Vergleich mit der ästhetischen Erfahrung und damit auf den Schönheitsaspekt als Shaftesbury dies in der „Inquiry“ tut. Damit hängt schließlich Spaldings Verwendung des Geschmacksbegriff zusammen: „Nennen Sie es [scil. moralische Empfindung; G. R.] übrigens, wie Sie wollen, nennen Sie es moralischen Sinn, oder moralischen Geschmack […]“395 Während bei Wolff der Geschmacksbegriff noch ganz dem äußeren Geschmackssinn vorbehalten bleibt, stellt er dann eine Zentralkategorie der Poetologie Gottscheds und der Ästhetik Meiers dar: Der Geschmack fungiert als die Fähigkeit, qua Empfindungen Schönheit bzw. sinnliche Vollkommenheit wahrzunehmen und beurteilen zu können (vgl. III. Kapitel). 394 Vgl.
Meier, Anfangsgründe, Bd. 1, §§ 178–212, S. 420–505. Vorrede Tugenduntersuchung, S. 177 [S. 10].
395 Spalding,
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Spalding Rekonstruktionsbestimmungen von Shaftesburys Moral-SenseTheorem können folgendermaßen zusammengefasst werden: Moralische Empfindungen, die sich auf einen Sinn, des Genaueren auf den Geschmack gründen, stellen als klare-undeutliche Empfindungen strukturell unmittelbare Urteile der Seele dar. Ihnen korrespondiert ein Gefühl der Lust oder Unlust, welches sinnlichen bzw. ästhetischen Vollkommenheits‑ bzw. Schönheitsphänomenen entspringt und zugleich aber auch das Begehrungsvermögen affiziert und damit ein moralisch-praktisches Motivationsmoment darstellt. Was wird hier deutlich? Die auffällige Prominenz wolffscher und wolffianisch geprägter poetologischer und ästhetischer Theoriebegriffe bedeutet in materialer Perspektive, dass für die intellektuelle Entwicklung Spaldings nicht einfach von einem Übergang vom Wolffianismus zum Shaftesburyanismus gesprochen werden kann. Vielmehr muss hier der Einfluss von Wolffs Metaphysik sowie des poetologischen und ästhetischen Diskurses auf Spalding viel stärker mitberücksichtigt werden als dies bis dato in der Spaldingforschung geschah. Aus diesem Grunde wird im folgenden Kapitel die Entwicklung des Empfindungsbegriffs von Wolff über Gottsched bis Alexander Gottlieb Baumgarten rekonstruiert, insofern sie für unser Spaldingverständnis relevant ist (vgl. III.). 3.2.3 Das Verhältnis von Moralität und Religion Auf den Seiten 11–27 widmet sich Spaldings Abriss relativ ausführlich Shaftesburys Verhältnisbestimmung von Moralität und Religion. Hier sollen drei Aspekte besonders ins Auge gefasst werden. Zum einen soll allgemein Spaldings Stellung zu Shaftesburys Funktionsbestimmung der Religion für die Moralität rekonstruiert werden. Zum zweiten muss speziell Spaldings Haltung gegenüber Shaftesburys ambivalenter Einstellung zum Gedanken einer jenseitigen Belohnung und Bestrafung analysiert werden, die ja bereits in der Vorrede zu den Moralists eine Rolle gespielt hat. Zum dritten soll Spaldings Begriff des Deismus thematisiert werden. Zunächst wird jedoch in einer ersten Annäherung Spaldings allgemeine Bewertung von Shaftesburys Konzeption zu erörtern sein, vor deren Hintergrund allererst Spaldings Akzeptanz einzelner Theoreme plausibel gemacht werden kann. Am Übergang zum folgenden Abschnitt in der Vorrede, der Erörterung von Shaftesburys Verhältnisbestimmung von Moralität und Glückseligkeit (vgl. II.3.2.4), äußert sich Spalding wieder in direkter Anrede des Brieflesers in Reflexion auf das Vorherige folgendermaßen: „Ich habe Ihnen bisher, mein Herr, die Grundsätze des Grafen Schaftesbury von der Tugend und von ihrer Verknüpfung mit der Religion vorgelegt, und ich glaubte, dass dieß zulänglich seyn würde, Sie von den Vorzügen seines Lehrbegriffs zu überzeugen.“396 Spalding stimmt also grundsätzlich Shaftesburys Konzeption zu. Er nimmt aus 396 Ebd.,
S. 188 [S. 27].
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dem vielschichtigen Gedankenkomplex Shaftesburys keine einzelnen Elemente aus und schließt sich implizit eben auch der abwägenden Bewertung der Funktion des Vergeltungsgedankens an. Wie bereits einleitend gezeigt wurde, hatte Spalding im Abschlussstatement das Theorem der Gottähnlichkeit innerhalb des in Frage stehenden Themenkomplexes in besonderer Weise gewürdigt. Daher werden wir mit unserer Analyse auch hier einsetzen: Den hauptsächlichen positiven Einfluss der Religion auf die moralische Empfindung und Abwehrmittel gegen jedweden negativen Einfluss auf dieselbe will Spalding zum einen in die „freywillige Nachahmung setzen, die aus der Erkenntniß von der innern Würde, Schönheit und Fürtrefflichkeit der göttlichen Eigenschaften entstehet; lassen Sie den Menschen begierig werden, diesem höchsten und unendlich liebenswürdigen Fürbild der allgemeinen Güte in seinem Maasse ähnlich zu werden“397. Damit schließt sich Spalding enthusiasmiert an Shaftesburys Aufnahme des platonisch-platonistischen Motives der Homoiosis to theo an. Während Spalding wie selbstverständlich diese antike Idee von Shaftesbury aufnimmt, kann die anthropologische Sprengkraft dieses Vorgangs schwerlich überbewertet werden. Mit dem Rekurs auf das Gottverähnlichungstheorem findet hier in der Vorrede zur „Inquiry“ erstmals im Oeuvre Spaldings so etwas wie eine implizite Ermäßigung der lutherischen Erbsündenanthropologie statt, die Spalding in der Bestimmungsschrift wieder aufgreifen wird (vgl. V.6 f.). Auch das Homoiosis-theo-Motiv wird er dort in sein Religionskonzept integrieren (vgl. V.8.1). Sodann widmet sich Spalding erneut dem Vergeltungsgedanken, wobei sich grundsätzlich das Bild bestätigt, welches wir anhand der Vorrede von 1744 gewonnen haben. „Man sieht insbesondere auf die zukünftigen Belohnungen und Strafen nach diesem Leben, wenn von dem Einfluss der Religion in die Tugend die Frage ist, und dieser Punkt verdienet also, für sich überlegt zu werden.“398 Nach Shaftesbury seien sowohl Hoffnung als auch Furcht auf den eigenen Vorteil gerichtet und stehen damit der wahren Tugend und Religion entgegen, nämlich „das Gute deswegen, weil es gut ist, und Gott um sein selbst zu lieben, welches doch ohne Widerspruch, das Wesen einer wahren Rechtschaffenheit und Frömmigkeit ausmacht“399. Der sich selbst einschränkende und auf „himmlische Glückseligkeit“ hoffende Mensch sei weder moralisch noch fromm, denn er handele nur „klug, und nicht eigentlich tugendhaft“400. Dieser Einsicht Shaftesburys stimmt Spalding zu. Dann aber verlangt er vom Leser, Shaftesburys Konzept nicht auf diesen kritischen Aspekt zu reduzieren: „Aber hüten Sie sich, mein Herr, dass Sie nicht hieraus dem Glauben von einem zukünftigen Leben allen wahren und wichtigen Nutzen absprechen. Ich wollte nicht gerne, dass Sie mit 397 Ebd.,
S. 182 [S. 18 f.]. S. 184 [S. 20 f.]. 399 Ebd., S. 184 [S. 21]. 400 Ebd. 398 Ebd.,
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II. Spaldings Shaftesburyrezeption
einem solchen Urtheil die Grundsätze des Schaftesbury sowol, als die Religion beleidigten.“401 Nicht nur die äußere gesellschaftliche Ordnung profitiere vom Glauben jenseitiger Vergeltung, sondern auch die „innerliche Tugend“402. Die beiden Funktionen des Vergeltungsglaubens erblickt Spalding in folgendem. Die erste bestehe darin, dass der Vergeltungsglauben die Tugend zwar nicht konstituieren kann, aber zur Wirkung bzw. zur Durchsetzung gegen widerstreitende Leidenschaften verhelfen und somit „das Gemüth zur Ruhe“403 bringen könne. Die andere Funktion sei die, nicht nur gegen untugendhafte Affekte die Tugend zu stärken, sondern der Tugend entgegenstehende Meinungen zu konterkarieren. Die „leidende Tugend“ könne beim Anblick des diesseitigen Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit zur Meinung verleiten, „als ob Rechtschaffenheit in diesem Leben unser Elend veranlasse“404. Diese Meinung kann nichts besser hindern „als die Erwartung einer Welt, wo die genaueste Erstattung geschehen, und die hier leidende Tugend vollkommen schadlos gehalten werden soll […] Überhaupt hat die zu erwartende Vergeltung den grossen Nutzen, dass sie uns die Tugend und unser eigenes Bestes in einer augenscheinlichen Vereinigung darstellet, und alles hinweg räumet, was eine Feindschaft zwischen beiden beweisen und dadurch die Liebe zur Ordnung schwächen könnte“405. Das Ziel besteht darin, „nach und nach zu einer gewissen Fertigkeit in der Ausübung der Tugend gelangen, welche es uns hernach endlich so viel leichter macht, sie um ihrer selbst willen zu lieben“406; diese bedeute aber nicht einen grundsätzlichen Funktionsverlust des Vergeltungsglaubens, sondern beide seien in ein Perfektibilitätskonzept integriert. Spalding meldet also an keiner Stelle Bedenken gegenüber des so verstandenen Vergeltungstheorems Shaftesburys an. Die leise Kritik, die er noch in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ im Blick auf eine Passage in Shaftesburys „Miscelleanous Reflections“ geäußert hatte, scheinen hier von Shaftesbury in der „Inquiry“ für Spalding aus der Welt geräumt zu sein. Auch in Hinblick auf Schollmeiers Interpretation, dass bei Shaftesbury die Tugend nicht unbedingt die Religion inkl. Vergeltungsglauben fordere407, ist in dieser Schärfe jedenfalls im Hinblick auf Spaldings Shaftesburydeutung nicht plausibel, wenn er am Ende des Abschnittes in der Vorrede zum Komplex Tugend – Religion schlussfolgert, dass „wer da weiß, dass er unfehlbar das eigene Beste mit der Tugend, wo nicht in dieser, doch wenigstens in einer zukünftigen Welt, nach dem genauesten Verhältniß verbindet, wo der größte Vortheil darin bestehen wird, dass man alsdann 401 Ebd.,
S. 185 [S. 22].
403 Ebd.,
S. 185 [S. 23].
402 Ebd. 404 Ebd.
405 Ebd.,
S. 185 f. [S. 23 f.]. S. 186 [S. 24]. 407 Vgl. Schollmeier, Johann Joachim Spalding, S. 155. 406 Ebd.,
3. Die Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen
215
das unmittelbare Vergnügen der Rechtschaffenheit und der Güte weit reiner und ungestörter geniessen kann; kurz, wer eine richtige Religion hat, der muß in seinem moralischen Werth und seiner Glückseligkeit unendlich viel dabey gewinnen“408. Und schließlich: „Ich denke nicht, mein Herr, dass Sie für dieses Wort [scil. Theismus; G. R.] erschrecken werden. Es ist eine Dreistigkeit, deren Befugniß ich nicht begreife, dass eine gewisse Gattung von Leuten, die da sagen, dass sie die natürliche Religion annehmen, ob sie gleich nichts von einer Offenbarung gläuben könnten, sich den Nahmen: Deist, vorzüglich angemasset haben, da doch derselbe ganz eigentlich einen ieden, der eine höchste Gottheit verehret, bezeichnet, und bloß der Gottesverleugnung gerade zu entgegen gesetzt ist.“409 Zunächst einmal kritisiert der Übersetzer wie bereits in der Vorrede von 1744 den Deismus (als Bewegung) – die Deisten seien „Feinde der geoffenbarten Religion“410 – und zwar hier speziell dessen begriffliche Vereinnahmung des Deismusbegriffes. Während mit diesem eigentlich jeder Verehrer einer höchsten Gottheit bezeichnet sein sollte, restringiere diese Partei den Terminus ausschließlich auf eine nicht auf Offenbarung beruhende Gottesverehrung, also auf die natürliche Religion. Vor diesem Hintergrund nimmt Spalding positiv auf Shaftesburys Umbenennung dessen, was eigentlich der Deismus-Begriff begreifen sollte, Bezug. Der Lord spreche von Theismus bzw. Theisten in einem solchen Sinne, welcher grundsätzlich keinen Gottesverehrer ausschließt. Damit wird zum einen deutlich, dass Spalding die Bewegung des Deismus als eine Theorie natürlicher Religion in einer strikten Entgegensetzung zu jedweder Offenbarungsreligion versteht. Ganz abgesehen von der Frage, ob diese Deismusdeutung den klassischen Entwürfen eines Herbert v. Cherbury, John Toland oder Matthew Tindal entspricht, wird zum zweiten deutlich, dass Spalding Shaftesburys Theismuskonzeption und positiven Religionsbegriff nicht als eine Theorie einer natürlichen Religion versteht, sondern die Extension des Begriffes weiter fasst und auch für alle möglichen geoffenbarten Gottesbegriffe (im shaftesburyianischen Sinne) zutreffend verstanden wissen möchte. Denjenigen könne man allgemein einen „Theisten nennen, der ein vollkommenes höchstes Wesen glaubt“411. 3.2.4 Der glückstheoretische Fokus Wie schon in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“, nimmt sich Spalding auch wieder in der 1747er Vorrede der Verhältnisbestimmung von Tugend‑ und Glücksbegriff an. Die Notwendigkeit, diese Relation zu thematisieren, verdankt sich bei Spalding der Einsicht in den Konnex von Tugendpflicht und Glücksstre408 Spalding, 409 Ebd.,
Vorrede Tugenduntersuchung, S. 187 f. [S. 26 f.]. S. 181 [S. 16].
411 Ebd.,
S. 181 [S. 17].
410 Ebd.
216
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
ben auf der Durchsetzungsebene der Moralität. „Ein Sittenlehrer, der die Tugend einzig und allein auf die Neigung gegen das Ganze, gegen die Gesellschaft und das allgemeine Beste gründet, prediget der Eigenliebe etwas nicht gar Angenehmes. Ist dann nicht die Tugend gerade die Zerstörerin unserer Glückseligkeit, wenn sie uns befielet, unsere eigenen Vortheile anderen aufzuopfern?“412 Von Shaftesburys Tugendbegriff könne sich – so Spalding – leicht ein möglicher Antagonismus zum menschlichen Glückseligkeitsstreben ergeben. Dieses mögliche Missverständnis räumt Shaftesbury nach Spaldings Deutung jedoch nicht nur aus, sondern stellt die Glückseligkeit in ein regelrechtes Bedingungsverhältnis zur Tugend: „Sie leidet nicht allein das Vergnügen; sondern sie, und eben sie allein, verschaffet es auch am reinesten, am gründlichsten und beständigsten“413. Wahre – d. h. reine und beständige – Glückseligkeit und Tugendhaftigkeit koinzidieren also. Glückseligkeit konstituiert sich auf Vergnügen, welches sich differenziert in leibliches und geistiges Vergnügen, welch letzteres für die Glückseligkeit den Ausschlag gibt: „Unter dem Vergnügen des Geistes und des Leibes, worauf nothwendig alle Glückseligkeit ankommen muß, hat ohne Zweifel das erstere den Vorzug.“414 Mit dem Begriff des Vergnügens, der bei Shaftesbury und Spalding synonym mit Lust verwendet wird415, wird also die Glückstheorie lusttheoretisch begründet: Lust und Vergnügen generieren Glückseligkeit. Wenn nun Glück und Tugend koinzidieren und Glück durch das Vergnügen/Lust des Geistes begründet wird, so folgt daraus, dass der Geist Vergnügen/Lust an der Tugend haben muß. Es stellt sich die Frage, was an der Tugend das Gefühl der Lust generiert? Es ist „die Schönheit, die Vollkommenheit, die Regelmäßigkeit, daran das Herz teil nimmt. Und dieß zeiget sich in den Neigungen der Güte und der Tugend“416. Damit verfügt auch das Glück vermittels des Schönheitsmomentes moralischer Phänomene über eine ästhetische Dimension.
4. Zusammenfassung Damit können die Ergebnisse der Analyse der biographisch-bildungsgeschichtlichen Hintergründe der frühen Shaftesburyrezeption Spaldings sowie seiner Shaftesburyübersetzungen und deren Vorreden zusammengetragen werden. Die heiße Phase von Spaldings früher Shaftesburyrezeption fiel in die Jahre zwischen 1741/42 bis 1747, beginnend mit dem Erlernen des Englischen und einmündend in die zweite Shaftesburyübersetzung. Ohne schon die Frage nach seiner Shaftesburydeutung und der kritischen Adaption ganzer Denkmodelle 412 Ebd.,
S. 188 [S. 27 f.]. S. 188 [S. 28]. 414 Ebd., S. 189 [S. 30]. 415 Ebd., S. 190 f. [S. 30]. 416 Ebd., S. 190 f. [S. 31]. 413 Ebd.,
4. Zusammenfassung
217
sowie einzelner Theoreme in den Einleitungen der Übersetzungen und späterhin in der Bestimmungsschrift zu stellen, lag der Fokus der Analyse auf der Rekonstruktion der literarischen Kommunikationskulturen und sozialen Milieus, innerhalb derer Spaldings Shaftesburyinteresse motiviert, rezeptionspolitisch stabilisiert und freundschaftlich getragen wurde. Hierbei konnten zwei Phasen unterschieden werden, an deren jeweiligem Ende als Ergebnis Spaldings Übersetzungen standen. Die 1. Phase reicht von Spaldings zwei Publikationen in den Leipziger „Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ bis zur Veröffentlichung der „Sitten-Lehrer“ 1745. Der Kontakt zum Gottschedschen Literaturbetrieb Leipzigs brachte ihm nicht nur erste Anerkennung und Würdigung seiner literarischen Leistung von prominenter Seite und ermöglichte ihm nicht nur die Beschäftigung mit moralistisch-anthropologischen und literaturkritischen Themen. Vielmehr ist der junge Literat im Gefolge seiner Beschäftigung mit der Poetologie Gottscheds und Baumgartens, die Spaldings 1744er Aufsatz widerspiegelt, auch unweigerlich auf Gottscheds Shaftesburyrezeption gestoßen. Ob Spaldings Shaftesburyinteresse dadurch nur bestärkt oder allererst geweckt wurde, ist aus den Quellen nicht zu eruieren. Die Analyse der Aufsätze von 1742 und 1744 hat jedenfalls gezeigt, dass mit einer Shaftesburylektüre Spaldings erst um bzw. nach 1742 zu rechnen ist. Er lernt das Englische und übersetzt Shaftesburys „Moralists“, die 1745 bei Haude in Berlin erscheinen, also einem Verleger, der über seine Mitgliedschaft in der Gesellschaft der Alethophilen ebenfalls Kontakt zu den Leipzigern hatte. Im Blick auf die shaftesburyanischen Einflüsse auf die Bestimmungsschrift ist hier zunächst festzuhalten, dass Spalding über Gottscheds Shaftesburyrezeption auch Kenntnis vom „Soliloquy“ und den „Miscellaneous Reflections“ bekommen haben könnte, was im Blick auf die literarische Gestalt und die Anlage der Bestimmungsschrift bedeutsam ist (vgl. IV.1; V.2). Vielleicht hätte es Spalding bei dieser Übersetzung bewenden lassen, wenn ihn nicht sein beruflicher Wechsel nach Berlin in freundschaftlichen Kontakt mit dem dortigen Anakreontikerkreis um Gleim gebracht hätte. In persönlichem Verkehr und brieflichen Korrespondenzen erlebt Spalding reges Interesse an seiner Shaftesbury-Übersetzung, und die Freunde bewegen ihn zur Fortsetzung dieses Unternehmens. Aus den Briefen klingt ein regelrechtes Shaftesburyfiber, das sowohl Spalding als auch seine Gesinnungsgenossen in ihren Übersetzungsvorhaben bestärkte. Die Befruchtung ist eine gegenseitige. Pünktlich zu Spaldings Weggang aus der preußischen Metropole liegt die „Inquiry“ im Deutschen aus seiner Feder zur Publikation bereit, wiederum beim Verlag Haudes, der nicht nur dem alethophilen Zirkel, sondern auch v. a. über Gleim dem Anakreontikerkreise verbunden war und seinerseits das Shaftesbury-Projekt verlagspolitisch förderte. Dass die beiden Shaftesburyübersetzungen Spaldings nicht nur „Abfallprodukte“ seiner Shaftesburylektüren sind, sondern verdienen, als primäre Dokumente seiner Deutung des englischen Philosophen gewürdigt zu werden, konnte
218
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
die detaillierte wie exemplarische Analyse zweier zentraler Begriffsfelder zeigen. Die Analyse des Empfindungs‑ und Geschmacksbegriffes als Übersetzungsäquivalente verschiedenster englischer Termini hat gezeigt, dass beide Begriffe eine integrative Funktion haben und verschiedenste Aspekte, die Shafestbury seinerseits mit diversen Termini bezeichnet, in sich vereinigen. Spalding geht dabei jedoch nicht willkürlich vor, sondern sein Verfahren konnte auf seine philosophische und die damit korrelierende begrifflich-terminologische Prägung durch die Philosophie Wolffs und auch poetologisch-ästhetischen Debatten seiner Zeit zurückgeführt werden, ohne dass diese Referenztheorien bereits dargestellt werden mussten (vgl. dazu ausführlich das III. Kapitel). Zwei Aspekte sind festzuhalten: Der Empfindungsbegriff als gebräuchlichstes Äquivalent zum englischen Sense-Begriff nimmt zum ersten die Bedeutung von Shaftesburys Feel-Begriff auf und verfügt damit über eine urteilstheoretische Dimension. Damit rückt der Gefühlsterminus für Spalding in den Hintergrund. Zudem hebt Spalding den Geschmacksbegriff auf eine von seinem Verständnis des Empfindungsbegriffes freigewordene vermögenstheoretische Bedeutungsebene. Ein formal ähnliches Bild ergibt sich für den Bestimmungsbegriff. Grundsätzlich zeigt sich an Spaldings Subsumption unterschiedlichster englischer Termini unter das deutsche Äquivalent des Bestimmungsterminus eine signifikante Präferenz dieses Begriffsausdrucks. Spalding differenziert den Begriff in zwei prinzipielle Hinsichten aus, indem er sowohl von einer begrifflichen Bestimmung-als-etwas sowie von einer Bestimmung-zu-etwas sprechen kann. Auf der letzteren begriffskategorialen Ebene bewegen sich die meisten Vorkommen des Terminus, so dass darauf auch unser Hauptaugenmerk lag. Innerhalb dieser teleologischen Bestimmungsstruktur ließen sich nun folgende Bedeutungsdimensionen namhaft machen. Zum ersten eröffnete sich Spalding eine allgemeine naturtheoretische Bedeutung im Kontext von Shaftesburys systemtheoretischer Ontologie und Affekttheorie. Die Natur von Wesenheiten kann sich demnach grundsätzlich ausdifferenzieren in die Duplizität von natürlicher Konstitution und natürlicher Bestimmung, die ihrerseits ihren realen Grund in der Konstitution hat. Die Natur einer Entität steht damit immer in der Spannung von Anlage und Bestimmung, von Faktizität und Kontrafaktizität resp. Normativität. Diese Struktur wird expliziert auf der Gattungsebene: Jedes Wesen kann vermittelst seiner spezifischen Konstitution unter ein System identisch konstituierter Wesen, die eine Gattung repräsentieren, subsumiert werden. Der prinzipielle Gattungsbezug besteht auf der Ebene von Lebewesen – also auch des Menschen – in der Bestimmung zur Sozialität. Damit wiederholt sich auf der Ebene der Gattung, was sich basal als naturtheoretische Duplizität hat bestimmen lassen. Die Begriffe der ‚Angelegenheit‘ und des ‚angehens‘ stehen gleichsam zwischen Anlage und Bestimmung und bezeichnen ein gattungseigenes bzw. subjektives Interesse an der Verwirklichung der Bestimmung auf der Basis der Konstitution bzw. Einrichtung. – Zum zweiten realisiert sich diese natürliche Bestimmung zur
4. Zusammenfassung
219
Sozialität am Orte des Menschen als moralische Bestimmung zur Tugend. Diese Struktur kann auch darin ihren Ausdruck finden, dass nicht der Mensch als solcher, sondern seine Grundeinstellung bzw. sein Grundaffekt als Statthalter seines ethischen Wesens über diese Bestimmung zum Guten bzw. zur Tugend fungiert. Als Bestimmung zur Tugend kann sie sich nur verwirklichen als freie Aneignung der Soll-Bestimmung bzw. als Akt der Selbst-Bestimmung. Aufgrund dieses Freiheitsmomentes verschärft sich das Kontrafaktizitätsmoment der Soll-Bestimmung am Orte des Menschen noch einmal gegenüber anderen Entitäten. – Zum dritten steht diese Bestimmung zur Tugend ihrerseits in einem teleologischen Verweisungszusammenhang. Mit ihr ist nämlich der Mensch noch nicht am Ziel seiner Wesensverwirklichung. Vielmehr hat sie eine Mittelfunktion zur eigentlichen Bestimmung des Menschen, nämlich zu seiner Glückseligkeit, die sich affektiv als wahre Lust und beständiges Vergnügen mitteilt. Damit verfügt die Bestimmung des Menschen über eine stufige Iterationsstruktur, die ihre beiden Stufen prinzipiell in der Bestimmung zur Tugend und in der Bestimmung zur Glückseligkeit haben. Mit dem Gedanken der dauernden Glückseligkeit kommt der Aspekt der Unsterblichkeit ins Visier der bestimmungslogischen Glücksreflexion. – Zum vierten konnte in theologisch-dogmatischer Hinsicht darauf verwiesen werden, dass sich der Bestimmungsbegriff als anthropologische und ethische Reflexionskategorie kritisch an die Lehrstücke der Prädestination und Vorsehungslehre anschließen und sie wesentlich transformieren. Es kann von einer gleichzeitigen Brechung und Beerbung gesprochen werden. Der Bestimmungsbegriff stellt sich aus dieser Perspektive potentiell als ein naturtheoretisch gewandeltes und glückstheoretisch reduziertes Surrogat und damit als ein geeigneter aufklärungstheologischer Übernahmekandidat schöpfungs‑ und vorsehungstheologischer, gnaden‑ und prädestinationstheologischer Anthropologeme dar. Nicht mehr die Prädestination Einzelner zur ewigen Seligkeit und auch nicht mehr die wundergewirkte Providenz Gottes in Geschichte und Biographie, sondern die Bestimmung aller Menschen zur ewigen Glückseligkeit und die Vorsehung zu dieser Bestimmung durch die besondere gattungsspezifische Natur des Menschen stehen nun als anthropologische Ideen mit dem Bestimmungsbegriff der Shaftesburyübersetzungen der folgenden Begriffs‑ und Sprachbildung zur Verfügung. Damit hängt auch die Frage zusammen, inwieweit der Bestimmungsbegriff die religiöse Frage nach dem Woher bzw. nach einer Bestimmungsinstanz aufruft. Sowohl die Normativitätstruktur als auch die Instantiierung der Natur als Bestimmungsgrund verfügen über einen solchen Fragehorizont. Dass dieser für Spalding durchaus dann in der Bestimmungsschrift und überdies die hier erörterten Begriffsmomente allgemein eine Rolle für seine Begrifflichkeit in dieser Schrift gespielt haben, soll mit dem Zitat des Schlusses dieser Schrift angedeutet werden, wobei eine Auswertung dem Kapitel zur Bestimmungsschrift vorbehalten bleibt (vgl. V.3; 8.1): „[D]aß ich also einmal nach einer völligen Befreiung von
220
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
den Torheiten sowohl als den Plagen dieses Lebens mich auf ewig mit der Quelle der Vollkommenheiten vereinigen, die ganze Wollust richtiger Neigungen unvermischt und ungestört genießen und also das große Ziel desto mehr erreichen werde, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, nämlich rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu sein.“417 Die Untersuchung der Vorreden haben das Bild, das die Begriffsanalyse ergeben hat, insofern bestätigt, als auch hier u. a. die Begriffe der Empfindung, des Gefühls und des Geschmacks sowie der Bestimmung und des Glücks einen breiten Raum einnehmen. Im Blick auf Spaldings Verständnis von Shaftesburys Moral-Sense-Theorem konnte zunächst gezeigt werden, dass die empfindungstheoretische Fassung des Tugendbegriffs Spaldings prinzipielle Zustimmung erfährt. Favorisiert er in der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ als Relat der Empfindung noch die Vollkommenheit, so tritt in der Einleitung zur „Untersuchung der Tugend“ die ästhetische Qualität moralischer Phänomene an deren Stelle. Der ästhetische Vorbehalt in der 1744er Vorrede wird aufgrund der strukturellen Analogie ästhetischer und moralischer Gegenstände aufgegeben, die sowohl im Unmittelbarkeitscharakter als auch in der gemeinsamen urteils‑ und lusttheoretischen Dimension begründet ist. Demgemäß diskutiert Spalding in der 1747er Vorrede auch die vermögenstheoretische Relevanz des Geschmacks‑ und Gefühlsbegriffs. Zudem erörtert Spalding in diesem Text die reflexive Doppelstruktur sowie die begrifflich-rationale Grundlage der moralischen Empfindung. Mit seinem Verweis auf die Seele als Ort ästhetischer und moralischer Empfindungsurteile stellt er seine Rekonstruktion von Shaftesburys Tugendkonzept in denjenigen wissenschaftssystematischen Deutehorizont ein, der auch erkennen lässt, dass Spaldings diesbezügliche Shaftesburyinterpretation auf einer von Christian Wolff und wolffianisch geprägten poetologisch-ästhetischen Debatte der 1730er und 1740er Jahre in Deutschland gründenden Begrifflichkeit und Terminologie basiert, die ihre metaphysische Grundlage in Wolffs Psychologie hat. Ein gesonderter erneuter Durchgang konnte deutlich machen, dass Spalding sowohl psychologische als auch erkenntnis-, urteils‑ und lusttheoretische Begriffmomente wie auch die Unterscheidung deutlicher und nichtdeutlicher Erkenntnis in seine Lektüre von Shaftesburys Empfindungsbegriff einfließen lässt, die allesamt auf die genannte Theorietradition verweisen. Dies konnte vorerst nur benannt werden, um im folgenden III. Kapitel begründet zu werden. Als von besonderer Wichtigkeit erwies sich Spaldings Begründung der Valenz des Empfindungsbegriffes. Diese gründe auf seiner unmittelbar-affektiven Erkenntnisstruktur, die sie im Blick auf die existentiell angelegentliche Grundfrage des Menschen nach seiner Bestimmung als geeignetsten epistemologischen Modus empfiehlt. Damit ist hier erstmals der Bestimmungsbegriff als Leitgesichts417 Spalding,
BdM, S. 24 f. [S. 26].
4. Zusammenfassung
221
punkt ins anthropologische Spiel gebracht sowie dessen Verhältnisbestimmung zum Empfindungsbegriff skizziert (vgl. zur Bestimmungsschrift: V.3; 5). In Spaldings Darstellung des Religionskonzeptes in den „Moralists“ und der „Inquiry“ ließen sich drei zentrale Themen ausmachen. Es wurde zunächst deutlich, dass Spalding in beiden Vorreden Shaftesbury als Vertreter des Deismus zur Kenntnis nimmt. Seine Rezeption dieser religionsphilosophischen Epochenbewegung ist insofern spezifisch, als sich Spalding nicht der weit verbreiteten Deismusschelte anschließt, die ihm durch seine Vorliebe für Journale und Zeitschriften durchaus nicht unbekannt geblieben sein konnte418. Er entwickelt vielmehr einen positiven Begriff von Deismus, unter den er denn auch Shaftesbury verrechnet. Wahrer Deismus zeichne sich durch den Begriff einer natürlichen Religion aus, welcher sich auf der Idee einer jenseitigen Vergeltung und den Begriff eines extramundanen Gottes begründet, der den Zweck der Welt als seiner Schöpfung durch die Zweckmäßigkeit der Natur und seiner Vorsehung realisiert. In eins mit dem Begriff der ‚besten Classe der Deisten‘ steht Spalding also auch dem Konzept der natürlichen Religion positiv gegenüber. Problematisch an diesem sind ausschließlich ihr Selbstgenügsamkeitspathos und die daraus resultierende Kritik am Offenbarungsbegriff. Für Spaldings Verhältnisbestimmung von natürlich-vernünftiger Religion und Offenbarungsglauben kann von den wenigen Bemerkungen jedenfalls so viel gesagt werden, dass sich beide Konzeptionen prinzipiell nicht ausschließen. An den Ausführungen zum Vergeltungsglauben ließ sich darüber hinaus in der 1744er Vorrede ablesen, dass die Offenbarung strukturell für die moralische Motivationsebene relevant ist. – Im Blick auf die Geschichte der deutschen Shaftesburyrezeption in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellen Spaldings Vorreden mithin ein Zeugnis einer sich ins Positive wendenden Entwicklung dar. Dehrmanns These, „Spaldings Neuansatz findet seinen Ausdruck in den Vorreden der Übersetzungen“, kann voll und ganz zugestimmt werden. „In den Vorworten legt Spalding den Grundstein für die Rehabilitierung des bewunderten Engländers.“419 Mit diesen Texten beginnt Spaldings Unternehmen, Shaftesbury als fruchtbaren Diskussionsteilnehmer für eine kritische wie konstruktive Auseinandersetzung um Fragen der natürlichen Religion, Anthropologie und Ethik zu rehabilitieren und zu etablieren, das in der Bestimmungsschrift einen programmatischen wie systematischen Niederschlag finden wird und zugleich die Shaftesburyrezeption befruchtet hat, die durch Spaldings Übersetzungen und seine hermeneutischen Weichenstellungen einen ungeheuren Aufwind erlebte. Das zweite betrifft Spaldings vieldiskutierte Stellung zu Shaftesburys Verständnis des Unsterblichkeits‑ und in eins damit des Vergeltungsgedankens. Im Gegensatz zur herrschenden Forschungsmeinung konnte gezeigt werden, dass 418 Vgl. 419 Vgl.
Voigt, Deismus. Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 130; 132.
222
II. Spaldings Shaftesburyrezeption
Spalding sowohl Shaftesburys Invektiven wie auch seine relative Würdigung dieses Theologumenons in ethischer Absicht zur Kenntnis nimmt und den Vorwurf von dem verfemten Philosophen abwehrt, er leugne den religiösen und moralischen Wert jedweder Form jenseitiger Vergeltung. Wenn auch der Glaube an eine Vergeltung in tugendkonstitutiver Hinsicht moralisch problematisch sei, so kann sie doch im Blick auf die Stabilisierung und Motivation zur Tugend durchaus ihren Zweck erfüllen. Es ist sicherlich bereits im Blick auf Spaldings Relektüre von Shaftesburys einschlägigem Grundgedanken in der Vorrede zur Übersetzung der „Inquiry“ zutreffend, was Albrecht Beutel erst bezüglich der Bestimmungsschrift – jedoch ohne Rekurs auf Shaftesbury – in Erwägung zieht; dass nämlich der so gefasste Unsterblichkeitsgedanke bereits in die Richtung von Kants Unsterblichkeitspostulat weist420. Hier konnte gleichsam in der anderen Blickrichtung erwiesen werden, dass die Unsterblichkeitskonzeption Spaldings in den Einleitungen wie auch dann in der Bestimmungsschrift (vgl. V.8.3) bildungsgeschichtlich und ideengeschichtlich stärker in Shaftesburys Philosophie wurzelt als bisher angenommen. Sodann konnte drittens an Spaldings Bezugnahme auf Shaftesburys Adaption des platonisch-platonistischen Homoiosis-theo-Motivs gezeigt werden, dass seine Shaftesburyrezeption auch dogmatischen Sprengstoff bereit hielt, der mehr oder weniger direkt sowohl die Anthropologie inkl. Erbsündenlehre wie auch Grundstrukturen der lutherischen Soteriologie betraf. Spalding übernimmt den Gedanken der Gottverähnlichung dann in seiner Bestimmungsschrift (vgl. V.8.1) und erschließt der protestantischen Theologie eine Traditionslinie antiker und christlicher Anthropologie, die mit Augustin für das Mittelalter und mit Luthers Reformation für das Luthertum abgedrängt bis abgebrochen war. Schließlich widmet der Übersetzer weite Passagen der 1747er Vorrede glückstheoretischen Erörterungen: Wahres Glück – so die Grundthese – bestehe im Vergnügen an fremder und eigener Tugend. Damit schließt sich Spalding im Modus seiner einleitenden Zusammenfassung Shaftesbury an, der in beiden Schriften mit der Glücksthematik ein virulentes Grundproblem der zeitgenössischen Debatten421 angesprochen und auf seine Art gelöst hatte. Spaldings Sensibilität für das Glücksproblem betrifft nichts weniger als seine Beantwortung der Frage, wie Tugend und Religion dem Menschen plausibel gemacht werden können, und zwar jenseits autoritativer Normativität. Auch diesen Faden wird Spalding in der Bestimmungsschrift aufnehmen, wenn er dort Tugend, Religion und Unsterblichkeitshoffnung als allein mögliche Realisationsgestalten menschlicher Bestimmung zur Glückseligkeit plausibel zu machen versucht. (vgl. v. a. V.4).
420 Vgl.
Beutel, Johann Joachim Spalding, S. 213. dazu den instruktiven Aufsatz von Grunert, Objektivität des Glücks. – Im Blick auf Spalding vgl. Barth, Theologia naturalis, S. 167 ff. 421 Vgl.
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes als Signatur der poetologisch-ästhetischen Debatten vor 1750 Die Analyse der Übersetzungen und Vorreden hat zeigen können, dass Spaldings Shaftesburyrezeption terminologisch und begrifflich von seiner Prägung durch Christian Wolff sowie die poetologisch-ästhetischen Konzepte Gottscheds, Baumgartens und Meiers mitbestimmt war (vgl. II.3.2.2). Dies betraf in erster Linie den Empfindungsbegriff. Da dieser nicht nur in seiner Shaftesburydeutung, sondern auch in der Bestimmungsschrift eine zentrale psychologische und erkenntnistheoretische Kategorie darstellt, ist es notwendig, in diesem Kapitel deren begriffsgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten und die komplexe Genese dieses Begriffes zu rekonstruieren. Denn erst so kann mit relativer methodischer Sicherheit eruiert werden, welche Begriffsmomente auf Shaftesbury bzw. auf Wolff und die genannten Autoren zurückzuführen sind. Auch wenn diese Frage allererst durch die Analyse der Übersetzungen und Vorreden virulent wurde, soll diese ausdrücklich nicht nur in Hinblick auf Spaldings Implementierung Wolffscher und poetologisch-ästhetischer Begriffsmomente in seine Interpretation von Shaftesburys Empfindungsbegriff beantwortet werden. Vielmehr ist es in Perspektive auf die Bestimmungsschrift notwendig, ein umfassendes Bild der zeitgenössischen Empfindungsdebatten in Deutschland zu rekonstruieren. Denn erst vermittels dieser Rekonstruktion kann die Frage beantwortet werden, ob der Empfindungsbegriff in der Bestimmungsschrift ausschließlich auf Spaldings einschlägig geprägte Shaftesburydeutung zurückzuführen ist oder aber ein weitaus komplexeres Gebilde darstellt (vgl. V.5). Wir verfahren dabei so, dass primär solche Autoren in unsere Analyse einbezogen werden, die Spalding kannte. Wir werden über diese rezeptionsgeschichtliche Perspektive hinaus auch eine rein begriffsgeschichtliche Hinsicht nicht vernachlässigen können, um Spaldings Beitrag zur Empfindungsdebatte erst richtig einschätzen zu können. In einem ersten Abschnitt wird als Hintergrundfolie der Empfindungsbegriff Christian Wolffs v. a. in der Deutschen Metaphysik von 1720 in seinen Grundzügen skizziert, der den relativen Ausgangspunkt der folgenden Begriffsgeschichte darstellt (1.). Wolffs Demonstrationsmethode gerät bereits im unmittelbaren Schulzusammenhang ins Visier der Kritik, die unmittelbare und mittelbare Konsequenzen für die Konjunktur des Empfindungsbegriffs zeitigte (2.).
224
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
Der Empfindungsbegriff hat dann im Kontext der Geschmackstheorien an erkenntnistheoretischem und ästhetischem Gewicht gewonnen (3.). Im Anschluss an die Analyse von Johann Ulrich Königs Konzept (3.1), an der man sich in der Folgezeit abarbeitete, wird Johann Christoph Gottscheds Beitrag zum Empfindungsdiskurs zu erörtern sein (3.2). Neben seinem „Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ von 1729/30, in der der Empfindungsbegriff in seiner Valenz für die ästhetische Schöpfung und Rezeption Bedeutung gewinnt, soll dann Gottscheds Metaphysiklehrbuch von 1733/34 „Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit“ analysiert werden, die noch vor Alexander Gottlieb Baumgartens „Metaphysica“ von 1739, Georg Friedrich Meiers „Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften“ von 1748 und Baumgartens „Aesthetica“ von 1750 eine metaphysische Begründung eines ästhetischen Empfindungs‑ und Geschmackskonzeptes initiiert hat. Schließlich werden die letztgenannten Autoren zu ihrem wissenschaftssystematischen Beitrag zum Problemkomplex befragt (4.).
1. Der Ausgangspunkt: Theoriedimensionen des Empfindungsbegriffs bei Christian Wolff Der Empfindungsbegriff hat in Christian Wolffs Wissenschaftssystem seinen hauptsächlichen systematischen Ort in der Metaphysik, genauer in der Psychologie, sowohl in der empirischen als auch in der rationalen, und hier jeweils im Zusammenhang dessen, was Wolffs Schüler später als untere Erkenntnisvermögen bezeichneten. Im Folgenden kann und soll auch nicht ansatzweise eine umfassende Interpretation des Wolffschen Empfindungsbegriffes erfolgen. Unsere Perspektive richtet sich auch nicht auf die Begriffsgeschichte vor Wolff, sondern vielmehr sollen diejenigen Begriffselemente rekonstruiert werden, die für Spaldings Empfindungsbegriff von Bedeutung sind. Derjenige psychische Sachverhalt, der in Wolff Psychologie als basalste Form seelisch-bewussten Lebens zu stehen kommt, ist das Gedenken bzw. der Gedanke. „§.194. Ich habe schon oben (§ 45.) erinnert, was das erste ich, so wir von unserer Seele wahrnehmen, wenn wir auf sie acht haben, nehmlich daß wir uns vieler Dinge ausser uns bewußt sind. Indem dieses geschiehet, sagen wir, daß wir gedencken, und nennen demnach die Gedancken Veränderungen der Seele, deren sie sich bewußt ist (§ 2.c.I.Log). Hingegen wenn wir uns nichts bewußt sind, als z.E. im Schlafe, oder auch wohl zuweilen im Wachen es davor halten, pflegen wir zu sagen, daß wir nicht gedencken.“1 Das Gedankentheorem integriert alle Bewusstseinsformen sowohl der unteren als auch der oberen Erkenntnis‑ und 1 Wolff,
Deutsche Metaphysik, § 194, S. 108.
1. Der Ausgangspunkt
225
Begehrungsvermögen. Von der Empfindung bis zur Demonstration, vom Affekt bis zur Willensbestimmung hat das Bewusstsein es mit Gedanken zu tun. Die Frage ist nun, welche Art von Gedanken die Empfindungen darstellen. Dazu ist eine Rekonstruktionsskizze der drei Differenzierungshinsichten innerhalb des Gedankenbegriffs unabdingbar. Die erste Unterscheidung betrifft die Relationen des Bewusstseins: Es kann sich auf Dinge außerhalb der Seele und innerhalb der Seele beziehen. „§.196. Wir finden aber einen Unterscheid unter den Gedanken, wenn wir von Dingen ausser uns und in uns gedencken […].“2 Die zweite Differenzierung betrifft die qualitative Stufigkeit der Gedanken: Gedanken können dunkel, klar und deutlich sein3. Dunkelheit stellt epistemologisch die niedrigste Stufe dar. Sie ist von fehlender Unterscheidbarkeit des Gedankens von je andren Gedanken gekennzeichnet4. Aus dunklen Gedanken werden klare Gedanken, wenn der Gedanke von einem anderen Gedanken unterschieden werden kann. „§.201. Also entsteht die Klarheit aus der Bemerckung des Unterscheides im mannigfaltigen; die Dunckelheit aber aus dem Mangel dieser Bemerckung.“5 Der Überschritt zur Deutlichkeit kann nun durch den Unterschied von bloßer Bemerkung und bestimmter Bemerkung erläutert werden. „§.206. Unterweilen geschiehet es, daß wir den Unterscheid dessen, was wir gedenken, bestimmen, und also auch auf Erfordern ihn anderen sagen können. Und alsdenn sind unsere Gedancken deutlich.“6 Wenn der im klaren Gedanken bemerkte Unterschied zu andren Gedanken auch bestimmt und d. h. mitgeteilt werden kann, ist der Grad der Deutlichkeit erreicht. Dieser ist nun unendlich steigerbar insofern, als die Bestimmungselemente jeweils wieder konkret bestimmt werden können7. Wie verhalten sich nun Klarheit und Deutlichkeit zueinander? Beide Grade stehen in einem um je eine Stelle verschobenen Verhältnis: „§.211. Es erhellet hieraus zugleich, daß die Klarheit immer einen Grad tiefer herunter kommet als die Deutlichkeit. Der erste Grad der Klarheit hat keine Deutlichkeit (§.198, 206); mit dem anderen Grade der Klarheit fänget sich der erste Grad der Deutlichkeit an (§.207), und so weiter fort.“8 Gedanken können also nicht nur entweder klar oder deutlich sein, sondern sowohl klare als auch deutliche Momente in
2 Ebd.,
§ 196, S. 109. ebd., §§ 198–215, S. 110–120. – Die Unterscheidung von Klarheit und Deutlichkeit (clare et distincte) stammt nicht erst von Wolff, sondern geht in dieser Bedeutung auf Leibniz zurück, der gegen die cartesianische Theorie des clare et distincte eine erkenntnistheoretische Stufentheorie entwickelte (vgl. dazu Leibniz, Meditationes). 4 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 199, S. 111. 5 Ebd., § 201, S. 112. – Als Beispiel eines undeutlich-klaren Gedankens wählt er die Unterscheidung von Farben, die eben nicht begrifflich bestimmt werden kann (vg. § 214, S. 119). 6 Ebd., § 206, S. 114 f. 7 Vgl. ebd., § 210, S. 117 f. 8 Ebd., § 211, S. 118. – Als Beispiel dient Wolff die Näherbestimmung von Dreiecken (vgl. § 207 f., S. 115 f.) und von Tugenden (§ 210, S. 117 f.). 3 Vgl.
226
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
sich schließen. Dunkelheit, Klarheit und Dunkelheit stellen demgemäß keine Gedankentypen dar, sondern Qualitätsmomente von Gedanken dar. Wenn in deutlichen Gedanken auch klare Elemente anzutreffen sind, wie steht es dann mit dunklen Momenten innerhalb klarer bzw. gar deutlicher Gedanken? „§.213. Hingegen, wenn bey denen Dingen insgesamt keine Klarheit ist, daran wir auf einmahl gedencken; so können wir gar nichts von einander unterscheiden (§.198.), und ist bey dem gantzen Gedancken, der sich auf alles erstrecket, darauf wir auf einmahl gedencken, weder Klarheit noch Deutlichkeit. Und also sind wir in dem Zustande dunckeler Gedancken.“9 Hier ist ausschließlich von der Dunkelheit und Klarheit des Gedankens als ganzem die Rede, weshalb darauf geschlossen werden kann, dass innerhalb klarer und deutlicher Gedanken von Dingen auch (klare und) dunkle Elemente statthaben können. Neben diesen relationslogischen und qualitätslogischen Differenzkriterien unterscheidet sich der Gedanke – drittens – noch in zwei anderen Hinsichten aus: „§.216. Es stellen mir aber meine Gedanken entweder gegenwärtige, oder abwesende Dinge, und dieselben entweder ausser mir, oder in mir vor.“10 Danach ergibt sich folgendes Quadrupel der Gedanken-Systematik, in die dann noch die Triplizität von Dunkelheit, Klarheit und Deutlichkeit eingetragen werden muss, so dass sich ein 12er-Schema ergibt: in uns Gedanken in uns gegenwärtiger Dinge (1. dunkel, 2. klar oder 3. deutlich)
Gedanken in uns nicht gegenwärtiger Dinge (4. dunkel, 5. klar oder 6. deutlich)
gegenwärtig
nicht gegenwärtig
Gedanken außer uns gegenwärtiger Dinge (7. dunkel, 8. klar oder 9. deutlich)
Gedanken außer uns nicht gegenwärtiger Dinge (10. dunkel, 11. klar oder 12. deutlich)
außer uns Diese grundlegende Gedanken‑ bzw. Bewusstseinstheorie eröffnet nun die für uns zentrale Frage, wo für Wolff innerhalb dieses 12er-Schemas die Empfindungen ihren systematischen Ort haben. Wenn Empfindungen Gedanken‑ bzw. Bewusstheitscharakter haben, dann kann schon soviel gesagt werden: Empfindungen sind mit Bewusstsein begleitete Veränderungen in der Seele. Die §§ 217–219 stellen Übergangsparagraphen dar, die die Gedanken gegenwärtiger Dinge ausser uns thematisieren und damit § 220 vorbereiten: „§.220. Die Gedan 9 Ebd., 10 Ebd.,
§ 213, S. 119. § 216, S. 120.
1. Der Ausgangspunkt
227
cken, welche den Grund in den Veränderungen an den Gliedmassen unseres Leibes haben, und von den cörperlichen Dingen ausser ans veranlasset werden, pflegen wir Empfindungen, und das Vermögen zu empfinden die Sinnen; die Gliedmaßen aber, darinnen sich diese Veränderungen ereignen, die Gliedmassen der Sinnen zu nennen.“11 Empfindungen stellen also diejenige Klasse von Gedanken dar, die wir im Schema im unteren linken Quadrupel verortet haben. Empfindungen sind also reduziert auf gegenwärtig und äußerlich mit den äußeren Sinnen (Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl) rezipierbare Entitäten. Nun stellt sich die weitere Frage, ob die Empfindungen alle Qualitätsgrade/ ‑elemente – also der Dunkelheit, Klarheit und Deutlichkeit – erfüllen. Einen ersten Hinweis gibt § 224, der hinsichtlich von Empfindungen ausschließlich von Graden der Klarheit spricht, Deutlichkeit jedoch nicht ausdrücklich ausschließt. Eine klare Zuordnung lässt sich erst im Zusammenhang des Übergangs zu den oberen Erkenntnisvermögen ableiten. Das Vermögen der Allgemeinbegriffe bzw. des Verstandes generiert allererst deutliche Erkenntnis: „§.276. So bald wir von einem Dinge deutliche Gedancken oder Begriffe haben; so verstehen wir es. Und dasjenige ist verständlich, was wir deutlich erkennen können. […] §.277. Das Vermögen das Mögliche deutlich vorzustellen ist der Verstand. Und hierinnen ist der Verstand von den Sinnen und der Einbildungs=Kraft unterschieden, daß, wo diese allein sind, die Vorstellungen nur höchstens klar, aber nicht deutlich seyn; hingegen wo der Verstand dazu kommet, dieselben deutlich werden.“12 Das Merkmal der Deutlichkeit und damit der höchste Erkenntnisgrad ist also bei Wolff allererst auf der Stufe der Allgemeinbegriffe bzw. des Verstandesvermögens erreicht. Empfindungen und Einbildungen stellen nur undeutliche „blosse Erkäntniß“13 dar. Problematisch sind die Aussagen sowohl in der empirischen14 als auch in der rationalen Psychologie15, wo im Zusammenhang von Empfindungen von Deutlichkeit gesprochen wird. Dies ist so zu verstehen, dass selbstverständlich zu den Empfindungen die allgemeine Begriffsbildung hinzukommt bzw. vorausgesetzt werden kann. Insofern liefern die Empfindungen den Stoff der höheren Verstandeserkenntnis. Dennoch darf nicht vernachlässigt werden, dass bei Wolff bereits auf der Ebene der blossen Empfindungen als von einem „Typ von Erkenntnis“16 gesprochen werden kann. Der Empfindungsbegriff schillert also zwischen einer bloßen Rezeptivitätskategorie auf der einen Seite – vergleichbar mit Kants Sinnlichkeitstheorem – und einem basalen und hinsichtlich des Deutlichkeitskriteriums defizitären Erkenntnismodus auf der
11 Ebd.,
§ 220, S. 122. § 276, S. 152 f. 13 Ebd., § 276, S. 153. 14 Vgl. bspw. ebd., §§ 233f, S. 130. 15 Vgl. bspw. ebd., §§ 822–831, S. 510–514. 16 Buchenau, Sinnlichkeit als Erkenntnis, S. 203. 12 Ebd.,
228
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
anderen Seite. Wenn Wolff von deutlichen Empfindungen spricht, dann ist der Verstand bzw. die Begriffsbildung immer schon mit im Spiel. Empfindungen stellen also – so können wir bis hierher zusammenfassen – solche Gedanken dar, die sich a) auf gegenwärtige Dinge b) außer uns und die c) durch Undeutlichkeit (Dunkelheit oder Klarheit) gekennzeichnet sind. Damit ist die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status bloßer Empfindungen bereits gestellt. Wolff unterscheidet prinzipiell figürliche und anschauende Erkenntnis.17 Figürliche Erkenntnis ist zeichenvermittelte bzw. sprachlich vermittelte Erkenntnis: „§.317. Ich sage, in der figürlichen Erkäntniß stellen wir uns die Sachen durch Wörter oder andere Zeichen vor.“18 Allein diese figürliche Erkenntnis generiert deutliche Erkenntnis und steht damit erkenntnistheoretisch auf einer höheren Ebene: „§.319. Es hat aber die figürliche Erkäntniß viele Vorteile für der anschauenden, wenn diese nicht vollständig ist, das ist, alles deutlich gleichsam vor Augen leget, was ein Ding in sich enthält, und wie es mit andern verknüpft ist und gegen sie sich verhält. Denn da jetzund unsere Empfindungen größten Theils undeutlich und dunckel sind (§.199.214); so dienen die Wörter und Zeichen zur Deutlichkeit […]“19 Anschauende Erkenntnis ist also – so kann zurückgeschlossen werden – Erkenntnis, die sich auf Empfindungen konstituiert und damit undeutlich ist. Dies ist auch plausibel, denn Bestimmbarkeit als Konstituens von Deutlichkeit und Signifizität bedingen sich gegenseitig. Der systematische Ort dieser Überlegungen innerhalb der Theorie oberer Erkenntnisvermögen innerhalb der empirischen Psychologie bestätigt diese Zuordnung. Die Theorie figürlicher bzw. symbolischer Erkenntnis stellt eine zeichentheoretische und sprachtheoretische Basistheorie begrifflicher Verstandeserkenntnis dar. Denn Begriffe als Grundlage deutlicher Erkenntnis gründen ausschließlich auf sprachlichen Zeichen. Ein Indiz für unsere Interpretation bietet in diesem Zusammenhang wiederum § 319: „Denn da jetzund unsere Empfindungen grösten Theils undeutlich und dunckel sind (§.199.214.); so dienen die Wörter und Zeichen zur Deutlichkeit, indem wir durch sie unterscheiden, was wir verschiedenes in denen Dingen und unter ihnen antreffen. Weil nun aber hierdurch die Aehnlichkeit erhellet, die zwischen verschiedenen eintzelnen Dingen anzutreffen (§.18.); so gelanget man auf diese Weise zu allgemeinen Begriffen (§.182.).“20 Deutlichkeit betrifft den Bereich höhere Erkenntnis und wird allererst durch Bestimmbarkeit generiert, die sich wiederum vermittelst von Zeichen resp. Wörtern begründet. Anschauende Erkenntnis generiert un17 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 316–323, S. 173–179. – Diese Unterscheidung von symbolischer und anschauender Erkenntnis (cognitio symbolica et intuitiva) hat Wolff von Leibniz übernommen (vgl. Leibniz, Meditationes). Vgl. Ecole, La metaphysique, Bd. I, S. 113 f.; vgl. auch Schwaiger, Das Problem des Glücks, S. 127 f. 18 Wolff, Deutsche Metaphysik, § 317, S. 174. 19 Ebd., § 319, S. 176 f.; vgl. auch § 322, S. 178. 20 Ebd., § 319, S. 177.
1. Der Ausgangspunkt
229
deutliche Erkenntnis qua Empfindungen als der Klasse undeutlicher Gedanken, figürlich-symbolische Erkenntnis hingegen deutliche Erkenntnis durch zeichenvermittelte Begriffsbildung. Die auf undeutlichen Empfindungen basierende anschauende Erkenntnis hat in der Metaphysik nicht nur innerhalb der unteren Erkenntnisvermögen ihren systematischen Ort, sondern auch im Zusammenhang des unteren Begehrungsvermögens21 innerhalb der Theorie der Lust22. Hier verfügt sie über eine lusttheoretische, ästhetische und ethische Dimension. Alle drei Hinsichten hängen systematisch eng zusammen und haben ihr organisierendes Zentrum im Vollkommenheits‑ und Ordnungsbegriff und dem von diesem abgeleiteten Schönheitsbegriff. Letzterer stellt einen bestimmten Unterfall von Vollkommenheit dar. Grundlage der Ethik und Ästhetik und auch deren Konnex ist Wolffs für seine gesamte Philosophie grundlegende Theorie der Vollkommenheit, deren Grundstruktur er in der Ontologie der Deutschen Metaphysik23 entwickelt, auf die hier nicht in extenso weiter eingegangen werden kann. Nur so viel: Vollkommenheit wird von Wolff adäquatheitstheoretisch bzw. mit dem Begriff der Ähnlichkeit und Übereinstimmung expliziert. Ähnlichkeitsstrukturen und Übereinstimmungsrelationen generieren Vollkommenheit. „In der Vollkommenheit ist lauter Ordnung. Denn wo eine Vollkommenheit ist, da bezieht sich alles auf einen gemeinen Grund, daraus man erklären kann, warum eines neben dem anderen zugleich da ist oder eines auf das andere folgt.“24 Vollkommenheit kann nun in verschiedenen Erkenntnismodi erkannt werden. In unserem Zusammenhang interessiert die auf Empfindungen basierende anschauende Erkenntnis von Vollkommenheit, die wie folgt qualifiziert ist: 1. Lusttheoretische Dimension: „§.404 Indem wir die Vollkomenheit anschauen, enststeht bey uns die Lust, daß demnach die Lust nichts anders ist, als eine Anschauen einer Vollkommenheit.“25 Der Anschauung einer Vollkommenheit korreliert Lust.26 In der „Psychologia empirica“ kann Wolff die anschauende Erkenntnis sogar mit der Lust identifizieren: „Voluptas est … cognitio intuitiva perfectionis.“27 Diesen engeren Vollkommenheitsbegriff exemplifiziert er dann im Zusammenhang des Lustbegriffes an zwei Beispielen: 1. Vollkommenheit bzw. Ordnung einer Uhr bestehe in der Anordnung der Teile zum gemeinsamen Zwecke, die richtige Zeit anzuzeigen28. Übereinstimmung muss 21 Vgl.
ebd., §§ 404–539, S. 247–329. ebd., §§ 404–421, S. 247–260. 23 Vgl. bspw. ebd., §§ 152–174, S. 78–94. 24 Ebd., § 156, S. 81 f. 25 Ebd., § 404, S. 247. 26 In diesem Paragraphen erläutert Wolff die anschauliche Vollkommenheit u. a. mit einem ästhetischen Beispiel: Ein Gemälde verfügt über eine Vollkommenheit, wenn die Sache, die es vorstellen soll, der Darstellung ähnlich ist (vgl. ebd.). 27 Wolff, Psychologia empirica, § 511, S. 389. 28 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 404, S. 247. 22 Vgl.
230
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
statthaben a. zwischen den Teilen einer Uhr und b. zwischen der Uhrzeit und der Zeichenrelation der Uhr auf diese Zeit. Am Baumeisterbeispiel wird die Doppelstruktur noch deutlicher: Vollkommenheit eines Gebäudes konstituiert sich a. aus der Übereinstimmung der Teile zu einer Absicht und b. der Übereinstimmung dieser Absicht mit der Absicht des Baumeisters bzw. dem Zwecke eines Gebäudes29. Der Ähnlichkeitsbegriff findet hier seinen systematischen Ort innerhalb der Zuordnung von Sache und Repräsentation der Sache: Je größer die Ähnlichkeit zwischen Sache und Repräsentation ist, desto vollkommener ist die Repräsentation. Je ähnlicher bspw. die angezeigte Zeitrepräsentation der Uhr zu realen Zeit ist, desto größer ist die Übereinstimmung und Vollkommenheit der Uhr. In § 409 – und damit nun auch im lusttheoretischen Kontext der anschauenden Erkenntnis – wird noch einmal ausdrücklich die anschauende Erkenntnis als Empfindung bestimmt: „§.409. Je grösser die Vollkommenheit ist, die wir empfinden, je grösser ist auch die Lust, die wir haben, wenn wir nur die Grösse der Vollkommenheit einsehen.“30 Demgemäß wird auch für die anschauende Erkenntnis keine deutliche, sondern nur eine klare Erkenntnis erfordert (vgl. § 413). „§.414. Es ist aber wohl zu mercken, daß zu der Lust eben keine deutliche Erkäntniß erfordert wird, sondern nur eine klare. Denn sie bestehet in einer anschauenden Erkenntnis der Vollkommenheit (§.404.). Diese erhält ihre Deutlichkeit aber erst durch den Verstand (§.277.), wenn er nehmlich auf dasjenige, was die anschauende Erkäntniß in sich hält mercket (§.268.) und, was man alsdenn verschiedenes wahrnimmt, von einander unterscheidet.“31 Damit rückt Wolff die anschauende Erkenntnis und mit ihr die klare-undeutliche Empfindung hinsichtlich ihrer Relation auf Vollkommenheitsphänomene in eine vollkommenheitstheoretische und lusttheoretische Perspektive hinein. Undeutliche Empfindungen generieren vermittels einer Vollkommenheitswahrnehmung ein Gefühl der Lust. Die lusttheoretische Dimension dieses Erkenntnismodus impliziert auch einen wissenssoziologischen Aspekt. Über diese Erkenntnisfähigkeit verfügen nun alle Menschen in gleicher Weise; sie stellt mithin einen basalen nicht von Bildung, Begriffsbildung und Demonstrationsfähigkeit betroffenen unmittelbaren allgemein humanen Erkenntnismodus dar. Anschauende Erkenntnis und Erkenntnis via Regeln und ordentlicher Schlüsse werden von Wolff klar unterschieden. „§.415. Dieses wird auch durch die Erfahrung bestätigt. Denn die wenigsten Menschen haben die Gabe der deutlichen Erkäntniß (§.206.): unterdessen geniessen doch alle der Lust. Und eben hieraus folget, daß sie sich eine Lust machen können, wo kein wahrer Grund dazu angetroffen wird (§.405).“32 29 Vgl.
ebd., § 404, S. 248. § 409, S. 250. 31 Ebd., § 214, S. 252. 32 Ebd., § 215, S. 252 f. 30 Ebd.,
1. Der Ausgangspunkt
231
Mit der konstitutionstheoretischen Verkoppelung von anschauender Erkenntnis und klarer-undeutlicher Empfindung widerspreche ich Clemens Schwaiger, der für Wolff eine Weiterentwicklung gegenüber Leibniz’ Lustdefinition, Lust sei die Empfindung von Vollkommenheit, veranschlagt. Der lusttheoretische Begriff der Empfindung, erstmals in der Deutschen Logik von 1713 von Wolff vorgetragen, werde dann aber ab der Deutschen Metaphysik von 1720 vom Begriff der Anschauung bzw. anschauenden Erkenntnis abgelöst. Dies ist terminologisch nur halb richtig, wie Schwaiger eigentlich selber bemerkt, weshalb auch seine Schlussfolgerung problematisch ist. Während er durchaus feststellt33, dass sich beide Begriffe, anschauende Erkenntnis und Empfindung, abwechseln können, grenzt er die anschauende Erkenntnis von der Empfindung ab: „Die erste bedeutsame Korrektur, die Wolff an Leibniz’ Definition der Lust vornimmt, besteht darin, daß er den Begriff der ‚Empfindung‘ durch den des ‚Anschauens‘ (intuitus) oder – was offenbar dasselbe bedeutet – den der ‚anschauenden Erkenntnis‘ (cognitio intuitiva) ersetzt. Lust wird fortan als eine bestimmte Form der Erkenntnis begriffen.“34 Dieses Ersetzungstheorem wird von Schwaiger nicht ins Verhältnis gesetzt zu seiner vorherigen Festestellung, wo er noch vorsichtiger – aber textgetreuer – von einer terminologischen Umstellung mit sachlicher Pointe ausgeht: „In der Folgezeit (scil. Zeit nach Erstauflage der Deutschen Metaphysik 1720; G. R.) setzt sich der Begriff der anschauenden Erkenntnis mehr und mehr durch, ohne jedoch die ursprüngliche Ausdrucksweise (scil. Lust ist die Empfindung einer Vollkommenheit; G. R.) völlig zu verdrängen.“35 Sein Missverständnis besteht darin, der Empfindung Erkenntnisqualität abzuerkennen, weshalb er sich gezwungen sieht, den Begriff der anschauenden Erkenntnis vom Empfindungsbegriff abzusetzen. Es kann aus der terminologischen Umstellung vorsichtiger gefolgert werden – so unsere These –, dass Wolff den Erkenntniswert der vordeutlichen Empfindungen aufwerten will. Empfindung darf in dieser Hinsicht nicht auf reine Rezeptivität und Passivität und gar nur sinnliche reduziert werden, sondern sie verfügt über eine über reine Rezeptivität hinausreichende komplexe konstruktive Struktur. Diese weist des Genaueren eine Art Urteils‑ und Selbstbezüglichkeitsstruktur auf, was von Wolff jedoch nicht näher bestimmt wird. 2. Ästhetische Dimension: Wolffs Stellung innerhalb der Geschichte der Ästhetik in Deutschland ist kompliziert.36 Dass Wolff wohl keine besondere Beziehung zur Kunst und zum Schönen hatte, konnte schon Lessing treffend feststellen: „[M]an kann ein guter Dialektiker sein, ohne ein Mann von Ge-
33 Vgl.
Schwaiger, Das Problem des Glücks, S. 125 [Anm. 532]; S. 126 [Anm. 536]. S. 126. 35 Ebd., S. 125. 36 Zur Forschungsgeschichte und zu einzelnen Positionen vgl. die instruktive forschungsgeschichtliche Skizze bei Joachim Krueger (Krueger, Wolff und die Ästhetik, S. 17–22). 34 Ebd.,
232
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
schmack zu sein. Und das letzte war Wolff, leider, wohl nicht.“37 Wolff hat sich auch erklärtermaßen nirgends in seinen sonst alle Wissenschaftsbereiche abdeckenden deutschen und lateinischen Schriften ausführlicher zu poetologischen und ästhetischen Fragen geäußert. Jedoch finden sich in unterschiedlichen Theoriebereichen ästhetische und ästhetikaffine Momente, bspw. in der Ontologie im Zusammenhang der Vollkommenheitslehre, in der Psychologie und speziell in der Theorie der anschauenden Erkenntnis und Lusttheorie (im Zusammenhang der unteren Begehrungsvermögen in der Deutschen Metaphysik), in den „Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften“ und in der Deutschen Politik.38 Die ästhetische Dimension in unserem Zusammenhang liegt von der Beispielebene her auf der Hand, wenn er die Vollkommenheit eines Gemäldes mit der Ähnlichkeit des Bildes mit der dargestellten Sache identifiziert. Der Begriff der Schönheit fällt im Lustkapitel in der Deutschen Metaphysik nicht, jedoch in der lateinischen „Psychologia empirica“. In folgender Definition kommen die uns interessierenden Definitionselemente zum Ausdruck: Schönheit sei, „quod sit rei aptitudo producendi in nobis voluptatem, vel quod sit observabilitas perfectionis: etenim in hac observabilitate aptitudo ista consistit“39. D. h. Schönheit stellt ein solches Vollkommenheitsphänomen dar, welches a. durch bloße Anschauung resp. anschauende Erkenntnis qua klare-undeutliche Empfindungen wahrgenommen wird und b. Lust generiert. Wenn auch Wolff der anschauenden Erkenntnis und der ästhetischen Erfahrung keinen großen Stellenwert einräumt, so stimmen wir doch dem ästhetikhistorischen ‚Trotzdem‘ Baeumlers zu: „Trotzdem ist Wolff, der geistige Rückhalt Gottscheds und der Schweizer, der würdige Großvater der deutschen Ästhetik.“40 Dieses Urteil Baeumlers werden wir in den folgenden Abschnitten bestätigt finden. 3. Ethische Dimension: Man darf von den Beispielen aus aber die Lusttheorie nicht nur für ästhetisches Erleben (im engeren Sinne), sondern für alle Modi anschauender bzw. ästhetischer Erkenntnis in Anschlag bringen, die auch ethische Gehalte erkennen kann und diese Erkenntnis gemäß der Grundstruktur anschauender Erkenntnis von Vollkommenheit mit einem Lustreflex versieht. Bereits im Kontext der Theorie anschauender im Gegensatz zur figürlichen Erkenntnis41 klingt eine ethische Funktion der cognitio intuitiva an: „§. 316. […] z. E. Wenn ich an einen Menschen gedencke, der abwesend ist und mir sein Bild gleichsam vor Augen schwebet; so stelle ich mir seine Person selbst vor. Wenn 37 Lessing,
Abhandlungen, S. 398. Krueger, Wolff und die Ästhetik, S. 24 ff. 39 Wolff, Psychologia empirica, § 545, S. 421. „Die Schönheit einer Sache ist ihre Tauglichkeit, Lust in uns hervorzubringen, oder die Beobachtung der Vollkommenheit; denn in dieser Beobachtbarkeit besteht jene Tauglichkeit.“ (Übersetzung v. Krueger, Wolff und die Ästhetik, Berlin 1980, S. 52.) 40 Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 66. 41 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, §§ 316–323, S. 173–179. 38 Vgl.
1. Der Ausgangspunkt
233
ich mir aber von der Tugend diese Worte gedencke: Sie sey eine Fertigkeit seine Handlungen nach dem Gesetze der Natur einzurichten; so stelle ich mir die Tugend durch Worte vor. Die erste Erkäntniß wird die anschauende Erkäntniß genennet; die andere ist die figürliche Erkäntniß.“42 Die Interpretation des Beispiels in § 316 ist problematisch. Mit dem Bild einer Person ist aber sicherlich das zu verstehen, was man als ethisches Charakterbild bezeichnen könnte, welches dann in der figürlichen Erkenntnis auf den Begriff der Tugend gebracht wird, vom Gehalt her aber bereits mittels der anschauenden Erkenntnis erkannt werden kann. Die ethische Valenz der Lustempfindung stellt sich folgendermaßen dar. Die Theorie des Guten knüpft zunächst an die Theorie der Vollkommenheit an: „§.422. Was uns und unseren Zustand vollkommener machet, das ist gut.“43 Wichtig für unseren Zusammenhang ist zudem, dass die anschauende Erkenntnis das Gute erkennen kann und dass diese Erkenntnis mit Lust verbunden ist: „§.423. Weil das Gute uns und unseren Zustand vollkommen machet (§.422.), das Anschauen der Vollkommenheit aber Lust erreget (§.404.); so muß die anschauende Erkenntnis des Guten Lust erregen, wenn wir es nehmlich als gut ansehen. Deswegen nennen wir natürlich gut, was Lust bringet.“44 Hieraus wird deutlich, dass Gutheit der auf undeutlichen Empfindungen basierenden anschauenden Erkenntnis wahrnehmbar ist und dass dieser Erkenntnismodus immer mit einem Begleitreflex von Lust einhergeht. Empfindungen des Guten sind lustvolle Empfindungen. Damit wird implizit auch die oben erwähnte Andeutung im erkenntnistheoretischen Teil der empirischen Psychologie bezüglich der Erschließungskraft der anschauenden Erkenntnis hinsichtlich moralischer Entitäten noch einmal im Zusammenhang der einschlägigeren Passagen zum unteren Begehrungsvermögen in der Deutschen Metaphysik bestätigt: Die auf undeutlichen Empfindungen basierende anschauende Erkenntnis hat es nicht nur mit Entitäten zu tun, die sich im schlichten Sinne den fünf äußren Sinnen darbieten, sondern dieser Erkenntnismodus wird unter der Hand auf eine hinsichtlich der äußren Sinne metastufige Ebene gehoben, auf der auch moralische und ästhetische Gehalte qua Empfindung erkennbar werden.45 Dies wurde schon oben (Beispiel 42 Ebd.,
§ 316, S. 173. § 422, S. 260. 44 Ebd., § 423, S. 261. 45 In der Praktischen Philosophie Wolffs hat diese Theorie ihr Korrelat. Während in der Erkenntnistheorie die moralische Implikation der anschauenden Erkenntnis thematisiert wird, kommt umgekehrt in der Praktischen Philosophie die erkenntnistheoretische Implikation zur Sprache. Die cognitio intuitiva verfügt in der „Philosophia practica universalis“ (lat. Ethik) über eine Erschließungskraft moralischer Vollkommenheiten. Wolff expliziert dies an der Wirkung der Fabel, deren moralische Wahrheit resp. Vollkommenheit durch die cognitio intuitiva der vulgo (Masse) am besten zugänglich sei und langen Überlegens nicht bedürfe. Die anschauende Erkenntnis qua Empfindung wird also in eine wissenssoziologische Perspektive eingerückt, die über die defizitäre Verfasstheit dieser unteren Erkenntnisart hinsichtlich des Deutlichkeits43 Ebd.,
234
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
aus § 316) deutlich; hier war von der Vorstellungen einer abwesenden Person die Rede. Damit wird verständlich, dass Wolffs Theorie anschauender Erkenntnis zwar auf den Empfindungsbegriff begründet ist, dieser aber in diesem Zusammenhang über den Inbegriff aller undeutlichen Vorstellungen gegenwärtiger Dinge qua äußerer Sinne hinausweist. Ein erstes Wetterleuchten einer Theorie innerer Empfindungen bzw. eines inneren Sinnes ist hier festzustellen. Die Grenzen von Wolffs Theorie anschauender Erkenntnis gründen auf der Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Vollkommenheit46, von welch letzterer nur eine vorübergehende Lust ausgehen kann. Scheinbare Lust generiert unbeständige Lust, wahre Vollkommenheit hingegen beständige Lust47. Die anschauende Erkenntnis hat also nicht per se die Qualität der natürlichen Irrtumslosigkeit hinsichtlich des wahren Vollkommenen. Erst durch Untersuchung kann die Qualität der Vollkommenheit erkannt werden. „§.406. Wenn die Lust keine wahre Vollkommenheit zum Grund hat; so ist möglich, daß man seinen Irrthum (§.396.) mit der Zeit erkennen lernet. Wenn nun dieses geschiehet; so ist das Anschauen von der vermeinten Vollkommenheit weg. Und demnach verschwindet alle Lust auf einmahl (§.405.). Wir sehen auch solches aus der Erfahrung. Denn wie oft machen sich die Menschen aus etwas eine grosse Lust; mit der Zeit aber verschwindet sie, und bisweilen geschwinder, als man es vermeinet hätte. Wer alsdenn untersucht, woher es kommet, wird finden, daß er die Sache anfangs mit anderen Augen angesehen, als er sie nach diesem findet, wenn er mit ihr genauer bekannt wird.“48 Zu diesem Zwecke bedarf es der Versicherung der Regeln der Vollkommenheit einer Sache oder gar der Wissenschaft bzw. Demonstration, also höherer Rationalitätsmodi49. Damit ist die Grenze der Wolffschen Theorie anschauender Erkenntnis lustbegleiteter Vollkommenheiten resp. ethisch valenter Vollkommenheit benannt: Anschauende Erkenntnis stellt nur eine erkenntnistheoretisch defizitäre Zwischenstation dar und ist angewiesen auf über sie hinausgehende Rationalitätsformen, bis hin zur Demonstration. Ein Eigenwert kommt ihr nicht zu. Wir können resümieren: Empfindungen werden zunächst bei Wolff primär als klare-nichtdeutliche Bewusstseinszustände verstanden und beziehen sich grundsätzlich auf äußere Dinge, weil sie mentale Korrelate von Sinneseindrücken sind, die vermittelst der Sinnesorgane rezipiert werden. Damit ist Spalding bereits von Wolff her die Distinktion von Klarheit und Deutlichkeit hinsichtlich des Empfindungsbegriffes bekannt.
grades einen Vorteil in der Unmittelbarkeitsstruktur verbürgt. Vgl. Wolff, Philosophia practica, § 307–14. – Vgl. dazu auch Krueger, Wolff und die Ästhetik, S. 56. 46 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 405, S. 248. 47 Vgl. ebd., § 407, S. 349. 48 Vgl. ebd., § 406, S. 248 f. 49 Vgl. ebd., § 410 bzw. § 408, S. 250 bzw. S. 249.
1. Der Ausgangspunkt
235
Im Zusammenhang der lusttheoretischen und ethischen Dimension der Theorie der anschauenden Erkenntnis jedoch wird sodann der Empfindungsbegriff um ein intramentales Moment bereichert, so dass Empfindungen nicht mehr nur den äußeren Sinnen/Sinnesorganen zugeordnet werden können, sondern zum einen implizit als innere bzw. metastufige Empfindungen – gleichsam als Empfindung der Empfindung – verstanden werden können, von Wolff jedoch nicht so bestimmt werden. Dass auch Spaldings Augenmerk in seiner Vorrede von 1747 auf die Doppelstruktur der moralischen Empfindung gerichtet war, wurde bereits festgestellt (vgl. II.3.2.1). Empfindungen haben zudem den erkenntnistheoretischen Status von anschauender Erkenntnis und damit überhaupt Erkenntnisstatus. Sie stellen also nicht nur Sinnesdaten zur Verfügung, die dann allererst vermittelst des Verstandes zu Erkenntnis verarbeitet werden müssen. Anschauende Empfindungserkenntnis stellt damit eine Erkenntnisart dar, die unmittelbar, d. h. ohne die höherstufigen Rationalitätsformen des intellectus (Verstand = Vermögen der Begriff, Urteilens und Schließens) und der ratio (Vernunft50) Erkenntnis generiert. Die Unmittelbarkeitsstruktur undeutlicher Anschauungserkenntnis verdankt sich also a. der Unvermitteltheit von Zeichen, Wörtern und Bestimmungsleistungen und b. damit eben auch höherer Rationalitätsoperationen, die nur über Zeichen operieren können. Dieser Erkenntnisart kommt gerade deshalb Bedeutung zu, weil sie vermittels ihrer Unmittelbarkeitsstruktur, als ein basales und damit allgemeinhumanes Beurteilungsvermögen zu stehen kommt. Auch diesen Aspekt des Empfindungsbegriffes hat Spalding im Blick auf Shaftesbury in seinen Vorreden gewürdigt. Im Zusammenhang der Lusttheorie wird darüber hinaus die anschauende Erkenntnis als ein Beurteilungsvermögen eingeführt, welches sowohl ästhetische (im engeren Sinne) als auch moralische Ähnlichkeits‑ und Übereinstimmungsstrukturen einschließt. Damit wird Erkenntnis ästhetischer und ethischer Gehalte bzw. ästhetischer und ethischer Vollkommenheit zum einen in die anschauende Erkenntnis qua klare-undeutliche Empfindungen eingetragen und zum anderen in einen engen Zusammenhang gebracht. Ästhetik und Ethik hängen im Kontext der anschauenden Erkenntnis systematisch durch den Begriff der Lust zusammen. Die negative Seite der Analyse soll jedoch schließlich nicht unerwähnt bleiben. Es sind hier drei Defizite zu nennen. a. Aufs ganze gesehen geht die anschauende Erkenntnis bei Wolff über die Dimension des äußeren Sinnes und der darauf bezogenen Empfindungen hinaus und nähert sich jedoch nur zögerlich dem an, was man vor und nach Wolff als Geschmack bezeichnet hat. Erwägenswert ist deshalb auch der Hinweis von Joachim Krueger, dass diese Erkenntnistheorie Wolffs zum einen auf Theorien Bouhours, Shaftesburys, Crousaz und Leibniz 50 Vgl.
ebd., § 368, S. 224.
236
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
zurückgehen und zum anderen in den nachmaligen Geschmacksbegriff Eingang gefunden haben, den jedoch Wolff noch nicht in seinem metaphorischen Sinne verwendete.51 Der Geschmacksbegriff bedeutet bei Wolff immer den an die äußere Sinnlichkeit und sein Organ gebundenen Geschmackssinn.52 b. Auch wird die Unmittelbarkeits-, Urteils‑ und Selbstbezüglichkeitsstruktur der anschauenden Erkenntnis und damit die innere Differenziertheit undeutlicher Empfindungen in mentale Passivitäts‑ und Aktivitätsmomente nicht eigens thematisiert. c. Den Begriff einer innerlichen Empfindung bzw. eines entsprechenden inneren Sinnes entwickelt Wolff innerhalb empfindungstheoretischer bzw. lusttheoretischer Kontexte noch nicht, während jedoch einzelne Begriffsmomente bereits in diese Richtung weisen.
2. Schulinterne Kritik am Rationalitätsideal Christian Wolffs „Dem historischen Verstehen des 18. Jahrhunderts ist nichts schädlicher, als das Schlagwort ‚Rationalismus‘.“53 Diesem Diktum Alfred Baeumlers ist im Blick auf die zeitgenössischen poetologischen, geschmackstheoretischen und ästhetischen Debatten rundweg zuzustimmen. Diese sind verbunden mit den Namen Gottsched, Baumgarten und Meier; sie gehören allesamt zur ersten und zweiten Schülergeneration Christian Wolffs. Max Wundt verhandelt Gottscheds, Baumgartens und Meiers Metaphysiklehrbücher unter der Überschrift „Wolffs Schule“54. Sie stehen fundamentalphilosophisch mehr oder weniger treu auf seinen Schultern. Zugleich beginnen mit ihnen jedoch innerhalb des Schulzusammenhangs signifikante Umorientierungen der Interessen und sachliche Schwerpunktverschiebungen. Vor allem die empirische Seelenkunde und die unteren Erkenntnisvermögen gewinnen an Gewicht. Auf ihrer Grundlage entwickeln sie seit Ende der 1720er Jahre bis um die Jahrhundertmitte ihre programmatischen poetologischen und ästhetischen Konzepte. In diesen spielt nicht zuletzt der Empfindungsbegriff als poetologisch-ästhetisches Basistheorem eine zentrale Rolle. Im Folgenden sollen die wesentlichen Gründe für diese Entwicklung skizziert werden. Gottsched setzt in der Vorrede seines Metaphysiklehrbuches „Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit“ von 1733/34 mit einer formalen, aber doch bisweilen scharfzüngigen Kritik am Wolffschen Rationalitätsstandard ein: „Nun 51 Vgl.
Krueger, Christian Wolff und die Ästhetik, S. 57. Geschmack ist ein Vermögen dasjenige sich vorzustellen, was, indem wir etwas käuen, oder auf andere Art auflösen, in den Zungen Veränderungen veranlasset.“ (Wolff, Deutsche Metaphysik, § 223, S. 125). 53 Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 65. 54 Wundt, Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. VI resp. S. 199; 216 ff.; 220 ff.; 226 f. 52 „Der
2. Schulinterne Kritik am Rationalitätsideal Christian Wolffs
237
halte ich zwar nicht davor, daß man selbige [scil. Philosophie Wolffs, G. R.] einer Ungereimtheit überführet, oder sogar widerleget hätte, daß man sie nicht mehr behaupten könnte: Dennoch ist mirs vorgekommen, daß die Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind, dem ersten Ansehen nach, einen viel zu speculativen und bloß theoretischen Begriff, von der Weltweisheit gebet. Soll ich denn bloß von der Möglichkeit der Dinge […] subtile Vernünfteleyen in der Philosophie antreffen? Soll ich nur Hirngespinste machen, und Luftschlösser bauen lernen? Was wird mir eine solche Philosophie in der Welt, in den Geschäften, im gemeinen Leben nützen?“55 Das Kriterium, welches Gottsched an die Philosophie anlegt, besteht also nicht mehr allein in begrifflicher Deutlichkeit, Gewissheit der Beweise und systematisch-materialer Vollständigkeit, sondern orientiert sich vielmehr funktional an ihrer Nutzbarkeit für das ‚gemeine Leben‘. Hierin knüpft Gottsched ausdrücklich an Leibnizens funktionale Bestimmung aller Weltweisheit an: „Die Begierde glücklich zu werden, ist allen Menschen angebohren. Die Weisheit hat uns Herr von Leibnitz, nach dem Exempel vieler Alten, als eine Wissenschaft der Glückseligkeit beschrieben.“56 Der Wert der Philosophie bestehe also in ihrer Funktionalität und Verwertbarkeit für das allgemeine humane Streben nach Glückseligkeit. Auch in besonderem Hinblick auf die Moralphilosophie plädiert Gottsched ausdrücklich dafür, dass deren rationale Erkenntnis der Glückseligkeit des Menschen als ihrem eigentlichen Generalzweck zu dienen hat: „Denn viele Leute erkennen gar wohl, was sie thun oder lassen sollten; allein ihre Erkenntnis wirket nicht in den Willen; und ist also nicht lebendig. Wo aber dieses nicht ist, da erfolgen auch die guten Handlungen nicht; daraus doch die Glückseligkeit entstehen muß: folglich erlanget man durch die bloße Wissenschaft des Rechtes der Natur die Glückseligkeit nicht.“57 Gottsched zieht also – poetisch-ästhetisch geschult – bei der Beurtheilung des Wertes von wissenschaftlicher Philosophie gleichsam über rein werkimmanente Kriterien hinaus wirkungstheoretische Kriterien ein. Zwischen rationaler Einsicht und lebendiger Aneignung von Wissensgehalten bestehe also ein Hiatus, den Gottsched hier am Beispiel der Ethik expliziert. Damit weicht er – so stellte auch schon Wundt fest – von Wolff ab58. Diese Kriterien an die Wolffsche Metaphysik anlegend, sieht Gottsched an ihr nicht erfüllt, so dass er beinahe zynisch urteilen kann: „Ich lasse indessen die andre [scil. Wolffs Philosophie; G. R.] in ihrem völligen Werthe, und rathe es allen die acroamatisch philosophiren wollen, dabey zu bleiben: Ob ich gleich für die exoterischen Schüler der Weltweisheit, die meinige für brauchbarer halte.“59
55 Gottsched, 56 Ebd.
57 Ebd.,
Weltweisheit, Vorrede [ohne Seitenzahl].
II. Theil, § 7. Wundt, Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 216 f. 59 Gottsched, Weltweisheit, Vorrede [ohne Seitenzahl]. 58 Vgl.
238
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
Seine reifen metaphysischen Früchte trägt die Kritik an der Wolffschen Metaphysik im Werk Alexander Gottlieb Baumgartens, wo bereits anhand des Aufbaus der „Metaphysica“ von 1739, die noch Kant als das gründlichste aller Handbücher seiner Art in seinen Vorlesungen benutzte60, ein Zurückdrängen der sogenannten oberen Erkenntnisvermögen und eine Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen schon quantitativ registriert werden kann; nimmt doch die „Psychologia empirica“ mit ihren 235 Paragraphen (gegen die 59 Paragraphen der rationalen Psychologie) breiten Raum ein. Und innerhalb ihrer wiederum werden den unteren Erkenntnisvermögen 104 Paragraphen gewidmet, während die Oberen in gerade 26 Paragraphen abgehandelt werden. „Schon darin zeigt sich die Tendenz Baumgartens, dem Gebiet der ‚sinnlichen Erkenntnis‘ Raum zu schaffen und diese gegen die Dominanz der Rationalität zur Geltung zu bringen.“61 Darüber hinaus werden die Wolffschen unteren Erkenntnisvermögen um einige erweitert und nicht nur hinsichtlich ihrer erkenntnispychologischen Valenz, sondern v. a. bezüglich ihrer Funktion für das ästhetische Schaffen hin ausgeleuchtet. Damit kann die Metaphysik Baumgartens gewissermaßen als eine transzendentale Durchklärung der Bedingungen der Möglichkeit ästhetischen Schaffens und Erlebens gedeutet werden62. Einen ersten Versuch einer psychologisch-erkenntnistheoretischen Theorie der ästhetischen Erfahrung lieferte Baumgartens bereits vier Jahre zuvor erschienene Dissertation63, bevor er dann in seiner „Aesthetica“ von 1750 die hier angelegte Bedeutungsanreicherung der unteren Erkenntnisvermögen zu einer ausformulierten Theorie der sinnlichen Erkenntnis ausarbeitet.64 Diese Linie zieht Baumgartens bedeutendster Schüler weiter. In seinen „Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften“ von 1748 äußert Georg Friedrich Meier65 in einer scharfsinnigen Analyse seine Vorbehalte gegenüber der demonstrativischen Methode Wolffs. Er geht ebenfalls von dem aufklärerischen Gemeinplatz aus, dass es ihm um die Bildung des Menschen allgemein und nicht 60 Vgl. Kant, Neue Anmerkungen, S. 503. – Vgl. dazu auch Wundt, Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 220 f. 61 Schweizer, Einführung, S. XI. – Petra Bahr spricht in ihrer Dissertation genauer von einer „Komplementierung von logischem und ästhetischem Weltverhältnis“ (Bahr, Darstellung, S. 71 bzw. vgl. S. 71–75). 62 In einer Vorlesungsnachschrift zum § 1 der Ästhetik spricht Baumgarten auch von seiner Ästhetik als von einer „Metaphysik des Schönen“ (Baumgarten, Grundlegung der Ästhetik, S. 81). Georg Friedrich Meier übernimmt den Begriff der Metaphysik als mögliche Bezeichnung seiner Anfangsgründe (vgl. Meier, Anfangsgründe, Bd. I, § 2, S. 5). 63 Vgl. Baumgarten, Meditationes. 64 „§ 1. AESTHETICA (theoria liberalim artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogia rationis) est scientia cognitionis sensitiva. (Die Ästhetik [als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens] ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.)“ (Baumgarten, Theoretische Ästhetik, S. 2). 65 Spalding lernte bei seinem Aufenthalt in Halle im Frühjahr 1745 Meier persönlich kennen (vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 127 [S. 23]).
2. Schulinterne Kritik am Rationalitätsideal Christian Wolffs
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um die ausschließliche Verbesserung des Schulgelehrtentums zu tun ist, welch letzteres noch Wolffs primäres Anliegen war. „Die allerwenigsten Menschen sind so geistig, daß sie eine blosse strenge mathematische Demonstration einsehen könten. Die allermeisten Menschen können ohne sinnliche Bilder nichts begreifen, wenigstens finden sie an der nackten Wahrheit kein Vergnügen.“66 Die mathematische Demonstrationsmethode und Wissenschaftssprache verortet Meier wissenssoziologisch sehr bildlich in der Sphäre des Schulischen, indem er von dem „schulfüchsischen“ Gelehrten sagt: „Alles an ihm schmeckt nach der Schule. Er kann seinen Mund nicht auftun, ohne seine Handwerkssprache zu reden […]. Man kann ihn unvergleichlich brauchen, allein als einen gelehrten Tagelöhner, und man muß ihn in seine Studierstube einsperren, und unter seine Bücher vergraben.“67 Diese Gelehrten-Kritik verdankt sich ihm – wie schon bei Baumgarten – der rezeptions‑ und wirkungstheoretischen Überlegung, dass deren Methode nicht in der Lage sei, den Leser von den demonstrierten Wahrheiten wirklich zu überzeugen: „Die strengen Demonstranten fechten so gewaltig, daß man sich ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben mus. Ein Aestheticus macht Eroberungen, und man freut sich, daß man überwunden worden. Wer kein Aestheticus ist, der kann nur den geringsten Theil der Menschen zur Annehmung der Wahrheiten bringen.“68 Es geht ihm also wie Gottsched und Baumgarten um eine lebenspraktische Zweckdienlichkeit der Philosophie. Auch aus diesem Grunde gelte es, die Ästhetik als philosophische Disziplin zu stärken. Die Ermäßigung der Wolffschen Demonstrationsmethode und die Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen innerhalb der Metaphysik und deren Applikation in den poetologischen und ästhetischen Konzepten Gottscheds, Baumgartens und Meiers verdankte sich also deren gestufter Einsicht, dass es der Philosophie resp. der Wissenschaft erstens um die Glückseligkeit des Menschen gehen muss, dass damit zweitens diejenigen Erkenntnisformen zu stärken sind, die auch philosophisch ungeschulten Menschen zur Verfügung stehen und dass damit schließlich die ästhetische Theorie und ästhetische Bildung zu befördern sind. Diese Philosophen verfolgten also ein strukturell ähnliches Interesse wie Spalding in seinen Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen. Dort schloss er sich zunächst Shaftesburys Grundfrage nach dem Glück des Menschen an, um dafür die Empfindung als gegenüber dem ‚mühseligen und langweiligen Wege der Vernunftschlüssen‘ basalen Erkenntnismodus namhaft zu machen. Dieser Vorbehalt 66 Meier, Anfangsgründe, Bd. I, S. 22. – Hier sei darauf hingewiesen, dass das Horazsche poetologische Prinzip des prodesse et delectare als Locus classicus allgemeine Geltung genoss. Gottsched hatte mit seiner Übersetzung der „Ars Poetica“ in seiner „Critischen Dichtkunst“ diese wieder einer breiteren Rezeption zugänglich gemacht. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Horaz zu den meistzitierten Klassikern der poetologischen und ästhetischen Debatten der Aufklärung gehörte. 67 Ebd., S. 25. 68 Ebd., S. 23.
240
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
gegenüber der szientifischen Methode wird gegenüber den Andeutungen in der Vorrede in seiner Nutzbarkeitsschrift von 1772 noch deutlicher, mit der wir zwar dreißig Jahre vorrücken, in der aber Spalding sehr ausdrücklich den Zweck kirchlicher Erbauungspredigt in eine rationalitätsskeptische Perspektive einrückt, die im Grundton den zitierten Einwendungen Gottscheds, Baumgartens und Meiers nahe kommt: „Aber weit nachtheiliger wird der Gebrauch unseres Amtes und das Schicksal unserer Zuhörer, wenn wir diese, statt solcher wirklichen Aufklärungen, mit Speculationen belästigen, die bey ihnen weiter nichts, als Formeln und Worte sind, weil sie weder richtige Begriffe unter denselben denken, noch ihre Uebereinstimmung einsehen, noch die Kraft der Beweise davon zu beurtheilen vermögen. […] Bey schweren, von der gemeinen Art zu reden weit entfernten, Kunstwörtern in einem Vortrage oder Unterrichte für einen vermischten Haufen wird mir allemahl nicht wenig bange, daß es mit den Lehren, die dadurch bezeichnet werden sollen, auf sehr leere und unfruchtbare Speculationen hinauslaufen werde. Was soll das denen nützen, die nicht in scharfsinnigen Wissenschaften geübt sind, und daher nichts dabey denken?“69 Hier bringt Spalding das auf den Begriff, was ihn bereits 30 Jahre früher von Wolff abrücken und an Gottsched, Baumgarten und Meier annähern ließ.
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie70 3.1 Johann Ulrich Königs Geschmackstheorie Einen ersten bedeutenden Beitrag zur deutschen Debatte um den Geschmacksbegriff stellt Johann Ulrich Königs (1688–1744) „Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht= und Rede=Kunst“ (1727) dar, von der gilt, dass es eine „damals von jedem gelesene Abhandlung“71 gewesen sei. Dies trifft nachweislich auch auf Gottsched zu, der Königs Geschmacksschrift neben die Arbeiten Bodmers stellt und damit auf die damalige Reputation Königs aufmerksam macht.72 Spätestens über Gottsched könnte auch Spalding zur Lektüre Königs angeregt worden sein, was aber nicht zu belegen ist. König rezipiert die breite Geschmacksdiskussion, die in Frankreich bereits zehn Jahre früher ihren theoretischen Höhepunkt mit J.-P. de Crousaz’ „Traite
69 Spalding,
Nutzbarkeit des Predigtamtes, S. 146 f. [S. a 132]. Orientierung über die Entwicklung des Geschmacksbegriffs und seiner Korrelation mit dem Empfindungsbegriff vgl. Schümmer, Entwicklung des Geschmacksbegriffs; vgl. Piepmeier, Empfindung, Sp. 458 ff. 71 Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 89. 72 Vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst, III, § 2, S. 169. 70 Zur
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie
241
du beau“73 (Amsterdam 1715) und J.-B. Dubos „Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture“ (drei Bände, Paris 1719) erreicht hatte. Dubos erhebt das sentiment (dt. Empfindung) gegen die rationalistische Geschmackstheorie de Crousaz’ zur zentralen ästhetisch-erkenntnistheoretischen Kategorie, die sich durch ihre Unmittelbarkeitsstruktur vor dem Vernunfturteil auszeichne.74 Hier beginnt diejenige Fragestellung in der Debatte um den bon gout virulent zu werden, welche sie weiterhin bestimmen sollte: Wie verhalten sich Empfindung und Rationalität zueinander? Königs Geschmackskonzept stelle, so Riemann, „einen Vermittlungsversuch zwischen Crousaz und Dubos dar“75 und zudem bestehe sein Verdienst darin, „die bisherige europäische Diskussion in ihrer ganzen Breite und Tiefe in Deutschland bekannt gemacht zu haben“76. Ohne den Anspruch einer umfassenden Analyse zu erheben, sollen im Folgenden diejenigen Momente des Geschmacks‑ und Empfindungsbegriff Königs eruiert werden, die auch im Blick auf Spaldings Empfindungsbegriff einschlägig sind. Es handelt sich hierbei zum ersten um die universale Reichweite des Geschmacksbegriffes, der sich nicht nur auf die Kunst bezieht, sondern auch Phänomene wie Religion und Moralität einbezieht, zum zweiten um die Ästhetisierung der Moralität (und der Religion), zum dritten um die Vorrationalitäts‑ und Unmittelbarkeitsstruktur des Empfindungsurteils und zum vierten um die Natürlichkeit des guten Geschmacks. 1. Die „innerliche Empfindung des Verstandes“77 stellt im Gegensatz zu seinem sinnlich-körperlichen Namensgeber als universale Urteilskraft eine Metastruktur dar, die nicht nur ästhetische Phänomene im engeren Sinne zum Gegenstand hat – wie der Titel von Königs Traktat vermuten lässt –, sondern sich auf alle möglichen Empfindungsrelate bezieht. „Dann, wie der Geschmack bey uns nicht weniger einer von den fünf Sinnen ist als bey anderen Völckern, und, wie unsere Zunge eben dasselbe Vermögen hat, vermittelst eines angenehmen oder unangenehmen Eindrucks, den Unterschied des genossenen zu empfinden; So wohnet unserem Verstande auch dieselbe Fertigkeit bey, die mannigfaltigen Beschaffenheiten aller ihm vorkommenden Dinge zu entscheiden.“78 Diese innerliche Geschmacksempfindung wird als „allgemeine Empfindung“79 bezeichnet und dem sensus communis80 zugerechnet. Diesem allgemeinen Sinn ist die Urteilsfähigkeit in Bezug auf alle Dinge zueigen, diese hinsichtlich ihrer Wahrheit, 73 Einen Hinweis, dass Spalding Crousaz kannte, gibt er in der Vorrede zu den Sittenlehrern (vgl. Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 12). 74 Vgl. Piepmeier, Empfindung, Sp. 459; vgl. Baasner, Sentiment, S. 676 f. 75 Riemann, Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, S. 11. 76 Brückner, Geschmack, S. 30. 77 König, Untersuchung, S. 248. 78 Ebd., S. 244. 79 Ebd., S. 247. – „Er [scil. sensus communis; G. R.] ist jeglichem Sinne allgemein.“ (ebd., S. 250). 80 Vgl. ebd., S. 251.
242
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
Gutheit und Schönheit allein auf der Basis der Empfindungen zu beurteilen. Damit ist der sensus communis hier nicht allein ein allgemeiner Wahrheits-, sondern auch ein moralischer und ästhetischer Sinn.81 „Der allgemeine gute Geschmack ist eine aus gesundem Witz und scharffer Urtheilskraft erzeugte Fertigkeit des Verstandes, das wahre, gute und schöne richtig zu empfinden, und dem falschen, schlimmen und heßlichen vorzuziehen; wodurch im Willen eine gründliche Wahl und in der Ausübung eine geschickte Anwendung erfolget.“82 Indem König den Geschmack als Verstandesvermögen bestimmt, wertet er ihn erkenntnistheoretisch auf, und gleichzeitig räumt er ihm damit „eine Autonomie“83 gegenüber dem Vernunfturteil in ästhetischen Fragen ein. Den integrativen Begriff, der sowohl das wahre, gute und schöne in sich vereinigt, stellt der Vollkommenheitsbegriff dar: „Demnach ist dieser allgemeine gute Geschmack des Verstandes, ein richtiger Begriff des Vollkommenen in allen Dingen, in allen Künsten und menschlichen Verrichtungen […].“84 Der moralische Geschmack betrifft zum einen die Urteilsfähigkeit bei der Bestimmung des Guten und zum anderen die Motivationsebene zum Tun des als gut Bestimmten. „Der gute Geschmack in sittlicher Deutung, heist eine durch die Vernunft geübte Gemüths-Empfindung, was Wahre zu erkennen [scil. des moralisch Richtigen; G. R.], das Gute zu verlangen, und das Edelste und Beste zu wählen.“85 2. Diese moralische Empfindung ist immer mit einem Gefühl der Lust verbunden: „Denn es besteht dieser gute Geschmack allemahl in einer Empfindung des Guten mit einer Belustigung, und des Bösen mit einer Verabscheuung.“86 Daraus erhellt, dass König das Lustmoment des ästhetischen Geschmacksurteils auch als Begleitphänomen der moralischen Empfindung in Anschlag bringt und somit eine Ästhetisierung des Moralischen intendiert. Dies wird an folgendem unmittelbar einleuchtenden Zitat deutlich: „Gesetzt, es liebte jemand eine Jungfer, die nicht mit einer so reitzenden Gesichts-Bildung als andere, oder mit keinem so wohlgestalteten Leib begabet ist, so gefällt ihm vielleicht an ihr der schöne Verstand, ihre schöne Tugenden, oder die schönen Sitten, und sein Geschmack befriedigt sich mehr als an den Schönheiten des Gemüthes, als des Leibes.“87 3. Bei König steht das rationalitätsskeptische Moment des Geschmacks‑ und Empfindungsbegriffes stärker im Mittelpunkt seiner Konzeption als dann bei Gottsched oder gar Bodmer und Breitinger. Dies verdankt sich bei ihm der Re81 Vgl. zum Begriff des sensus communis in der Philosophie der Neuzeit Lühe, Sensus communis, Sp. 39 ff. 82 König, Untersuchung, S. 259. 83 Brückner, Geschmack, S. 29. 84 König, Untersuchung, S. 260. 85 Ebd., S. 279. 86 Ebd., S. 280. 87 Ebd., S. 299.
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie
243
zeption des Theorems der conceptus communes, angeborener Allgemeinbegriffe, die es ihm ermöglicht, bereits in die Empfindung selber immediale rationale Momente einzutragen. Der Rationalitätsskepsis entspricht die Aufwertung des Geschmacksurteils, welches zum einen den Vorteil hat, dass es unmittelbar urteilt: „Aber das, was uns gefällt oder missfällt, kommt allemahl unserer Überlegung oder Untersuchung zuvor, unsere Seele findet dabey eine Zu‑ oder Abneigung, ohne die deutlichen Begriffe des Verstandes vorher darüber zu Rathe zu ziehen. […] Diese Empfindung ist eben der Geschmack des Verstandes, und dieser Geschmack pflegt sein Urtheil von einer Sache, die uns angenehm oder unangenehm vorkommt, nicht so lange zu verschieben, biß er zuvor derselben richtige Ordnung, Gleichförmigkeit in ihren Theilen, Schönheit oder Nutzen nach allen Regeln und guten Gründen, in einer genauen Untersuchung geprüft. […] Er [scil. Geschmack des Verstandes; G. R.] empfindet alsofort das Vollkommene in einem Verse oder in einer Rede. Kaum hat das Auge solche gelesen, oder das Ohr dieselben vernommen, als er schon sein Urtheil darüber fällt; Dahingegen der richtigste Verstand, wann er entdecken will, worinn eigentlich dasjenigen vollkommene bestehe, was den Geschmack so plötzlich eingenommen, manchmahl viele Zeit anwenden muß, weil die Ursachen einer so geschwinden Würckung leichter zu empfinden, als zu erkennen sind.“88 Zum anderen besteht der Vorteil des Geschmacksurteils vor der demonstrativischen Methode darin, dass es eine allgemein-humane Fähigkeit darstellt. Wissenssoziologisch betrachtet generieren sich Geschmacksurteile im unmittelbaren reflexiven Lebensvollzug, während das Beweisurteil seinen Ort in der Wissenschaft hat, damit also nur einen eingeschränkten Personen‑ bzw. Geltungsradius hat und beanspruchen kann. Dies geht indirekt aus folgender Zuordnung Königs hervor: „Leute, welche mehr gesunde Vernunft als Wissenschaft besitzen, urtheilen durch die Empfindung, und diejenige, so die Wissenschaft mit der gesunden Vernunft vereinigen, urtheilen durch Beweiß-Schlüsse.“89 Zum dritten – und dies ist in Hinblick auf die moralische Empfindung von besonderer Relevanz – besitzt das Empfindungsurteil als affektiv mitbestimmte Einstellung eine solche Motivationskraft, über die die rationale Einsicht nicht verfügt: „Kurtz, er [scil. Geschmack; G. R.] ist die erste Bewegung, oder, so zu sagen, eine Art eines Antriebs der gesunden Vernunft, der sie mit Gewalt fortziehet, und der sie viel richtiger führet, als alle Überlegungen, die sie selbst machen könnte.“90 Die Vernunft fungiert als Bewahrheitungsinstanz des Geschmacksurteils: „Dann ist eben der gute Geschmack, welcher uns durch die Empfindung dasjenige hochschätzen lehret, was die Vernunfft 88 Ebd.,
S. 255 ff. S. 273. 90 Ebd., S. 264. – Diesem Irrationalitätsmoment wohnt zugleich ein Widerfahrnismoment inne: „Ihre Seele wird plötzlich überrascht, ihr Gehör, oder ein anderer ihrer äußerlichen Sinne, dermaßen gereizt, daß sie unvermerckter Weise auszuruffen bewogen werden: Das ist schön! das gefällt!“ (ebd., S. 268). 89 Ebd.,
244
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
unfehlbar würde gebilligt haben, wann sie Zeit gehabt hätte, solches genugsam zu untersuchen, und durch Gegeneinanderhalten der deutlichen Begriffe, richtig darüber zu urtheilen.“91 Während diese deutlichen Begriffe dem Urteilen durch Beweisschlüsse zuzurechnen sind, liegen dem Empfindungsurteil seinerseits unmittelbar einsichtige ‚erste Begriffe‘ zugrunde, die den Wahrheitsgehalt der Empfindungen verbürgen. Damit nimmt König das Theorem der dem Menschen von Natur eingeborenen Allgemeinbegriffe auf: „Es bleiben allen Menschen gewisse Grundsätze in dem Verstande eingepflanzt, worinnen alle untereinander übereinkommen und sich vereinbaren. Wann dieser natürliche Ansatz ausgebessert wird, kann er mit der Zeit zu der allerdeutlichsten und ausbündigsten Vollkommenheit gelangen. Ja wann diese erste Begriffe durch ein neues Licht ermuntert werden, welches die verständigsten auf die unveränderlichen Regeln des schönen und des wahren aufmerksam macht, die natürlichen Folgen und notwendigen Folgerungen entdeckt, ihnen zum Vorbilde dienet, und die Ausübung erleichtert.“92 4. Das letzte Zitat zeigt zugleich, dass die Theorie der natürlichen Allgemeinbegriffe in Königs Konzeption durchaus vereinbar ist mit einer erziehungstheoretischen Dimension, die aber – im Gegensatz zu Gottsched – nicht so weit reicht, dass Gewohnheit, Erziehung und Habitualisierung alleine für die Gutheit des Geschmacks verantwortlich zu machen sind, sondern gewissermaßen nur als anregendes Moment fungieren. Die Geschmacksempfindung stellt nicht nur hinsichtlich seiner formalen Urteilsstruktur ein natürliches Erkenntnisvermögen dar, sondern auch hinsichtlich seiner Qualität. „Durch die innerliche Empfindung, welche nach der Meynung des Cicero in gewisser Masse allen Menschen gemein ist, entdecken wir, ohne Kenntnis der Regeln, was an Kunst=Stücken gut oder schlimm ist; Ja wir erkennen es eher, als wir einmahl darauf gedacht haben, es nach Grund=Sätzen der Kunst zu untersuchen.“93 König bezieht sich an dieser Stelle neben Cicero sowohl auf Quintillian, Dubos, Segrais, St. Evremont und Bouhours. Letzterer gehe so weit zu sagen, „der ‚gute Geschmack ist ein natürliches Empfinden‘ “94. Der Übung und Erziehung wird nur insofern ein Recht eingeräumt, als durch sie diese natürliche Fähigkeit angeregt und vollkommener gemacht werden kann. „Der Himmel hat uns allen, sobald wir gebohren worden, eine gewisse Beurtheilungs=Fähigkeit verliehen, welche, wenn sie durch die Erziehung und den Gebrauch der Welt vollkommener gemacht wird, uns die Geschicklichkeit zuwege bringt, von allen schönen Sachen wohl zu urtheilen.“95 Unter dieser Voraussetzung der Übung und Wohlerziehung kann ein Laie besser 91 Ebd.,
S. 261, vgl. auch S. 257. S. 321. – König bezieht sich mit dieser Theorie der natürlichen Begriffe auf Charles Rollin (vgl. Rollin, De La Maniere), aus dessen Buch er weite Passagen zitiert. 93 König, Untersuchung, S. 263. 94 Ebd., S. 264. 95 Ebd., S. 267 f., vgl. auch S. 266; 321. 92 Ebd.,
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie
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beurteilen als ein Kunstgelehrter, – ein Satz, den Gottsched und Bodmer nicht unterschrieben hätten: „Daher sagt auch Boileau, daß manche, vermittelst dieser Empfindung, besser urtheilen, als viele Kunstverständige, welche wohl die Regeln aber nicht diese feine Empfindung hätten […].“96 Es ist demnach nicht dem Urteil Berghahns zuzustimmen, dass für König das Empfindungs‑ bzw. Geschmacksurteil „nur eine niedere Form der Erkenntnis“ darstelle, „die erst noch in die Deutlichkeit eines Erkenntnisurteils überführt werden muß“97. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bereits mit Königs Geschmackstheorie und deren theoretischer Entschränkung des Geschmacks‑ und Empfindungsbegriffes, der Ästhetisierung der Moral, der Unmittelbarkeitsstruktur des ästhetischen wie moralischen Urteils wie auch mit der Natürlichkeit desselben wesentliche Momente des Geschmacks‑ und Empfindungsbegriffes in die Debatte eingebracht waren, die u. a. auch für Spalding dann eine Rolle spielen werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass König seinerseits in den genannten Punkten von Shaftesbury geprägt war. Dass er ihn kannte, belegen diverse Zitate.98 Auch wenn für Spalding eine direkte Rezeption der Geschmacks‑ und Empfindungstheorie Königs nicht zu belegen ist, so wird doch aus deren Analyse deutlich, dass Spaldings moral‑ und religionstheoretische Inanspruchnahme des Empfindungs‑ wie Geschmacksbegriffes der deutschen Debatte bereits vertraut war.
3.2 Die geschmackstheoretische und urteilstheoretische Dimension des Empfindungsbegriffs – Johann Christoph Gottscheds Debattenbeitrag „Die philosophische Bildung dieses Wolffschülers bringt das Geschmacksproblem … vorwärts. Es ist als eine historische Leistung anzusehen, daß die kritische Dichtkunst dem Geschmack ein eigenes Hauptstück widmete.“99 Diesem Urteil über Gottscheds Geschmackskonzeption in seiner Poetologie ist voll und ganz zuzustimmen, weil der Leipziger Literaturtheoretiker hier – so unsere Grundthese – den Versuch unternimmt, mit dem Begriffsinstrumentarium der Wolffschen Psychologie und Erkenntnistheorie den Geschmacksbegriff auf ein vermögenspsychologisches und erkenntnistheoretisches Fundament zu stellen und damit die beiden Linien der französisch-englischen Geschmacksdebatte sowie der Schulmetaphysik zusammenzuführen. Wir wollen die Aspekte von Gottscheds Ästhetikkonzeption rekonstruieren, die auch in Hinblick auf Spaldings Empfindungsbegriff wesentlich sind: zum ersten die geschmackstheoretische Dimension von Empfindungen, sodann deren ästhetische Komponente, drittens die urteilstheoretische Struktur der ästhetischen Empfindung (die ästhetische und urteilstheoretischen Struktur werden 96 Ebd.,
S. 267.
97 Berghahn,
Literaturkritik, S. 33. Untersuchung, u. a. S. 280 f. 99 Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 70. 98 König,
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
im Folgenden zusammen verhandelt), überdies die Innerlichkeitsdimension und sinntheoretische Dimension der Empfindung und schließlich deren naturtheoretische und wahrheitstheoretische Bestimmung. Wir werden zuerst die Konzeption des Geschmackskapitels aus dem „Versuch einer Cristischen Dichtkunst vor die Deutschen“ von 1729/30 rekonstruieren, um dann die systematische erkenntnistheoretische und psychologische Einordnung dieser Bestimmungen in seiner Metaphysik „Erste Gründe der gesamten Weltweisheit“ von 1733/34 zu erörtern. 1. Gottscheds impliziter Anspruch besteht darin, im Anschluss an die empirische Psychologie Wolffs die empfindungs‑ und urteilstheoretische Struktur des Geschmacksbegriffes psychologisch und vermögenstheoretisch auf den Begriff zu bringen und damit eine Brücke zur Metaphysik resp. Psychologie seines Lehrer zu schlagen, zugleich aber damit einen Bereich des unteren Erkenntnisvermögens aufzuwerten, wie es Wolff auch mit seiner Theorie der anschauenden Erkenntnis noch nicht intendiert hatte: „Wem es damit gelingen soll [scil. genauer zu bestimmen, was den guten Geschmack ausmacht; G. R.], der muß erstlich die Kräfte der menschlichen Seele und sonderlich die Wirkungen des empfindenden und urtheilenden Verstandes aus der Weltweisheit verstehen.“100 Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einem Geschmack im „gemeinen und eigentlichen Verstande“101 und einem „metaphorischen Geschmacke“102. Damit geht er über Wolffs Geschmacksbegriff hinaus, der – wie wir oben bereits gesehen haben – den Geschmacksbegriff ausschließlich in seiner physiologisch-organischen Bedeutung als Geschmackssinn, also im ‚gemeinen Sinne‘ kannte. Von der Erklärung dieses Geschmackssinnes nimmt Gottsched seinen Ausgangspunkt, um Grundstrukturen an ihm zu bestimmen, die auch für den metaphorischen Geschmack zutreffen und damit überhaupt erst verständlich machen, aus welchem Grunde gerade der Geschmackssinn zum Namensgeber des sog. metaphorischen Geschmackes herhalten konnte. In dem sinnlich-körperlichen Geschmack finde eine bloß leidende wie auch eine wirkende Empfindung statt. Damit wird eine erste psychologische Kategorie Wolffs allgemein auf den Geschmacksbegriff angewendet: Der Geschmack basiert zunächst auf Empfindungen, die etwas bloß Leidendes darstellen. Mit dieser reinen physiologische Rezeptivität aber hat es nicht sein Bewenden, sondern sie wird ergänzt durch eine psychische Aktivität, die mit dem Geschmack identifiziert wird: „Diese [scil. die tätige Kraft beim Geschmacksvorgang; G. R.] habe ich vor den Geschmack vorbehalten, in so weit er in der Seele ist, den ich also eine Kraft des Gemüthes nenne, vermöge welcher dasselbe die von Speise und Trank in den schwammigten Fäserchen der Zunge verursachten Veränderungen, sich vorstellen, und ihren Unterscheid beurtheilen 100 Gottsched,
Critische Dichtkunst, III, § 2, S. 169. III, § 3, S. 170. 102 Ebd., III, § 6, S. 171. 101 Ebd.,
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie
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kann.“103 Der Geschmack wird also als ein Seelenvermögen bestimmt, welches Vorstellungen generiert und Urteile fällt. Diese Vorstellungen werden nun näher als klare, aber nicht deutliche Repräsentationen bestimmt. Die oben (vgl. III.1.) benannten Wolffschen Distinktionen sind unschwer wiederzuerkennen: „Man wird mir ferner leicht einräumen, daß die Begriffe und Vorstellungen, so wir uns von dem besonderen Geschmacke verschiedener Speisen machen, bey aller ihrer Klarheit dennoch nichts deutliches in sich haben. Wir sind bey gesunden Tagen gar wohl imstande, das Süße vom Bittern, das Saure von dem Herben u.s.w. zu unterscheiden, und jedes mit seinem Namen zu nennen: Also sind die Begriffe von diesen Wörtern bey uns nicht dunkel. Wir sind hingegen nicht vermögend, das allergeringste zu antworten; wenn man uns fragt, worinnen der saure Geschmack vom bittern, dieser vom herben, scharfen u.s.f. unterschieden sey, und woran wir einen vor dem anderen erkennen.“104 Klarheit zeichnet sich gegenüber der Deutlichkeit dadurch aus, dass zwar eine Unterscheidung vorgestellt werde, diese aber nicht genau bestimmt werden könne. Damit wird das Wolffsche Klarheitstheorem mit dem französischen Geschmacksmoment des ‚je ne sais quoi‘ [‚Ich weiß nicht was‘] identifiziert: Das Geschmacksurteil basiert auf nichtbestimm‑ und aussagbaren Gründen. Diese Restriktion auf undeutliche Vorstellungen des körperlichen bzw. sinnlichen Geschmackes wird auch „von dem metaphorischen Geschmacke unsrer Seelen bemerket“105. In dieser Parallelität erblickt Gottsched die „Legitimität dieses Vergleichs“106. Überall da, wo die Vernunft tätig ist, „wo man aus deutlich erkannten Grund-Wahrheiten die strengesten Demonstrationen zu machen vermögend ist“107, spreche man nicht von Geschmack, um diesen Erkenntnisvorgang zu bezeichnen. Vielmehr werde er ausschließlich für die freien Künste (Poesie, Malerei etc.) und andere auf „bloßen Empfindungen“ basierenden Dinge bezogen. Es gilt Gottsched festzuhalten, „daß der metaphorische Geschmack, eben so wohl als der gemeine, nur mit klaren, aber nicht ganz deutlichen Begriffen der Dinge zu thun hat; und nur solche Dinge voneinander unterscheidet, die man nach der bloßen Empfindung beurtheilet.“108 Das Verhältnis von Geschmack, Begriff, Unterscheidung, Empfindung und Beurteilung ist in diesem Zitat nicht ganz einfach zu bestimmen. Zunächst scheint jedenfalls die Empfindung ausschließlich die Bedingung der Möglichkeit des beurteilenden Geschmacks darzustellen. Zugleich liegt es jedoch nahe, dass die ‚bloße Empfindung‘ eine Explikation der ‚nicht ganz deutlichen Begriffe der Dinge‘ darstelle. Diese Ver103 Ebd.,
III, § 3, S. 170. III, § 4, S. 170 f. 105 Ebd., III, § 6, S. 171. 106 Brückner, Geschmack, S. 31. – Brückner verweist dort auf weitere Literatur zu Gottscheds Parallelsetzung von physiologischem und ästhetischem Geschmack. 107 Gottsched, Critische Dichtkunst, III, § 6, S. 172. 108 Ebd., III, § 7, S. 172. 104 Ebd.,
248
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
mutung ist nicht unbegründet. Denn die synonyme Verwendung beider Termini findet sich dann auch in seiner Metaphysik von 1733, wo er im Abschnitt zur Empfindungskraft innerhalb der Vernunftlehre (nicht der Psychologie) die Empfindungsvorstellung im Einleitungsparagraphen als Gedanken bzw. als Begriff definiert und dann im Folgenden den Terminus ‚Empfindung‘ ganz ausblendet. Dass er beide synonym verwendet, wird deutlich durch den Vergleich dieses Empfindungskapitels mit dem aus der Psychologie. In diesem Kontext verwendet er konsequent den Empfindungsterminus, wofür er innerhalb der Vernunftlehre den Begriffsterminus gebraucht hat109. Der Behauptung, dass aufgrund der Undeutlichkeit der ästhetischen Empfindung beim Geschmack Gottscheds Geschmackstheorie einer „Theorie der Abschaffung des Geschmacks durch die Vernunft“110 gleichkäme und auch, dass dadurch der Geschmack „letztlich überflüssig“111 sei, wird hier ausdrücklich nicht zugestimmt. Auch wenn Gottsched die Bedingungen und die empfindungsbedingten Grenzen des richtigen Geschmacksgebrauchs aufzeigt, handelt es sich mit seiner Geschmackskonzeption wohl eher um eine kritisch-konstruktive Würdigung der ästhetisch-poetischen Empfindung.112 2. Bereits im vorherigen Absatz war von der Urteilsfunktion des Geschmacks die Rede; diese Struktur soll nun genauer analysiert werden. Die Urteilsstruktur beim Geschmacksurteil besteht in der Subsumption eines Dinges unter den Begriff des Schönen und Vollkommenen. Insofern das Urteil innerhalb des Geschmackes die entscheidende abschließende Operation vornimmt, subsumiert Gottsched den Geschmack unter das Seelenvermögen der Urteilskraft bzw. des urteilenden Verstandes: „§. 9. Nunmehro wird es leicht sein, die Beschreibung des guten und übeln Geschmackes zu machen: Jener ist nämlich der von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung richtig urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntniß hat ….“113 Der Geschmack ist ein Urteilsvermögen. Das Verdienst, dies erstmals psychologisch und erkenntnistheoretisch festgestellt zu haben, gebührt nach Alfred Baeumler Gottsched: „Endlich hat er das, was König nur andeutete und Baumgarten vollendete: die Gleichsetzung von Geschmack und Beurteilungskraft, deutlich ausgesprochen.“114 Während noch Wolff unter Urteil ausschließlich den Verbindungsakt zweier Begriffe in einem Satz verstanden habe (bspw. Der Tisch [Begriff 1] ist gelb [Begriff 2]), so fasse Gottsched unter Urteil dasjenige, was die französischen Geschmackslehren unter sentiment verstanden haben, 109 Vgl.
Gottsched, Weltweisheit, I. Teil, § 24 ff., S. 17 ff.; §§ 439 ff., S. 216 ff. Geschmack, S. 33. – Brückner bezieht sich auf Freier, Kritische Poetik, S. 124, und Scheible, Wahrheit, S. 54. 111 Brückner, Geschmack, S. 33. 112 Gegen Gabler, Geschmack, S. 138. 113 Gottsched, Critische Dichtkunst, III, § 9, S. 174. 114 Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 85 f. 110 Brückner,
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nämlich kein Bestimmungsurteil, sondern eine Art Werturteil über ein Ding.115 Der Geschmack ist also eine axiologisch bestimmte Beurteilungskraft, die Dinge mit einer Bewertungskategorie, Vollkommenheit bzw. Schönheit (bspw. Die Rose ist sinnlich vollkommen bzw. schön.), synthetisiert. Geschmack hat es ausschließlich mit der Empfindung von Schönheit (als besonderer Form von Vollkommenheit) zu tun: „Es muß aber diese Empfindung einer solchen Sache uns nothwendig die Schönheit eines Dinges vorstellen: Denn diese allein ist es, womit der Geschmack zu thun hat.“116 Damit wird zum einen der breite Geschmacksbegriff der französischen und englischen Tradition gleichsam schönheitstheoretisch reduziert; zum andern aber gehen urteilstheoretische Begriffselemente des französischen Sentiment-Begriffs in die Theorie klarer-undeutlicher Empfindungen ein. Auch wenn Empfindung und Geschmack nicht identifiziert werden, so ist es doch bereits die Empfindung, die die eigentliche ästhetische Leistung vollbringt, indem sie nämlich ‚die Schönheit eines Dinges vorstellt‘, bevor der Geschmack das Urteil fällt. Gottsched betont erneut, dass die Empfindung der Schönheit „nur undeutlich, obwohl sehr klar“117 qualifiziert ist. Die Bewertungskategorien der Vollkommenheit und Schönheit zeichnen sich vermittelst ihrer Klarheit bzw. Undeutlichkeit gerade dadurch aus, dass sie sich begrifflicher Bestimmtheit entziehen und sich vielmehr eines Lustempfindens als des alleinigen Urteilsgrundes verdanken. Es ist aber schwer zu entscheiden, ob das Lustgefühl die Schönheitsprädikation bedingt, oder ob das Urteil der Schönheit allererst das Lustgefühl konstituiert. Bei Gottsched tritt die lusttheoretische Dimension zurück, jedoch spricht Gottsched diese durch Begriffe wie „angenehm“, „Gefallen“, „Wohlgefallen“ und „Verdruß“118 durchaus an. Die Verhältnisbestimmung fällt ambivalent aus: „Man entscheidet dadurch niemals eine andre Frage, als: ob uns etwas gefällt oder nicht? Das Wohlgefallen aber entsteht allezeit aus einer Vorstellung der Schönheit ….“119 Im ersten Satz des Zitates wird das Schönheitsurteil indirekt als Konsequenz des Wohlgefallens bestimmt, während im zweiten Teil (wie auch in § 23: „Ich antworte, freylich entsteht das Wohlgefallen allezeit aus der Empfindung einer Schönheit.“120) das Verhältnis so dargestellt wird, 115 Petra Bahr meint in ihrer Studie, dass dieses Verdienst erst Baumgarten zukomme, der die Urteilskraft in die Tafel der Seelenvermögen ausdrücklich aufgenommen hat (vgl. Bahr, Darstellung, S. 185). Diese Tendenz, Gottsched ideengeschichtlich zu übergehen, ist bei Bahr in einigen Zusammenhängen festzustellen. Bspw. im Abschnitt „Die Säkularisierung des Wunderbaren“ (S. 163–170) werden Bodmer, Breitinger und Baumgarten als Antipoden zu Gottscheds angeblicher Wunderfeindlichkeit aufgebaut. Schaut man sich aber das einschlägige Kapitel in Gottscheds „Critischer Dichtkunst“ genauer an („Von dem Wunderbaren in der Poesie“), findet sich auch bei ihm eine Unterscheidung von falschem und wahrem Wunderbaren (vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst, V, §§ 19 ff., S. 241 ff.). 116 Ebd., III, § 10, S. 175. 117 Ebd. 118 Ebd., III, § 10, S. 175; § 20, S. 184; § 23, S. 185 f. 119 Ebd., III, § 10, S. 175. 120 Ebd., III, § 23, S. 185.
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
dass Wohlgefallen resp. Lust durch Schönheitserkenntnis qua klare Empfindung generiert wird und einen Begleitreflex darstellt. Wie auch immer: Der dem Geschmacksurteil zugrundliegenden ästhetischen Empfindung der Schönheit korreliert eine Lust. Auch hier sei Brückner und seinen forschungsgeschichtlichen Gewährsmännern also widersprochen, die der Geschmackskonzeption Gottscheds jedweden Rekurs auf lusttheoretische Begriffsmomente absprechen121. Gottsched beraubt gerade den Geschmacksbegriff nicht seiner „spezifischen Merkmale“122, sondern setzt ihn mit dem Verweis auf dessen lusttheoretische Dimension vom deutlichen Verstandesurteil ab. 3. In § 9 schlägt Gottsched die Beurteilungskraft vermögenstheoretisch dem Verstand zu und kann sich nicht dazu durchringen, den Geschmack als einen spezifischen Sinn zu bestimmen: „Die Sinne aber haben gar kein Recht dazu, man müsste denn einen sechsten Sinn … davon machen wollen ….“123 Diese Überlegungen verdanken sich der empfindungstheoretischen Basis des Geschmacksbegriffes, denn: Empfindungen entspringen bei Wolff aus den fünf Sinnen. Der metaphorische Geschmack als Sinn müsste aber – so Gottscheds Einsicht mit seinem Diktum vom ‚sechsten Sinn‘ – von den fünf äußeren Sinnen völlig verschieden vorgestellt werden, weshalb er diese Idee ohne weitere Diskussion auch verwirft. Um den Geschmack überhaupt vermögenspsychologisch unterzubringen, rechnet er ihn vorerst zum Verstand: „Ich rechne zuvörderst den Geschmack zum Verstande; weil ich ihn zu keiner andern Gemüthskraft bringen kann.“124 Dies hat aber Rückwirkungen auf den Empfindungsbegriff, indem er die Geschmacksempfindung als innerliche Empfindung bezeichnet: „Ich setzte ferner, daß sich dieses Urtheil auf die bloße Empfindung gründet: und ich verstehe die innerliche Empfindung einer schönen Sache, die entweder wirklich außer uns vorhanden, ist oder von unsrer eignen Phantasie hervorgebracht worden: wie z.E. ein Maler sich in Gedanken einen Entwurf eines Gemäldes machen, und nach seinem Geschmacke von der Schönheit desselben urtheilen kann.“125 Diese innerliche Empfindung ist nicht von äußeren Sinnesempfindungen abhängig, sondern kann auch Dinge vorstellig machen, die nicht gegenwärtig, sondern von der Einbildungskraft (Phantasie) bereitgestellt werden. Die ästhetische Empfindung gehört also wie der eng mit ihr verknüpfte Geschmack eher zum Verstand als zu den äußeren Sinnesempfindungen126. Damit geht Gottsched über Wolffs Begriff der Empfindung in dreifacher Weise hinaus. Zum ersten sind diese Empfindungen nicht mehr nur Rezeptionen äußerer Dinge, zum zweiten nicht mehr
121 Vgl.
Brückner, Geschmack, S. 34. ebd. 123 Gottsched, Critische Dichtkunst, III, § 9, S. 175. 124 Ebd., III, § 9, S. 174. 125 Ebd., III, § 9, S. 175. 126 Vgl. ebd., III, § 9, S. 174 f. 122 Vgl.
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie
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nur gegenwärtiger Dinge und zum dritten verfügen sie über eine ästhetische Urteilsstruktur, die Wolff noch nicht explizit für die Empfindung reklamiert hatte. 4. Was den Wahrheitswert der ästhetischen Empfindungsurteile anbelangt – und darauf kommt es uns im Blick auf Spalding an – so vertritt Gottsched eher eine skeptische Position127: Geschmacksurteile differieren erfahrungsgemäß und können der Sache entsprechen oder nicht. Da diese Urteile auf nur klaren Empfindungen gründen, die nicht deutlich und somit unbegründbar gefällt werden, bedarf es im Zweifelsfalle einer externen Urteilsinstanz. Diese besteht in einer Fachkompetenz, die die Natur der Dinge erkannt hat und die die ihr gemäßen Regeln der Kunst beherrscht. „Der Probierstein dieses Urtheils darf nicht weit gesucht werden. Man findet ihn in den Regeln der Vollkommenheit, die sich vor jede besondre Art schöner Dinge … schicken, und die von rechten Meistern derselben deutlich begriffen und erwiesen worden.“128 Entspricht das Geschmacksurteil dem rationalen Urteil, dann kann von einem guten Geschmack gesprochen werden. Ein guter Geschmack kommt dem Menschen nicht ohne Weiteres zu; sondern von einem natürlichen Geschmack kann Gottsched nur hinsichtlich der Anlage sprechen. „Man will ferner wissen: Ob gewissen Leuten der gute, andern aber der schlimme Geschmack angebohren sey? Ich antworte ebenso, wie vorhin. So wenig einem eine gesunde, dem andern eine verderbte Natur angebohren ist: So wenig ist solches auch bey dem Geschmacke zu vermuthen.“129 Seine Qualität hängt ganz von der Ausbildung und Prägung desselben ab.130 Gottsched nimmt hier eine erziehungstheoretisch begründete vermittelnde Position ein, mit der er sich in einer ausführlichen Anmerkung auf eine Passage aus Shaftesburys „Miscellaneous Reflections“ zum Geschmacksbegriff bezieht131. Von einem natürlichen guten Geschmack ist bei Gottsched demnach nie die Rede, sondern vielmehr überwiegt die Klage über den durch falsche Gewohnheit und falsche Vorbilder verderbten Geschmack. Ist dann aber der glückliche Umstand zu verzeichnen, dass ein guter Geschmack internalisiert bzw. habitualisiert ist, urteilt der allgemein-humane Geschmack unmittelbar und treffsicher, ohne seine Vernunft in Anspruch nehmen zu müssen. „Dadurch [scil. durch Kunsterziehung an geschmackvollen Mustern klassischer Autoren; G. R.] wird man der Jugend unvermerkt eine Geschicklichkeit, wohl zu urtheilen beybringen …. Nichts wird ihr hernach gefallen können, was nicht eine wirkliche Schönheit hat: und wenn sie gleich die innern Regeln der darinnen befindlichen Vollkommenheiten nicht eingesehen; so wird sie doch fähig seyn, durch eine 127 Das Urteil von Baeumler ist wohl etwas zu radikal: „Der Empfindung wird ihr Recht, freilich nur in der Definition. Denn praktisch hat Gottsched dem Geschmack nichts zugetraut.“ (Baeumler, Irrationalitätsproblem, S. 71.) 128 Gottsched, Critische Dichtkunst, III, § 10, S. 175 f. 129 Ebd., III, § 13, S. 178. 130 Vgl. ebd., III, § 13, S. 178. – „Die einfältigsten Weibspersonen legen den ersten Grund zu dem verderbten Geschmacke, den viele haben.“ (ebd., III, § 14, S. 179). 131 Ebd., III, § 12, S. 177 [Anm. 2].
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
zärtliche Empfindung wahrzunehmen, ob dieselben in einem Gedichte, oder Ausputze desselben beobachtet worden oder nicht.“132 Gottsched nimmt hier also die Nachahmungstheorie Horazens auf: Ein guter Geschmack müsse durch Kenntnis und Nachahmung guter und geschmackvoller Beispiele geschult und ausgebildet werden. Hat Gottsched in der „Critischen Dichtkunst“ sein Konzept des Geschmacks bereits in die ihm durch Wolffs Metaphysik vertraute Terminologie eingezeichnet und mit dem westeuropäischen Geschmacksdiskurs verschränkt, so unternimmt er in seiner Metaphysik den Versuch, seine poetologisch-ästhetischen Überlegungen erkenntnistheoretisch und psychologisch zu begründen. Sein diesbezügliches Verdienst wurde ihm bereits von bedeutenden Zeitgenossen bestritten oder einfach ignoriert. Sowohl Baumgarten als auch sein Schüler Meier konzipieren ihre Ästhetiken mit dem Bewusstsein, dass zwar die Geschmacksdebatten eine begrüßenswerte Konjunktur der ästhetischen Diskussion hervorgerufen haben, diese aber noch einer wissenschaftlichen Durchklärung bedürften. Dies stellt das Hauptmotiv ihrer wissenschaftlichen Arbeit dar. „Bouhours [scil. D. Bouhours, La maniere de bien penser dans les ouvrages d’esprit, Paris 1687; G. R.], Crousaz in seinem traite du beau, die Gespräche der Maler [scil. von Bodmer und Breitinger, Zürich 1721–23; G. R.], die Abhandlung vom Geschmack [scil. Briefwechsel von der Natur des poetischen Geschmacks, Zürich 1736; G. R.] enthalten viel Allgemeines vom Schönen; aber sie erschöpfen es nicht. Es konnte noch nicht in die gegenwärtige Form einer Wissenschaft gebracht werden.“133 Während sich Baumgarten hier mehr auf den französischen und schweizerischen Diskussionszusammenhang bezieht, nimmt der Hallenser Meier seinen Leipziger Kollegen Gottsched direkt ins Visier: „Da ich nun die Critische Dichtkunst für ein Buch halte, welches voller Mängel und Fehler ist, so halte ich dasselbe für ein Buch, welches den Geschmack der Deutschen in der Dichtkunst verdirbt.“134 Diese Kritik von Schüler und Lehrer veranlasste beide, bewusst über Christian Wolff hinausgehend den Bereich des Ästhetischen – d. h. für beide die sinnliche bzw. Empfindungserkenntnis – in den Rang einer eigenen Wissenschaft zu erheben. Erst in diesem Zusammenhang erfuhr die Kategorie des Sinnes, der Empfindung und des Geschmacks gleichsam ihre schulphilosophische Approbation. Abgesehen jedoch von Baumgartens Einschätzung der Geschmacksdebatte und von Meiers Gottschedschelte muss dem Leipziger Literaturpapst eingeräumt werden, dass er als erster bereits 1733 f. – also zwei Jahre vor Baumgartens 132 Ebd.,
III, § 18, S. 182 f. Grundlegung der Ästhetik, S. 82. 134 Meier, Beurtheilung, Eingang, § 1, S. 4. – Eine Kritik der Gottschedschen Poetologie und Geschmackstheorie findet sich auch bereits in Meiers „Untersuchung“ (vgl. Meier, Untersuchung). Zum Verständnis des Debattenzusammenhanges um den sogenannten Kleinen Dichterkrieg zwischen Meier und den Gottschedianern vgl. die Einleitung von Schenk, ebd., S. VII–XIX. 133 Baumgarten,
3. Der Empfindungsbegriff im Kontext der Geschmackstheorie
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„Meditationes“, fünfzehn Jahre vor Meiers „Anfangsgründen“ und siebzehn Jahre vor Baumgartens „Aesthetica“ – in seinem Metaphysiklehrbuch „Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit“ den Begriff des Geschmacks und in eins damit der Empfindung in seiner urteilstheoretischen und ästhetischen Dimension in die Schulmetaphysik der wolffianischen Tradition integriert hat. Nicht in den Abschnitten zur Empfindungskraft, sondern im Abschlussparagraphen des IV. Hauptstückes, „Von dem Verstande und der Beurtheilungskraft“, innerhalb der Geisterlehre wird der Begriff des Geschmackes und des Schönen eingeführt. Vorbereitet wird dies durch die systematische Verbindung von Wolffs Kategorie der anschauenden Erkenntnis und der Beurteilungskraft. Gottsched bestimmt die erkenntnistheoretische Kategorie der anschauenden Erkenntnis in ihrer urteilstheoretischen Hinsicht näher und rückt sie damit einen Schritt weiter an die klare-undeutliche Geschmacksempfindung heran:135 „§.488. Was wir durch die Aufmerksamkeit auf unsre sinnlichen Empfindungen erkennen, das nennen wir die Erfahrung. Nun können wir dergestalt nicht nur Begriffe, sondern auch Urtheile erfahren, wie die obigen Exempel lehren. Diese Erfahrungsurtheile nun gehören zum anschauenden Erkenntnisse, und werden daher auch Anschauungsurtheile genennet.[…].“136 Im letzten Paragraphen des Beurteilungskapitels nun bestimmt er eine Unterklasse von solchen Anschauungsurteilen als ästhetische Urteile und die ihnen entsprechende Urteilskraft als Geschmack: „§.492. Wenn man in zusammengesetzten Begriffen viel übereinstimmendes wahrzunehmen vermeynet; selbiges aber nicht deutlich auseinander setzen, oder die Regeln der Vollkommenheit so darinnen befindlich sind, erklären kann: So urtheilet man ein Ding sey schön (§ 250); wie wir im Gegentheil dasselbe vor heßlich halten. Diese Kraft der Seele von einer klaren empfundenen Vollkommenheit oder Unvollkommenheit zu urtheilen, heiße der Geschmack; welcher gut genennet wird, wenn er richtig, übel aber, wenn er unrichtig urtheilet. Z. E. kan eine Musik, ein Gemählde oder Gedicht dienen.“137 Während er hier den Vollkommenheitsbegriff verwendet, so kann er auch für die ästhetische anschauende Erkenntnis den Begriff der Schönheit in Anspruch nehmen: „§ 256 Wenn eine solche Vollkommenheit (d. h. eine Übereinstimmung des Mannigfaltigen) in die Sinne fällt, und, ohne deutlich eingesehen zu werden, klar empfunden wird, so heißt sie eine Schönheit.“138 Die Empfindung von Schönheit ist also als eine klare Vollkommenheits-Empfindung eines Zusammengesetzten definiert. Gottsched unterscheidet in seiner Metaphysik Empfindungen zum einen hinsichtlich ihres Relates (Gegenwart – Abwesendheit; Einfachheit – Zusammengesetztheit), 135 Wir werden im folgenden Abschnitt sehen, dass Georg Friedrich Meier die anschauende Erkenntnis im Kontext der Lebendigkeit der ästhetischen Gedanken zu einer ästhetischen Zentralkategorie ausbaut (vgl. III.4). 136 Gottsched, Weltweisheit, I. Teil, § 488, S. 237. 137 Ebd., I. Teil, § 492, S. 239. 138 Ebd., I. Teil, § 256, S. 134.
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
zum anderen hinsichtlich ihres Vollkommenheitsgrades (Klarheit – Dunkelheit; Klarheit: Verwirrtheit und Deutlichkeit)139. Die Empfindungsklasse der nur klaren, aber undeutlichen Empfindungen klassifiziert Gottsched nun erkenntnistheoretisch folgendermaßen: „§ 444. Den unteren Grad der erkennenden Kraft nennen wir denjenigen, da sich ein empfindendes Wesen die Dinge nur klar und verwirrt vorstellt und abbildet. […]“140 Gottsched führt also die bei Baumgarten und Meier dann gängige Unterscheidung von unterem und oberem Erkenntnisvermögen so nebenher in die Metaphysik ein, und damit wird klar: Indem die nur klare-undeutliche Empfindung dem unteren Erkenntnisvermögen zugeordnet wird, diese aber in der aufkommenden Ästhetik wiederum für das gesamte Gebiet der ästhetischen Erfahrung und des Geschmacks in Anschlag gebracht wird, erfährt zum einen der Geschmacksbegriff eine erkenntnistheoretische Basis, und zum anderen das untere Erkenntnisvermögen mit den klaren-undeutlichen Empfindungen eine erste metaphysische Aufwertung.141 Gottscheds Geschmackstheorie innerhalb seiner Poetologie wie auch innerhalb seiner Metaphysik leistet einen Brückenschlag zwischen der Schulmetaphysik, genauer der empirischen Psychologie Christian Wolffs, und der sich aus der angelsächsisch-französischen Tradition speisenden Geschmacksdebatte der 1720er und 1730er Jahre. Sein Verdienst besteht darin, als erster die erkenntnistheoretischen Bestimmungen des Empfindungsbegriffs Wolffs für die ästhetische Beurteilungsstruktur des Geschmacks namhaft gemacht zu haben. Gottsched kann hier nahtlos an Wolffs empfindungstheoretische Differenzierung zwischen Deutlichkeit und Klarheit sowie dessen lusttheoretische Bestimmung der Empfindung anknüpfen. Vermögenstheoretisch subsumiert Gottsched die Geschmacksempfindung aufgrund ihrer Beurteilungsstruktur unter den Verstand und begreift sie damit als ein rationales Vermögen. Als eigener Sinn kommt bei Gottsched die Geschmacksempfindung noch nicht zu stehen. Hinsichtlich ihrer Natürlichkeit vertritt der Poetologe eine vermittelnde Position: Die der Anlage nach natürlich gute innerliche Geschmacksempfindung bedarf zu ihrer Ausbildung der ästhetische Erziehung. Erst dann kann sie unmittelbar richtig urteilen.
139 Vgl.
ebd., I. Teil, § 440, S. 217. I. Teil, § 444, S. 218. 141 Eine Aufwertung gar der dunklen Empfindungen beginnt schon in Frankreich mit J.-B. Dubos’ „Reflexions critiques sur la poesieet sur la peinture“ (Paris 1719), und wird in Deutschland durch Sulzers „Versuch über das Genie“ (Berlin 1759 ff.), Mendelsohns „Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen“ (Berlin 1761) und schließlich Wackenroder durchgesetzt, wobei der rationalistische Vollkommenheitsbegriff, der für die klare Empfindung als ästhetische Vollkommenheit noch eine Rolle gespielt hat, entfällt. (vgl. dazu Barth, Ästhetisierung, S. 234 ff.). 140 Ebd.,
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4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik – Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers Debattenbeitrag Zu den bisher verhandelten Autoren steht Baumgarten in mehr oder weniger direktem Bezug. Ohne Frage steht sein Lehrer Wolff hier an erster Stelle.142 Über Königs Geschmacksschrift dürfte er mit der französischen Ästhetikdebatte vertraut gemacht worden sein; und auch dass er seine Dichtungstheorie in kritischer Bezugnahme auf Gottscheds „Critische Dichtkunst“ entwickelt hat, wurde schon von der älteren Baumgartenforschung gezeigt.143 Das früheste Zeugnis von Baumgartens Poetik‑ resp. Ästhetikkonzeption ist in seiner Dissertation „Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes]“ aus dem Jahre 1735 greifbar. In dieser knapp 50seitigen und 117 Paragraphen umfassenden lateinisch verfassten Schrift unternimmt Baumgarten den Versuch, das Wesen des Gedichtes unter Rückgriff auf die Terminologie und Begrifflichkeit der ihm wohlvertrauten Wolffschen Schulphilosophie zu bestimmen. Seine Poetik mündet in den Nachweis der Notwendigkeit einer Ästhetik als einer philosophischen Disziplin ein144 und stellt damit eine Vorarbeit zu seiner „Aesthetica“ von 1750 dar.145 Der Aufriss der „Betrachtungen“ lehnt sich an die klassische Normalgliederung der Rhetorik an146: Der Inventio entsspricht die die cogitatio poetica [poetische Gedanke]147, der Dispositio der ordo praesentationum poeticarum [Ordnung der poetischen Vorstellungen]148 und der Elocutio die termini poetici [poetische Ausdrücke]149. Da es uns um die metaphysische und erkenntnistheoretische Struktur des Gedichtes und hier in erster Linie um den Empfindungs‑ und Geschmacksbegriff geht, beziehen wir uns im Folgenden vornehmlich auf den ersten Teil. Der erste Wolffsche Begriff, den Baumgarten als zentrale Kategorie seiner Theorie des Gedichtes übernimmt, ist der der Vorstellung (repraesentatio), denn: „§ 1. Orationem cum dicimus, seriem vocum repraesentationes connexas 142 Vgl.
Riemann, Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, S. 14 ff. ebd., S. 87. 144 Vgl. Baumgarten, Meditationes, § CXVI, S. 84 ff. 145 Vertiefend zur Ästhetik und Dichtungstheorie Baumgartens vgl. Riemann, Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens; vgl. Schmidt, Sinnlichkeit und Verstand, S. 177 ff.; vgl. Gross, Felix aestheticus. 146 Vgl. Franke, Kunst als Erkenntnis, S. 28 [Anm. 52]. – Vgl. dazu konkret die Gliederung in Baumgartens Einleitung, ohne dass er hier explizit auf die Rhetorik verweist (vgl. Baumgarten, Meditationes, S. 4 ff.). 147 Vgl. ebd., §§ I–LXV, S. 7–55. 148 Vgl. ebd., §§ LXV–LXXVII, S. 54–65. 149 Vgl. ebd., §§ LXXVII–CVII, S. 64–81. 143 Vgl.
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
significantium intelligimus [Unter einer Rede verstehen wir eine Reihe von Wörtern, die zusammenhängende Vorstellungen bezeichnen].“150 Da es hier zunächst um die Rede im Allgemeinen geht, ist diese zusammengesetzte Vorstellung hinsichtlich des Themas zu spezifizieren. Dazu unterscheidet Baumgarten dunkle und verworrene Vorstellungen auf der einen und deutliche Vorstellungen auf der anderen Seite. Die ersteren sind Teil der „facultatis cognoscitivae inferiorem [niederen Teil[s] des Erkenntnisvermögens]“ und werden mit der Qualität der Sensitivität belegt.151 Daraus folgt für den Begriff der Rede: „§ IV. Oratio repraesentationum sensitivarum sit sensitiva [Eine Rede, die aus sensitiven Vorstellungen besteht, sei sensitiv genannt].“152 Eine sensitive Rede ist jedoch erst aufgrund der Vollkommenheitsqualität ein Gedicht. Die Definition des Gedichtes in § IX ist der erste argumentative Zielpunkt der Schrift: „§ IX. Oratio sensitiva perfecta ets Poema … [Eine vollkommene sensitive Rede ist ein Gedicht …].“153 Ab dem § XI durchklärt Baumgarten nun noch einmal ausführlich den Begriff der sensitiven Vorstellung als Hauptcharakteristikum des Gedichts. Diese Passagen sind für uns hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Valenz von Bedeutung. Denn der Begriff der sensitiven Vorstellung steht in Baumgartens Terminologie zunächst für das, was Wolff als Empfindung bezeichnet hat, worauf Baumgarten erst an späterer Stelle terminologisch rekurriert154. Die sensitive Vorstellung kann dunkel oder klar, jedoch nicht deutlich sein155. Die poetische sensitive Vorstellung sollte den Erkenntnisgrad der Klarheit haben und über die Dunkelheit hinausgehen, ohne jedoch deutlich zu sein.156 Klarheit unterscheidet sich von Dunkelheit durch Wiedererkennbarkeit, von der Deutlichkeit durch die Nicht-Bestimmbarkeit der Unterscheidungsmerkmale einer vorgestellten Sache. Etwas verwirrend ist Baumgartens der Unterscheidung von Dunkelheit, Klarheit und Deutlichkeit querliegende Differenzierung von Dunkelheit und Klarheit. Letztere wird noch einmal in Verworrenheit und Deutlichkeit untergliedert, wobei die Verworrenheit als Merkmal der sensitiven Vorstellungen der Poesie zukomme: „§ XV. Quum clarae repraesentationes sint poeticae, § 13, aut erunt distinctae aut confusae, iam distinctae non sunt, § 14, ergo confusae [Da klare Vorstellungen poetisch sind, § 13, klare Vorstellungen deutlich oder verworren sein können, die deutlichen schon nach § 14 nicht infrage kommen, so sind also die verworrenen poetisch].“157 Damit verwendet Baumgarten den Begriff der Klarheit in einer doppelten Weise, zum einen als Gegensatzbegriff zu Dunkelheit 150 Ebd.,
§ I, S. 6 f. § III, S. 8 f. 152 Ebd., § IV, S. 8 f. 153 Ebd., § IX, S. 10 f. 154 Vgl. zur ideengeschichtlichen Tradition Baumgartens Paetzold, Einleitung, S. XVII f. 155 Vgl. Baumgarten, Meditationes, § XII, S. 12 f. 156 Vgl. ebd., § XIII f., S. 14 f. 157 Ebd., § XV, S. 16 f. 151 Ebd.,
4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik
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und Deutlichkeit (vgl. § 13 f.), zum anderen als Allgemeinbegriff, unter dem Verworrenheit und Deutlichkeit als gestufte Erkenntnisqualitäten firmieren. Ohne diese Spannung auflösen zu können, müssen wir festhalten, dass Klarheit und Verworrenheit von Baumgarten synonym verwendet werden können. Baumgarten trägt nun in den Begriff der klaren resp. verworrenen sensitiven Vorstellungen das Begriffsmerkmal der extensiven Klarheit ein, das in der bisherigen Begriffsgeschichte der klaren Empfindung bzw. klaren sinnlichen Vorstellung noch nicht anzutreffen war. Das Merkmal der Extensivität bezeichnet denjenigen „claritatis gradus [Grade der Klarheit]“158 im Gegensatz zur intensiven Klarheit, die eine Vorstellung deutlich werden lässt159. Während die Intensität die begrifflich-sprachliche Allgemeinbestimmung einer Repräsentation charakterisiert, so verbirgt sich hinter dem Begriff der Extensität die Anreicherung der Merkmale einer vorgestellten Sache. Je größer die Extensität einer Vorstellung ist, desto poetischer sei sie: „XVII. In extensive clarissimis repraesentationibus plura repraesentantur sensitive quam in minus claris, § 16, ergo plura faciunt ad perferctionem poematis, § 7. Hinc repraesentationes extensive clariores sunt maxime poeticae, § 11 [In extensiv sehr klaren Vorstellungen wird mehr sensitiv vorgestellt als in weniger klaren, § 16. Folglich tragen sie mehr zur Vollkommenheit des Gedichtes bei, § 7. Daher sind extensiv klarere Vorstellungen äußerst poetisch, § 11].“160 Während sich intensive Klarheit bzw. Deutlichkeit einer Vorstellung durch die Subsumption spezifischer Merkmale einer Entität unter begriffliche Bestimmungen konstituiert, basiert die Extensivität einer sinnlichen Vorstellung auf einer möglichst genauen und vielfältigen Benennung dieser spezifischen Merkmale. In der Linie dieser impliziten Entgegensetzung von Allgemeinbegriff und Individualbegriff steht Baumgartens Einführung des Individuenbegriffs zur Bezeichnung der Höchstform der Extensivität: „§ XIX. Individua sunt omnimodo determinata, ergo repraesentationes singulares sunt admodum poeticae, § 18 [Individuen sind durchgängig bestimmt. Folglich sind Einzelvorstellungen besonders poetisch, § 18].“161 In § XX liefert Baumgarten eine der Sache nach definitionstheoretische Erklärung: Da die Spezifikation einer Gattung eine Art definiert und diese Struktur wiederum iterierbar ist, stellen jeweils Vorstellungen der je niederen Gattung bzw. Art poetischere Repräsentationen dar als die je niedrigeren162. Die höchste Steigerungsform der extensiven 158 Ebd.,
§ XVI, S. 16 f. ebd. – Paetzold begreift beide Charakteristika, Intensität und Extensität, als Grade von Klarheit, wobei die Intensität eine „Vorstufe zur Deutlichkeit“ (Paetzold, Einleitung, S. XX) darstelle. Für diese Interpretation geben die zugegeben sehr knappen Ausführungen Baumgartens jedoch keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Dieses Missverständnis Paetzolds resultiert vermutlich aus seiner Verkennung der doppelten Verwendung des Klarheitsbegriffs. 160 Baumgarten, Meditationes, § XVII, S. 16 f. 161 Ebd., § XIX, S. 18 f. 162 Ebd., vgl. § XX, S. 18 f. 159 Vgl.
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
Spezifikation wäre der Individuenbegriff163; als weiteren Fall von Bestimmtheitsanreicherung nennt Baumgarten das „Exemplum [Beispiel]“164 bzw. die „exempl. singularia [Einzelbeispiele]“165. Spricht Paetzold von einer „logische[n] Rehabilitation des Individuellen“166, so handelt es sich doch richtiger um deren poetische resp. ästhetische Aufwertung. Hatte Baumgarten zunächst den allgemeineren Begriff der repraesentatio sensitiva bzw. sinnlichen Vorstellung verwendet, so führt er in § XXIV den Begriff der sensuales bzw. Empfindungen ein: „§ XXIV. Repraesentationes mutationum repraesentantis praesentium sunt Senuales eaeque sensitivae, § 3, adeoque poeticae, § 12 [Vorstellungen von gegenwärtigen Veränderungen des Vorstellenden sind Empfindungen. Diese sind sensitiv, § 3, und folglich poetisch, § 12].“167 Das Definitionsmerkmal der ‚gegenwärtigen Veränderung des Vorstellenden‘ knüpft an Wolffs Bestimmung der Empfindung als gegenwärtiger Veränderung der Seele an, die auch bereits Gottsched cum grano salis in seiner Geschmackstheorie adaptiert hatte. Die Empfindungen verfügen über eine affekttheoretische sowie praktische Dimension. Baumgartens Ausführungen dazu sind einigermaßen enigmatisch: „§ XXV. Affectus cum sint notabiliores taedii et voluptatis gradus, dantur eorum repraesentationes sensuales in repraesentante sibi quid confuse, ut bonum et malum, ergo determinant repraesentationes poeticas, § 24; ergo affectus movere est poeticum, § 11 [Da Affekte merklichere Stufen der Unlust und der Lust sind, so werden ihre Empfindungen demjenigen, der sich etwas vorstellt, als in verworrener Weise Gutes und Schlechtes gegeben. Sie bestimmen also die poetischen Vorstellungen, § 24. Daher ist es poetisch, Affekte zu erregen, § 11].“168 Ohne alle Aspekte dieses Paragraphen rekonstruieren zu können, sei doch seine logische Struktur im Zusammenhang mit § XXIV skizziert. Zunächst wurden in § XXIV die Empfindungen als sensitiv und mithin als verworren und poetisch definiert. Diesen Empfindungen als sensitiven, verworrenen und poetischen Vorstellungen korrelieren Affekte, deren Kausalitätsverhältnis undeutlich bleibt, das jedoch so zu bestimmen ist, dass auf eine Empfindung Lust oder Unlust folgen. Da die empfundenen Affekte der Lust bzw. Unlust einen höheren gnoseologischen Grad der Notabilität aufweisen, evozieren sie zugleich Vorstellungen von Gut und Böse. Diese weisen in Korrespondenz zu den ihnen zugrundeliegenden affektiven sensitiven Empfindungen ebenfalls den Charakter der Verworrenheit und damit der Poetizität auf und steigern damit die Extension einer sensitiven Vorstellung bzw. Empfindung. Für unseren Kon163 Zu Baumgartens Konzept des Individuell-Besonderen vgl. Gross, Felix aestheticus, S. 131 ff. 164 Baumgarten, Meditationes, § XXI, S. 20 f. 165 Ebd., § XXII, S. 22 f. 166 Paetzold, Einleitung, S. XXII. 167 Baumgarten, Meditationes, § XXIV, S. 24 f. 168 Ebd., § XXV, S. 24 f.
4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik
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text ist zunächst festzuhalten, dass Empfindungen affekt‑ und lusttheoretisch bestimmt sind. Zudem verfügen sie über einen Konnex zur Wertebene von Gut und Böse und sind damit moralisch dimensioniert. Paetzold weist zu Recht darauf hin, dass Baumgarten damit in der Tradition von Wolffs empirischer Psychologie steht, nach der Affekte nicht nur in die Erkenntnistheorie, sondern zugleich in den Bereich des unteren Begehrungsvermögens gehören. Dass es sich dabei nicht nur um eine moralische Bewertung handelt, sondern auch um eine praktisch relevante Vorstellung, erhellt aus dem in § XXVI eingeführten Begriff der „motiones affectuum [Gemütserregungen der Affekte]“169. Im Kontext der Diskussion der poetischen Ausdrücke führt Baumgarten unvermittelt den Begriff des Sinnesurteils und der Lust bzw. Unlust ein: „§ XVII. Iudicium de perfectione sensorum confusum dicitur Iudicium sensuum et illi sensorio organo adscribitur, quod senso afficitur [Ein verworrenes Urteil über die Vollkommenheit der Sinne wird Sinnesurteil genannt. Es wird dem entsprechenden Sinnesorgan zugeschrieben, das durch die Empfindung angeregt wird]. […] § XCIII. Iudicium aurium vel est affirmativum vel negativum, § 91; affirmativum voluptatem, negativum taedium procreabit, quum urtumque determinet repraesentatio confusa, § 92, hinc sensitiva, § 3, et poetica, § 12; excitare vel taedium vel voluptatem auribus poeticum, § 11 [Das Urteil der Ohren ist entweder zustimmend oder ablehnend, § 91. Das zustimmende wird Lust, das ablehnende Unlust erzeugen. Da eine verworrene Vorstellung die beiden bestimmt, § 92, folglich eine sensitive, § 3, und eine poetische, § 12, so ist es poetisch, für die Ohren entweder Unlust oder Lust zu erregen].“170 In § XCII definiert Baumgarten das Qualitätsurteil über die Vollkommenheit einer sinnlichen Vorstellung als Sinnesurteil. Bemerkenswert ist seine etwas zögernde Zuordnung dieses Werturteils zum jeweils entsprechenden Sinnesorgan, das durch eine Empfindung affiziert wird. Wir werden in der Analyse der „Metaphysica“ sehen, dass Baumgarten seine Konzeption in diesem Punkt nicht unwesentlich weiterentwickelt. In seiner Erklärung des Paragraphen beruft er sich explizit auf die Geschmacksdiskussion, ohne jedoch diesen Begriff für sein Konzept des Sinnesurteils zu übernehmen. In § XCIII wird der lusttheoretische Faden von § XXV ff. wieder aufgenommen: Lust und Unlust verdanken sich eines Sinnesurteils. Zieht man beide Erörterungskontexte zusammen, dann erfährt der Empfindungsbegriff indirekt eine urteilstheoretische Grundlegung. Es sei notiert, dass durch das Theorem der Affirmation und Negation (Zustimmung und Ablehnung) wiederum der Bezug zum Begehrungsvermögen hergestellt wird: Was mit Lust empfunden wird, evoziert eine Zustimmung. Grund eines Sinnes-
169 Ebd., 170 Ebd.,
§ XXVI, S. 26 f. § XCII f., S. 68–71.
260
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
urteils ist eine Übereinstimmungs‑ bzw. Gemäßheitsrelation, die alle Aspekte der „sonoritas [Wohlklang]“171 betrifft. Es bleiben in Baumgartens früher Konzeptskizze einige Fragen offen. Die erste betrifft die grundsätzliche Frage, um welche Seite der poetischen Konstellation von Rezipient und zu Rezipierendem es sich mit den Affekten, Empfindungen und Vorstellungen von Gut und Böse handelt. Das Zweite betrifft die Frage nach der ästhetischen Dimension von Baumgartens früher Poetiktheorie: Weder der Vollkommenheits‑ noch der Schönheitsbegriff stellen Grundkategorien dar. Lediglich im Zusammenhang des Extensionstheorems ist immer wieder von poetischer Vollkommenheit die Rede: „Man sieht leicht ein, daß durch die Konzeption der extensiven Klarheit der Begriff der Vollkommenheit durchschimmert.“172 Schließlich ist sich der Autor bei der Bestimmung der Instanz des Sinnesurteils unschlüssig. Am Ende seiner poetologischen Abhandlung zieht Baumgarten programmatische Schlussfolgerungen für eine philosophische Grundlagenwissenschaft, die der Poetik allererst als Fundament dienen könne. Während die Logik diejenige Wissenschaft ist, „facultatem cognoscitivam superiorem dirigente in cognoscenda veritate [die das obere Erkenntnisvermögen bei der Erkenntnis der Wahrheit leitet]“173, wäre eine zu begründende „Aesthetica(e) [Ästhetik]“174 eine Theorie der unteren sensitiven Erkenntnisvermögen. Im Blick auf Baumgartens diesbezügliches Oeuvre ist hervorzuheben, dass er zuvor die Psychologie als Grundlagendisziplin der unteren Erkenntnisvermögen bezeichnet. Genau dies spiegelt sich in der Abfolge der „Metaphysica“ und der „Aesthetica“ wieder: Während die erstere die metaphysischen Grundlagen der Ästhetik innerhalb der empirischen Psychologie legt, formuliert die Ästhetik auf den psychologischen Bestimmungen aufruhend eine elaborierte Theorie der sensitiven Erkenntnis. Wir beschränken die Analyse auf die „Metaphysica“, da unsere Rekonstruktion in der Fluchtlinie von Spaldings Bestimmungsschrift (von 1748) die reife Fassung in der „Aesthetica“ (von 1750) rein aus chronologischen Gründen nicht berücksichtigen kann. Wie bereits oben skizziert, stellt Baumgartens „Metaphysica“ gegenüber dem Modell Christian Wolffs eine programmatische Aufwertung der unteren vor den oberen Erkenntnisvermögen dar (vgl. III.2.). Das untere Erkenntnisvermögen charakterisiert Baumgarten in § 520 der „Metaphysica“ hinsichtlich seiner Erkenntnisqualität folgendermaßen: Es „heißt die Fähigkeit, etwas dunkel und verworren oder undeutlich zu erkennen, das untere Erkenntnisvermögen“175. Diese Erkenntnis wird als sinnliche Erkenntnis bezeichnet: „§ 521 Eine nicht deutliche 171 Ebd.,
§ XCVII, S. 72 f. Einleitung, S. XX. 173 Baumgarten, Meditationes, § CXV, S. 84 f. 174 Ebd., § CXVI, S. 86 f. 175 Baumgarten, Grundlegung der Ästhetik, Metaphysica, § 520, S. 9. 172 Paetzold,
4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik
261
Vorstellung wird sinnlich genannt. Also vergegenwärtigt meine Seele durch das untere Erkenntnisvermögen sinnliche Vorstellungen.“176 Endlich findet sich in dem berühmten § 533 diejenige Definition, die dann der „Aesthetica“ ihren neuen titelprägenden Terminus schenkt und damit die Ausdifferenzierung und Konjunktur der Ästhetik als philosophischer Disziplin begründet hat. „§ 533 Die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung ist die Ästhetik (als Logik des unteren Erkenntnisvermögens, als Philosophie der Grazien und der Musen, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens, als Kunst des der Vernunft analogen Denkens).“177 Zieht man die letztzitierten Paragraphen zusammen, so folgt daraus, dass die sinnliche Erkenntnis vermittels dieser systematischen Ausdifferenzierung innerhalb der Metaphysik als Ästhetik eine epochale Aufwertung erfährt und dem erkenntnistheoretischen Wert klarer undeutlicher Empfindungen zu ungeahnter Konjunktur verhilft. Damit geht Baumgarten noch einmal einen großen Schritt weiter als Wolff und Gottsched. Baumgartens Augenmerk liegt auf der Erhellung der vermögenstheoretischen Bedingungen der sinnlichen Erkenntnis. Sinnliche Erkenntnis werde sie genannt, weil sie als Erkenntnisorgan den sensus als facultas hat, der die Empfindungen korrelieren: „§ 535 Ich habe die Fähigkeit zu empfinden, d. h. den Sinn. […]“ Während Wolff und Gottsched nur von Empfindungen als Vorstellungen gegenwärtiger äußerer Dinge sprachen, führt Baumgarten die Differenz von sensus internus und sensus externus (innerer und äußerer Sinn) innerhalb der Theorie unterer Erkenntnis bzw. des Empfindungsvermögens ein. „§ 535 Ich habe die Fähigkeit zu empfinden, d. h. den Sinn. Der Sinn vergegenwärtigt entweder den Zustand meiner Seele, er heißt dann innerer Sinn, oder den Zustand meines Körpers, dann sprechen wir vom äußeren Sinn. Daher ist die Empfindung entweder innerlich und kommt durch den innern Sinn zustande (als Bewusstsein im engeren Sinne); oder sie ist äußerlich und verwirklicht sich durch den äußeren Sinn.“178 Damit wird zunächst hinsichtlich des Begriffes der Empfindung bzw. der sinnlichen Empfindung deutlich, dass der innerlichen Empfindung, wie sie bereits Gottsched kannte (vgl. III.3.2), nun auch die entsprechende facultas zugeordnet wird, nämlich der innere Sinn. Der innere Sinn als Statthalter der ästhetischen Erfahrung ist der Ort der Genese von Lust und Unlust und mithin des ästhetischen Geschmacksurteils. Dieses wird von Baumgarten systematisch 176 Ebd.,
§ 521, S. 11. Bahr bezieht in ihrer Dissertation im Abschnitt „Die Positivierung des ‚clare et confuse‘ “ (vgl. Bahr, Darstellung, S. 75–78) die Aufwertung der cognitio sensitiva bei Baumgarten ideengeschichtlich auf Leibniz’ Unterscheidung von cognitio symbolica und cognitio intuitiva und begreift damit die ästhetische Theorie der sinnlichen Erkenntnis als klare undeutliche Erkenntnis als Konsequenz aus der Leibniz-Wolffschen cognitio intuitiva und bestätigt indirekt unsere These. – Stefanie Buchenau weist auf die scholastischen Wurzeln des Vernunftähnlichen bei Baumgarten bzw. schon bei Wolff hin und bezieht sich auch auf Leibniz (vgl. Buchenau, Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen, S. 192 ff.). 178 Baumgarten, Grundlegung der Ästhetik, Metaphysica, § 535, S. 17. 177 Petra
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
im Kontext des Urteilsvermögens (iudicium, § 606–609) verortet. Baumgarten begreift das Urteilsvermögen (facultas diiudicandi, § 607) als Vermögen zur Beurteilung von Vollkommenheit. Vollkommenheiten können nun sinnlich oder verstandesgemäß erkannt werden. Erstere Urteilsart bestimmt Baumgarten als Geschmack: „Das sinnliche Urteilsvermögen ist der Geschmack im weiteren Sinne (Geschmack, Gaumen, feine Nase)…. Der Geschmack in der weiteren Bedeutung im Bereich des Empfindbaren, d. h. dessen, was empfunden wird, ist das Urteil der Sinne.“179 Steffen W. Groß hat darauf hingewiesen, dass Baumgartens Ästhetik und Dichtungstheorie nichts weniger bedeutete als ein neues Verständnis vom Menschen. Die Aufwertung und metaphysisch-psychologische sowie ästhetische Begründung der unteren Erkenntnisvermögen begründete einen neuen Zugang des Menschen zu sich selbst und zur Welt. „Baumgarten betont …, daß die Sinnlichkeit dem Menschen einen empfindenden Zugang zur Wirklichkeit verschafft, der ihm als unhintergehbares Fundament seiner Welterschließung dient. […] Damit verbunden ist bei Baumgarten die Betonung der verglichen mit den Wissenschaften anderen Art des Fragens, des anderen Charakters des Antwortens und der Antworten und der eigenen Art der Wahrheit. Fragen des ontologischen Beweises nehmen daher für ihn, ganz anders als noch für Wolff, keinen sonderlichen Stellenwert ein. Sie sind kein wirkliches Thema mehr, denn die reiche sinnliche, mannigfaltige und lebhafte Welt ist für uns da und diese Tatsache, dieses Gegebensein, bedarf keines besonderen Beweises.“180 Diesem Urteil von Groß ist nicht nur im Blick auf Baumgarten selber, sondern auch auf Spaldings Bestimmungsschrift zuzustimmen, in der dann noch deutlicher als bei Baumgarten eine ‚neue Art des Fragens und Antwortens‘ im Kontext einer auf dem Empfindungsbegriff aufruhenden anthropologischen Selbsterkenntnis etabliert und kultiviert wird. Sowohl Baumgartens Theorie des inneren Sinnes wie auch des Geschmacks entwickelt sein Schüler Georg Friedrich Meier weiter und geht damit über seinen Lehrer hinaus. Im Kapitel „Von den Sinnen“ innerhalb des Hauptstückes „Von dem sinlichen Vermögen“ in den „Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften“181 arbeitet Meier im Gefolge seines Lehrers Baumgarten eine Theorie des äußeren und inneren Sinnes aus. Bereits in § 330 bietet das Exempel einen Anhaltspunkt für das Wesen des inneren Sinnes resp. innerer Empfindung: „Ist diese Veränderung [scil. Empfindung = Vorstellung einer Veränderung; G. R.] in der Seele vorhanden, so nennt man ihre Empfindung eine innere (sensatio interna) z.E. die Vorstellung eines Vergnügens oder Verdrusses, welcher eben in der Seele vorhanden ist. Ist sie 179 Ebd.,
§ 607 f., S. 57. Felix aestheticus, S. 169. 181 Vgl. Meier, Anfangsgründe, Bd. 2, §§ 329–370, S. 147–256. 180 Gross,
4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik
263
aber eine Veränderung, die in unserem Körper vorhanden ist, so ist die Empfindung derselben eine äusserliche (sensatio externa). Das Vermögen zu empfinden heist der Sinn (sensus) und der ist gedoppelt, der innere (sensus internus) durch den wir die innerlichen Empfindungen würken, und der äusserliche (sensus externus) durch den wir die äußerlichen Empfindungen würken.“182 Das Verhältnis von Sinn und Empfindung definiert Meier als das von Seelenvermögen und konkret-aktualer Veränderung der Seele kraft dieses Vermögens. Der innere Sinn ist als Ort der Vorstellung bzw. der Empfindung von Lust und Unlust bestimmt. Darüber hinaus besteht zwischen dem äußeren und inneren Sinn bzw. Empfindung eine Beziehung: „§.333. Alle Veränderungen der Seele, alle ihre Vorstellungen, Begierden, Verabscheuungen, und wie sie insgesamt heissen mögen, sind Gegenstände des innern Sinnes, wenn sie gegenwärtig sind §.330. Wenn wir also Achtung geben, abstrahieren, äusserlich empfinden usw. und wir stellen uns das vor, so geschieht es durch den innern Sinn. Folglich ist diese Kraft gleichsam, eine Begleiterin aller übrigen Kräfte der Seele, so oft sie eben wirksam sind.“183 Die äußerlichen Empfindungen qua sensus externus liefern also das sinnliche Material, welche in den innerlichen Empfindungen qua sensus internus zunächst als eigene Vorstellungen bewusst gemacht werden, und sodann eine subjektive Vorstellung von Lust oder Unlust generieren. Der innere Sinn konstituiert mithin eine Art psychische Reflexionsstruktur, die äußere Empfindungen bewusst macht; und die innere Empfindung stellt demgemäß einen lust‑ bzw. unlustvalenten Begleitreflex dar. Hinsichtlich des Geschmacksbegriffes Meiers kann von einer Entschränkung des Geschmacks über seine ästhetische Funktion hinaus gesprochen werden.184 Die Ausweitung des Geschmacksbegriffes auf moralische und religiöse Sachverhalte ist jedoch eher vorbereitet als systematisch durchgeführt. Dafür spricht die Prinzipialität seiner Theorie des Geschmacks als sinnliche Beurteilungskraft undeutlich erkannter Vollkommenheiten (= Schönheiten): „Jene (scil. obere Beurtheilungskraft) erkennet die Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten der Dinge deutlich und vernünftig, diese (scil. sinliche Beurtheilungskraft) aber nur undeutlich, und sie kann also durch das Vermögen erklärt werden, die Schönheiten und Hässlichkeiten der Dinge zu erkennen § 23. Die Fertigkeit die Schönheiten und Häßlichkeiten gewahr zu werden, heißt der Geschmack (gustus). Das Gebiet des Geschmacks muß also nicht bloß, in den Bezirk der schönen Wissenschaften und freyen Künste eingeschränkt werden, sondern alles was schön und hässlich ist, es mag auch im übrigen beschaffen seyn wie es will, ist ein Gegenstand des Geschmacks.“185 182 Ebd.,
Bd. 2, § 330, S. 149. Bd. 2, § 333, S. 153. 184 Vgl. bspw. Brückner, Geschmack, S. 46 f. 185 Meier, Anfangsgründe, Bd. 2, § 467, S. 505. 183 Ebd.,
264
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
Im Blick auf Meiers Konzept der klaren bzw. nichtdeutlichen Empfindung ist auf dessen Betonung der Unmittelbarkeitsstruktur besonders hinzuweisen. „Die umittelbare Erfahrung ist die Erfahrung im engeren Verstande (experientia immediata & strictius dicta), und diese besteht in den klaren Empfindungen. Alle klare Empfindungen sind unmittelbare Erfahrungen und umgekehrt. … Was keine Empfindung ist, als die abstracten Begriffe und die allgemeinen Sätze, das kann auch keine unmittelbare Erfahrung sein.“186 Diese Unmittelbarkeit – gemeint ist hier die Unmittelbarkeit als Unabhängigkeit von Begriffen, Schlüssen etc. – exemplifiziert Meier in § 345 anhand des Musikhörens, wobei hier sehr deutlich die komplexe Struktur passiver und aktiver Momente der Empfindung zum Ausdruck kommt: „So ofte ich eine äusserliche Empfindung habe, so ofte kommen dabey vier Stücke vor: die Würkung eines Körpers, der von dem meinigen verschieden ist, in meinen Körper; das Leiden meines Körpers, oder die Veränderung, die in ihm durch den ersten hervorgebracht wird; die Empfindung selbst, und das Urtheil davon; denn die Seele ist so hurtig in ihrem Urtheilen, daß sie alsbald über ihre Empfindungen ein Urtheil fällt. Ich höre z.E. eine Musik. Hier haben wir, die Würkung der musikalischen Instrumente, in meine Ohren. Zum anderen die Veränderung, die in meinem Körper entsteht, dahin nicht nur die Veränderung in den Ohren gehört, sondern auch die Bewegung der Gehörsnerven und des Gehirns. Zum dritten, die Empfindung oder Vorstellung der Töne und des Klangs, und viertens das Urtheil davon, als wenn ich sage und urtheile: Die Musik klingt schön.“187 Die Unmittelbarkeitsstruktur ästhetischer Erfahrung, die das Empfindungsurteil von komplexeren Begriffsbildungen und Schluss‑ und Demonstrationsverfahren abhebt, zeichnet sich über diese allgemeine Struktur wirkungsästhetisch durch Lebhaftigkeit, Gewissheit und Lebendigkeit aus188. Es sind allesamt Momente, die zugleich strukturell die moralische Implikation ästhetischen Erlebens thematisieren. Die Lebhaftigkeit der ästhetischen Erkenntnis konstituiert sich auf dem Vollkommenheitsgrad der sinnlichen Erkenntnis: in der extensiven Klarheit. „Es kann aber, zum anderen, die Klarheit noch auf eine andere Art vermehrt werden, wenn die Merkmale einer Vorstellung zwar nicht klärer werden, ihre Anzahl aber vermehrt wird, und dieses kann man die Ausdehnung oder Ausbreitung der Klarheit nennen (claritas extensive major). Ein Begriff, welcher auf diese Art klar, und dabey undeutlich ist, ist lebhaft …. [U]nd es wird also zugleich aus
186 Ebd.,
Bd. 2, § 344, S. 184. Bd. 2, § 345, S. 189. 188 Diese drei Wesensmerkmale ästhetischer Vollkommenheit machen neben den anderen drei (ästhetischer Reichtum, ästhetische Größe und ästhetische Wahrscheinlichkeit) und dem schönen Geiste den ersten Hauptteil („Von der Schönheit der sinnlichen Erkenntnis“, gesamter I. Band, insgesamt ca. 550 Seiten) der „Anfangsgründe“ aus. 187 Ebd.,
4. Der Empfindungsbegriff in der zeitgenössischen Poetologie und Ästhetik
265
der Erfahrung erhellen, wie reizend diese Schönheit der Gedanken sey.“189 Die affektive Dimension der sinnlichen Erkenntnis besteht bei der Lebhaftigkeit also in der Reizung des Gemütes; die undeutliche Empfindung ist prägnant und eindrücklich. Andere Epiteta wie ästhetisches Licht, ästhetischer Glanz, Schimmer und Bewunderung190 bestimmen die Lebhaftigkeit der schönen Erkenntnis. „Die Gewisheit besteht, in einer klaren Erkentnis der Wahrheit.“191 Gewissheit erzeugt auf der einen Seite Beruhigung und Vergnügen/Lust192, auf der anderen Seite bewirkt sie Überredung des Rezipienten: „Die Gewisheit nent man, die aesthetische Ueberredung im guten Verstande (persuasio asethetica bono signficatu)…“193 Diese stellt das Äquivalent zu den Vernunftschlüssen der Vernunftlehre dar, die Spalding mit seine Favorisierung der undeutlichen Empfindungen im Visier hatte. „Was in der Vernunftlehre die Wissenschaft oder die Fertigkeit zu demonstriren ist, das ist in der Aesthetick die Suade.“194 Die Überredung besteht in der affektiven Überzeugung, die von Meier als ein Fortreißen, Eroberung des Gemütes und Nötigung bestimmt wird. Das, was die Empfindung beinhaltet, überzeugt unmittelbar. Das Lebendigkeitsmoment ist der systematische Ort, wo Meier die Lusttheorie Wolffs aus dem Bereich des unteren Begehrungsvermögens verarbeitet und für seine Ästhetikkonzeption in den systematischen Rahmen der Schönheitsregeln, des Genaueren der Lebendigkeit ästhetischer Gedanken, und damit in den Bereich des (unteren) Erkenntnisvermögens transponiert. Damit interessiert sich Meier gerade für den umgekehrten Sachverhalt wie Wolff: nicht die erkenntnistheoretischen Implikationen des unteren Begehrungsvermögens, sondern die appetitiven Implikationen der sinnlich-ästhetischen Erkenntnis stehen zur Debatte. Seine Grundthese besteht darin, daß jede ästhetische Erfahrung auch das Begehrungsvermögen affiziert und damit wirkungsästhetisch moralisch verfasst ist. „Eine Erkenntnis ist lebendig, wenn sie Vergnügen und Verdrus, Begierden und Verabscheuung, durch das Anschauen einer Vollkommenheit oder Unvollkommenheit verursacht. In so ferne eine Erkentnis nicht lebendig ist, in so ferne ist sie todt, und eben deswegen unvollkommen.…. Eine Erkenntnis, die nicht lebendig ist, nimt nur die halbe Seele, die Erkentniskraft, ein; die lebendige beschäftiget aber zugleich die Begehrungskraft, die andere Helfte der Seele, und sie
189 Ebd.,
Bd. 1, § 33, S. 55/57 f. zum ganzen ebd., Bd. 1, § 119–150, S. 251–350. 191 Ebd., Bd. 1, § 34, S. 58. 192 Ebd. 193 Ebd., Bd. I, § 151, S. 352. – Überredung (persuasio) wird bereits bei Baumgarten als Konstituens sinnlicher Erkenntnis bestimmt und von der vernunftmäßigen Überzeugung (convictio) abgegrenzt (vgl. Baumgarten, Grundlegung der Ästhetik, Metaphysica, § 531). Bahr weist darauf hin, dass es sich hierbei um eine Adaption aus der Rhetoriktradition handelt, die nun auf die Ästhetik allgemein angewendet wird (vgl. Bahr, Darstellung, S. 137–141, bes. S. 137). 194 Meier, Anfangsgründe, Bd. 1, § 151, S. 352. 190 Vgl.
266
III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
erfüllt demnach das ganze Gemüth.“195 In der Lebendigkeit scheint Meier eine Art Metaregel bzw. conditio sine qua non ästhetischer Schönheit zu erblicken, wenn er tote Erkenntnis als unvollkommene und damit nicht-schöne Erkenntnis qualifiziert. Die Lebendigkeit ist neben Reichtum, Größe, Wahrscheinlichkeit, Lebhaftigkeit und Gewissheit die „allergrößte Schönheit der Gedanken“196. Wirkungstheoretisch bedeutet dies für Schönheitserfahrung, dass wahre Schönheit über eine ethisch-affektive Komponente verfügt. Wir fassen die wichtigsten Ergebnisse zusammen: Es wurde deutlich, dass Baumgarten mit seinem frühen poetologischen Konzept einer Ästhetik eine neue Wissenschaft für die klaren (vordeutlichen) Vorstellungen bzw. Empfindungen begründet und damit diesen zu einer Bedeutungsanreicherung und Aufwertung verholfen, sie gleichsam erkenntnistheoretisch hoffähig gemacht hat. Darüber hinaus erfährt der Empfindungsbegriff mit dem Begriff des äußeren und inneren Sinnes eine psychologische vermögenstheoretische Grundlegung. Meier eröffnet schließlich – ähnlich wie König – mit seiner Entschränkung des Empfindungs‑ und Geschmacksbegriffes auch eine Anwendung dieser Kategorien für ethische und religiöse Erkenntnisstrukturen.
5. Zusammenfassung Der Empfindungsbegriff avanciert innerhalb der metaphysischen Psychologie Christian Wolffs, der wolffianisch geprägten Poetologie, Metaphysik und Ästhetik bei Johann Christoph Gottsched, Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier wie auch innerhalb der deutschen Rezeption der westeuropäischen Geschmacksdebatte, die wir am Beispiel der Geschmackstheorie Johann Ulrich Königs exemplifiziert haben, zu einer Zentralkategorie. Wolffs Empfindungsbegriff stellt einen terminologischen und erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt nicht nur für die genannten Referenten, sondern auch für unsere Analyse dar. Der Empfindungsbegriff durchläuft zwischen 1720 und 1750 eine rasante Entwicklung: In Wolffs Metaphysik hat er seinen hauptsächlichen systematischen Ort innerhalb der Psychologie, vornehmlich im Kontext der unteren Erkenntnisvermögen, und verfügt damit im Verhältnis zur begrifflich-deutlichen Erkenntnis more geometrico nur über einen relativen Wert. Jedoch konnte gezeigt werden, dass bereits bei Wolff wesentliche Begriffsmerkmale anzutreffen sind, die einerseits die nachmalige Konjunktur des Empfindungsbegriffes allererst möglich gemacht haben, die andererseits auch für Spaldings Empfindungsbegriff von den Vorreden der Shaftesburyübersetzungen bis hin zur Bestimmungsschrift 195 Ebd., 196 Ebd.
Bd. I, § 35, S. 60.
5. Zusammenfassung
267
konstitutiv sind. Spalding dürfte also seit seiner Wolffrezeption, die ja zeitlich seiner ersten Kenntnisnahme Shaftesburys vorausging, mit Wolffs Empfindungsbegriff als einer psychologisch-erkenntnistheoretischen Kategorie vertraut gewesen sein. Hier sind konkret der Klarheits‑ und Unmittelbarkeitscharakter, die Urteilsstruktur sowie die lusttheoretische, ästhetische und ethische Dimension zu nennen. Gottsched, Baumgarten und Meier entwickeln nun den Empfindungsbegriff als Konsequenz ihrer Kritik an der scientifischen Methode ihres Lehrers und im Kontext ihrer wissenschaftssystematischen wie ‑politischen Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen zu einer epistemologischen Grundkategorie ihrer Poetologie und Ästhetik weiter. Ein besonderes Augenmerk wurde Gottsched gewidmet, weil er zum einen bereits sehr früh die Debatte um die deutsche Dichtkunst und den Geschmacksbegriff erkenntnistheoretisch durch seinen Rekurs auf Wolffs Theoriesprache bereichert und die in dieser angelegten Begriffselemente geschmackstheoretisch ausgearbeitet hat. Die Analyse der Geschmacksschrift Königs konnte zeigen, dass die Rezeption der einschlägigen englischen wie französischen Debatten einer wolffianischen Grundlegung der Dichtungs‑ und Geschmackstheorie bereits vorgearbeitet hat. Königs Beispiel belegt zudem, dass die Inanspruchnahme des deutschen Empfindungsterminus’ für die Interpretation westeuropäischer Geschmackskonzepte, wie sie auch im Falle von Spaldings Rezeption der Ästhetik und Ethik Shaftesburys zu verzeichnen ist, bereits in die deutsche Debatte eingebracht war. Überdies besteht Königs Diskursbeitrag darin, dass er den Geschmacksbegriff resp. Empfindungsbegriff über deren ästhetisch-geschmackstheoretische Begründungsfunktion hinaus entschränkt und ihre Valenz für moralische Phänomene namhaft gemacht hat. Hatte Gottsched die Empfindung aus der Richtung der Geschmackstheorie aufgezäumt, so stehen Baumgartens Überlegungen zur sinnlichen klaren bzw. undeutlichen Erkenntnis in seinen „Meditationes“ für eine weitaus prinzipiellere poetologische Aufwertung dieses Erkenntnismodus’. Auch in seiner „Metaphysica“ gewinnt der Empfindungsbegriff im Kontext der unteren Erkenntnisvermögen eine breitere metaphysische Grundlegung als dies in Gottscheds „Weltweisheit“ der Fall ist. Wesentlich ist das psychologisch-vermögenstheoretische Konzept eines äußeren und inneren Sinnes. Diesen Ansatz entwicklet sein Schüler Meier weiter und entschränkt den Empfindungsbegriff in Richtung einer ethischen und religiösen Erkenntniskategorie. Wenn Spalding also spätestens in seinen Vorreden der Shaftesburyübersetzungen von klaren bzw. undeutlichen Empfindungen spricht (vgl. II.3), verwendet er ein Theorem, welches er bereits durch seine Wolffrezeption kannte und deren Weiterentwicklung er im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit Poetologie und Ästhetik wie auch seiner literarischen und persönlichen Bekanntschaft mit Gottsched, Baumgarten und Meier zur Kenntnis genommen haben dürfte. Es lag von daher nahe, dass seine Shaftesburyrezeption, genauer die Rezeption dessen
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III. Die Konjunktur des Empfindungsbegriffes
Moral-Sense-Theorems nicht unwesentlich durch seine Rezeption des Wolffschen bzw. woffianischen Empfindungsbegriffes vorbereitet und auch geprägt wurde: Spalding las Shaftesbury durch die Brille Wolffs, Gottscheds, Baumgartens und Meiers. Damit bewahrheitet sich an einem konkreten Beispiel, was Petra Bahr allgemein vermutet: „Sicherlich ist seine Theorie (scil. Shaftesburys; G. R.) auch deshalb so anschlussfähig, weil sie gegenüber dem Empirismus Angebote an die im Geist des Rationalismus sozialisierte deutschsprachige Gelehrtenrepublik macht, die die sinnlich affektuale Dimension des menschlichen Weltverhältnisses zu integrieren verhilft, ohne die Grundlagen der Theorie zu ändern.“197 Damit konnten die im vorherigen Kapitel bereits rekonstruierten biographisch-bildungsgeschichtlichen Prägungen sowie die wolffschen und wolffianischen Implikationen von Spaldings Shaftesburyinterpretation in seinen Übersetzungen und in den Vorreden begriffs‑ und diskursgeschichtlich verständlich gemacht werden. Wiederum zeigt sich, dass Spaldings Wolffianismus nicht einfach von einem Shaftesburyanismus abgelöst wird, sondern dass in Spaldings eigener Konzeption in der Bestimmungsschrift mit komplexen und vermittelnden Begriffskonstruktionen zu rechnen ist (vgl. V. Kapitel).
197 Bahr,
Darstellung, S. 82/84, Anm. 192.
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen 1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen Das Selbstgespräch gehört ohne Frage zu den Grundformen menschlicher Kommunikation. Es geht jedweder sprachlich vermittelten Ausdrucks‑ und dialogischen Gesprächsform voraus, ob als rationales Mitsichzurategehen mit der Absicht eines klaren Gedankens, einer begründeten Handlung oder als inneres Bewusstwerden von Gefühlen und Affekten. Das Denken als basale Form mentaler Repräsentation innerhalb cognitiver, volitiver und emotiver phsychischer Akte wird schon von Platon als „Gespräch der Seele mit sich selbst“1 bezeichnet. Das intramentale oder laut gesprochene Soliloquium stellt ein Strukturmoment geistig-seelischen Lebens dar, jenseits kulturell-historischer Differenzen und biographischer Situationen. Jedoch gibt die Geschichte des literarischen Selbstgesprächs als einer spezifischen Form desselben Aufschluss darüber, dass es jenseits ihres strukturellen kommunikativen und alltagsweltlichen Vorkommnisses unter bestimmten kultur‑ und geistesgeschichtlichen wie auch lebensgeschichtlichen Bedingungen an Bedeutung gewinnt. Prinzipiell ließe sich sagen, dass das Selbstgespräch dann Konjunktur hatte und hat, wenn die Selbst‑ und Weltdeutung problematisch wird, sei es durch Infragestellung normativer Deutungssysteme, sei es in kritischen Momenten des konkreten persönlichen Lebens oder auch im Kontext eines bewussten wie prinzipiellen Fragens nach seinem Selbst und dessen Lebensführung. Als eigene Literaturgattung kennt die europäische Literaturgeschichte das Selbstgespräch, sieht man von den Monologen in der griechischen Tragödiendichtung ab, spätestens seit Marc Aurels Selbstbetrachtungen.2 Die in Tagebuchform verfassten Selbstunterredungen widmen sich dem Verhältnis des Selbst „zum Kosmos und den Mitmenschen“. Der römische Philosophenkaiser, einer der bedeutendsten Vertreter der jüngeren römischen Stoa, thematisiert damit 1 Platon,
Sophistes 263e. Marc Aurel, Selbstbetrachtungen. – „Wenn … Marc Aurel auch in der Selbstbesinnung, der Einkehr in das eigene Ich … gewisse geistige Ahnen hat, so hat er doch in dieser Form des Selbstgesprächs, wie er sie hier verwirklicht, d. h. schriftlich festgehalten hat, in der ganzen antiken Literatur keinen Vorgänger.“ (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, S. L [Einleitung von Capelle].) 2 Vgl.
270
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
nichts Geringeres als „den gesamten ‚Sinn‘ seines Lebens“3, der unter den Bedingungen der Krise des römischen Kaiserreiches fraglich wurde. Unbedingter Ernst und bedingungslose Ehrlichkeit stellen für den Stoiker wesentliche Grundhaltungen in Leben und Literatur dar, die sowohl eine auctoriale Voraussetzung darstellen als auch die Rezeption kennzeichnen. Marc Aurels Meditationen wurden im Kontext einer allgemein aufkommenden Stoarezeption im 17. und 18. Jahrhundert gerade auch in England breit rezipiert4. Wir werden darauf bezüglich Shaftesbury zurückkommen. Die Gattung ist dann über Augustins Konfessionen5 (397 n. Chr.) in die Christentumsgeschichte eingegangen, die als religiös-biographische Form kritischer Selbstdeutung eine vielfältige Wirkungsgeschichte entfaltet haben6. In der Person Augustins und seiner autobiographischen Selbstvergewisserung spiegeln sich die christentumsgeschichtlichen und religionskulturellen Konflikte der Zeit wider. Im Hochmittelalter hat Anselm von Canterbury mit seinem Monologion7 (ca. 1076) das Soliloquium als theologische Reflexions‑ und Darstellungsform etabliert, die dem Theologen jenseits von Dogmatik und Kirchenlehre einen adäquaten Modus skeptischer und philosophischer Theologie bot. Ohne das europäisch-christliche Mittelalter, das Reformationszeitalter und die lutherischer resp. altprotestantische Orthodoxie in toto mit dem historischen Etikett der autoritativen Einheitskultur belegen zu wollen, können jedoch der lutherische Pietismus und die (theologische) Aufklärung als Bewältigungsstrategien der sozialen, theologischen und religiösen Krise seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstanden werden. Trotz prinzipieller Differenzen treffen sich beide in der „subjektsaktivierenden Hinsicht“8, wobei der Pietismus den Schwerpunkt auf den Aspekt christlicher Selbstvergewisserung, die Aufklärungstheologie auf den Gesichtpunkt „religiöser Selbstbestimmung“9 legte. In beiden neuprotestantischen Bewegungen schlagen sich diese subjektivitätsorientierten Programme auch in der Theorie und Praxis adäquater Kommunikations‑ und Literaturformen nieder. Kannte man schon von Johann Gerhard „Meditationes sacrae“10, so fügt Philipp Jakob Spener seinen 1653 verfassten, aber erst 1716 veröffentlichten „Soliloquia et Meditationes sacrae“11, einer Sammlung frommer Betrachtungen über die Hauptstücke christlicher Lehre im Stil bernhardinisch-
3 Ebd. 4 Vgl.
ebd., S. LVII. Augustinus, Bekenntnisse. 6 Vgl. bspw. die Berufung auf Augustin in der Andachts‑ und Erbauungsliteratur des Pietismus: Sträter, Meditation und Kirchenreform, S. 40; 64. 7 Vgl. Anselm v. Canterbury, Monologion. 8 Barth, Pietismus als religiöse Kulturidee, S. 165. 9 Barth, Mündige Religion, S. 224. 10 Vgl. Gerhard, Meditationes sacrae. 11 Vgl. Spener, Soliloquia. 5 Vgl.
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
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mystischer Frömmigkeit12, eben den Titelteil ‚Soliloquia‘ hinzu. Es handelt sich um sonntägliche Andachten in der Form reflektierender Selbstgespräche. Damit findet die Selbstgesprächsform Eingang in die Andachts‑ und Erbauungsliteratur schon des frühen Pietismus, wohingegen sie in der biographischen Literatur, im Tagebuch und anderen Formen der Selbstbetrachtung gleichsam ihren kongenialen resp. literatursoziologischen Ort innerhalb der pietistischen Selbstdeutungskultur hat13. Für die Aufklärung wäre an erster Stelle Descartes zu nennen, der wohl im Anschluss an Augustins „Konfessiones“ sowie „stoische[r] und epikuräische[r] Seelenleitungsliteratur“14 in seinen „Meditationen“15 das Fundament aller Erkenntnis im Modus des Selbstgesprächs sucht. Damit hat er das Thema der Subjektivität nicht wie der Pietismus in frömmigkeitsbiographischer, sondern in epistemologischer Hinsicht zum Gegenstand des Soliloquiums gemacht. Damit schließt sich in gewisser Weise der Kreis zu Platons Korrelation von Gedanke und Seelengespräch. In der Aufklärungstheologie gebührt ohne Frage Johann Joachim Spalding das Verdienst, mit seiner Bestimmungsschrift das Selbstgespräch als Repräsentationsform aufgeklärter Popularphilosophie und ‑theologie ins literarische Bewusstsein der Epoche gebracht zu haben. Dies sei hier nur erwähnt, um im V. Kapitel ausgeführt zu werden (vgl. V.2). Just am Ende des Aufklärungsjahrhunderts hat Schleiermacher schließlich in seinen 1800 entstandenen Monologen seine Individualitätstheorie in der Form des Selbstgespräches entwickelt und damit dieser literarischen Gattung gleichsam das adäquate Thema zugeführt.16 Shaftesburys Stellung in der Gattungsgeschichte des Soliloquiums ist in zweierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung. Zum einen war er es, der vornehmlich in seiner Schrift „Soliloquy: Or, Advice to an Author“ sowie in den entsprechenden Miszellen in den „Miscellaneous Reflections“ eine ausgearbeitete Konzeption des Selbstgesprächs entwickelte und diese zugleich als adäquate Struktur der Reflexion auf die Frage nach Sinn und Bestimmung des Menschen appliziert hat. Zum anderen hat er eine Brückenfunktion zwischen der antiken Monologtradition auf der einen und der in der Epoche der Aufklärung konstatierbaren Konjunktur des Soliloquiums auf der anderen Seite, insbesondere auch im Blick auf Spalding. Dies spiegeln die Rezeptionswege wieder, denen wir uns nur in aller Kürze zuwenden wollen. Stellen wir uns zunächst die Frage, woher Shaftesbury seinerseits einschlägige Anregungen und Einflüsse erfahren 12 Vgl.
Sträter, Meditation und Kirchenreform, S. 149. Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 121 ff. 14 Nolte, Philosophische Exerzitien bei Descartes, S. 88. 15 Vgl. Descartes, Meditationen. 16 Vgl. Schleiermacher, Monologen. – Vgl. Barth, Das Individualitätskonzept der Monologen, S. 294 ff. 13 Vgl.
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hat, so ist in erster Linie auf die Stoarezeption des Engländers hinzuweisen. Bereits seine Herausgabe der „Select Sermons“ von Benjamin Whichcote und seine Einleitung – Shaftesburys erste Publikation überhaupt – sind von seiner Stoabegeisterung motiviert.17 Die „stoischen Elemente in Whichcotes Theologie veranlaßten den durch die ausgiebige Lektüre Epiktets und Marc Aurels gebildeten Shaftesbury, sie durch die Predigtedition einem weiteren Kreis vorzustellen“18. Ebenfalls von der Stoa sind seine „Exercises“ aus den Jahren 1698–1699 und 1703–1704 beeinflusst, die zuerst 1900 unter dem Titel „The Philosophical Regimen“ herausgegeben wurden.19 Sie stellen philosophische Notiz‑ oder Tagebücher dar, in denen sich Shaftesbury sowohl Rechenschaft über sein Leben abgibt als auch Reflexionen über zentrale Kategorien seiner Philosophie anstellt. „Formal, stilistisch und thematisch sind sie den stoischen Weisheitslehren nachempfunden. Unmittelbare Vorbilder sind das ‚Encheiridion‘ und die ‚Diatriben‘ Epiktets sowie die ‚Meditationes‘ von Marc Aurel ….“20 Immer wieder zitiert Shaftesbury direkt aus den genannten Werken und unterlegt damit seine Tagebuchnotizen gleichsam mit philosophiegeschichtlichen Verifikationen der solilogischen Methode seiner Selbsthematisierung. Die ersten Sätze der „Exercises“ stellen ein wörtliches Zitat aus Marc Aurels Meditationen dar: „Wilt you then, my Soul, never be good and simple and one and naked, more manifest than Body which surrounds thee? Wilt you never enjoy an affectionate and content Disposition?“21 Mithin ist deutlich: Shaftesbury steht seit seiner ersten Publikation und vor allem mit seinen „Exercises“ in der antiken Tradition des literarischen Selbstgespräches, sowohl formal hinsichtlich der Gattung als auch material in Bezug auf die Thematik. Damit können wir uns der anderen Seite des Brückenschlags zuwenden, nämlich der Shaftesburyrezeption der deutschen Aufklärung, wobei wir uns auf Spalding beschränken. Er hat nicht nur wesentliche Anregungen von Shaftesbury hinsichtlich seiner Ethik und Religionstheorie erfahren, sondern – so unsere These – auch in Bezug auf die Ausgangsfrage sowie den Darstellungsmodus seiner Bestimmungsschrift, die gleichsam eine Exemplifikation dessen darstellt, was Shaftesbury mit seiner Theorie des Soliloquiums vor Augen hatte. Die Rekonstruktion des biographischen und bildungssoziologischen Kontextes von Spaldings Shaftesbury17 Vgl.
Whichcote, Select Sermons. Natürliche Religion, S. 189. 19 Vgl. Shaftesbury, Philosophical Regimen. 20 Baum, Selbstgefühl, S. 364. 21 Shaftesbury, Philosophical Regimen, S. 1. – Bezugsstelle: Marc Aurel, Meditationes, X. Buch, § 1: „Willst du nun endlich, du meine Seele, gut und natürlich und eins mit dir selber sein und dich ohne jede Hülle zeigen, so daß du offener daliegst als der dich umgebende Leib? Willst du nun endlich kosten von der Verfassung eines liebevollen zärtlichen Herzens?“ (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, S. 137). 18 Grossklaus,
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rezeption, auch gerade im Blick auf das „Soliloquy“ und die „Miscellaneous Reflections“, hat im II. Kapitel bereits unsere Aufmerksamkeit gefunden und soll hier nur noch einmal spezifizierend erinnert werden. Eine Spur legt Spalding gleich zu Beginn seiner Bestimmungsschrift mit einem Persius-Zitat: „Quid sumus? Et quidam victuri gignimur?“22 Eben dieses Zitat findet sich identisch in Shaftesburys „Miscellaneous Reflections“23 und hier in einem Kontext24, der zum einen explizit eine Reflexion über seine Schrift „Soliloquy: Advic to an Author“ darstellt und zum anderen die Frage nach der Bestimmung des Menschen als eine der menschlichen Vernunft und für die Philosophie wesentliche Problemstellung exponiert. Es ist also nicht nur von Spaldings Shaftesburykenntnis, sondern auch vom thematischen Kontext des Persiuszitate her sehr wahrscheinlich, zum einen, dass Spalding zur Zitierung dieses Diktums von Shaftesburys „Miscellaneous Reflections“ angeregt wurde, zum anderen, dass er wenigstens auch Shaftesburys Konzept in diesem Text zur Kenntnis nahm und zum dritten, dass womöglich spätestens über die Lektüre dieses Abschnittes in den Vermischten Betrachtungen Spaldings Interesse für diejenige Schrift geweckt wurde, der sich diese Miszelle widmet25, nämlich dem „Soliloquy“. Dies hat methodische Konsequenzen. Wir werden unseren Ausgangspunkt demgemäß von einer Analyse der Miszelle, innerhalb dessen Shaftesbury das besagte Persius-Zitat verwendet, nehmen. Dann werden wir uns in der Hauptsache der Theorie des Selbstgespräches und des Philosophiekonzeptes im „Soliloquy“ widmen, um abschließend Shaftesburys einschlägige Überlegungen in den „Moralists“ zu rekonstruieren.
1.1 Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen in den „Miscellaneous Reflections“ Die „Miscellaneous Reflections on the preceding Treatises, and other Critical Subjects“ hat Shaftesbury an den Anfang des dritten Bandes der „Characteristicks“ (1. Aufl. 1711) gestellt. Sie beinhalten – wie der Titel sagt – zum einen ‚Vermischte Betrachtungen‘ zu den vorangehenden Abhandlungen in dieser bereits erschienene wie unveröffentlichte Schriften umfassenden Werkausgabe. Zum anderen widmet sich Shaftesbury auch noch anderen unerörterten Fragen. Er schickt diesen Reflexionen einige Überlegungen bezüglich dieser Literaturgattung voran, die in witzig-spritzigem Ton den soziokulturellen und 22 Spalding,
BdM, S. 1 [S. 3]. SE I,2, S. 194 f. 24 Ebd., S. 162–199 (= 18 S.). 25 Es sei hier angemerkt, dass Spalding nicht nur diese Miscelle III,1 kannte. Dies belegt das längere Zitat aus der Miscelle III,2 in seiner Vorrede seiner Übersetzung der Sitten-Lehrer (vgl. Spalding, Vorrede Sitten-Lehrer, S. 9 f.). 23 Shaftesbury,
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literaturgeschichtlichen Kontext wie auch die jüngste Konjunktur dieser Form beleuchten. Sowohl in der politischen Rede als auch in den Schriften der Theologen zeige es sich, dass „die Miszellen-Manier zur Zeit in höchster Achtung steht [the Miscellaneous Manner is at present in the highest esteem]“26. Shaftesburys eigene Einstellung zur literarischen Form der Miszelle schillert zwischen Anerkennung und Ironisierung: Sie stelle einerseits eine Literaturgattung der „freien Geister[n] und hoffnungsvollen Genies der Menschheit dar [free Spirits and forward Genius’s of Mankind]“, zu denen er sich auch selbst rechnet und die bis zur Erfindung dieser Methode an die „Regelmäßigkeit und Ordnung in einer Abhandlung [Regularity and Order …]“ gebunden waren. Hierdurch waren die Schriftsteller gehemmt, ihrem „Witz [Wit]“ freien Lauf zu lassen.27 In dieser Freiheit erblickt er das avantgardistische und fortschrittliche Moment dieser Literaturform. Andererseits vergleicht er die Miszelle aber auch mit einem Flickwerk: „Schnipsel und Fetzen der Gelehrsamkeit, vermischt mit verschiedenartigen Resten und Spitzen des Witzes, werden zusammengerafft und in irgendeiner phantastischen Form aneinandergeheftet. Wenn sie zufällig einen Glanz abgeben und eine Art lebhaftes Funkeln verbreiten, findet die Miszelle Beifall, und die komplexe Form und Textur des Werkes erregt Bewunderung [Cuttings and Shreads of Learning, with various Fragments, and Points of Wit, are drawn together, and tack’d in any fantastick form. If they chance to cast a Luster, and spread a sort of sprightly Glare; the Miscellany is approv’d, and the complex Form and Texture of the Work admir’d].“28 Die Miszelle hat damit auch zuungunsten der Genauigkeit der Gedankenführung die Tendenz zum Wilden, Grillenhaften und zur Überzeichnung des Gemeinten.29 Hierin besteht ihre Attraktivität fürs Lesepublikum, aber auch ihre Grenze. Mit der Funktionsbestimmung nun seiner eigenen Miszellen fährt Shaftesbury fort, indem er sie mit der Praxis der französischen und englischen Tragödienaufführung vergleicht. Dort sei es üblich, die einzelnen Akte oder die feierliche Tragödie als ganze mit einem sogenannten ‚Kleinen Stück oder einer Farce‘ abzuschließen zum Zwecke einer „unmittelbaren Erquickung durch das elegante Mittel der Posse und des burlesken Witzes [immediate Refreshment from the elegant way of Drollery, and Burlesque-Wit]“30. Genau in diesem Sinne sollen die von ihm nachgestellten „unsystematischen Essays [random Essays]“31 als witzige Kommentare zu seinen eher – wieder selbstironisierend – regelmäßigen, förmlichen und damit mühseligen Abhandlungen, vornehmlich des 2. Bandes der „Characteristicks“, Entlastung und Abwechslung gleichsam nachreichen. 26 Shaftesbury,
SE I,2, S. 29 [S. 28]. S. 21 [S. 20]. 28 Ebd., S. 25 [S. 24]. 29 Vgl. ebd., S. 27 [S. 26]. 30 Ebd., S. 27/29 [S. 26/28]. 31 Ebd., S. 29 [S. 28]. 27 Ebd.,
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Erklärtermassen bindet sich Shaftesbury nicht an die Inhalte der Abhandlungen, sondern nimmt sich das Recht heraus, selbstkritisch von diesen abzuweichen. Die uns hier angehende Miscelle III,132 stellt Überlegungen und Beurteilungen Shaftesburys bezüglich seiner Schrift „Soliloquy; or Advice to an Author“ dar. Die Gegenstände, die Shaftesbury in diesem Zusammenhang thematisch macht, drehen sich um mehr oder wenige zusammenhängende Sachverhalte, die von seinem literarischen Werk als ganzem über kulturgeschichtliche Überlegungen zur Entwicklung der Literatur und Philosophie bis hin zur Vaterlandsliebe reichen. Für unsere Fragestellung sind die Passagen einschlägig, in denen Shaftesbury Reflexionen über das Wesen des Selbstgespräches und wahrer Philosophie anstellt. Zum ersten Punkt. Das „Soliloquy“ beurteilt der Selbstkritiker in der literarischen Abfolge seiner Werke des ersten und zweiten Bandes der „Charateristicks“ nun wiederum selbst als unsystematische Miszelle, „in der er seine Betrachtungen über Schriftsteller im allgemeinen und den Aufstieg und Fortschritt der Künste anstellt als Eingang oder Einführung in seine Philosophie [where he makes his Reflections upon Authors in general, and the Rise and Process of Arts, to be the Inlet or Introduction to his Philosophy]“33. Einführung in die Philosophie bedeutet für Shaftesbury, Reflexionen über den wesentlichen soziologischen Träger von Philosophie, nämlich den Autor, sowie über die Genese der Künste und der Philosophie anzustellen und zwar mit dem Ziel, einen normativen Begriff eines guten Autors und einer wahren Philosophie zu exponieren. Damit stellt Shaftesbury das „Soliloquy“ als letzte Abhandlung im I. Band der „Charakteristicks“ als eine Art Propädeutik zu seiner Philosophie dar, die er im II. Band mit der „Inquiry“ und den „Moralists“ in extenso ausführt. In der Rolle des „unbeschwerten Assistenten und heiteren Paraphrasten [airy Assistant, and humorous Paraphrast]“34 begreift Shaftesbury seinen ‚Ratschlag an Autoren‘ als „Projekt und Hypothese“, die „sehr zaghaft, kaum laut gesprochen, sondern in einer Art von unbestimmtem Geflüster oder vorgeblichem Selbstgespräch vor sich hingemurmelt [Project or Hypothesis, is very faint, hardly spoken aloud; but mutter’d to himself, in a kind of dubious Whisper, or feign’d Soliloquy]“35 werden. Damit identifiziert Shaftesbury den Titel der Schrift „Soliloquy“ zunächst als literarische Gattungsbestimmung und noch nicht als Thema der Schrift. In der Tat stellt das „Soliloquy“ in einigen Passagen – v. a. im III. Teil – formal ein Selbstgespräch dar. Shaftesbury grenzt diese Methode – mehr indirekt – gegen seine Darstellungsform in der „Inquiry“ ab, in der er sich als „Dogmatiker, Formalist und Methodiker [Dogmatist, a Formalist, and Man of Method]“ äußerte und geradezu die „Figur eines pedantischen und engstirnigen Universitätsprofessors [Figure of some precise and strait-lac’d Pro32 Vgl.
ebd., S. 162–199. S. 167 [S. 166]. 34 Ebd., S. 175 [S. 174]. 35 Ebd., S. 167 [S. 166]. 33 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
fessor in a University]“36 abgegeben habe. Das Selbstgespräch stelle also eine undogmatische, unformalistische, unmethodische und unpedantische literarische Form dar, die nicht in der Eindeutigkeit eines lehrhaften Systems ihr Anliegen vortrage, sondern vielmehr als Projekt und Hypothese eines mit sich selbst zu Rate gehenden Subjektes an den Leser herantrete. Das Unlehrhafte vermittelt sich im Selbstgespräch durch die Ambivalenz dieser Gattung:37 Auf der einen Seite handelt es sich um ein Selbstgespräch und damit um eine persönliche Angelegenheit des inneren Menschen, auf der anderen Seite wendet es sich in der literarischen Fassung unweigerlich an den Leser und vermittelt gerade durch den Charakter des ‚kaum laut Gesprochenen‘ den Eindruck eines undogmatischen Ratschlages und Deutungsangebotes. Dies wird nach Shaftesbury auch durch dessen intentionale Richtung repräsentiert. Hier unterscheidet er prinzipiell zwei Ebenen. Zum einen berät sich der textinterne Autor des ‚Advice to an Author‘ selbst, und erst dann wendet sich der Ratschlag vermittels seiner literarischen Form auch an sein Lesepublikum – vornehmlich „Schriftsteller oder Politiker, Virtuosi oder vornehme Herren [Authors, Politicians, Virtuosi or Fine-Gentlemen]“38. Auch der Ratschlag in der Miszelle seinerseits richtet sich an diese Gruppen, dann an den Autor des „Soliloquy“ – Shaftesbury inszeniert hier eine Distanz und Differenz zwischen dem Autor des „Soliloquys“ und den „Miscellaneous Reflections“ – und letztlich an den Autor der Miszelle selbst „gemäß seinem Beispiel der Selbstermahnung und persönlichen Anrede [after his own example of Self-Admonition private Adreß]“39. Kommen wir zum Kontext des Persiuszitates und damit zum anderen Gesichtspunkt. Dieses ist eingebettet in eine Kritik der zeitgenössischen Philosophie, vor deren Hintergrund Shaftesbury allererst seinen positiven Begriff von Philosophie exponiert. Shaftesbury bedient sich dazu des Vergleiches von sogenannten Virtuosi und Schöngeistern auf der einen und Philosophen auf der anderen Seite. Der Begriff ‚Virtuosi‘ repräsentiert für Shaftesbury einen Ausdruck für einen kultivierten Gentleman, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich durch Reisen und Lektüre über alle kulturellen Errungenschaften – Recht, Politik, Wissenschaften und Künste – der Nationen Europas luzide Kenntnisse angeeignet hat. Dabei soll das Ziel leitend sein, eine umfassende „Betrachtung des Menschen und seiner Angelegenheiten [view of Mankind and their Affairs]“40 36 Ebd.
37 Schmidt-Haberkamp spricht von einem Paradox der Gattung des Selbstgesprächs (vgl. Schmidt-Haberkamp, Die Kunst der Kritik, S. 41). 38 Shaftesbury SE I,2, S. 167 [S. 166]. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 191 [S. 190]. – Es sei hier darauf hingewiesen, dass von der Formulierung Shaftesburys – ‚Betrachtung des Menschen und seiner Angelegenheiten‘ – der Weg zu Spaldings Buchtitel „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“ nicht mehr weit ist; gerade wenn man einrechnet, dass Spalding diese Frage als eine wichtige Angelegenheit des Menschen bezeichnen wird (vgl. V.3).
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anzustellen. Hierbei lauert jedoch die Gefahr, dass dieses Bildungsideal umschlägt zu „spitzfindigeren Untersuchungen [more nice Researches]“, „zur Beschauung des Insektenlebens, der Bequemlichkeiten, Wohnräume und Lebensordnung einer Gattung von Schalentieren [Contemplation of the Insect-Life, the Conveniencys, Habitations and Oeconomy of a Race of Shell-Fish]“. Kurzum: „wenn er in gehöriger Form ein Raritätenkabinett anlegt und es zum echten Abbild seines Geistes gemacht hat, vollgestopft mit dem gleichen Schund und Plunder entsprechender hohler Begriffe und schimärischer Einbildungen [when he has erected a Cabinet in due form, and made it the real Pattern of his Mind, replete with the same Trash and Trumpery of correspondent empty Notions, and chimerical Conceits]“41. Der Gentleman bzw. Virtuose verfehle seine wahre Kultiviertheit, wenn er sich zugunsten solcher Phänomene von der Betrachtung des Menschen und seiner Angelegenheiten verabschiede. Genau dieser Gefahr des ‚Virtuoso-Schemas‘ könne nun auch die Philosophie verfallen. Zum einen mache sie sich damit zum Gegenstand des verdienten Spottes, wenn sie ihr Hauptinteresse der Erforschung der Natur (im engeren Sinne) widmet und darüber die eigentlich den Menschen und die Gesellschaft betreffenden Themen vernachlässigt; zum anderen aber auch dadurch, dass der Philosoph, der sich durchaus den wesentlichen Themen widmet, in bloßen Systematisierungen und metaphysischen Phrasen steckenbleibt. In diesen negativen Aussagen spricht Shaftesbury bereits das an, was er positiv als eigentliche Aufgabe der Philosophie begreift: sie müsse sich der ‚Betrachtung der Menschen und ihrer Angelegenheiten‘ – wie es oben heißt – widmen und sich damit auf ‚unsere wahren Interessen oder jene der Gesellschaft und Menschheit‘ beziehen. Philosophie hat es – so kann von diesen Bemerkungen her geschlossen werden – mit dem Wesen des Menschen und denjenigen Sachverhalten zu tun, die ihn unmittelbar betreffen. Was aber hat Shaftesbury genau vor Augen? Hier nun setzen Shaftesburys normativen Bestimmungen hinsichtlich der Aufgabe der Philosophie und des Philosophen an. Die Hauptangelegenheit des Menschen und damit des „Philosophieren[s] im wahren Sinne des Wortes bedeutet nur, gute Lebensart eine Stufe höher führen [To philosophize in a just Signification, is but To carry Good-Breeding a step higher]“42. Mit dem Begriff der guten Lebensart erfasst nun Shaftesbury das, „was immer geziemend im geselligen Umgang oder schön in den Künsten ist [whatever is decent in Company, or beautiful in Arts]“43. Die Vollendung der guten Lebensart betrifft die ethische und ästhetische Einstellung des Menschen. Insofern sich damit die Philosophie als Funktion des kultivierten Daseins eines Gentleman darstellt, kann Shaftesbury auch beide in dieser Perspektive gleichsetzen: „Der Geschmack an der 41 Ebd., 42 Ebd., 43 Ebd.
S. 191/193 [S. 190/192]. S. 197 [S. 196].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Schönheit und das Gefallen an dem, was geziemend, richtig und liebenswürdig ist, macht den Charakter des Gentleman und des Philosophen vollkommen [The Taste of Beauty, and the Relish of what is decent, just, and amiable, perfects the Character of the Gentleman, and the Philosopher].“44 Der Philosoph ist allererst vermittels seines ethischen und ästhetischen Geschmacks auch in der Lage, diese Phänomene zum Gegenstand seiner Philosophie zu machen und durch diese eine Besserung der Lebensart zu befördern. Oder kurz gesagt: Ein Philosoph muss zunächst ein Gentleman werden. Genau diese Forderung an den Philosophen, zunächst eine ‚gentleman-like‘ Gemütsart auszubilden, stellt das Motiv für Shaftesbury dar, den Philosophen auf die Frage nach der eigenen Bestimmung zu bringen: „Nehmen wir nur einmal an, ein Mensch beschließt, von seinem Verstand den bestmöglichen Gebrauch zu machen, und überlegt dann, wer oder was er ist, woher er entstand oder seine Existenz erhielt, zu welchem Zweck er geschaffen wurde und zu welcher Handlungsweise er kraft seiner natürlichen Beschaffenheit und Veranlagung bestimmt ist [Let us but suppose a Man, who resolving to imploy his Understanding to the best purpose, considers Who or What he is; Whence he arose, or had his Being; to what End he was design’d; and to what Course of Action he is by his natural Frame and Constitution destin’d].“45 Ein Gentleman-Philosoph, dem es in persönlicher und theoretischer Absicht um eine in ästhetischer und ethischer Hinsicht gute Lebensart zu tun ist, wird also auf die basale Frage nach dem Zweck und der Bestimmung des Menschen geführt. Denn vermittelst einer Beantwortung dieser Frage wird ein Begriff von Gutheit und wirklicher Schönheit und damit ein Konzept einer ‚guten Lebensart‘ überhaupt erst möglich. Die Lösung des Problems erblickt Shaftesbury der Sache nach in der Bestimmung der ‚natürlichen Beschaffenheit und Veranlagung‘ und formal in einer doppelten Perspektive und Methode: „ob er sich nun aus diesem Grund in sich selbst vertieft und seine inneren Kräfte und Fähigkeiten prüft oder ob er über seine eigene unmittelbare Art, Stadt oder Gemeinschaft hinaus aufsteigt, um sein höheres Gemeinwesen oder seine höhere Gemeinschaft (jene allgemeine und umfassende, als deren Mitglied er geboren ist) auszuforschen und zu erkennen, so könnte sicherlich nichts dergleichen auch nur die geringste Verachtung oder Spötterei auf sich ziehen [shou’d he descend on this account into himself, and examine his inward Powers and Facultys; or shou’d he ascend beyond his own immediate Species, City or Community, to learn and recognize his higher Polity, or Community (that common and universal-one, of which he is born a Member;) nothing, surely, of this kind, cou’d reasonable draw upon him the least Contempt or Mockery]“46. Die Frage nach der Bestimmung seiner selbst führt den Menschen 44 Ebd., 45 Ebd., 46 Ebd.
S. 199 [S. 198]. S. 193 [S. 192].
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zum einen auf die Methode der Reflexion, des In-Sich-Selbst-Vertiefens und der Selbstprüfung, zum anderen auf Überlegungen in Bezug auf übergeordnete soziale Gefüge und seine Gattungszugehörigkeit. Mit ersterem hat Shaftesbury den konzeptionellen Ansatzpunkt seiner Theorie des Selbstgespräches erreicht, insofern sich dieses als der Selbstprüfung und Selbstvertiefung adäquatester Reflexionsmodus erweisen läßt. Diesen ganzen Gedankenkomplex beschließt Shaftesbury mit dem bereits erwähnten Persiuszitat: „Quid sumus, & quidnam victuri gignimur?“47 Das Diktum stellt für Shaftesbury eine Kurzformel seines hier skizzierten Programms dar: Philosophie hat wesentlich die Frage nach der Bestimmung des Menschen zu stellen, und sie hat diese auf der Basis einer je subjektiven soliloqueren Selbsterforschung zu entwickeln und zugleich auch in der Form eines Selbstgespräches literarisch darzustellen.
1.2 Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen im „Soliloquy“ Den Ausgangspunkt seiner Theorie des Selbstgespräches und der Bestimmung des Menschen im „Soliloquy“ nimmt Shaftesbury bei einem Konzept des Ratgebens im Allgemeinen und des Ratgebens an Autoren im Besonderen. Die unmittelbare Motivation, überhaupt sich mit dem Sachverhalt des Ratschlages auseinanderzusetzen, entspringt aus Shaftesburys normativem Begriff eines guten Autors. Dieser habe sich als Lehrer von Lebensregeln, Lebensklugheit, Anstand und Sitte zu begreifen. Sein Begriff eines wahren Schriftstellers stellt allererst das Motiv dafür dar, warum zum einen das Selbstgespräch und zum anderen die moralische Fragestellung dieser monologischen Introspektion zusammenzustehen kommen. Shaftesburys Definition eines Autoren soll daher ausführlich zitiert sein: „Allein der Mann, der den Namen des Dichters wahrhaftig und im eigentlichen Sinne verdient und der als ein wirklicher Baumeister in seiner Art sowohl Menschen als auch Sitten schildern und einer Handlung ihren wahren Körper, ihre richtige Proportionen geben kann, ist, wenn ich mich nicht irre, ein ganz anderes Geschöpf [scil. im Gegensatz zu den neueren Dichtern mit ihrem unbesonnen Witz und Phantasie; G. R.]. Ein solcher Dichter ist in der Tat ein zweiter Schöpfer; ein wahrer Prometheus unter Jupiter. Wie jener allerhöchste Werkmeister oder jene allgemein bildende Natur schafft er Ganzes, stimmig und wohlausgewogen in sich selbst, in allen Bestandteilen gehörig an‑ und zugeordnet. Er bezeichnet die Grenzen der Leidenschaften und kennt ihre genauen Tönungen und Maße; weshalb er sie richtig darstellt, das Erhabene der Gesinnungen und Handlungen herausstellt, das Schöne vom Hässlichen, das Liebenswürdige vom Hassenswürdigen unterscheidet [But for the Man, who truly and in a just sense deserves the Name of Poet, and who as a real Master, or 47 Ebd.,
S. 195 [S. 194].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Architect in the kind, can describe both Man and Manners, and give to an Action its just Body and Proportions; he will be found, if I mistake not, a very different Creature. Such a Poet is indeed a second Maker: a just Prometheus, under Jove. Like that Sovereign Artist or universal Plastick Natur, he forms a Whole, coherent and porportion’d in it-self, with due Subjection and Subordinacy of constituent Parts. He notes the Boundarys of the Passions, and knows their exact Tones and Measures; by which he justly represents them, marks the Sublime of Sentiments and Actions, and distinguishes the Beautiful from the Deform’d, the Amiable from the Odious].“48 Shaftesbury vergleicht den wahren Dichter mit einem Baumeister und mit dem Schöpferheros Prometheus. Die Hauptaufgabe des Autors bestehe der Sache nach in der Darstellung von Menschen und ihren Sitten. Das architektonisch-prometheische Moment dieser Literaturproduktion erblickt Shaftesbury formal in der ausgewogenen und auf Ganzheit zielenden Anordnung der Teile, vor allem jedoch inhaltlich in der differenzierten Darstellung der Affekte und in der Unterscheidung von ethischer Erhabenheit, Schönheit und Liebenswürdigkeit auf der einen und moralisch Hässlichem und Hassenwürdigem auf der anderen Seite. Der wahre Dichter muss also über ein ausgewogenes ethisch-ästhetisches Beurteilungs‑ und Differenzierungsvermögen verfügen. Anders als der Schöpfer-Prometheus der äußeren Welt jedoch ist der Schöpfer stimmiger ethischer Darstellungen angewiesen auf die Kenntnis der inneren Form, nämlich der ethischen und affektiven Disponiertheit des Menschen: „Der sittliche Künstler, der so den Schöpfer nachahmen kann und so mit der inneren Gestalt und dem inneren Gefüge seiner Mitgeschöpfe vertraut ist, wird schwerlich, wie ich vermute, ohne Selbsterkenntnis und unbekannt mit jenen Wohlklängen sein, welche die Harmonie der Seele ausmachen [The Moral Artist, who can thus imitate the Creator, and is thus knowing in the inward Form and Structure of his Fellow-Creature, will hardly, I presume, be found unknowing in Himself, or at a loss in those Numbers which make the Harmony of a Mind].“49 Genau die Notwendigkeit der Kenntnis dieser inneren Form stellt den Grund dafür dar, dass der sittliche Künstler-Autor auf ‚Selbsterkenntnis‘ angewiesen ist, die Shaftesbury damit als „Vorbereitungsübung [preparatory Discipline]“50 für Literaten apostrophiert. Diesem normativen Begriff eines guten Autors stellt Shaftesbury kultur‑ und literaturgeschichtliche Überlegungen voran, die überhaupt erst die Notwendigkeit des Ratschlages an Autoren motivieren und die in die gegenwartsdiagnostische und ‑kritische Einsicht in die Defizienz der neueren Schriftstellerei einmünden: Die sogenannten neueren Schriftsteller vermeiden die Darstellung natürlicher Charaktere und Sitten und kaprizieren sich in ihrer modischen Ma48 Shaftesbury, 49 Ebd., 50 Ebd.
SE I,1, S. 109/111 [S. 108/110]. S. 111 [S. 110].
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
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nier eher auf die Darstellung der eigenen Person; auch ist es ihnen um die Gunst des Lesers zu tun.51 Dieser Depravationsgestalt wird die antike Literatur gegenübergestellt, die in vielerlei Hinsicht Shaftesbury als Ideal vor Augen steht. Wir werden darauf zurückkommen. Zunächst seien zwei Schlussfolgerungen nachvollzogen, die Shaftesbury aus der normativen Bestimmung eines guten Autors zieht. Zum einen müsse ein Autor Kenntnisse in der Philosophie haben, zum anderen müsse demgemäß die Philosophie ihren Bildungszweck für Autoren auch erfüllen können. Dies bedarf der Erklärung; zum ersten: Shaftesbury fordert mit Bezugnahme auf einen seiner antiken Hauptgewährsmänner, nämlich Horaz, die philosophische Bildung des Literaten: „Die Geschicklichkeit und Grazie des Schreibens gründet sich, wie unser weiser Dichter uns sagt, auf Kenntnis und Weltklugheit und nicht nur auf das Wissen, das von den gewöhnlichen Autoren zu beziehen ist, oder auf die gängige Konversation der Welt; sondern auf jene besonderen Kunstregeln, die allein die Philosophie aufzeigt [The Skill and Grace of Writing is founded, as our wise Poet tells us, in Knowledg and good Sense. And not barely in the Knowledg, which is to be learnt from common Authors, or the general Conversation of the World; but from those particular Rules of Art, which Philosophy alone exhibits].“52 Des näheren muss sich der Poet nicht auf die Philosophie allgemein beziehen, sondern in erster Linie auf die Moralphilosophie: „Soviel muß der Dichter notwendig vom Philosophen entlehnen, daß er die Gemeinplätze der Moral beherrscht [So much the Poet must neccessarily borrow of the Philosopher, as to be Master of the common Topicks of Morality].“53 Zum zweiten Punkt: Genau in Korrespondenz zu dieser funktionalen Zuordnung der Philosophie zur Literatur bestimmt Shaftesbury das vornehmliche Thema der Moralphilosophie: „[E]s ist bekanntlich das Geschäft der Philosophie, uns über uns selbst zu belehren, dafür zu sorgen, daß wir die nämlichen Personen bleiben, und unsere herrschenden Neigungen, Leidenschaften und Stimmungen so zu lenken, daß wir uns selbst begreifen und uns aus anderen als den bloßen Gesichtszügen begreifen [’tis the known Providence of Philosophy to teach us our-selves, keep us the self-same Persons, and so regulate our governing Fancys, Passions, and Humours, as to make us comprehensible to our-selves, and knowable by other Features than those of bare Countenance].“54 Damit wird also die Philosophie als Hermeneutik menschlicher Angelegenheiten und Interessen sowie als Funktion der Besserung des Menschen in Dienst genommen.55 Einher geht dieser Begriff wahrer Philosophie mit einer Kritik an herkömmlichen Systemen der Metaphysik, Logik und Ethik, die Shaftesbury nicht näher 51 Vgl.
ebd., S. 101 [S. 100]. S. 91/93 [S. 90/92]. 53 Ebd., S. 195 [S. 194]. 54 Ebd., S. 203 [S. 202]. 55 Vgl. dazu auch ebd., S. 209/211 [S. 208/210]. 52 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
spezifiziert und die sich sowohl auf ihrem bloß systematisierenden Charakter als auch auf ihre Irrelevanz für die „Selbsterkenntnis oder Menschenkenntnis [Knowledg of Himself or Mankind]“56 begründet. Er bringt es auf den Begriff, wenn er die „superspekulative Philosophie einer mehr praktischen [super-speculative Philosophy with a more practical]“57 Philosophie gegenüberstellt, die durchaus von jedem verständigen Menschen praktiziert werden können sollte. Damit wird die Philosophie über ihre Belehrungsfunktion in Sachen Anthropologie und Moralität hinaus von Shaftesbury als Funktion des Menschen allgemein bestimmt und folglich soziologisch entschränkt von einer akademischen zu einer alltagsweltlichen Angelegenheit, wenigstens was ein basales „Grundwissen[s] [Principle]“58 anbelangt. Shaftesbury stellt sich mithin der Sache nach und auch erklärtermaßen in die sokratische Philosophietradition, insofern die delphisch-sokratische Forderung des nosce te ipsum keine spekulative Systemphilosophie einfordert, sondern im Gegenteil die Philosophie zur Funktion der humanen Selbsterkenntnis erklärt. Bei Sahaftesbury „tritt Selbsterkenntnis in Konkurrenz zu Sachkenntnis“59. Dieses Philosophieideal ist für Shaftesbury am adäquatesten in der griechischen Dialogdichtung und Dialogphilosophie verwirklicht worden. In ausführlichen kultur‑ und literaturgeschichtlichen Exkursen in Soliloquy I,3 und II entfaltet Shaftesbury die ursprüngliche Verflechtung von Poesie und Philosophie, die er zugleich als Norm der neueren Literatur wie auch der Philosophie aufstellt. Vor Augen hat er hier diejenigen Poeten, die er als die „allerersten Dichter [primitive Poets]“ bezeichnet – in erster Linie Homer – und die ihre Methode im bessernden Verfahren personifizierter Diskurse erblickten und damit dem Poesieideal Shaftesburys am ehesten entsprachen: „Denn Poesie wurde definiert als Nachahmung vor allem von Menschen und Sitten [For Poetry it-self was defin’d an Imitation chiefly of Men and Manners].“60 Diese Dialogdichtung zeichnet sich dadurch aus, dass sie belehren und damit auch die Funktion der nachmaligen Philosophie erfüllen konnte. Demgemäß hat sich auch die Philosophie – im engeren Sinne – in ihrer Frühphase vornehmlich des Dialogs als Darstellungsform bedient. Shaftesbury verweist konkret auf die formale Ähnlichkeit der Dichtung Homers und der Dialoge Platons.61 Für Shaftesbury stellt der Dialog deshalb die für die literarische wie philosophische Funktion der Selbsterkenntnis adäquateste Form dar, weil er nicht nur die Erkenntnis fremder Charaktere und Vorstellungen bezweckt, sondern das Ziel
56 Ebd.,
S. 211 [S. 210]. S. 213 [S. 212]. 58 Ebd., S. 205 [S. 204]. 59 Schmidt-Haberkamp, Die Kunst der Kritik, S. 37. 60 Shaftesbury, SE I,1, S. 95 [S. 94/96]. 61 Vgl. ebd., S. 99 [S. 98]. 57 Ebd.,
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
283
verfolgt, „uns selbst kennen zu lernen [to know Our-selves]“62. Selbsterkenntnis begründet sich jedoch nicht nur in der Wiederentdeckung des Rezipienten in den literarischen Dialogpartnern, sondern vielmehr in der Internalisierung und Habitualisierung des Dialogs als Vergewisserungsmodus am Orte des eigenen Subjektes. „Und, was besonders bemerkenswert an diesen magischen Spiegeln war, es kam vor, daß mittels beständiger und langer Selbstbetrachtung diejenigen Leute, die an diese Übung gewöhnt waren, in eine eigentümliche spekulative Geistesverfassung gerieten, so daß sie tatsächlich eine Art von Taschenspiegel mit sich herumtrugen, jederzeit zur Hand und im Gebrauch [And, what was of singular note in these magical Glasses; it wou’d happen, that by constant and long Inspection, the Partys accustom’d to the Practice, wou’d acquire a peculiar speculative Habit; so as virtually to carry about with’em a sort of Pocket-Mirrour, always ready, and in use].“63 Das Subjekt übt sich durch die Rezeption literarisch-philosophischer Dialoge in die Reflexionsform des Zwiegesprächs ein und verinnerlicht diese, nun jedoch in der Form des dialogischen Selbstgespräches als Methode der „Selbstbetrachtung [Self-Inspection]“64. Damit ist ein zentraler Aspekt von Shaftesburys Theorie des Soliloquiums benannt: Das Selbstgespräch stellt 1. eine Grundform der Selbstbetrachtung und Selbsterkenntnis dar, die 2. durch die dialogische Struktur guter philosophischer Literatur bzw. literarischer Philosophie angeregt wird. Einen weiteren Aspekt des Selbstgespräches entwickelt Shaftesbury im Kontext der Erwägung zweier Probleme: Zum einen sind auf diesem Terrain die Menschen wenig bereit, sich beratschlagen zu lassen, anders als in Wissenschaften und freien Künsten.65 Zum anderen muss der Autor selbst eine Ahnung und Kenntnis von Anstand und Sitte besitzen, um hier als Ratgeber auftreten zu können.66 Die Lösung erblickt Shaftesbury zunächst in einem besonderen Modus des Ratgebens, mit dem er sich implizit auf Horazens berühmtes Diktum in dessen „Ars poetica“ bezieht: „Ihr besonderes Glück und ihr besonderer Vorteil ist es, daß sie nicht verpflichtet sind, ihre Forderungen offen anzumelden. Und wenn sie, während sie erklären, nur gefallen zu wollen, insgeheim Ratschläge und Unterricht erteilen, so mag man sie jetzt vielleicht, genauso wie früher, mit Recht für die besten und ehrenwertesten unter allen Autoren halten [’Tis their peculiar Happiness and Advantage, not to be oblig’d to lay their Claim openly. And if whilst they profess only to please, they secretly advise, and give Instruction; they may now perhaps, as well as formerly, be esteem’d, with justice, the best and most honourable among Authors].“67 Ratgeben bei lebensweltlichen An62 Ebd., 63 Ebd., 64 Ebd. 65 Vgl.
S. 93 [S. 92]. S. 95 [S. 94].
ebd., S. 43 [S. 42]. ebd., S. 267 [S. 266]. 67 Ebd., S. 43 [S. 42]. 66 Vgl.
284
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
gelegenheiten in einem soziologisch nichtakademischen und nicht-lehrhaften Kontext kann also nur indirekt verfahren und muss den Ratschlag gleichsam als „kostenloses und freigebiges Geschenk [free Gift]“68 verpacken. Des näheren bestimmt Shaftesbury diese Indirektheit des Ratgebens in Weisheitsangelegenheiten als eine Als-ob-nicht‑ bzw. als eine Schein-Struktur: Der Autor muss sich so „geben, als beabsichtigte er nichts in dieser Hinsicht [not to appear assuming in this respect]“69. Was hat nun das Konzept des literarischen Ratschlagens in Angelegenheiten der Sittlichkeit des näheren mit dem Selbstgespräch zu tun? Den Übergang zu dieser Kategorie markiert Shaftesbury, indem er darlegt, wie man als Schriftsteller Ratschläge unter der benannten rezeptionstheoretischen Problematik am erfolgversprechendsten zu gestalten hat. Shaftesbury will also der Literatenkaste keinen sachlichen Ratschlag in Sachen Weisheit und Lebensklugheit erteilen, sondern ausschließlich „Art und Weise […], in der man Ratschläge geben sollte“, darstellen. Die benötigte „Kunst des Argumentierens [Legerdemain in Argument]“ und der „bestimmte Trick […], mit Hilfe deren wir sicher zum gefährlichen Aspekt des Ermahnens vorschreiten [certain Knack …, by which we may safely proceed to the dangerous part of advising]“70, bezeichnet Shaftesbury mit der Metapher der Heilkunst, die ihr Wesen in der Spannungseinheit von Zartgefühl und Entschlossenheit hat. Gleichsam als kommunikativen Übungsort und Übungsperson für diesen Balanceakt empfiehlt unser Autor die je eigene Person und speziell die Methode des Selbstgespräches. Am Orte der eigenen Person finde bei einer Selbstberatschlagung zum einen eine natürliche Ausgleichsbewegung zwischen unausweichlicher Ernsthaftigkeit und notwendiger Zartfühlichkeit statt71, zum anderen diene die Selbstbehandlung der argumentativen Durchklärung72. Sie bewirkt darüber hinaus aufgrund des Entladungseffektes, Aufwallungen und Hitzigkeit in Rede und Stil zu vermeiden. – Damit wird deutlich: Das Selbstgespräch wird von Shaftesbury verstanden als „Instrument der Selbstkritik“73 und so als Modus der Einübung von Autoren in die Art und Weise des Beratschlagens. Das Soliloquiumskonzept ist also eingebettet in eine Propädeutik für Literaten. Damit steht aber noch die Frage offen, wie Shaftesbury das Selbstgespräch hinsichtlich seiner psychologischen bzw. bewusstseinstheoretischen Struktur und in Bezug auf den eigentlichen sachlichen Gehalt genau bestimmt. Den psychologischen und bewusstseinstheoretischen Bedingungen des intramentalen Dialoges als eines allgemein-humanen Sachverhaltes widmet sich 68 Ebd., 69 Ebd., 70 Ebd. 71 Vgl.
S. 41 [S. 40]. S. 43 [S. 42].
ebd., S. 45/47 [44/46]. ebd., S. 59 [58]. 73 Raming, Shaftesburys Konzept einer dialogischen Skepsis, S. 90. 72 Vgl.
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
285
Shaftesbury vornehmlich im Abschnitt I,274. Die mentale Grundbedingung des intramentalen wie auch des externalisiert-sprachlichen Selbstgespräches stellt die Fähigkeit dar, sich gleichsam in zwei Personen zu verdoppeln75. Dieser Duplifizierung liegt eine Zweiteilung der Seele zugrunde, derer wir uns als Subjekte kraft einer inneren Versenkung in uns selbst gewärtig werden können. Diese psychische Struktur nimmt sich wahr als die Differenz zwischen einer autoritären, regierenden Ratgeberinstanz auf der einen und einer gehorchenden sowie zu beratenden Instanz auf der anderen Seite. Shaftesbury illustriert diese Struktur vermittels herrschafts-, schul‑ und gerichtsmetaphorischer Semantik: Die eine Instanz sei der autoritative Lehrer und Inquisitor, der die andere Instanz als den knechtischen Schüler und zu Verhörenden befrage, beherrsche und unterrichte76. Damit entstehe ein „reflexives Spannungsverhältnis“ mit der Funktion der „Selbstkritik“77. Er lehnt sich hier erklärtermaßen an die altgriechische Vorstellung des Daimons an78: Jeder Mensch verfüge über einen Daimon bzw. Genius, dem der innere Mensch in sich selbst verpflichtet sei. Die innere Durchsetzung des Schutzgeistes hat formal eine identitätsstiftende bzw. identitätsstabilisierende79 Funktion: Die konfliktuöse Verdopplung des Selbst würde das Selbst zerbrechen lassen80, wenn sich nicht innerhalb dieser Doppel-Struktur eine Hierarchie bzw. Abhängigkeitsstruktur ausbilden würde. Genau in diesem Sinne interpretiert dann auch Shaftesbury die Delphische Inschrift des „Erkenne dich selbst“, nämlich als Aufforderung zur Selbst-Erkenntnis im Sinne der Erkenntnis dessen, was das Selbst ausmacht bzw. ausmachen soll. Shaftesbury verschränkt die DaimonVorstellung mit der spezifischen Frage nach dem, „was unser Hauptziel sei; wonach wir offensichtlich trachteten und was wir uns selbst als unseren Zweck bei jedem Vorkommnis in unserem Leben setzten [what our main Scope was; what we plainly drove at, and what we propos’d to our-selves, as our End, in every Occurrence of our Live]“81. Die Erkenntnis seiner selbst bezieht sich also nach dem Verständnis Shaftesburys auf die Frage nach dem Zweck des Lebens und des menschlichen Daseins. Das Selbstgespräch wird als einzig denkbarer Modus der Selbsterkenntnis vorgestellt, sich über den Sinn und Zweck des humanen Daseins zu verständigen. Damit bindet Shaftesbury die Zentralfrage nach der Bestimmung des Menschen eng an die kommunikative Methode des internen Dialoges an: Das „Erkenne dich selbst“ fordert das Selbstgespräch; und dieses 74 Shaftesbury,
SE I,1, S. 61–87 [S. 60–86]. ebd., S. 45 [S. 44]. 76 Vgl. ebd., S. 47/61/65 [S. 46/60/64]. 77 Raming, Shaftesburys Konzept einer dialogischen Skepsis, S. 89. 78 Vgl. Shaftesbury, SE I,1, S. 61 [S. 60]. 79 Vgl. Schmidt-Haberkamp, Die Kunst der Kritik, S. 44. 80 Schmidt-Haberkampf spricht daher zu Recht davon, dass Shaftesbury „das Selbstgespräch zum Streitgespräch“ dramatisiere (ebd., S. 47). 81 Shaftesbury, SE I,1, S. S. 63 [62]. 75 Vgl.
286
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
findet ihren eigentlichen Gehalt vornehmlich in der Frage nach der Bestimmung des Menschen. Genau dieser Frage widmet sich nun Shaftesbury im III. Teil (Abschnitt 2)82 seinerseits mittels eines Selbstgespräches, an dem er – ungeachtet seiner eigenen Ermahnung, dergleichen Vorübungen nicht der Öffentlichkeit preiszugeben – durch seine Veröffentlichung im „Soliloquy“ selbstverständlich auch das Lesepublikum Anteil haben lässt und damit das Soliloquium nicht nur ausschließlich als propädeutische Vorübung für Literaten bestimmt, sondern eben auch als literarische Gattung selbst praktiziert und exemplarisch vorführt. Shaftesbury rekonstruiert seine Theorie der Bestimmung des Menschen vermittels eines inneren Dialoges jedoch nicht abstrakt, sondern stellt sie in den Kontext eines soziokulturellen Problemhorizontes. Die Selbstdeutungspraxis im Sinne Shaftesburys steht vor der Herausforderung, dass die „metaphysischen Spitzfindigkeiten unseres Glaubens [metaphysical Points of our Belief]“ hinsichtlich der Frage nach dem Wesen des Menschen die Bereitschaft, sich in einer unvoreingenommenen Introspektion gleichsam ein zweites Mal dieser Frage zu widmen, behindert. Religiöse Indoktrinationen mit metaphysischen und religiösen Bestimmungen des Menschen haben diesen müde gemacht, sich eigenständig auf dieses Feld der Selbstentdeckung zu begeben. Shaftesbury dringt darauf, „unter einem anderen Gesichtspunkt unser wirkliches Selbst und unseren Endzweck, das Urteil, das wir über unser Interesse fällen sollen, die Meinung, die wir von unserem Vorteil und vom Guten haben sollten, zu erforschen [in another View, to inquire concerning our real Self, and End, the Judgment we are to make of Interest, and the Opinion we shou’d have of Advantage and Good]“83. Der neue Gesichtspunkt verdankt sich der elementaren Frage, „was notwendig unser Verhalten bestimmen und sich als das leitende Prinzip unseres Lebens erweisen muß [what must nessessarily determine us in our Conduct, and prove the leading Principle of our Lives]“84. Nicht metaphysische Spekulation, sondern die basale Frage nach dem Bestimmungsprinzip menschlichen Daseins motiviert also Shaftesbury, die alte Frage neu zu stellen, und er bindet sie damit an ein allgemeines humanes Interesse nach Leitgesichtspunkten der je eigenen Lebensführung an.85 Seine Sachfrage umfasst in der zitierten Formulierung ein ganzes Arsenal von Begriffen, deren Verhältnis und inneres Gefüge nicht leicht zu bestimmen sind, wie die Begriffsrelation von Zweck/Endzweck und Interesse anzeigt. Letzteres stellt gleichsam die innere Strebestruktur dar und bezieht sich auf den Endzweck 82 Vgl.
ebd., S. 229–261 [S. 228–260]. S. 233 [S. 232]. 84 Ebd. 85 Die diesbezügliche These von Schmidt-Haberkamp, „Selbstaufklärung besitzt keine gesellschaftliche Relevanz, noch lassen sich ethische Sätze aus ihr ableiten“ (Schmidt-Haberkamp, Die Kunst der Kritik, S. 49), unterschlägt die anthropologische und vor allem die moralphilosophische Dimension von Shaftesburys Selbstgesprächs‑ und Selbsterkenntniskonzeption. 83 Ebd.,
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
287
als Telos des Menschen, zu dem sich das Interesse einen Begriff bilden muss. Dabei darf es nicht von Meinung, Einbildung und wahnhafter Überzeugung bestimmt sein, sondern muss sich am Zweck des Menschen orientieren. Das Interesse wiederum beurteilt alles Vorkommnis nach dem Modus seiner Vorteilhaftigkeit bzw. hinsichtlich der Bonität für diesen Zweck: Gut und vorteilhaft ist dasjenige, was vom Interesse nach dem Maßstab des Zweckes als gut beurteilt wird. Die Reflexion auf den Zweck substituiert damit den wahnhaften, bloßer Meinung und Einbildung entspringenden Standpunkt des Interesses. Der Zweck bzw. Vorteil wird nun mit der Glückseligkeit identifiziert, dessen gewisse Erkenntnis die Basis der Lebensführung bedeutet: „Mein hauptsächliches Bemühen, so scheint es deshalb, muß es sein, zielen und mit Gewissheit erkennen zu lernen, wo meine Glückseligkeit und mein Vorteil liegen [My chief Interest, it seems therefore, must be to get an Aim; and know certainly where my Happiness and Advantage lies].“86 Es ist nun für Shaftesburys Glückskonzeption wesentlich, dass Glückseligkeit und Vergnügen koinzidieren, denn die Glückseligkeit kann niemals unangenehm sein. Unter dieser Bedingung steht die Glückseligkeit. Die basale wie formale Korrelation von Glückseligkeit und Vergnügen führt nun zur ersten Lebensart, die als Stufe des unbestimmten Vergnügens bezeichnet werden kann. Denn sie geht allein von der Schlussfolgerung aus, dass, wenn Glückseligkeit und Vergnügen korrelieren, Vergnügen als solches glückselig macht87. Diese Lebensform orientiert sich am jeweils momentan Vergnüglichen und wechselt damit auch jeweils ihren Begriff von Glückseligkeit. Diese Stufe basiert auf der relativen Unaufrichtigkeit, über die nun das über sich selbst reflektierende Subjekt durch Aufrichtigkeit und Eingeständnis hinauswachsen kann. Denn das wechselnde Vergnügen verfügt über eine ihm selbst gegenläufige Struktur, nämlich des mit ihm notwendig einhergehenden „Ekel[s] und Überdruß[es] [disgusted]“88. Die Orientierung am Momentan-Vergnügen verfügt also über die intrikate Struktur, dass es als wechselndes jeweils auch Missvergnügen evoziert. Daraus entspringt dann Lasterhaftigkeit und Schwelgerei als derjenige Lebensmodus, in dem der Ablöseprozess von Vergnügen und Überdruss durch schnellen Wechsel substituiert werden soll. Der Begleitreflex des auf Wechselhaftigkeit basierenden Missvergnügens ist die Unruhe und Unbeständigkeit, die beide für das Vergnügungslebens als der Inbegriff des strukturellen Missvergnügens zu stehen kommen und damit diese Lebensform letztlich als glücksuntauglich entlarven. Oder anders gesagt: Nicht nur das Missvergnügen am je Anderen des momentanen Vergnügens, sondern in erster Linie die mit der Mutabilität einhergehende psychisch-mentale Unausgeglichenheit evoziert Missvergnügen. Bezieht man diese Analyse des Vergnügungslebens auf Shaftesburys 86 Shaftesbury, 87 Vgl.
ebd. 88 Ebd.
SE I,1, S. 235 [S. 234].
288
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Ausgangsfrage zurück, ob Vergnügen als solches Maßstab für das Gute bzw. Glückseligkeit sein kann, so muss diese verneint werden; fragt man nach der möglichen Konsequenz, ob das Gute bzw. Glückseligkeit mit Vergnügen dann nicht koinzidieren können, so verneint Shaftesbury jedoch auch diese Frage. Denn nicht das Vergnügen an sich hat sich als glücksuntauglich, sondern das Vergnügen in diesem spezifischen Vorkommnis hat sich als letztlich unvergnüglich erwiesen. Eine weitere Lebensform, die des Ehrgeizes des Geschäftsmannes, wird von Shaftesbury am Übergang zur Moralität nur angedeutet, auf die wir hier nicht näher eingehen müssen. Jedoch soll sie Erwähnung finden, da Spalding ebenfalls diesen Daseinsmodus in Erwägung zieht.89 Die transitorische Frage, die von der entlarvenden Selbstanalyse des Vergnügungslebens überleitet, bezieht sich auf ein beständig Gutes, mithin auf ein solches Gut, welches eben nicht dem Schicksal des gemeinen Vergnügens anheimgegeben ist. Es muss so verfasst sein, dass es ein anderes, nämlich beständiges bzw. wahres Vergnügen hervorruft. Dieses Gut erblickt Shaftesbury in der Moralität: „Wenn ich meine Vernunft an moralischen Gegenständen übe, wenn ich von meinem Wohlwollen in freundlichen und geselligen Handlungen Gebrauch mache, so bemerke ich, daß ich dann wahrhaftig an mir Vergnügen finde [When I exercise my Reason in moral Subjects; when I employ my Affection in friendly und social Actions, I find I can at that time sincerely enjoy my-self].“90 Moralitätsofferten werden also von Shaftesbury nicht im Modus eines Appells vorgetragen, sondern so, dass sie sich als Integral humanen Glücks‑ bzw. Vergnügungsstrebens ausweisen lassen. Die Plausibilität der Moralität wird durch die Bestimmung des ihr spezifisch inhärierenden Vergnügens erhärtet. Dieser Logik liegt die Differenz von wahrem und falschem, eigentlichem und uneigentlichem Vergnügen zugrunde, die überhaupt erst die lusttheoretische Argumentationsstrategie des Überschritts ermöglicht und eben nicht die stoische bzw. stoizistische Konsequenz zieht, indem sie Vergnügen als Affektion aus der Struktur ‚Moralität‘ gänzlich verabschiedet. Das Kriterium für das wahre Vergnügen besteht in der Qualität der Folgen bzw. in der Beständigkeit des Vergnügens. Im Gegensatz zu den Vergnügungen der Ausschweifung, der Faulheit und der Habsucht zeichne sich das moralische Vergnügen dadurch aus, dass es sich nicht selbst desavouiert, sondern sich selbst steigert und an seinem Maß sich nicht selbst negiert: „Wenn aber Rechtschaffenheit meine Freude ist, so kenne ich keine andere Folge der Hingabe an eine solche Leidenschaft als die, immer gutgesinnter zu werden und mehr und mehr die Vergnügen der Geselligkeit zu kosten [But if Honesty be my Delight, I know no other consequence from indulging such a Passion, than that of growing better natur’d, and enjoying more and more 89 Vgl.
Spalding, BdM, S. 2 [S. 4 f.]. SE I,1, S. 237 [S. 236].
90 Shaftesbury,
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
289
the Pleasure of Society].“91 Die Bedingung der Möglichkeit einer Verstetigung des moralischen Vergnügens ist die Bedingung dafür, dass dieses Vergnügen „für die Glückseligkeit so wesentlich ist [so essential to Happiness]“92. Das nichtstoische Moment spricht sich darüber hinaus in der relativen Geltung nichtmoralischen Vergnügens aus. Denn dieses wird nicht vollkommen negiert, sondern kann in Harmonie und Übereinstimmung mit dem moralischen Vergnügen statthaben. Gemäß dieser Kriteriologie werden alle Vorstellungen von Vergnügen einer Prüfung durch die moralische Vernunft unterzogen. Sowohl ethische Vortrefflichkeit als auch Stetigkeit und Beständigkeit – die Garanten für Gemütsruhe und Glückseligkeit – werden dadurch konstituiert. Darin besteht die Grundstruktur der soliloqueren Selbst-Erkenntnis und Selbst-Beherrschung. Nun aber gibt es Vorstellungen – Shaftesbury spricht von Zauberinnen und Musen –, die das amoralische Vergnügen in ihrem Kampf um Anerkennung stabilisieren. Von Bedeutung ist hier vor allem die Vorstellung des Todes, die als eine Zauberin im Gewand der tragischen Melpomene auftritt.93 Denn sie erzeugt den Drang, das Leben zu genießen und darüber den eigentlichen Zweck des menschlichen Daseins aus den Augen zu verlieren. Die Lösung dieses Problems erblickt Shaftesbury in der Selbstbesinnung, die nun nicht in einer wie auch immer gearteten Unsterblichkeitsreflexion besteht, sondern in der Darstellung der Schönheit der Tugend: Sie ist eine harmonische Ordnung, „die das Leben vollkommen macht und die höchste Lust gewährt [which make Life perfect, and bestow the chief Enjoment]“94. Vor allem durch das moralische Exempel wird die Tugend als solche Lebensweise vor Augen gestellt, die die höchste Lust gewährt. Dafür erklärt Shaftesbury die Muse Kalliope zuständig, die aber nicht alleine auftritt, sondern ihre Schwestern Klio und Urania zur Seite hat. Klio steht für die historischen Beispiele glücklicher und freier Nationen sowie moralischer Personen. Urania repräsentiert die Gesetze der Natur und die Ordnung des Weltalls. Diese fungieren vermittels ihrer Geordnetheit ebenfalls als Vorbilder. In dieser Hinsicht bestimmt Shaftesbury auch die Funktion der Poesie, vornehmlich der Tragödie. Die Lehre bestehe hier nicht in der bloßen Wertschätzung des Lebens als solchem. Vielmehr bestehe ein Merkmal des Tugendhaften in der Verachtung des Todes. Mit andern Worten: Das kurze tugendhafte Leben stellt für Shaftesbury einen höheren Wert dar als ein langes lasterhaftes Leben. Shaftesbury nimmt innerhalb seines Selbstgespräches noch einmal eine metastufige Reflexionsebene ein, die das Soliloquium selber als Auseinandersetzung der Vernunft mit den der Phantasie entspringenden moralschädigenden Vorstellungen in Frage stellt, letztlich aber zu einem positiven Bescheid kommt: „Wie! Mit mir selbst wie ein Verrückter sprechen in verschiedenen Personen und 91 Ebd.
92 Ebd.,
S. 237 [S. 236]. ebd., S. 241 [S. 240]. 94 Ebd., S. 245 [S. 244]. 93 Vgl.
290
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Rollen! Zweifelsohne, oder man wird bald sehen, wer wirklich der Verrückte ist und im Ernst die Rolle wechselt, ohne zu wissen, wie dem abzuhelfen sei [What! Talk to my-self like some Madman, in different Persons and under different Characters! Undoubtedly: or ’twill be soon seen who is a real Madman, and changes Character in earnest, without knowing how to help it].“95 Das Selbstgespräch stellt sich also als einzige Methode dar, die den inneren Menschen zu einem tugendhaften und damit glücklich-vergnügten Leben verhelfen kann. Am Ende dieses Gedankenganges stellt sich Shaftesbury die Frage, welchen Adressatenkreis er mit seinem paradigmatischen und propädeutischen Selbstgespräch eigentlich ansprechen will. Das Soliloquium stellt sich zunächst nach Maßgabe des Titels der Schrift – „Advice to an Author“ – als eine Anweisung für Autoren bzw. philosophische Literaten dar: Der Schriftsteller muss sich eingestehen, „daß diese Übung der Selbstprüfung und Methode des inneren Gesprächs einigen Wert besitz [there is something valuable in this self-examining Practice, and Method of inward Colloquy]“96. Jedoch, auch wenn die Methode des Selbstgespräches eine Vorbereitungsübung vornehmlich für den Autor darstellt, so ist doch der Allgemeinheitscharakter der dem intrapersonalen Dialog zugrunde liegenden Frage des „Erkenne dich selbst“ der Grund dafür, dass das Soliloquium nicht nur im Interesse des angehenden Literaten liegt, sondern „alle Menschen im allgemeinen angeht [regards all Men in general]“97 und damit eine Angelegenheit des Menschen als eines Menschen ist, der zum Zwecke seiner Lebensführung auf die selbständige Beantwortung dieser Frage verwiesen ist. Der Methode des Selbstgesprächs wird von Shaftesbury über die Beantwortung der Frage nach der Bestimmung des Menschen hinaus jedoch noch eine weitere Funktion zugewiesen. Denn ist der Mensch sich über seine Bestimmung zur Moralität als Norm im Klaren, so richtet sich das faktische Selbst noch keineswegs zwangsläufig nach dieser Soll-Bestimmung. Vielmehr bedarf es im Modus der Realisierung des Hauptzweckes am Orte des menschlichen Lebens wiederum der Fähigkeit, sich der prüfenden Methode des Selbstgespräches zu bedienen und ihr nicht auszuweichen, zum einen um gewärtig zu werden, ob sich das Subjekt an diesem Hauptzweck wirklich orientiert und zum anderen vermittels dieser Durchleuchtung die Lebensführung gegebenenfalls wieder in die richtige Bahn zu lenken. Die „gymnastische Methode des Selbstgespräches“ funktioniert dann so, dass „der Geist mit Hilfe einer gewissen mächtigen Figur der inneren Rhetorik seine eigenen Vorstellungen anredet [Gymnastick Method of Soliloquy takes its Rise: when by certain powerful Figure of inward Rhetorik, the Mind apotrophizes its own Fancys]“98. 95 Ebd.,
S. 251 [S. 250]. S. 261 [S. 260]. 97 Ebd., S. 87 [S. 86]. 98 Ebd., S. 85 [S. 84]. 96 Ebd.,
1. Introspektives Selbstgespräch und Bestimmung des Menschen
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Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Shaftesbury auch in den „Moralists“ mit einer soziologischen Analyse der Philosophie in einer Gesellschaft einsetzt, die von einem herrschenden Geist der Galanterie und des Vergnügens99 geprägt sei. Während in der freien Geselligkeit als möglichem Ort des Philosophietreibens Politik und vergnüglicher Zeitvertreib das Feld bestimmen, habe sich die Philosophie in die ihr angestammten Orte der Universitäten zurückgezogen und treibe dort Sophisterei.100 Die Konsequenz davon bestehe darin, dass die Philosophie nicht mehr – wie bspw. in der Antike – für die Ausbildung des Staatmannes und von Personen des öffentlichen Lebens101 zuständig sei. Damit habe sie erheblich an Relevanz eingebüßt. Dies sei deshalb höchst prekär, da die Staatskunst in hohem Maße auf die Philosophie angewiesen sei. Shaftesburys Argumentation führt direkt zu seiner Definition von Moralphilosophie. Die Politik und die Stellung innerhalb des öffentlichen Lebens bedürfen der Philosophie und zwar vornehmlich der Moralphilosophie. „Denn um die Sitten und Einrichtungen der Menschen im allgemeinen zu verstehen, ist es notwendig, den Menschen im besonderen zu studieren und ihn als Geschöpf, für sich gesehen, zu erkennen, bevor wir ihn in der Gesellschaft betrachten, wie er im Staat Anteil nimmt oder irgendeiner Stadt und Gemeinschaft verbunden ist [For to understand the Manners and Constitution of Men in common, ’tis necessary to study Man in particular, and know the Creature, as he is in himself, before we consider him in Company, as he is interested in the State, or join’d to any City or Community].“102 Damit wird deutlich, was Shaftesbury unter Moralphilosophie in erster Linie verstanden wissen will: Moralphilosophie ist Anthropologie und bedeutet, „seinen [des Menschen] Stammbaum innerhalb der Natur zu erforschen und seine Bestimmung und Einrichtung in ihr zu untersuchen [to search his Pedegree in Nature, and view his End and Constitution in it]“103. Mithin ist hier in der Übersetzung der Standard Edition der Bestimmungsbegriff gefallen und Moralphilosophie definiert als Lehre von der Bestimmung des Menschen. Die entsprechende literarische Form erblickt Shaftesbury nicht in Abhandlungen und Systemen, sondern im Dialog. Die Gesprächsmethode steht nach Shaftesbury für eine undogmatische Form der Untersuchung. Philosophie, Moralphilosophie bzw. Anthropologie haben daher im Modus einer dialogischen Untersuchung zu verfahren, die nicht schematisches Wissen vorträgt, sondern mögliche Meinungen und Standpunkte prüft. Shaftesbury verknüpft also auch in den „Moralists“ die sachliche Frage der Philosophie resp. der Moralphilosophie nach der Bestimmung des Menschen mit der Darstellungsform des Dialogs, wenngleich nicht des Selbst-Dialogs. 99 Vgl.
Shaftesbury, SE II,3, S. 166 [SE II,1, S. 23]. Ebd., S. 167 [SE II,1, S. 24]. 101 Vgl. ebd. 102 Ebd., S. 167 [SE II,1, S. 24]. 103 Ebd. 100 Vgl.
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
2. Der Universumsbegriff als Basis der Ethik und Religionsphilosophie 2.1 Die Teil-Ganze-Struktur als universales Grundprinzip Für Shaftesbury stellen die basalsten Kategorien seines Konzeptes von Erkenntnis die Begriffe „Struktur und … Gestalt [constitution and frame]“104 dar. Des näheren versteht darunter die Struktur einer Teil-Ganze-Beziehung bzw. eines Systems, in der bestimmte Teile zu einem bestimmten Zweck eines übergeordneten Ganzen fungieren. Diese Relation wird von Shaftesbury für den Fall einer funktionierenden Teil-Ganze-Beziehung bzw. stimmigen teleologischen Ausgerichtetheit eines Teiles auf einen Zweck hin in der Regel als Proportion, Ordnung und Harmonie (engl. proportion, order, harmony) bezeichnet. Diese allgemeine Natur stellt nun eine iterative Struktur dar. Ihre kleinste Einheit, die Shaftesbury thematisch macht, ist das einzelne Lebewesen. Dieses kann unter je zwei Perspektiven betrachtet werden: zum einen als Ganzes, zu dem jeweils die Aufbauelemente dieses Ganzen als Teile vorstellig werden; und zum anderen als Teil eines übergeordneten Ganzen. Dieser Verweisungszusammenhang ist wiederum mehrstufig. Shaftesbury spezifiziert dies folgendermaßen: 1. Jedes Ding bzw. jedes Lebewesen gehört aufgrund einer spezifischen Struktur, vermittels derer es über sich hinausweist, „einer bestimmten Art oder Gattung [particular Race or Species]“ zu. Die Zughörigkeit zu dieser begründet sich auf einer „gemeinsame[n] Natur [common Nature]“. Die Verwiesenheit bestimmter Wesen mit einer solchen gemeinsamen Natur verdankt sich der spezifischen identischen „Ordnung oder Verfassung [Order or Constitution]“ als gattungskonstituierende Wesensbestimmungen: Durch diese sind sie „bestimmt [provided]“, „zu ihrer Erhaltung und Förderung zusammenzuwirken [subsisting together, and co-operating towards their Conservation and Support]“105. 2. Das nächstübergeordnete System expliziert Shaftesbury am Gesamtsystem aller Gattungen von Lebewesen, das von ihm als „System der Tiere [System of Animals]“ bezeichnet wird. Innerhalb dieses Systems fungieren einzelne Gattungen als Teile dessen, was man in der modernen Biologie als Nahrungskette bezeichnet. „Und so sind auch andere Gattungen oder Arten einander dienstbar, weil sie Teile eines bestimmten Systems und in ein und derselben Ordnung der Lebewesen eingeschlossen sind. Dementsprechend gibt es ein System aller Tiere, eine Ordnung oder Ökonomie der Lebewesen, nach der alle ihre Angelegenheiten reguliert und verfügt sind [And thus are other Species or Kinds subservient to one another; as being Parts of certain System, and included in one and the same Order of Beings. So that there is a System therfore of all Animals; an Animal104 Shaftesbury, 105 Ebd.,
SE II,3, S. 51 [SE II,2, S. 44]. S. 53 [SE II,2, S. 48].
2. Der Universumsbegriff als Basis der Ethik und Religionsphilosophie
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Order or Oeconomy, according to which the Animal Affairs are regulated and dispos’d].“106 Damit wird deutlich, dass der Begriff der Ordnung nicht nur für die Bezeichnung der Konstitution eines bestimmten Wesens, sondern dass er auch als Beschreibungskategorie je übergeordneter Systeme fungiert. Während Shaftesbury im Zusammenhang der Gattungsordnung den engl. Begriff provide für die Verwiesenheitsstruktur auf je andere Gattungsmitglieder in Anspruch nimmt, verwendet er hier die Begriff fit und determine: „Der achtlose Flug, die schwache Konstitution und der zarte Körper dieses Insekts machen es geeignet und determinieren es genauso zum Beutetier, wie der robuste Bau, die Wachsamkeit und Arglist der anderen sie zum Fangen und Umgarnen geeignet macht [The heedless Flight, weak Frame and tender Body of this latter Insect, fits and determines him as much a Prey, as the rough Make, Watchfulness and Cunnig of the former, fits him for Capture, and the ensnaring part].“107 Auch wenn Shaftesbury die providentielle bzw. determinatorische Struktur nur anhand dieser beiden Systemstufen expliziert, kann davon ausgegangen werden, dass sie ein allgemeines Aufbauprinzip seines stufig aufgebauten Universumsystems darstellt. 3. Dieses System der Lebewesen bildet gemeinsam mit dem System der Pflanzen und demjenigen aller anderer Dinge das „System eines Globus oder einer Erde [System of a Globe or Earth]“108. 4. Insofern die Erde als Einzelplanet in Relation bspw. zur Sonne, Milchstraße bzw. anderen Planeten steht, konstituiert sie sich auch nur als Teil eines übergeordneten Systems, welches Shafesbury bestimmt als „System aller Dinge [System of all Things]“, „universale Natur [Universal Nature]“, „allgemeines System des Universums [general one [scil. System] of the Universe]“ bzw. einfach als „allgemeines System [general System]“109. Shaftesbury ist sich darüber im Klaren, dass es sich mit seiner systemtheoretischen Rekonstruktion des Weltganzen nicht um eine schlichte Naturbeobachtung, sondern um eine Reflexionshinsicht von Einzeldingen unter der spezifischen Perspektive einer Teil-Ganze-Relation handelt: „Hier nun liegt für uns die Hauptsache, auf die es ankommt: daß weder der Mensch noch irgendein anderes Lebewesen, wäre es auch ein noch so vollständiges System von Teilen in sich selbst, für gleichermaßen vollständig gelten kann nach außen, sondern vielmehr betrachtet werden muß in einer weiter ausgreifenden Beziehung zum System seiner Gattung. Genauso dann ebendieses System seiner Gattung zum System der Lebewesen, dieses zur Welt (unserer Erde) und diese wiederum zur größeren Welt und zum Weltganzen [Here then is our main Subject, insistend on: That neither Man, nor any other Animal, tho ever so compleat a System 106 Ebd.,
S. 54 [SE II,2, S. 50]. S. 53 [SE II,2, S. 50]. 108 Ebd., S. 54 [SE II,2, S. 50]. 109 Ebd. 107 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
of Parts, as to all within, can be allow’d in the same manner compleat, as to all without; but must be consider’d as having a further relation abroad to the System of his Kind. So even this System of his Kind to the Animal-System; this to the World (or Earth) and this again to the bigger World, and to the Universe].“110 Mit der Verwiesenheitsstruktur aller Dinge ist nicht nur das Universum auf ein basales Aufbaumoment zurückgeführt, sondern auch ein Anknüpfungspunkt für Shaftesburys Moralkonzept exponiert.
2.2 Der systemlogische Begriff des Guten und Bösen Den unmittelbaren Zweck von Shaftesburys universums‑ bzw. systemtheoretischen Überlegungen stellt innerhalb seiner „Inquiry“ die Exposition einer Theorie des Guten dar, die in ihrer allgemeinen Hinsicht zunächst von jeglicher moralphilosophischen Theorie ethischer Gutheit bzw. Tugend abstrahiert. Shaftesbury unterscheidet zwischen zwei Hinsichten von Gutheit. Die erste betrachtet jede Entität als isoliertes Mikrosystem, „ohne irgendeinen realen Bezug auf irgend etwas im Universum [without any real realtion to any thing in the Universe]“111, während die zweite Betrachtungshinsicht eine jede Entität als Teil bzw. Subsystem eines übergeordneten Systems in Erwägung zieht. Die erste bestimmt er als eine solche Gutheit, die auf die Entität selbst und damit auf die interne außenrelationslose Grundstruktur alles Seins als Mikrosystem bezogen ist. Shaftesbury veranschaulicht diese ontologische Grundstruktur anhand der Vorstellung eines solitären Geschöpfes.112 Ein solches System verfügt über eine Zielbestimmung, die nicht über es hinausweist, sondern ihm selbst innewohnt und als Interesse bzw. als Gutes von Shaftesbury benannt wird: „Da also in jeder Kreatur ein gewisses Interesse oder Gutes immanent ist, muß es auch ein bestimmtes Endziel geben, auf das sich jedes Ding in seiner Verfassung von Natur aus bezieht [These being therefore in every Creature a certain Interest or Good; these must be also a certain End, to which every thing in his Constitution must naturally refer].“113 Schon auf dieser Abstraktionsebene lässt sich der Begriff von Gutheit als systemlogischer Begriff definieren. Diese Dimension ergibt sich aus dem Unterordnungsverhältnis aller Strukturelemente einer Entität unter das Telos des Wesens; jedes Wesen muss sich in einer bestimmten „Verfassung [constitution]“114 befinden, die Shaftesbury für den Fall ihrer zweckmäßigen resp. guten Verfassung auch als Ordnung (engl. order) bezeichnet: Das interne Telos wird nur unter derjenigen Geordnetheit der Ding-Elemente erreicht, wenn diese sich in einem zielentsprechenden Ordnungsverhältnis befinden. Gutheit 110 Ebd.,
S. 235 [SE II,2, S. 166]. S. 53 [SE II,2, S. 48]. 112 Vgl. ebd., S. 52 [SE II,2, S. 46]. 113 Ebd., S. 51 [SE, II,2, S. 44]. 114 U.a. ebd., S. 51, 53 [II,2, S. 44, 48]. 111 Ebd.,
2. Der Universumsbegriff als Basis der Ethik und Religionsphilosophie
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bedeutet mithin systemisch-teleologische Wohlgeordnetheit. Eine Entität kann also auf ihre Zweckgemäßheit hinsichtlich des immanenten Zieles überprüft und auch bewertet werden: Sowohl der Gesamtzustand kann als richtig oder falsch, als auch einzelne Teileinheiten des Systems als gut bzw. böse beurteilt werden.115 Die axiologische Wertungsbetroffenheit der ontologischen Grundstruktur ergibt sich allererst zum einen aus der Möglichkeit der Kontrafaktizität einer natürlichen Sollbestimmung und zum anderen aus der ‚Störanfälligkeit‘ dieses teleologischen Strebeprozesses. Jedes Lebewesen befindet sich aber darüber hinaus in einem Verweisungszusammenhang zu seiner Gattung und zu jeweils übergeordneten Systemen, wie bereits dargelegt wurde. Innerhalb dieses universalen Referenzrahmens ist jedes Wesen und jedes übergeordnete System als Teil eines je allgemeineren Systems als gut bzw. böse qualifizierbar. Shaftesbury exemplifiziert dies anhand eines Gattungssystems von Lebewesen in Bezug auf das übergeordnete System der Lebewesen überhaupt und anhand eines einzelnen Lebewesens in Bezug auf seine Gattung: „Aber wenn es in der Welt eine ganze Gattung von Lebewesen gibt, die zerstörerisch für alle anderen ist, dann kann man sie mit Recht eine böse Gattung nennen, weil sie böse mit Bezug auf das System der Lebewesen ist. Und wenn in irgendeiner Gattung von Lebewesen (wie zum Beispiel bei dem Menschen) ein Wesen von Natur aus verderblich für alle anderen ist, dann wird es insoweit mit Recht ein böses Wesen genannt [But were there in the World any intire Species of Animals destructive to all the other Species, it might be justly call’d perhaps an ill Species; as being ill in the Animal-System. And if in any Species of Animals (as in Men, for example) one Man is of a Nature pernicious to the rest, he is in this respect justly stil’d an ill Man].“116 In der Randanmerkung zu diesem Abschnitt charakterisiert Shaftesbury diesen Modus von Bosheit als das „relative Böse [Relative ILL]“117 Die negative Bewertung eines Wesens hinsichtlich je übergeordneter Systeme als Relationsgröße kann also nur eine relative Bewertungsebene darstellen. Eine absolute negative Wertung kann ausschließlich bezüglich eines Wesens vorgenommen werden, wenn alle Relationsgrößen in Betracht gezogen werden, also auch das Universalsystem: „Wenn also irgendein Wesen wirklich ganz und gar böse wäre, müsste es böse in Hinsicht auf das universale System sein [Therefore if any Being be wholly and really Ill, it must be ill with respect to the Universal System].“118 Daraus ergibt sich zum einen eine Restriktion hinsichtlich der Möglichkeit eines absolut Bösen, da der Bezugsrahmen des Universums den weitest möglichen Betrachtungshorizont darstellt; und zum anderen zieht Shaftesbury bezüglich 115 Vgl.
ebd., S. 51 [SE II,2, S. 44]. S. 55 [SE II,2, S. 52]. 117 Ebd. 118 Ebd., S. 54 [SE II,2, S. 52]. 116 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
der Bewertbarkeit des Universums die Konsequenz: dass „in diesem Falle … das System des Universums böse oder unvollkommen [and then the system of the Universe is ill, or imperfekt]“119 wäre. Mit dieser Restriktion des Begriffs des absolut Bösen durch die makrosystemische Relationierung verfolgt Shaftesbury also gleichzeitig implizit eine Einschränkung der Bedingung der Möglichkeit eines unvollkommenen Universums. Damit ist aber in der Tugenduntersuchung erst die Ebene der Bedingungen der Möglichkeiten des Begriffes eines vollkommenen bzw. unvollkommenen Universums exponiert; dies zeigt sich sprachlichsemantisch bereits an der Fülle von Konditional‑ bzw. Wenn-Dann-Konstruktionen. Die Realität der Bedingungen ist hier noch nicht argumentativ eingeholt. Dies geschieht erst in den „Moralists“ und dort im Zusammenhang einer Theorie der Anschauung des Universums, die dann einmündet in ein Religionskonzept der Naturkontemplation (vgl. IV.4.4).
2.3 Der Affektbegriff Die universumstheoretische Ganzheitsperspektive der „Moralists“ soll vorerst ausgeblendet werden zugunsten einer Frage, die überleitet zur Moralphilosophie im engeren Sinne, von der in der bisherigen Analyse noch gänzlich abstrahiert wurde: Wodurch begründet sich eigentlich nach Shaftesbury eine mögliche Differenz von natürlichem Soll-Zustand und Ist-Zustand? Shaftesbury geht auf dieses Problem nicht eigens ein, führt aber in der „Inquiry“ unvermittelt ein für seinen Tugendbegriff fundamentales Theoriesegment ein, nämlich den Begriff des Affektes (engl. affection120) samt den ihm verwandten Begriffen der Begierde (engl. appetite) und Leidenschaft (engl. passion). Affekte werden von Shaftesbury am Übergang von der System‑ zur Affekttheorie eingeführt als die spezifischen Bewegungsprinzipien „einer mit Sinnen ausgestatten Kreatur [sensible Creatures]“121, die daher auch für die (moralische) Qualität dieser Klasse von Entitäten ausschließlich namhaft gemacht werden können. Diese Klasse der sensitiven Wesen umfasst bei Shaftesbury – in aristotelischer und stoischer Tradition – sowohl die Tierwelt als auch den Menschen. Affekte können dem Zweck eines Systems eines Lebewesens oder eines Bezugssystems dieses Lebewesens entsprechen oder eben auch nicht. Damit kann die Affekttheorie als Spezifikation der allgemeinen systemtheoretischen Überlegungen und relationslogischen Begriffe von Gut und Böse bezeichnet werden. 119 Ebd.
120 Die deutsche Übersetzung der Standard Edition ist bei der Übersetzung des englischen Terminus affection m. E. zu sehr interpretativ am Werke, wenn sie ihn zwar zumeist mit dem Terminus ‚Gemütsbewegung‘, den ich für den entsprechendsten halte, wiedergibt, jedoch häufig auch mit ‚Gefühl‘, ‚Streben‘ oder ‚Neigung‘ übersetzt. Spalding ist in seiner Übersetzung von 1747 terminologisch konsequent, indem er affection mit ‚Neigung‘ übersetzt. 121 Ebd., S. 55 [SE II,2, S. 54].
2. Der Universumsbegriff als Basis der Ethik und Religionsphilosophie
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Die Affekte einer Kreatur sind gleichsam der systemische Ort der Störanfälligkeit, sowohl hinsichtlich des Systems von Lebewesen selber als auch bezüglich eines übergeordneten Bezugssystems.122 Mithin sind sie auch der Ort, an dem sich die Qualität eines Wesens in Beziehung auf sich selbst und auch in Relation auf Bezugssysteme entscheidet. Den Übergang der allgemeinen system‑ und universumstheoretischen Überlegungen bildet daher folgende methodische Schlussfolgerung: „Da man eine Kreatur also nur wegen ihrer Gemütsbewegungen für gut oder böse, natürlich oder unnatürlich erachtet, wird es unsere Aufgabe sein zu untersuchen, welche Gemütsbewegungen die gute und natürlichen und welche die bösen und unnatürlichen sind [Since it is therefore by Affection merely that a Creature is esteem’d good or ill, natural or unnatural; our business will be, to examine which are the good and natural, and which the ill and unnatural Affections].“123 Die Grunddifferenz innerhalb der natürlichen Affekte sensitiver Wesen besteht darin, dass sie sowohl über Affekte verfügen, die sich auf das „öffentliche Wohl [publick Good]“ bzw. „Wohl der Gattung [Good of the Species]“124 als auch über solche, die sich auf das „individuelle[s] Gut [private good]“, „individuelle[n] Interesse [private Interest]“ bzw. „Eigenwohl [self-good]“125 beziehen. Shaftesburys Grundthese besteht nun in einer doppelten: Es kann zum einen nicht eine dieser Affektklassen für sich als gut bzw. böse bestimmt werden, sondern Wertdifferenz und Affektdifferenz stehen quer zueinander. Shaftesbury kann von guten und bösen Affekten sowohl zum eigenen Guten als auch zum allgemeinen Guten sprechen. Zum anderen bemisst sich jedoch die Qualität auch eines Affektes zum eigenen Wohl immer an der Möglichkeit der Zusammenstimmung mit dem allgemeinen Wohl. Insofern sich ein sensitives Wesen gemäß der systemischen Universalteleologie in einem Verweisungszusammenhang befindet, so geht Shaftesbury implizit von einer höheren Valenz der Relation zur Gattung – als nächst höherem Bezugssystem – aus. Dies wird von Shaftesbury nicht explizit benannt, geht aber aus folgendem Zitat indirekt hervor: „Angenommen, es gäbe möglicherweise ein solches Streben nach dem eigenen Guten, das tatsächlich dem individuellen Interesse des Geschöpfes diente, zugleich aber mit dem allgemeinen Guten nicht verträglich wäre, dann müsste es dennoch als eine lasterhafte Gemütsbewegung eingeschätzt werden [If there can possibly be suppos’d such an Afffection towards Self-Good, as is actually conducting to the private Interest of the Creature, and at the same time inconsistent with the publick Good; this still must be esteem’d a vicious Affection].“126 Für die
122 Vgl.
ebd., S. 51 [SE II,2, S. 44]. S. 56 [SE II,2, S. 54]. 124 Ebd., S. 59 [SE II,2, S. 64]. 125 Ebd., S. 56 f. [SE II,2, S. 56 f.]. 126 Ebd., S. 56 [SE II,2, S. 56]. 123 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
privaten Affekte gilt somit, dass sie – nicht das sensitive Wesen an sich127 – nur dann als gut zu bewerten sind, wenn sie mit dem allgemeinen Guten zusammenstimmen. Dies kann den Affekt als solchen betreffen als auch dessen Maß bzw. Grad.128 (Auch für nichtselbstische Affekte gilt die Regel der Temperiertheit.129) Deutlich wird hier, dass Shaftesbury die einfache Alternative von Altruismus und Egoismus bereits auf der Ebene der affektiven Güte sensitiver Wesen unterläuft zugunsten eines Modells der Ausbalancierung. Dies exemplifiziert Shaftesbury bezüglich der Qualität von Affekten gegen das eigene Gute anhand des „Selbsterhaltungstriebes [Affection … towards Self-Preservation]“130. Fehlt diese in einem bestimmten Maße, so kann dies auch für die Gattung nachteilig sein und das Subjekt als böse bezeichnet werden. Er unterscheidet deshalb zwischen Affekten, die sich auf das Privatwohl beziehen, und Selbstsucht (engl. selfishness), die sich auf selbstische Affekte gründet, die nicht mit dem Wohl des allgemeineren Bezugssystems zusammenstimmen: „So kann also das Streben nach dem eigenen Guten eine gute oder böse Gemütsbewegung sein [Thus the Affection towards Self-Good, may be a good Affection, or an ill one].“131 Hier ist wieder der Grad bzw. die Stärke des Affektes gemeint. Aber auch Affekte gegen das allgemeine Gute differenzieren sich hinsichtlich ihrer Qualität nach ihrem Maß bzw. ihrer Stärke aus, jedoch nicht gemäß ihrer Zusammenstimmung mit den Affekten gegen das eigene Gute, sondern gemäß ihrer Qualität als Affekte gegen das Gemeinwohl. Affekte gegen das Gemeinwohl können ebenfalls über ein Übermaß verfügen und somit das allgemeine Gute verfehlen.132 Für die affekttheoretische Theorie des Guten ist zentral, dass ausschließlich die Qualität der Affekte über die Qualität des Lebewesens entscheidet. Damit ist ausgeschlossen, dass innerhalb der teleologischen Gesamtstruktur des Universums auch ein zweckorientiertes Beurteilungskonzept statthat. Das, was für das Gattungswohl gut ist, entscheidet nicht per se über die Qualität des Hand127
Diese Kautele ist bedeutsam, denn das Zitat von SE II,3 S. 55 f. hatte besagt, daß die Natur der Kreatur nur aufgrund solcher Affekte als gut zu bewerten ist, wenn sie sich auf das Gute des allgemeineren Bezugssystemes beziehen lässt. 128 Shaftesbury spricht hier sowohl von moderaten (engl. moderate) Affekten als auch von temperierten (engl. temper’d) Affekten. Dies zu bemerken ist von Bedeutung, weil Shaftesbury für das Ganze der Affektdimension den Terminus ‚Gemütsart‘ (engl. temper) einführt. Dies verweist darauf, dass die Güte der Gemütsart in erster Linie von der „Temperatur“ der Affekte abhängt. Nicht das Telos des Affektes als solches bestimmt über die relative Qualität des Affektes, sondern seine Temperiertheit auf ein solches Maß, welches mit dem allgemeinen Guten des je übergeordneten Systems zusammenstimmen kann. 129 Vgl. Shaftesbury, SE II,3, S. 59 [SE II,2, S. 64]. – Shaftesbury macht dies deutlich an der maßvollen und unmäßigen Fürsorge, an der Liebe und am Mitleid. 130 Ebd., S. 57 [SE II,2, S. 58]. 131 Ebd., S. 57 [SE II,2, S. 58]. 132 Vgl. ebd., S. 59 [SE II,2, S. 64].
2. Der Universumsbegriff als Basis der Ethik und Religionsphilosophie
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lungssubjektes, sondern nur die Affekte, die einer Handlung zugrund liegen, können als Bewertungsparamter in Anschlag gebracht werden: „Bei einer mit Sinnen ausgestatteten Kreatur konstituiert also das, was nicht aus einer Gemütsbewegung heraus getan wird, weder etwas Gutes noch etwas Böses in der Natur dieser Kreatur, die nur dann als gut gilt, wenn das Gute oder Böse des Systems, zu dem sie in Beziehung steht, das unmittelbare Objekt einer Leidenschaft oder eines Gefühls ist, das sie bewegt [So that in an sensible Cerature, That which is not done thro any Affection at all, makes neither Good nor Ill in the nature of that Creature; who then only is suppos’d Good, when the Good or Ill of the System to which he has relation, is the immediate Object of some Passion or Affection moving him].“133 Damit unterscheidet Shaftesbury zunächst zwischen der systemischen Gutheit, die unabhängig von der Affektebene von einem Subjekt auf ein Bezugssystem ausgehen kann, von der Qualität ‚in der Natur dieser Kreatur‘. Diese Unterscheidung begründet er auf die Differenz von Handlungsebene und Affekt‑ bzw. Motivationsebene, welch letztere nur für die Qualität des Handlungssubjektes namhaft gemacht werden kann: „Mag der Betreffende im besonderen Fall auch noch so gut handeln, wenn es im Grunde dieses selbstsüchtige Streben allein ist, das ihn bewegt, ist er in sich dennoch lasterhaft. Und man kann auch kein Geschöpf anders einschätzen, wenn das leidenschaftliche Streben nach Eigenwohl, mag es auch noch so gemäßigt sein, das wirkliche Motiv bei den Handlungen ist, zu denen eine natürliche Zuneigung zu seiner Art es von Rechts wegen hätte veranlassen müssen [Let him, in any particular, act ever so well; if at the bottom, it be that selfish Affection alone which moves him; he is in himself still vicious. Nor can any Creature be consider’d otherwise, when the Passion towards Self-Good, tho ever so moderate, is his real Motive in the doing that, to which a natural Affection for his Kind ought by right to have inclin’d him].“134 Dafür, dass sich ein Subjekt affektiv bzw. motivational direkt auf das Gute der Gattung bezieht, macht Shaftesbury nicht die Affekte selbst verantwortlich, sondern diese müssen vielmehr noch einmal ihrerseits auf eine grundsätzliche Affektdisposition zurückgeführt werden. Diese bezeichnet Shaftesbury als Gemütsart (engl. temper), wie bereits angedeutet wurde. Insofern sie darüber entscheidet, ob sich die Affekte direkt oder nur indirekt auf das Gute (der Gattung) richten, steht sie auch für die Qualität des Lebewesens: „Nichts ist deshalb im eigentlichen Sinne Gutsein oder Bosheit in einer Kreatur als das, was aus ihrer natürlichen Gemütsverfassung kommt [Nothing therefor being properly either Goodness or Illness in a Creature, but what is from natural Temper].“135 In einer guten bzw. natürlichen Gemütsart befinden sich die auf das eigene Gut 133 Ebd.,
S. 55 f. [SE II,2, S. 54]. S. 58 [SE II,2, 58/60]. 135 Ebd., S. 59 [SE II,2, S. 62]. 134 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
und das Gattungswohl bezogenen Affekte in einer ausbalancierten Proportion, „wenn, … im allgemeinen alle Gemütsbewegungen oder Leidenschaften auf das öffentliche Wohl oder das Wohl der Gattung hingeordnet sind [When in general, all Affections or Passions are suted to the publick Good, or Good of the Species …; then is the natural Temper intirely good]“136. Dass mit dem Begriff der Gemütsart nicht so sehr die Gesamtheit der Affektlagen gemeint ist, sondern vielmehr die Grundrichtung und ‑Disposition der Affekte, wird in der Bestimmung der Gemütsart als Hang der Affekte („Bent of [his] Affections“137) deutlich. Diese allgemeine affekttheoretische und systemtheoretische Theorie von Gutheit sensitiver Wesen – „was man bloßes Gutsein nennt [what is esteem’d mere Goodness]“138 – dient nun als Grundlage der Ethik bzw. Tugendtheorie, mit welcher der engere Bereich moralischer Qualifizierung allererst eingeholt wird und der wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden. Es kann im Rahmen dieser Arbeit nicht die affekttheoretische Tradition rekonstruiert werden, in der Shaftesbury hier der Sache nach steht. Die Dissertation von Angelica Baum hat hier einige Überlegungen angestellt, die v. a. diverse antike Affektlehren und den Cambridger Platonismus veranschlagen, aber über die Feststellung einer inhaltlichen Nähe nicht hinauskommen.139
3. Shaftesburys Moralphilosophie 3.1 Tugend und moralische Empfindung in der „Inquiry“ „Aber wir wollen fortschreiten von dem, was man bloßes Gutsein nennt und was in der Reichweite und dem Vermögen aller mit Sinnen ausgestatteten Geschöpfe liegt, zu dem, was man Tugend oder Verdienst nennt und was nur dem Menschen möglich ist [But to proceed from what is esteem’d mere Goodness, and lies within the reach and capacity of all sensible Creatures, to that which is
136 Ebd.,
S. 59 [SE II,2, S. 64]. SE II,2, S. 62. – Bemerkenswert ist, dass die Standard Edition diese Phrase vollkommen unübersetzt lässt (vgl. SE II,3, S. 59). 138 Ebd., S. 60 [SE II,2, S. 66]. 139 Vgl. Baum, Selbstgefühl, S. 91–155. – In dieser Hinsicht aufschlussreich dürfte Shaftesburys Erstlingsschrift sein. Diese stellt die Vorrede zu 12 Predigten des von Shaftesbury hochgeschätzen Predigers Dr. Benjamin Whichcote (1609–1683) dar, die er 1698 unter dem Titel „Select Sermons of Dr. Whichcot[e]“ herausgab. Shaftesbury skizziert in seinem zwölfseitigen „Preface“ im Modus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Anthropologie und Affektenlehre Thomas Hobbes’ (1588–1679) und positiven Bezugnahmen auf Whichcotes anthropologischen und moralphilosophischen Grundannahmen in dessen Predigten sein eigenes Konzept in nuce, in dem bereits der Grundansatz seiner Tugendlehre und seiner Verhältnisbestimmung von Moralität und Religion zu greifen ist (vgl. Whichcote, Select Sermons [Shaftesburys Vorrede].) 137 Ebd.,
3. Shaftesburys Moralphilosophie
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call’d Virtue or Merit, and is allow’d to Man only].“140 Mit diesem Satz leitet Shaftesbury von der Theorie allgemeinen Gutseins, die alle sensiblen Entitäten – also auch den Menschen – einschließt, zu dem über, was er im engeren Sinne als Tugend bezeichnet. Mit dieser ist allererst dassjenige im Blick, was das spezifische Gute am Orte des Menschen ausmacht. „Tugend oder Verdienst [Virtue or Merit]“141 seien diejenigen moralischen Prädikate, welche keiner nichtsensiblen Entität und keinem Tier, sondern allein dem Menschen als vernunftbegabtem Wesen zukommen. Für Shaftesburys Tugendtheorie hat der Begriff des reflektierten Sinnes eine Schlüsselfunktion. Der reflektierte Sinn bzw. innere Sinn stellt die Disposition von Tugend dar und wird von Shaftesbury im dritten Abschnitt von I,II eingeführt: „Bei einem Geschöpf, das imstande ist, sich allgemeine Begriffe von den Dingen zu bilden, sind nicht nur die äußeren Dinge, die sich den Sinnen darbieten, Gegenstände der Gemütsbewegung, sondern auch die Handlungen selbst und die Gemütsbewegungen des Mitleids, der Sorge für die eigene Art, der Dankbarkeit, sowie die jeweils entgegengesetzten Gefühle, indem sie durch Reflexion in das Bewusstsein eingebracht und dadurch zu Gegenständen werden. So daß mittels dieses nach innen gewandten Sinnes eine andere Art von Gemütsbewegungen entsteht, die sich auf eben jene Gemütsbewegungen richtet, die schon empfunden wurden und nun zum Gegenstand einer neuen Zuneigung oder Abneigung geworden sind. [In a Creature capable of forming general Notions of Things, not only the outward Beings which offer themselves to the Sense, are the Objects of Affections; but the very Actions themselves, and the Affections of Pity, Kindness, Gratitude, and their Contrarys, being brought into the Mind by Reflection, become Objects. So that, by means of this reflected Sense, there arises another kind of Affection towards those very Affections themselves, which have been already felt, and are now become the Subject of a new Liking or Dislike].“142 Zunächst ist festzuhalten, dass Shaftesbury nicht unmittelbar vom Menschen spricht, sondern vorerst allgemeiner von begriffsfähigen Wesen. Damit ist zweierlei angedeutet: Zum einen erhebt seine Theorie der Tugend den Anspruch eines größeren Allgemeinheitsgrades als nur einer fürs Humanum zutreffenden Moraltheorie: Prinzipiell schließt sein Tugendbegriff alle wirklichen und möglichen begriffsfähigen Wesen ein. Zum anderen verankert Shaftesbury die Tugend in Hinsicht nun auf den Menschen in einer bestimmten mentalen Disposition: Nur insofern dieses Wesensmerkmal auf den Menschen zutrifft, kann er auch unter die Klasse der tugendfähigen Wesen verrechnet werden. Der Grund, warum Shaftesbury den Tugendbegriff in dieser Weise einführt, hat nicht nur moraltheoretische Gründe, sondern auch rhetorische: Der Leser wird auf diese 140 Shaftesbury, 141 Vgl.
ebd. 142 Ebd.
SE II,3, S. 60 [SE II,2, S. 66].
302
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Weise nicht mit einem bestimmten impliziten Begriff des Menschen vereinnahmt, sondern gleichsam dazu angehalten, kraft seiner eigenen Urteilskraft die Spezies Mensch unter die Klasse der tugendfähigen Wesen zu subsumieren. In einem ersten Schritt stellt Shaftesbury fest, dass sich auch ein begriffsfähiges Wesen wie alle anderen sensiblen Entitäten auf äußere Gegenstände affektiv bezieht. Jedoch kann sich ein in Allgemeinbegriffen verstehendes Wesen darüber hinaus reflexiv auf diese affektiven Bezugnahmen jeweils noch einmal zurückbeziehen und diese wiederum zum Gegenstand von Affekten machen. Insofern sich die basalen Affekte in Handlungen niederschlagen und widerspiegeln, können nicht nur die Affekte, sondern auch die diesen entsprechenden Handlungen Gegenstand der reflexiven Affekte zweiter Ordnung darstellen. Im Folgenden werden deshalb die einfachen Affekte als Primäraffekte und die sich auf die Primäraffekte beziehenden Affekte als Sekundär- bzw. Metaaffekte bezeichnet. Die Bedingung der Möglichkeit der Affekte des reflektierenden Sinnes erblickt Shaftesbury im Vermögen allgemeiner Begriffe. Sieht man vorerst davon ab, dass an dieser Stelle nicht deutlich wird, was der Moralphilosoph unter dieser Fähigkeit des näheren versteht, so kann doch formal so viel gesagt werden: Vermittelst dieses Vermögens ist der Mensch in der Lage, primäre Affekte zum Gegenstand wiederum einer Gemütsbewegung bzw. Affektes anderer resp. höherer Art zu machen. Es ist im Zitat nicht deutlich, ob Shaftesbury mit den Affekten erster Ordnung diejenigen je anderer Subjekte, die je eigenen Affekte oder beide anspricht. Ein Indiz dafür, dass es sich mit dem gesamten dargestellten stufigen Affektions-Prozess zunächst um einen subjektiven Akt handelt, besteht darin, dass die Primär-Affekte als bereits empfundene vorgestellt werden, was sinnvollerweise nur vom je einen Subjekt der Sekundär-Affekte ausgesagt werden kann. Erst in dieser Lesart wird auch Shaftesburys Rekonstruktion der Sekundär-Affekte als eines Reflexionsaktes vermittelst eines ‚nach innen gewandten Sinnes‘ nachvollziehbar. Insofern die Struktur von Gegenstand und Affekt vorliegt, die grundsätzlich von den Sinnen vermittelt ist, kann Shaftesbury auch analog zu den äußeren Sinnen von einem Sinn sprechen, der jedoch intentional reflexiv strukturiert ist. Damit ist deutlich, dass er beide Affektklassen auf ihnen zugrunde liegende Sinne zurückführt: Die äußeren Gegenstände inkl. Lebewesen bzw. Personen stellen Bezugsgrößen der äußeren Sinne dar, während sich die aus ihnen resultierenden Primäraffekte und Handlungen als Gegenstände des reflektierten Sinnes darstellen können. Shaftesburys Konzeption der Metaffekte verfügt also zunächst hinsichtlich der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit dieser moralischen Affekte über eine sinn-theoretische Dimension. Damit aber nicht genug. Wie bereits angedeutet, führt Shaftesbury den Sachverhalt, dass der Mensch als das einzige reale tugendfähige Wesen gilt, auf ein anderes Vermögen zurück, nämlich allgemeine Begriffe bilden zu können. Damit ist die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Rationalitäts‑ und Gefühls-
3. Shaftesburys Moralphilosophie
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dimension angesprochen. Shaftesbury scheint bereits mit dem Begriff der „reflektierten Gemütsbewegung [Reflex Affection]“143 zwischen einer rationalen und affektiven Dimension der Genese von Tugendhaftigkeit zwar unterscheiden zu wollen, aber beide zugleich so eng zu verkoppeln, dass die Unmittelbarkeitsstruktur der Tugend auch terminologisch zum Ausdruck kommt. Was ist nun mit dem Begriff der ‚allgemeinen Begriffe [general Notions]‘ gemeint, die durch ‚Reflexion in das Bewusstsein [into the Mind by Reflection]‘ der Primäraffekte und Handlungen mit diesen ins Verhältnis gesetzt werden?144 „Und nur dann nennen wir ein Wesen edel und tugendhaft, wenn es einen Begriff von öffentlichem Wohl bilden und eine Anschauung oder ein sicheres Wissen von dem erreichen kann, was moralisch gut und böse, bewunderns‑ oder tadelnswert, recht und unrecht ist. [And in this Case alone it is we call any Creature Worthy or Virtuos, when it can have the Notion of a publick Interest, and can attain the Speculation or Science of what is morally good or ill, admirable or blameable, right or wrong].“145 Zwischen die Primäraffekte und Handlungen auf der einen und die Sekundäraffekte auf der anderen Seite tritt als conditio sine qua non der Tugend das rationale Element des Allgemeinbegriffes. Insofern Shaftesbury den moralischen Sinn an das Vermögen der Begriffe und der Urteilskraft zurückbindet, ist Georges „Zuordnung des moralischen Sinnes zur Vernunft“146 zuzustimmen: „Vortrefflichkeit und Tugend“ hängen „vom richtigen Erkennen“147 ab. Der Begriffsinhalt wird von Shaftesbury formal als Begriff von Gut und Böse bestimmt, material als der Begriff von einem allgemeinen Wohl. Letzteres kann als Kriterium der moralischen Prädikation von Gut und Böse näher bezeichnet werden: Gut ist, was einem allgemeinen Wohl zuträglich ist; böse hingegen, was diesem allgemeinen Wohl zuwiderläuft. Damit eröffnet sich die Frage, wie die Relation zwischen Primäraffekten bzw. Handlungen, Begriff und Sekundäraffekt des näheren zu verstehen ist. Zum einen spricht Shaftesbury davon, dass sich der Sekundäraffekt auf die Primäraffekte bzw. Handlungen bezieht, zum anderen wird der Sekundäraffekt so vorgestellt, dass er sich auf den Begriff bezieht148. Dieses Changieren lässt sich nur auflösen, bezieht man Shaftesburys Darstellungsebene der Analogie dieser Struktur mit der sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung in die Interpretation mit ein. Die beiden einschlägigen Schlüsselbegriffe stellen die der Proportion bzw. Harmonie sowie der Beurteilung dar. Bei der Wahrnehmung bieten sich dem Gesichts-Sinn basale Formen, Bewegungen, 143 Ebd.
144 Auch wenn Shaftesbury in der „Inquiry“ den Begriff der eingeborenen Ideen nicht gebraucht, so ist doch deutlich, dass sein Konzept allgemeiner und natürlicher Begriffe auf der antiken stoischen und platonischen Tradition der innatae ideae aufruht, die er ausführlicher in den „Moralists“ diskutiert. 145 Shaftesbury, SE II,3, S. 62 [SE II,2, S. 68/70]. 146 George, Naturbegriff bei Shaftesbury, S. 81. 147 Ebd., S. 65. 148 Vgl. Shaftesbury, SE II,3, S. 62 [SE II,2, S. 70].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Farben und Proportionen dar. Diese Sinneswahrnehmungen evozieren nun in einem notwendigen und unmittelbar folgenden Akt die Empfindung von Schönheit bzw. Hässlichkeit. Die ästhetische Dimension der sinnlichen Wahrnehmung verfährt aber nicht wahllos, sondern bedarf eines ästhetischen Maßstabes, den Shaftesbury in „der Anordnung und Disposition der verschiedenen Teile [Arrangment and Disposition of their several Parts]“149 erblickt. D. h. bestimmte Anordnungen evozieren die Empfindung von Schönheit, andere von Hässlichkeit. In der reflektierenden Wahrnehmung von Primäraffekten und Handlungen nun bezieht sich das der ästhetischen Beurteilungsstruktur analoge moralische Differenzbewusstsein auf die „Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit [Regularity or Irregularity]“150. Dieser Vorgang wird – sowohl als ästhetischer wie auch als moralischer – als eine Beurteilungsstruktur erkenntnistheoretisch näher charakterisiert: „Ein Geist, der zum Betrachter oder Zuhörer gegenüber einem jeweils anderen Geist wird, kann nicht ohne Auge und Ohr sein, die ihn befähigen, Proportionen wahrzunehmen, Töne zu unterscheiden und alle Empfindungen oder Gedanken zu prüfen, die sich ihm darbieten. Seiner Beurteilung kann er nichts entgehen lassen [The Mind, which is Spectator or Auditor of other Minds, cannot be without its Eye and Ear; so as to discern Proportions, distinguish Sound, and scan each Sentiment or Thought which comes before it. It can let nothing escape its Censure].“151 Genau innerhalb dieser moralischen Beurteilungsstruktur kommt die begriffliche Dimension zum tragen. Der Begriff des allgemeinen Wohles bzw. von Gut und Böse hat hier seinen systematischen Ort, denn die Regelmäßigkeit bzw. Unregelmäßigkeit jedes Primäraffektes und jeder Handlung kann sich nur nach einer bestimmten Regel bemessen lassen, die als Kriterium dient. Als diese Regel fungiert nun der Begriff des Guten und Bösen, der sich wiederum am Kriterium des allgemeinen Wohles bemisst. Die Generierung dieses Begriffes problematisiert Shaftesbury an keiner Stelle, sondern setzt sie als humane Selbstverständlichkeit voraus. Die Beurteilung nach dem Kriterium der moralischen Bonität zeitigen beim urteilenden Subjekt zwei Konsequenzen. Zum einen entspringt der Beurteilung – wie beim sinnlich-ästhetischen Urteil auch – der Affekt des Wohlgefallens bzw. Missfallens, des Angenehmen bzw. Unangenehmen, der Bewunderung und Entzückung bzw. Verabscheuung und Verachtung. Damit erweist sich der Sekundäraffekt als eine der moralischen Beurteilung nachgängige emotive Bezugnahme auf die als gut bzw. böse beurteilten Primäraffekte bzw. Handlungen. Genauso wie die Primäraffekte verfügen also auch die Sekundäraffekte über eine polare lusttheoretische Bestimmtheit: entweder evozieren sie ein Wohlgefallen oder ein Missfallen. 149 Ebd.,
S. 60 [SE II,2, S. 66]. S. 61 [SE II,2, S. 66]. 151 Ebd., S. 61 [SE II,2, S. 66/68]. 150 Ebd.,
3. Shaftesburys Moralphilosophie
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Auch wenn Shaftesbury diese komplexe Struktur als Re-Flexion und damit als subjektiven Akt darstellt – wie bereits gezeigt –, so wird doch aus dem Kontext deutlich, dass durchaus auch Primäraffekte/Handlungen je anderer Menschen zum Gegenstand dieser sekundären Gemütsbewegung werden können: Ein Wesen ist „edelmütig, freundlich, beständig, mitfühlend“, wenn es „reflektieren kann, was es tut oder andere tun sieht [Hvhb; G. R.], um so zu lernen, was edel und ehrenhaft ist [generous, kind, constant, compassionate … if he … reflect on what he himself does, or sees others do, so as to take notice of what is worthy or honest]“152. Zur anderen Konsequenz: „Indem so die verschiedenen Bewegungen, Neigungen, Leidenschaften, Veranlagungen und die aus ihnen resultierenden Haltung und Verhaltensweise der Geschöpfe in den verschiedenartigen Bereichen des Lebens sich dem Geist in verschiedenen Ansichten oder Perspektiven darbieten und dieser sofort das Gute und das Böse im Hinblick auf die Gattung unterscheidet, ergibt sich eine neue Prüfung oder Aufgabe für das Herz, nämlich sich entweder in tugendhafter und gesunder Weise dem zuzuneigen, was recht und gerecht und von dem wegzustreben, was das Gegenteil ist, oder aber auf verderbte Weise anzustreben, was böse und zu verabscheuen, was edel und gut ist. [Thus the several Motions, Inclinations, Passions, Dispositions, and consequent Carriage and Behaviour of Creatures in the various Parts of Life, being in several Views or Perspectives represented to the Mind, which readily discern the Good and Ill towards the Species or Publick; there arises a new Trial or Exercise of the Heart: which must either rightly and soundly affect what is just and right, and disaffect what is contrary; or, corruptly affect what is ill, and disaffect what is worthy an good].“153 Zunächst bestimmt Shaftesbury die moralische Beurteilung des über den Begriff eines Besten der Gattung als Kriterium verfügenden Subjektes als eine unmittelbare, sich gleichsam selbst einstellende Urteilsstruktur (‚sofort das Gute und Böse … unterscheidet [readily discern Good and Ill‘]). Es bedarf also trotz des rationalen Momentes und der komplexen Urteilsstruktur keines gesonderten Nachdenkens. Vielmehr stellt sich das moralische Urteil wie von selbst ein. Des näheren widmet sich diese Passage demjenigen, was wir oben als Sekundäraffekt prädiziert haben. Auf die Beurteilung und das Gefühl des Wohlgefallens bzw. Missfallens folgen unmittelbar die Affektion zum positiv beurteilten und wohlgefallenden Affekt und Verhalten eines Subjektes und die Abneigung von dem je negativ beurteilten und missfallenden Relat. Nicht bereits über den Primäraffekt bspw. das Mitleides und das dementsprechende Verhalten zu verfügen qualifiziert zur Moralität, denn man kann ja auch diesem Affekt (an seiner eigenen und anderen Person) ablehnend und abgeneigt be-
152 Ebd., 153 Ebd.,
S. 62 [SE II,2, S. 70]. S. 61 f. [SE II,2, S. 68].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
gegnen. Vielmehr bemisst sich allererst an der Qualität der Sekundäraffektion die Tugendhaftigkeit eines Menschen. Neben der begrifflichen Dimension der komplexen moralischen Urteilsstruktur verfügt diese – dies wurde bereits mit dem Lustmoment angedeutet – über eine ästhetische Dimension. Die Strukturäquivalenz zwischen ästhetischer und moralischer Beurteilung besteht darin, dass sich beide auf Proportionsverhältnisse beziehen: Während sich der sinnlich-ästhetischen akustischen und visuellen Wahrnehmung Stimmigkeitsverhältnisse in den Tönen bzw. Farben, Formen und Figuren vermitteln, bezieht sich die moralische Wahrnehmung auf Übereinstimmungsrelationen zwischen den Primäraffekten und Verhaltensweisen auf der einen und dem Begriff des allgemeinen Wohles (als Kriterium von Moralität) auf der anderen Seite. Aufgrund dieser strukturellen Identität kann Shaftesbury auch Gegenstände moralischer Beurteilung als „Formen und Bilder [Forms and Images]“ bzw. als „Charaktere[n] oder Bilder[n] sittlichen Verhaltens [Characters or Pictures of Manners]“ und deren Qualität als „Schönheit und Anmut [Beauty, and Comeliness]“154 bezeichnen. Diesem Aspekt werden wir uns im folgenden Abschnitt gesondert widmen. Es deutet sich zudem innerhalb von Shaftesburys Überlegungen zur Äquivalenz des moralischen zum ästhetischen Urteil eine Habitualisierungsdimension der moralischen Urteilsstruktur an. Letztere muss sich nicht immer gleichsam alle zu beurteilenden Gemütsbewegungen, Verhaltensweisen und Handlungen zum Gegenstand nehmen, sondern greift zurück auf „Charaktere[n] und Bilder[n] sittlichen Verhaltens, die der Geist sich mit Notwendigkeit bildet und die er dann mit sich herumträgt [Characters or Pictures of Manners, which the Mind of necessity figures to it-self, and carries still about with it]“155. Die moralische Beurteilung strukturiert sich also nicht primär als die Übereinstimmungsprüfung von Affekt, Handlung und Verhalten auf der einen und Begriff eines allgemeinen Wohles auf der andern Seite, sondern verfährt als Übereinstimmungsprüfung von Bildern. Dieser Habitualisierungstendenz auf der Seite der moralischen Beurteilungsinstanz korrespondiert ebenfalls die Herausbildung fester Haltungen und Verhaltensweisen auf Seiten des zu beurteilenden Subjektes, so dass sich das moralische Werturteil nicht etwa auf Einzelmomente einer ethischen Subjektivität bezieht, sondern den Menschen als ganzen beurteilt. Es stellt sich abschließend die Frage, wie nun innerhalb dieser komplexen Beurteilungsstruktur der im Folgenden für Shaftesbury zentrale Begriff des ‚Sinnes für Recht oder Unrecht‘ zu stehen kommt? Wenn ein vernünftiges Wesen „nicht imstande ist, diesen Begriff oder die Vorstellung von Wert und Ehrenhaftigkeit zum Gegenstand seiner Gemütsbewegung zu machen, dann kann man ihm nicht die Bezeichnung ‚tugendhaft‘ zubilligen, denn so und nur so ist er in der 154 Ebd., 155 Ebd.
S. 61 [SE II,2, S. 68].
3. Shaftesburys Moralphilosophie
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Lage, einen Sinn für Recht oder Unrecht zu besitzen, eine Empfindung oder ein Unterscheidungsvermögen für das, was aus einer gerechten, billigen und guten und was aus einer entgegengesetzten Gemütsbewegung heraus getan wird [and make this Notice or Conception of Worth and Honesty to be an Object of his Affection, he has not the Character of being virtuos: for thus, and no otherwise, he is capable of having a Sense of Right or Wrong; a Sentiment or Judgment of what is done thro just, equal, and good Affection, or the contrary].“156 Es ist Shaftesbury zunächst an dieser Stelle wiederum um die Bedeutung des Begriffes in Sachen Moralität zu tun, der wir uns bereits gewidmet haben. Darüber hinaus enthält das Zitat auch eine Antwort auf die Frage, was sich Shaftesbury unter dem ‚Sense of Right or Wrong‘ vorstellt. Dreierlei kann gesagt werden: 1. Dieser moralische Sinn stellt ein solches Vermögen dar, welches als Bedingung des Begriffsvermögens bedarf. 2. Explikativ wird der moralische Sinn als Sentiment (Empfindung / Gefühl) und als Judgment (Unterscheidungsvermögen/beurteilen) bestimmt: Der moralische Sinn empfindet, und zugleich unterscheidet bzw. beurteilt er. Zum einen drückt sich im Sentiment-Begriff die Strukturanalogie sowohl zur sinnlichen Wahrnehmung als auch zur sich unmittelbar anschließenden ästhetisch-wertenden Haltung aus, die einhergeht mit einem Gefühl der Lust bzw. Unlust. Zum anderen wird mit der Prädikation des Sense als eines Judgment die rational-begriffliche und urteilstheoretische Dimension dieser psychischen Struktur bezeichnet: Der moralische Sinn begründet sein Sentiment auf eine Beurteilung, die sich – wie oben gezeigt – am begrifflichen Kriterium des allgemeinen Besten orientiert. Damit erweist sich der Begriff des Sinnes für Recht und Unrecht als integrativer Terminus, in dem die Komplexität des vorerst als reflektierter Sinn bestimmten Sachverhaltes zum Ausdruck kommt und den Shaftesbury deshalb auch im Folgenden der „Inquiry“ vornehmlich verwendet.
3.2 Die Ästhetik der Tugend in den „Moralists“ Die „Moralists“ stellen eine Dialogfolge der Gesprächspartner Philokles und Palemon dar, welche sich u. a. mit der Natur des Menschen befassen. In dem Dialog nimmt Palemon die Position eines Misanthropen ein, wohingegen Philokles seinen freundschaftlichen Gesprächspartner von dieser negativen Haltung abzubringen bemüht ist, indem er als Skeptiker jeweils die Gegenposition vertritt und damit Palemons Argumentationen anfragt. Philokles verteidigt die Schönheit des menschlichen Geschlechtes. Eingebettet ist seine ästhetische Anthropologie in eine Klasseneinteilung von Schönheiten, die Shaftesbury seinen Philokles im 3. Abschnitt von Kapitel I entwickeln lässt. Ihren Ausgangspunkt nimmt die ästhetische Einstellung des Menschen bei den „Zügen eines schönen Gesichts“ und bei den „wohlgestalteten Proportionen 156 Ebd.,
S. 62 [SE II,2, S. 70].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
eines menschlichen Körpers [Lineaments of a fair Face, or the welldrawn Proportions of a human Body]“157. Von da geht sie über zur Betrachtung des menschlichen Lebens und des menschlichen Geistes. „Sie betrachtet Gemeinschaften, Freundschaften, Beziehungen, Verpflichtungen und überlegt, aus welcher Harmonie einzelner Geister die allgemeine Harmonie sich zusammenfügt und das Gemeinwohl sich aufbaut [It views Communitys, Friendships, Relations, Dutys; and considers by what Harmony of particular Minds the general Harmony is compos’d, and Common-Weal establish’d].“158 Bereits auf dieser Ebene wird die bloß ästhetische Ebene um eine normative Dimension angereichert, denn die Sozialität stellt sowohl eine Faktizität als auch eine Forderung an das betrachtende Subjekt dar. Es sieht sich selbst aufgefordert, eine solche Gemeinschaft zu bilden und somit selbst die von ihm geschätzte Schönheit allererst zu konstituieren. Über der Schönheit einer partikularen Sozialität steht die Schönheit des Wohles der Menschheit als ganzer. Alle Kulturgüter, „alles, was das rohe Menschengeschlecht zivilisiert und kultiviert, die Wissenschaften und Künste, Philosophie, Moral, Tugend, der blühende Zustand der menschlichen Angelegenheiten und die Vollkommenheit der menschlichen Natur“ stellen einen höheren „Zauber der Schönheit [all that civilizes or polishes rude Mankind, the Sciences and Arts, Philosophy, Morals, Virtue; the flourishing State of human Affairs, and the Perfection of human Nature […] Charm of Beauty]“159 dar und beanspruchen daher auch als höheres Ziel des Menschen Geltung. Da die Menschheit aber nur einen Teil der Welt darstellt, übersteigt die Seele auch diese Klasse von Ordnungen und Vollkommenheiten und nimmt „das glückliche Gedeihen des Ganzen [Interest and Prosperity of the Whole]“160, „die Schönheit der Welt [the Worlds Beauty]“161 ins Visier. Die Suche der Ordnung und Vollkommenheit des Universums führt die aufstrebende Seele schließlich zur „Hoffnung, eine gerechte und weise Regierung zu finden [hoping still to find a just and wise Administration]“162. Dieser Regierung muss ein allumfassender Geist, eine höchste Intelligenz und sorgende Vorsehung zugrunde liegen, die ihrerseits die „höchste Schönheit [supreme Beauty]“163 darstellt. Während wir auf die religiöse Dimension erst im nächsten Kapitel (vgl. V.8.1) zu sprechen kommen, geht es uns hier vornehmlich um die Schönheit der Tugend. Die Vollkommenheit des Universums und auch die Annahme eines Urschönen bzw. höchsten Geistes findet ihre einzige Störquelle in der mangelnden Tugend des Menschen. Es kommt also ganz darauf an, dass die Motivationsstrukturen 157 Ebd.,
S. 184 [SE II,1, S. 62]. S. 185 [SE II,1, S. 62]. 159 Ebd., S. 185 [SE II,1, S. 62/64]. 160 Ebd., S. 185 [SE II,1, S. 64]. 161 Ebd., S. 186 [SE II,1, S. 66]. 162 Ebd., S. 185 [SE II,1, S. 64]. 163 Ebd., S. 186 [SE II,1, S. 64]. 158 Ebd.,
3. Shaftesburys Moralphilosophie
309
namhaft gemacht werden können, die den Menschen dazu anhalten, Laster abzubauen und tugendhaft zu werden. Wenn dies nicht möglich ist, d. h. wenn der Mensch nicht davon überzeugt werden kann, dass in der Tugend allein das Glück liegt, dann kann nicht mehr von einer Vollkommenheit des Universums gesprochen werden: „Wenn aber nun die Tugend selbst ohne Mittel da steht und das Laster gedeihlicher und daher die bessere Wahl ist, wenn dies (wie Sie annehmen) in der Natur der Dinge liegt, dann ist alle Ordnung in Wirklichkeit verkehrt und die höchste Weisheit dahin, weil auf diese Weise Unvollkommenheit und Unregelmäßigkeit in der moralischen Welt ohne Zweifel nur zu offenkundig wären [But if even Virtue it self be unprovided for, and Vice more prosperous be the better Choice; if this (as you suppose) be in the Nature of Thinks, then is all Order in reality inverted, and Supreme Wisdom lost: Imperfection and Irregularity being, after this manner, undoubtedly too apparent in the Moral World].“164 Damit liegt auf dem Nachweis der Ordnung der moralischen Welt im moralphilosophischen Gesamtkonzept Shaftesburys höchstes Gewicht, die in der Koinzidenz von Tugend und Schönheit gipfelt. Shaftesbury erweist sich somit als Tradent des antiken Ideals der Kalokagathie bzw. des Schön-Guten, „daß Schönheit, sagte ich (scil. Philokles; G. R.), und das Gute für Sie, Theokles, wie ich merke, immer noch ein und dasselbe sind [that Beauty, said I, and Good, with you, Theocles, I Perceive are still one and the same]“165. Nicht zuletzt auf die Shaftesburyrezeption in Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert geht auch die Vermittlung des Kalokagathie-Ideals an die Moralphilosophie der Aufklärung zurück.166 Wir werden zeigen, dass auch der Aufklärungstheologe Spalding der ästhetischen Dimension der Tugend einen hohen Stellenwert einräumt (vgl. V.5). Die Ästhetisierung der Tugend ist jedoch für Shaftesbury kein Selbstzweck, sondern dient unmittelbar der Begründung des moralischen Glücks, auf der mittelbar die Begründung der Verbindlichkeit und der Suisuffizienz der Tugend aufruht. Denn als Scharnier für die Verhältnisbestimmung fungiert die lusttheoretische Dimension, die sich aus der Ästhetik der Tugend begründet und als Bedingung der Glückseligkeit zur Geltung gebracht werden muss. Auch wenn Shaftesbury die Koinzidenz von Tugendhaftigkeit und Lust bzw. Vergnügen auch in den „Moralists“ thematisiert167, so widmet er sich doch diesem Gedankenkomplex in systematischer Weise in der „Inquiry“, der wir uns in dieser Frage daher nun wieder zuwenden.
164 Ebd.,
S. 238 f. [SE II,1, S. 174]. S. 309 [SE II,1, S. 324]. 166 Vgl. Lotter, Moralisch-Schöne, S. 253. 167 Vgl. v. a. Shaftesbury, SE II,3, S. 192–207 [SE II,1, S. 76–108]. 165 Ebd.,
310
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
3.3 Die Lust und das Glück der Tugend in der „Inquiry“ Das gesamte 2. Buch der „Inquiry“ widmet sich der Koinzidenz von Tugend und Glückseligkeit, die bereits am Rande im Kontext der Analyse des „Soliloquy“ in (vgl. IV.1.2) thematisch wurde. Shaftesbury stellt diese Relation unter die allgemeinere Frage nach der „Verpflichtung gegenüber der Tugend [Obligation there is to Virtue]“168. Es geht ihm also nun nicht mehr um die Begründung dessen, was unter Tugend zu verstehen ist, sondern vielmehr um deren Aneignung und Motivation. Das zentrale Motiv für Shaftesburys Beweisführung liegt ex negativo darin, dass die Tugend und das Glück zunächst zwei gegenteilige Ziele zu verfolgen scheinen. Die Tugend habe das Wohl des je übergeordneten Systems, „das der Gesellschaft und Allgemeinheit [but of Society and the Publick]“169 zu verfolgen, während das Glück das eigene Wohl im Blick habe. Die Tugend scheint also prima facie der Sorge um die „individuelle Natur oder das Eigensystem [private Natur, or Self-System]“170 und damit dem subjektiven Glück zu widersprechen: Da „es sicherlich im Wesen jener auf das Öffentliche zielenden Gemütsbewegungen liegt, daß sie oft zu den größten Entbehrungen und Risiken jeglicher Art führen, so wird sofort daraus geschlossen, daß es im Interesse eines jeden Geschöpfes liege, ohne jedes Gefühl für das öffentliche Wohl zu sein [it being certainly the Nature of those publick Affections to lead often to the geratest Hardships and Hazards of every kind; ’tis presently infer’d, That ’tis the Creature’s Interest to be without any publick Affection wathsoever]“171. Diese Sichtweise hätte zur Folge, dass das „Interesse der individuellen dem der gemeinsamen Natur direkt entgegengesetzt sei [Interest of Particulars directly opposite to that of the Publick in general]“172. Das Ziel Shaftesburys besteht nun darin, den Gegenbeweis anzutreten und nicht nur die Übereinstimmung, sondern sogar die Korrespondenz zwischen dem tugendhaften Streben nach dem Gemeinwohl und dem Glück als Inbegriff des Eigenwohls zu erweisen: Seine These lautet also: „[D]a ein rationales Geschöpf nur vermöge der in ihm fest gegründeten natürlichen Neigungen eine stetige Reihe oder Abfolge geistiger Genüsse erlangen kann, wird es nur durch diese sicheres und beständiges Glück erlangen [that the natural Affections duly establish’d in a rational Creature, being the only Means that can procure him a constant Series or Successions of the mental Enjoyments, they are the only means which can procure him a certain and solid Happineß]“173. Dies ist zu erweisen. 168 Ebd., 169 Ebd.
170 Ebd.,
S. 95 [SE II,2, S. 144].
S. 96 [SE II,2, S. 146]. S. 96 f. [SE II,2, S. 146]. 172 Ebd., S. 97 [SE II,2, S. 148]. 173 Ebd., S. 112 [SE II,2, S. 186]. 171 Ebd.,
3. Shaftesburys Moralphilosophie
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Shaftesburys Konzept basiert auf zwei Grundannahmen. Die eine besteht in der Koinzidenz von Glück und Vergnügen bzw. Lust, die andere in der Unterscheidung „körperliche(r) und geistige(r) Befriedigung und Vergnügen [Satisfactions and Pleasures of the Body, or of the Mind]“174. Hinzu kommt die Zusatzannahme, dass das Glück durch geistiges Vergnügen evoziert wird und dieses eine gegenüber dem sinnlichen Vergnügen höherwertige Lust darstellt. Shaftesbury differenziert – wie bereits angedeutet – zwischen „sinnlichen Vergnügungen [sensual Pleasures]“ und „sozialen Freuden [social Enjoyment]“, welch erstere er der äußeren Verfassung, letztere der inner-seelischen Disposition zurechnet. Der Mensch kann sich im „sichersten Glückszustand und auf der höchsten Stufe äußeren Wohlergehens [secure State of Fortune, and in the highest degree of outward Prosperity]“ wissen, so kann er sich doch aufgrund seiner mangelnden Soziabilität unglücklich fühlen. Ein weiteres Indiz für seine These findet Shaftesbury in dem Phänomen, dass um der Tugend willen körperliche Unlust in Kauf genommen wird175. „Gibt man also zu, daß die geistigen Vergnügen den körperlichen überlegen sind, so folgt: was in einem vernünftigen Wesen eine stetig fließende Reihe oder Folge von inneren seelischen oder geistigen Vergnügen hervorrufen kann, trägt mehr zu seinem Glück bei als alles, was bei ihm eine ebenso stetige Kette und Folge von sinnlichen Genüssen oder körperlichen Vergnügen hervorrufen könnte [The Pleasures of the Mind being allow’d, therfore, superiour to those of the Body; it follows, ‚That whatever can create in any intelligent Being a constant flowing Series or Train of mental Enjoyments, or Pleasures of the Mind, is more consideable to his Happiness, than that which can create to him a like constant Course or Train of sensual Enjoyments, or Pleasures of the Body].“176 Damit ist für Shaftesbury erwiesen, dass für das auf sein Glück reflektierende Wesen das äußere Glück und deren sinnliche Lust über einen geringeren Geltungswert verfügt als das innere Glück und deren geistige Lust. Jedoch ist nicht gemeint, dass das Streben nach dem Gemeinwohl dem Selbstwohl prinzipiell zuwiderläuft. Vielmehr kommt es Shaftesbury darauf an zu zeigen, dass die Sorge um das äußere Wohl auf ein mit der Tugend vereinbares Maß herabgestimmt werden muss; und andersherum gilt, dass das Bemühen um das Wohl des Ganzen auf ein Maß gebracht werden muss, auf welchem es mit einer gesunden Selbstsorge bestehen kann. „Denn wenn ein Wesen sich selbst ständig vernachlässigt und kein Gefühl für drohende Gefahr hat, oder wenn ihm jener Grad von Leidenschaftlichkeit jeglicher Art in einem Maße fehlt, der zur Selbsterhaltung, ‑ernährung oder ‑verteidigung nützlich wäre, so muß dies sicherlich als lasterhaft im Hinblick auf den Plan und Endzweck der Natur gelten [For if a Creature be self-neglectful, and insensible of Danger; or if he 174 Ebd.,
S. 111 [SE II,2, S. 184]. ebd., S. 111 f. [SE II,2, S. 184]. 176 Ebd., S. 112 [SE II,2, S. 185 f.]. 175 Vgl.
312
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
want such a degree of Passion in any kind, as is useful to preserve, sustain, or defend himself; this must certainly be esteem’d vicious, in regard of the Design and End of Nature].“177 Insofern also die Selbsterhaltung auch als Bedingung der Möglichkeit der eigenen Sorge für das Gemeinwohl fungiert, so kommt ihr eine basale ethische Qualität zu, ohne dass sie bereits das Wesen der Tugend ausmachen würde. – Es kommt also darauf an, die Affekte des Selbstwohls und die des Gemeinwohls bzw. die „Ökonomie eines Einzelwesens oder einer Gattung [Oeconomy of a particular Creature, or Species]“178 in eine „Harmonie und zum Zusammenklang [Harmony and Consort]) bzw. ins „Gleichgewicht [Ballance]“179 zu bringen. Es ist nun die Aufgabe Shaftesburys, sein eigentliches moralphilosophisches Beweisziel argumentativ einzuholen, dass nämlich als Ursache des geistigen Vergnügens und damit des eigentlichen Glücks vornehmlich die Tugend zu stehen kommt. Shaftesbury unterscheidet zwischen den natürlichen sozialen Affekten an sich und deren Wirkungen als Ursachen des geistigen Vergnügens. Hinsichtlich des Vergnügens der natürlichen Neigungen an sich selbst und ihrer Überlegenheit gegenüber sinnlicher Lust verweist der Autor wieder auf die Erfahrung, er hat jedoch nicht nur die Lust an der Tugend vor Augen, sondern im Sinne des Begriffes des geistigen Vergnügens auch die „kontemplative[n] Lust [contemplative Delight]“ „in der Wissenschaft und Bildung [in Science or Learning]“180. Bemerkenswert ist nun eine von Shaftesbury im Kontext der Ausführungen zur kontemplativen Lust wie nebenbei eingeführte Unterscheidung zwischen der ursprünglichen und der „reflektierte[n] Freude oder Lust [reflected Joy or Pleasure]“181, die auch auf das Vergnügen der Tugend übertragbar ist. Während die primäre Lust auf externe Gegenstände und Sachverhalte gerichtet ist, bezieht sich die reflektierte Lust auf das Subjekt und kann insofern als „ein selbstbezogenes Gefühl oder interessiertes Wohlgefallen verstanden werden [a SelfPassion, or interested Regard]“182. Damit erweist sich die geistige Lust zum einen als eine duplizitäre Sturktur und zum anderen als ein im höheren Sinne selbstbezogenes Vergnügen und liegt also zu der grundlegenden Differenz von egoistischen und altruistischen Affekten noch einmal quer: „Derjenige, bei dem sich die natürlichen, artbezogenen und edlen Gemütsbewegungen stark und mächtig auf das öffentliche Wohl richten, besitzt auch schon das entscheidende Mittel und Vermögen zum eigenen Lebensgenuß. Und wem sie fehlen, der ist gewiß elend und unglücklich [‚That to have the Natural, Kindly, or Generous 177 Ebd.,
S. 103 [SE II,2, S. 160]. S. 105 [SE II,2, S. 164]. 179 Ebd., S. 107 f. [SE II,2, S. 170]. 180 Ebd., S. 114 [SE II,2, S. 190]. 181 Ebd. 182 Ebd. 178 Ebd.,
3. Shaftesburys Moralphilosophie
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Affections strong an powerful towards the Good of the Publick, is to have the chief Means and Power of Self-Enjoyment.‘ And, ‚That to want them, is certain Misery und Ill‘].“183 Die spekulative Freude der Wissenschaft wird jedoch noch übertroffen von der Freude an der Tugend, an der Shaftesbury gleichermaßen – wenn auch indirekt – die Doppelstruktur namhaft macht: In der Tugend „verbindet sich das beglückendste Empfinden der Seele mit der freudigen Einwilligung und Zustimmung des Geistes zu den Handlungen, die aus dieser guten Verfassung und edlen Neigung heraus vollbracht werden [where together with the most delightful Affection of the Soul, there is join’d a pleasing Assent and Approbation of the Mind to what is acted in this good Disposition and honest Bent]“184. Die ‚freudige Einstimmung‘ stellt hier wie bei der spekulativ-reflexiven Freude eine Reflexionslust dar, die sich sekundär auf die edle Neigung und die bereits in ihr empfundenen Lust bezieht. Shaftesbury ist allererst aufgrund dieses reflexiven Charakters der ethischen Lust in der Lage, diese als die Erfüllung der geistigen als einer reflexiv-spekulativen Lust zu bestimmen: „Denn was auf Erden wäre passender für die Spekulation, ein anmutigerer Anblick und Gegenstand der Betrachtung als die schöne angemessene und schickliche Tat [For where is there on Earth a fairer Matter of Speculation, a goodlier View or Contemplation, than that of a beautiful, proportion’d, and becoming Action]?“185 Der Ausdruck „Anblick und Eindruck der Tugend [Aspect or Sense of Virtue]“186 bringt nun beide Hinsichten, sowohl die reflexive wie auch die spekulativ-kontemplative Dimension, auf den Begriff. Bilden wir Shaftesburys Theorie der geistigen Lust resp. deren Doppelstruktur auf das oben (vgl. V.3.1) rekonstruierte Konzept der reflektierten Affekte ab, so ergibt sich eine genaue Entsprechung: Der Differenz von Primär‑ und reflektierter Sekundär-Neigung korrespondiert die lusttheoretische Binnendifferenz von Primärlust der sozialen Neigung als solcher und der auf sie reflektierenden Lust. Neben der Lust an den natürlichen sozialen Affekten an sich selbst, stellen deren Wirkungen eine weitere Quelle geistigen Vergnügens dar. Hier unterscheidet Shaftesbury zwei Arten: Die eine betrifft das Vergnügen an der Freude empfangener Sympathie bzw. an Nachrichten von ethischem Verhalten, die andere die soziale Achtung, die aus dem eigenen Verhalten entspringt und ihre Erfüllung in der Freundschaft findet. Beides kann hier auf sich beruhen und bedarf für den glücks‑ und lusttheoretischen Fokus unserer Analyse keiner näheren Ausführung.
183 Ebd.,
S. 109 f. [SE II,2, S. 174]. S. 115 [SE II,2, S. 190]. 185 Ebd., S. 115 [SE II,2, S. 190/192]. 186 Ebd., S. 116 [SE II,2, S. 192]. 184 Ebd.,
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
4. Shaftesburys Religionsphilosophie 4.1 Die Religionstypologie der „Inquiry“ Shaftesbury stellt in seiner „Inquiry“ eine Typologie möglicher Welt‑ und korrespondierender Gottesbegriffe an den Anfang, vermittels derer allererst die Komplexität seines Untersuchungsgegenstandes deutlich werden kann, nämlich des Verhältnisses von Moralität und Religion. Er setzt also keineswegs einen wie auch immer gearteten Religions‑ bzw. Gottesbegriff voraus, sondern entwirft zunächst ein heuristisches Tableau einer Vielzahl möglicher und auch konkurrierender religiöser Weltdeutungskonzepte. Seine Grundprämisse besteht darin, dass alle möglichen axiologischen Begriffe des Universums auf bestimmte korrelierende Verursachungsprinzipien verweisen. Hier macht er diverse Differenzierungshinsichten namhaft. Bezüglich des Universums unterscheidet Shaftesbury zwei prinzipiell mögliche Qualitäten: Es kann vollkommen oder unvollkommen verfasst sein. Der Vollkommenheitsgrad bemisst sich zum einen daran, wie gut das Universum geordnet ist, und zum anderen, was in Hinsicht auf die Systemebene ‚Universum‘ ein Gut bzw. ein Übel darstellt. Gemäß dieser Grunddifferenz von vollkommenem und unvollkommenem Universum unterscheidet Shaftesbury verschiedene Verursachungsprinzipien. Diese sind grundsätzlich entweder planmäßig-geistig verfasst oder stellen bloße Zufallsprinzipien dar. Das erstere bahnt Shaftesburys formalen Gottesbegriff an: „Was auch immer in irgendeinem Maße über der Welt steht oder über die Natur mit Unterscheidungskraft und Geist regiert, nennen die Menschen gemäß allgemeiner Übereinkunft Gott. Wenn es mehrere solcher überlegener Geistwesen gibt, spricht man von ebenso vielen Göttern. Aber wenn jener einzige Regierende oder jene mehreren Regierenden nicht ihrem Wesen nach notwendig gut sind, dann passt auf sie eher die Bezeichnung Dämonen [Whatsoever is superiour in any degree over the World, or rules in Nature with Discernment and a Mind, is what, by universal Argument, Men call God. If there are several such superiour Minds, they are so many Gods: But if that single, or those several Superiours are not in their nature necessarily good, they rather take the name of Daemon].“187 Shaftesbury unterscheidet also innerhalb seiner theistischen Konzeption nach der Quantität und Qualität auf der einen, den Begriff eines Gottes bzw. vieler Götter und eines bzw. vieler Dämonen auf der anderen Seite. Unter Anwendung dieser Differenzierung entwickelt Shaftesbury vier Religionstypen resp. Verursachungsprinzipien des Universums: Der Theismus (1.) stellt die Annahme eines guten und ewigen Geistwesens dar, welches das Universum zu seinem Besten regiert. Der Polytheismus (2.) setzt mehrere das Universum regierende Geistwesen voraus. Ob Shaftesbury mit 187 Ebd.,
S. 48 [SE II,2, S. 36].
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
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dem Begriff des Polytheismus ausschließlich nur die Vielzahl guter Geistwesen im Auge hat, ist unklar, jedoch wahrscheinlich, da er innerhalb des Dämonismus die Binnendifferenzierung von Mono-Dämonismus (3.) und Poly-Dämonismus (4.) einzeichnet. Dieser setzt ein oder mehrere Geistwesen voraus, die jedoch das Universum nicht notwendig nach dessen Besten regieren. Der Atheismus (5.) als Weltdeutungskonzept geht nicht von einem teleologisch geordneten Universum aus und setzt mithin auch kein ordnendes Prinzip bzw. Geistwesen voraus, stellt jedoch ein eigenes fünftes Erklärungsmuster dar. Diese vier bzw. fünf Verursachungsprinzipien haben den empirisch-heuristischen Status religiöser Grundtypen, die sich zwar nicht nur reiner Spekulation verdanken, aber selten in Reinkultur anzutreffen sind.188 Die religiöse Grundeinstellung bemisst sich bei Einsprengseln je anderer Konzepte an dem dominierenden Grundverständnis. Shaftesbury kann aber auch von Kombinationen dieser vier Grundtypen sprechen. In der 1699 von John Toland anonym herausgegebenen ersten Ausgabe der „Inquiry“ skizziert Shaftesbury die acht möglichen Kombinationen189, während er diese in den autorisierten Auflagen nicht mehr eigens nennt. 1. Die Kombination aus Theismus und Dämonismus setzt eine gemischte göttliche Natur voraus, die somit sowohl der Grund guter wie schlechter Dinge sein kann. 2. Die Kombination aus Dämonismus und Polytheismus, die eigentlich bereits durch die Möglichkeit einer Vielzahl von Dämonen angedeutet ist, stellt hier einen gesonderten Typus dar und wird als „Polydaemonism“190 bezeichnet. 3. Die Kombination aus Theismus und Atheismus begründet die Einstellung, dass zwar höchste Geistwesen herrschen, jedoch auch Zufälle eintreten können. 4. Die Mischung aus Dämonismus und Atheismus changiert zwischen der Annahme eines bösen Dämons und des Zufallsprinzips. 5. Die Verflochtenheit von Polytheismus und Atheismus bedeutet die Annahme mehrerer regierender Geister und des Zufalls. 6. Theismus und Polytheismus bestehen zusammen, insofern andere Geistwesen neben einem höchsten Wesen regieren. Es können auch mehr als zwei Typen zusammen bestehen: 7. Mit dem Theismus und Dämonismus auch der Polytheismus und 8. zugleich mit dem Atheismus. All diese reinen und kombinierten Typen stellen mit Ausnahme des reinen Atheismus mögliche Modi von Religion dar: „Die Religion schließt nur den vollkommenen Atheismus aus [Religion excludes only perfect Atheism]“191. Es ist in religionstheoretischer Hinsicht von Bedeutung, dass Shaftesbury in der Regel nicht den Terminus „Gott“ verwendet, sondern vielmehr apersonal von einem „planenden Prinzip [designing Principle]“ oder in geisttheoretischer Semantik von einem „Geistwesen [Mind]“192 spricht. Dies liegt daran, dass es 188 Vgl.
ebd., S. 49 [SE II,2, S. 38]. Shaftesbury, SE II,2, S. 41. 190 Ebd. 191 Shaftesbury, SE II,3, S. 50 [SE II,2, S. 40]. 192 Ebd., S. 49 [SE II,2, S. 36]. 189 Vgl.
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Shaftesbury an keiner Stelle darum geht, seine Konzeption in irgendeine Verbindung mit einer empirischen Religion resp. dem Christentum zu bringen und er daher traditionelle Terminologie vermeidet. Vielmehr ist es ihm um die Erörterung prinzipieller religiöser Grundannahmen in Hinsicht auf deren universumstheoretische Valenz zu tun. Den Gottesbegriff führt Shaftesbury lediglich als konventionelle Bezeichnung ein. Die verschiedenen Religionstypen werden nun im dritten Teil des ersten Buches darauf hin überprüft, inwieweit sie der Tugend bzw. der Untugend zuträglich oder abträglich sind, womit Shaftesbury wieder beim erklärten Beweisziel seiner Untersuchung angelangt ist. Diesem Komplex wollen wir uns nun widmen.
4.2 Das Verhältnis von Tugend und Religion in der „Inquiry“ Shaftesburys Verhältnisbestimmung von Tugend und Religion resp. Unsterblichkeit im 3. Teil des 1. Buches193 orientiert sich an der prinzipiellen Frage nach dem erhaltenden bzw. depravierenden Einfluss religiöser Vorstellungen auf die Tugend. Dabei setzt er seine zuvor entwickelte Religionstypologie voraus. Zunächst ist festzuhalten, dass es Shaftesbury nicht um eine religiöse Begründung der Moralität geht.194 Vielmehr ist es gerade sein Anliegen, die Konsequenz aus der augenscheinlichen Differenz zwischen Religion und Moralität zu ziehen, die in seinem Konzept des moralischen Sinnes ihren theoretischen Ausdruck gefunden hat: Der moralische Sinn von Gut und Böse ist suisuffizient und bedarf prinzipiell keiner religiösen und schon gar theologischen Begründung. Die theoretische Vorgängigkeit von Shaftesburys Moralkonzeption vor seinem Begriff von Religion deutete sich bereits in der Kriteriologie moralischer Maßstäbe innerhalb der Typologie möglicher Gotteskonzepte an. Jedoch ist damit noch keineswegs jedwede Relation zwischen Moralität und Religion verneint. Shaftesbury räumt der Religion eines moralischen Gottesbegriffes durchaus eine moralstabilisierende Funktion ein. In ihr geht Religion nicht auf, findet aber hierin ihre wesentliche Bestimmung. Damit kongruieren und koinzidieren Moralität und Religion nicht, sind aber funktional aufeinander verwiesen. Grundsätzlich unterscheidet er in negativer Hinsicht die Auslöschung des Sinnes für Recht und Unrecht von der Erzeugung eines falschen Sinnes für Recht und Unrecht und der Zuwiderwirkung von Gemütsbewegungen gegen den richtigen Sinn für Recht und Unrecht. Demgegenüber kann auf die Tugend positiv wirken, was sie erhält, unterstützt und nichttugendhafte Affekte unterordnet.195 193 Ebd.,
S. 69–94 [SE II,2, S. 86–142]. Panknin-Schappert, Inner Sinn und moralisches Gefühl, S. 77 ff. 195 Vgl. Shaftesbury, SE II,3, S. 69 [SE II,2, S. 86]. 194 Vgl.
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
317
Seine methodische Schlussfolgerung in Hinsicht auf die Funktion der Religion lautet demgemäß: „Wir haben also in Erwägung zu ziehen, wie sich die oben erwähnten Meinungen zum Thema Gottheit in diesen Fällen auswirken oder die drei genannten Auswirkungen verursachen [We are to consider, therefor, how any of the abovemention’d Opinions on the Subject of a Deity may influence in these Cases, or produce either of these three Effects].“196 In Bezug auf die erste Option, die Auslöschung des Sinnes für Recht und Unrecht, stellt Shaftesbury fest, dass „keine theoretische Ansicht, keine Überzeugung und kein Glaube ihn unmittelbar oder direkt aufheben oder zerstören [no speculative Opinion, Persuasion or Belief, which is capable immediately or directly to exclude or destroy]“197 können. Der Grund dafür liegt in dem Natürlichkeits‑ und Anlagecharakter des Sinns für Recht und Unrecht, der gleichsam nur durch eine „zweite Natur“ gehemmt werden könnte, jedoch nicht direkt, sondern durch „außerordentliche Mittel und durch Anwendung von Kunst und Methode. […] Und selbst dann, so müssen wir erkennen, ist die Natur kaum überwunden [extraordinary Means, and the Intervention of Art und Method. […] And even thus, Nature, we find, is hardly master’d]“198. Dies betrifft sowohl alle Formen von Theismus, Dämonismus, Atheismus und selbst die „überspannteste Glaubenslehre oder Meinung der Welt [most extravagant Belief or Opinion in the World]“199. Bezüglich des Falles, dass ein falscher Sinn für Recht und Unrecht bzw. die Umkehrung von Gut und Böse die Moralität unterminiert, sieht das Ergebnis anders aus. Dies kann „aus der Macht der Gewohnheit und einer Erziehung im Widerspruch zur Natur [from the Force of Custom and Education in opposition to Nature]“200 resultieren. Der Atheismus vermag dies im Gegensatz zu einer verkehrten Religion jedoch nicht zu leisten. Letztere kann durch die erzieherische Implementierung eines amoralischen Gottesbegriffes und gleichzeitig einer der Religion natürlichen Ehrfurcht vor Gott dazu führen, „daß etwas für gut und liebenswert genommen wird, was an sich entsetzlich und verachtenswert ist [be taken for good and amiable, which is in it-self horrid and detestable]“201. Dazu seien Shaftesburys Erläuterungen ausführlich zitiert: „Wenn es eine Religion gibt, die Verehrung und Liebe gegenüber einem Gott lehrt, dessen Wesen als heikel und voller Empfindlichkeiten dargestellt wird, zu Zanksucht und Zorn neigend, jähzornig, rachsüchtig und, wenn man ihn beleidigt hat, zur Rache an anderen fähig, die ihm gar nichts angetan haben, und wenn zum Charakterbild dieses Gottes noch eine Neigung zu betrügerischem, Täuschung und Verrat 196 Ebd., 197 Ebd., 198 Ebd. 199 Ebd.
200 Ebd., 201 Ebd.,
S. 69 [SE II,2, S. 88]. S. 72 [SE II,2, S. 92]. S. 73 [SE II,2, S. 94]. S. 74 [SE II,2, S. 96].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
unter den Menschen ermutigendem Verhalten hinzukommt, das einige wenige aus unzureichendem Grund begünstigt und grausam zu anderen Wesen ist, so ist es offensichtlich, daß, wenn eine solche Religion mit Nachdruck verkündet wird, sie notwendigerweise auch Zustimmung und Achtung gegenüber Lastern dieser Art wecken und eine entsprechende Einstellung, eine launische, parteiliche, rachsüchtige und betrügerische Gemütsart erzeugen muß [If there be a Religion that teaches the Adoration and Love of a God, whose Character it is to be captious, and of high resentment, subject to Wrath an Anger, furious, revengeful; and revenging himself, when offended, on others than those who gave the Offence: and if there be added to the Character of this God, a fraudulent Disposition, encouraging Deceit an Treachery amongst Men; favourable to a Few, tho for slight causes, and cruel to the rest: ’tis evident that such a Religion as this being strongly enforc’d, must of necessity raise even an Approbation and Respect towards the Vices of this kind, and breed a sutable Disposition, a caprious, partial, revengeful, and deceitful Temper].“202 Bemerkenswert ist hier die implizite Christentumskritik, die Shaftesbury in Form dieses Konditionalsatzgefüges vorträgt. Es fiele nicht schwer, biblische Topoi und christliche Theologumena zu benennen, auf die Shaftesbury hier indirekt anzuspielen scheint. Jedoch interessiert in diesem Kontext nicht so sehr die christentumskritische Tiefendimension, sondern vielmehr nur das allgemeinene moral‑ und religionstheoretische Strukturprinzip. Ein amoralisches Gotteskonzept schlägt sich, so Shaftesbury einfache These, in einer demgemäßen amoralischen Einstellung nieder. Sein Argument besteht darin, dass die prinzipielle natürliche Achtung und Verehrung gegenüber dem als Gott vorgestellten Wesen notwendig auch die Akzeptanz und Übernahme seines moralischen resp. amoralischen Wesens einschließt. Jedoch rechnet Shaftesbury damit, dass der je vorgängige natürliche Begriff und Sinn für Recht und Unrecht die vollständige Internalisierung eines solchen Gottesbildes und die Umkehrung der moralischen Werte von Gut und Böse konterkariert. Positiv gewendet ist der Moralität nichts förderlicher „als an einen Gott zu glauben, der sich immer und in jeder Hinsicht als ein wahres Vorbild und Beispiel der genauesten Gerechtigkeit, der höchsten Güte und Würde darstellet [than to believe a God who is ever, and an all accounts, represented such as to be actually a true Model and Example of the most exact Justice, and highest Goodness und Worth]“203. Shaftesburys Erwägungen richten sich auf die dem Gottesbewusstsein inhärente Beispiel‑ und Vorbildfunktion für die Moralität, oder anders gesagt: Der Philosoph rechnet mit einer Korrespondenz bzw. einlinigen Korrelation zwischen der moralischen Dimension des Gottesbegriffes und der Moralität des frommen Subjektes. Damit kann Shaftesbury für den zweiten Fall resümieren, dass die Religion je nach
202 Ebd., 203 Ebd.,
S. 74 f. [SE II,2, S. 98]. S. 76 [SE II,2, S. 102].
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
319
Art ihres Gotteskonzeptes „viel Gutes … oder großen Schaden [great Good, or Harm]“204 für die moralische Einstellung des Menschen bewirken kann. Bleibt noch die Analyse der dritten Möglichkeit, nämlich inwieweit amoralische Affekte dem moralischen Sinn entgegenwirken können. Seinen Überlegungen zur diesbezüglichen Funktion von Religion legt Shaftesbury eine für sein Religionskonzept weitreichende Unterscheidung zugrunde. Prinzipiell lassen sich zwei Motive namhaft machen, einem höchsten Wesen gehorsam zu sein und mit ihm übereinzustimmen: „Dies muß entweder mit Blick auf seine Macht geschehen, indem man einen Nachteil oder einen Nutzen von ihm erwartet, oder aber weil man es wegen seiner Erhabenheit und Würde für die Vollendung der eigenen Natur hält, es nachzuahmen und ihm zu gleichen [It must be either in the way of his Power, as presupposing some Disadvantage or Benefit to accrue from him; or in the way of his Excellency and Worth, as thinking it the Perfection of Nature to imitate and resemble him].“205 Das erste betrifft die Erwartung von Belohnung und Strafe als alleinigem Motiv zur Einhaltung der als göttliche Gesetze verstandenen ethischen Forderungen. Trotz dieses „guten Verhaltens [good Conduct]“ kann für Shaftesbury hier nicht von Tugend im eminenten Sinne die Rede sein, denn es ist damit noch nicht der „Wille gewonnen … noch die Neigungen umgelenkt [Will neither … nor the Inclination wrought upon]“206. Das zweite betrifft die religiöse Einstellung, die nicht im Bewusstsein der göttlichen Macht, sondern allein im Wissen um die Güte und die Würde bzw. „höchste Vortrefflichkeit des Wesens [highest Excellence of Nature]“ Gottes seinem Beispiel folgt und so das „Gefühl für Tugend [Affection towards Virtue]“207 befördert. Jedoch fungiert eine solche Gottesvorstellung nicht nur als gutes Exempel. Vielmehr stabilisiert das Wissen um die Gegenwart und die Achtung bzw. Verachtung vonseiten dieses höchsten Wesens stärker als alle menschliche Annerkennung die Tugend: „Angesichts einer solchen Gegenwart muß die Schande einer schuldhaften Handlung die größte sein. Dasselbe gilt für die Ehre des Rechttuns, selbst angesichts der ungerechten Kritik der ganzen Welt [In such a Presence as this, ’tis impossible but as the Shame of guilty Actions must be the greatest of any; so must the Honour be, of well-doing, even under the unjust Censure of a World].“208 Weder die Vorbildfunktion noch die Achtungsoption sind für eine atheistische Einstellung relevant, so dass Shaftesbury schlussfolgern kann: „Und in diesem Fall ist es offensichtlich, wie förderlich ein vollkommener Theismus für die Tugend sein muß, und wie mangelhaft der Atheismus ist [And in this Case, ’tis
204 Ebd., 205 Ebd., 206 Ebd.
207 Ebd., 208 Ebd.,
S. 77 [SE II,2, S. 102]. S. 79 [SE II,2, S. 108]. S. 80 [SE II,2, S. 110]. S. 80 f. [SE II,2, S. 112].
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
very apparent how far conducting a perfect Theism must be to Virtue, and how gerat Dificiency there is in Atheism].“209 Shaftesburys Resümee: „Von Daher können wir mit gutem Grund das Verhältnis bestimmen, das zwischen Tugend und Frömmigkeit besteht: erstere ist nicht vollkommen, wenn sie nicht in der letzteren ruht. Denn wo letztere fehlt, kann weder die gleiche Güte und Festigkeit, die gleiche Beständigkeit, dasselbe Gleichgewicht der Gemütsbewegungen noch dieselbe Gleichförmigkeit des Geistes existieren [Hence we may determine justly the relation which Virtue hast o Piety: The first being not compleat but in the latter: Since where the latter is wanting, there can neither be the same Benignity, Firmness, or Constancy, the same good Composure of the Affections, or Uniformity of Mind].“210 Moralität und Religion stehen in der „Inquiry“ in einem funktionalen Verhältnis. Wenngleich die Tugend zunächst aus der Struktur der moralischen Empfindung ohne Rekurs auf eine religiöse resp. theologische Begründung Geltung an sich selbst beansprucht, bedarf sie zu ihrer Stabilisierung der Vorstellung eines höchsten Wesens.
4.3 Das Verhältnis von Tugend und Unsterblichkeitsglaube in der „Inquiry“211 Eine speziell zu untersuchende Einflussmöglichkeit der Religion auf die Tugend im Kontext der Überlegungen, wie die Religion tugendfördernde oder tugendschädliche Affekte mitbedingt, stellt der Glaube an eine jenseitige Vergeltung mit Lohn und Strafe dar. Dieser Frage widmet Shaftesbury einige Aufmerksamkeit nicht zuletzt deshalb, weil der Unsterblichkeitsglaube zugleich zum Kernbestand christlichen Glaubens resp. Theologie sowie zu den umstrittensten Themen innerhalb des religions‑ und christentumskritischen Diskurses in der Aufklärung zählt.212 Shaftesbury schließt zunächst aus, dass Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung als alleinige Motive zu tugendgemäßem Verhalten führen können. Zu den bereits im vorherigen Abschnitt analysierten Gründen fügt der Autor hinzu, dass diese Motive dem „Prinzip der Eigenliebe [Principle of Self-Love]“213 entspringen und allein dieses befördern. Es würde einerseits der wahren Gottesliebe widerstreben, denn Gott würde so „nicht anders geliebt als irgendein sonstiges Mittel oder Werkzeug des Lustgewinns [no otherwise belov’d than as any other Instrument or Means of Pleasure]“. Andererseits widerstrebt es dem Wesen 209 Ebd.,
S. 81 [SE II,2, S. 112]. S. 94 [SE II,2, S. 142]. 211 Wir beschränken uns hier auf die Analyse der „Inquiry“, weil die entsprechenden Passagen in den „Moralists“, v. a. II,3, keine wesentlich anderen Argumente enthalten. 212 Vgl. Sparn, Unsterblichkeit, Sp. 287; Ders., Aussichten in die Ewigkeit, S. 21. 213 Shaftesbury, SE II,3, S. 81 [SE II,2, S. 112]. 210 Ebd.,
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
321
der Tugend, nämlich dem Streben nach dem Guten der Gesellschaft bzw. des Ganzen. Religion und Moralität würden zu einem bloßen „Interessenhandel [Bargain of Interest]“ verkommen, wonach ein Lustdefizit im hiesigen Leben nur um der Hoffnung auf einen jenseitigen „Zustand höchsten Vergnügens und Genusses [Status of highest Pleasure and Enjoyment]“214 in Kauf genommen werden würde. Shaftesbury kommt jedoch nicht zu dem negativen Ergebnis, dass ein Glaube an eine jenseitige Vergeltung in moralphilosophischer Absicht vollkommen obsolet wäre. Vielmehr räumt er ein, dass er „dennoch unter manchen Umständen sehr zum Vorteil, zur Sicherheit und zur Unterstützung der Tugend [is yet, in many Circumstances, a great Advantage, Security, and Support to Virtue]“215 dient. Gemäß seinen Randbemerkungen unterscheidet Shaftesbury eine unterstützende („Unterstützend [Supporting)“) von einer rettenden („Rettend [Saving]“) und einer verbessernden („Bessernd [improving]“216) Funktion eines religiösen Vergeltungsglaubens. Unterstützend wirkt dieser, wenn er die Tugend und die ihr widerstrebenden Leidenschaften unter den Gesichtspunkt stellt, dass diese Gott einerseits wohlgefallen, jene aber andererseits missfallen und so „eine genauere Beachtung jenes guten und tugendhaften Prinzips [a stricter Observance of that good and virtuous Principle]“217 stattfindet. Der Vergeltungsglaube fungiert tugendrettend, wenn Tugend zunächst „unter dem Einfluß unguter Meinungen und falschen Denkens [by ill Opinion and wrong Thought]“218 anderer Menschen steht und damit nicht nur geschwächt, sondern gar durch die Wertschätzung der Untugend unterminiert werden würde. Von Bedeutung ist hier, dass Shaftesbury die subjektive Bedingung der Möglichkeit einer solchen Umwertung in Anfechtungen unglücklicher Schicksalsschläge erblickt, denen der Unsterblichkeits‑ und Vergeltungsglaube entgegenwirkt, indem er einen „zukünftigen Lohn verspricht, der den Verlust an individuellem Wohlergehen, den er beklagt, kompensieren wird [least a future Advantage, such as to compensate that Loss of private Good which he regrets]“219. Auch wenn der Glücksbegriff an dieser Stelle nicht fällt, so ist doch deutlich, dass Shaftesbury hier nichts anderes vor Augen hat als dann Kant mit seinem moralischen Argument des Unsterblichkeitspostulates.220 Bessernd kann der religiöse Unsterblichkeits‑ und Vergeltungsglaube dann wirken, wenn zwar zunächst die Hoffnung auf Belohnung um des eigenen Nutzens willen von Untugend abhält, hernach aber „um ihrer
214 Ebd.,
S. 82 [SE II,2, S. 114 f.]. S. 82 [SE II,2, S. 116]. 216 Ebd., S. 83 f. [SE II,2, S. 116/118/120]. 217 Ebd., S. 83 [SE II,2, S. 116/118]. 218 Ebd. 219 Ebd., S. 84 [SE II,2, S. 118]. 220 Vgl. Kant, KpV, S. 146 ff.; vgl. Beck, Kants KpV, S. 232 ff.; 244 ff. 215 Ebd.,
322
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
selbst willen geschätzt [valu’d for their own sakes]“221 wird und die Hoffnung auf Lohn bzw. die Angst vor Strafe zurücktreten. Shaftesbury fasst alle drei Wirkweisen dieses religiösen Gedankenkomplexes nun unter Verwendung des Glücksbegriffes zusammen: „Wer deshalb aus tiefer Überzeugung oder gefestigtem Urteil heraus im allgemeinen denkt, daß Tugend Glück erzeuge und Laster Elend, der besitzt die nötige Sicherheit und Festigkeit in der Tugend [Whoever therefor, by any strong Persuation or settled Judgment, thinks in the main, That Virtue causes Happineß, and Vice Misery, carrys with him that Security ans Assistance to Virtue which is requir’d].“222 Damit rückt Shaftesbury – wie bereits angedeutet – die Gedankenführung in eine glückstheoretische Perspektive ein: Die Hoffnung auf jenseitiges Belohnung ist gleichbedeutend mit der Hoffnung auf Glück, nämlich auf das „Glück der Tugend [Happineß of Virtue]“223 in seiner jenseitigen Erfüllung.
4.4 Die Religion der Ästhetik des Universums in den „Moralists“ Während Shaftesbury in der „Inquiry“ mit seiner Typologie reiner und gemischter religiöser Deutungen des Universums und deren Einfluss auf das moralische Bewusstsein einen Horizont von Möglichkeiten religiöser Einstellungen eröffnet, lässt er in den „Moralists“ die Dialogpartner Philokles und Theokles die Plausibilität dieser verschiedenen Anschauungen in Hinsicht auf seine Universumskonzeption diskutieren. Die einschlägigen Passagen stellen vornehmlich die Abschnitte II,4+5-III,1224 dar, die in den berühmten Natur-Hymnus einmünden. Wir müssen zunächst eine hermeneutische Überlegung zur literarischen Methode Shaftesburys voranstellen, um überhaupt Shaftesburys eigene Meinung zur Sache ermitteln zu können. Die „Moralists“ stellen eine Folge von drei Briefen dar, die Philokles an Palemon schreibt. Im ersten Brief rekapituliert der Skribent ein Gespräch mit dem Adressaten selber. Im ersten Abschnitt wird mit einem Plädoyer für die philosophische Methode des Dialogs die Dialogform der „Moralists“ gerechtfertigt, während im zweiten und dritten Abschnitt die Themen im Umriss vorgezeichnet werden. In den beiden folgenden Hauptteilen des Werkes berichtet Philokles seinem Briefpartner Palemon von seinen Gesprächen mit einem gewissen Theokles, die sich allesamt mit den in Teil I exponierten Themen beschäftigen und gleichsam die thematische Durchführung darstellen. Die Gesprächssituation, die Philokles im 4. Abschnitt des 2. Hauptteiles Palemon mitteilt und den kommunikativen Hintergrund von Shaftesburys Konzept einer religiösen Anschauung des Universums darstellt, ist folgende: An einem Nachmittag bleiben von einer Gesellschaft noch Philokles, Theokles, ein älterer 221 Shaftesbury,
SE II,3, S. 84 [SE II,2, S. 120]. S. 87 [SE II,2, S. 126]. 223 Ebd., S. 89 [SE II,2, S. 128]. 224 Vgl. ebd., S. 231–303 [SE II,1, S. 158–312]. 222 Ebd.,
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
323
Gentleman und dessen Freund übrig und bestürmen Theokles, er solle „sich ausführlich in seiner theologischen Manier hören lassen [to let us hear him, at large, in his Theological way]“225. Theokles geht auf die Aufforderung nur unter der Bedingung ein, dass Philokles die Rolle des ungläubigen Adressaten der Predigt spiele und dass diese nicht als Dialog, sondern eben der Gattung gemäß ohne unmittelbare Entgegnung und Widerrede vonstatten gehen solle. Shaftesburys eigene Meinung verbirgt sich nun – so die hermeneutische Annahme – in dieser Predigt des Theokles. Die kleine Gesellschaft begibt sich an diesem schönen Abend an die freie Luft, sie unternehmen einen Spaziergang aufs Land und befinden sich damit in demjenigen bukolischen Umfeld, welches dann auch die vornehmlichen Gegenstände der Kontemplation bereitzuhalten verspricht. Hier bekommen nun sowohl die systemtheoretischen als auch die religionstypologischen Überlegungen, die Shaftesbury in der Tugenduntersuchung dargestellt hat, eine ganz andere Wendung. Während er dort zum einen lediglich die Disposition sowohl einzelner Entitäten als auch höherer Komplexe bis hin zum Ganzen des Universums zu einer systemischen Anordnung entwickelt, und zum anderen den Theismus lediglich als einen möglichen Typus religiöser Weltauslegung thematisch macht, ist es ihm in den „Moralists“ darum zu tun, die Systematizität des Universums als eine wirkliche vollkommene Ordnung im Modus der anschauenden Bewunderung darzulegen und darüber hinaus den Theismus als Glauben an einen planenden und alles bedingenden Geist als notwendige Konsequenz aus dieser Universalharmonie zu begründen. Damit sind aber bereits die Hauptthesen benannt, deren Argumentation nun im Einzelnen nachzuvollziehen ist. Den Ausgangspunkt nimmt Theokles bei einer bewundernden Feststellung der Vollkommenheit von Pflanzen auf Seiten seiner Begleiter, die er zu einer Reflexion auf die Organismusstruktur von Lebendigem allgemein entfaltet. Rhetorisch fragt er Philokles: „Wer kann besser als Sie selbst den Bau jeder Pflanze und jedes Tierkörpers aufzeigen, die Aufgabe jedes Teils und Organs erklären und den Nutzen, Zweck und Vorteil erläutern, dem sie dienen [Who better than yourself can shew the Structure of each Plant and Animal-Body, declare the Office of every Part and Organ, and tell the Uses, Ends, and Advantages to which they serve]?“226 Diesen Rekurs auf selbstverständliche und jedem einsichtige naturkundliche Überlegungen nimmt Theokles zum Anlass, um die Reflexion auch auf die „Anatomie der Welt und der Natur [Anatomy of the World and Nature]“ zu übertragen und deren „Übereinstimmung und Gleichmäßigkeit im Weltganzen festzustellen [discern … Consistency and Uniformity in the Universe]“227. 225 Ebd., 226 Ebd., 227 Ebd.
S. 231 [SE II,1. S. 158]. S. 233 [SE II,1, S. 162].
324
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
Der Reflexionsprozess stellt sich als vielschichtig dar. Es können mindestens vier Aspekte unterschieden werden: 1. Wahrnehmung von Ordnung und Vollkommenheit resp. Schönheit in der Natur; 2. Einheitlichkeit des Plans von Entitäten und eine relative Vollständigkeit der Ding-Systeme, 3. Systematizität, Einheitlichkeit und Planmäßigkeit des Universums und endlich 4. die Anerkennung eines universalen Geistes. 1. „Sicher ist nichts unserem Geist stärker eingeprägt oder mit unserer Seele enger verwoben als die Idee oder das Gefühl von Ordnung und Ebenmaß [nothing surely is more strongly imprinted on our Minds, or more closely interwoven with our Souls, than the Idea or Sense of Order and Proportion].“228 Shaftesbury exemplifiziert diese These anhand der unmittelbaren menschlichen Unterscheidungsfähigkeit von 1. Harmonie gegenüber Disharmonie in Bewegungen, 2. von Regelmäßigkeit und Einheitlichkeit eines architektonischen Gebäudes gegenüber der Unregelmäßigkeit eines Sandhaufens und 3. der Organisiertheit eines Körpers gegenüber unzusammenhängenden Dingen. Die implizit erkenntnistheoretische Aussage dieser Feststellung ist einigermaßen rätselhaft. Es stellt sich v. a. die Frage, wie sich das Konzept einer dem Geist eingeprägten Idee, hinter der wohl die Theorie eingeborener Ideen bzw. innatae Ideae (koinai einoiai) steht, zum Begriff des Sense verhält, der hier durch das or eng an die Idea gekoppelt ist. Zunächst wird deutlich, dass Shaftesbury sich mit dem Theorem der eingeborenen Ideen in der Erkenntnistheorie stärker am Cambridger Platonismus und am zeitgenössischen Stoizismus orientiert und sich vom Empirismus eines Hobbes und auch seines Lehrers Locke in dieser Frage distanziert. Auch wenn Shaftesbury hier keine ausgearbeitete Erkenntnistheorie vorlegt, finden sich in seinem Gesamtwerk einschlägige Erwägungen, die sich mit dem Konzept der innatae ideae befassen. Innerhalb der Moralists lässt er im 2. Abschnitt des 3. Hauptteiles Theokles und Philokles diese Frage diskutieren. „Behaupten Sie denn, sagte ich [Philokles], daß diese Kinder des Geistes, die Begriffe und Prinzipien des Schönen, Rechten und Redlichen nebst den übrigen Ideen dieser Art angeboren sind [Do you maintain then, said I, that these mental Children, the Notions and Principles of Fair, Just, and Honest, with the rest of these Ideas, are innate]?“229 Theokles bejaht diese Frage grundsätzlich, formuliert sie aber um in die Frage, „ob die genannten Prinzipien von Kunst oder Natur herrühren [whether the Principles spoken of are from Art, or Nature]“230. Er bejaht diese und ersetzt den Begriff ‚angeboren‘ durch den Begriff des Instinktes. Hierin zeigt sich noch eine Vermittlungsintention Shaftesburys zwischen Lockes Ablehnung eines Konzeptes eingeborener Ideen auf der einen und dem Cambridger Platonismus eines Ralph Cudworth auf der 228 Ebd., 229 Ebd., 230 Ebd.
S. 234 [SE II,1, S. 164]. S. 316 [SE II,1, S. 340].
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
325
anderen Seite231: Es geht Shaftesbury nicht so sehr um den Angeborenheits-, sondern um den Natürlichkeitscharakter der besagten „Begriffe des Wohlgestalten und Schönen [Preconceptions of Fair and Beautiful]“, die er als „Vorbegriffe [Preconceptions]“232 bezeichnet. Auf die Diskussion, in welcher philosophischen Tradition Shaftesbury mit seiner Theorie des Instinktes bzw. angeborener Ideen steht, kann hier nur im Rekurs auf die Forschungsliteratur eingegangen werden. George betont die Prägung durch Ralph Cudworth und dessen Hauptwerk „The true Intellectual System of the Universe“ (London 1678), der seinerseits eine zwischen Stoizismus und Platonismus vermittelnde Konzeption vorgelegt habe.233 Darüber hinaus verweist George auch auf Herbert von Cherbury, der mit seinem Instinctus-Begriff für Shaftesbury Pate gestanden haben könnte.234 Auf Sir Herbert verweist in einschlägiger Frage auch immer wieder Stanley Grean.235. Wolfgang H. Schrader rechnet damit, dass Shaftesbury direkt an die Erkenntnislehre der Stoa anknüpft habe.236 Dass es hier mit den ‚Preconceptions‘ nicht so sehr um hochstufige Schönheitsphänomene, sondern in der Tat um solche basalen Ordnungs‑ und Proportionalitätsphänomene geht, lässt sich aus dem Beispiel folgern, welches Theokles für die Explikation des Natürlichkeitscharakters wählt, nämlich kindliche Begeisterung bei der Wahrnehmung der Proportionen einfacher geometrischen Figuren (Kugel, Zylinder etc.).237 Wie verhält sich nun der Begriff der ‚Idea‘ zum Sense-Begriff? Die instinktive Idee stellt für sich keine reale mentale Repräsentation dar, sondern ist vermittelt durch eine aktuale Wahrnehmung, die sich auf ein äußeres oder inneres Phänomen bezieht. Insofern es sich bei der Wahrnehmung von Ordnung und Proportion nicht um eine simple äußere Wahrnehmung handelt, kann Shaftesbury im Anschluss an obiges Zitat auch von einer inneren Empfindung sprechen: Der Unterschied zwischen Proportionalität und Nichtproportionalität wird „unmittelbar durch eine deutliche innere Empfindung wahrgenommen [immediately perceiv’d by a plain Internal Sensation]“238. Im 2. Abschnitt des 3. Hauptteiles geht Shaftesbury auf dieses Problem noch einmal eigens ein. Hier stellt er explizit die Frage, ob Schönheit durch die äußeren Sinne wahrgenommen werden könne. Theokles’ Beweis seiner Verneinung dieser Frage bildet einen einfachen Syllogismus: Tiere verfügen über Sinne. Tiere können keine Schönheit wahr231 Vgl.
George, Naturbegriff bei Shaftesbury, S. 42 (Anm. 2). SE II,3, S. 317 [SE II,1, S. 342]. 233 Vgl. George, Naturbegriff bei Shaftesbury, S. 39. 234 Vgl. ebd., S. 31–48, v. a. S. 44 (Anm. 2). 235 Vgl. Grean, Shaftesburys Philosophy, S. 39; 44; 71; 93; 187. 236 Schrader, Einleitung [Shaftesbury], S. XX, Anm. 19. 237 Vgl. Shaftesbury, SE II,3, S. 318 [SE II,1, S. 344]. 238 Ebd., S. 234 [SE II,1, S. 164]. 232 Shaftesbury,
326
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
nehmen. Conclusio: Also kann die Wahrnehmung von Schönheit nicht allein auf den äußeren Sinnen allein beruhen.239 Vielmehr sei der psychische Ort von Proportionalitäts‑ und Schönheitswahrnehmung der „Geist [Mind]“ bzw. die „Vernunft [Reason]“240. 2. Der zweite Schritt nimmt den Gedanken der Ordnung auf und entwickelt eine rationale Begründung: „Wie nun dieser Unterschied unmittelbar durch eine deutliche innere Empfindung wahrgenommen wird, so gibt es überdies nach der Vernunft die folgende Begründung dafür: daß alle Dinge, die Ordnung haben, auch Einheit des Plans haben und in eins zusammenlaufen, Teile eines einzigen Ganzen oder für sich vollständige Systeme sind [Now as this Difference is immediately perceiv’d by a plain Internal Sensation, so there is withal in Reason this account of it; That whatever Things have Order, the same have Unity of Design, and concur in one, are Parts of one Whole, or are, in themselves, intire Systems].“241 Der Übergang von 1. zu 2. ist deutlich markiert: Die Ordnungsvorstellung wird in einem sekundären Reflexionsschritt auf die systemische Anordnung von Teilen zu einem Ganzen zurückgeführt, die eine Einheit begründet. Über diesen Einheitscharakter verfügen Naturdinge (Pflanzen und Lebewesen) und auch artifizielle Entitäten (architektonische Gebäude; Musik etc.). 3. Über den Ganzheitscharakter von Einzeldingen hinaus stellt sich die Frage, wie sich diese singulären Entitäten zueinander verhalten: Bilden die Kleinsysteme eine unzusammenhängende Menge, oder stellen sie wiederum ein System dar? Wie in der Inquiry so verweist Shaftesbury auch hier auf die Außen-Relationalität aller Einzelsysteme: Lebewesen stehen in Relation zum System der Gattung, dieses zum System der Lebewesen, dieses zum System der Erde und dieses letztendlich zum System des Universums. Diese Systematizität des universalen Ganzen lässt sich nun ausschließlich durch „zahlreiche und schlagkräftige Beispiele [numerous and powerful Instances]“242 demonstrieren, denn die Unendlichkeit der Relationalität stellt sich für den endlichen menschlichen Geist als unerkennbar dar. 4. „Nun, da wir dieses einheitliche, stimmige Gebäude erkannt und das umfassende System zugestanden haben, müssen wir folgerichtig auch einen umfassenden Geist anerkennen [Now having recognize’d this uniform consistent Fabrick, and own’d the Universal System, we must of consequence acknowledg a Universal Mind].“243 Shaftesbury plausibilisiert diesen Schluss mittels einer Analogie: Sowenig ein architektonisches Bauwerk und ein Musikstück sich auf einen bloßen Zufall begründet, sondern einen Ordnungs‑ und Einheitsstiftenden Geist voraussetzt, ebenso kann auch das System des Universums nur auf die 239 Vgl.
ebd., S. 325 [SE II,1, S. 358].
240 Ebd.
241 Ebd.,
S. 234 [SE II,1, S. 164]. S. 236 [SE II,1, S. 168]. 243 Ebd., S. 237 [SE II,1, S. 172]. 242 Ebd.,
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
327
„Einheit eines Plans und Ordnung eines Geistes [Unity of Design and Order of a Mind]“244 zurückgeführt werden.245 Der berühmte Naturhymnus des Theokles im 1. Abschnitt des 3. Hauptteiles nimmt die Naturbetrachtung wieder auf und trägt neue Gesichtspunkt bei. Er zeitigte u. a. mit Herders Übertragung aus dem Jahr 1773 eine prominent besetzte Wirkungsgeschichte246 und gilt allgemein als das Zentrum der „Moralists“247. Theokles und Philokles begeben sich am frühen Tage auf einen Morgenspaziergang in die Natur, wo der Mensch, „zur Kontemplation und zur Erforschung seiner eigenen und anderen Naturen geschaffen, hier am besten über die Ursache der Dinge nachdenken und inmitten der mannigfaltigen Szenen der Natur deren Werke näher betrachten kann [made for Contemplation, and to search his own and other Natures, may here best meditate the Cause of Things; and plac’d amidst the various Scenes of Nature, may nearer view her Works]“248. Die Naturbetrachtung, die Kontemplation in „die Ordnung der Natur in den Geschöpfen“ zielt auf die Erkenntnis der „Quelle und des Grundes aller Schönheit und Vollkommenheit [Source and Principle of alle Beauty and Perfection]“249. Wir können in unserem Kontext auch nicht annähernd die vielfältigen Gedankengänge der Dialogpartner und deren ideen‑ und geistesgeschichtlichen Bezüge rekonstruieren, sondern beschränken uns methodisch auf solche Motive, die in Spaldings Religionskonzept in der Bestimmungsschrift wiederkehren (vgl. V.8.1). Die These besteht darin, dass Spalding sich nicht unwesentlich an Shaftesburys Naturhymnus in den „Moralists“ orientiert hat. Wir gehen nicht dem Gedankengang Shaftesburys nach, der bisweilen unsystematisch und dem Wesen eines Dialoges gemäß nicht stringent ist, sondern orientieren uns an dem systematischen Leitgesichtspunkt des kontemplativen Aufstiegs vom Mannigfaltigen zur Einheit bzw. Gottheit einerseits und zu den anthropologischen und ethischen Konsequenzen andererseits. Unweigerlich werden bereits erörterte Gesichtpunkte wiederkehren, was jedoch aufgrund der Bedeutung des Naturhymnus in Kauf genommen wird. 1. Shaftesbury nimmt den Ausgangspunkt bei der Betrachtung der Natur in ihren Einzelteilen. Durch eine wesensmäßige Natur wird eine „Sympathie der Teile [Sympathizing of Parts]“, ein „offenkundiges Zusammenwirken zu einem
244 Ebd.,
S. 238 [SE II,1, S. 172]. Koppers Abbildung von Shaftesburys religiöser Weltdeutung auf das Cartesianische Cogito sowie seine darstellungs‑ und unbedingtheitstheoretische Interpretation scheint mir von idealistischen Prämissen und Gedankenfiguren auszugehen, die über Shaftesburys Theoriemodell weit hinausgehen (vgl. Kopper, Ethik der Aufklärung, S. 12 ff.; v. a. S. 15). 246 Vgl. u. a. Walzel, Shaftesbury, S. 416 f. 247 Vgl. u. a. Schrader, Einleitung [Shaftesbury], S. XXIV; vgl. Baum, Selbstgefühl, S. 309. 248 Shaftesbury, SE II,3, S. 273 [SE II,1, S. 246]. 249 Ebd. 245 Joachim
328
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
gemeinsamen Zweck [a plain Concurrence in one common End]“ gestiftet, welches eine Einheit und eine „schöne[n] Form [fair a Form]“250 begründet. 2. Von dem Einheits‑ und Schönheitsphänomen an einzelnen Entitäten schreitet der kontemplative Geist weiter zur Wahrnehmung der Zusammenstimmung und des Zusammenhangs vieler Entitäten. Von daher geht Shaftesbury 3. dazu über, „sich die Welt als ein einziges Ganzes vorzustellen [fancying the Universe to be One Intire Thing]“, das „wie aus einem Guß zusammenhängt [hangs together, as of a Piece]“251. Ganzheit und Einheit bedingen sich hier gegenseitig. Wenn die Welt 4. ein einziges Ganzes ist, „dann sollte ihr etwas eigen sein, was sie zu einem Ganzen macht [there shou’d be something belonging to it which makes it One]“252 Dies führt Shaftesbury zur „Hypothese von der Gottheit [Divine Hypothesis]“253, die als ein „altehrwürdiger Urgrund [Antient Cause]“ und als ein „großes Urbild [Great Exemplar]254“ vorgestellt wird. Neben dieser Begründungs‑ und Urbildmetaphorik wird diese Gottheit auch als höchster Verstand eines „ursprünglichen und ewig existierenden Denkens“, das von einem „erhabenen himmlischen Geist [sublime Celestial Spirit]“255 herrührt, sowie als „Lenker [Modifier]256“ des Weltganzen vorstellig gemacht. Damit kommt diese Gottheit zum einen als realer Seinsgrund und zum anderen als aktuales rationales Prinzip des Universums zu stehen, das gemäß der Schönheit und Vollkommenheit des Weltganzen ebenfalls als „höchste Schönheit [Sovereign Beauty]“ bzw. „Schönheit selbst [Beauty it-self]“257 und Vollkommenheit zu Bewusstsein kommt. Neben der vollkommenheitstheoretischen und ästhetischen Entsprechung von Universum und Universalgeist entspricht dieser als „beste[r] Wille [best of Wills]“258 auch der allgemeinen Vollkommenheit der Welt, die sich in dieser voluntaristisch-ethischen Prädikation niederschlägt. Der Mensch steht nun 5. in einer dreifachen Beziehung zur Gottheit. Zunächst begreift er sich selbst mit allem Seienden als ihr abkünftiges Abbild. Sodann evoziert die Wahrnehmung der Größe und Erhabenheit der Natur und ihres Geistes ein Gefühl von Ehrfurcht einerseits und ein axiologisch gegenläufiges Selbstgefühl: „[W]enn ich dann wieder in mich selbst zurückkehre, niedergedrückt von dem Gefühl dieses so engbeschränkten Seins und der Fülle jenes unermesslichen, wage ich nicht länger die bestürzenden Tiefen zu schauen oder den Abgrund der Gottheit zu erkunden [when I return again within My-self, struck with the Sense of this so narrow Being, and of the Fulness of that Immense-one; I dare no 250 Ebd.,
S. 275 [SE II,1, S. 252]. S. 274 f. [SE II,1, S. 250]. 252 Ebd., S. 275 [SE II,1, S. 250]. 253 Ebd., S. 277 [SE II,1, S. 254]. 254 Ebd., S. 289 [SE II,1, S. 280]. 255 Ebd., S. 292 [SE II,1, S. 286]. 256 Ebd., S. 291 8SE II,1, S. 284]. 257 Ebd., S. 310 f. [SE II,1, S. 326/328]. 258 Ebd., S. 282 [SE II,1, S. 266]. 251 Ebd.,
4. Shaftesburys Religionsphilosophie
329
more behold the amazing Depths, nor sound the Abyss of Deity].“259 Affektentheoretisch korrespondiert dem naturkontemplativen und religiösen Affekt der Ehrfurcht und Erhabenheit der Selbstaffekt der Demut bzw. Kleinheit. Jedoch wird sich der Mensch schließlich nicht nur seiner Niedrigkeit bewusst, sondern auch seiner besonderen Würde, die einerseits in der Natur‑ und Gotteserkenntnis besteht: „Doch da ich durch Dich (O höchster Geist!) geformt wurde, so wie ich bin, verständig und vernünftig, da es die besondere Würde meiner Natur ist, Dich zu erkennen und zu betrachten, erlaube mir, daß ich mit angemessener Freiheit von diesen Fähigkeiten Gebrauch mache, mit denen Du mich geziert hast. Dulde meine verwegene und kühne Annäherung. [Yet since by Thee (O Sovereign Mind!) I have been form’d such as I am, intelligent and rational; since the peculiar Dignity of my Nature is to know and contemplate Thee; permit that with due Freedom I exert those Facultys with which thou hast adorn’d me. Bear with my ventorous and bold Approach].“260 Neben der ‚Annäherung‘ im Modus der Kontemplation und Erkenntnis verfügt die religiöse Einstellung zum Universum und zum Universalgeist andererseits auch über eine moralische Dimension. Shaftesbury nimmt in diesem Argumentationskontext unmittelbar Bezug auf das platonische Motiv der Gottverähnlichung. Jeder Mensch ist als Abbild des göttlichen Geistes dazu angehalten, diesem Abbild ähnlich zu werden: Es ist für den Menschen natürlich, „daß jeder besondere Geist sein Glück in der Gleichförmigkeit mit dem allgemeinen sucht und sich bemüht, jenem in dessen höchster Einfachheit und Vortrefflichkeit ähnlich zu werden [That the particular Mind shou’d seek its Happiness in conformity with the generalone, and endeavour to resemble it in its highest Simplicity and Excellence]“261. Shaftesbury leitet indirekt und ohne direkten biblischen oder theologischen Rekurs die Gottverähnlichungspotenz vom Gottebenbildlichkeitsmotiv ab und steht damit in der Tradition der platonistischen Religionsphilosophie des 3. und 4. Jahrhunderts (vgl. V.8.1): Da das humane Ich „einem anderen hauptsächlichen und ursprünglichen Selbst (dem großen der Welt) entnommen und nachgebildet ist, bemühe ich mich, mit jenem, soweit ich imstande bin, wirklich eins und gleichförmig zu sein“262. Wir sind bereits auf die ästhetische Dimension des Gottesgedankens eingegangen, die auch in lust‑ bzw. glückstheoretischer Hinsicht relevant ist und im Anschluss an den Naturhymnus in III,2 der „Moralists“ von Shaftesbury erörtert wird. Er stellt hier fest, dass „die Gewalt der göttlichen Schönheit erwiesen [prov’d the Force of Divine Beauty]“ sei und einen Gegenstand der Betrachtung bildet, „der fähig und würdig ist, wirkliches Vergnügen zu gewähren [capable 259 Ebd.,
S. 274 [SE II,1, S. 248]. S. 274 [SE II,1, S. 248]. 261 Ebd., S. 282 [SE II,1, S. 266]. 262 Ebd. 260 Ebd.,
330
IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
and worthy of real Enjoyment]“263, wobei dieses ‚wirkliche Vergnügen‘ auch höchstes Glück bedeutet. Insofern sich der Mensch durch Tugend dieser höchsten Schönheit verähnlichen kann, wird auch der Mensch sich selbst zum Gegenstand ästhetisch-ethischen Vergnügens bzw. Glücks. Damit bleibt die religiöse Ästhetik nicht in der Kontemplation stehen, sondern hat ethische Konsequenzen. „Wenn Sie dagegen bedenken, wie sehr … all die geselligen Vergnügen, die Gesellschaft selbst und alles, was den Wert und das Glück des Menschen ausmacht, genossen werden, so werden Sie gewiß zugeben, daß hier Schönheit in der Handlung selbst liegt, und sie für würdig halten, daß sie oftmals betrachtet und immer wieder beschaut werden vom erfreuten Geist, der sich dieses edlen Teils und seines eigenen Fortschritts und Wachstums an Schönheit glücklich bewußt ist [But when you think how … all the social Pleasures, Society it-self, and all that constitutes the Worth und Happiness of Mankind; you will here surely allow Beauty in the Act, and think it worthy to be view’d, and pass’d in review often by the glad Mind, happily conscious of the generous Part, and of its own Advancement and Growth in Beauty].“264 Die Selbstwahrnehmung der Tugend bzw. der moralischen Entwicklung evoziert neben dem ästhetischen Genuss und Glück auch ein Wertgefühl bzw. ein Würdebewusstsein: Allererst der reflektierte moralische Mensch wird sich seiner inneren Würde und seines menschlichen Wertes bewusst.
5. Zusammenfassung Shaftesbury wurde durch seine Rezeption stoischer Autoren, v. a. Epiktets und Marc Aurels, mit der antiken Tradition soliloquerer Literatur bekannt. Einen ersten Niederschlag fand diese Prägung in seinen „Exercises“, in denen die Thematisierung existentieller Lebensfragen formal und inhaltlich an Marc Aurels „Meditationes“ anknüpfte. Die Form des Selbstgesprächs und die sachliche Frage nach der Bestimmung des Menschen erfahren dann in Shaftesburys „Soliloquy“ und in der entsprechenden Passage der „Miscellaneous Reflections“ einen eindrucksvollen Niederschlag. Beide Texte standen in der Analyse im Vordergrund. Dies begründete sich auch über Spaldings Rezeption dieser beiden Texte. Das „Solilquy“ thematisiert einerseits die Form des Selbstgesprächs und verfügt andererseits selbst über einige Passagen, die in der Form des Selbstgesprächs verfasst sind. Damit entsprechen sich Form und Inhalt. Die Form des Selbstgesprächs grenzt Shaftesbury von jedweder dogmatischen und systematischen Darstellungsform ab. Sie macht den projektiven und hypothetischen Charakter der dargestellten Meinung und Argumentation deutlich: Der private Charakter 263 Ebd., 264 Ebd.,
S. 309 [SE II,1, S. 324]. S. 326 [SE II,1, S. 360].
5. Zusammenfassung
331
evoziert ein undogmatisches Deutungsangebot an den Rezipienten. In dieser Ambivalenz von subjektiver Privatheit und literaler Normativität besteht der spannungsreiche Grundcharakter des Soliloquiums. Der Dia‑ und Monolog verfügt in dieser Hinsicht über eine Als-Ob-Nicht-Struktur, insofern er nämlich beim literarisch-auctorialen Subjekt stehen zu bleiben scheint und nur über die freie Rezeption belehrt. Es sei hervorgehoben, dass Shaftesbury als Adressatenkreis zunächst ausschließlich Schriftsteller, Philosophen, Politiker und Gentlemen und nicht den Menschen allgemein im Visier hat. Diese gemahnt Shaftesbury jedoch zur Untersuchung der wirklichen Interessen des Menschen und seiner Angelegenheiten, die im Wesentlichen die ethische und ästhetische Lebensart betreffen. Insofern die Schönheit an der Tugend ihrerseits ästhetisch dimensioniert wird, koinzidieren die ästhetische und ethische Einstellung des Menschen. Zu diesem Zwecke hat sich der Autor mit der Philosophie, genauer mit der Moralphilosophie, zu befassen, die sich ihrerseits als Hermeneutik menschlicher Angelegenheiten zu bestimmen habe, die sich nicht nur als akademische Disziplin begreifen dürfe, sondern der Selbsterkenntnis des Menschen allgemein dienen solle. Der Philosoph kann dies erst dann adäquat thematisieren, wenn er selbst den Geschmack an der Schönheit der Tugend in seiner Person eingeübt hat. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der Veranlagung und Bestimmung des Menschen. Diese kann nach Shaftesbury nur durch Selbst-Reflexion im Modus des Selbstgesprächs eine Beantwortung finden. Shaftesbury durchklärt ausführlich die psychologischen und bewusstseinstheoretischen Bedingungen der Möglichkeiten des Selbstgesprächs, die im Wesentlichen in der psychischen Selbstdifferenz von autoritär-belehrendem und zu belehrendem Subjekt besteht. Aus ihr entsteht ein reflexives Spannungsverhältnis. Diese Spannung evoziert wie von alleine die Frage nach dem Zweck bzw. nach der Bestimmung des Menschen, deren Beantwortung allererst ein Regularium für das intramentale Mitsichzurategehens liefert. Das Verfahren exerziert Shaftesbury dann selbst in der Form des Selbstgesprächs im III. Teil des „Soliloquy“ durch und bringt damit das Soliloquium nicht mehr nur als literarische Propädeutik, sondern auch als literarische Form zur Geltung. Diese darf sich nach Shaftesbury nicht an Konventionen und religiösen Vorstellungen orientieren, sondern an dem Zweck des Menschen, welcher für alle Menschen unmittelbar plausibel sein muss. Er besteht in der Glückseligkeit. Wesentlich für die Glückseligkeit ist das Vergnügen. Shaftesbury durchläuft argumentativ mögliche Lebensformen: Die 1. Stufe ist die des unbestimmten Vergnügens, dass jedoch immer einhergeht mit Missvergnügen und Unruhe der Seele und mithin glücksuntauglich ist. Das gleiche Urteil erfährt die Lebensform des geschäftlichen Ehrgeizes. Wahres und dauerhaftes und damit glückstaugliches Vergnügen evoziert nur die Moralität. Alle anderen Formen des Vergnügens, die sich als glücksuntauglich erwiesen haben, erfahren jedoch eine relative Rehabilitierung, insofern sie sich in eine moralische Daseinsweise integrieren und
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
ermäßigen lassen. Shaftesbury resümiert, dass sich damit das Selbstgespräch über die allgemeine Geltung der zentralen Frage nach der Bestimmung des Menschen als eine Methode der humanen Selbstbesinnung allgemein darstellt. Den Ausgangspunkt von Shaftesburys Philosophie der Natur wie auch seiner Ethik und Religionsphilosophie bilden kosmologische Reflexionen auf die Teil-Ganze-Struktur alles Seienden. Jedes Lebewesen sei durch seine spezifische Natur zur Erhaltung seiner selbst, seiner Gattung und je anderer Lebewesen bestimmt. Im Kontext seiner Reflexionen auf diese Verwiesenheitsrelation verwendet Shaftesbury eine Terminologie, die im Deutschen mit dem Bestimmungsterminus wiedergegeben werden kann und von Spalding in seinen Übersetzungen auch so wiedergegeben wurde (vgl. II.2). Die Teil-Ganze-Struktur bildet den gedanklichen Ausgangspunkt für eine basale Theorie des Guten, die noch diesseits eines moralphilosophischen Konzeptes von Gutheit angesiedelt ist. Sowohl ein einzelnes Wesen als auch Entitäten untereinander können gut bzw. wohl geordnet sein. Dem Affektbegriff kommt am Übergang zur Moralität im engeren Sinne die Rolle einer spezifischen Fähigkeit sensibler Wesen (Tiere, Menschen) zu. Affekte sind sowohl hinsichtlich des Eigenwohls eines Lebewesens wie auch hinsichtlich je übergeordneter Systeme evaluierbar. Jenseits einer Alternative von Altruismus und Egoismus gilt es, das Eigenwohl mit dem Gemeinwohl auszubalancieren. Neben den Affekten stellt sich der Bewertung auch die allgemeine Affektlage bzw. die Gemütsart, das Temperament dar. Tugend ist nun diejenige spezifische Qualität von Gutheit, die nur dem Menschen als vernunftbegabtem Menschen zukommt, der über einen inneren bzw. reflektierten Sinn bzw. einen moral Sense (moralische Empfindung) verfügt. Vermöge dieser Fähigkeit können Affekte und Handlungen Gegenstand eines höherstufigen Affektes werden. Neben dem inneren reflektierten Sinn basiert die Tugend auch auf dem Vermögen allgemeiner Begriffe, die dem reflektierten Sinn zugrundeliegen und ihm einen Beurteilungsmaßstab liefern. Beide Affektklassen verfügen über eine lusttheoretische und ästhetische Dimension. Allererst über den begrifflich vermittelten Metaaffekt und deren richtige Urteilskraft verfügt der Mensch über Moralität. Die ästhetische Dimension der Moralität, die in der „Inquiry“ nur am Rande eine Rolle spielt, erfährt in den „Moralists“ eine ausführliche Analyse. Jedwedes moralisches Phänomen stellt für den Betrachter nicht nur einen moralisch zu beurteilenden Sachverhalt nach dem Wertmaßstab Gut und Böse dar, sondern verfügt vermittels seiner Ordnungs‑ und Proportionalitätsqualität auch über eine ästhetische Valenz. Diese differenziert sich aus in eine faktische und eine normative Ästhetik: Die Schönheit oder Hässlichkeit will nicht nur empfunden, sondern auch hervorgebracht werden. Der philosophische Grund für den Nachweis der Koinzidenz von Tugend und Ästhetik bzw. moralischer Güte und Schönheit liegt zum einen in dem Nachweis der Vollkommenheit der Welt, zum
5. Zusammenfassung
333
anderen dient er der Begründung des moralischen Glücks. Moralphilosophisch im engeren Sinne geht es mit der Übereinstimmungsprätention von Tugend und Glück um die Frage nach der Suisuffizienz der Tugend resp. die Frage, inwieweit die Tugend ihre Motivationskraft in sich selbst birgt. Die ästhetische Dimension der Tugend samt ihres Lustmomentes stellen dies sicher. Der Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit geht Shaftesbury im 2.Teil der „Inquiry“ nach. Es geht ihm um den Nachweis der Selbstverpflichtungsstruktur der Tugend. Seine Argumentation dreht sich um einen moralischen Begriff von Glück, welches allererst in der Moralität zu sich selbst findet. Das Allgemeinwohl evoziert zugleich das Privatwohl, d. h. subjektive Glückseligkeit. Eine Schlüsselfunktion kommt dem Erweis zu, dass die Tugend höchstes geistiges Vergnügen in Form einer Reflexionslust zeitigt. Insofern dieses reflektierte Vergnügen stetig und nicht den Bedingungen sinnlicher Lust anheimfallen kann, begründet es wahre Glückseligkeit. Auf der Basis einer heuristisch-formalen Typologie von möglichen Gottesbegriffen nimmt Shaftesbury im 3. Teil des 1. Buches in der „Inquiry“ eine Verhältnisbestimmung von Moralität und Religion resp. Unsterblichkeitsglauben vor. Hinsichtlich der positiven Funktion von Religion auf das moralische Bewusstsein, auf das wir uns hier in der Zusammenfassung beschränken, unterscheidet Shaftesbury eine Vorbild‑ bzw. Nachahmungsfunktion von der Achtung, die das moralische Subjekt von einer Gottheit zu gewarten hat. Der Glaube an eine vollkommene Gottheit ist in Hinblick auf die Stabilisierung der Moralität jedwedem Atheismus vorzuziehen, auch wenn Tugend trotz einer atheistischen Einstellung durchaus möglich ist. Religion stellt mithin keine Bedingung der Möglichkeit von Moralität dar, verfügt jedoch über eine unterstützende Funktion. Shaftesburys gesonderte Überlegungen zum Einfluss eines theistischen Unsterblichkeitsglaubens auf die Tugend kommen zunächst zu dem negativen Ergebnis, dass ein bloßer Vergeltungsglaube an eine jenseitige Belohnung oder Bestrafung nicht tugendfördernd wirkt, da nicht das Allgemein-, sondern ausschließlich das Eigenwohl leitend ist. Damit ist jedoch nicht jedweder Jenseitsglaube desavouiert. Vielmehr kommt einem gemäßigten Vergeltungsglauben eine – wenn nicht tugendbegründende – so doch eine tugendunterstützende Funktion zu, insofern die Tugend durch widerstrebende Affekte und durch das Glück des Untugendhaften unterminiert zu werden droht. Die Erwartung jenseitiger Vergeltung hat ihr Wesen in der Hoffnung auf die Erfüllung der Glückseligkeit der Tugend. Shaftesbury ist es mit seiner Theorie eines moralischen Jenseitsglaubens ausschließlich um deren Valenz für die Tugend des Menschen zu tun; er unternimmt keinen Versuch eines metaphysischen Beweises einer Unsterblichkeit der Seele. In der moralischen Funktion eines ethischen Gottesgedankens und eines moralisch begründeten Vergeltungsglaubens geht jedoch Religion für Shaftesbury nicht auf. Vielmehr erfährt das religiöse Bewusstsein in seiner ästhetischen Dimension eine Würdigung an ihm selbst. Der menschliche Geist kann über Ord-
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IV. Shaftesburys Bestimmung des Menschen
nungs‑ und Schönheitsphänomene in der Natur, naturphilosophische Einheitsreflexionen, den Gedanken einer universalen Einheitlichkeit und Planmäßigkeit bis hinauf zur Idee eines universalen Geistes aufsteigen. Im Naturhymnus finden diese Reflexionen ihren verdichteten Ausdruck: Die Naturkontemplation zielt auf die Erkenntnis einer geistigen Quelle und eines Grundes der Schönheit und Vollkommenheit des universalen Ganzen. Die Erkenntnis Gottes verleiht dem Menschen höchste Würde und zeitigt auch als moralische Konsequenz, sich wiederum dieser Würde als würdig zu erweisen, indem von der moralischen Fähigkeit, die dieser höchste Geist dem Menschen verliehen hat, Gebrauch gemacht wird. Neben dem Würdebegriff bezieht sich Shaftesbury auch ausdrücklich auf das platonische Motiv der Gottverähnlichung. Sowohl das Vergnügen an der höchsten göttlichen Schönheit wie auch an der Schönheit des zur göttlichen Güte strebenden Menschen stiftet höchste Glückseligkeit. Damit verfügt auch die ästhetische Religion neben ihrer kontemplativen Dimension über eine ethische und glückstheoretische Relevanz. Auf die Ergebnisse der Shaftesbury-Analyse wird im Zusammenhang der Rekonstruktion der Bestimmungsschrift im folgenden Kapitel unter der Fragestellung zurückzukommen sein, inwiefern Spaldings Bestimmungskonzept, die literarische Form wie auch seine Tugend‑ und Religionskonzeption über seine explizite Shaftesburydeutung in den Vorreden hinaus von Shaftesbury beeinflusst ist.
V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘ 1. Literatur-, wissenssoziologische und biographische Konstellationen Das Jahrhundert der Aufklärung ist gekennzeichnet von einer signifikanten Umformung der Wissenschafts‑ und Wissenskultur. Die Erörterung dieses komplexen Vorgangs kann hier auch nicht ansatzweise erfolgen.1 Jedoch soll auf solche allgemeinen kultur-, sozialgeschichtlichen und soziologischen Entwicklungstendenzen Bezug genommen werden, die für ein kontextuelles Verständnis von Spaldings Bestimmungsschrift erhellend sind. Zum ersten ist auf den allgemeinen Anstieg des gedruckten Wortes hinzuweisen.2 Reformation und Aufklärung haben gemein, dass der Erfolg in der breiten Rezeption ihrer Ideen nicht unwesentlich vom technischen Fortschritt des Buchdrucks und der Expansion des Verlagswesens profitierte. Im 18. Jahrhundert gründen sich auch in der Provinz kleinere Verlage, die durch die praktischen wie preiswerten Quart‑ und Oktavformate sowohl einer größeren Zahl von Autoren als auch einem breiteren Publikum Literaturproduktion bzw. ‑rezeption ermöglichten. Es ist zum zweiten eine allgemeine Verschiebung innerhalb des literarischen Formen‑ und Themenspektrums zu verzeichnen. Hatte bereits der Pietismus der autobiographischen Introspektion und frommen Selbsterforschung in Tagebüchern und Briefverkehr Vorschub geleistet, so ist für die Epoche der Aufklärung eine Säkularisierung dieser Form des Selbstumgangs zu verzeichnen. Sie schlägt sich in einer Konjunktur von Diarien, brieflichen Korrespondenzen und Autobiographien nieder, die nun nicht mehr nur das religiöse Innenleben zum Gegenstand haben, sondern grundsätzlich das eigene Ich zum Reflexionsobjekt wählen. Darin geht es nicht nur um den äußeren Werdegang des homo externus in Familie und Berufsstand, sondern vielmehr um die Dimension der subjektiven und individuellen Innerlichkeit. Man kann mit Stollberg-Rillinger von einer 1 Als Überblick zu einzelnen Wissenschaftsbereichen eignet sich immer noch: Vierhaus, Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Unter kulturwissenschaftlicher Perspektive: Mocek, Die Wissenschaftskultur der Aufklärung; Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Für die prinzipiellen Entwicklungen zu einer allgemeinen Öffentlichkeitskultur des Wissens ist nach wie vor Habermas’ einschlägige Studie maßgeblich: Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, v. a. S. 69 ff. 2 Vgl. dazu Stollberg-Rillinger, Jahrhundert der Aufklärung, S. 130–145.
336
V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
„neuartigen Kultivierung des Gefühls und des individuellen Empfindens“3 sprechen. Hier nahm die englische und französische Literatur eine Vorreiterrolle ein, der die deutschsprachige Literatur eifrig wie gelehrig nachfolgte.4 Feierten – zum dritten – im Zuge der Reformation und der damit einhergehenden theologischen Kontroversliteratur sowie der Frömmigkeitsepoche des Pietismus die theologisch-dogmatische Streitschrift und die religiöse Erbauungsliteratur Hochzeiten5, so findet seit Anfang des 18. Jahrhunderts eine unübersehbare quantitative Verschiebung statt. Der Anteil wissenschaftlich-philosophischer und schöngeistiger Literatur – Lyrik und Roman – steigt exponential an, nimmt bald den ersten Platz ein und verweist die religiös-theologische Literatur vom ersten Platz auf die Ränge6. Zugleich ändert sich der Adressatenkreis. Stellte bereits die pietistische Erbauungsliteratur über die Grenzen religiöser Prägungen hinaus ein Massenphänomen dar, so fand nun auch wissenschaftliche Literatur Eingang in die breite bildungshungrige bürgerliche Öffentlichkeit, die ihrerseits an den Erkenntnissen der Wissenschaften Teilhabe beanspruchte. Es findet ein Popularisierungsschub neuer Ideen, neuer Erkenntnisse und neuen Wissens statt. Die literale Wissenskultur verdoppelt sich gleichsam in eine akademische Fachwissenschaft und eine vom gebildeten Bürgertum getragene Populärwissenschaft, Übergänge und Interdependenzen eingerechnet. Diese Rezipientengruppe stellte jedoch an die Literatur ganz bestimmte Ansprüche. Sie ist nicht mehr bereit, in weltanschaulichen, ethischen und religiösen Fragen mit dogmatischer Indoktrination und moralischen und theologischen Richtigkeiten vom eigenen Denken gleichsam suspendiert zu werden. Zudem lag es nicht in ihrem Interesse, mit fachwissenschaftlichen Spezialproblemen aus Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften konfrontiert zu werden. Demgemäß bemühte sich die Popularphilosophie, sich in ihrer Themenwahl, Darstellungsweise sowie im Stil an ein nichtakademisches, wenngleich doch gebildetes und interessiertes Publikum, im besten Sinne zu akkommodieren.7 Diesem allgemeinen Popularisierungstrend korrespondiert – zum vierten – auch eine Verschiebung hinsichtlich des wissenssoziologischen Milieus der Autoren. Es sind nicht mehr vor allem Fachgelehrte und Universitätsprofessoren, die sich im Modus von Lehre und der Produktion spezieller Fachliteratur an ein Fachpublikum wenden; vielmehr fühlen sich nun auch zunehmend meist junge und beruflich noch nicht etablierte Akademiker dazu berufen, ihren literarischen Ambitionen nachzugehen. Dabei ist es auffällig, dass sie sich nicht unbedingt innerhalb ihrer akademischen Fachgrenzen bewegen, sondern sowohl schöngeistige als auch wissenschaftlich-populäre Themen aufgreifen. Diese Entwicklung 3 Ebd.,
S. 133. Fink, Literatur, S. 245. 5 Vgl. Mohr, Erbauungsliteratur, S. 57–65. 6 Vgl. Alt, Aufklärung, S. 45–48. 7 Vgl. Holzhey, Popularphilosophie. 4 Vgl.
1. Literatur-, wissenssoziologische und biographische Konstellationen
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wurde auch durch den Sachverhalt begünstigt, dass mit dem rasant wachsenden Ansturm auf akademisch-universitäre Ausbildung zunehmend ein Überhang an Absolventen zu verzeichnen war. Diese jungen Akademiker mussten nun zwischen Universität und Beginn der beruflichen Laufbahn in Kirche oder Staat ihr Auskommen in Hofmeister‑ oder Hilfsstellen suchen. Gerade in dieser biographischen Situation fanden nicht Wenige den Weg zum Schreibtisch und zur Feder. Die Biographien der bedeutendsten Geistesgrößen des 18. Jahrhunderts bis hin zu Kant und Schleiermacher zeugen von diesem strukturellen Sachverhalt.8 Dies alles zusammen hat auch Auswirkungen auf die theologische Popularliteratur der Zeit, die sich diesen Trends nicht entzog, sondern ihrerseits versuchte, auf die neuen intellektuellen Ansprüche ihres Lesepublikums einerseits angemessen zu reagieren, andererseits aber auch das literarische Interesse sowie den Geschmack mitzuprägen. Im Gegensatz zur altprotestantischen Theologie stellt sie religiöse und theologische Thematiken nicht mehr in lehrhafter Form in Dogmatiken, Lehrbüchern und polemischen Kampfschriften dar. Dies wird bereits anhand der Titel ersichtlich, die häufig Begriffe wie Betrachtungen9, Untersuchung10, Aufsätze11, Versuch12, (vertraute) Briefe13, Gespräch14 oder gar Gedanken15 und Empfindungen16 beinhalten. Damit bringen die Literaten bereits mit Titel und Gattung zum Ausdruck, dass ihre Texte nicht für den akademischen Gebrauch gedacht sind und dementsprechend auch nicht den Anspruch auf dogmatische Richtigkeit erheben, sondern vielmehr auf verstehende und freie Aneignung hin angelegt sind. Spalding nun steht mit seinen Buchtiteln ganz in diesem aufklärungsliterarischen Zusammenhang: Er verfasst sowohl vertraute Briefe17, Gedanken18 und
8 Vgl.
Fertig, Die Hofmeister. v. a. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768–79). 10 Vgl. u. a. Johann Gottlieb Toellner, Theologische Untersuchungen (1772–74). 11 Vgl. u. a. ders., Vermischte Aufsätze (1770). 12 Vgl. u. a. Carl Friedrich Bahrdt, Versuch eines biblischen Systems der Dogmatik (1769). 13 Vgl. u. a. Friedrich Germanus Lüdke, Briefe an einen Landgeistlichen, das Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in d. Königlich preußischen Landen betreffend (1781). Zur Titulatur der ‚vertrauten‘ Briefe vgl. Spalding, Vertraute Briefe, S. XXVIII f. [Einleitung der Herausgeber]. 14 Vgl. u. a. Friedrich Germanus Lüdke, Gespräche über die Abschaffung des geistlichen Standes (1784). 15 Vgl. u. a. Johann David Michaelis, Gedanken über die Lehre der heiligen Schrift von der Sünde (1748). 16 Vgl. u. a. August Friedrich Wilhelm Sack, Empfindungen eines Christen (1757). 17 Vgl. Spalding, Vertraute Briefe. 18 Vgl. Spalding, Gedanken über den Werth der Gefühle. Auch im Vorwort zur ersten Auflage seiner Schrift „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ von 9 Vgl.
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
eben auch in der Bestimmungsschrift ein Soliloquium, ein Selbstgespräch19. Insbesondere seine Bestimmungsschrift kann geradezu für diesen Prozess als exemplarisch gelten, kulminieren doch in ihr all die skizzierten literatursoziologischen Trends der Zeit: Seine Schrift erscheint bei einem jungen wie kleinen Verlag in der provinziellen Universitätsstadt Greifswald und profitiert vom wachsenden Publikationsmarkt; ein beruflich noch ungebundener Kandidat für ein Pfarramt widmet sich, angeregt durch seine Rezeption und Übersetzung englischer und französischer Literatur, mit seinem anthropologischen Thema einem breiten nichtakademischen Publikum und stellt dieses in der undogmatischen Form eines introspektiven Selbstgespräches dar. Damit erfüllt Spaldings Bestimmungsschrift exemplarisch genau das, was Kosenina in der Forschungsperspektive der literarischen Anthropologie allgemein für die um 1750 aufkommende anthropologische (Fach)literatur konstatierte, nämlich „das Bekenntnis gegen Systemdenken und Abstraktion, das Spiel mit literarischen Formen und der offene Blick für alle Aspekte des menschlichen Lebens“, „ein flanierendes Denken“ und ein Absetzen „durch den neuen Stil in Aphorismen, Dialogen, Essays, Briefen, Selbstgesprächen gegen die spröden Formen und unflexiblen Systeme der älteren Schulphilosophie“20. Wie schon verschiedentlich deutlich wurde, muss sich der mittlerweile gar nicht mehr so junge Pfarramtskandidat – Spalding ist 1748 vierunddreißig Jahre alt – nach Studium und akademischer Qualifikation zunächst als Hofmeister, Hauslehrer und Sekretär durchschlagen. Er ist finanziell leidlich versorgt, ansonsten aber ungebunden21. Die biographische Situation ändert sich 1747 nur unwesentlich, jedoch für ein altes Vorhaben nicht ungünstig. Er kehrt im Frühjahr dieses Jahres aus Berlin wieder nach Pommern in das Haus seines Vaters zurück, auch in der Hoffnung, so eher in ein Pfarramt berufen zu werden. Bevor dieser Wunsch sich dann erst im Frühjahr 1749 erfüllt, hat sich Spalding seines im Kranken‑ und Sterbebett liegenden Vaters anzunehmen. In dieser Zeit der Sorge und Muße verwirklicht Spalding sein schon länger gefasstes Vorhaben und schreibt seine „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“: „Die Nächte, welche ich da so häufig mit Wachen bey dem Krankenbette meines Vaters zubrachte, wurden mir die bequemste Zeit, das meinen berlinischen Freunden 1772 verwendet Spalding zur Signatur des Traktates den Begriff des Gedankens (vgl. Spalding, Ueber die Nutzbarkeit, S. 3 [S. I]). 19 Auch die Spätschrift Spaldings „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von 1797 legt in der Vorrede Wert darauf, dass es sich nicht so sehr um „wissenschaftliche Belehrungen“, sondern vielmehr um das, „was wir, als allgemein anerkannt, in uns selbst wahrnehmen, wie auch auf die so nahe und leicht daraus fließenden Folgerungen, aufmerksamer zu machen, und durch Vorstellungen, welche vor dem unbefangenen gemeinen Wahrheitssinne bestehen können, etwas Thätiges von Wirkung in das Herz, in die Gesinnung und ins Leben zu bringen“ (Spalding, Religion, S. 3 [S. bVIIIf.]). 20 Kosenina, Literarische Anthropologie, S. 19. 21 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 129 [S. 26 ff.].
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gegebene Wort zu erfüllen, und meine Gedanken über die Bestimmung des Menschen aufzusetzen.“22 Ob nun eher das eigene geistige Bestreben, das Drängen der Berliner Freunde oder die Betrachtung eines Sterbenden den letzten Anstoß gegeben hat, mag dahingestellt sein. Sicherlich haben aber der beruflich unbefriedigende Schwebezustand und die existentielle Situation am Sterbebett des Vaters dazu beigetragen, sich dieser grundlegenden Frage des Menschen nach sich selbst zuzuwenden und dafür eine Form zu wählen, die in ihrer „gewisse[n] Einfalt und Wahrheit der Gesinnungen und des Ausdrucks“23 ein breites gebildetes Publikum zu erreichen geeignet sein konnte.
2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift Spaldings Bestimmungsschrift erfüllt die wohl für jede Art von Literatur anzustrebende Einheit von Inhalt und Form und dies in besonders stringenter Weise. Bei der Bestimmung der literarischen Form lässt sich auf einige in der Forschungsliteratur immer wiederkehrende Zuordnungen zurückgreifen, die in der Regel eher formal ausfallen und zudem durch eine epochentheoretische wie auch wirkungs‑ und rezeptionsgeschichtliche Perspektive geprägt sind. Es handelt sich mit den folgenden Überlegungen daher nicht nur um eine Gattungsbestimmung im engeren Sinne, sondern vornehmlich um den Versuch einer literaturgeschichtlichen Verortung. Zunächst zur gängigen Einordnung unter die Popularphilosophie. „Man kann Sp[alding]. einen Popularphilosophen in der Theologie nennen. Sein Schaffen hat einen journalistischen Zug.“24 Dieses Urteil, das bereits Nordmann im Blick auf Spaldings ganzes Oeuvre fällt, trifft nicht nur in seiner Allgemeinheit, sondern auch konkret im Blick auf die Bestimmungsschrift zu. Sowohl das prinzipiell jeden Menschen angehende Thema als auch die allgemeinverständliche Form sind dazu angetan, ein möglichst breites interessiertes Publikum anzusprechen. Der außerordentliche Erfolg, der sich in den zahlreichen Auflagen widerspiegelt, spricht auch in editions‑ und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht für die Plausibilität dieser Zuschreibung. Diese wurde verschiedentlich präzisiert. Brandt versieht bspw. die Subsumption der Bestimmungsschrift unter die Popularphilosophie noch mit einem philosophiehistorischen Bezug auf die Stoa: „Hier [scil. in der Bestimmungsschrift; G. R.] wird kein gelehrter Vortrag gehalten, sondern eine populäre Mahnung zur Tugend und zum Glauben, hier befinden wir uns 22 Ebd.,
S. 133 [S. 32 f.]. – Zur Frage, welche Freunde hier gemeint sind, vgl. II.1. S. 134 [S. 34]. 24 Nordmann, Leben und Werke, S. 48. 23 Ebd.,
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nicht im akademisch-peripathetischen oder cartesianischen Auditorium, sondern in der stoischen Halle, in die jedermann eintreten kann und soll.“25 Diese bereits im Forschungsbericht diskutierte These Brandts ist sicherlich insoweit zu relativieren, als Spaldings vornehmliche Prägung nicht direkt auf stoisch-stoizistische Autoren und Texte direkt zurückzuführen ist.26 Auch Albrecht Beutel deutet Spaldings Bestimmungsschrift als frühes Zeugnis „aufklärerischer Popularphilosophie“ und macht dies an ihrem Verzicht auf jedweden Rekurs auf „offenbarungstheologische[n] Prämissen“ und ihrer damit korrespondierenden allgemeinen Zugänglichkeit und Nachvollziehbarkeit fest.27 Mit der wechselweisen Verwendung der Begriffe „Populartheologie“ und „Popularphilosophie“ macht Beutel auf ein Problem aufmerksam, ohne dass er einer Kategorie den Vorzug gibt. Die bloße Tatsache, dass Spalding studierter Theologe ist, lässt noch nicht zu, seine Schrift ohne Weiteres der Theologie zuzurechnen. Nicht nur, dass Spalding sich in dieser Zeit selbst eher als Philosoph verstand28, sondern auch seine Abstinenz von jedweder dogmatischen wie konfessionellen Argumentation lassen es wenigstens als undeutlich erscheinen, seine Schrift als „populartheologische Apologie“29 zu definieren. Der popularphilosophischen Deutung der Bestimmungsschrift korrespondiert die auf Werner Schneiders zurückgehende und breit rezipierte Epochentheorie der Aufklärung, nach der um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine popularwissenschaftliche Aufklärung(sphilosophie) deren frühaufklärerischen (ca. 1690–1720) und hochaufklärerisch-wissenschaftlichen (ca. 1720–1750) Phasen abgelöst habe30. Spaldings Bestimmungsschrift fiele mit ihrem Erscheinungsdatum – 1748 – in die Geburtsstunde dieser Form aufgeklärt-aufklärender Literaturproduktion. So wurde denn auch in der Spaldingforschung – mehr indirekt als direkt – auf diese spezifische Fassung der Epocheneinteilung Bezug genommen. 25 Brandt,
Bestimmung des Menschen, S. 64. sei hier jedoch darauf hingewiesen, dass Spalding noch in der Vorrede zur 11. Auflage (1794) seine Methode des Hinabsteigens-in-sich-selbst direkt auf den stoischen Dichter und Philosophen Persius zurückführt (vgl. Spalding, BdM, S. 32, [S. VII]). Aber auch Persius dürfte Spalding allererst über seine Shaftesburylektüre zur Kenntnis genommen haben (vgl. II.2.2.2). 27 Beutel, Johann Joachim Spalding, S. 232. – Beutel spricht auch davon, dass Spalding „in popularphilosophischer Absicht nach der ‚Bestimmung des Menschen‘ “ frage (ders., Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, S. 239). 28 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung, S. 121 [S. 12]. 29 Beutel, Aufklärer höherer Ordnung, S. 291. – Auch Mark-Georg Dehrmanns Ansicht, Spalding versuche eine „Reform des lutherischen apologetischen und ethischen Stils“ (Dehrmann, Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, S. 14 f.) trifft jedenfalls für die Bestimmungsschrift nicht zu und verkennt deren dezidiert überkonfessionelle und allgemeinmenschliche Perspektive. 30 Vgl. Schneiders, Hoffnung auf Vernunft, S. 41. – Auch Andreas Urs Sommers Verortung von Spaldings Bestimmungsschrift greift auf Schneiders Epochentheorie zurück, und er spricht von einem Prozess der „Literarisierung der Philosophie in praktischer Absicht“. Einen „ersten Schlüsseltext“ dieser Entwicklung stelle Spaldings Schrift dar (Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 166). 26 Es
2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift
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„Die Bestimmung des Menschen spiegelt in exemplarischer Weise das Bedürfnis der bürgerlichen Schichten in Deutschland um und nach 1750, angesichts eines sich abzeichnenden Verlustes religiöser Letztverbindlichkeiten neue Massstäbe selbstverantwortlichen Handelns zu entwerfen und aufklärerisch-rigide Richtlinien von Selbst‑ und Fremddisziplinierung zu entwickeln. Spaldings Schrift kommt ohne Autoritätsrekurs, ja überhaupt ohne aufdringliche autoritative Gängelung aus.“31 Auch Beutel apostrophiert die Bestimmungsschrift als einen „Bahnbrecher der Popularphilosophie“32 und appliziert damit implizit die Epochentheorie Schneiders auf die Schrift Spaldings. Der popularphilosophischen Deutung entspricht auch seine Titulierung der Bestimmungsschrift als „Erfolgsbuch der Aufklärungstheologie“33: Der große publizistische Erfolg bestätigte gleichsam die rezeptionsstrategische Intention Spaldings wie auch das faktische populäre Interesse der bürgerlichen Öffentlichkeit in der 2. Hälfte des Aufklärungsjahrhunderts. Nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich trifft die allgemeine Charakterisierung als Popularphilosophie – wie bereits angedeutet – auf Spaldings Bestimmungsschrift zu. Ciafardone rechnet die partielle Abkehr vom Philosophiestil der wolffschen Schulphilosophie, die Übersetzung und Rezeption englischer und französischer Aufklärungsklassiker und deren Auswirkungen auf das Verständnis von Religion und Christentum wie auch die Wechselbeziehung von Philosophie und menschlichem Leben und die Hinwendung zur Ethik und Ästhetik zu den wesentlichen Merkmalen dieser philosophischen Formation zwischen 1750 und 1780.34 Jedes dieser Momente kann für Spalding bzw. seine Bestimmungsschrift reklamiert werden, wie in vorliegender Studie in unterschiedlichen Kontexten zu zeigen versucht wird. Problematischer als die eher formale Zuordnung der Bestimmungsschrift zur zeitgenössischen Popularphilosophie, stellt sich die Bestimmung als Erbauungsbuch dar, zumal Spalding selber in der Vorrede zur 13. Auflage von 1794 seine Bestimmungsschrift „für eine Art von kleinem moralischen Erbauungsbuche“35 hält. Dem Zweck der Erbauung diene „die Darstellungsart in einer persönlichen Erzählung“ zum Zwecke der je „eigenen Anwendung“, um so einen „wohltätigen Einfluß auf Rechtschaffenheit und Religiosität wirksamer zu machen“36. Das moralische Element erblickt Spalding also nicht nur in der Moralität im engeren Sinne, sondern der Sache nach auch in der Religiosität. Den weiteren einführenden Worten das Autors ist zu entnehmen, dass das erbauliche Element darin besteht, „Tugend, nicht bloß zu erklären und zu beweisen, sondern auch, 31 Sommer,
Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 169. Johann Joachim Spalding, S. 227. 33 Ders., Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXI. 34 Vgl. Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 31 f. 35 Spalding, BdM, S. 32 [S. VI]. 36 Ebd., S. 32 [S. VI f.]. 32 Beutel,
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wenn dies geschehen oder vorauszusetzen ist, zur wirklichen Empfindung und Tätigkeit zu wecken und zu verbreiten“37. Sowohl das Empfindungs‑ wie auch das Aktivierungsmoment, die Gestaltung einer „äußeren und inneren praxis pietatis“38 stellen Grundmerkmale protestantischer Erbauungsliteratur dar, die nicht nur die pietistische, sondern schon die lutherisch-orthodoxe Frömmigkeitskultur nachhaltig geprägt hat. In diesen formalen Gemeinsamkeiten zwischen Bestimmungsschrift und der herkömmlichen frommen Erbauungsliteratur liegt denn offenkundig auch ein Grund für Spaldings literarische Selbstverortung. Es ist zudem zu vermuten, dass Spalding mit seiner erbauungsliterarischen Selbstverortung zugleich eine allgemeine Kontinuität wie auch eine signifikante Differenz zu markieren beabsichtigte. Jedoch: Die sachlichen Differenzen zwischen Spaldings Werk und der traditionellen christlichen Erbauungsliteratur liegen auch auf der Hand. Ging es letzterer in erster Linie um die subjektiv-individuelle Aneignung christlicher Heilstatsachen, geht es Spalding zuvörderst auch um eine gleichermaßen subjektiv-individuelle Apprehension, jedoch des ethisch-religiösen Reflexionsganges eines allgemeinen literarischen Ichs. Andreas Urs Sommer stellt denn auch zu Recht fest: „Spalding legt mitnichten ein Erbauungsbüchlein traditioneller Machart vor, sondern einen Wegweiser zu einer selbstbestimmten Lebenswahl …“39 Nimmt man all diese Erwägungen und den innovativen Charakter der Bestimmungsschrift zusammen, so erscheint die erbauungsliterarische Verortung nur unter der Kautele als legitim, dass es sich um eine popularphilosophisch-anthropologische Erbauungsschrift mit aufklärerischer Absicht handele. Man könnte auch sagen: Die Popularphilosophie übernimmt um 1750 diejenige literatursoziologische Funktion, die vormals der christlich-theologischen Erbauungsliteratur zukam. Spaldings Schrift stellt für diesen epochalen Ablöse‑ bzw. Beerbungsvorgang sowie für die „Säkularisierung“ im Sinne einer „Reduktion des Begriffes auf natürliche Frömmigkeit, moralischen Wert und ästhetische Gefühle“40 ein frühes Paradebeispiel dar. Die weitere zu diskutierende Charakterisierung der Bestimmungsschrift als Programmschrift liegt auf einer kategorialen Ebene, die sich allererst einem wirkungsgeschichtlichen Zugriff darbietet. Sie hängt für Brandt mit der popularphilosophischen Interpretation aufs engste zusammen, wenn er von einer „Programmschrift der zweiten Phase der deutschen Aufklärung“41 spricht. Mit dieser Apostrophierung ist nichts weniger behauptet als dass die Hauptfrage der Popularphilosophie die Frage nach der Bestimmung des Menschen darstelle und Spaldings Schrift zugleich eine erste und zudem programmatisch wirksam gewordene Antwort abgegeben habe. Die anthropologische Bestimmungsfrage 37 Ebd.,
S. 33 [S. IX f.]. Erbauungsliteratur, Sp. 1390. 39 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 169. 40 Krause, Erbauung, S. 26. 41 Brandt, Bestimmung des Menschen, S. 61. 38 Beutel,
2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift
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stelle, so könnte man diese These interpretieren, den allgemeinsten Horizont des für ein bürgerliches interessiertes Publikum in Frage stehenden Themenspektrums bereit. Damit geht der Philosophiehistoriker und Kantforscher Brandt noch weit über die These Ulrich Barths hinaus, der das „geniale Jugendwerk“ Spaldings als die „eigentliche Programmschrift“42 der Neologie zur Geltung bringt. Dafür, dass es sich um eine Programmschrift im Sinne Brandts handelt, spricht die allgemeine Konjunktur der philosophischen bzw. „säkulare[n] Anthropologie“43, der Debatte um den Empfindungsbegriff, der Diskussionen um eine rationale Begründung der Ethik wie auch der Religion, die die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigen sollten und erst in Kants einschlägigen Konzepten zu einem relativen Abschluss gekommen sind. Neben den bereits erörterten Charakterisierungen stellt wohl die zuletzt zu diskutierende und im engeren Sinne literarische Bestimmung der Spaldingschen Schrift als eines Selbstgespräches diejenige dar, die für das Verständnis der Bestimmungsschrift in besonderer Weise aufschlussreich ist. „In der literarischen Form des inneren Monologs beziehungsweise des meditativen Selbstgesprächs findet diese Forderung [scil. der Selbstbesinnung; G. R.] einen plausiblen literarischen Ausdruck.“44 Spalding selber apostrophiert diese „Darstellungsart“ des Soliloquiums als „persönliche[n] Erzählung“45. Der Autor äußert sich weder in der Bestimmungsschrift selber noch in seinen Briefen, in seiner Lebensbeschreibung oder auch anderswo zu den Gründen, die ihn zur Wahl der Selbstgesprächsform bewegt haben.46 Die Realisierung seines Vorhabens, seiner kleinen Schrift bereits in der Erstauflage ein einleitendes Wort voranzusetzen47, hätte hier womöglich Aufklärung gebracht. Ausschließlich aus zwei Briefen an seinen Freund Johann Wilhelm Ludwig Gleim geht hervor, dass für ihn die Novität der Darstellungs42 Barth,
Mündige Religion, S. 221. – Wenn dies so ist, dann stellt sich die Frage, ob der Epochenbegriff „Neologie“ zutrifft, betrifft er doch eher die dogmatisch-lehrhaften Neuerungen dieser theologischen Aufklärungsbemühungen. Es bedürfte zur Beantwortung dieser Frage einer Wesensbestimmung der zweiten aufklärungstheologischen Epoche, nämlich ob sie sich eher einer Reform der theologischen Lehre oder vielmehr der Implementierung eines neuen Religions‑ und Christentumsverständnisses gewidmet hat. Spalding stünde jedenfalls für Letzteres. 43 Beutel, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, S. 239. 44 Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 82. 45 Spalding, BdM, S. 32 [S. VI]. 46 Kurt Nowak hatte – was die bildungsgeschichtliche Herkunft der Selbsterkenntnisstruktur der Bestimmungsschrift anbelangt – als erster eine These in seinem Bändchen zur Wirkungsgeschichte Rousseaus aufgestellt. Er vertritt die These, dass sich Spalding von Rousseaus „Confessions“ hat anregen lassen, die Bestimmungsschrift in die Form eines Selbstgesprächs zu bringen. Diese geistesgeschichtliche Herleitung ist jedoch wenig einleuchtend und ist – so möchte man sagen – Nowak auch nur unterlaufen, da er die letzte Auflage der Bestimmungsschrift von 1794 verwendet, die selbstverständlich nach dem Erscheinen der „Confessions“ (1782) datiert. Dabei übersieht er jedoch, dass nicht erst diese Auflage die Form des inneren Monologes aufweist, sondern bereits die erste Auflage, gute 38 Jahre vor Rousseaus Bekenntnissen (vgl. Nowak, Wirkungsgeschichte Rousseaus, S. 35). 47 Vgl. Spalding, Kleine Schriften 2, S. 28 [S. 31 f., Mai 1748].
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form durchaus Bedeutung hatte, denn hier äußert er die Befürchtung, dass er mit der „Einrichtung“48 seiner Schrift als Nachahmer von August Friedrich Wilhelm Sacks Werk „Vertheidigter Glaube der Christen“ angesehen werden könnte, die bereits im Januar 1748 in einem ersten Teil erschienen war. Selbiges beschäftigt seinen literarischen Stolz knapp zwei Monate später wiederum, als er feststellen muss, dass es sein Freund Sack war, der jüngst die literarische Gattung des Selbstgespräches eingeführt hat: „Herrn Sacken muß ich nun die Ehre von der Erfindung unseres Vortrages wol lassen, und in der That hat er sie auch. Denn ist gleich sein vertheidigter Glaube der Christen nicht so alt als meine Blätter, so ist doch seine Betrachtung über die Vorsehung schon viel älter, und da spricht er ebenso.“49 Die soliloquere Darstellungsweise hängt mit der wissens‑ bzw. literatursoziologischen Situation um 1750 aufs Engste zusammen, die bereits mit dem popularphilosophischen Zuschnitt der Schrift avisiert wurde. Spalding kann dem skeptischen Leser nicht einfach die Bestimmung des Menschen und des näheren seine ethische und religiöse Bestimmung andemonstrieren. Daraus folgt: „Der Mensch ist nicht mehr Gegenstand einer gelehrten Definition, sondern er selbst stellt die Frage und wird zum Subjekt der Antwort.“50 Spalding unternimmt demgemäß den Versuch, den selbstdenkenden Zeitgenossen auf den Weg der autonomen Selbst-Bestimmung zu bringen, indem er ihm den Prozess eines „Jedermann-Ich auf dem Weg zur Selbstfindung“51 exemplarisch vorführt. Sommer spricht in Bezug auf die Spannung zwischen der persönlichen Ichperspektive und dem allein durch die Publikation initiierten Appell an den Leser von einem „Paradox“, weil Spalding durchaus durch eine „subtil autoritative Weise ins Selbstbestimmungsgeschäft der anders, seiner Leserinnen und Leser“52 eingreife. Damit ist präzise die deskriptiv-präskriptive Doppelgestalt der Bestimmungsschrift erfasst. Die Besonderheit in der Bestimmungsschrift besteht nun in der spezifischen Reflexionsstruktur, die es gilt, hinsichtlich ihrer komplexen subjektivitätstheoretischen Bedingungen, ihrer rhetorischen Konfiguration und ihres empirischphänomenologischen Charakters zu erhellen. Die subjektivitätstheoretische Bedingung der Möglichkeit dieses Prozesses einer methodischen anthropologischen Selbstbesinnung als eines „Hinabsteigen[s] in uns selbst“53 besteht zunächst in einem reflektierenden Innehalten des erlebenden Lebensflusses: Der Mensch muss versuchen, seinen Blick „von Zeit zu Zeit streng und anhaltend einwärts zu kehren“54. Was sich in Spaldings 48 Ebd.,
S. 24 [S. 28, März 1748]. S. 28 [S. 31, Mai 1748]. 50 Brandt, Bestimmung des Menschen, S. 13 f. 51 Ebd., S. 67. 52 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 170. 53 Spalding, BdM, S. 32 [S. VII]. 54 Ebd., S. 32 [S. VIII]. 49 Ebd.,
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biographischer Situation konkret ereignet, stellt sich formal als notwendige Vorraussetzung einer jedweden subjektiv-individuellen Selbstbestimmung heraus. Neben diesem Unterbrechungsmoment bedarf es einer „Ebenenunterscheidung zwischen standpunktverhaftetem und reflektierendem Ich“55. Dies wird bereits an den ersten Worten deutlich: „Ich sehe, daß ich …“56. Das Ich sieht als reflektierendes Ich sich selbst als erlebendem Ich zu; der Mensch „selbst stellt die Frage und wird zum Subjekt der Antwort“57. Dieser Duplizität des Bewusstseins entspricht für die kommunikative Form des selbstreferentiellen Umgangs wie auch literarisch eben das Selbstgespräch. Den Ausgangspunkt der Selbstreflexion nimmt Spalding bei der doppelten Feststellung, dass das menschliche Leben zum einen an „ganz verschiedenen Grundregeln“ ausgerichtet werden kann und dass zum anderen dem Menschen „eine Fähigkeit zu wählen“58 gegeben ist. Spalding schlussfolgert, dass in dieser Frage eine „ernsthafteste Überlegung“ nötig ist, um zu evaluieren, „worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.“59 Zunächst wird deutlich, dass die Frage des Menschen nach sich selbst aus dem Selbstinteresse eines Ich und nicht aus einem allgemeinen anthropologisch-wissenschaftlichen bzw. theologischen Interesse abgeleitet wird. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen wird als existentielle Frage eines konkreten wie allgemeinen Ichs exponiert. Es geht Spalding nicht unmittelbar um eine spezifisch ethische Frage nach den ‚Grundregeln‘ des Handelns im engeren Sinne, sondern vielmehr ist es ihm um „die ganze Verfassung [des] Lebens“60 bzw. das Ganze der Lebensführung zu tun. Dies ist bereits durch den Titel angezeigt und wird dann durch das über das Ethische hinausgehende Themenspektrum der Bestimmungsschrift eingeholt. Sodann wird eine zweifache Reflexionshinsicht eröffnet, einerseits auf das Warum des Daseins, andererseits auf den Gehalt der Soll-Bestimmung des Lebens. Das kausale ‚Warum‘ des Daseins des Menschen deutet Spalding durch die explikative Ergänzung des ‚und was ich vernünftigerweise sein soll‘ im Sinne der Frage nach der causa finalis an, die sich für den Menschen als höchst komplex darstellt. Ohne dass der Bestimmungsbegriff explizit fällt, wird hier deutlich, dass Spalding nicht die Seins-Bestimmung, sondern die kontrafaktische Soll-Bestimmung des Menschen vor Augen hat. Schließlich deutet Spalding bereits im Einleitungsabschnitt an, auf welchem methodischen Wege der Mensch beide Fragen beantworten muss. Um wirkliche „Gewiß-
55 Barth,
Mündige Religion, S. 222. BdM, S. 1 [S. 3]. 57 Brandt, Bestimmung des Menschen, S. 13 f. 58 Spalding, BdM, S. 1 [S. 3]. 59 Ebd. 60 Ebd. 56 Spalding,
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heit“61 zu erlangen, bedarf es der je eigenen „Untersuchung“; diese wiederum kann sich nicht an Autoritäten oder Beispielen anderer Menschen orientieren, sondern muss nach dem „beßten Vermögen“, d. h. für Spalding „vernünftigerweise“ und nicht „blindlings zufahren“62. Demgemäß finden sich auch in der gesamten Schrift keine theologischen wie philosophischen Autoritätsbeweise oder auch unbegründete Behauptungen. Mit dem Terminus des ‚Vermögens‘ nimmt Spalding indirekt Bezug auf die Vermögenspsychologie seiner Zeit, derer er sich – wie noch zu zeigen sein wird – ausführlich und eigenständig bedient. Es gilt herauszufinden, welche Lebensführung die „sicherste, anständigste und vorteilhafteste sei“63. Das Ergebnis des Mit-Sich-Selbst-Zurate-Gehens muss also dem dreifachen Kriterium der Korrekturarmut des Lebenskonzeptes, der ethischen Integrität und der Nützlichkeit und damit pragmatischen, ethischen und utilitären Ansprüchen genügen. Spalding unterläuft mit der Einleitung also zum einen unter der Ganzheitsperspektive eine ethische Engführung der anthropologischen Selbstdeutung sowie eine gesinnungsethische bzw. verantwortungsethische Reduktion der ethischen Perspektive im engeren Sinne, und zum anderen vermeidet er die Entscheidung zwischen einem deontologischen bzw. utilitaristischen Modell. Bereits mit dieser Integration verschiedener Reflexionsperspektiven deutet sich eine Komplexität der Argumentation an, die sich denn auch in Spaldings Gedankengang widerspiegelt. Ohne bereits auf die Inhalte der Reflexionsstufen einzugehen, soll hier die Struktur der Selbstreflexion skizziert werden. Zunächst lässt sich bereits vom einleitenden Abschnitt her Spaldings Methode als empirische Selbsterfahrung bestimmen. Formulierungen wie „Ich sehe, daß ich …“ oder „Manche Erfahrungen haben mich … gelehret“64 deuten semantisch an, dass Spalding seinen argumentativen Ausgangspunkt bei elementaren Tatsachen des Lebens nimmt, die das reflektierende Subjekt allgemein sowie konkret wahrnimmt. Hierbei zieht Spalding eine prinzipielle Ebenendifferenz zwischen gegenwärtig-aktualer bzw. zurückliegender Erfahrung auf der einen und virtuellzukünftiger bzw. antizipativer Erfahrung auf der anderen Seite ein, die sich beide sowohl auf das Selbst wie auch auf andere Menschen beziehen. Zudem beschreibt Spalding den Reflexionsgang einer jeden Bestimmungsstufe (Sinnlichkeit, Vergnügen des Geistes, Tugend, Religion, Unsterblichkeit) als einen spannungsreichen Bogen, der seinen Ausgangspunkt jeweils bei einer Gewissheitsfeststellung und Selbstvergewisserung hinsichtlich der infrage stehenden Lebenshaltung nimmt, dann zur Wahrnehmung ihres Ungenügens übergeht, das sich in Selbstzweifeln kundtut und schließlich in die Gewissheit ihrer Aporetik mündet, um von da zur nächsten Reflexionsstufe überzugehen. 61 Ebd., 62 Ebd., 63 Ebd. 64 Ebd.
S. 2 [S. 4]. S. 1 [S. 3].
2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift
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Rhetorisch werden all diese Selbstwahrnehmungsmodi eingeleitet bzw. begleitet von Fragen, mit denen das Subjekt sowohl die Gewissheitsmomente verstärkt als auch konterkariert. Eine wesentliche Funktion dieser Fragen besteht neben der sachlichen Hinsicht zudem in der Selbstreferenz des Willens sowie des Sollens. Auch die darauffolgenden Beantwortungen dieser Selbstbefragungen formuliert Spalding in der Form der Selbstbezüglichkeit des Willens und der Selbstaufforderung, die sich syntaktisch ebenfalls in Soll-Konstruktionen widerspiegeln. Diese Struktur soll an signifikanten Beispielen dargestellt werden. Nachdem sich das Ich am Ende des Abschnittes zur Lebensform von „Reichthum und Ehre“65 von der Insuffizienz dieses Daseinszweckes überzeugt zeigt, beginnt der Reflexionsgang zur Stufe der Sinnlichkeit zunächst mit der Gewissheitsbekundung, dass das „Vergnügen der Sinne“ etwas „wesentlichers“66 in der Natur des Menschen darstellt. Das Ich stellt dies „ohne Zweifel“ fest. Jedoch nimmt sich die zweifelslose Versicherung zugleich wieder zurück: „Ich gestehe es: dies wirket auf mich mit einem gewaltigen Reize.“ Dieser Selbstentdeckung lässt das introspektive Subjekt eine Selbstbefragung folgen: „Sollte ich wol nicht dazu seyn, es zu suchen und zu geniessen?“ Mit Formulierungen wie „wie es scheint“, „so dünkt mich“ wird die selbstvergewissernde reflexiv-interrogative Befragung des Willens – „Was will ich mehr …?“ – sofort wieder relativiert. Es kommt zur sachlichen Frage nach der Valenz der Lebensform: „Was mangelt jenen von Wollust trunkenen Menschen?“. Diese Frage nach der Erfahrung je anderer Menschen wird sogleich zurückgewendet auf das eigene Selbst: „Und was wird mir mangeln, wenn ich sie nachahme?“ Es folgt zunächst die Feststellung, dass das Vergnügen der Sinne einen möglichen Modus der Lebensführung darstellt. Jedoch der Zweifel folgt unmittelbar: „aber mich dünkt, ihre Stärke hat etwas wildes und übertäubendes an sich, welches meiner Sele noch nicht Stille genug verstattet.“ Deshalb beschließt das Ich, diese Lebensform erneut zu „untersuchen“67. Diese Untersuchung verfährt nun so, dass das Ich Beispiele anderer Menschen „wahrnehme“. Spalding bedient sich in Folge dreimal der Formulierung „ich habe gesehen“, um eine Plausibilität durch die empirisch unmittelbare Wahrnehmung herzustellen. Diese Fremdwahrnehmung evoziert „einiges Mistrauen“. Aus konkreten Situationsbeschreibungen schlussfolgert das Ich die Ungenügsamkeit des Sinnesvergnügens. Spalding beschreibt die Seelenverfassung des dies erkennenden Ichs als die eines Erschreckens („Das erschreckt mich“). In einer Sequenz von drei Fragesätzen schlägt das Ich die Brücke von einer Selbstbefragung des Willens zur Sollbestimmung des Ich: „Wollte ich wol in ihrer [scil. die an den Folgen der Wollust leiden; G. R.] Stelle seyn? Wollte ich mich wol in die auch nur 65 Ebd.,
S. 2 [S. 4].
67 Ebd.,
S. 2 f. [S. 4f].
66 Ebd.
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wahrscheinliche Gefahr geben, daß ich einmal in ihrer Stelle seyn könnte? Sollte ich denn wohl dazu auf der Welt seyn, alles zu thun, was den Empfindungen meiner Sinne schmeichelt?“ Auf das Bedauern der Negativbeantwortung („Es ist verdrüßlich …“) folgt als erste Schlussfolgerung eine Modifikation, die Spalding als einen Beschluss des Subjektes darstellt: „Ich muß also …“68. Bemerkenswert ist nun, dass Spalding die Selbstbeobachtung des Lösungsversuchs – nämlich eines geordneten Lustlebens – im Präsens beschreibt. Damit imaginiert er eine unmittelbare und aktuelle Selbstwahrnehmung, die den Leser in die Position eines seinerseits unmittelbaren Beobachters zweiter Stufe versetzt. Aber auch die kultivierte Form des sinnlichen Vergnügens erzeugt wiederum Zweifel: „Und nichtsdestoweniger finden sich gewisse Augenblicke, da mir ist, als wenn mir etwas fehlet“. Spalding beschreibt die seelische Auseinandersetzung als Zerstreuung, Gespür von Unmut und „Zuflucht zu … gewohnten Vergnügungen“69, die schließlich in einer „trostlosen Verwirrung“ der Seele mündet. Auch hier ist es wieder zunächst ein „dunkles Gefühl von Sehnsucht“, in dem sich das verzweifelte Ich wiederfindet. Aus diesem unbestimmten Negativbewusstsein entspringt nun am Ende des Sinnlichkeitsabschnittes – wie bereits am Ende des vorherigen – die klare Erkenntnis des Ungenügens des sinnlichen Vergnügens: „Das ist mir wenigstens nun offenbar, daß die angenehme Bewegung meiner Sinne nicht meine ganze Sele ausfüllet.“70 Da es sich jedoch um keine positive, sondern um eine negative Feststellung handelt, wird das in-sich-gehende Ich zur Frage getrieben, was es denn sei, das die Seele ganz ausfüllt. Den Abschnitt zum Vergnügen des Geistes71 eröffnet Spalding mit einer Formel, die erneut den introspektiven Charakter des mit-sich-zurate-gehenden Subjektes präzise formuliert: „Wenn ich … in mich selbst gehe, so sehe ich …“72 Auch der Übergang zur Reflexion auf die Tugend als Prinzip der Lebensführung wird mit einer Formel intoniert, die den Selbstreflexivitätscharakter auf den Begriff bringt: „Ich wende hiebey eine neue Aufmerksamkeit auf mich selbst …, und da entdecke ich …“73 Hier wird zum einen sehr deutlich, dass Spalding das anthropologische Selbstbewusstsein in seiner strukturellen Selbstdifferenzierung aufspaltet in ein erlebendes und deutendes Ichbewusstsein. Die Übergänge von einer Reflexionsstufe zur je nächsten stellt hierbei jeweils eine signifikante Schnittstelle dar, die Spalding sprachlich geschickt zum Ausdruck bringt. Zudem lässt gerade das Zitat noch einmal die Selbsterkenntnis als Selbstentdeckung zu stehen kommen. 68 Ebd.,
S. 3 f. [S. 6]. S. 4 f. [S. 7]. 70 Ebd., S. 6 [S. 8]. 71 Vgl. ebd., S. 6 f. [S. 8–9]. 72 Ebd., S. 6 [S. 8]. 73 Ebd., S. 7 [S. 9]. 69 Ebd.,
2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift
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Innerhalb des Tugendabschnittes werden zwei Strukturelemente erkennbar, die abgeschwächt das Ganze der Bestimmungsschrift kennzeichnen. Zum einen nimmt der Blick des räsonierenden Ichs vermittels der Einsicht in das richtige Lebensführungsprinzip die Perspektive auf die Zukunft ein, indem er in reflexiven Wendungen seinen eigenen Willen auffordert, das Richtige zu wollen bzw. anzustreben: „Ich will dahin trachten, daß die Neigung der Güte, die mir eingepflanzt ist, immer mehr gestärket und auf alle mögliche Weise befriediget werde“74. Darüber geht Spalding noch hinaus, indem er die Selbstreflexion des Willens zur Selbstverpflichtung einer Gewöhnung steigert: „Ich will mich gewöhnen, das Gute, das Glück, die Schönheit, die Ordnung allenthalben, wo ich sie sehe, mit Lust zu sehen“75. Das Ich fordert sich selbst resp. seinen Willen dazu auf, sich an das Wollen des Guten zu gewöhnen. Damit avisiert Spalding eine Habitualisierung, vermittels derer das deutende Ich wieder in den Modus des erlebenden Subjektes übergeht, nun aber auf einer höheren Daseinsstufe. Dass der Selbstgesprächscharakter als zunächst literarisch-formaler Aspekt zutiefst mit der in Frage stehenden Sache, nämlich der Bestimmung des Menschen, verschränkt ist, konnte durch die Rekonstruktion der Reflexionsstruktur des anthropologischen Selbstbewusstseins gezeigt werden. Dass darüber hinaus für Spalding die Form des introspektiven Soliloquiums nicht nur den adäquaten Thematisierungsmodus der Bestimmung des Menschen darstellt, sondern umgekehrt auch die Frage nach dem Menschen allgemein und nach der eigenen individuellen Person im Besonderen das entsprechende Thema des soliloqueren Selbstumganges abgibt, rückt der Literat in einem kleinen Text unter dem Titel „Selbstgespräch“ in den Fokus, den er sieben Jahre später (1755) veröffentlichte. Auch wenn es zunächst methodisch problematisch erscheint, einen späteren Text zur Interpretation der Bestimmungsschrift heranzuziehen, so ist es hermeneutisch durchaus legitim; denn zum einen ist der zeitliche Abstand gering und zum anderen bestätigt und vertieft die Bezugnahme auf das „Selbstgespräch“ ausschließlich die bisherige Interpretation. Der kurze Essay76 stellt im Wesentlichen nichts anderes dar als eine Selbstprüfung, die sich in eine retrospektive Bilanz und prospektive Selbstaufforderung in Bezug auf die Realisierung der Bestimmung des Menschen differenziert, nun jedoch nicht durch ein allgemeines Subjekt, sondern am Orte einer konkreten individuellen Person. Hatte Spalding in der Bestimmungsschrift ein abstraktes Ich auftreten lassen, so ist er es nun selber, um den es geht. Oder mit anderen Worten: Mit dem „Selbstgespräch“ appliziert Spalding das, was er in der Be74 Ebd.,
S. 11 [S. 13]. S. 12 [S. 14]. 76 Das in der Originalpaginierung nur 3½-seitige „Selbstgespräch“ erschien mit fünf weiteren kleineren Texten in den „Beyträge[n] zum Nutzen und Vergnügen. Für die Leser der Pommer‑ und Rügenschen Intelligenzen. Auf das Jahr 1755“, Greifswald 1755 (Verlag Struck), kritisch ediert in: Spalding, Kleinere Schriften 1 [SpKA, Bd. I,6,1], S. 207–211. 75 Ebd.,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
stimmungsschrift im Modus einer Bewusstseinsphänomenologie eines nach sich selbst fragenden Subjektes als einer allgemeinen Struktur entworfen hat, nun auf seine eigene individuelle Person. Das Ich des „Selbstgespräches“ ist in diesem Sinne kein fiktionaler auktorialer Erzähler, sondern ein wirklicher Indexausdruck einer individuellen Subjektivität. – Der Titel nun signalisiert, dass es Spalding ganz darauf ankommt, dass die Form des Soliloquiums von ihm nicht nur als eine mögliche literarische Form für die Darstellung der „Bestimmung des Menschen“ verstanden wird, sondern vielmehr deshalb von ihm gewählt wurde, weil die je individuelle Selbstprüfung im Horizont der Frage nach der Bestimmung des Menschen in der Form des Selbstgespräches ihre adäquateste Form gefunden hat, und weil die Bestimmung des allgemeinen sowie individuellen Menschen das eigentliche Thema eines Selbstgespräches darstellt. Damit wird für das Motiv Spaldings, diese Form zu wählen, zweierlei deutlich: Der Leser der Bestimmungsschrift wird in derjenigen Form über die allgemeine Bestimmung des Menschen informiert, in der er auch die individuelle Betrachtung seiner selbst zu gestalten hat; und dem Rezipienten wird die eigentliche Tiefenschicht eines soliloqueren Selbstumgangs exemplarisch vermittelt. Abschließend soll anhand einer Passage exemplifiziert werden, inwieweit in Spaldings Verständnis der individuellen Selbstthematisierung die anthropologischen Überlegungen mit allgemeinem Geltungscharakter und die je individuellen biographischen Rekapitulationen ineinander übergehen: „Unfehlbar ist meine Seele zu etwas grosses [sic!] aufgelegt und bestimmet: Zur Ordnung, Rechtschaffenheit, und Güte, und zu Empfindungen der Ewigkeit; und wenn das in mir herrschet, wenn ich recht und gut, und auf die Zukunft gehörig gefasst bin, so bin ich auch ruhig und glücklich. Dieß ist die einzige lautere Quelle meiner innerlichen Zufriedenheit und Freude. So oft mein Gemüth in Unordnung gerathen ist, so oft ich mich von einer Ungerechtigkeit, oder Falschheit, oder niedrigen Leidenschaft habe hinreissen lassen, so oft ist der Friede aus meinem Herzen geflohen, und ich habe mich nicht ehe wieder mit mir selbst aussöhnen können, als bis ich mich der in mir richtigen Wahrheit unterworfen, mich verdammet und gebessert habe.“77 Spalding fasst in einem ersten Schritt die Essenz der Bestimmungsschrift zusammen, indem er so knapp wie sprachgewandt den Bogen von der Tugend bis zur Unsterblichkeit sowie zur Glückseligkeit und Freude spannt. Dann geht er unmittelbar von diesen allgemeinen Bestimmungen, die er im Präsens darstellt, in die im Perfekt gefasste biographische Retrospektive über, in der er nun diese anthropologischen Allgemeinhinsichten auf die moralisch-religiöse Entwicklung seiner eigenen Person appliziert. Jedoch wäre der Status des Selbstgespräches unterbestimmt, würde man ihn auf die Applikationsfunktion innerhalb der Sequenz Bestimmungsschrift – „Selbstgespräch“ in Bezug auf die Person Spaldings beschränken. Vielmehr stellt dieser kleine Text aufgrund 77 Spalding,
Selbstgespräch, S. 207 f. [S. 77].
2. Literarische Form und Reflexionsstruktur der Bestimmungsschrift
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der Publikation und intendierten Rezeption einen exemplarischen Fall sowie gleichsam einen Imperativ an den an sich selbst interessierten Leser dar, seinerseits die Betrachtung der allgemein-subjektiven Bestimmung des Menschen auf die eigene individuelle Existenz in der Form eines Selbstgespräches anzuwenden bzw. den eigenen Selbstumgang in einen allgemeinanthropologischen wie auch individuellen Horizont einzurücken. Wir können das Ergebnis zusammenfassen: „Spaldings Darstellungsverfahren erscheint wie eine Vorwegnahme dessen, was sechzig Jahre später dann Hegel als ‚Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins‘ bezeichnete, die dessen ‚sich vollbringende[m] Skeptizismus‘ gewissermaßen nur zusieht.“78 Dieser Deutung Ulrich Barths ist nicht nur einfach zuzustimmen. Vielmehr lotet sie mit ihrem Vergleich von Spaldings Bestimmungsschrift mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ das Niveau aus, auf das der Aufklärungstheologe die Form der Selbstanalyse des humanen Bewusstseins bereits um 1750 zu stellen beginnt. Auch wenn Spalding keine Phänomenologie des Geistes im Sinne Hegels vorgelegt hat, so kann für dessen Methode und Rhetorik durchaus der Titel einer Phänomenologie des anthropologischen Selbstbewusstseins vergeben werden. Dass Spaldings Bestimmungskonzept gerade aufgrund seiner subjektivitätstheoretischen und methodischen Struktur ohne Weiteres in eine Entwicklungslinie mit dem Deutschen Idealismus gestellt werden kann, lässt nicht zuletzt Fichtes „Bestimmung des Menschen“ als durchaus plausibel erscheinen, der im expliziten Anschluss an Spalding auch die Form des Selbstgesprächs und die Methode des gedanklichen Fortschreitens wählt, um „eine souveräne Darstellung der eigenen Lehre in populärer Absicht“79 vorzulegen. Spaldings Bestimmungsschrift stellt mithin ein eindrückliches Dokument der „Pluralisierungs‑ und Subjektivierungsvorgänge im religiösen Diskurs“80 der Aufklärung dar. Hatte Johann Salomo Semler gut 20 Jahre später die weitreichenden und unhintergehbaren Differenzen zwischen Religion und Theologie sowie privater und öffentlicher Religion als Grundprinzipien der theologischen Reflexion zu Bewusstsein gebracht, so scheint Spalding jeweils auf der Grenze zu stehen: Zum einen verfasst er seine Schrift als lutherischer Theologe und zugleich als ein an seiner moralischen und religiösen Bestimmung interessiert-gebildeter Bürger und „Laie“, zum anderen stellt sie ein Dokument privater religiöser Reflexion dar und zugleich wendet sie sich an eine interessierte Öffentlichkeit, jedoch jenseits dogmatisch kontrollierter und kultisch vermittelter kirchlichoffizieller Religionskultur.
78 Barth,
Mündige Religion, S. 223. Bestimmung des Menschen, S. 482. 80 Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 57. 79 Zöller,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
3. Die bestimmungslogische Struktur des anthropologischen Naturbegriffes Mit dem Bestimmungsbegriff nimmt Spalding für die Überschrift seines anthropologischen Konzeptes einen formalen Begriff in Anspruch, mit dem er zunächst keinerlei materiale Aussage darüber macht, was er der Sache nach über den Menschen zu sagen hat. Neben der Überschrift kommt der Begriff der Bestimmung in der Schrift selber zweimal81, das Verb bestimmen insgesamt viermal vor82. Legen wir die allgemeine begriffslogische Unterscheidung von begrifflicher Determination bzw. Ist-Bestimmung und teleologischer Soll-Bestimmung zugrunde, so lassen sich die Begriffsbedeutungen der meisten Belegstellen der letzteren Bedeutungsebene des Bestimmungsbegriffs zuordnen. Jedoch: „ ‚Bestimmung‘ ist von vorherein final zu lesen; es wird an den Anfang die Frage gestellt, wozu, nicht wodurch der Mensch bestimmt ist.“83 Wir können folglich von diesem ersten bestimmungsterminologischen Befund her feststellen, dass es Spalding vom Titel her um die teleologischen Bestimmungen zu tun ist, die für das Selbstverständnis des Menschen sowie dessen Lebensführung von Bedeutung sind. Diese Feststellung ist jedoch im Blick auf die Bestimmungsschrift im Ganzen dahingehend zu relativieren, als Spalding dann innerhalb der Erörterung bzw. Selbstreflexion der humanen Soll-Bestimmung der Sache nach auch faktische Bestimmtheiten des Menschen bzw. die Anlage und Vorfindlichkeit des menschlichen Daseins als Bedingung der Möglichkeit der Frage nach der Soll-Bestimmung thematisiert. Diese betreffen vor allem die psychischen und kognitiven Dispositionen humaner Existenz. Es gilt eben zu erfahren, „was wir seyn sollen“ und „was wir sind“84. Mit dieser anthropologischen Doppelfrage spielt Spalding nach dem Urteil Barths auf eine „strukturelle Aporie“ der „Selbstdeutung des Menschen“ an: „Jeder Mensch trägt seine Natur in sich selbst. Sie existiert für ihn zunächst aber nur als unbestimmte Anlage, die der aktiven Erkundung und Gestaltung bedarf. Damit nimmt sie den Doppelcharakter von Faktum und Entwurf an. Die Verständigung über das eigene Dasein zerfällt in deskriptive und präskriptive Bestimmungen: Wer bin ich, was soll ich sein?“85 Die an Heideggers existentialanalytische Grundunterscheidung von Faktum und Entwurf86 sowie an die ethiktheoretische Differenz von deskriptiver und präskriptiver Ethik87 anspielende Terminologie Barths verrät sowohl die existentielle wie auch ethische bzw. lebenspraktische Tiefendimension des Themas der Bestimmungsschrift. 81 Spalding,
BdM, S. 22; 24 [S. 23; 25]. S. 10; 13; 16; 24 [ S. 12; 15; 18; 26]. 83 Brandt, Bestimmung des Menschen, S. 64. 84 Spalding, BdM, S. 32 [S. VIII]. 85 Barth, Mündige Religion, S. 222. 86 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, u. a. § 31, S. 147 f. 87 Vgl. bspw. Hepfer, Philosophische Ethik, S. 23 f. 82 Ebd.,
3. Die bestimmungslogische Struktur des anthropologischen Naturbegriffes
353
Während im Folgenden der Fokus auf der teleologischen resp. präskriptiven Hinsicht liegen soll, können aufgrund der Wechselbedingtheit beider anthropologischen Perspektiven die faktisch-strukturellen Bedingungen als Bedingungen der Möglichkeit von Sollbestimmtheit nicht unberücksichtigt bleiben. Zudem ist der final gemeinte Bestimmungsbegriff zu einer ganzen Reihe von Begriffen ins Verhältnis zu setzen, die als semantisches Umfeld des Bestimmungsbegriffes fungieren und die zum Verständnis dieser Grundkategorie von Bedeutung sind. Diese ergeben sich aus der Analyse des Bestimmungsbegriffes selber, der wir uns nun widmen wollen. Innerhalb des Tugendabschnittes findet sich die prinzipiellste Fassung des Bestimmungsbegriffes, wenn Spalding das nach sich selbst fragende Subjekt hinsichtlich der eigenen Person feststellen lässt, „daß ich also überhaupt in einem jeden Augenblicke meines Lebens das seyn möge, wozu meine Natur und die allgemeine Natur der Dinge mich bestimmen“88 Zunächst wird hier bereits an der syntaktischen Konstruktion des finalen Satzgefüges deutlich, dass die Bestimmung des Menschen eine Telosbestimmung darstellt. Diese betrifft nicht das faktische Sein des Menschen, sondern vielmehr das ‚Wozu‘ seiner Existenz. Dieser teleologischen Struktur entspricht auf der Seite des sich seiner Bestimmung bewusst werdenden Subjektes eine aktive, genauer eine ethische Einstellung zu dieser Selbsterkenntnis, insofern es nicht das ist, ‚wozu‘ es bestimmt ist, sondern es allererst ‚seyn möge‘. Es ist in unserem Kontext unerheblich, dass Spalding hier nicht von einer Sollforderung, sondern vielmehr von einer je subjektiv selbstgetroffenen Willensforderung spricht. Mit anderen Worten: Die Kognition der kontrafaktisch-teleologischen Bestimmung evoziert ein Wollen, eine Volition89, dieses Ziel auch am Orte des eigenen Subjektes zu realisieren. Dieses Wollen betrifft nun aber nicht nur partikulare Momente des eigenen Daseins, sondern die Ganzheit des Lebens. Denn es handelt sich mit der Bestimmung meiner ‚Natur‘ nicht um einzelne Aspekte humanen Daseins, sondern um eine letzte Ziel‑ bzw. Totalperspektive, die demgemäß auf Seiten der ethisch-volitiven Konsequenz ‚jeden Augenblick meines Lebens‘ betrifft. Man könnte nun vom tugendtheoretischen Kontext des Zitates her vermuten, dass die Korrelation von teleologischer Bestimmung und volitiver Einstellung zur Erkenntnis der eigenen Bestimmung auf die Bestimmung zur Moralität restringiert wäre. Es ist jedoch vielmehr so, dass diese Korrelation eine Struktur des teleologischen Bestimmungsbegriffes allgemein darstellt und auch jenseits der moralischen Bestimmung auf die religiöse Bestimmung und die Bestimmung zur Unsterblichkeit zutrifft. Denn auch die beiden letzteren evozieren bei dem sich
88 Spalding,
BdM, S. 13 [S. 15]. wähle den eher ungebräuchlichen Begriff der Volition, weil er das terminologisch adäquate Äquivalent zum Kognitionsbegriff darstellt (vgl. Goschke, Volition). 89 Ich
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
seiner Bestimmungen bewusst werdenden Subjekt volitive Reaktionen, sich auch schließlich diesen Bestimmungen gemäß zu verhalten. Fragen wir nun, worin sich die Bestimmung begründet. Das Zitat bringt die Natur des Menschen einerseits und die allgemeine Natur der Dinge andererseits ins Spiel. Damit sind zwei für Spaldings anthropologisches Konzept zentrale Theoreme benannt: die Natur des Menschen im engeren Sinne und mit dem Begriff der ‚allgemeinen Natur der Dinge‘ dasjenige, was Spalding auch als Ganzes, Ordnung bzw. Welt bezeichnen kann. Zunächst zur Natur des Menschen. Der Naturbegriff wird von Spalding in der Regel nicht als naturwissenschaftliche Bezeichnung des „Insgesamt alles natürlichen Seienden“90 verwendet, sondern vielmehr im Sinne der Bezeichnung des Wesens eines bestimmten Dinges bzw. einer bestimmten Entität. Hierbei geht es um die „begriffliche oder empirische oder normative Struktur[en] der in Rede stehenden Sache“91. Damit steht der Naturbegriff in einer Dialektik: Einerseits bezeichnet er das, was das sich selbst erforschende Ich bzw. der Mensch allgemein als das seinem Wesen Gemäße empirisch erkennt und zur Geltung bringt. Dies stellt primär die Tugend dar: „So ist also gewiß eine Art von Neigungen eine Quelle der Handlungen in mir, die von meiner Eigenliebe wesentlich unterschieden ist, und doch eben so wesentlich zu meiner Natur gehöret.“92 Es stellt sich nun jedoch die Frage, inwieweit die Bestimmtheit der tugendhaften Neigungen bzw. Handlungen als wesentlich zur Natur des Menschen gehörig ihrerseits als Bestimmungsgrund fungieren kann, oder anders gefragt: Wie kann die Tugend als Natur des Menschen zugleich noch die teleologische Bestimmung des Menschen darstellen? Diese Frage begründet sich darin, dass der Naturbegriff andererseits neben der empirischen Faktizität einer Sache – hier des Menschen – eine normative Bedeutung erhalten kann, wenn die in Frage stehende Sache über eine teleologische Struktur verfügt. Der Mensch wird sich der Tugend als seiner faktischen wesensmäßigen Natur bewusst, zugleich aber auch, dass diese Natur keine notwendige, sondern nur eine mögliche Faktizität darstellt. „Die Natur ist also Sein und Sollen, Wirklichkeit und Norm in Einem.“93 Daraus folgt, dass die Natur des Menschen als Sein bzw. Wirklichkeit nun wiederum als Sollen und Norm auf den Menschen zurückgewendet wird. Der Naturbegriff begründet in dieser normativen Bedeutung die Geltung des ermittelten Bestimmungsbegriffs als einer gültigen Telosdefinition des Menschen. Neben die anthropologische Bedeutung des Naturbegriffes stellt Spalding im obigen Zitat die ‚allgemeine Natur der Dinge‘. Die Bestimmungsschrift durchzieht als ganze eine kosmologische Reflexionsebene, auf die wir jedoch erst im Kontext der Analyse des Religionsbegriffes ausführlicher eingehen werden. 90 Hager,
Natur, Sp. 421. Natur der Sache, Sp. 479. 92 Spalding, BdM, S. 10 [S. 12]. 93 Kondylis, Die Aufklärung, S. 349. 91 Dreier,
3. Die bestimmungslogische Struktur des anthropologischen Naturbegriffes
355
Bereits der erste Satz der kleinen Schrift richtet die Perspektive darauf, dass ein introspektives Selbstverständnis nicht ohne die Einbeziehung der Selbst‑ in eine Weltdeutung möglich ist: „Ich sehe, daß ich die kurze Zeit, die ich auf der Welt zu leben habe, nach ganz verschiedenen Grundregeln zubringen kann ….“94 Das fragende Ich begreift sich nicht als isolierte Entität, sondern in seiner Verortung in der Welt. Von daher ist es nicht nur die eigene menschliche Natur, sondern darüber hinaus die Natur der Dinge bzw. des Ganzen, die den Menschen prädisponiert. Das räsonierende Subjekt wird sich bewusst, dass „sich die Dinge in der Welt aufeinander beziehen und gegeneinander verhalten und in was für mannigfaltigen Verhältnissen ich selbst gegen andere Wesen stehe …“95. Der Mensch stellt zum einen allgemein fest, dass die Entitäten relational auf einander bezogen sind und zum anderen, dass der Mensch sich immer selbst nur in diversen Relationen innerhalb dieses Seinsgefüges vorfindet. Aus diesem Grunde kann nach Spalding auch das Telos des Menschen nicht unabhängig von diesem Kontext gedacht werden. Die Bestimmung zur Tugend ist essentiell auf die Natur der Dinge bezogen, da sich die Tugend ihrem Wesen nach allererst in der Relation zur Welt konstituiert. Die Natur des Menschen als einer moralischen Natur und als Bestimmungsgrund verweist per se auf die Natur des Ganzen, denn Moralität stellt in der Bestimmungsschrift das dem Menschen gemäße innere und äußere Verhalten gegenüber dem Ganzen der Welt dar. Dieses ist deshalb bei der Frage nach der eigenen Bestimmung ins Kalkül zu ziehen, weil es wegen des „unveränderlichen Wesen[s] der Dinge“ „nicht bey mir stehet, die Beziehungen der Dinge unter einander … zu ändern“96. Aus diesem Grunde kann Spalding die Bestimmung des Menschen auch formal so definieren, dass die menschlichen „Empfindungen, Neigungen und Handlungen mit diesen Verhältnissen aufs genaueste übereinstimmen mögen“97. Wie auch immer die Bestimmung inhaltlich – sei es ethisch oder religiös – zu fassen ist, sie stellt sich als eine Übereinstimmungsrelation dar zwischen den je eigenen Einstellungen, Handlungen und Lebensäußerungen auf der einen und den Verhältnissen der Dinge auf der anderen Seite: „Wenn ich bey einem Blick auf mein Inwendiges, in meinen Empfindungen Richtigkeit, in meinen Begierden Ordnung, in meinen Handlungen Uebereinstimmung wahrnehme; wenn ich sehe, daß in meinem Gemüthe alles wahr ist, daß darin alles den wesentlichen Verhältnissen der Dinge gemäß bestimmet ist, so erwecket dieser Anblick eine Wollust in mir, die über alles sinnliche Misvergnügen triumphiret.“98 Auf Seiten des Bestimmungsbegriffes selber kommt nun dessen naturbegriffliche Dimension insofern zum Tragen, als ihm Spalding ein Begriffsfeld gegen94 Spalding,
BdM, S. 1 [S. 3]. S. 12 [S. 14]. 96 Ebd., S. 13 [S. 14]. 97 Ebd., S. 12 [S. 14]. 98 Ebd., S. 10 [S. 12]. 95 Ebd.,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
überstellt, in dem die Begriffe der Einrichtung, Fähigkeit und nicht zuletzt der Anlage zu stehen kommen. Während der Bestimmungsbegriff die Teleologie der Natur des Menschen bezeichnet, fungieren die genannten Begriffe als solche Kategorien, die die essentielle Potentialität der humanen Natur zum Ausdruck bringen. Der Begriff der „anfänglichen“99 bzw. „ursprüngliche[n] Einrichtung meiner Natur“ bezeichnet die Voraussetzung dazu, „meine Absichten“100 auch dieser Disponiertheit gemäß auszurichten. Im Kontext des Unsterblichkeitsabschnittes verwendet Spalding den Begriff der Anlage und der Fähigkeit, die den Potentialitätscharakter terminologisch am prägnantesten fassen: „Die Anlage scheinet ganz offenbar dazu in meiner Natur gemacht zu seyn. Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind …“101 Allein aufgrund der Wahrnehmung dieser Konstitution und deren potentieller Struktur wird sich das Subjekt seiner teleologischen Bestimmung bewusst, die im Modus eines Entwicklungsprozesses in eine aktuale bzw. reale Bestimmtheit überführt werden soll. Mit dem Begriff des ‚Anfänglichen‘ als Explikat der Anlagestruktur der menschlichen Natur ist zugleich indirekt dasjenige semantische Umfeld umrissen, welches sich bei Spalding um den Bestimmungsbegriff als Telosbegriff bildet. Während die Anlage bzw. Einrichtung als Anfang zu einer relativen Geltung gebracht wird, verwendet Spalding als Explikation der Bestimmungsstruktur des Menschen auch die Begriffe „Absicht“102, ‚Ziel‘ und ‚Zweck‘, um deren telelogische Struktur auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen. Am Ende des Abschnittes zum Vergnügen des Geistes und damit an einer in der Logik der soliloqueren Selbsterforschung zentralen Stelle verwendet Spalding nicht den Begriff der Bestimmung, sondern den des Zweckes, indem er das Ich fragen lässt: „Und habe ich keinen andern natürlichen Zweck, keine andere natürliche Begierde in meiner Sele, als meinen Nutzen?“103 Die Frage des Menschen nach seiner Bestimmung stellt also die Frage nach seinem Zweck dar, der in der Natur resp. natürlichen Anlage begründet ist, was Spalding hier mit dem Epitheton ‚natürlich‘ zum Ausdruck bringt. Ganz am Ende der Schrift und damit ebenfalls an rhetorisch exponierter Stelle, bringt Spalding den Bestimmungsbegriff unmittelbar mit dem Zielbegriff in Verbindung, wenn er das introspektive Ich abschließend sagen lässt, „daß ich … also das große Ziel desto mehr erreichen werde, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, nämlich rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn.“104 Hier kommt der Zielbegriff als ein Relat des 99 Ebd.,
S. 17 [S. 18]. S. 11 [S. 12]. 101 Ebd., S. 20 f. [S. 22]. 102 Vgl. ebd., S. 2; 16 f.; 21 [S. 4, 18, 22]. 103 Ebd., S. 7 [S. 9]. 104 Ebd., S. 24 f. [S. 26]. 100 Ebd.,
3. Die bestimmungslogische Struktur des anthropologischen Naturbegriffes
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Bestimmungsbegriffes zu stehen: Die Bestimmung des Menschen im Sinne einer teleologischen Bestimmung ist auf ein Ziel bezogen, was hier auch syntaktisch durch die Konjunktion ‚dazu‘ sowie terminologisch eben durch den Zielbegriff zum Ausdruck kommt. In dem Zitat tritt neben die Natur des Menschen und die Natur der Dinge ein Drittes, welches von Spalding als Bestimmungsgrund ins Spiel gebracht wird: ‚mein Urheber‘. Hatte Spalding den Naturbegriff als den dem Menschen immanenten Bestimmungsgrund namhaft gemacht, geht er nun im Kontext des Unsterblichkeitsabschnittes auf die Reflexionsebene, auf der er die Frage nach dem Grund wiederum der Natur und der mit ihr verbundenen Bestimmung in den Blick nimmt. Der Urheberbegriff verweist in seiner Formalität auf den Reflexionscharakter dieser kausalen Relationsbestimmung des ‚Woher‘ und des Aktivums der Bestimmung des Menschen. Beide Hinsichtnahmen evoziert die relationale Struktur des Bestimmungsbegriffs selber: Insofern als die Natur letztlich nicht als aktives Subjekt der Bestimmung des Menschen zu stehen kommen kann, sondern vielmehr in dieser Hinsicht als bestimmendes nur als potentieller Träger dessen, welches es zugleich bestimmt, stellt sich für Spalding die Frage nach einem realen Grund und logischen Subjekt der Bestimmung. Damit ist zugleich das Kausalitäts‑ als auch das Spontaneitätsmoment definiert, welches in der relationalen Struktur des Bestimmungsbegriffs angelegt ist, dem wir uns ausführlich in der Analyse der Religions‑ und Unsterblichkeitskonzeption widmen (vgl. V.8.3). Damit ist jedoch ein weiterer Aspekt des Bestimmungsbegriffs indirekt angesprochen. Alle drei Vorkommen des Bestimmungsbegriffes im Unsterblichkeitsabschnitt thematisieren die Qualität der Bestimmung. Der Mensch ist nicht zur Niedrigkeit bestimmt, sondern zur Hoheit: „Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen.“105 Das „große Ziel …, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin“106, die „grosse[n] Ansicht meiner Bestimmung“107 stellt die Unsterblichkeit dar, die moralische Vollkommenheit und die damit koinzidierende Vollendung in der Glückseligkeit in dem durch die Unsterblichkeit verewigten Vervollkommnungsprozess. Demzufolge versteht Spalding die Bestimmung zur Tugend nicht als einfache Realisierungsstruktur, sondern diese gewinnt durch das Moment der Annäherung den Charakter einer unendlichen Approximation. Neben dem Aspekt der Perfektibilität ist eine zweite Hinsicht der Hoheit namhaft zu machen: Die Bestimmung des Menschen verfügt auch über eine werttheoretische Dimension: „Wie sehr wird nun nicht durch diese grosse Erwartung [scil. Unsterblichkeit; G. R.] mein Wehrt und meine Bestimmung erhöhet. Ich erkenne 105 Ebd.,
S. 16 [S. 17 f.]. S. 24 f. [S. 26]. 107 Ebd., S. 24 [S. 25]. 106 Ebd.,
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nunmehr, daß ich zu einer ganz andern Klasse von Dingen gehöre, als diejenigen sind, die vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und vergehen; und daß dieses sichtbare Leben nicht den ganzen Zweck meines Daseyns erschöpfe.“108 Der introspektive Mensch entdeckt an sich insofern einen Wert, als er sich vermittels seiner Bestimmung zur Unsterblichkeit aus dem Ganzen aller Dinge ‚erhöhet‘ weis. Das Wertbewusstsein stellt sich hier als ein Differenzbewusstsein zu der ‚Klasse von Dingen‘ dar, die in der Diesseitigkeit ihre Bestimmung haben und erfüllen. Dem axiologischen Moment der Bestimmungsschrift wird im Abschnitt 6 nachzugehen sein. Das Bewusstwerden der Unsterblichkeitsbestimmtheit des Menschen und damit der Hoheit bzw. des Wertes seiner selbst hat zum dritten aber auch die Funktion der Vergewisserung über die Bestimmung zur Moralität: „Ein so edler und wichtiger Einfluß von dieser grossen Ansicht meiner künftigen Bestimmung in die ganze Verfassung meiner Sele meines Verhaltens würde verursachen, daß ich mich aufs möglichste hüten würde, sie falsch zu finden, wenn sie es auch seyn könnte.“109 Erst das Wissen um die Ewigkeitsoption des eigenen Daseins kann den latenten Zweifel an der moralischen Fähigkeit unterminieren. Auch darauf werden wir im Kontext der Analyse des Unsterblichkeitsbegriffes zurückkommen (vgl. V.8.3).
4. Bestimmung zum Glück Sucht man in der „Theologischen Realenzyklopädie“ (TRE) noch vergeblich nach dem Stichwort „Glück“ bzw. „Glückseligkeit“, so indiziert die Aufnahme in die vierte Auflage von der „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG)110 eine seit ca. 10 Jahren wahrnehmbare vorsichtige theologische resp. theologiegeschichtliche Rehabilitierung dieser Grundkategorie.111 Während Jörg Lauster in seiner umfassenden Aufarbeitung des christentumsgeschichtlichen Glücksdiskurses der Aufklärungsepoche zwar ein eigenes Kapitel widmet, dort aber auf die Aufklärungstheologie (im engeren Sinne) nicht eigens eingeht112, so würdigte erstmals die Habilitationsschrift Johann Hinrich Claussens die exklusive Rolle der Neologie in der Wiedergewinnung des Glücksbegriffs: „Nur eine einzige Strömung protestantischer Theologie und Frömmigkeit hat den Glücksbegriff 108 Ebd.,
S. 22 [S. 23]. S. 24 [S. 25]. 110 Vgl. Gilhus/ Steinmann / Sarot / Lange, Glück / Glückseligkeit. 111 Hier sei eine Auswahl neuerer Literatur genannt: vgl. Leonhardt, Der neuzeitliche Niedergang des klassischen beatitudo-Verständnisses; ders., Luthers Rearistotelisierung der christlichen Ethik; ders., Möglichkeiten und Grenzen einer Philosophie des Glücks; Claussen, Glück; Lauster, Gott und das Glück; Gerber, Glück haben – Glück machen; Roth, Zum Glück; Disse, Gott und die Frage nach dem Glück. 112 Vgl. Lauster, Gott und das Glück, S. 98–111. 109 Ebd.,
4. Bestimmung zum Glück
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explizit in das Zentrum ihres Nachdenkens gestellt: die Neologie. Die deutschen Aufklärungstheologen des 18. Jahrhunderts haben also auch, was den Glücksbegriff angeht, Epoche gemacht.“113 Diesem theologiegeschichtlichen Globalurteil Claussens ist hinsichtlich seiner impliziten negativen und positiven These ohne Umschweife zuzustimmen. Nur innerhalb dieser neuprotestantischen Epoche vermochte es der Glücksbegriff als anthropologische, moralphilosophische, religionstheoretische, soteriologische und eschatologische Kategorie die Heils‑ und Seligkeitssemantik systematisch zu substituieren und mit ihr ein neues Religions‑ und Christentumsverständnis zu begründen. Gotthilf Samuel Steinbart kann sogar von einer ‚Glückseligkeitslehre des Christentums‘ sprechen und damit die christliche Religion als ganze in eine glückstheoretische Klammer setzen114. Damit wurde ein Vertreter der späten Neologie benannt. Spalding als einem frühen Vertreter kommt auch im Blick auf die Entdeckung des Glücksgedankens für die christliche Popularphilosophie, Theologie und Frömmigkeit der Aufklärungsepoche eine zentrale Rolle zu. Bereits in seinen akademischen Qualifikationsschriften fällt der Begriff (vgl. I.2.1 f.)115, gewinnt dann im Rahmen der Shaftesburyrezeption an Relevanz (vgl. II.2 f.), avanciert in der Bestimmungsschrift zur integralen anthropologischen Zielbestimmung und bleibt auch in Spaldings späterem Oeuvre in diversen Themenkontexten präsent116. Mit der systematischen Anknüpfung unterschiedlichster materialphilosophischer Großbereiche wie Anthropologie, Moralphilosophie und Religionstheorie – um nur die wichtigsten zu nennen – an das natürliche Glücksstreben des Menschen stehen die Neologie und mit ihr Spalding innerhalb der Aufklärung nicht alleine da, sondern vielmehr in einer allgemeinen Entwicklungslinie, die in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt hat. Grunert spricht im Blick auf den Glücksgedanken von „einem Schlüsselbegriff des Zeitalters“ und fächert die deutsche Debatte nach drei Grundfragen auf, 1. die Frage nach dem Verhältnis zeitlichen und ewigen Glücks, 2. die Frage nach dem Verhältnis zwischen innerer und äußerer Glückseligkeit und 3. die Frage nach dem Verhältnis von Glück und Moralität.117 Die Konjunktur verbinden Grunert wie auch Schneiders in seinem einschlägigen Artikel im Lexikon der Aufklärung mit den Namen Leibniz’, Thomasius’, Wolffs, Gottscheds und Andreas Rüdigers118, welche drei letztgenannten in Spaldings geistigem Werdegang eine prägende Rolle gespielt haben, wie bereits gezeigt wurde (vgl. I.2; II.1). Spalding komme 113 Claussen,
Glück, S. 275. Steinbart, Glückseligkeitslehre des Christentums (1778). 115 In diesem Kontext wurde auf die Debattenlage aufmerksam gemacht, in der Spalding stand. 116 Ein Blick in die Begriffsregister der Kritischen Spaldingausgabe genügt, um wenigstens ein quantitatives Bild von der Relevanz des Glücksbegriffs zu bekommen. 117 Vgl. Grunert, Objektivität des Glücks, S. 352 f. 118 Vgl. ebd.; vgl. Schneiders, Glück. 114 Vgl.
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nach Grunert insofern eine begriffsgeschichtliche Bedeutung zu, als er zwar die Differenz von zeitlichem und ewigem Glück fortschreibt, jedoch „die strikte Entgegensetzung der beiden Glückseligkeiten tendenziell auflöst“119. Die folgende Analyse wird u. a. zeigen, dass Spalding auch zu den anderen von Grunert erörterten Verhältnisbestimmungen Substantielles beizutragen hat. Orientiert man sich bei der Frage, was Spalding unter der Bestimmung des Menschen versteht, an dem Aufriss der Bestimmungsschrift, dann ist man prima facie auf die Reflexionsstufen u. a. der Tugend, Religion und Unsterblichkeit verwiesen. Zieht man jedoch in Erwägung, woran sich diese Daseins‑ und Bewusstseinsformen bemessen lassen, so tritt die Frage in den Fokus, nach welchem Kriterium Spalding deren Gültigkeit ausweist, welches zugleich noch einmal als ein übergeordneter Zweck zu stehen käme, zu dem wiederum die genannten Bestimmungsstufen funktional in Relation stehen würden. Diesen Maßstab stellt – so die These – die Glückseligkeit dar. Die Bestimmungsschrift stellt eine in der Geschichte des Protestantismus erste Rechenschaft über den eigenen Glauben dar, „die sich am Begriff des Glücks orientiert“120. Insofern das Glück als das eigentliche Ziel des humanen Lebens zur Geltung gebracht wird, rücken die Lebensformen als Funktionen der Glückseligkeit in den Blick. Damit stellt die Reflexion darauf, ob mit der Sinnlichkeit, Tugend etc. wirkliche Glückseligkeit erlangt wird, ein Strukturmoment der soliloqueren Introspektion und damit der Bestimmungsschrift als ganzer dar. Bereits Ulrich Barth hat in seinen Beiträgen zu Spalding auf diesen Sachverhalt hingewiesen: „Als Ausgangspunkt wählt Spalding – in Einklang mit der Anthropologie Wolffs, Shaftesburys und der gesamten humanistischen Tradition seit der Antike – das natürliche Glücksstreben des Menschen.“121 Vor allem Shaftesbury komme auch in dieser Hinsicht für Spaldings Ansatz Bedeutung zu, weil dieser bereits in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Neoepikureismus zu dem Schluss gekommen sei, dass nur die betroffene Person selbst die Glücksvalenz verschiedener Optionen der Lebensführung evaluieren und somit eine „Stufenordnung des Glücks“122 entwickeln könne. Mit dem an sich formalen Begriff der Glückseligkeit verbinden sich für Spalding zwei inhaltliche Momente, nämlich zum einen der Affekt der Lust und des Vergnügens und zum anderen der psychologische Aspekt der Seelenruhe: Glück stellt sich bei der Empfindung von Lust und Vergnügen und dieses wiederum nur dann als wahre Lust ein, wenn sie eine beständige Lust und damit Seelenruhe bewirkt. Bereits die erste Bestimmungshinsicht, ob die „gemeinen Bestrebungen nach Reichtum und Ehre … dem wahren Zwecke des Menschen“ gemäß ist, wird ein 119 Grunert,
Objektivität des Glücks, S. 356. Glück, S. 282. 121 Barth, Mündige Religion, S. 222. 122 Barth, Theologia naturalis, S. 168. 120 Claussen,
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negatives glückstheoretisches Urteil beschieden. Das fragende Ich ist sich der „bloßen Einbildung“ dieser „Glückseligkeiten bewußt“ und fragt nach „wirklichern Empfindungen der Lust“. Die Frage entsteht also, ob etwas „wesentlichers, das meine Neigung rege machen kann, in der Natur vorhanden ist“123. Sie treibt das an seiner wahren Glückseligkeit interessierte Subjekt zur Betrachtung der Sinnlichkeit als Lebensform. Die „Vergnügen der Sinne“ stellen sich für das Ich nun gegenüber der materiellen Lebensform zweifellos als ein dem Menschen ‚wesentlichers‘ dar, scheint doch durch sie der dem Menschen bestimmende „Trieb zum Vergnügen“ am adäquatesten befriedigt: „Was will ich mehr, als Vergnügen, da ich allem Anschein nach zum Vergnügen gemacht bin?“124 Den Begriff des Vergnügens verwendet Spalding hier in einer doppelten Weise; zum einen als allgemeine anthropologisch-glückstheoretische Größe, zum andern im Sinne des spezifisch sinnlichen Vergnügens. Insofern das Vergnügen das Wesensmerkmal des sinnlichen Lebens darstellt, kann er an dieser Stelle das Epitheton „sinnlich“ auch aussparen. Hier signalisiert Spalding durch die finale Satzkonstruktion, dass der Begriff des Vergnügens eine teleologisch-bestimmungslogische Kategorie darstellt: Der Mensch ist zum Vergnügen bestimmt. Die Frage ist also nicht, ob das Vergnügen an sich dem menschlichen Wesen entspricht, sondern ob das sinnliche Vergnügen dem Trieb zum Vergnügen wirklich gerecht wird. Wie stellt sich nun die Struktur der Sinnlichkeit des näheren dar? Knüpfen wir an die zum Sinnlichkeitsabschnitt überleitende Frage an, so stellt sich zunächst die Frage, worauf sich die Neigung in der Sinnlichkeit bezieht. Das Relat der Neigung ist die „Natur und Gesellschaft“ als „unerschöpfliche Quellen der Lust, die meine Sinne nicht müßig werden lassen, wenn ich sie ihnen nur widmen will“. Die Neigung bezieht sich also auf natürliche und gesellschaftliche Phänomene, wodurch sich Lust bzw. Vergnügen einstellt. Dieses Vergnügen erzeugt nun eine eigene „Gattung von Begierden“, die wiederum nach ihrer Erfüllung im Vergnügen strebt. Jedoch stellt sich diese Art von Lust als eine solche dar, die der „Sele noch nicht Stille genug verstattet“125 und damit dem Kriterium der Glückseligkeit noch nicht Genüge tut. Worin besteht für Spalding die Defizienz des sinnlichen Vergnügens? Zwei Probleme macht Spalding namhaft. Zum einen problematisiert er die „beständige Abwechselung von sinnlicher Lust“126, die sowohl einen ruhigen Seelenzustand unterminiert als auch immer durch Unlustgefühle unterbrochen wird. Zum anderen zieht diese Lebensweise Krankheiten nach sich und damit den Inbegriff sinnlicher Unlust. Die Kalkulation der Folgen sinnlichen Daseins lässt also das sinnliche Vergnügen in einem sehr unvergnüglichen Licht erscheinen. Auch die Mäßigung und Enthaltsamkeit und das epikureische Leben eines 123 Spalding,
BdM, S. 2 [S. 4]. S. 2 [S. 5]. 125 Ebd., S. 3 [S. 5]. 126 Ebd. 124 Ebd.,
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„ordentliche[n] Wollüstling[s]“, welches Spalding zunächst das räsonierende Subjekt als Lösung in Erwägung ziehen lässt, kann die Aporien der Sinnenlust nicht lösen. „Ich unglückseliger!“127 ruft das zur Einsicht kommende Subjekt und zieht damit die Bilanz: Sinnliches Vergnügen – auch in seiner vernünftigsten und kultiviertesten Art – stellt nicht die letzte Erfüllung humaner Glückseligkeit dar. Es ist also nicht das Vergnügen als solches, welches hier desavouiert wird, sondern gerade der defiziente Modus des sinnlichen Vergnügens. Das Vergnügen des Geistes verspricht nun zunächst gegenüber der „Benebelung meiner Sinnlichkeit“ ein „Wohlgefallen …, worin meine Seele schon mehr Beruhigung findet“: „Noch mehr vergnügen mich die Vorzüge und Kräfte meines Geistes … Ich brauche alles, meinen Geist vollkommener zu machen.“128 Das Vergnügen richtet sich also auf die eigene geistige Vollkommenheit. Grundsätzlich erkennt das Ich die Naturgemäßheit dieser Lebenseinstellung an. Jedoch auch an dieser Art von Lust lässt Spalding das Subjekt ein Ungenügen entdecken. Dies besteht nicht in einer internen Aporetik dieses Vergnügens, sondern entspringt der Frage, ob das Verhältnis zu anderen Wesen ausschließlich durch ihren diesem Vergnügen und der geistigen Vollkommenheit zweckmäßigen SelbstBezug begründet ist: „Haben sie keinen anderen Zweck als mein Beßtes? Findet zwischen mir und ihnen kein anderes Verhältniß statt, als daß ich, gleich einem Mittelpunkt, alles andere auf mich ziehen darf?“ Würde diese Frage am Ende der Reflexion über die Daseinsform des geistigen Lebens stehen, hätte Spalding die lusttheoretische Argumentationsstrategie verlassen. Daher bezieht er den sich regenden Zweifel am Vergnügen des Geistes im letzten Satz des Abschnittes denn auch noch einmal auf den eigenen Zweck und die eigene Begierde: „Und habe ich keinen andern natürlichen Zweck, keine andere natürliche Begierde in meiner Sele als meinen Nutzen?“129 Seine zentrale Frage kann es also im Rahmen des allgemeinen glücks‑ und lusttheoretischen Reflexionshorizontes nicht sein, ob von der eigenen Begierde zugunsten der anderen Subjekte abzusehen sei, sondern ob der Mensch vielmehr am Nutzen der je anderen auch ein Vergnügen empfinden kann. Das nach anderen als sinnlichen und geistigen Begierden fragende Ich nimmt nun an sich eine andere Art von Neigung war, die sich auf moralische Phänomene, die Glückseligkeit anderer Wesen und letztlich auf ein allgemeines Bestes richtet. (Die in sich höchst komplexe Struktur der moralischen Empfindung wird im folgenden Abschnitt analysiert.) Es kommt uns hier darauf an zu zeigen, dass Moralität nicht etwa eine Lebensform ist, die der eigenen Lust, dem eigenen Vergnügen Abbruch tut. Spalding betont vielmehr, dass moralische Erleben und Reflexion auf allen Ebenen mit dem Begleitreflex des Vergnügens einhergehen. 127 Ebd.,
S. 5 f. [S. 7 f.]. S. 6 [S. 8]. 129 Ebd., S. 7 [S. 9]. 128 Ebd.,
4. Bestimmung zum Glück
363
Zum einen stellt sich bei dem unmittelbaren Gewahrwerden der Glückseligkeit anderer ein „Ergetzen“130 ein. Die Wahrnehmung dieses Vergnügens an fremder Glückseligkeit ist zugleich der argumentative Anknüpfungspunkt, zur lusttheoretisch begründeten Plausibilisierung der eigenen Moralität: „Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes, die mich so angenehm rühret, soll unveränderlich ein Gegenstand meiner ernstlichsten Bestrebungen, und meine eigene Glückseligkeit seyn.“131 Auch dieses moralische Bestreben ist wiederum in der Reflexion ein Gegenstand eines „rührende[n] Wohlgefallen[s]…, [eines] lebhaften Vergnügen[s]“132. Spalding kann geradezu in Analogie und zugleich im Sinne einer Überbietung zum sinnlichen Vergnügen von Wollust sprechen: „Wenn ich bey einem Blick auf mein Inwendiges, in meinen Empfindungen Richtigkeit, in meinen Begierden Ordnung, in meinen Handlungen Uebereinstimmung wahrnehme; wenn ich sehe, daß in meinem Gemüthe alles wahr ist, daß darin alles den wesentlichen Verhältnissen der Dinge gemäß ist, so erwecket dieser Anblick eine Wollust in mir, die über alles sinnliche Misvergnügen triumphiret.“133 Insofern nicht nur die eigene, sondern auch die Glückseligkeit eines je anderen Menschen ein Gegenstand des Wohlgefallens darstellt, kann sich auch bei der Begierde nach einem „allgemeine[n] Beßte[n]“134 als deren Erfüllung Vergnügen einstellen. Folgendes Zitat kann als eine treffende und bündige Zusammenfassung aller drei Aspekte verstanden werden: „Ich will mich gewöhnen, das Gute, das Glück, die Schönheit, die Ordnung allenthalben, wo ich es sehe, mit Lust zu sehen.“135 Demgemäß kann Spalding das moralische Vergnügen als „höheres Vergnügen“136 bezeichnen, welches damit nicht nur mit dem diagnostizierten allgemein menschlichen „Trieb zum Vergnügen“137 verträglich ist, sondern vielmehr das Vergnügen der Sinnlichkeit und des Geistes qualitativ überbietet. Die Vertiefung des moralischen Glücks besteht in der Verinnerlichungsdimension: „[U]nd was ich dann auch sonst in der Welt immer seyn mag, so bin ich doch innerlich glücklich, weil ich rechtschaffen bin.“ Damit wird auch hinsichtlich der ersehnten Seelenruhe ein höherer Erfüllungsmodus erreicht: „Hiedurch wird in meiner Sele ein Gleichgewicht, eine Heiterkeit und Ruhe zuwege gebracht, die über die Anfälle äusserlicher Widerwärtigkeiten weit hinaus ist. […] Dies allein ist eine unerschöpfliche Quelle der Gleichmüthigkeit und des Friedens, der in seiner Stille mehr wehrt ist, als alles Getöse sinnlicher Belustigungen.“138 Beides hängt 130 Ebd.
131 Ebd.,
S. 11 f. [S. 13]. S. 7 [S. 9]. 133 Ebd., S. 10 [S. 12]. 134 Ebd. 135 Ebd., S. 12 [S. 14]. 136 Ebd., S. 11 [S. 13]. 137 Ebd., S. 2 [S. 5]. 138 Ebd., S. 13 f. [S. 15]. 132 Ebd.,
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wesentlich zusammen: Die durch die Moralität bedingte Innerlichkeit des Glücks begründet auch die Ruhe der Seele. Denn dieser Glücksmodus wird nicht mehr von äußeren wechselnden Einflüssen tangiert. Jedoch lässt Spalding das reflektierende Ich auf der Stufe der moralischen Selbst‑ und Weltbetrachtung auch noch einmal Bezug nehmen auf die vorherigen Lebensanschauungen, die allesamt wenn nicht rehabilitiert, so doch auf eine höhere Ebene transponiert werden. Dies betrifft zunächst die Stufe der Ehrbegierde: „Wenn ich den Unschuldigen vertheidiget, den Elenden geholfen, den Nothleidenden gerettet sehe, so will ich mich dem Vergnügen, das ich darüber fühle, gänzlich überlassen, und mit diese Zärtlichkeit meiner Sele zu einer Ehre anrechnen, da sie so tief und wesentlich in meiner Natur gegründet ist.“139. Dieser höheren Art der Ehre des Menschen wird sich das Ich allererst im Durchgang durch die Endeckung der moralischen Einstellung zu sich und zur Menschheit bewusst. Das moralische Vergnügen, das moralisch-innerliche Glück und die neue Seelenruhe haben des Weiteren auch Konsequenzen für eine Neubestimmung und Neubewertung des sinnlichen Vergnügens an der Natur. Denn insofern an der moralischen Lust ein Sinn für Übereinstimmungs‑ und Proportionalitätsstrukturen, die für Spalding den Inbegriff von Schönheit darstellen, aufgeht, kommt die Natur noch einmal als ein ganz „neuer Gegenstand des Wohlgefallens“ zur Geltung. Nämlich nicht mehr nur als Quelle selbstbezüglicher sinnlicher Lust, sondern hinsichtlich ihrer „Schönheit und Regelmäßigkeit“. Diese Naturkontemplation setzt Spalding qualitativ von der bloßen Sinnenlust an der Natur auch insofern ab, als sich diese nicht nur als affektiver Reflex der sinnlichen Wahrnehmung darstellt, sondern sich vielmehr der „Erwägung [Hvhb. G. R.] dieser allgemeinen Schönheit“140 verdankt. Damit besteht die Betrachtung der Natur nicht nur in einer rezeptiven Wahrnehmung, sondern verdankt sich einer Reflexionsleistung der Urteilskraft, die sich auf naturinterne Zweckmäßigkeitsstrukturen bezieht. Sommer stellt dazu richtig fest: „Spaldings stufenweise Entwicklung des Zwecks menschlichen Daseins bedeutet also mitnichten eine gänzliche Überwindung der unteren Stufen etwa hin zu einem rein moralischen Geistwesen. Anthropologisch ist der junge Neologe offenkundig viel zu sehr Realist, um zu glauben, man könne Menschen durch gutes Zureden dazu bringen, ein allem Sinnlichen enthobener Engel zu werden. Vielmehr ist die von der Erbsündenhypothek befreite Sinnlichkeit sehr wohl konstitutiv für das Menschsein und daher gutzuheissen, so lange sie nicht die höhere sittliche Bestimmung des Menschen aushölt.“141
139 Ebd.,
S. 12 [S. 13]. S. 14 f. [S. 16]. 141 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 174. 140 Ebd.,
4. Bestimmung zum Glück
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Und letztlich wird auch das Vergnügen des Geistes allererst in der Moralität auf eine höhere Stufe gehoben: „[U]nd je mehr ich hernach meinen Geschmack an der Wahrheit, der Schönheit und der Ordnung geübet habe, desto feiner ist diese empfindende Fähigkeit meines Geistes, und desto rührender diese Lust geworden.“142 Das geistige Leben stellt sich damit nicht als von der moralischen Empfindung differenter modus vivendi dar, sondern letztere erfüllt im eminenten Sinne das Ziel des Vergnügens des Geistes, diesen nämlich „vollkommener zu machen“143. Indem Spalding die je vorherigen Stufen gleichsam auf einer höheren Reflexionsebene rehabilitiert, verfügt die Bestimmungsschrift über ein „integrative[s] Strukturprinzip“144. Dieses wiederholt sich auf den Stufen der Religion und der Unsterblichkeit in Hinblick auf die Tugend, jedoch aufgrund einer gänzlich anderen Begründung (vgl. V.8) Mit dem moralischen Vergnügen ist jedoch noch nicht die höchste Stufe der Glückseligkeit erreicht. Die moralische Vollkommenheit und Schönheit der Natur als ganzer lässt das räsonierende Ich die Frage nach deren letztem Grund stellen: Insofern Spalding die religiöse Anschauung an die Kontemplation in die Vollkommenheitsstrukturen der Natur samt der moralischen Natur des Menschen anknüpft, an der sich auch deren „höheres Vergnügen“ festgemacht hat, eröffnet er zugleich auch eine lusttheoretische Perspektive auf die Religion. „Da soll dann meine Sele ruhen. Da soll sie in allen ihren Fähigkeiten vergnüget, in allen ihren Trieben befriediget, satt von göttlichem Licht, und entzückt in den Verehrungen und Anbetungen der obersten allgemeinen Vollkommenheit, alles niedere und sich selbst vergessen.“145 Auch hier lässt Spalding das Subjekt auf die Reflexionsstufe der Ehrbegierde sich zurückbeziehen, die bereits im Modus der Moralität einen höheren und positiven Wert erfuhr und nun im religiösen Bewusstsein gleichsam auf ihre höchste Stufe gestellt wird: „Höher kann sich denn auch meine Ehrbegierde unmöglich erheben, als wenn ich dem gefalle, von dem alles Gute herfliesset; wenn der, der alles siehet, der mit einem Blick alle Empfindungen und Bewegungen in Millionen Welten durchschauet, wenn der mitten unter dieser Menge auch mich siehet und billiget.“146 Jedoch treibt die Reflexion auf die religiöse Betrachtung des „Ganzen“ die neue Glückseligkeit in eine Krise. Den argumentativen Ausgangspunkt nimmt Spalding zunächst vom Gedanken der prinzipiellen Übereinstimmungsrelation von Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit, insofern er nämlich die Tugend als Glückswürdigkeit begreift, und dem alles regierenden Geist, der durch seine 142 Spalding,
BdM, S. 14 [S. 15]. S. 6 [S. 8]. 144 Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XLII. 145 Spalding, BdM, S. 16 [S. 18]. 146 Ebd., S. 17 [S. 19]. 143 Ebd.,
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Vorsehung als deren Übereinstimmungsgarant zu fungieren hat: „In seiner Hand allein stehen auch meine Schicksale, und wenn ich mich nicht, durch meine Abweichung von den unveränderlichen Fürschriften des Wahren und Guten, der glückseligen Wirkungen seiner Fürsorge unfähig mache, wenn der Richter, den er in mir verordnet hat, mich nicht verdammet, so wird nichts von dem, was mir widerwärtig dünkt, mir wahrhaftig schaden können.“147 Betrachtet man dieses Argument genauer, wird deutlich, dass Spalding hier unter der Hand einen anderen Glücksbegriff einführt, der von dem moralischen Glücksbegriff unterschieden ist. Hatte sich die sittliche Glückseligkeit als eine solche erwiesen, die sich auf der moralischen Vollkommenheit und Schönheit begründet, so bedeutet Glückseligkeit nun unter diesem neuen Gesichtspunkt die äußere Glückseligkeit des Lebens ohne „Hunger und Blösse und Verachtung“ als „glückselige Folgen“ und „Lohn“148 der Tugend. Genau an dieser Übereinstimmung meldet das Ich in Hinblick auf ihre Erfüllung im endlichen Leben Zweifel an: „Ich folge hin und wieder den Schicksalen in diesem Leben mit meinen Beobachtungen bis ans Ende, und ich finde den Knoten nicht aufgelöst. Erst der Tod endiget hier die Unterdrückung der Tugend und dort das stolze Glück des Lasters.“ Dies zeitigt auch negative Rückwirkungen auf die religiöse Einstellung, denn es wird der „Begriff von einer herrschenden Ordnung verwirret“149 und somit auch die Glückseligkeit der Moralität so wie der religiösen Selbst‑ und Weltbetrachtung desavouiert. Spalding lässt durch diese offene Frage das Subjekt zur letzten Bestimmungsstufe hinaufsteigen, dem Gedanken der Unsterblichkeit. Hier sind wiederum zwei glückstheoretische Ebenen zu unterscheiden. Die eine betrifft die Glückseligkeit, die das Ich für die Ewigkeit erhofft. Der innovative Gesichtspunkt entspringt der zweiten Ebene: Denn worauf es Spalding ankommt, ist nicht nur die Spekulation über das dereinstige Glück, sondern zu allererst die Glückseligkeit, die das über die Vorstellung der Ewigkeit verfügende Subjekt schon im zeitlichen Leben gewinnt: „Es ist mir zu viel daran gelegen, daß sie [scil. große Ansicht von der künftigen Bestimmung; G. R.] wahr sey. Ich will also mein ganzes Gemüth immer mehr mit der trostvollen Vorstellung erfüllen, daß ich noch in einem andern Zustande zu leben habe, worin ich nach der Natur der Dinge, und nach der gütigen Regierung der höchsten Weisheit, nichts als gutes erwarten darf; daß ich also einmal, nach einer völligen Befreyung von den Thorheiten sowol, als den Plagen dieses Lebens, mich auf ewig mit der Quelle der Vollkommenheiten vereinigen, die ganze Wollust richtiger Neigungen unvermischt und ungestört geniessen, und also das grosse Ziel desto mehr erreichen werde, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, 147 Ebd.,
S. 18 [S. 19]. S. 19 [S. 20 f.]. 149 Ebd., S. 19 f. [S. 20 f.]. 148 Ebd.,
5. Die Struktur der Empfindung
367
nämlich rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn.“150 Nicht erst das dereinstige Leben in der Unsterblichkeit stellt einen Trost für den Menschen dar, sondern schon die ‚trostvolle Vorstellung‘ von diesem zieht gleichsam das jenseitige Glück als „ein emphatisches Glücksempfinden“151, Vergnügen und Seelenruhe (‚ungestört geniessen‘) in das Diesseits hinein. Indem Spalding – textpragmatisch sicherlich nicht zufällig – am Ende der Bestimmungsschrift noch einmal auf die Moralität gleichsam als Nutznießerin der Unsterblichkeitshoffnung und mit der ‚Quelle der Vollkommenheiten‘ auf die Religion Bezug nimmt, macht er deutlich, dass seine Unsterblichkeitsreflexion in einem funktionalen Verhältnis zur Moralität und Religion steht. Dem vorschnellen Urteil Sommers, das Ich „exiliert in eine bessere Jenseitswelt“ kann von hierher nicht zugestimmt werden, da die Unsterblichkeitshoffnung bei Spalding keine Jenseitsorientierung und damit einen Diesseitsverlust zeitigt, sondern vielmehr über den Gedanken der Unsterblichkeit die irdischmoralische Existenz absichert. Das Unsterblichkeitskonzept Spaldings steht ganz in einer diesseitigen Absicht. Sommer selbst konzediert seiner vorher geäußerten These schließlich relativierend, dass Spaldings Konzept nicht „notwendig eine Geringschätzung, eine Entwertung des Diesseits zur Folge habe“152.
5. Die Struktur der Empfindung Die zentrale Kategorie der Ethikkonzeption Spaldings in der Bestimmungsschrift stellt der Empfindungsbegriff dar. Dies zeichnete sich bereits im Kontext der Analyse der Shaftesburyübersetzungen und deren Vorreden ab, wo er ausführlich und ausnehmend positiv auf Shaftesburys Empfindungsbegriff rekurriert (vgl. II.2 f.). Es gilt im Folgenden die komplexe subjektivitätstheoretische und erkenntnistheoretische Struktur der moralischen Empfindung zu rekonstruieren. Dass der Empfindungs‑ und nicht der Tugendbegriff Spaldings moralphilosophischen Entwurf dominiert, ist zunächst verwunderlich. Denn der einschlägige Abschnitt der Bestimmungsschrift firmierte ab einer späteren Auflage unter der Überschrift „Tugend“. Diesen Terminus sucht man jedoch dort vergebens und findet ihn nur zweimal im Religionsabschnitt, wo er jedoch unspezifisch wie allgemein als Inbegriff des moralischen Lebens gebraucht wird153. 150 Ebd., S. 24 f. [S. 25 f.]. – Es ist bemerkenswert, dass Spalding hier mit der Verknüpfung von Rechtschaffenheit und Glück eine Formulierung aus dem Tugendabschnitt fast wörtlich wieder aufnimmt, jedoch hier das Glück nicht als innerliches Glück prädiziert (vgl. ebd., S. 14 [S. 15]): In der Unsterblichkeit – so kann man schlussfolgern – ist das Subjekt nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich glücklich. 151 Grunert, Objektivität des Glücks, S. 356. 152 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 184. 153 Vgl. Spalding, BdM, S. 19 [S. 20 f.].
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
Der Terminus ‚Empfindung‘ findet innerhalb der Bestimmungsschrift insgesamt 24 Mal, das Verb ‚empfinden‘ sieben Mal Verwendung. Bevor wir uns der moralischen Semantik dieses Begriffes widmen, seien die Vorkommen im Zusammenhang der Einleitung und der Bestimmungsstufen der Sinnlichkeit sowie des Vergnügens des Geistes hinsichtlich ihrer speziellen kontextuellen Bedeutungsmomente wie auch ihrer allgemeinen Struktur analysiert. Bereits der erste Beleg deutet zwei zentrale Sinnkomponenten an: „Manche Erfahrungen haben mich schon in Dingen von geringerer Wichtigkeit [scil. als die Frage nach der Grundregel des Lebens; G. R.] gelehret, daß die quälende Empfindung der Reue nach vollbrachten Handlungen nicht in meiner Gewalt ist.“154 Zunächst kommt die Empfindung hier als eine solche Bewusstseinsform zu stehen, der ein Gefühl der Unlust korreliert. Empfindungen verfügen mithin über eine lusttheoretische Dimension: Es sind „Empfindungen der Lust und des Schmerzens“155. Zudem stehen Empfindungen ‚nicht in meiner Gewalt‘, sie sind unverfügbar und stellen sich unvermittelt ein. Sowohl das Lust‑ als auch das Unverfügbarkeitsmoment können, so wird sich im Folgenden zeigen lassen, für Spaldings Empfindungsbegriff Allgemeingültigkeit reklamieren. Die Empfindung rückt Spalding sodann innerhalb des Sinnlichkeitsabschnittes mit der Formulierung, dass der Mensch „zum Empfinden lebe“156, in eine Ganzheitsperspektive des Lebens ein. Diese Entschränkung des Empfindungsbegriffs korrespondiert einerseits unmittelbar der glückstheoretischen Gesamtperspektive der Bestimmungsschrift, wobei die Lustdimension eine Scharnierfunktion zwischen beiden Relaten inne hat. Und sie hat andererseits mittelbar die Konsequenz, dass neben den Empfindungen der Sinne auch solche der Tugend, der Religion und Unsterblichkeitshoffnung zu erwarten sind, was sich in der weiteren Analyse dieser einschlägigen Sachzusammenhänge dann auch bestätigen wird. Kommen wir also zum im engeren Sinne moralphilosophischen Empfindungsbegriff. Die ethische Selbstentdeckungsstruktur – „da endecke ich“157 – nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Selbstwahrnehmung: „Ich habe vielfältig, zu meiner Verwunderung, Triebe und Empfindungen in mir wahrgenommen …“158 Das literarische Ich bezieht sich also gleichsam vermittels seines moralischen Erinnerungsvermögens auf Erfahrungen, die es unmittelbar mit eigenen moralisch valenten psychischen Phänomenen – ‚Triebe und Empfindungen‘ – gemacht hat. Auch diese sekundäre Erfahrung mit den eigenen Empfindungen stellt sich gleichsam unmittelbar ein: „Ja, wahrlich, ich kann es nicht läugnen: Ich spüre
154 Ebd.,
S. 1 [S. 3]. S. 2 [S. 4]; vgl. auch ebd., S. 4; 6 [S. 6; 8]. 156 Ebd., S. 5 [S. 7]. 157 Ebd., S. 7 [S. 9]. 158 Ebd. 155 Ebd.,
5. Die Struktur der Empfindung
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Empfindungen in mir …“159 Die erinnerten Wahrnehmungen werden rekapituliert und deren Inhalte in Hinblick ihrer Bedeutung für eine moralische Deutung des Menschen interpretiert. Spalding zählt zunächst sehr konkrete Vorkommnisse des ethischen Erlebens auf, in denen sich solche Empfindungen gezeigt haben, bspw. Scham und Reue. Diese Empfindung können wir als primäre Empfindung bezeichnen, während sich Tugend im engeren Sinn erst in der Reflektion auf diese Primärempfindungen konstituiert, die Spalding ebenfalls mit dem Terminus „Empfindung“ benennt. Insofern letztere von Spalding als „Empfindung des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts“160 bezeichnet wird, ist sie vermittelt durch einen zugrunde liegenden Begriff des Guten und Bösen, der sich gleichsam zwischen die primäre Empfindung und die sekundäre Empfindung schiebt und auf das wir im Folgenden zurückkommen werden. So unterschiedlich sie sind, der Empfindung gemein ist die Lustdimension, indem sie entweder „Ergötzen“, „rührende[s] Wohlgefallen oder Mißfallen“ oder „lebhafte[s] Vergnügen“ evoziert161. Damit bestätigt sich ein wesentliches Moment von Spaldings Empfindungsbegriff am Orte der moralischen Empfindung: Sie ist bestimmt von Lust oder Unlust. Damit verfügt die Empfindung moralischer Einstellungen und Handlungsverläufe über eine Dimension des Gefühlsmäßigen, welches sich als Erleben von Lust, Ergötzen und Vergnügen manifestiert. Dass Spalding selbst diese Empfindung als Gefühl bezeichnet, wird an einer Stelle deutlich: „Wenn ich den Unschuldigen vertheidiget, den Elenden geholfen, den Nothleidenden gerettet sehe, so will ich mich dem Vergnügen, das ich darüber fühle (Hvhb., G. R.), gänzlich überlassen …“162 An anderer Stelle spricht Spalding in eben dem Sinne vom „Gefühl dieses hohen Ergetzens“163. Insofern das Subjekt verlangt, „was anmuthiges zu fühlen“164, findet das nach sich selbst fragende Ich auch ein Streben nach solchen empfindenden Gefühlen der Lust in sich, welches Spalding mit den Begriffen des Triebes165 und der Begierde166 nach moralischem Verhalten bzw. moralisch valenten Sachverhalten bezeichnet. Sowohl das Erleben von Moralität als auch die moralische Empfindung selber ist aufgrund des damit immer verbundenen Lustgefühls durch eine Strebestruktur gekennzeichnet. Diese erfasst Spalding auch unter dem Begriff der „Neigung der Güte“167. Bezüglich des zu klärenden Verhältnisses von Empfindungs‑ und Gefühlsbegriffs lassen sich über die nur wenigen Belegstellen für den Gefühlsbegriff 159 Ebd.,
S. 8 [S. 10]. S. 17 [S. 18]. 161 Ebd., S. 7 [S. 9]. 162 Ebd., S. 12 [S. 13]. 163 Ebd., S. 14 [S. 15]. 164 Ebd., S. 9 [S. 11]. 165 Vgl. ebd., S. 7; 8; 9; 11 [S. 9; 10; 11; 13]. 166 Vgl. ebd., S. 7; 9 [S. 9; 11]. 167 Ebd., S. 11 [S. 13]. 160 Ebd.,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
und aufgrund von Spaldings vollständiger Abstinenz von dem Bemühen um begriffliche Definitionen resp. Abgrenzung nur vorsichtige Vermutungen anstellen. Zunächst ist entgegen der einschlägigen Spaldingforschung zu betonen, dass Spaldings Empfindungsbegriff nicht ohne weiteres unter den Gefühlsbegriff zu subsumieren ist168. Nimmt man die drei Vorkommen des Gefühlsterminus169 und die vier Vorkommen des entsprechenden Verbs170 zusammen, so zeichnet sich neben einer zum Empfindungsbegriff wechselweisen Verwendung eine Verbindung zwischen Gefühlsbegriff und der Lustdimension der moralischen Empfindung ab: Wenn es Spalding um die nähere Bezeichnung der Lust an dieser geht, dann kann er auch den Gefühlsterminus verwenden. Ob neben der Lustdimension der Gefühlsbegriff auch die vermögenstheoretische Basis der moralischen Empfindung bezeichnet, geht nicht klar aus den wenigen Belegstellen hervor, ist jedoch auch nicht ausgeschlossen; denn Spalding verbindet mit dem „Gefühl dieses hohen Ergetzens“171 den Aspekt einer anfänglichen Schwäche172, was eine vermögenstheoretische Deutung des Gefühlsbegriffes nahe legt. Das Gefühl wäre dann so etwas wie ein innerer Sinn, der der je konkreten moralischen Empfindung zugrunde liegen würde. Neben dem Gefühlsbegriff eröffnet auch der Geschmacksbegriff die Frage nach seinem Verhältnis zum Empfindungsbegriff. Mit dem Begriff des Geschmackes rekurriert Spalding auf eine Kategorie, die sich im Kontext unserer Analyse der zeitgenössischen Geschmackstheorien und Ästhetikentwürfe (vgl. III. Kapitel) als ein Begriff erwiesen hat, der dort in einem engen systematischen Zusammenhang mit dem Empfindungsbegriff zu stehen kam. Nachdem Spalding bereits im Sinnlichkeitsabschnitt indirekt davon ausgeht, dass den „Empfindungen meiner Sinne“ ein „Geschmack“173 korreliert, verwendet er den Geschmacksbegriff erneut im Kontext der moralischen Empfindung: „[J]e mehr ich hernach meinen Geschmack an der Wahrheit, der Schönheit und Ordnung geübet habe, desto feiner ist diese empfindende Fähigkeit meines Geistes, und desto rührender die Lust geworden.“174 Der Geschmack fungiert als Fähigkeit des Geistes, der als Vermögen der Empfindung zugrunde liegt. Mit dem Bezug zur Schönheit 168 Auch wenn Beutel sich stärker auf Spaldings späte Texte bezieht, in denen Spalding schon unter dem Einfluss der zeitgenössischen Gefühlspsychologie stand, zu nennen wären hier Sulzer, Tetens, Eberhard und auch Kant (zur Entwicklung des Gefühlsbegriffs orientiert immer noch instruktiv Baeumler, Das Irrationalitätsproblem, S. 108 ff.; 123 ff.), wird seine Entdifferenzierung von Empfindungs‑ und Gefühlsbegriff Spaldings Verwendung beider Begriffe auch in seinem Spätwerk nicht ganz gerecht (vgl. Beutel, Aufklärer höherer Ordnung, S. 293–302). Auch Dreesmans summative Aufzählung von Empfindung und Gefühl bleibt eine Verhältnisbestimmung und Unterscheidung schuldig (vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 111 ff.). 169 Vgl. Spalding, BdM, S. 6; 14; 23 [S. 8; 15; 24]. 170 Vgl. ebd., S. 9; 12; 21 [S. 11; 13; 22]. 171 Ebd., S. 14 [S. 15]. 172 Vgl. ebd. 173 Ebd., S. 4 f. [S. 6 f.]. 174 Ebd., S. 14 [S. 15].
5. Die Struktur der Empfindung
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wird die ästhetische, mit dem Bezug zur Lust die lusttheoretische Dimension der moralischen Empfindung avisiert, wobei jedoch mit dem Wahrheits‑ und Ordnungsgedanken zugleich der Geschmack als epistemologisches und ethisches Beurteilungsvermögen eingeführt wird. Der Geschmack steht zudem für die Bildungsfähigkeit und Habitualisierung der Empfindung, was Spalding im Zitat mit dem Hinweis andeutet, dass der Geschmack ‚geübt‘ werden kann. Damit relativiert Spalding auch indirekt die moralische Empfindung als naturgegebene Fähigkeit und integriert sie in sein Vervollkommnungskonzept: Das Vermögen des Geschmacks und damit auch jede konkrete Empfindung gehören einerseits der natürlichen Einrichtung an, andererseits verfügen sie über ein Ausbildungspotential. Mithin spiegelt Spalding die Grundspannung seines anthropologischen Anlage-Bestimmungs-Konzeptes auf die Struktur der moralischen Geschmacksempfindung zurück. Sowohl die Empfindung als solche wie auch Gefühl und Geschmack stehen, wenn nicht ausschließlich, so doch vornehmlich für die lusttheoretische Dimension moralischen Erlebens. Darin erschöpfen sich jedoch ethische Empfindungen nicht. Vielmehr verfügen diese – wie bereits im Kontext der Stufigkeit der Empfindungen angedeutet – auch einerseits über eine begriffliche, andererseits über eine urteilstheoretische Bedeutungsdimension. Beides hängt aufs Engste zusammen: Mit der lusttheoretischen Beschreibung der moralischen Empfindung ist noch nicht gezeigt, worauf das Vergnügen der Sache nach basiert. Ein Urteil ist durch die Struktur gekennzeichnet, dass ein Relat als etwas bestimmt wird und somit unter dieses Etwas subsumiert wird. Dies trifft auch auf das Urteil zu, welches durch die moralische Empfindung gegeben ist. Dazu ein längeres Zitat: „Ich spüre Empfindungen in mir, dabey ich mich selbst vergesse, die nicht mich und meinen Vortheil, in so fern ich es bin, und in so fern es mein Vortheil ist, sondern ganz etwas anders zum Zweck haben; Empfindungen der Güte und der Ordnung, die mein blosser Wille nicht gemacht hat, und die auch mein blosser Wille nicht vernichten kann; ursprüngliche und unabhängliche Triebe meiner Sele zu dem, was sich schickt, zu dem, was anständig, großmüthig und billig ist, zu der Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit überhaupt, und vornehmlich in den Wirkungen verständiger und freyhandelnder Wesen.“175 Zunächst ist die moralische Empfindung dem Inhalte nach als ‚Empfindung der Güte und Ordnung‘ bestimmt, welch ersteres Spalding dann als das, ‚was sich schickt,… was anständig, großmütig und billig ist‘ näher bezeichnet. Damit ist bereits ein Moment des moralischen Urteils gewonnen: Die moralische Empfindung nimmt an Einstellungen, Verhalten und moralisch zu beurteilenden Zuständen wahr, ob sie als gut und als in Ordnung beurteilt werden können. Die Zuordnung von ‚Güte und Ordnung‘ durch die Kopula ‚und‘ ist als explikatives 175 Ebd.,
S. 8 [S. 10].
372
V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
Verhältnis zu verstehen, insofern Spalding Güte näher als Ordnung verstanden wissen will. Was Spalding unter Ordnung formal genauer versteht, wird aus dem zweiten Teil des Satzes deutlicher: Ordnung begründet ‚Schönheit, Übereinstimmung und Vollkommenheit‘. Die zweirelationale Kategorie der Übereinstimmung evoziert die Frage nach den beiden Relaten, die in Kongruenz zu bringen sind. Was Spalding hier vor Augen hat, wird deutlich aus seinem Begriff des allgemeinen Besten als des Zweckes menschlicher Handlungen: Dies kann „unmöglich eine edle und schöne That heissen, wenn sie nicht das Beßte anderer oder das allgemeine Beßte zu ihrem eigentlichen Zweck hat“176. Eine gute Handlung zeichnet sich also dadurch aus, dass ihr Zweck zugleich das allgemeine Beste im Blick hat und so eine Übereinstimmung zwischen einem subjektiven Handlungszweck und einem allgemeinen Besten bzw. einem Begriff eines allgemeinen Besten statthat. Das allgemein Beste stellt sich für Spalding genauer dar als ein richtiges Verhältnis der „Dinge in der Welt“177. Moralisch valente Phänomene zeichnen sich also dann als gut und ordentlich aus, wenn sie „mit diesen Verhältnissen aufs genaueste übereinstimmen“178 bzw. wenn sie „den wesentlichen Verhältnissen der Dinge gemäß bestimmet“179 sind. Die Erfüllung dieser Übereinstimmung bzw. Gemäßheit stellt Vollkommenheit bzw. Schönheit dar. Damit eröffnet sich die Frage nach dem Verhältnis von Empfindung und Begriff, die in der Spaldingforschung bislang unbeantwortet blieb, jedoch nichts Geringeres betrifft als die rationale Tiefenschicht der Empfindung. Formal bestimmt Spalding die der Empfindung zugrunde liegenden Begriffe zunächst als natürliche Begriffe, die dem „Geist … eingedrückt“180 seien: „Die ganze Welt hat diese Begriffe, und braucht sie auch in den gemeinsten Fällen des menschlichen Lebens.“181 Mit dem Natürlichkeitsprädikat und der stoizistischen wie platonistischen Formulierung, die Begriffe seien dem menschlichen Geist ‚eingedrückt‘, stellt sich Spalding in die erkenntnistheoretische Tradition der Lehre der ideae innatae bzw. notiones innatae. Ohne hier die Ideen‑ und Problemgeschichte dieses Konzeptes nachvollziehen zu wollen, sei doch erwähnt, dass mit Shaftesbury und Christian Wolff zwei philosophische Gewährsmänner im Hintergrund stehen, die beide – Wolff im Gefolge Descartes’ und Leibniz’, Shaftesbury im Gefolge der englischen Platonisten – von der metaphysischen Prämisse ausgingen, der Mensch verfüge über angeboren Ideen182. Der Sache nach bewegt sich dieser natürliche Begriff auf zwei zu differenzierenden Ebenen: Auf der einen Ebene subsumiert Spalding das bereits erwähnte 176 Ebd., 177 Ebd., 178 Ebd.
179 Ebd.,
S. 10 [S. 12]. S. 12 [S. 14].
S. 10 [S. 12]. S. 8 [S. 10]. 181 Ebd., S. 10 [S. 12]. 182 Vgl. zur ersten Orientierung: Regenbogen/Meyer, Angeborene Ideen. – Zu Shaftesbury vgl. IV.4.4. 180 Ebd.,
5. Die Struktur der Empfindung
373
Wissen um das ‚allgemeine Beste‘ unter die Klasse natürlicher Begriffe. Diese fungieren gleichsam als Schnittstelle zwischen Spaldings impliziter Ontologie aller Dinge und der Ethik: Alle Dinge stehen in einem Verweisungszusammenhang, dessen Realisierung am Orte des Menschen normativ zum Zweck seines Tuns und Lassens zur Geltung kommt. Auf der anderen Ebene spricht Spalding davon, dass dem „Geist ein natürlicher Begriff von einem Anständigen und Schändlichen, von einem Schönen und Häßlichen, von Recht und Unrecht eingedrückt ist“183. Der Mensch hat mithin nicht nur ein Konzept von einem allgemeinen Besten, sondern verfügt über einen moralischen Begriff, den Spalding ethisch (im engeren Sinne), ästhetisch und rechtsterminologisch näher definiert. Dieser Begriff kann nichts anderes bedeuten als ein basales Wissen darüber, dass bestimmte Einstellungen und Handlungen mit einem Begriff eines allgemeinen Besten übereinstimmen und damit als gut, schön und rechtmäßig zu prädizieren sind. Der natürliche Begriff in seiner Doppelheit liegt jeder moralischen Empfindung voraus und zugrunde: Der Mensch kann nur unter Rückgriff auf diese Begriffe eine gleichermaßen „natürliche Empfindung“184 „des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts“185 und von „einem Schönen und Hässlichen“186 haben. Auch wenn Spalding den Begriffs‑ und Empfindungsterminus mancherorts scheinbar synonym verwenden kann und somit die Differenz zwischen beiden Erkenntnismodi zu überdecken scheint, ist doch der Unterschied beider Zugriffe auf moralisch valente Sachverhalte deutlich. Er besteht nämlich in dem lusttheoretischen Mehrwert der Empfindung, den diese gegenüber dem rein begrifflichen Wissen hat. Erst die moralische Empfindung verfügt aufgrund der mit ihr verbundenen Lust über eine motivationale Kraft, auf die es Spalding u. a. ankommt. Nun ist es bereits aufgefallen, dass Spalding immer wieder das Prädikat der Schönheit verwendet. Was hat diese ästhetische Kategorie mit der moralischen Empfindung zu tun? Spalding expliziert seinen Begriff eines allgemeinen Besten als das, „was an sich gut und schön ist“187 Damit stellt sich auch dasjenige, welches mit diesem Begriff eines allgemeinen Besten als Teil aller Dinge in der Welt in Übereinstimmung steht, als gut und schön dar. Schönheit ist demnach als eine Qualität an moralischen Übereinstimmungsrelationen und Vollkommenheitsphänomenen zu verstehen. Das ästhetische Erleben an der Moralität stellt für Spalding kein Epiphänomen dar, sondern fungiert als Begründung für die bereits dargestellte Lustdimension der moralischen Empfindung. Allererst vermittels der ästhetischen Dimension kann Spalding auch innerhalb der Moralität 183 Spalding,
BdM, S. 8 [S. 10]. S. 9 [S. 10]. 185 Ebd., S. 17 [S. 18]. 186 Ebd., S. 8 [S. 10]. – Der Bezug dieser ästhetischen Prädikate auf die ‚natürliche Empfindung‘ verdankt sich der syntaktisch-demonstrativischen Verknüpfung beider Sätze. 187 Ebd., S. 10 [S. 11]. – Spalding verwendet demgemäß an zwei Stellen die geradezu stereotyp wirkende Formulierung, dass eine Handlung bzw. Tat „edel und schön“ (ebd., S. 10 [S. 11 f.]) sei. 184 Ebd.,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
den übergeordneten Gesichtspunkt plausibel machen, dass nicht nur durch Sinnlichkeit und Geistigkeit, sondern auch durch die moralische Empfindung Lust, Vergnügen und damit Glückseligkeit realisiert wird. In diesem Sinne betont er ausdrücklich, dass die Begierden, die auf das eigene Wohl (Sinnlichkeit) gerichtet sind und diejenigen, die auf ein „allgemeines Beßtes, oder auf das, was an sich gut und schön ist, abzielen …, gemein ist, daß ihre Erfüllung das Vergnügen bey sich führet“188, welch letzteres Spalding in der Logik der Bestimmungs‑ und Erfüllungsstufen als ein „höheres Vergnügen“189 bezeichnet. Obwohl die Empfindung vor allem innerhalb von Spaldings moralphilosophischer Konzeption die psychologische und erkenntnistheoretische Zentralkategorie darstellt, wurde bereits angedeutet, dass sie als solche auch innerhalb des religiösen Bewusstseins eine zentrale Rolle spielt, was in der bisherigen Forschung unberücksichtigt blieb. Dieser Aspekt soll nun abschließend das Bild des Empfindungsbegriffes in Spaldings Bestimmungsschrift abrunden. Zunächst spricht Spalding von der „Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten … Welch ein Gedanke!“. Damit verfügt das religiöse Bewusstsein wie auch das moralisch über eine begrifflich-gedankliche Dimension. Den Überschritt vom eher verstandesmäßigen Zugang zum religiösen Abschlussgedanken markiert die Feststellung, dass sich die „erstaunte Sele bis zum Unendlichen“ erweitert. Mit dem Seelenbegriff ist die Entschränkung der religiösen Repräsentation angedeutet, die auch neben dem begrifflichen Gedanken das seelische Vermögen der Empfindungen kennt. „Mich dünkt, ich empfinde, und mit einem entzückenden Schauder, die Wirklichkeit dieses obersten Geistes.“190 Das Empfindungsmoment drückt wie bereits im Kontext der moralischen Empfindung das Lustmoment aus, das Spalding hier auf den komplexen Begriff des ‚entzückenden Schauders‘ bringt. Die Funktion der religiösen Empfindung resp. ihres Lustmomentes erblickt Spalding in der Wirkmächtigkeit und Belebung konkreter „Empfindungen gegen dieses Wesen“191, die wir als Ensemble religiöser Affekte rekonstruieren werden (vgl. V.8.1). Innerhalb des Unsterblichkeitsabschnittes schließlich kommt der Empfindungsbegriff in einem Argumentationszusammenhang zu stehen, in dem Spalding die Unzerstörbarkeit der Seele bzw. des nach seiner Bestimmung fragenden Subjektes identitätstheoretisch begründet. „Wenn ich auf mich Acht gebe, so finde ich, daß ich in dem allergenauesten Verstande Eines bin. Diese Glieder, die meine Werkzeuge ausmachen, das bin ich nicht; sie sind, meiner deutlichen Empfindung nach, von mir unterschieden.“192 Die der Unsterblichkeitshoffnung zugrundeliegende Gewissheit, dass das Ich im eminenten Sinne nicht die Summe 188 Ebd.,
S. 9 [S. 11]. S. 11 [S. 13]. 190 Ebd., S. 15 [S. 16 f.]. 191 Ebd., S. 16 [S. 17]. 192 Ebd., S. 21 [S. 22]. 189 Ebd.,
6. Würde und Wert der menschlichen Natur
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der Körperteile ausmache, teilt sich dem räsonierenden Subjekt vermittels einer ‚deutlichen Empfindung‘ mit. Spalding verwendet hier den Empfindungsbegriff mit dem Epitheton ‚deutlich‘. Damit wird deutlich, dass er die ihm von der Psychologie Christian Wolffs und der zeitgenössischen poetologischen und ästhetischen Theoriebildung her vertraute empfindungstheoretische Klassifikation mit ihrer Unterscheidung von klaren und deutlichen Empfindungen kannte. So sehr Spaldings Empfindungsbegriff von Shaftesburys Sense-Begriff geprägt ist, macht doch die Deutlichkeitsprädikation terminologisch evident, dass Spalding nicht nur in den Vorreden zu seinen Übersetzungen Shaftesbury vor dem begrifflichen Hintergrund der genannten deutschen Tradition liest, sondern auch in der Bestimmungsschrift selber. Wenn er hier von deutlicher Empfindung spricht, dann ist es ihm um das rationale und begriffliche Moment der Empfindung der subjektiven Einheit des Ich zu tun, das er auch mit dem Verweis auf den ‚allergenauesten Verstande‘ unterstreicht. In der Zusammenfassung wird genau zu fragen sein, wie Spaldings Empfindungsbegriff in die beiden begriffsgeschichtlichen Stränge verflochten ist.
6. Würde und Wert der menschlichen Natur Durch die moralische Empfindung „entstehe die vollständige Basis für eine positive Anthropologie“193. Diesem anthropologiehistorischen Urteil Dehrmanns im Blick auf die diesbezügliche Relevanz der moralischen Empfindung ist zuzustimmen, wenngleich sie nicht nur die Basis, sondern den Inbegriff und kondensierten Ausdruck von Spaldings positiver Anthropologie darstellt. Dieser Spur soll in der folgenden Analyse anhand des Wert‑ und Würdebegriffes nachgegangen werden. Damit wird gleichsam noch vor der Analyse der impliziten Erbsündenkritik Spaldings dessen explizit konstruktiver Beitrag zur anthropologischen Umformungsbemühung der frühen Neologie zur Sprache kommen. Der Begriff der menschlichen Würde verdient in der Anthropologie und Ethik den Namen einer Basisidee, die sich auch in der protestantischen, vor allem kirchlichen Debattenlandschaft seit ca. 20 Jahren einen ersten Platz in der Rangliste einschlägiger Reflexionskategorien erobert hat. Jedoch: Die Selbstverständlichkeit, mit der evangelische akademische und kirchliche Theologen in diversen Diskursen auf diese Idee zurückgreifen, ist nur derjenigen Nichtselbstverständlichkeit vergleichbar, die diesem Sachverhalt aus der Perspektive einer Begriffs‑ und Ideengeschichte zuzuschreiben wäre. Denn es war gerade die protestantisch-lutherische Theologie, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein den Menschenwürdebegriff aus der theologischen Anthropologie fast vollständig verbannt hatte. Die Aufklärungstheologie des 193 Dehrmann,
Moralische Empfindung, S. 57.
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
18. Jahrhunderts und die von Immanuel Kant geprägte Theologie des 19. Jahrhunderts stellen hier Ausnahmen und gleichsam nur Intermezzi dar. Schon Karl Aner hat in seiner Studie zur Aufklärungstheologie von 1929 auf den inneren Zusammenhang der Rehabilitierung der antiken und renaissancephilosophischen Idee der Menschenwürde einerseits und der Kritik an der augustinisch-lutherischen Erbsündenlehre andererseits, der wir uns gesondert im folgenden Abschnitt zuwenden, hingewiesen. „Augustin war im Zeitalter der Neologie der meistgehasste Mann. Schien er doch der Idee der Menschenwürde am meisten Abbruch getan zu haben. […] Das gesteigerte Bewusstsein der Menschenwürde erhebt den Ruf nach Toleranz und Freiheit und entfremdet mit der Beseitigung seiner Autorität auch der Materie des Dogmas. Die Erbsündenlehre schien als erste mit dem Glauben an die Menschenwürde unvereinbar. Mögen sie sonst noch so getrennte Wege gegangen sein – in der Verurteilung des Sündenpessimismus und dem optimistischen Glauben an die bildungsfähige Menschennatur waren alle Geister der Zeit von Goethe bis Nicolai, von Herder bis zum schlichten Dorfpfarrer einig.“194 Das bis heute lehrreiche Standardwerk Aners erhebt die Kritik der Erbsündenlehre zur differentia spezifica der Neologie gegenüber dem theologischen Wolffianismus, während sie für den Geist der Zeit nach 1750 zum common sense gehörte. Seine Darstellung dieses Themenkomplexes fällt dann jedoch nur sehr knapp aus195, und bis auf den Rekurs auf den Begriff der Menschenwürde im Zitat wird dieser konstruktiven Seite der Medaille kein weiteres Augenmerk geschenkt. Auch die Aufklärungsforschung nach Aner sowie die zahlreichen begriffsgeschichtliche Studien zum Menschenwürdebegriff widmen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und speziell der Aufklärungstheologie dieser Zeit nur wenig Aufmerksamkeit.196 Einschlägige Beiträge gehen meist von der Renaissance über Pufendorf gleich zu Kant über, ohne sich dem genannten Zeitraum eingehender zu widmen.197 Dass dies vor dem Hintergrund der anthropologischen Aufwertung der Menschenwürde in der protestantischen Theologie zwischen 1748 194
Aner, Theologie der Lessingzeit, S. 162 f. vgl. ebd., S. 158–164: „Der erste Vorstoß: gegen das Dogma der Erbsünde“ (S. IX f.). Aner beschränkt sich auch im Rahmen des Kapitels III („Der Übergang vom Wolffianismus zur Neologie“) auf Jerusalem als den Initiator der Dogmenkritik. Er referiert seine frühen Predigten aus den 1740er Jahren und resümiert: „Wir buchen, dass sich Jerusalem unter allen überlieferten Dogmen, die das neologische Stadium der Aufklärung über Bord warf, am ehesten und deutlichsten von dem der Erbsünde emanzipiert hat.“ (Ebd, S. 162.) 196 Vgl. bspw. Huber, Menschenrechte / Menschenwürde. – Es sei darauf hingewiesen, dass dem Begriff der Menschenwürde in der Theologischen Realenzyklopädie kein eigener Artikel gewidmet ist., sondern mit den Menschenrechten zusammen verhandelt wird. Zudem sind ihm innerhalb dieses Artikels ganze 4½ Seiten gewidmet, wobei der Aufklärungstheologie keinerlei Beachtung geschenkt wird. 197 Vgl. Grawe, Bestimmung des Menschen; vgl. Dürig, Dignitas; vgl. Drexler, Dignitas; vgl. Pöschl, Würde; vgl. Tiedemann, Menschenwürde, S. 51–67; vgl. Gadamer, Die Menschenwürde. 195
6. Würde und Wert der menschlichen Natur
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und 1780 nicht gerechtfertigt ist, soll in dieser Arbeit anhand von Spaldings Bestimmungsschrift gezeigt werden. Auch hier gebührt Johann Joachim Spalding die Ehre einer Vorreiterrolle. Dies hat jüngst bereits Walter Sparn ins geistesgeschichtliche Bewusstsein gehoben: „Die Rede von der Gottebenbildlichkeit wurde nicht sogleich obsolet, aber sie emanzipierte sich aus der Vorgabe der Differenz von Schöpfung und Sünde. An ihre Stelle trat die Potentialität menschlichen Verhaltens im Blick auf eine allererst zu realisierende ‚Bestimmung‘. Dieser neue Terminus signalisiert eine neue kultur‑ und religionsgeschichtliche Konstellation, in der das Konzept der ‚Menschenwürde‘ einerseits theologisches Gewicht erhielt, andererseits auf theologische Ablehnung stieß.“198 Und Andreas Urs Sommer schlussfolgert aus Spaldings Aufwertung der Sinnlichkeit eine Befreiung von der „Erbsündenhypothek“ und im Blick auf die Bestimmung des Menschen zur Religion die Manifestation der „höchste[n] Würde des Menschen“199. So wertvoll diese Hinweise sind, so bedürfen diese sachlich begründeten Rekurse auf den Menschenwürdebegriff einer terminologischen wie begrifflichen Textanalyse. Spaldings Bestimmungsschrift stellt zugegebenermaßen kein Manifest der Menschenwürde und der Kritik der Erbsündenlehre dar. Und doch steht sie in der Geschichte beider Ideen um die Mitte des 18. Jahrhunderts als ein Indikator für die tiefgreifende Erschütterung der lutherischen Erbsündenanthropologie einerseits und die korrespondierende Aufwertung der menschlichen Natur und Würde andererseits, bevor beide Entwicklungslinien dann am Ende des 18. Jahrhunderts sowohl in der protestantischen Theologie als auch Philosophie zur Entfaltung kommen. Bei Spalding taucht die Formel „Würde der menschlichen Natur“200 erstmals in dem Essay „Das glückliche Alter“ von 1758 auf, welches er dann seit der 7. Auflage der Bestimmungsschrift (1763) bis zur 12. Auflage (1789) als Beigabe hinzufügte. Jedoch finden sich bereits in der Erstauflage begriffliche Andeutungen, die in ihren begrifflichen Kontexten zu rekonstruieren sind. Der Würdebegriff kommt in der 1. Auflage der Bestimmungsschrift nur einmal vor.201 Spaldings Terminus, unter dem er der Sache nach die Würde des Menschen thematisiert, stellt der Wertbegriff202 dar. Zudem finden sich Begriffe wie „Ehre“203, „Ehrbegierde“204, „Hochachtung“205 und „Hoheit“206, die allesamt im semantischen Umfeld des Würde‑ und Wertbegriffes zu verorten sind. 198 Sparn,
Aufrechter Gang, S. 228. Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 174. 200 Spalding, Das glückliche Alter, S. 270. 201 Vgl. Spalding, BdM, S. 22 [S. 24]. 202 Vgl. ebd., S. 1; 11; 17; 18; 23 [S. 3; 13; 18; 19; 24]. 203 Ebd., S. 12 [S. 13]. 204 Ebd., S. 17 [S. 19]. 205 Ebd., S. 13; 22 [S. 14; 24]. 206 Ebd., S. 16 [S. 18]. 199 Sommer,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
Bereits in der Einleitung seiner Schrift lässt Spalding das introspektive Subjekt fragen, „worauf mein eigentlicher Wehrt und die ganze Verfassung meines Lebens ankömmt“207. Damit wird die anthropologische Frage des Menschen nach sich selbst in eine Richtung geleitet, die nicht in erster Linie die Begrenztheiten des Humanum ins Selbstbewusstsein zu heben anstrebt, sondern die vielmehr den Blick auf die seinen Wert begründenden Fähigkeiten richtet. Es geht Spalding also um die Frage, wodurch der Wert seiner Person resp. des Menschen allgemein begründet wird. Durch die textpragmatische Verortung dieses Terminus im Einleitungsabschnitt signalisiert der Autor, dass der axiologischen Dimension seines anthropologischen Programms, ungeachtet der im Ganzen quantitativ sparsamen Verwendung des Würde‑ und Wertterminus’, eine zentrale systematische Funktion zukommt. Im Kontext des Tugendkonzeptes holt Spalding dann erstmals diese Fragehinsicht ein: „Mein Wehrt und meine Glückseligkeit sollen nun darin bestehen, daß die oberherrschaftlichen Aussprüche der Wahrheit, unbetäubt durch den Tumult der Leidenschaften und der eigennützigen Begierden, allein meine Handlungen leiten; daß die reine Empfindung dessen, was sich schickt, meine eigentliche höchste Verbindlichkeit ausmache, und daß ich also überhaupt in einem jeden Augenblicke meines Lebens das seyn möge, wozu meine Natur und die allgemeine Natur der Dinge mich bestimmen.“208 Mit den ‚Ansprüchen der Wahrheit‘ ist hier nichts anderes gemeint als das „unveränderliche[n] Wesen der Dinge“209, die das ethische Subjekt als wahr empfindet und die sein Handeln bestimmen sollen. Der Wert des Menschen begründet sich mithin auf seiner ethischen Integrität, die wiederum die natürliche Bestimmung des Menschen u. a. ausmacht. Damit ist also der Wertbegriff mit dem Bestimmungsbegriff verknüpft: Der Wert des Menschen konstituiert sich auf der Realisierbarkeit und Realisierung seiner moralischen Bestimmung. Zugleich klingt hier mit dem Terminus ‚oberherrschaftlich‘ eine religiöse Dimension an, die dann im Religionsabschnitt entfaltet wird. Denn hier wird die Einrichtung der Dinge von Spalding auf eine höchste göttliche Regierung zurückgeführt. Der Selbstwert des sich als ethisch empfindenden Subjektes begründet sich auch auf die Empfindung der Übereinstimmung mit dem Ursprung des Ganzen: „Es ist nichts bey mir möglich, das mir einen Wehrt geben kann, nichts, das mich mit der anfänglichen Einrichtung meiner Natur, und mit den Absichten der höchsten Regierung übereinstimmig machen kann, als meine innerliche Richtigkeit.“210 Der Wert des Menschen gründet auf der ethischen Richtigkeit und wird expliziert einerseits mit der Übereinstimmung der faktischen ursprünglichen humanen Natur und den göttlichen Zweckbestimmungen andererseits, die als mit dieser Natur intendiert erkannt werden. Der 207 Ebd.,
S. 1 [S. 3]. S. 13 [S. 15]. 209 Ebd., S. 13 [S. 14]. 210 Ebd., S. 17 [S. 18]. 208 Ebd.,
6. Würde und Wert der menschlichen Natur
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Wert verdankt sich also nichts anderem als der Übereinstimmungsrelation mit der eigenen Natur und dem unendlichen Grund dieser Natur. Genau jene Übereinstimmungsempfindung mit der urbildlichen Ordnung stellt für Spalding eine Stütze dar, die das ethische Subjekt vor anderweitigen Wertzuschreibungen schützt, indem sich allein der moralische Mensch der Wertschätzung durch die Gottheit bewusst wird: „Höher kann sich denn auch meine Ehrbegierde unmöglich erheben, als wenn ich dem gefalle, von dem alles Gute herfliesset; wenn der, der alles siehet … mitten unter dieser Menge auch mich siehet und billiget.“211 Allein das Bewusstsein dieser göttlichen moralisch-ästhetischen Anerkennung konstituiert das Gewahrwerden und die Akzeptanz des eigenen Wertes, und zugleich wird durch diese das moralische Wesen gegen nichtmoralisch bedingte Wertzuschreibungen und damit auch gegen Gefährdungen der Moralität gefeit: „Kein Mensch … kann mir durch sein Gutheissen einen Wehrt geben, weil er selbst keinen Wehrt hat, als in so fern er rechtschaffen ist, und sich mit mir nach eben demselben ewigen Regelmaß des Rechts und der Ordnung richtet. Ich bin groß genug, wenn ich dem Regierer des Ganzen nicht misfalle.“212 Darin ist aber der eigene Wert des Menschen für Spalding noch nicht erschöpft. Nicht schon durch das Bewusstsein eigener Moralität und auch noch nicht über die Übereinstimmung mit der höchsten Ordnung kommt das Wertbewusstsein zu seiner höchsten Stufe, sondern allererst durch die Erkenntnis, dass die Moralität in der Unsterblichkeit zur Vollendung gelangen kann: „Wie sehr werden nun nicht durch diese grosse Erwartung mein Wehrt und meine Bestimmung erhöhet.“213 Die Ewigkeitserwartung steigert das humane Wertbewusstsein, insofern die Moralität in die Perspektive einer unendlichen Perfektibilität eingerückt wird. Die Unsterblichkeitshoffnung wirkt nach Spalding zurück auf das Wertbewusstsein innerhalb des zeitlichen Lebens. Dieses steht nämlich in der Gefahr, sich an anderen als moralischen Gütern zu orientieren: „Ansehen, Ruhm, Macht, Siege und Kronen sind ein kurzes Spiel der menschlichen Eitelkeit, und sind wenigstens nach dem Tode nichts mehr. Sollte ich mich so erniedrigen, daß ich solches zu einem Gegenstande meiner wahren Hochachtung machte?“214 Die Vorstellung der Unsterblichkeit stützt also die Wertschätzung der Moralität bzw. das Gefühl eines Selbst-Wertes aufgrund von Moralität. In diesem Kontext verwendet Spalding nun das einzige Mal in seiner Schrift den Begriff der Würde: „Nach zehntausend Jahren geben mir alle jene Dinge [scil. Ruhm, Macht etc.; G. R.] weder Würde noch Vergnügen mehr …“215 Es wird deutlich, dass das ethische Bewusstseins nicht allein durch die Lust an 211 Ebd.,
S. 17 [S. 19]. S. 18 [S. 19]. 213 Ebd., S. 22 [S. 23]. 214 Ebd., S. 22 [S. 23 f.]. 215 Ebd., S. 22 [S. 24]. 212 Ebd.,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
der eigenen Moralität stabilisiert wird, sondern gleichermaßen durch die Einsicht in die eigne Würde der Tugend. Damit kommt das Würdebewusstsein als Komplement zur ästhetisch-lusttheoretischen Einstellung in Bezug auf die eigene Moralität zu stehen. Jedoch fungiert das Erleben des eigenen Wertes daneben auch als Kriterium für die Beurteilung der Lebensformen der Sinnlichkeit und des Geistes: „Ich will meine Lust und meinen Nutzen suchen; aber ich will sie nicht allein suchen, weil ich meinen ganzen Zweck und meinen wahren Wehrt darin nicht setzen kann.“216 Diese vorethischen Lebenskonzepte können nicht das sein, „wohin meine Natur mich führet“217, weil der ‚wahre Wert‘ des Menschen nicht darin besteht, sondern diese vielmehr nur relative Werte darstellen, insofern sie der Selbsterhaltung des Menschen dienen. Der ‚wahre Wert‘ kann sich hingegen nur konstituieren auf der Bestimmung des Menschen zur Tugend. Die Wahrheit dieses Wertes besteht darin, dass die Tugend im Prozess der introspektiven Selbsterkenntnis als nichtrelative resp. absolute Zweckbestimmung zum Selbstbewusstsein kommt. Aber allererst aus der Perspektive der Unsterblichkeitserwartung ist der Mensch in der Lage, irdische Güter und deren Wert zu relativieren. Denn – so ließe sich positiv formulieren – dieses Bewusstsein befähigt den Menschen, die Würde ausschließlich in der Fähigkeit zur Sittlichkeit und ihrer Ausbildung in der Zeitlichkeit zu erblicken. Denn sie stellt dasjenige dar, welches alleine zur Vollendung in der Unsterblichkeit bestimmt ist und damit keinen relativen, sondern absoluten Wert bzw. Würde hat: „Ich will mich also gewöhnen, die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten, dieses in allen meinen Handlungen mit jener zu verknüpfen, von einer jeden Sache immer so zu denken, wie ich einmal in der zukünftigen Welt und in den letzten Augenblicken des itzigen Lebens davon werde denken müssen, und nimmer zu vergessen, daß Rechtschaffenheit und eine ordentliche Sele das einzige sey, welches in beiden gleichen Wehrt behält. […] Ich werde alsdann nicht mehr verstatten dürfen, daß das scheinbare Gute und Böse lebhaftere Eindrücke bey mir habe als es wehrt ist.“218 Als theoretisches Pendant zu Spaldings ethischer und perfektibilitätstheoretischer Fassung des Wert‑ und Würdebegriffes fungiert in der Bestimmungsschrift die platonisch-platonistische Idee der Gottverähnlichung: Der Wert bzw. die Würde des Menschen besteht in der Möglichkeit und Wirklichkeit der Moralität, da sie allein dasjenige ist, was den Menschen dazu befähig, gottähnlich zu werden. Darauf soll hier nur hingewiesen sein, während eine detaillierte Analyse in der Rekonstruktion von Spaldings Religionsbegriff erfolgt (vgl. V.8.1).
216 Ebd.,
S. 11 [S. 13]. S. 11 [S. 12]. 218 Ebd., S. 23 [S. 24 f.]. 217 Ebd.,
7. Spaldings implizite Kritik der Erbsündenlehre
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7. Spaldings implizite Kritik der Erbsündenlehre Der „christliche Glaube ist von Anfang an Opferung aller Freiheit, allen Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbstverstümmelung“219 gewesen. Dieser Generaleinwand Friedrich Nietzsches gegen das Christentum verdankt sich eines tiefen Ressentiments gegenüber der christlichen Ethik und Anthropologie, das in der Polemik gegen den Sündenbegriff seinen verdichtetsten Ausdruck fand. Seine Radikalkritik macht in ihrer Zugespitztheit deutlich, was inzwischen für das moderne Bewusstsein überhaupt gelten könnte. Die Selbstdeutung des Menschen hat ihr Zentrum nicht mehr in Sündenreflexion und Sündenpessimismus; vergleichbare Endlichkeitserfahrungen artikulieren sich heute in ganz anderer Weise. Dieser Umschwung ist begründet in einem anthropologischen Transformationsprozess, der zurückreicht bis in den Beginn der Neuzeit. Unterschiedliche geistesgeschichtliche Epochen und Aufklärer haben dazu beigetragen: Renaissance, Humanismus, nicht zu vergessen Sozinianismus, sodann Leibniz und Rousseau, der englische Deismus im weitesten Sinne und schließlich die deutsche Aufklärungstheologie, in der Motive der genannten Strömungen in verschlungener Form wiederkehren. Ein Resultat dieses Prozesses ist die Neugestaltung der theologischen Anthropologie, die nicht ohne eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Lehrtradition zu gewinnen war. Im Mittelpunkt der Kritik stand dasjenige Lehrstück, welches wie kein anderes den harten Kern protestantisch-anthropologischer Reflexionskultur darstellte, die Lehre von der Erbsünde. Während die meisten Loci lutherischer Dogmatik von der Aufklärungstheologie einer kritischen Umformung unterzogen wurden, kam es im Falle der Erbsündenlehre sukzessive zu einer radikalen Verabschiedung. Eine konsequenzenreiche Voraussetzung für die Verschärfung der deutschen Debattenlage war der Umstand, dass Luther im Gegenzug zur scholastischen Ermäßigung der Erbsündenlehre dieselbe im direkten Anschluss an Augustin radikalisiert hatte220. Dieser Vorgang wurde für die gesamte Anthropologie des Altprotestantismus und dessen einschlägige Lehrstreitigkeiten bestimmend221. Erst vor diesem Hintergrund sind der erbsündenkritische Schwerpunkt und das aufklärungstheologische Interesse an einer Gesamtrevision der Anthropologie zu begreifen. Nachdem schon Karl Aner 1927 vonseiten der Theologiegeschichte mit seiner „Theologie der Lessingzeit“ der Erbsündenkritik innerhalb der neologischen Dogmen‑ und Bibelkritik einen ersten Platz eingeräumt hatte und Ernst Cassirer nur wenige Jahre später diese zum kritischen Zentrum der Aufklärungs219 Nietzsche,
Jenseits von Gut und Böse, S. 40. Grundstruktur von Luthers Sündenlehre vgl. Barth, Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens, S. 30–34. 221 Vgl. Beutel, Luther Handbuch, S. 466 ff. [Karl-Heinz zur Mühlen]. 220 Zur
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philosophie erklärt hatte222, war es vor allem Emanuel Hirsch, der nach 1945 nicht nur die „Rückkehr des Aufklärungsthemas“223 mit seiner „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ (1949–54) einläutete224, sondern zugleich die Kritik der Erbsündenlehre durch die Aufklärungstheologie zu einem zentralen Gesichtspunkt seiner Rekonstruktion dieser theologiegeschichtlichen Epoche erklärte. Sie stelle einen Topos dar, der für die Umformung des Christentums und die Formierung des Neuprotestantismus von ausschlaggebender Bedeutung sei, insofern ein Merkmal des Neuprotestantismus darin bestehe, dass die Gnadenlehre „auf das Ausgehen von einer ursprünglichen Verderbnis der menschlichen Natur verzichtet“225. „Wir stoßen damit auf das schwerste theologische Fragmal, das sich der Neologie auf den Weg gepflanzt hat. Jeder Theolog dieser Gruppe hat sich mit ihm geplagt. Es scheint ihnen unbedingt geboten, das evangelische Christentum zu befreien aus der Verstrickung in die augustinische Lehre von Erbschuld, Erbsünde und die darauf gebaute Lehre von der wunderhaften prädestinatianischen Gnadeneingießung, die den Menschen ohne sein Zutun sittlich ändert.“ Die Neologie war es, die die Befreiung von der Erbsündenlehre zu ihrer vornehmsten „Doktorfrage“226 erhob und sich das Verdienst erworben hat, „die Auflösung der widernatürlichen Ehe zwischen augustinischer und reformatorischer Theologie … eingeleitet zu haben“227. Hirschs Darstellung ist bis heute die einzige Gesamtdeutung der Aufklärung, die deren Kritik der Erbsündenlehre so breiten Raum einräumt.228 In dieser Deutungstradition stehen eine ganze Reihe von Gesamtdarstellungen des Aufklärungszeitalters resp. seiner Theologie, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen nichts Neues zur Sache zu sagen fanden.229 Einen Versuch, die Kontinuitäten der Aufklärungstheologie zur Frühaufklärung und zur sog. Protestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts in Sachen Erbsündenkritik gegen diesen angeblichen epochentheoretischen Mainstream stärker zur Geltung zu bringen, stellt die Studie von Anselm Schubert dar. Er postuliert „Das Ende der Sünde … zwischen Reformation und
222
Vgl. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 143–167. Nowak, Vernünftiges Christentum, S. 15. 224 Vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bde., Gütersloh 1949 ff. 225 Ebd., Bd. 3, S. 128. 226 Ebd., Bd. 4, S. 29. 227 Ebd., S. 30. 228 Es ist bemerkenswert, dass Hirsch als Lutheraner die Kritik an einer erst durch Luther wieder mit ganzer Wucht in die Christentumsgeschichte eingeführte augustinische Erbsündenlehre als notwendige Entschlackung der reformatorischen Theologie begrüßt: „Die Auflösung der widernatürlichen Ehe zwischen augustinischer und reformatorischer Theologie ist ein wirkliches Verdienst der Neologie. […] Dies einzusehen ist mir hart gewesen angesichts der mir mit Luther zuteil gewordenen Verwurzelung im paulinischen Rechtfertigungsglauben.“ (Ebd., Bd. 4, S. 30.) 229 Vgl. bspw. Gericke, Theologie und Kirche, S. 95 ff.; vgl. Rohls, Protestantische Theologie, S. 199–217. 223
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Aufklärung“230, kommt jedoch schließlich nur zu dem bescheideneren Ergebnis, dass in den anthropologisch-dogmatischen Diskursen der Spätorthodoxie und Frühaufklärung das „eigentliche Ende der traditionellen lutherischen Anthropologie … eingeläutet“231 wurde. Schubert blendet die historiographischen Differenzen zwischen Voraussetzungen und Vorgang, zwischen Ermäßigung und Kritik, schließlich zwischen Ende und Anfang vom Ende methodisch aus, um jedoch in der Einzeldarstellung doch erst der Neologie den „radikalen Umbau der lutherischen Anthropologie“232 zugestehen zu müssen. Hier sei sodann angemerkt, dass seine These, die Neologie habe die traditionelle Anthropologie nicht als Ganze abgeschafft, sondern nur den Gedanken der Imputation der Sünde Adams, der vielschichtigen neologischen Erbsündenkritik wohl nicht gerecht zu werden vermag. Es ist schließlich methodisch problematisch, den Ausgangspunkt der neologischen Anthropologie bei Wilhelm Abraham Tellers „Lehrbuch des christlichen Glaubens“ (1764) genommen zu haben, worin Schubert explizit Karl Aners Ansatz folgt233, weil er damit die Frühgeschichte der Neologie in den 1740er Jahren und damit auch Spaldings Bestimmungsschrift ausblendet, der in der Geschichte vom ‚Ende der Erbsünde‘ eine gewichtige Rolle zukommt. Die einschlägige These unserer Studie besteht demgemäß auch darin, dass Spaldings Programmschrift innerhalb der Epoche der Neologie eine erste grundsätzliche Erweichung der altprotestantischen Sündentheologie darstellte, bevor dann ihre Hauptvertreter diesen Locus der lutherischer Theologie direkt und aus verschiedensten Perspektiven in Beschuss nahmen.234 Was bis dato in der Spaldingforschung nur am Rande Erwähnung fand (vgl. Forschungsbericht), soll im Folgenden eingehend untersucht werden.
7.1 Goezes Kritik an Spaldings Anthropologie – ein rezeptionshermeneutischer Zugang Spalding verfasst seine Programmschrift gänzlich ohne kontroverstheologische Polemik und beschränkt sich vollständig auf die konstruktive Darstellung seiner Ideen. Jedoch verfügt die Schrift auch über ein gehöriges Potential impliziter und indirekter Kritik an unterschiedlichen Lehrbeständen der altprotestantischlutherischen Dogmatik, nicht zuletzt auch an der traditionellen Sündenanthropologie. Das hermeneutische Problem bei der Tiefenanalyse dieser Bedeutungs230 Vgl.
Schubert, Ende der Sünde [Titel]. S. 171. 232 Ebd., S. 173. 233 Ebd., S. 30. 234 Zu erwähnen wären hier exemplarisch: Teller, Lehrbuch der christlichen Religion (1764); Diterich, Unterweisung zur Glückseligkeit (1772); Eberhard, Neue Apologie (1772); Toellner, Die Güte der menschlichen Natur (1773); Steinbart, System der reinen Philosophie (1778); Teller, Religion der Vollkommneren (1792). 231 Ebd.,
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ebene besteht darin, wie aus dem Gesamtarrangement des Stoffes einerseits und den leisen Anspielungen sowie der impliziten Kritik andererseits Spaldings kritische Intentionen rekonstruiert werden können. Wir wählen aufgrund dieser Problemlage den Weg über die zeitgenössische Rezeptionsgeschichte, die uns den garstigen Sprung in die Historie zwar nicht ermöglicht, aber doch die Analyse methodisch kontrollierbarer macht. Bei der rezeptionshermeneutischen Analyse darf jedoch nicht die prinzipielle Differenz zwischen der intentio auctoris und der Rezeptionswirkung ausgeblendet werden, wobei hier keiner Hinsicht der Vorrang vor der je anderen gegeben werden soll. Denn für die Studie sind das dogmen‑ und traditionskritische Interesse Spaldings als auch in Hinblick auf die Kommunikationsstrategien und Diskurskulturen der theologischen Aufklärung die faktischen Rezeptionsprozesse gleichermaßen von Bedeutung. Wir wollen uns im Folgenden auf die erste Rezension der Bestimmungsschrift beschränken, die aus der gespitzten Feder Johann Melchior Goezes stammt, des nachmaligen Antipoden Lessings. Goezes ausführliche Rezension erschien bereits im September 1748.235 Die Entstehungsgeschichte der Rezension ist verschlungen, wirft aber ein exemplarisches Licht auf die Infrastruktur der Kommunikationswege, auf denen neue Ideen und Texte weitergegeben und diskutiert wurden. Goeze bezieht sich in seinem Text auf ein bereits 1747 von Spalding im Freundeskreis in Umlauf gebrachtes vorläufiges Manuskript seiner Schrift. Seine Besprechung datiert denn auch auf den 18. März 1748, also zwei Monate vor der eigentlichen offiziellen Publikation der Bestimmungsschrift. Schauen wir uns die Rezension unter unserer Fragestellung an, so lässt sich feststellen, dass der Ascherslebener Diakon prinzipielle Einwände gegen die anonyme Publikation vorbringt. Der erste Kritikpunkt betrifft Spaldings vollständige Suspendierung des Gedankens einer göttlichen übernatürlichen Offenbarung, der mit dem zweiten Einwand zusammenhängt. Dieser ist aus der Perspektive Goezes und unserer Fragestellung von „noch groesserer Wichtigkeit“236. Goeze erhebt gegen den Anonymus den Vorwurf, dass er die moralischen Fähigkeiten des Menschen überschätze und damit einerseits die Sündenlehre, andererseits auch die Rechtfertigungs‑ bzw. Gnadenlehre desavouiere. Seine Ausgangsfrage lautet: „Es ist die Frage: Ob ein sich selbst gelassener Mensch, ohne von übernatürlichen Gnadenkräften unterstützet zu werden, im Stande sey, sich in die Verfassung zu setzen, daß er dem höchsten Ursprunge aller Dinge gefalle, und durch seine eigenen Kräfte also seine grosse Bestimmung zu erreichen?“237 Goeze stellt seiner Frage die Grunddifferenz zwischen einem auf sich selbst und seine eigenen Fähigkeiten gestellten Menschen und einem solchen, der ‚übernatürlicher Gnadenkräfte‘ zur Erreichung seiner Bestimmung bedarf, zu235 Vgl.
dazu ausführlich: Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung]. Gedanken, S. 14. 237 Ebd. 236 Goeze,
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grunde. Bereits mit dem Begriff des Übernatürlichen deutet sich an, dass sich die Differenz auch auf den Gegensatz von Natur und Übernatur bringen lässt. Dies bestätigt Goeze, indem er den Begriff des ‚sich selbst gelassenen‘ mit dem des natürlichen Menschen gleichsetzt: „Und wie will ein natürlicher sich selbst gelassener Mensch ein so schweres Werk angreifen?“238 Seine Antwort lautet: „Ich behaupte mit völliger Gewisheit, das ein natürlicher sich selbst gelassener Mensch weder das Verderben seiner Seele heilen, noch aus eigenen Kräften den geringsten Anfang machen kan, seiner Bestimmung gemäs und gottgefällig zu leben, und ich kan in dieser Sache mit Freudigkeit die allgemeine Erfahrung zum Zeugen rufen.“239 Hier wird zunächst zweierlei deutlich. Zum einen stellt Goeze den bestimmungslogischen Thematisierungskontext der Spaldingschen Schrift formal nicht in Frage. Sodann begründet er seine inhaltliche Kritik nicht schrifttheologisch und auch nicht dogmatisch, sondern beruft sich wie auch Spalding seinerseits auf die Erfahrung, die gegen dessen optimistische Moralkonzeption spreche. Damit wird klar, dass sich der sachlich durchaus kontroverse Einwand Goezes zugleich den durch Spalding vorgegeben Rationalitätsstandards stellt und sich auf seine gewissermaßen empirische bzw. phänomenologische Diskusebene einlässt. Jedoch in der Sache könnte der Einspruch nicht deutlicher ausgefallen sein. Unter Bezugnahme auf erbsündentheologische Terminologie – ‚Verderben der Seele‘ – stellt der Rezensent Spaldings Grundannahme in Frage, der Mensch könne von Natur aus seiner Bestimmung gemäß leben, und das heißt moralisch gut sein. Der Grund liegt nicht nur in der Schwäche der Durchsetzung ethisch guter Entschlüsse auf der Handlungsebene, sondern auch und vornehmlich in der Qualität der menschlichen Begierden und Neigungen: „Es wohnen mächtige und gefährliche Feinde in dem Innersten unserer Seele, welche die besten und kräftigsten Entschließungen nicht allein bestürmen, sondern auch gar bald über den Haufen werfen; und solches sind die bösen Begierden, die verkehrten Neigungen des Herzens.“240 Während Spalding sein Ethikkonzept gerade auf einer positiven Bestimmung der affektiven Ebene des moralischen Bewusstseinslebens aufruhen lässt, stellt Goeze ihre positive Bewertung grundsätzlich in Frage. Der „Sturm[s] der Begierden“ richte sich nicht auf das Wohl des anderen Menschen und der Menschheit als ganzer, sondern vielmehr handelt es sich in der Sicht Goezes um „eigennützige[n] und schwermende[n] Begierden“241. Damit zusammen hängt seine gegenüber Spalding negative Bestimmung des Lustbegriffes: „Unsere Lüste machen es wie ein kluger Feind. […] Wahrheit und Vernunft, welche ohnedem Fremdlinge in unserer verderbten Seele sind, müssen alsdenn weichen, und der beste Vorsatz, welchen ein natürlicher Mensch fassen kan, thut bey Bändigung der Lüste nichts weiter, als ein niedriger 238 Ebd., 239 Ebd.,
S. 17. S. 18.
241 Ebd.,
S. 19.
240 Ebd.
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Damm, welcher einen reissenden Strohm nur deshalb eine Zeitlang aufhält, damit er desto mehr anschwellen und die umliegende Gegenden mit desto grösserer Gewalt überschwemmen könne.“242 Auch in diesem Zitat ist es wieder der ‚natürliche Mensch‘, dem die Bändigung seiner Lust unmöglich sei. Die negative Bewertung der menschlichen Natur stellt – wie bereits angedeutet – das Hauptmotiv von Goezes Kritik an Spaldings Tugendkonzeption dar. Er zitiert denn auch eine längere Passage aus der Bestimmungsschrift, in der Spalding von einer grundsätzlich ethisch potenten Einrichtung der menschlichen Natur ausgehe, was Goeze dezidiert in Frage stellt: „Der Verfasser scheint an der Möglichkeit dieser Einrichtung seiner Natur nicht zu zweifeln, da er die Hofnung hat, die Wirklichkeit davon mit so leichter Mühe zu bewerkstelligen.“243 Das Beweisziel von Goezes Kritik an Spaldings Naturbegriff besteht darin, nachzuweisen, dass Menschen „nothwendig mit übernatürlichen Kräften der Gnade ausgerüstet seyn müssen, wofern wir die innerliche Richtigkeit erhalten, unsere grosse Bestimmung erreichen und dem Urheber aller Dinge gefallen wollen“244. Damit deutet sich an, dass Goezes ethische Disqualifizierung der humanen Natur prima facie sich eines gnadentheologischen Motivs verdankt: „Da es nun das Ansehen gewinnet, als ob der Verfasser in seinen Entschließungen die Kräfte der Natur für überflüssig hinlänglich achte, und dagegen die Kräfte der Gnade und den Beystand des Geistes Gottes ganz bey Seite setze; so kan ich alles, was er von dieser Sache geschrieben, für nichts, als für prächtige, aber leere Worte halten …“245 Goezes in anthropologischer und ethischer Hinsicht negative Qualifizierung des Naturbegriffes steht in der Tradition der lutherischen und Sünden‑ resp. Erbsündenlehre. Auch wenn diese Begriffe nicht fallen, ist deutlich, dass seine Fundamentalkritik an Spaldings Bestimmungskonzeption nur vor dem Horizont dieser dogmatischen Lehrtradition zu verstehen ist. Denn von Luther246 und Melanchthon247, von den lutherischen Bekenntnisschriften248 bis hin zur Spätorthodoxie249 stellt die ethisch-religiöse Depotenzierung der humanen Natur einen zentralen Aspekt sündentheologischer Reflexion dar. Damit wurde deutlich: Goeze als früher Leser Spaldings rezipierte sein Bestimmungskonzept als sünden‑ resp. erbsündenkritisches Programm. Es stellt sich mithin die Frage, inwieweit diese Rezeptionsperspektive durch den Text selber begründet ist. 242 Ebd.,
S. 19 f. S. 15. 244 Ebd., S. 21. 245 Ebd. 246 Vgl. Luther, De viribus et voluntate hominis, S. 312; Schmalkaldische Artikel, S. 434. – Vgl. Gross, Erbsündendogma, S. 12–36. 247 Vgl. Melanchthon, Loci communes, S. 42f; 60 f.; 66 f. 248 Vgl. Augsburgische Konfession, S. 53. – Vgl. Gross, Erbsündendogma, S. 73–83. 249 Vgl. Luthardt, Kompendium, S. 207–219. 243 Ebd.,
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7.2 Spaldings implizite Kritik an der lutherisch-orthodoxen Erbsündenlehre Johann Gottlieb Toellner stellt 1770 fest, dass die ethische Suffizienz der moralischen Empfindung mit der Ablehnung des Sündenfalldogmas einhergehe.250 Was der neologische Kollege Spaldings über 20 Jahre nach der 1. Auflage der Bestimmungsschrift ausdrücklich betont, beginnt bei Spalding als „stillschweigende Verabschiedung der pessimistischen Anthropologie der lutherischen Orthodoxie“251. Wir werden mit der moralischen Empfindung (1.), mit der freiheitstheoretischen Tiefendimension (2.), mit dem Begriff der Natur des Menschen (3.) und mit der glückstheoretischen Rahmenkonzeption (4.) solche Theoriemomente hinsichtlich ihrer anthropologischen Implikationen erörtern, die deutlich machen, dass die Grundkonzeption der Bestimmungsschrift erbsündenkritisches Potential birgt. 1. Die argumentative Grundlage stellt Spaldings Theorie der moralischen Empfindung dar, die wir bereits (vgl. V.5) rekonstruiert haben. „Ich spüre Empfindungen in mir, dabey ich mich selbst vergesse, die nicht mich und meinen Vortheil …, sondern ganz etwas anders zum Zweck haben; Empfindungen der Güte und Ordnung …; ursprüngliche und unabhängliche Triebe meiner Sele zu dem, was sich schickt, zu dem, was anständig, großmüthig und billig ist, zu der Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit überhaupt, und vornemlich in den Wirkungen verständiger und freyhandlender Wesen.“252 Die dogmenkritische Bedeutungshinsicht drückt sich formal bereits in der antithetischen Satzstruktur aus: Spalding negiert aufgrund der Wahrnehmung der ‚Empfindungen der Güte und Ordnung‘, dass der Mensch nur auf sich selbst bezogen ist; vielmehr kann er sich in Beziehung zu andern selbst ganz vergessen. Der Mensch ist nicht (nur) durch den amor sui gekennzeichnet. Diesen erbsündentheologischen Topos nimmt Spalding denn auch explizit auf: „So ist also gewiß eine Art von Neigungen eine Quelle der Handlungen in mir, die von meiner Eigenliebe wesentlich unterschieden ist, und doch eben so wesentlich zu meiner Natur gehöret.“253 Mit dem Epitheton ‚ursprünglich‘ nimmt Spalding Bezug auf den erbsündentheologischen Aspekte der Ursprünglichkeit und Angeborenheit der 250 Vgl.
Toellner, Güte der menschlichen Natur. Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 176. 252 Spalding, BdM, S. 8 [S. 10]. – „Ich habe vielfältig, zu meiner Verwunderung, Triebe und Empfindungen in mir wahrgenommen, die ich gar nicht zu den Begierden nach sinnlicher Lust, oder nach eigenem Vortheil rechnen, und denen ich mit diesen gar nicht genug thun kann.“ (Ebd., S. 7 [S. 9]) 253 Ebd., S. 10 [S. 12]. – Es sei hier am Beispiel der incurvatio in seipsum (vgl. Barth, Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens, S. 31) deutlich gemacht, dass Spalding neben der Eigenliebe auf weitere erbsündentheologische Topoi rekurriert: „Selbst die nächsten und gemeinsten Gestaltungen der Natur rühren mich mit einem tausendfachen Ergetzen, wenn ich sie mit einer Sele empfinde, die zur Freude und zum Bewundern aufgelegt ist, und die nicht in sich selbst, in ihrer eigenen Verkehrtheit den natürlichsten Samen des Unmuths träget.“ (Ebd., S. 14 251 Sommer,
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Sünde und bildet ihn positiv auf die moralischen Empfindungen bzw. Triebe des Menschen ab: Nicht die Sünde stellt die anfängliche Disposition des Menschen dar, sondern wesentlich auch die moralische Empfindung. 2. Des weiteren klingt im obigen Zitat mit der Anspielung auf das ‚freihandelnde Wesen‘ die implizite These Spaldings an, dass der Mensch ein in ethischer Hinsicht freies Wesen ist. Auch wenn der Begriff der Freiheit als Terminus nur eine marginale Rolle spielt, verfügen die Theorie der Natur des Menschen und der natürlichen moralischen Empfindung über eine freiheitstheoretische Dimension, insofern Spalding von der Fähigkeit des natürlichen Menschen ausgeht, unabhängig von übernatürlichen Kräften die Bestimmung zur Tugend am Orte der eigenen Person zu verwirklichen, d. h. die natürliche Einrichtung aus der bloßen Potentialität in die Realität zu überführen. In dieser Hinsicht stellt Sommer zu Recht fest, dass gerade Spaldings „Freiheitspathos“ eine erbsündenkritische Absicht intendiere: „Die pessimistische Anthropologie paulinisch-augustinischer Provenienz mitsamt Erbsündenlast und prädestinationstheologischem Pessimismus ist zwar nicht einem naiven Vernunftoptimismus, aber doch der Überzeugung gewichen, dass der Mensch mit einiger Anstrengung den Kurs seines Daseins frei zu wählen vermag.“254 Damit setzt sich sein Konzept von solchen Sündenkonzeptionen ab, die in der Tradition Augustins und von Luthers Determinismuskonzeption her die ethisch-religiöse Dimension menschlicher Freiheit in Frage stellt.255 3. Indem Spalding die moralischen Neigungen des Menschen als wesentlich zur menschlichen Natur gehörig zählt, nimmt er mit dem Naturbegriff eine Zentralkategorie altprotestantischer Anthropologie256 auf und kodiert sie positiv um: „Vielleicht ist diese natürliche Empfindung erst von Anfang an durch die betäubende Macht der Sinnlichkeit, die mich so gleich in der Welt von allen Sei[S. 16].) Der Mensch verfüge nicht über eine Verkehrtheit bzw. Insichgekehrtheit der Seele, was Spalding hier exemplarisch mit der menschlichen Fähigkeit zur Naturbewunderung begründet. 254 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 167. 255 Vgl. Bayer, Freiheit; vgl. Zager, Luther und die Freiheit; vgl. Beiner, Intentionalität; vgl. Kaufmann, Luther und Erasmus. – Schon die anthropologischen und sündentheologischen Debatten innerhalb der lutherischen Dogmatik des 17. Jahrhunderts haben gezeigt, dass das Vernichtungsurteil des Wittenberger Reformators über die Potenz der menschlichen Willensfreiheit in ihrer ethisch-religiösen Hinsicht kontroverstheologischen Zündstoff bot und keineswegs unhinterfragt blieb (vgl. Axt-Piscalar, Sünde, S. 408). – Der Autor ist sich bewusst, dass die Frage nach Luthers Freiheits‑ und Determinismusbegriff zu den strittigen Problemen der Lutherforschung gehört. Nach meinem Verständnis bedingt bei Luther die menschliche Unfreiheit in soteriologischer Hinsicht auch eine ethische Unfreiheit des Willens. Davon ausgenommen ist natürlich der Bereich des Politischen und Sozialen, jedoch nur insofern, als es sich hiermit um die Handlungssphäre menschlicher Entscheidungen handelt. 256 Es kann in unserem Kontext nur allgemein von der traditionellen lutherischen Erbsündenlehre bzw. lutherisch-orthodoxer Anthropologie gesprochen werden, ohne jeweils den genauen Nachweis bei Luther und bei den Dogmatiken des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts zu erbringen. Es sei summarisch verwiesen auf: H.-M. Barth, Theologie Martin Luthers, S. 203 ff.; Leppin, Transformationen der Sündenlehre; Axt-Piscalar, Sünde.
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ten umringet und bestürmet hat, unterdrückt worden; allein da hat mir nachher eine genauere und tiefer gehende Achtsamkeit gar bald gezeiget, daß dieß ein Mangel, ein würklicher Uebelstand in meiner Natur gewesen, derselbe mag auch eine Ursache gehabt haben, welche er gewollt.“257 Zunächst ist festzustellen, dass Spalding mit dem Begriff des ‚Übelstandes‘ einen Terminus aufnimmt, der eine Anspielung auf die Statuslehre der lutherisch-orthodoxen Anthropologie darstellt, genauer auf das Lehrstück vom status corruptionis. Er räumt ein, dass die Moralität beim Menschen anfänglich unterdrückt ist. Damit wird jedoch auch deutlich, dass dieser Übelstand der menschlichen Natur von Spalding keineswegs als ursprünglicher Zustand des Menschen begriffen wird, sondern erst nachgängig die ursprüngliche natürliche Empfindung unterminiert. Im Nachsatz signalisiert Spalding, dass sich die spekulative Frage, worin sich diese Unterdrückung begründet, und die erbsündentheologische Frage der Ursache bzw. Vererbung sowie des Angeborenseins der Sünde seinem Interesse entziehen. – Die Formulierung ‚Übelstand in meiner Natur‘ bedeutet vom Kontext her also nicht, dass die Natur des Menschen einen Übelstand darstellt, sondern vielmehr, dass die ursprünglich gute Natur durch die ‚Macht der Sinnlichkeit‘ in einen Übelstand geraten kann. Die Unterminierung der natürlichen Empfindung stellt demgemäß gerade nicht die natürliche moralische Situation des Menschen dar, sondern würde ihr vielmehr zuwiderlaufen: „Da ich nun diese ursprüngliche Einrichtung meiner Natur nicht verläugnen kann, so würde ich derselben offenbarlich widersprechen, wenn ich meine Absichten auf nichts weiter, als auf mich, auf meine Lust und auf meinen Vortheil richten wollte.“258 Mit dem Begriff der ‚ursprünglichen Einrichtung‘ nimmt Spalding erneut indirekt Bezug auf den erbsündentheologischen Topos der Ursprünglichkeit der Sünde und kodiert ihn im Sinne seiner Theorie der moralischen Empfindung als der natürlichen Disposition des Menschen um: Nicht die Sünde stellt die ursprüngliche Einrichtung des Menschen dar, sondern vielmehr eine in der Natur des Menschen angelegte Disposition zur Moralität. Jedoch räumt Spalding – im Zitat zuvor – ein, dass diese originäre ethische Anlage anfänglich unterdrückt sein kann. Die Unterscheidung von Ursprung und Anfang ermöglicht es Spalding, die erbsündenkritische Umbestimmung des Naturbegriffes mit dem von ihm zu konzedierenden empirischen Sachverhalt eines anfänglichen moralischen Defizits in Einklang zu bringen. Auch wenn die Genese des moralischen Bewusstseins von einem defizitären Stadium ihren Ausgang nimmt, so ist – wenn nicht die Realisierung – doch das Bewusstsein der Geltung der moralischen Empfindung resp. Gefühls im zeitlichen Sinne gleichursprünglich: „Ist gleich das Gefühl dieses hohen Ergetzens in mir anfangs schwach gewesen, so habe ich es doch gleich anfangs unumstößlich
257 Spalding, 258 Ebd.,
BdM, S. 9 [S. 10 f.]. S. 11 [S. 12].
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recht und wahr gefunden.“259 Damit kommt die ursprüngliche moralische Natur des Menschen nicht nur als Faktum in den Blick, sondern auch als Norm: „Ich sehe nunmehr, wohin meine Natur mich führet, meine ganze Natur, wenn ich sie unverstümmelt und unverfälscht betrachte; und ich will ihr folgen, wohin sie mich führet.“260 Die Natur des Menschen ist dem Menschen zugleich gegeben und aufgegeben, Indikativ und Imperativ: „[D]arum will ich darauf bedacht seyn, … dieser Stimme der Natur zu gehorchen …. […] Ich will dahin trachten, daß die Neigung der Güte, die mir eingepflanzet ist, immer mehr gestärket, und auf alle mögliche Weise befriediget werde.“261 Spalding geht sogar soweit, dass er in Antithese zur erbsündentheologischen Imputationsthese, wonach die Sünde Adams seinen Nachkommen zugerechnet wird, den Menschen ermutigt, sich die wesentliche bzw. natürliche ethische Bonität „zu einer Ehre an[zu]rechnen“262, da die moralische Qualität so tief in der guten menschlichen Natur verankert sei263. Mit dem Begriff der ‚guten menschlichen Natur‘ knüpft Spalding implizit an die Tradition der angeborenen Begriffe an: „Was sollte ich sonst aus der Scham machen, aus dieser beschwerlichen und von der Furcht doch so wesentlich unterschiedenen Empfindung? Was wäre die so oft von aller Besorgniß eines Schadens abgesonderte Reue? Woher käme der grosse Unterscheid des Unwillens bey einerley Nachtheil, der mir entweder von einem Thiere, von einem Kinder, von einem Wahnwitzigen, oder hergegen von einem ordentlichen verständigen Menschen aus Vorsatz und Bosheit zugefüget wird; wenn nicht meinem Geist ein natürlicher Begriff von einem Anständigen und Schändlichen, von einem Schönen und Hässlichen, von Recht und Unrecht eingedrückt wäre.“264 Das Konzept der ‚eingedrückten natürlichen Begriffe‘ verfügt mit dem Motiv des Eingedrücktseins resp. Angeborenseins über eine formale bzw. strukturelle Äquivalenz zur Erbsündenlehre, wenngleich sie letzterer in ethisch-sachlicher Hinsicht genau zuwiderläuft: Während in der traditionellen Erbsündenlehre die Sünde angeboren ist, sind für Spalding hingegen die Begriffe von Gut und Böse angeboren. Zudem wird hier deutlich, dass Spaldings Begriff der ethischen Natur des Menschen nicht als determinativ-notwendige Struktur zu verstehen ist, sondern vielmehr durch seine begriffstheoretische Fassung eine Dimension des menschlichen Geistes darstellt und nur insofern als natürlich zu bezeichnen ist, als der Mensch über die Begriffe verfügt und die Möglichkeit besitzt sein ethisches Bewusstsein und Handeln an den durch sie gesetzten Normen zu orientieren. 259 Ebd.,
S. 14 [S. 15]. S. 11 [S. 12]. 261 Ebd., S. 11 [S. 13]. 262 Ebd., S. 12 [S. 13]. 263 Vgl. ebd. 264 Ebd., S. 8 [S. 10]. 260 Ebd.,
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Spalding geht jedoch über die bloße Feststellung, dass die natürlichen Begriffe von Gut und Böse, Recht und Unrecht dem Menschen ‚eingedrückt‘ bzw. angeboren sind, hinaus, indem er eine theologische bzw. ontologische Begründung dafür entwickelt. Im Religionsabschnitt heißt es dazu: „Hierbey erkenne ich denn nun auch ungezweifelt, daß dieser alles regierende Verstand keine andere Absicht haben könne, als daß alle Dinge in ihrer Art und im Ganzen gut seyn mögen. Dahin sind alle Gesetze eingerichtet, die er in sie geleget hat. Dahin zielen alle Bewegungen der Körper, und die ursprünglichen Triebe der verständigen Wesen.“265 Insofern der Mensch im ontologischen Sinne ein Ding, eine Entität ist, fällt auch er unter das allgemeine Diktum der prinzipiellen Integrität, sowohl als Einzelnes als auch in Relation zum Ganzen. Die Spezifik der Gutheit des Menschen begründet sich auf seinem Charakter eines ‚verständigen Wesens‘ und bezieht sich auf die Ebene der ‚Triebe‘, also der ethischen Dimension des Menschen. Auch hier begegnet wiederum die Qualifizierung der Ursprünglichkeit und mithin eine Invektive gegen die erbsündentheologische These von der Depravation der ethischen Motivationsebene. Im Hintergrund steht einerseits die platonistische Konzeption eines ethischen und ästhetischen Gottesbegriffes, in welchem Gott als „Urbilde der Vollkommenheit, von einer ursprünglichen Schönheit, von einer ersten und allgemeinen Quelle der Ordnung“ vorgestellt wird, und dessen „unbegreifliche[n] Ausflüsse allen Dingen Daseyn, Dauer, Kräfte und Schönheit mittheilet“266. Andererseits korrespondiert Spaldings Begriff eines „Verstand[es], der für das Ganze denkt, der das Ganze einrichtet und lenket“ seinem kosmologischen Konzept eines „Ganzen voller Ordnung“267, in welches konsequenterweise auch der Mensch als Teil des Ganzen einzuordnen ist. Das Entsprechungsverhältnis von Welt‑ bzw. Gottesbegriff und der ethischen Wesensbestimmung des Menschen macht Spalding deutlich, indem er die Quelle-Ausfluss-Metaphorik auch auf die Moralität bezieht: „Diese natürlichen und unmittelbaren Ausflüsse einer innerlichen Richtigkeit, darin die Gesundheit und die Zierde meines Geistes bestehet, dieß soll mein angenehmstes und beständigstes Geschäfte seyn.“268 So wie der Mensch ein wesentlich und natürlich guter Ausfluss der urbildlichen Vollkommenheit ist, so haben gleichsam auch des Menschen ‚Ausflüsse‘ dieser Vollkommenheit zu entsprechen. 4. Schließlich ist die glückstheoretische Zentralperspektive der Bestimmungsschrift in ihrer erbsündenkritischen Valenz zu bedenken. Die altlutherische anthropologische Statuslehre hatte Glückseligkeitsaspekte für den status integritatis und status gratiae reserviert. Die urständliche Glückseligkeit moralisch-religiöser Vollkommenheit habe der gefallene Mensch einerseits verloren, andererseits 265 Ebd., 266 Ebd.,
S. 16 f. [S. 18]. S. 15 [S. 17].
268 Ebd.,
S. 12 [S. 14].
267 Ebd.
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
bestehe auch sein Ziel nicht in der eigenen diesseitigen Glückseligkeit, sondern in der Dialektik des simul justus et peccator und mithin in der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und der Hoffnung auf die Rechtfertigungsgnade. Das Streben nach Glückseligkeit wird hierbei unter den amor sui verrechnet und stellt damit seinerseits ein Moment der Sünde des Menschen dar. Insofern das Glücksstreben einen integralen Bestandteil von Spaldings anthropologischem Programm darstellt, ist sein Konzept in der Bestimmungsschrift als ganzes als ein Gegenprogramm zur augustinisch-lutherischen Sündenlehre zu verstehen. Damit wurde deutlich: Ohne Polemik und unter Verzicht auf einen direkten Angriff verfügt Spaldings „Bestimmung des Menschen“ über eine erbsündenkritische Tiefenschicht, sowohl hinsichtlich konstitutiver Theorieelemente als auch innerhalb einzelner Aspekte und Formulierungen. Jedoch: Spalding ist „kein naiver anthropologischer Optimist“269; vielmehr nimmt die Bestimmungsschrift gerade mit ihrer Stufen‑ und Entwicklungskonzeption das relative Negativitätsbewusstsein des nach sich selbst fragenden Subjektes ernst. Dies wird auch daran ersichtlich, dass trotz moralischer Empfindung, Freiheit und guter Natur des Menschen für Spalding Religion nicht schon obsolet wäre. Auch wenn die Tugend zunächst keinerlei theologischer bzw. religiöser Begründungen bedarf, findet die Bestimmung des Menschen bzw. dessen Glückseligkeit in der Tugend an sich noch keinen befriedigenden Abschluss. Sie bedarf zu ihrer Stabilisierung und Abstützung der Religion und der Unsterblichkeit.
8. Religion und Unsterblichkeit 8.1 Die Geburt der Religion aus dem Welt‑ und Selbstbewusstsein Spalding zaubert in der Bestimmungsschrift keinen Deus ex machina, sondern führt das räsonierende Ich von der Selbstentdeckung der moralischen Natur des Menschen gleichsam zur Religion hinüber. Eine Scharnierfunktion kommt hierbei der kosmologischen sowie der ästhetischen Dimension des Tugendkonzepts zu. Die Tugend basiert, wie bereits ausgeführt (vgl. V.5), auf der Übereinstimmung des eigenen Handelns zum „Beste[n] anderer“ sowie zum „allgemeine[n] Beßte[n]“270, die als „Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit“ empfunden wird. Damit koinzidieren „Empfindungen der Güte und der Ordnung“271 und zugleich eröffnet sich dem moralischen Subjekt ein Referenzrahmen, in dem das Ich als Teil zu stehen kommt und in dem es sein Handeln in Relation zum Ganzen setzt. Demgemäß charakterisiert Spalding die daraus entspringenden Handlungsmaximen als „ewige[n] Regeln des Rechts und der 269 Sommer,
Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 185. BdM, S. 10 [S. 12]. 271 Ebd., S. 8 [S. 10]. 270 Spalding,
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Ordnung“, weil sie auf dem „unveränderlichen Wesen der Dinge“ bzw. der „allgemeine[n] Natur der Dinge“272 aufruhen. Die Tugend wird nun von Spalding – und darauf kommt es hier wesentlich an – über ihren Selbstwert hinaus gleichsam als Einübung in ein kosmologisches und ästhetisches Bewusstseins allgemein bestimmt: „Allein auch ausser dem dienet die ganze Natur dazu, mein Vergnügen zu vermehren. Seit dem ich angefangen habe, keine Spur der Schönheit und Regelmäßigkeit nachläßig zu übergehen, finde ich sie unendlich in allem, was ich um mich sehe. Alles ist Ordnung; alles ist Proportion; alles ist folglich ein neuer Gegenstand des Wohlgefallens, der Liebe und der Freude. Wie gleichgültig, wie verachtenswürdig sind mir jene blendenden Schimmer des Ansehens und der Pracht gegen den lebendigen Glanz der wahrhaft schönen Welt ….“273 Hatte sich die ganze Natur dem Ich zunächst als Bezugsrahmen seiner ethischen Einstellung dargeboten, so rückt das Subjekt sie nun in die Perspektive des ästhetischen Vergnügens. Der Ausdruck ‚ganze Natur‘ zeigt an, dass nicht mehr nur die Relation des Subjektes zum Naturganzen als Gegenstand der ethisch-ästhetischen Empfindung zu stehen, sondern dass nun auch das Ganze der Natur unabhängig von ihrer Bezugnahme auf das Ich in den Blick des ästhetischen Bewusstseins kommt. Dabei bleibt jedoch Spalding nicht stehen. Vermittelst der ästhetischen Wahrnehmung des Ganzen der Natur eröffnet sich eine Unendlichkeits‑ bzw. eine Totalitätsdimension: Die Natur erscheint zunächst in allem Einzelnen als schön. Hieraus entspringt eine Unendlichkeitsvermutung, nach dem das Ich auch die Totalität der Natur bzw. Welt als Ordnung, Proportion und mithin als schön mehr erahnt und empfindet als erkennt. Das Ich bezieht diesen ästhetischen Natur‑ und Weltbegriff wiederum zurück auf sich selbst und wird nun allererst gewahr, dass es ein Teil des Ganzen der Welt ist resp. sein soll: „Ich verliere mich mit Lust in die Erwägung dieser allgemeinen Schönheit, davon ich selbst ein nicht verunstaltender Theil zu seyn trachte.“274 Die ästhetische Empfindung des Weltganzen und seiner Selbst evoziert Wohlgefallen, Vergnügen und Freude und mündet letztlich ein in eine Panphilie, in eine Allliebe, die jenseits sinnlicher Lust eine „höher[n]e Art der Liebe“275 darstellt. Damit kommt das Weltbewusstsein nicht nur als Weltbegriff zu stehen, sondern mittels seiner ästhetischen Qualität als etwas, wovon die „empfindende Fähigkeit“276 affiziert wird. Das Weltbewusstsein ist nicht das Resultat rationaler Demonstration, wie noch in der Metaphysik Christian Wolffs277, sondern drängt sich der ästhetischen Einstellung gleichsam auf. 272 Ebd.,
S. 13 [S. 14 f.]. S. 14 [S. 16]. 274 Ebd., S. 15 [S. 16]. 275 Ebd. 276 Ebd., S. 14 [S. 15]. 277 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 540–§ 726. 273 Ebd.,
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Damit ist ein Ausgangspunkt gegeben, von dem aus das protreptierende Subjekt den Übergang zur Religion vollziehen kann: „Indem ich aber diese Gedanken, die mich so hoch führen, immer weiter folge, so gerathe ich auf einen Begriff, der mich zu einer noch weit erhabenern Bewunderung hinreisset.“278 Zunächst ist signifikant, dass das Ich vom ästhetischen Weltbewusstsein ausgehend geradezu von selbst den neuen – noch zu erläuternden – religiösen Begriff entwickelt: Es ‚gerät‘ auf ihn und wird von ihm ‚hingerissen‘. Das religiöse Bewusstsein – so lässt sich formal sagen – drängt sich gleichsam auf, ohne autoritativ aufgedrängt werden zu müssen. Der Sache nach stellt Spalding den Übergang so dar: „[E]in Ganzes voller Ordnung, von dem kleinesten Staube an bis zu der unermeßlichsten Ausdehnung, voller Regelmäßigkeit in allen seinen Gesetzen, der Körper sowol, als der Geister; ein Ganzes, das so mannichfaltig, und doch durch den genauesten Zusammenhang Eines ist; dieß giebt mir die Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten, von einer ursprünglichen Schönheit, von einer ersten und allgemeinen Quelle der Ordnung.“279 Der erste Schritt des religiösen Bewusstseins greift unmittelbar auf die kosmologischen und ästhetischen Kategorien der Vollkommenheit, der Schönheit und Ordnung zurück. Vor allem mit der Verwendung der Urbild – Abbild – Struktur knüpft Spalding eng an die ästhetische Semantik seines Weltbegriffes an, während die Ursprungssemantik und der Begriff der Quelle darüber hinaus bereits einen kausalen Zusammenhang ins Auge fassen. So wird die Frage motiviert, ob etwas ist, „von dem alles, was ich bisher bewundert habe, abhänget?“280 Allererst diese lässt das religiöse Bewusstsein übergehen zur Erwägung des näheren Charakters dieses ursprünglichen Urbildes. Auch dies lässt Spalding im intramentalen Dialog das Ich wieder zunächst vorsichtig als Frage formulieren: „[E]in Verstand, der für das Ganze denkt, der das Ganze einrichtet und lenket? ein Geist, der durch seine unbegreiflichen Ausflüsse allen Dingen Daseyn, Dauer, Kräfte und Schönheit mittheilet?“281 Damit ist das Urbild, der Ursprung und die Quelle vermittels der psychologischen Kategorien des Verstandes sowie des Geistes gleichsam instantiiert, ohne dass hier auf einen traditionellen und personalen Gottesgedanken zurückgegriffen wird. Unter Inanspruchnahme handlungsmetaphorischer Begriffe wie ‚Einrichten‘ und ‚Lenken‘ lässt Spalding dem Ich zudem die Vorstellung von einer kausalen Relation dieses Geistwesens zur Welt aufscheinen. Spalding spielt hier auf die Schöpfungs‑ und Erhaltungslehre an und lässt deren Grundfigur gleichsam aus der Selbstreflexion hervorgehen, ohne dass diese auf biblische resp. theologische Lehre zurückgreifen müsste. Es folgt nun kein förmlicher Beweis der Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit dieses Verstandes bzw. Geistes, sondern in Entsprechung zum ethischen Bewusstsein ist wieder die Empfindung der 278 Spalding,
BdM, S. 15 [S. 16]. S. 15 [S. 16 f.]. 280 Ebd., S. 15 [S. 17]. 281 Ebd. 279 Ebd.,
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mental-psychische Ort dieser Repräsentation: „Mich dünkt, ich empfinde, und mit einem entzückenden Schauder, die Wirklichkeit dieses obersten Geistes.“282 Dieser Satz stellt im religiösen Bewusstsein das funktionale Äquivalent dessen dar, was in der Lehrtradition der Dogmatik sowie der natürlichen Theologie als Gottesbeweise fungierte. An die Stelle des biblischen und offenbarungstheologischen wie auch des rationalen Gottesbeweises tritt bei Spalding die Empfindung der Wirklichkeit eines obersten Geistes. Auf den Gottesgedanken im terminologischen Sinne und auf eine ausdifferenzierte Gotteslehre wird von Spalding ganz verzichtet, weil diese der religiösen Empfindung nicht unmittelbar entspringt. Dreesman hat im Anschluss an die Urbild-Abbild‑ und Quelle-AusflussMetaphorik zu Recht angemerkt, dass hier der „Gedanke der göttlichen Welttranszendenz verblaßt“283: Der Geist ist vom Gedachten her empfunden, der Lenker vom Gelenkten her gedacht, der Ursprung alles Guten vom innerweltlich Guten gefolgert. Es wäre jedoch zu ergänzen, dass Spalding den Schritt zu pantheistischen Denkfiguren, die in Shaftesburys Naturhymnus in den „Moralists“ durchaus angelegt sind und dessen sich der Übersetzer in seiner Vorrede bewusst war (vgl. II.3.1), tunlichst vermeidet. Strikt unterscheidet er zwischen der Natur und der Welt auf der einen und ihrem geistigen Ursprung auf der anderen Seite. Spaldings Religionskonzept changiert damit zwischen Supranaturalismus und einem theo-logischen Immanenzgedanken. Jedoch bleibt das religiöse Bewusstsein nicht bei der modalen Empfindung der Wirklichkeit des urbildlichen Geistes stehen. Vielmehr entwickelt Spalding eine in sich mehrstufige Phänomenologie der religiösen Affekte, die sich wiederum im erkenntnistheoretischen Modus der Empfindung bewegen. Zunächst erwägt das Ich die religiösen Empfindungen in intentionaler Relation zum obersten Geist: „Und was sollten sich daher wohl bey mir für Empfindungen gegen dieses Wesen schicken, in welches alle meine Begriffe von Vortrefflichkeiten zusammenfliessen?“284 Bereits im vorherigen Zitat fügt Spalding ein, dass dessen bloße Empfindung mit einem ‚entzückenden Schauder‘ einhergeht. Damit ist die Komplexität dieser Seite des religiösen Affektes auf den Begriff gebracht und entspricht ungefähr dem, was dann in der Empfindungs‑ und Gefühlspsychologie seit J.-B. Dubos, J. G. Sulzer und M. Mendelssohn hinsichtlich der ästhetischen und religiösen Erfahrung als gemischte Empfindung bzw. gemischtes Gefühl bezeichnet wurde.285 Die religiöse Empfindung – so ließe sich sagen – ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit bzw. Gleichursprünglichkeit der Empfindung einer Lust und einer Unlust.
282 Ebd.
283 Dreesman,
Aufklärung der Religion, S. 95. S. 16 [S. 17]. 285 Vgl. dazu Barth, Ästhetisierung der Religion, S. 233–239. 284 Ebd.,
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Des näheren ist die Empfindung in Bezug auf den obersten Verstand durch „Bewunderung, Ehrerbietung, und die tiefste Anbetung“286 ausgezeichnet. Mit dem Begriff der ‚Bewunderung‘ ist zugleich die Brücke zur ästhetischer Empfindung geschlagen, die ebenfalls vom Affekt der Bewunderung des Wunderbaren begleitet werden kann. Mit dem Begriff der Ehrerbietung knüpft Spalding an die Tradition der lutherischen Affektenlehre an, nach der die Ehre und Ehrfurcht ein Hauptcharakteristikum des Gottesbewusstseins darstellte287. Jedoch wendet sich das religiöse Bewusstsein von der intentio recta wieder zurück auf sich selbst, nämlich insofern es sich in intentione obliqua als diesem „unendlichen Geist“288 gegenüber wahrnimmt: „Ich erschrecke über meine Kleinheit in der unermäßlichen Natur, und gegen die noch unermäßlichere Gottheit.“289 Der entzückende Schauder manifestiert sich im religiösen Selbstbewusstsein als Erschrecken über die eigene Endlichkeit, das sich allererst über das Bewusstwerden der Unendlichkeit und Unermesslichkeit des göttlichen Geistes aufbaut. Ohne den Begriff des Erhabenen zu nennen, spielt Spalding im Zitat und mit dem Begriff der „erhabenern Bewunderung“290 auf diesen in den zeitgenössischen Debatten vieldiskutierten Begriff an und unterstreicht erneut die Strukturäquivalenzen zwischen ästhetischem und religiösem Bewusstsein.291 Das Erhabenheitsbewusstsein an der Natur und an der Gottheit evoziert ein Erleben von Differenz zwischen diesen Größen und der eigenen Person sowie der Menschheit an sich. Der Begriff, mit dem Spalding die Relation Mensch-Gottheit auf den Punkt bringt, ist der der Abhängigkeit.292 Der Mensch weiß sich mit dem Ganzen der Welt als von Gott abhängig, indem die Natur alles Seienden sein Wesen von dem Ursprung und Lenker hat. Dies betrifft damit in erster Linie die Bestimmung des Menschen, derer er sich bewusst wird, und die wie die Gottheit als gut vorgestellt wird. Die Abhängigkeit vom ursprünglichen Geist wird deshalb nicht negativ konnotiert, weil sie eingebettet ist in Spaldings ethischen Gottesbegriff: „Hiebey erkenne ich denn nun auch ungezweifelt, daß dieser alles regierende Verstand keine andere Absicht haben könne, als daß alle Dinge in ihrer Art und im Ganzen gut seyn mögen.“293 Da diese Gutheit im Blick auf den Menschen jedoch in der Spannung zwischen faktischer Anlage und normativer Bestimmung steht, bleibt die ethische Freiheit des Menschen vom religiösen Abhängigkeitsgedanken unberührt. 286 Spalding,
BdM, S. 16 [S. 17]. Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, bspw. S. 97; 100; vgl. Burger, Marias Lied in Luthers Deutung, bspw. S. 144; 184. 288 Spalding, BdM, S. 16 [S. 17]. 289 Ebd. 290 Ebd., S. 15 [S. 16]. 291 Vgl. dazu Zelle, Schönheit und Erhabenheit, S. 55–73. 292 Vgl. dazu Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 95–97. 293 Spalding, BdM, S. 16 [S. 18]. 287 Vgl.
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Während die Erhabenheit der Unermesslichkeitsdimension als gemischtes Gefühl erlebt wird und mithin immer auch ein Negativbewusstsein und Unlustmoment beinhaltet, generiert die Empfindung der unendlichen Schönheit Lust und Vergnügen: „Ich will nicht eher stehen bleiben, als bis ich der Schönheit bis zu ihrer ersten Quelle gefolget bin. Da soll dann meine Sele ruhen. Da soll sie in allen ihren Fähigkeiten vergnüget, in allen ihren Trieben befriediget, satt von göttlichem Licht, und entzückt in den Verehrungen und Anbetungen der obersten allgemeinen Vollkommenheit, alles niedere und sich selbst vergessen.“294 Das ästhetische Erleben der höchsten Schönheit geht einher mit der Seelenruhe, die jedoch für Spalding keine Affektlosigkeit darstellt, sondern vielmehr die Seele in der Totalität aller ihrer Vermögen und Bedürfnisse Lust verspüren lässt. Zudem hat die religiös-ästhetische Empfindung zur Konsequenz, dass auch der an der Erhabenheit der höchsten Vollkommenheit entzündete religiöse Selbst-Affekt, der sich als Endlichkeits‑ und Unlustbewusstsein manifestierte, in ein Vergessen des eigenen Ungenügens und letztlich ein Selbst-Vergessen übergeht. Spalding lässt es jedoch bei der ästhetischen und affektiven Phänomenologie des religiösen Bewusstseins nicht bewenden, sondern koppelt dieses auch an die ethische Empfindung zurück. Den Übergang markiert die Schlussfolgerung, dass alles Seiende als Ausfluss des Urverstandes gut sein müsse. Diese allgemeine ontologische Erwägung lässt Spalding das Ich nun auch auf die „ursprünglichen Triebe der verständigen Wesen“295 anwenden und von daher zu dem Schluss kommen: „Die grosse Empfindung des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts, die ich in mir erkannt habe, rühret nicht weniger von demjenigen her, der seine mächtigen Einflüsse überall ausbreitet.“296 Das moralische Empfinden erfährt zunächst eine Vertiefung hinsichtlich der Frage nach ihrem ‚Woher‘. Darüber hinaus erhält diese Ist-Bestimmung aber auch eine ethische Soll-Qualität, insofern Spalding nämlich das Subjekt die Gewissensdimension in seine Reflexion einbeziehen lässt: „Es ist also eine göttliche Stimme, es ist die Stimme der ewigen Wahrheit, die in mir redet. Da ich nun einen so ehrwürdigen Lehrer und Gesetzgeber an meinem Gewissen habe, so bin ich … deswegen so viel mehr verbunden, auf seine Sprache, die sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde meiner Sele hören lässet, aufmerksam zu seyn, und ihr zu gehorchen.“297 Mit dem Gewissensbegriff nimmt Spalding argumentationsstrategisch geschickt eine Kategorie auf, die er bereits im Kontext der moralischen Empfindung mit dem Begriff der „inwendigen Anklage“298 und dem „Gesetzgeber in mir“299 mehr angedeutet als eingeführt hat. Durch die religiöse Vertiefung des Gewissensaktes 294 Ebd.
295 Ebd., 296 Ebd. 297 Ebd.
298 Ebd.,
299 BdM,
S. 17 [S. 18]. S. 10 [S. 12]. S. 12 [S. 14].
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
verstärkt sich durch die Gehorsamsrelation die moralische Verbindlichkeit dessen, was in der unmittelbaren ethischen Empfindung vorerst bloß als faktische menschliche Natur zu Bewusstsein kommen konnte. Damit hat das religiöse Empfinden eine stabilisierende Funktion für die ethische Empfindung. Dies hat jedoch auch andersherum Gültigkeit, denn auch das religiöse Bewusstsein wird seinerseits stabilisiert durch die moralische Empfindung. Denn mit ihr verfügt die Religion über einen Anknüpfungspunkt im humanen Seelenleben, der weit über das ästhetische Weltbewusstsein hinaus für den Menschen qua Natürlichkeit der moralischen Empfindung Valenz besitzt. Nicht nur der Gewissensaspekt, sondern auch die axiologische und akzeptanztheoretische Dimension des religiösen Bewusstseins verfügt über eine Schnittstelle zu den Erwägungen des Subjektes im Rahmen der ethischen Selbstreflexion. War dort die Rede davon, dass das Ich sich in seiner ethischen Einstellung „selbst billigen“300 und den eigenen Wert entdecken könne301, so wird hier nun die Billigung und Wertzuschreibung an das „Wolgefallen[s] der Gottheit“302 zurückgebunden: „Höher kann sich denn auch meine Ehrbegierde unmöglich erheben, als wenn ich dem gefalle, von dem alles Gute herfliesset; wenn der, der alles siehet, der mit einem Blick alle Empfindungen und Bewegungen in Millionen Welten durchschauet, wenn der mitten unter dieser Menge auch mich siehet und billiget. […] Kein Mensch … kann mir durch sein Gutheissen einen Wehrt geben, weil er selbst keinen Wehrt hat, als in so fern er rechtschaffen ist, und sich mit mir nach eben demselben ewigen Regelmaß des Rechts und der Ordnung richtet. Ich bin groß genug, wenn ich dem Regierer des Ganzen nicht misfalle.“303 Hat das Gewissen die Funktion der Nötigung zur Moralität, so fungiert das ‚Gutheißen‘ durch den göttlichen Geist einerseits als Billigung und Würdigung. Die würdigende Akzeptanz der ethischen Einstellung kann nur von einem solchen Wesen ihren Ausgang nehmen, welchem – wie Kant sagen würde – als Herzenskünder der seelische Ort der Moralität zugänglich ist. Dies ist dem Menschen selbst als moralischem Subjekt verwehrt und kommt allein dem höchsten Verstand zu. Andererseits verfügt die Billigung ihrerseits noch einmal über eine Stabilisierungsfunktion des moralischen Bewusstseins, da sie vor jedweder menschlichen Achtung und Gewogenheit und deren Verführungskraft feit.304 Es wird deutlich, dass Spalding die ästhetische Wahrnehmungsrichtung gleichsam umkehrt: Kommt zunächst die Vollkommenheit und Schönheit des höchsten Verstandes in den ästhetischen Blick des Menschen, so basiert die Billigung auf dem ästhetischen Wohlgefallen Gottes, das er an der Moralität des Menschen empfindet. 300 Ebd.,
S. 13 [S. 15]. ebd. 302 Ebd., S. 17 [S. 18]. 303 Ebd., S. 17 f. [S. 19]. 304 Vgl. ebd. 301 Vgl.
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Bedient sich Spalding mit den Begriffen des Gewissens und der Billigung noch zentraler gewissenstheologischer Topoi lutherischer Dogmatik und Frömmigkeitspraxis, so lässt er das introspektive Subjekt nur wenige Zeilen später einen Gedanken überlegen, der den Gewissensbegriff aus seinem lutherischen Rahmen der Gnaden‑ und Rechtfertigungslehre herauslöst: die Idee der Gottverähnlichung. Mit diesem Theorem nimmt Spalding eine platonisch-platonistische Idee auf, die bereits durch die Urbild-Abbild-Metaphorik sowie die ästhetische Dimension des Gottesgedankens vorbereitet ist. Auch wenn er diesen Begriff nach seinen gewissenstheoretischen Erwägungen formal nur durch das konzessive ‚allein‘ vermittelt einführt, so steht diese Idee der altprotestantischen Anthropologie und Gotteslehre der Sache nach diametral gegenüber. Die Sündenlehre und Erlösungslehre Luthers sowie des orthodoxen Luthertums schiebt die Idee der Ähnlichkeit Gottes mit seinem Geschaffenen in den Hintergrund und legt mit der Rechtfertigungslehre das ganze Gewicht auf die kategorische Nichtaproximatizität des Menschen an Gott.305 Es lässt sich jedoch eine Traditionslinie des Gottverähnlichungstheorems nachzeichnen, die von der alexandrinischen Religionsphilosophie über den Renaissanceplatonismus und den Cambridger Platonismus bis hin zu Shaftesbury reicht. Die Aufnahme des platonischen Gedankens der Homoiosis-theo sowie deren Amalgamierung mit der alttestamentlichen Gottebenbildlichkeitsvorstellung gehört zu den wesentlichen Leistungen der aktkirchlichen Apologeten und der christlich-platonistischen Religionsphilosophie des 3. und 4. Jahrhunderts.306 Origenes zitiert in seinem „Peri archon“ wörtlich das Homoiosistheorem aus Platons Theaitet 176b. Die Gottverähnlichung stelle das ethische Telos des gottebenbildlichen Menschen dar.307 Augustin opfert später den Gottverähnlichungsgedanken seiner Erbsündenlehre, worin ihm dann die Theologie des Mittelalters im Wesentlichen gefolgt ist. In der Theologie des Spätmittelalters wird dann mit der faktischen Zurückdrängung des platonischen Gottesbegriffs zugunsten eines voluntaristischen Gottesgedankens auch jedwede Anknüpfung an die Idee der Gottverähnlichung unmöglich. Hans Blumenberg stellt demgemäß einen 305 Diese vom Hauptstrom der deutschen Lutherdeutung gedeckte These wurde in der finnischen Theosisdebatte im Kontext von deren Auseinandersetzung mit der (russisch)-orthodoxen Theologie seit den 1970er Jahren, die mit Namen wie Tuomo Mannermaa, Risto Saarinen, Eero Huovinens verbunden ist, immer wieder hinterfragt. Ohngeachtet ihres wichtigen Beitrages zu einer ökumenischen Hermeneutik Luthers und der wertvollen Erinnerung an einen in der Lutherforschung bis dahin vernachlässigten Aspekt dürfte jedoch von Kritikern der finnischen Lutherforschung wenigstens gezeigt worden sein, dass das relationale Rechtfertigungskonzept in der Anthropologie und Soteriologie Luthers vor einer ontologischen Vergottungstheorie rangiert (vgl. zur Debatte und mit Hinweisen zu weiterführender Literatur: Lehmkühler, Inhibitatio, S. 252 ff.). 306 Vgl. Barth, Gott ähnlich werden, S. 35; vgl. ders., Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, S. 352 f.; vgl. Merki, Gottebenbildlichkeit, Sp. 464–471; vgl. ders., Homoiosis theo. 307 Vgl. Origenes, Prinzipien, III 6, 1, S. 645.
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
direkten Zusammenhang zwischen Gottesbegriff und Soteriologie auf der einen und Sündenanthropologie auf der anderen Seite her.308 Auch Luthers Akzentuierung von Sünde und Gnade kann ohne diese allgemeine Tendenz spätmittelalterlicher Theologie wohl nicht verstanden werden. Blumenberg beruft sich mit Wilhelm von Ockham und Duns Scotus309 denn auch auf solche Vertreter der Spätscholastik, die Luther durch sein Erfurter Dogmatikstudium mitgeprägt haben.310 Jedoch erwacht die Idee der Gottverähnlichung zusammen mit der der Menschenwürde im Florentiner Renaissanceplatonismus des 15. Jahrhunderts wieder zu neuem Leben und wird zu einer Zentralkategorie humaner Selbstdeutung erhoben. Pico della Mirandola bezieht sich der Sache nach in seinem Traktat zur Menschenwürde einige Male auf die Vorstellung, dass der Mensch im Prozess seiner Perfektibilität das Telos der Gottverähnlichung anstrebe. Picos einschlägige Grundanschauung ist diejenige, dass der Mensch im Modus seiner an einem bestimmten Vorbild orientierten Lebensführung sich diesem Vorbild verähnlicht und ganz und gar gleich werde.311 Vom Florentiner Platonismus führt der Weg dann über John Colet nach Oxford und Cambridge. Hier fällt mit dem Platonismus auch der Gottverähnlichungsbegriff auf fruchtbaren Boden. Über den Cambridger Platonismus ist das Motiv dann der englischen Bildungswelt des 17. Jahrhunderts und mit ihr auch Shaftesbury bekannt geworden. In seiner „Inquiry“ wie auch in den „Moralists“ finden sich direkte und indirekte Bezugnahmen auf diese platonisch-platonistische Idee. Dies wurde bereits in II.3.2 und IV.4.4 dargestellt. Von Shaftesbury aus gesehen kann der Cambridger Platonismus auch als „einer der Brückenpfeiler für jene Brücke, die von der italienischen Renaissance zum deutschen Humanismus des 18. Jahrhunderts führt“312, verstanden werden. Auch in diesem Sinne ist Shaftesbury als ein „Bindeglied zwischen Renaissance und Aufklärung“313 zu verstehen. Dies trifft im Blick auf die Linie von Shaftesbury zu Spalding ohne Frage zu, der über seine Shaftesburyrezeption auch mit dem Gottverähnlichungsgedanken bekannt geworden sein dürfte. Der terminologisch direkteste Bezug findet sich in der Bestimmungsschrift im Abschnitt zur Religion. „[A]llein ich bin dann auch zugleich gewiß, daß die unwandelbare Redlichkeit, die ich hierin [scil. Gehorsam gegen das Gewissen; G. R.] beweise, der richtige Weg ist, jenem Urbilde der Ordnung nach meiner Fähigkeit ähnlich zu werden, und ihm zu gefallen.“314 Die Formulierung ‚nach meiner Fähigkeit ähnlich zu werden‘ ist trotz der shaftesburyanischen Vermitt308 Vgl.
Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, S. 194. ebd., S. 181; 193f; 200. 310 Vgl. dazu Schwarz, Luther, S. 28 ff. 311 Vgl. Pico, De dignitate hominis, S. 34 f. 312 Cassirer, Die platonische Renaissance, S. 380. 313 Raming, Shaftesburys Konzept einer dialogischen Skepsis, S. 90. 314 Spalding, BdM, S. 17 [S. 18]. 309 Vgl.
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lung frappierend eng an die platonische Quelle im Dialog Theaitet 176B angelehnt. Gründete die Beziehung des Subjektes zum göttlichen Geist im Modus des Gewissens und der Billigung noch auf einem juridischen und ästhetischen Distanz‑ und Differenzbewusstsein, so stellt das Homoiosis-theo-Motiv eine – wenn auch infinite – Approximation des Menschen an das höchste und gute Wesen dar. Dass es sich um eine ethisch bestimmte Annäherung handelt, erhellt aus dem Zitat. Zudem wird deutlich, dass der Verähnlichung des Menschen an das Urbild eine ästhetische Reaktion aufseiten dieses höchsten Wesens korreliert: der Mensch ‚gefällt‘ diesem. Es ist nun auch hier wieder, wie oben bereits angedeutet, eine Annäherung hinsichtlich dieser ästhetischen Relation von Spalding wenn nicht expliziert, so doch angedeutet: „Nur das macht mich noch zu etwas, daß ich die Ordnung empfinden, und in derselben bis zu dem Anfange aller Ordnung hinaufsteigen kann. Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen. Ich will nicht eher stehen bleiben, als bis ich der Schönheit bis zu ihrer ersten Quelle gefolget bin.“315 So wie der Mensch in der Verähnlichung der höchsten Schönheit ‚gefällt‘, so stellt umgekehrt jene in derselben Verähnlichungsbewegung einen ästhetischen Gegenstand des Gefallens für den Menschen dar. Ja die Approximation findet hier gleichsam ihre höchste Erfüllung. Mit der Dimension des Infiniten der Telosbestimmung des Menschen als ethisch-religiösem Subjekt aufgrund des zeitlichen Lebens wie auch aufgrund der Einschränkung auf die Fähigkeit des Menschen zur nur fragmentarischen Erfüllung verweist Spalding auch hier auf die Unsterblichkeitidee, die diesen Gedanken indirekt aufnimmt. Dies wird in V.8.3 zu zeigen sein. Bereits die ästhetische Kontemplation in die ursprüngliche und höchste Schönheit hatte Seelenruhe bewirkt. Letztere verfügt im Fortgang der religiösen Selbstverständigung des Ichs auch über eine vorsehungstheoretische Hinsicht. Der höchste Verstand wird nicht nur als Ursprung alles Guten und Schönen, als moralischer Gesetzgeber und Billigungsinstanz, sondern auch als „Geist, der über alles wachet“316 erkannt. Verfolgt das ethische Subjekt seine teleologische Bestimmung, so empfindet es die Gewissheit, dass auch der Ursprung des Guten den Menschen zu diesem Telos führt. Die Vorsehung beschränkt Spalding aus seiner individualgeschichtlichen Perspektive auf die individuelle Selbstdeutung: „In seiner Hand allein stehen auch meine Schicksale …“317. Der geschichtliche bzw. geschichtstheologische Aspekt der Vorsehungsidee findet damit keine Berücksichtigung. Andreas Urs Sommer bringt es auf die Formel, „die Menschen hätten in dieser Schule ein gemeinsames Klassenziel“ im Sinne einer historischen Zielvorstellung und Vervollkommnung der Gattung nicht zu erreichen. Spalding blende „im Rahmen eines noch ganz individualistisch gefassten ‚Fortschritts315 Ebd., 316 Ebd., 317 Ebd.
S. 16 [S. 17 f.]. S. 18 [S. 19].
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denkens‘ “ die „Frage nach Sinnstiftung durch Geschichte“318 vollständig aus, die dann erst nach 1750 virulent wurde. Jedoch ist seine Schlussfolgerung, dass der Mensch in Spaldings Perspektive ein „monadisches und letztlich nicht einmal ein wirklich soziables Wesen“319 sei, problematisch; denn die providentiell gestützte Perfektibilität des Einzelnen ist bei Spalding moralisch begründet und verfügt per se über eine ethisch-soziale Qualität. Was Sommer für den Fortschrittsgedanken reklamiert, kann Norbert Hinske in ähnlicher Weise für den bereits erwähnten Begriff der Perfektibilität, einer Programmidee der Aufklärung, feststellen. Während der Terminus allererst in den Anthropologien der Spätaufklärung zu einem Schlüsselbegriff avanciert, ist die Vervollkommnungsfähigkeit und faktische Perfektibilität des Menschen in der deutschen Philosophie bereits in Christian Wolffs Ethik greifbar. Hinske schließt sich der These Gottfried Hornigs320 an, nach der erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „eine Verlagerung der Gewichte vom Einzelnen weg und hin zum Gattungswesen Mensch“321 zu verzeichnen sei. Dieses begriffs‑ und problemgeschichtliche Schema trifft im Blick auf Spalding ohne Frage zu: In der Bestimmungsschrift von 1748 kommt die Perfektibilitätsidee als rein anthropologische Telosbestimmung zu stehen, die ausschließlich den einzelnen Menschen betrifft. Eine Vervollkommnung der Gattung, von Institutionen und kulturellen Gebilden bleibt hier noch unberücksichtigt. Jedoch zurück zum Vorsehungsglauben. Er stellt für das moralische Bewusstsein eine Stabilisierung dar. Denn der Mensch erfährt zunächst trotz der Vollkommenheit der Welt und der moralischen Empfindung die ‚fürchterlichsten Verwirrungen‘: „Alles verwirret mich; alles macht mich ungewiß.“322 Der Gedanke der Vorsehung beruhigt die so beunruhigte Seele durch die Idee einer teleologischen Auflösung dieser Unbillen des Schicksals: „Ich will nur meinen grossen Zweck nie aus dem Gesichte verlieren, und mich dann mit einer unbewegten Sicherheit den Fügungen desjenigen überlassen, der alles nach seinem Willen lenket, und dessen Wille immer gut ist. Von seiner Fürsicht geleitet, werde ich mitten durch die fürchterlichsten Verwirrungen dieses Lebens glücklich hindurch gelangen, und alle die Dunkelheiten, die mich vielleicht itzo umgeben und stutzig machen, werden sich endlich einmal in Licht und Freude verwandeln.“323 Die ‚fürchterlichsten Verwirrungen‘ betreffen vor allem diejenigen Erfahrung, die der moralischen Ordnung zuwiderlaufen, „die Unterdrückung der Tugend, und … das stolze Glück des Lasters“324. Jedoch gerät das Vertrauen auf die 318 Sommer,
Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 183. S. 192. 320 Vgl. Hornig, Perfektibilität, S. 221. 321 Hinske, Grundideen der deutschen Aufklärung, S. 426. 322 Spalding, BdM, S. 18 [S. 20]. 323 Ebd., S. 19 [S. 20]. 324 Ebd. 319 Ebd.,
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richtige „Verwaltung der Welt“325, die alles zum Guten wenden wird, trotz der Vorsehungsgewissheit in eine innere Krise. Denn die Teleologie der Vorsehung bricht sich an den „Beobachtungen bis ans Ende“ und findet „den Knoten nicht aufgelöset“326. Beschränkt sich die teleologische Perspektive des Ichs auf das hiesige Leben, so lässt Spalding es schmerzhaft feststellen: „Erst der Tod endiget hier die Unterdrückung der Tugend, und dort das stolze Glück des Lasters. […] Schickt es sich, daß ein rechtschaffenes Gemüth, welches allein glücklich zu seyn verdienet, das ganze Leben durch ein Raub der Bosheit, ein Spiel ungerechter Verfolgungen sey?“327 Es stellt sich die Frage, ob Spalding hier zu seinem Konzept des moralisch-innerlichen Glücks in Widerspruch gerät, wie Sommer behauptet.328 Dazu ist zum einen festzuhalten, dass Spalding durchaus auf diese Frage – wenn auch indirekt – eingeht: „Können denn die unwandelbaren Regeln der Billigkeit verstatten, daß einer Sele, die so ist, wie sie seyn soll, die natürlichen glückseligen Folgen ihrer innerlichen Richtigkeit, die ihr sonst allein Belohnung genug seyn würden, durch eine boshafte Gewalt auf immer geraubt, geschwächt, oder verbittert werden?“329 Es wird deutlich, dass Spalding mit dem Begriff der durch die eigene Moralität vermittelten innerlichen Glückseligkeit nicht das humane Bedürfnis nach äußerer bzw. ‚natürlicher‘ Glückseligkeit einfach in Abrede stellt. Im Kontext des Zitates im Ethikabschnitt, auf das sich Sommer bezieht, handelt es sich um „die beschwerlichen Zufälle …, welche das menschliche Leben so vielfältig begleiten“330. Damit zielt das Insistieren auf die innerliche Glückseligkeit an dieser Stelle auf eine Abwertung „sinnlicher Belustigungen“331. In unserem Kontext jedoch ist es dem mit sich zurate gehenden Subjekt darum zu tun, dass der tugendsame Mensch durchaus in Seelennöte geraten kann, wenn die äußerlich-natürliche Glückseligkeit bei ihm selbst ausbleibt, bei dem nichtmoralischen Menschen hingegen anzutreffen ist. Es handelt sich hier also nicht nur um einen Mangel an sinnlichem Vergnügen, sondern um das, was späterhin Kant und Fichte als die Gefahr der sittlichen Weltordnung bezeichnet haben. Allererst in dieser Situation kann die Tugend ‚geschwächt oder verbittert‘ werden. Zum anderen ist Sommer zuzugeben, dass es sich hier um eine Einsicht handelt, die im Tugendabschnitt noch nicht anzutreffen ist. Der Vorwurf des Widerspruchs ist jedoch nur dann einsichtig, wenn man die Ebendifferenz von Autor 325 Ebd., 326 Ebd., 327 Ebd.
S. 18 [S. 20]. S. 19 [S. 20].
328 „Die im Abschnitt ‚Tugend‘ geäusserte Ansicht, ich sei ‚doch innerlich glücklich, weil ich rechtschaffen bin‘ (BM 29), ist offenkundig vergessen – ebenso, dass ‚Alles Böse, was mich etwa treffen mag … höchstens nicht weiter, als auf meinen Leib [dringe], und … seine Verwüstungen niemals in meine Seele‘ (BM 28) bringe.“ (Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 177.) 329 Spalding, BdM, S. 19 [S. 20]. 330 Ebd., S. 13 [S. 15]. 331 Ebd., S. 14 [S. 15].
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
und fiktivem Ich unberücksichtigt lässt. Handelt es sich doch nicht um einen Widerspruch auf Seiten des Autors, sondern um einen rhetorisch inszenierten Gedankenfortschritt auf Seiten des introspektiven Subjektes.332 Das religiöse Subjekt bleibt jedoch bei der Feststellung der Nichtübereinstimmung von Moralität und natürlicher Glückseligkeit nicht stehen: „Ebenmaaß und Uebereinstimmung verschwinden hier; und mein Begriff von einer herrschenden Ordnung verwirret sich gänzlich.“333 Das Ich reflektiert seine Feststellung zurück auf seinen Gedanken eines Ursprunges der Ordnung und gerät so in eine zweifelnde Haltung gegenüber seinem ordnungs‑ und vollkommenheitstheoretischen Gottesgedanken. Mit dieser Aporie und Krise der Vorsehungsidee beschließt Spalding das Räsonement des fiktiv-exemplarischen Subjektes über Religion im engeren Sinne, um jedoch sogleich mit seiner Reflexion über den Gedanken einer Unsterblichkeit hier anzuknüpfen. Zunächst sei jedoch noch eine Frage erörtert, die den fundamentaltheologischen und letztlich erkenntnistheoretischen Status der Bestimmungsschrift betrifft.
8.2 Natürliche Religion – Offenbarungsreligion „Eines der Kernprobleme des langen 18. Jahrhunderts liegt in der Bestimmung des Verhältnisses von Offenbarung und natürlichem Vermögen des Menschen.“334 Dieser jüngst von Dehrmann im Blick auf die Moralbegründung bei Gellert, Chladenius, Mendelssohn und auch Spalding formulierten These ist hinsichtlich der Bestimmungsschrift des Letztgenannten aufgrund des Begriffs des ‚natürlichen Vermögens des Menschen‘ zuzustimmen. Denn mit ihm perpetuiert Dehrmann nicht einfach die alte epochentypische Zuordnung von Vernunft und Offenbarung, sondern entschränkt das erste Relat, um auch solche Erkenntnismodi wie die (moralische) Empfindung mit ihm zu erfassen. Damit eröffnet sich nicht nur das neue Problemfeld „des Verhältnisses von Vernunft und Empfindung“335, sondern auch die Frage, inwieweit die Empfindung als spezifischer Erkenntnismodus in moralischen und religiösen Angelegenheiten hinreichende Gewissheit stiften könne. Zunächst ist erneut negativ festzuhalten, dass Spalding als lutherischer Theologe an keiner Stelle direkt auf christliche Traditionsbestände rekurriert, um seine Ansichten von der Religion einerseits zu begründen, andererseits darzustellen. 332 Sommer lässt diese wichtige Ebenendifferenz an dieser Stelle verschwimmen: „Nun täuscht sich Spalding nicht länger darüber hinweg, dass das irdische Los der Guten häufig himmelschreiend ist, während das der Schlechten offenbar allzu oft allzu erfreulich ausschaut.“ (Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 177 f.) 333 Spalding, BdM, S. 20 [S. 21]. 334 Dehrmann, Moralische Empfindung, S. 54. 335 Ebd., S. 55.
8. Religion und Unsterblichkeit
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Spalding lässt das räsonierende Subjekt die religiöse Selbst‑ und Weltdeutung nicht im Modus eines Rekurses auf die traditionellen Deutungsschemata und Begründungsmuster vollziehen und verzichtet auch auf jedwede offenbarungstheologische Argumentation. Unmittelbare Bezugnahmen auf Bibel, Bekenntnis und Dogma sucht man vergebens. Dass dies bei den Rezipienten durchaus für Irritation sorgte, wird bspw. durch die Rezension Johann Melchior Goezes ersichtlich, auf die wir bereits im Kontext von Spaldings Erbsündenkritik (vgl. V.7) eingegangen sind. Er nennt denn auch als erstes Monitum an dem Entwurf des jungen Kollegen die Vernachlässigung der Offenbarung: „Sollte ich dem Urheber dieser artigen Schrift wol unrecht thun, wenn ich ihn einiger Undankbarkeit gegen die göttliche Offenbarung beschuldige?“336 Goeze bezieht sich mit dieser Kritik nicht so sehr auf den Religionsabschnitt im engeren Sinne, sondern vor allem auf Spaldings Unsterblichkeitskonzept: „Ehrwürdige und grosse Wahrheiten! Allein woher schöpft solche der Verfasser? Woher entstehet bey ihm die freudige Gewisheit, mit welcher er dieselben zu glauben vorgiebt? Er hat, wenn wir seinen Versicherungen Beyfall geben, die Kentniß derselben sowol, als die völlige Ueberzeugung davon, lediglich den Kräften seiner Vernunft zu danken. Ich kann ihm solches ohnmöglich zu gefallen glauben. Würde der Verfasser wol so denken, so schreiben können, wenn ihm der Inhalt der in dem Worte des lebendigen Gottes geoffenbarten Wahrheiten völlig unbekannt wäre? “337 Der Rezensent ist nicht der Meinung, dass Spalding mit seinen Überlegungen von den Offenbarungslehren abweicht oder ihnen gar zuwiderläuft. Vielmehr wirft er ihm vor, dass er „allerdings aus dieser Quelle geschöpft“338 und es verabsäumt hat, dies einerseits anzugeben und andererseits einzugestehen, dass das introspektive Ich ohne die Offenbarung keine Kenntnis und keine Gewissheit hinsichtlich der menschlichen Unsterblichkeit haben könne. Goeze gesteht ein, dass die Vernunft Mutmaßungen über die Unsterblichkeit anstellen kann; diesen jedoch entbehre jedwede Gewissheit: „Wie schwer wird es der sich selbst gelassenen, und von dem Lichte der göttlichen Offenbarung entfernten Vernunft fallen, mit völliger Gewisheit auszumachen, wer von beyden [scil. Leugner bzw. Befürworter der Unsterblichkeitsthese; G. R.] recht habe?“339 Wie auch immer die Argumentation des spätorthodoxen Theologen im Einzelnen zu bewerten ist, so wird doch deutlich, dass seine Kritik nicht so sehr die Sache selber betrifft, sondern vielmehr die mangelnde Plausibilisierung und autoritative Demonstration. Denn mit dem Begriff der Gewissheit bezieht sich Goeze nicht auf den Gehalt, sondern auf den affirmativen Status des vorgestellten religiösen Wissens. Daraus wird ersichtlich, dass Goeze Spaldings grundsätzliches Anliegen unverständlich geblieben sein dürfte. Das Ansinnen der Bestimmungsschrift ist es 336 Goeze,
Gedanken, S. 7. S. 8. 338 Ebd., S. 7. 339 Ebd., S. 11. 337 Ebd.,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
gerade nicht, das Subjekt über religiöse Inhalte zu belehren und sie offenbarungstheologisch zu bewahrheiten. Diese Form religiösen Wissens verfüge nämlich bei aller sachlichen Evidenz nicht ohne Weiteres über subjektiv-existentielle Plausibilität, um die es Spalding in seiner Schrift in erster Linie zu tun ist. Sein Ziel ist es, neben der Tugend auch die Religion inkl. Unsterblichkeitsgedanken als integralen Bestandteil der humanen Selbst‑ und Weltdeutung erkenntlich zu machen, die sich das Ich in der selbständigen introspektiven Selbstvergewisserung plausibel macht, und zwar im Modus der Empfindung. Dabei kommt es Spalding nicht auf einen höchstmöglichen Gewissheitsgrad dieses Wissens an. Vielmehr signalisiert seine Rhetorik der Fragen, vorsichtigen Vermutungen und Erwägungen, Zweifel und Krisen, dass Tugend, Religion und Unsterblichkeitsbewusstsein ihren wesentlichen Gehalten nach aus der natürlichen Frage nach der Bestimmung des Menschen entspringen. Spalding hat sich aufgrund der einschlägigen Anfeindungen in einer Beilage zur dritten Auflage von 1749340 ausführlich über sein Verständnis einerseits der Funktion der natürlichen Religion und andererseits des Verhältnisses von natürlicher Tugend sowie Religion und Offenbarung ausgelassen. Da sich die Schrift explizit auf die Bestimmungsschrift bezieht und nur gut ein Jahr nach der Erstauflage erschienen ist, ist es hermeneutisch und methodisch durchaus statthaft, diesen kurzen Text zum Verständnis der Erstauflage heranzuziehen.341 In der Einleitung zu dem kurzen Text nimmt Spalding indirekt auf die kritischen Reaktionen Bezug, jedoch nicht in der Form der Verteidigung: „Man hat mir zu erkennen gegeben, daß diese Gedanken von der Bestimmung des Menschen einem Misbrauche unterworfen wären, der meinen Absichten höchst nachtheilig ist. Es giebt noch Leute, welche die Vortrefflichkeit der natürlichen Religion und Sittenlehre als einen Grund ansehen, die Liebenswürdigkeit und Wahrheit des christlichen Glaubens zu bestreiten, und solche, sagt man, könnten aus meinem Aufsatze eine Einstimmung mit ihrer Meinung erzwingen.“342 Die argumentative Raffinesse liegt darin, dass er in eins mit der Abwehr einer missbräuchlichen Inanspruchnahme durch die Vertreter der natürlichen Religion jedoch indirekt auch die offenbarungstheologische Kritik abwehrt. Denn auch deren Einwand, bspw. der Goezes, fällt somit unter Spaldings Vorwurf des Missbrauchs bzw. Missverständnisses. Dies wird an Spaldings kurzer Zusammenfas340 Spalding, Anhang bey der dritten Auflage. – Bereits Horst Stephan hat in seiner verdienstvollen Wiederveröffentlichung der Erstauflage der Bestimmungsschrift die Beilage zur dritten Auflage beigegeben (vgl. Stephan, Spaldings Bestimmung des Menschen et al., S. 32– 36.) – „Indem Spalding den Druck von 1749 als die dritte Auflage zählt, hat er die Goeze-Edition als zweite Auflage der Bestimmung des Menschen nostrifiziert.“ (vgl. Beutel, Spalding und Goeze, S. 445.) 341 Nach Emanuel Hirschs ersten Hinweisen kommt Albrecht Beutel das Verdienst zu, das Verständnis der Bestimmungsschrift in dieser Perspektive auf die Analyse der Rezension Goezes wie Spaldings Replik zu stützen (vgl. Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XLIV ff.). 342 Spalding, Anhang bey der dritten Auflage, S. 198.
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sung der abzuwehrenden Hermeneutik seiner Schrift deutlich: „Die Natur heißt es, zeiget dem Menschen seinen Zweck und die Wege dahin; die Natur führet uns auf eine allgemeine und sichere Richtschnur des Lebens; auf die edelsten Begriffe von der Gottheit; auf die trostvolle und dem Menschen unentbehrliche Erwartung eines zukünftigen Zustandes; die Natur giebt uns Gründe zur Tugend und Ruhe; folglich hat man nichts von einer Offenbarung zu halten.“ Aus der positiven Evaluation des natürlichen Zugangs zur moralisch-religiösen Bestimmung des Menschen, die Spalding in seiner Schrift vorführt, könne – so seine apologetische These – nicht via negationis eine Ablehnung der Offenbarung geschlossen werden. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass es Spalding nicht um das Verhältnis von Natürlicher Theologie – im Sinne von Gottesbeweisen im Sinne der rationalistischen Theologie eines Christian Wolff – und Offenbarung zu tun ist, sondern um die Zuordnung von einem „natürlichen Glauben an Gott“ zur „Lehre Christi“343 als hauptsächlichem Statthalter dessen, was er unter christlicher Religion bzw. Offenbarung versteht. Es geht ihm also um das Verhältnis von natürlicher und christlicher Religion. Unter ersterer versteht Spalding die „allgemeine Liebe gegen Gott, gegen die Menschen, und gegen das Gute, die Besserung und Glückseligkeit der unsterblichen Sele“344, also um diejenigen Grundwahrheiten, die er in der Bestimmungsschrift expliziert. Seine Grundthese besteht darin, dass „die Religion der H. Schrift in ihrem Wesentlichen und in ihrem Hauptzwecke … das schönste Zeugniß und der stärkste Beyfall ist, der den hierher gehörigen Wahrheiten der Natur und Vernunft gegeben werden kann“345. Der Theologe ist mithin der Meinung, dass christliche und natürliche Religion in materialer Hinsicht zwar nicht vollständig, jedoch in ihrem wesentlichen Gehalt kongruent sind.346 In funktionaler Hinsicht kommt die christliche Offenbarungsreligion zum einen als Repräsentation und Anerkennung der natürlichen Religion zu stehen, was Spalding mit den Termini ‚Zeugnis‘ und ‚Beifall‘ benennt: Die Geltung der natürlichen Religion wird also durch die geoffenbarte Religion bestätigt. Dies gelte aber auch in umgekehrter Richtung: Die „Klarheit“, der „Ernst“ und die „einnehmenden Kraft“347 der „Stifter unseres Glaubens“ dürften auch den Vertreter der natürlichen Religion von dem Nutzen der geoffenbarten Religion überzeugen. Mit dem Terminus der Klarheit verwendet Spalding einen Begriff, der dem vermögenspsychologisch kompetenten zeitgenössischen Rezipienten deutlich machen sollte, dass die christliche Lehre einen ebensolchen Deutlichkeitsgrad erreicht habe wie die Empfindung in der natürlichen Tugend und Religion der Bestimmungsschrift. Gleiches trifft auf den ‚Ernst‘ zu. Die ‚ein343 Ebd., 344 Ebd., 345 Ebd.
S. 198/200. S. 200.
346 „Die allgemeine Liebe gegen Gott, gegen die Menschen, und gegen das Gute, die Besserung und Glückseligkeit der unsterblichen Seele.“ (Ebd.) 347 Ebd.
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nehmende Kraft‘ spricht die Motivations‑ und Durchsetzungsebene an: Die positiv-christliche Religion vermag in besonderem Maße, den Menschen auch zur Aneignung und Verwirklichung der moralischen und religiösen Einsichten zu bewegen. Es sei daher für denjenigen, der „von der natürlichen Religion durchdrungen“ ist, unsinnig, die christliche „Glaubenslehre nicht hochachten“348 zu wollen. Mithin stellt sich Spaldings Verhältnisbestimmung beider Religionstypen als eine gegenseitige Anerkennungsstruktur dar. Damit jedoch nicht genug. Spaldings Konzept betrifft nicht nur die geltungstheoretische Relation, sondern auch die Genese und historische Verhältnisbestimmung beider Religionsformen: „Man hat es mit aller der Zuverlässigkeit, deren eine Sache von dieser Art fähig ist, erwiesen, daß keine natürliche Religion in der Welt seyn würde, wenn keine geoffenbarte wäre. Je weiter man durch Erfahrungen und Nachdenken in der Erkenntniß der menschlichen Natur gekommen, destomehr ist man überzeugt worden, daß unsere Vernunft für sich und ohne alle Anweisung schlechterdings unvermögend ist, sich über die sinnlichen Dinge, und [bis zu] den Wahrheiten der Religion zu erheben. Die allererste Anweisung aber hat also nothwendig eine göttliche Offenbarung seyn müssen.“349 Der Offenbarungsreligion kommt die historische Funktion zu, vor allem Aufkommen einer natürlichen Religion eine erste ‚Anweisung‘ über die Wahrheiten der Religion gegeben zu haben. Die geoffenbarte Religion ist eine „göttlich unterstützte Bekanntmachung“ und ein erster „Unterricht“350, ohne die die menschliche Vernunft nicht der natürlichen Religion fähig wäre. Darüber hinaus hätten die natürlich-religiösen „Erfindungen einiger Menschen“, wenn sie dazu fähig wären, nicht die Kraft, eine allgemeine Anerkennung zu finden. Spalding beruft sich hier auf die Religionsgeschichte, dass nämlich die natürliche Religion diese Anerkennung „niemal und bey keinem Volke“351 gehabt habe. Als Aufklärungstheologe kann er gar die Funktion der christlichen Offenbarung als Aufklärung bezeichnen: „Daher ist es auch eine unläugbare Erfahrung, daß die natürliche Religion da immer am besten erkannt und gelehret wird, wo das Licht des Evangeliums die Geister aufgekläret hat.“352 Damit ist keine geltungstheoretische und auch keine inhaltliche Vorordnung der Offenbarungsreligion vor der natürlichen Religion behauptet, sondern einerseits eine historisch-genetische und andererseits eine didaktische: Die Offenbarungsreligion ist der natürlichen Religion historisch notwendig vorgängig und fungiert gleichsam als religiöse Elementardidaktik, die allererst den gemeinen Menschen zur vernünftig-natürlichen Religion befähigt. Demgemäß kann Spalding auch den Vorwurf abwehren, die Konzeption der Bestimmungsschrift bzw. die Frage nach der eigenen Bestim348 Ebd.
349 Ebd.,
S. 202. S. 202/204. 351 Ebd., S. 204. 352 Ebd., S. 202. 350 Ebd.,
8. Religion und Unsterblichkeit
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mung des Menschen sowie die natürliche Moralität und Religion würden die geoffenbarte resp. christliche Religion unterminieren: „Je höher überhaupt der Begriff und je lebendiger der Eindruck ist, den ein Mensch von seiner großen Bestimmung, von der Tugend und Recht und ewiger Ordnung hat, desto stärker und rührender wird er den Werth der göttlichen Anweisungen empfinden, die ihm dazu so viel Hülfe leisten.“353 Die ‚Hilfe‘ und damit den einzigen strukturellen „verehrenswürdige[n] Vorzug[e]“354 der christlichen Offenbarung vor den natürlichen moralisch-religiösen Empfindungseinsichten erblickt Spalding in „den Versicherungen des Evangeliums“. Diese stiften „Bestätigungen der angelegentlichsten Wahrheiten, neue Bewegungsgründe, neue Mittel, neue Ursachen des Vertrauens und der Aufmunterung“355, was die natürliche Religion auf sich gestellt nicht leisten kann. Damit kommt der geoffenbarten Religion nicht nur eine historische Vorläufigkeit vor der natürlichen Religion zu, sondern eine prinzipielle Unterstützungsfunktion. Es liegt also kein genetisches Ablösungs-, sondern ein strukturelles Komplementärverhältnis vor. Betrachtet man Spaldings Konzept der Verhältnisbestimmung von natürlicher und geoffenbarter Religion in problemgeschichtlicher Perspektive, so lassen sich folgende Linien ziehen. Karl Aner hat in seiner Gesamtdarstellung der „Theologie der Lessingzeit“ ein einfaches Schema entwickelt, um die „Verschiedenheit der Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung“ für die drei aufklärungstheologischen Epochen Wolffianismus, Neologie und Rationalismus deutlich zu machen. Aner orientiert sich an dem Aspekt des Inhalts und kommt für die Neologie zu der Formel „V[ernunft] + O[ffenbarungs]begriff – O[ffenbarungs]inhalt“356: Die Neologie befreie den Offenbarungsinhalt von allem Historisch-Kontingentem und fülle ihn mit rationalen Vernunftwahrheiten. Wie auch immer diese materialorientierte Deutung der Neologie einzuschätzen ist, so ist doch zumindest deutlich, dass diese Pauschalierung im Blick auf Spalding zu kurz greift. Mit der Anerschen Mathematisierung des Zuordnungsverhältnisses stimmt Spaldings Konzept zwar insofern überein, dass es eine sachliche Übereinstimmung zwischen christlich-offenbarter und natürlich-empfundener Moralität und Religion gebe, diese aber nur unter der Voraussetzung, dass die christlichen Wahrheiten auf das Wesentliche reduziert sind. Die weitreichenderen Aspekte der Bestätigung, Darstellung und genetischen Relation werden von Aners Epochenschema nicht erfasst. Nimmt man für Spaldings komplexe Vermittlungstheorie einen weiteren ideen‑ und problemgeschichtlichen Horizont ins Visier, so stößt man in der einen Richtung auf John Locke, in der anderen Richtung auf Lessings und Kants Offenbarungsbegriff. Diese sollen in aller Kürze skizziert werden. 353 Ebd., 354 Ebd., 355 Ebd.
S. 208/210. S. 204.
356 Aner,
Theologie der Lessingzeit, S. 4.
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Vor allem in seiner Schrift „Reasonableness of Christianity“ von 1695 spricht John Locke der Offenbarungsreligion sowohl eine historische Vorgängigkeit vor der natürlichen Religion als auch eine moralisch-religiöse Unterstützungsfunktion zu. Es bedurfte der jüdischen und der christlichen Offenbarung einerseits zur Mitteilung über die wesentlichen Wahrheiten der Religion, ohne die keine natürliche Religion möglich gewesen wäre. Und der natürliche Mensch bedarf zur Realisierung der vernünftig eingesehenen moralisch-religiösen Vorstellungen der Offenbarung, die durch ihre Einfachheit und Überzeugungskraft der natürlichen Religion überlegen ist.357 Locke begründet letztere Funktion mit einem wissenssoziologischen Argument, das Hirsch wie folgt auf den Begriff bringt: „Was bei Denkern vernünftig gegründete religiös-ethische Einsicht sein kann, ist der Menge nur als autoritative Offenbarungslehre in einer ihrer Fassungskraft angepassten Form zugänglich.“358 Neben dem offenbarungstheoretischen Mitteilungsmodus prinzipiell natürlicher Religionswahrheiten räumt jedoch Locke in einzelnen Punkten mit seinem Theorem der sogenannten übervernünftigen Glaubens‑ bzw. Offenbarungswahrheiten auch inhaltlich der Religion Christi einen Mehrwert gegenüber der vernünftigen Religion ein.359 Lessings Offenbarungskonzept in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (1777/80) liegt der Sache nach ganz in der Linie John Lockes360, wenngleich er in einem Punkt von ihm abweicht. Während der jüdischen und christlichen Offenbarung auch eine historische Mitteilungs‑ und didaktische Bekräftigungsfunktion zukommt, handelt es sich jedoch bei Lessing um ein geschichtsphilosophisch begründetes Stufen‑ bzw. Ablöse‑ und Vervollkommnungsmodell: Auf der höchsten Stufe der Aufklärung könne der Mensch ohne Rückgriff auf positive historische Religionswahrheiten die für die Moralität und Religion notwendigen Wahrheiten erkennen.361 Kants Position im 3. und 4. Teil der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) stellt hinsichtlich der hier relevanten Aspekte eine Vermittlung zwischen Lockes wissenssoziologisch begründeter Strukturtheorie und Lessings erziehungstheoretisch begründetem geschichtsphilosophischem Konzept dar. Während auch Kant von einer allmählichen Ablösungstendenz der reinen moralischen Religion vom Offenbarungsglauben ausgeht, wird diese 357 Vgl. Locke, Reasonableness, v. a. S. 242–290. – Vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, S. 282–292. 358 Ebd., S. 289 f. 359 Vgl. Zscharnack, Einleitung, XXVII ff. – Zscharnack bietet hier einen Vergleich zwischen dem supranaturalistischen Element im „Essay concerning human understandig“ und der „Reasonableness“. 360 Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Locke und Lessing wurde festgestellt von Arno Schilson und Axel Schmitt in ihrem Kommentar zu: Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts, S. 661–1307, S. 805 f. 361 Vgl. Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts, v. a. §§ 77 ff., S. 95 ff. – Vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, S. 135 ff.
8. Religion und Unsterblichkeit
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zum einen doch stärker als bei Lessing als ein unendlich approximativer Prozess bestimmt, und zum anderen kann Kant an einigen Stellen auch von einer strukturellen Angewiesenheit der Religion auf historisch vermittelte sinnliche Vorstellungen ausgehen.362
8.3 Unsterblichkeit Schenkt man dem recht übersichtlichen dogmatischen Teil des Artikels „Unsterblichkeit“ in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE)363 Glauben, so spielt der Unsterblichkeitsgedanke in der Aufklärung eine nur untergeordnete Rolle bzw. wird von seinen Vertretern hauptsächlich kritisiert.364 Heesch erwähnt ausschließlich David Humes empiristisch-erkenntnistheoretische Kritik am Unsterblichkeitsgedanken und spart die konstruktive theologische und philosophische Debatte vollständig aus. Ähnlich sparsam verfährt der einschlägige Artikel in der Religion in Geschichte und Gegenwart (4. Auflage)365, der damit seinerseits der Bedeutung des Unsterblichkeitsdiskurses in der Aufklärungstheologie und ‑philosophie nicht gerecht zu werden vermag. Olaf Briese zieht den Bogen der Fehlurteilsgeschichte in Bezug auf diese Debatte bis in die Aufklärungsdeutung des 19. Jahrhunderts hinein, die mit Aufklärung einseitig Religionskritik, Atheismus und Materialismus verband und sich somit einen Blick auf die konstruktiven Diskurse über Religion und Unsterblichkeit verstellte.366 Dieses Vorurteil sei erst mit der Aufklärungsforschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts revidiert worden, wo man zu der Einsicht kam, dass der Gedanke der Unsterblichkeit zu einem philosophischen Hauptproblem bzw. Zentraldogma
362 Ich zitierte hier mit dem Eingang des § VI aus dem 3. Teil nur die prägnanteste Passage: „Wir haben angemerkt, daß, obzwar eine Kirche das wichtigste Merkmal ihrer Wahrheit, nämlich das eines rechtmäßigen Anspruchs auf Allgemeinheit entbehrt, wenn sie sich auf einen Offenbarungsglauben, der als historischer (obwohl durch Schrift weit ausgebreiteter und der spätesten Nachkommenschaft zugesicherter) Glaube doch keiner allgemeinen überzeugenden Mitteilung fähig ist, gründet, dennoch wegen des natürlichen Bedürfnisses aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgend eine Erfahrungsbestätigung u.dgl. zu verlangen (worauf man bei der Absicht, einen Glauben allgemein zu introduzieren, wirklich auch Rücksicht nehmen muß), irgend ein historischer Kirchenglaube, den man auch gemeiniglich schon vor sich findet, müsse benutzt werden.“ (Kant, Religion innerhalb, S. 119 [AA S. 157]). Vgl. auch S. 147 f.; 205 f.; 217 f. [AA S. 198 f.*; 281 f.; 299 f.]. Zur christologischen Dimension der religiösen Notwendigkeit zur Versinnlichung ihrer Begriff vgl. S. 72 f. [AA S. 81 Anm*]. 363 Vgl. Heesch, Unsterblichkeit. 364 Ebd., S. 389 f. – Heesch erwähnt auf den insgesamt zehn Zeilen ausschließlich David Humes empiristisch-erkenntnistheoretische Kritik am Unsterblichkeitsgedanken und spart die theologische und philosophische Debatte aus. 365 Vgl. Zachhuber, Unsterblichkeit; vgl. Rosenau, Unsterblichkeit. 366 Vgl. Briese, Wie unsterblich ist der Mensch, S. 1.
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
der Aufklärungsepoche avanciert sei367, wobei eine völlige Ablehnung einer Unsterblichkeitsidee nur bei Verfechtern einer materialistischen Metaphysik v. a. französischer Aufklärungsdenker anzutreffen sei (La Mettrie, D’Holbach, Helvetius368). „Die deutsche Aufklärung bis hin zu Kant hat … kaum je auf das Postulat der Unsterblichkeit … verzichten wollen.“369 Der Weg, der zu solchen prominenten Unsterblichkeitskonzepten wie denen von Kant und Fichte führte, markiert einen langen Prozess, der durch eine grundlegende Verschiebung der Begründungskontexte gekennzeichnet ist. Diese verlagerten sich weg von den dogmatischen Lehren von den letzten Dingen mit Jüngstem Gericht und Auferstehung der Toten, um nur zwei Aspekte zu nennen, hin zu metaphysischen, psychologischen, anthropologischen sowie identitäts‑ und perfektibilitätstheoretischen Theoriemodellen, die aus unterschiedlichen Richtungen den Seelen‑ und Unsterblichkeitsbegriff zum neuen begrifflichen Zentrum ihrer Reflexionen über die postmortale Kontinuität des menschlichen Lebens erklärten. Bis dies von der deutschen Aufklärungstheologie in verschlungenen Rezeptionsprozessen adaptiert wurde, hatte die von der Theologie sich nach und nach emanzipierte Philosophie, genauer Metaphysik, Psychologie und Anthropologie des späten 17. und der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts kräftig vorgearbeitet. Der Cambridger Platonismus370 und in seinem – wenn zwar in dieser Hinsicht kritischen – Gefolge Shaftesbury orientierten sich an der platonischen Psychologie und Unsterblichkeitslehre, die später von Mendelssohns „Phädon“ (1767) in den deutschen Diskurs eingebracht und zu Ehren gebracht wurde.371 Vorher hatte jedoch bereits Leibniz mit seiner Vervollkommnungstheorie und Wolff mit seinem metaphysisch-psychologischen Unsterblichkeitsbeweis der Seele372 rationale Standards gesetzt, auf die die philosophischen und theologischneologischen Konzepte affirmativ oder kritisch aufbauen konnten. Der Neologie kommt für die aufklärungstheologische Umformungsleistung der Eschatologie bzw. Unsterblichkeitslehre eine zentrale Rolle zu. Die Konjunktur von Unsterblichkeitskonstruktionen in dieser Epoche hat ihren Grund u. a. in der Krise des orthodox-lutherischen ordo salutis mit seiner Eschatologie. Waren erst einmal die Lehren vom jüngsten Gericht, von den Höllenstrafen und der leiblichen Auferstehung ins Wanken geraten, wurden alsbald neue Unsterblichkeitskonstruktionen zur Hauptaufgabe der Theologie.373 Sucht man nach allgemeinen Prinzipien, die all diese Theorien verbinden, so lassen sich vier Merkmale benennen: 1. Die sündentheologisch begründete Differenzsetzung 367 Vgl. ebd., S. 2. – Briese bezieht sich auf Philosophiehistoriker wie Rudolf Unger und Walther Rehm. 368 Vgl. Sparn, Unsterblichkeit, S. 422 f. 369 Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 184. 370 Vgl. Holzhey, Seele, S. 27 f. 371 Vgl. Markworth, Unsterblichkeit, S. 14. 372 Vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 742; 789; 925 f. 373 Vgl. Markworth, Unsterblichkeit, S. 13.
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zwischen diesseitigem und jenseitigem Leben wird zugunsten einer Kontinuitätsstruktur aufgegeben, die sich aus der Idee der Perfektibilität speist: „Spalding, Mendelssohn, Jerusalem, Reimarus, Lavater – alle vertreten ein durch die Idee der individuellen Vervollkommnung beeinflusstes Unsterblichkeitsmodell.“374 2. Die gnadentheologische Konditionalität der Unsterblichkeit wird unter Rückgriff auf die Natur des Menschen verabschiedet: Die Unsterblichkeit ist kein Gnadengeschenkt Gottes mehr, sondern ein Strukturmerkmal der Natur des Menschen. 3. Die heilsgeschichtliche Lehre vom jüngsten Tag und der Auferstehung aller weicht dem Primat einer persönlichen Unsterblichkeit jedes einzelnen Menschen. 4. Innerhalb der individuellen Vervollkommnung verbindet der Glücksgedanke als zentrales anthropologisches, ethisches und teleologisches Theoriemoment das diesseitige mit dem jenseitigen Leben: Das natürliche Streben des Menschen nach Glück, das im Diesseits mit der Tugend und Religion beginnt, vollendet sich im Jenseits. All diese Momente sind auch in Spaldings Unsterblichkeitskonzept in der Bestimmungsschrift anzutreffen, wobei zunächst die in der Spaldingforschung strittige Frage, inwieweit Spalding stärker von Wolffs oder von Shaftesburys Unsterblichkeitslehre abhängig ist, offen bleiben muss, um nach der genauen Analyse noch einmal aufgeworfen zu werden. Es wurde bereits im Kontext der Analyse der Goezeschen Rezension deutlich, dass sich dessen Kritik an Spaldings Ausblendung des Offenbarungsgedankens und der natürlich-rationalen Vergewisserung über die Unsterblichkeit festgemacht hatte. Die Debatte um die Reichweite eines Konzeptes von natürlicher Religion entzündete sich nicht zuletzt an diesem Lehrstück. Aus dieser rezeptionsgeschichtlichen Perspektive ist also im Folgenden das Augenmerk auch auf die Plausibilität von Spaldings Unsterblichkeitskonzept und die Frage zu richten, inwieweit er ohne Rekurs auf offenbarungstheologische bzw. biblische Begründungsmuster die Krise der natürlichen Tugend und Religion bewältigt. Den systematischen Rahmen für Spaldings Unsterblichkeitsreflexionen stellen einerseits der Vorsehungsgedanke und andererseits die Idee der Perfektibilität dar, die bereits im Religionsabschnitt zentrale Leitgesichtspunkte abgaben. Der „Umfang der Fürsicht“ könne sich – so die These – nicht auf den „Bezirk dieses Lebens“375 beschränken, sondern müsse sich über dieses Leben hinaus erstrecken. Das Ich stellt ausgehend von der Krisenbeschreibung der Vorsehungsvorstellung fest: „Nein! es ist nicht möglich, daß die Welt also regieret werde …. Es muß nothwendig ein besseres Verhältniß der Dinge da seyn, sollte ich dieß auch in seiner völligen Klarheit ausser dem Bezirk dieses Lebens zu suchen haben.“376 Die „Art von Disharmonie“ in der moralischen Ordnung der Welt müsse in eine 374 Ebd.
375 Spalding, 376 Ebd.,
BdM, S. 20 [S. 21 f.]. S. 20 [S. 21].
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
„vollkommenste[n] Proportion“ bzw. „vollkommene Zusammenstimmung“ überführt werden. Mit dem Begriff der vollkommenen Zusammenstimmung ist der Vergeltungsgedanke vorbereitet, durch die die Proportionalität zwischen Tugend und Glück begründet wird: „Es muß eine Zeit seyn, da ein jeder das erhält, was ihm zukömmt.“377 Die dereinstige Vergeltung allein könne die in dieser Welt offensichtliche Unabgegoltenheit von Tugend und Untugend auflösen: „Ich erwarte also getrost noch eine entfernte Folge von Zeiten, welche die volle Ernte von der gegenwärtigen Saat seyn, und, vermittelst einer allgemeinen richtigen Vergeltung, die Weisheit rechtfertigen wird, welche das Ganze verwaltet.“378 Es ist bemerkenswert, dass Spalding an keiner Stelle von Belohung bzw. Bestrafung spricht und somit den Modus der Vergeltung im Dunkel belässt. Mit dem Begriff der Rechtfertigung der Weisheit berührt das introspektive Subjekt die Theodizeefrage, die ihm durch die moralische Disharmonie zu Bewusstsein gekommen ist und die nun mit der jenseitigen Vergeltung ihre positive Auflösung erfährt.379 Die Suspendierung des Gedankens von Belohung und Strafe begründet sich auch dadurch, dass Spalding den Vergeltungsgedanken in sein perfektibilitätstheoretisches Anlage-Bestimmungs‑ sowie Gottverähnlichungskonzept einzeichnet und ihm damit einen neuen Sinn gibt: „Die Anlage scheinet ganz offenbar [scil. allgemeine richtige Vergeltung; G. R.] dazu in meiner Natur gemacht zu seyn. Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind, und die auch ausser der Verbindung mit diesen Körpern sich nicht weniger äussern können.“380 Mit dem Begriff der Anlage lässt Spalding das räsonierende Ich an die naturtheoretisch-telelogischen Struktur von Anlage und Bestimmung anknüpfen. Das Subjekt macht die Erfahrung, dass das „Vermögen, das Wahre und Gute zu erkennen und zu lieben“ als in der Natur des Menschen angelegte Disposition im diesseitigen Leben nicht zu seiner vollkommenen Entwicklung gelangt, sondern einer unendlichen Perfektibilität fähig und bedürftig ist; jeder Mensch hat zu „einer grössern Vollkommenheit hinan zu steigen“381. Sowohl mit der Vergeltungs‑ als auch mit der Perfektibilitätsidee sind zunächst nur Argumente für die Notwendigkeit einer Erwartung der Unsterblichkeit benannt, die unmittelbar der Reflektion des anthropologisch-moralischen Bewusstseins erwachsen sind. Damit verfügt die Unsterblichkeitsidee in der Bestimmungsschrift ausschließlich über den erkenntnistheoretischen Status eines moralischen Postulates. Dies bringt Spalding durch Formulierungen wie ‚es scheint ganz offenbar‘, ‚es muß‘, ‚ich spüre‘ und schließlich „[i]ch hoffe“382 zum 377 Ebd.
378 Ebd.,
S. 20 [S. 22]. Sommer, Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 178 f. 380 Spalding, BdM, S. 20 f. [S. 22]. 381 Ebd., S. 21 [S. 22]. 382 Ebd., S. 23 [S. 24]. 379 Vgl.
8. Religion und Unsterblichkeit
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Ausdruck, die allesamt andeuten, dass Spaldings Argumentationsverfahren nicht den Anspruch eines förmlichen seelenmetaphysischen Beweises hat. Dies wird besonders in folgendem Gedankengang deutlich: „Ein so edler und wichtiger Einfluß von dieser grossen Ansicht meiner künftigen Bestimmung in die ganzer Verfassung meiner Sele und meines Verhaltens würde verursachen, daß ich mich aufs möglichste hüten würde, sie falsch zu finden, wenn sie es auch seyn könnte. Es ist mir zu viel daran gelegen, daß sie wahr sey.“383 Spalding räumt ein, dass die mangelnde Verifikation eine Falsifikation durchaus möglich macht, dass es aber im Interesse des moralischen Subjektes liegt, von der Unsterblichkeit des Menschen im Status einer bloß „subjektiven Beglaubigung“384 auszugehen, weil es damit um eine existentielle Angelegenheit (‚daran gelegen‘) des Menschen geht.385 Es wurde daher von Albrecht Beutel verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Spaldings Gottes‑ und Unsterblichkeitsgedanke auf Kants einschlägige Konzeption in dessen praktischer Philosophie (vor)verweise.386 Ob es sich jedoch schon mit Spaldings „regulative[r] Idee“ um einen „transzendentalphilosophischen Vorbehalt“387 handelt, dürfte schon aufgrund einer vollständigen und geradezu methodischen Ausblendung metaphysischer resp. transzendentalphilosophischer Hintergrundannahmen, fraglich erscheinen.388 Dem Verdienst Spaldings, den Religions‑ und Unsterblichkeitsbegriff aus dem moralischen Selbstbewusstsein des Menschen abgeleitet zu haben, wird mit dieser Restriktion jedoch nichts genommen. „Spalding und Kant revolutionieren diese Reihenfolge in Deutschland und machen den Glauben und die Hoffnung umgekehrt von der Moral abhängig.“389 Damit ist auch deutlich: Spalding führt keinen dezidierten Unsterblichkeitsbeweis im Sinne der Demonstrationsmethode seines vormaligen Lehrers Christian Wolff. Er nimmt jedoch Seelenprädikate aus der schulphilosophischen Tradition auf und transformiert sie in seine Methode der Selbstvergewisserung, ohne dabei auf den Seelebegriff explizit zurückgreifen zu müssen. Das Prädikat der Unzerstörbarkeit390 begründet er auf seinen Begriff eines ‚großen Urhebers aller Dinge‘: „Bin ich aber nur versichert, daß der grosse Urheber aller Dinge, welcher allemal nach den strengesten Regeln und nach den edelsten Absichten 383 Ebd.,
S. 24 [S. 25]. Aufklärung der Religion, S. 109. 385 Mit dieser Formulierung bzw. dem Terminus der Angelegenheit nimmt Spalding einen Terminus auf, den er bereits in seinen Shaftesburyübersetzungen verwendet hatte und den er in seiner späten Religionskonzeption zum Titelbegriff erhebt („Religion, eine Angelegenheit des Menschen“; vgl. Spalding, Religion). 386 Vgl. Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XXXIII; vgl. ders., Johann Joachim Spalding, S. 231; vgl. Schwaiger, Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen, S. 15 f. 387 Beutel, Spalding und Goeze [Einleitung], S. XLII. 388 Dreesman weist darauf zu Recht hin (vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 110 f. [Anm. 560]). 389 Brandt, Bestimmung des Menschen, S. 69. 390 Bei Christian Wolff vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik, u. a. § 922. 384 Dreesman,
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V. Spaldings ‚Bestimmung des Menschen‘
handelt, wol nicht selbst willens seyn kann, mich zu zernichten, so, glaube ich, darf ich keine Zerstörung fürchten.“391 Spaldings selbstreflektierendes Ich schließt von der Gutheit des Urhebers auf den Willen desselben, dass dieser den Menschen vor dem Erreichen seiner Bestimmung – so müsste man ergänzen – nicht zerstören könne. Der Wissensmodus, in dem sich das Ich wiederfindet, ist keine zwingende Conclusio, sondern ein Glauben, der in den Affekt des NichtFürchtens einmündet. Im Kontext seines Thematisierungsrahmens der Unsterblichkeit, nämlich im Horizont der Frage nach Glück und Seeleruhe, kann es für Spalding hiermit Genüge haben. Gleiches betriff die Umformung des psychologischen Prädikates der Einfachheit bzw. Simplicitas: „Wenn ich auf mich Acht gebe, so finde ich, daß ich in dem allergenauesten Verstande Eines bin. […] Ich bin mir gar zu klar bewußt, daß es nicht unser viele sind … und daß also dieß ich keine Zusammensetzung von mehrern Theilen seyn kann. Ich weiß freilich nicht, wie es damit weiter eigentlich bewandt ist; […] [I]ich kann daher mit einer vernünftigen Zuverläßigkeit aus dem vorigen schliessen, daß dasjenige, was eigentlich ich bin, nicht nothwendig der Vertilgung mit unterworfen seyn müsse, die meinen Leib dahin reisset.“392 Auch hinsichtlich der Einfachheit des ‚Ich‘ – Spalding verwendet nicht den Terminus der Seele – räumt er ein, dass es nicht um eine ‚eigentliche‘ psychologisch-metaphysische Deduktion der Einfachheit der Seele, dass es sich vielmehr um eine Annahme mit nur gewisser ‚Zuverlässigkeit‘ handelt. Mit der Formulierung, dass ‚nicht notwendig‘ eine Vernichtung des Ich erwartet werden müsse, stellt er das Unsterblichkeitspostulat unter den modalen Charakter der bloßen Möglich‑ bzw. Wahrscheinlichkeit. Mit dem Erreichen der Reflexionsstufe der Unsterblichkeitsbestimmung will Spalding jedoch nicht das irdische Leben abgewertet wissen: „Aus diesem Begriff [scil. der Ewigkeit; G. R.] von meinem wahren und ganzen Leben will ich lernen, daß itzige recht zu schätzen.“393 Allererst durch die Hoffnung auf die Ewigkeit werde die Seele auch in den moralischen Anfechtungen im Leben eine „gewisse Festigkeit und Einförmigkeit“394 realisieren können, die für die Moralität unabdingbar sind. Zugleich gewinnt auch das religiöse Bewusstsein wieder eine Sicherheit.395 Damit wiederholt sich die dialektische Integration der je vorherigen Bestimmungsstufen, die bereits im Tugendabschnitt zu verzeichnen war (vgl. V.5.). Auf der Stufe der Unsterblichkeit, so können wir die Analyse hier abschließen, verfügt das Subjekt über die vollendete Form von Vergnügen, Glück und Seelenruhe, die durch keine Widrigkeiten mehr gestört werden kann. 391 Spalding,
BdM, S. 21 [S. 22]. S. 21 f. [S. 22 f.]. 393 Ebd., S. 22 [S. 23]. 394 Ebd., S. 23 [S. 25]. 395 Vgl. ebd., S. 24 [S. 25]. 392 Ebd.,
9. Zusammenfassung mit Rückbezug auf die Kapitel I–IV
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9. Zusammenfassung mit Rückbezug auf die Kapitel I–IV Mit der Zusammenfassung des V. Kapitels soll versucht werden, Spaldings programmatischen Entwurf einer ‚Bestimmung des Menschen‘ samt seines anthropologischen, ethischen und religionstheoretischen Konzeptes in den Kontext seiner bisherigen biographischen, philosophisch-theologischen und publizistischen Entwicklung zu stellen. Dabei wird auf die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zu rekurrieren sein. Spaldings Bestimmungsschrift konnte als Exemplifikation einerseits der literatur‑ und wissenssoziologischen Entwicklung der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts und andererseits als literarisches Produkt eines jungen aufklärungsepochalen Gelehrtenlebens gewürdigt werden. Hatte sich seit der Bittschrift Spaldings kreative Phantasie für die literarische Form sowie ein Gespür für die Korrelation von Form und Inhalt abgezeichnet, so stellt Spaldings Bestimmungsschrift mit ihrer Verknüpfung von anthropologischer Bestimmungsthematik und der Form des intramentalen Selbstgesprächs nichts weniger als eine reife und geradezu kongeniale sachlich-strukturelle Einheit dar. Die Diskussion über die Gattung erwies die Bestimmungsschrift v. a. in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive als eine popularphilosophisch-anthropologische Erbauungsschrift in aufklärerischer Absicht und in Hinsicht auf die Konjunktur der anthropologischen Bestimmungsfrage als Ausgangspunkt für moral‑ und religionsphilosophische Konzeptionen in der 2. Hälfte des Aufklärungsjahrhunderts als eine Programmschrift. Die Selbstgesprächsform resultiert neben der Prägung durch Shaftesbury und der biographischen Situation auch aus der Krise kirchlich-theologischer sowie universitär-schulphilosophischer Bildungskultur: Moralische und religiöse Orientierung funktioniert gegenüber einer bürgerlichen und sich in alle Fragen des Lebens zur Selbstbestimmung entwickelnden Öffentlichkeit nicht mehr über theologisch-dogmatische Belehrung oder metaphysische Demonstration praktischer Normen, sondern im Modus der nachempfindenden Applikation einer exemplarischen subjektiven Selbstbesinnung. Die Frage nach dem eigenen Lebenszweck entspringt nicht einer Allgemeingültigkeit voraussetzenden Anthropologie und Ethik, sondern der existentiellen Frage eines jeden Menschen nach der eigenen Lebenseinstellung und Lebensführung. So Spaldings grundlegende Einsicht. Die soliloquere Selbstbestimmung basiert zunächst auf der subjektivitätstheoretischen Differenz zwischen reflektierendem und reflektiertem bzw. deutendem und erlebendem Subjekt. Sodann steht seine selbstdialogische Methode in der Spannung zwischen empirischer Selbsterfahrung und begrifflich vermittelter Rationalität, zwischen aktualer Wahrnehmung bzw. Empfindung auf der einen und vorgegebenem Begriff auf der anderen Seite. Schließlich verfügt Spaldings Darstellungsmethode über eine argumentative wie rhetorische Struktur, die den Rezipienten zunächst mit der Selbstgewissheit einer Lebenshaltung konfrontiert, dann zum Zweifel und zur Entdeckung ihres Ungenügens führt,
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um so den Überschritt zur nächsten Reflexionsstufe zu motivieren, auf der sich dann diese Abfolge strukturell analog wiederholt, um schließlich in die religiös abgestützte und stabilisierte moralische Lebensform einzumünden. Die Formel ‚Bestimmung des Menschen‘ fungiert in Spaldings Schrift erstmals in der Literaturgeschichte als Titel wie auch als Leitgesichtspunkt der anthropologischen, ethischen und religionskonzeptionellen Reflexionsarbeit. Wenngleich der Bestimmungsterminus in seiner teleologischen Bedeutungsebene die normative Soll-Struktur der intramentalen Selbstthematisierung auf den Begriff bringt, korrelieren ihm terminologisch der Anlagebegriff und der Begriff der Einrichtung samt seines semantischen Feldes. Hier kommt dem Naturbegriff im Sinne einer Wesensbestimmung zentrale Bedeutung zu, der seinerseits faktisch-deskriptive und normativ-präskriptive Aspekte aufweist. Der Naturbegriff stellt in dieser doppelten Hinsicht die geltungstheoretische Begründung der Reflexion über die Bestimmung des Menschen bereit. Mit ihm verbinden sich Überlegungen zu je übergeordneten Bezugssystemen, die letztlich in einen Begriff des Ganzen bzw. der Welt als weitestem Referenzrahmen münden. Der Mensch stellt kein solitäres, sondern ein soziales und schließlich ein in ein Weltganzes integriertes bzw. zu integrierendes Wesen dar. Die Bestimmung des Menschen ist also formal als die Bestimmung zur Übereinstimmung mit den Verhältnissen aller Dinge bzw. des Universums definiert. Spaldings bestimmungslogische Überlegungen bleiben jedoch beim Naturbegriff als Geltungsgrund nicht stehen, sondern er fragt auch nach dem Woher bzw. einer Instanz der Bestimmung, womit bereits im Bestimmungsbegriff selber die religiöse Perspektive angelegt ist. Insofern dem Menschen qua ethische und religiöse Bestimmung ein Wert zugesprochen wird, verfügt der Bestimmungsbegriff auch über eine axiologische Dimension, die direkt die Frage nach der Würde und indirekt die Frage nach Spaldings Stellung zur lutherischen Erbsündenlehre aufwirft, die jedoch einer gesonderten Untersuchung bedurfte. Sowohl mit der literarischen Struktur der Selbstgesprächsform wie auch mit der inhaltlichen Struktur der bestimmungslogischen Ausgangsfrage steht Spalding in der Tradition von Shaftesbury. Was die Analyse der Shaftesburyübersetzungen, seiner Vorreden sowie die Rekonstruktion von Shaftesburys ‚Bestimmung des Menschen‘ bereits angedeutet hatte, konnte die Analyse von Spaldings Bestimmungsschrift bestätigen und konkretisieren. Spalding waren mit der „Inquiry“, den „Moralists“, dem „Soliloquy“ und den entsprechenden „Miscellaneous Reflections“ diejenigen Texte Shaftesburys durch Lektüre und Übersetzung bekannt und zutiefst vertraut, in denen der englische Philosoph sowohl Überlegungen zum Selbstgespräch entwickelt und sie zu dem ihm korrelierenden Thema der Bestimmung des Menschen in ein Entsprechungsverhältnis setzt. Ausgehend von den biographisch-bildungsgeschichtlichen Bedingungen von Spaldings Shaftesburyrezeption konnte in der Analyse von Shaftesburys Theorie
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des Selbstgesprächs und seines Philosophiekonzeptes der Bestimmung des Menschen deutlich gemacht werden, dass er die Form des Selbstgesprächs neben seiner Funktion für die vorliterarische Selbstbesinnung von Autoren auch als geeignete Literaturform für eine undogmatische Vermittlung existentiellen Wissens um den Menschen und seine Lebensführung namhaft macht. Damit hat Shaftesbury nicht nur Schriftsteller, sondern den Menschen allgemein im Visier. Parallel dazu entwickelt Shaftesbury ein Konzept von Philosophie, in dem der anthropologischen Frage nach der Bestimmung höchster Vorrang vor herkömmlichen metaphysischen und naturphilosophischen Themenbeständen zukommt. Das dem Philosophen adäquateste und nächststehende Thema besteht demnach in der Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebenszweck und seine dementsprechende Lebensführung. Anthropologie und Moralphilosophie stellen nur zwei Seiten einer Medaille dar, wie er es dann auch im „Soliloquy“ exemplarisch vorführt. Beides, die Form des Selbstgesprächs und das Thema der Bestimmung des Menschen, stellen hier eine stimmige Korrelation dar. Hatte Spalding in den Übersetzungen den Bestimmungsterminus als Übersetzungsäquivalent für diverse englische Termini im Kontext von Shaftesburys Universumstheorie bzw. seiner naturtheoretischen Rekonstruktion der Relation innerhalb von teleologischen Teil-Ganze-Strukturen und speziell für die moralische Zielbestimmung des Menschen verwendet, so bringt Spalding den Bestimmungsbegriff ebenfalls in dieser Bedeutung zur Geltung, insofern er den Ausgangspunkt seines anthropologischen Konzeptes bei der Frage nach der Bestimmung des Menschen nimmt. Schon die Analyse der Vorrede zur Übersetzung der „Inquiry“ hat gezeigt, dass Spalding in der Tat den im Rahmen der Lektüre und Übersetzung entdeckten Bestimmungsbegriff zum Grundbegriff seiner Anthropologie, Ethik und Religionskonzeption erhebt. Hier wird dieser Basisidee, wie Hinske sie bezeichnet, erstmals in Spaldings Oeuvre explizit der Status derjenigen anthropologischen Ausgangsfrage zugewiesen, der dann in der Bestimmungsschrift programmatisch zum Tragen kommt. Wie bei Shaftesbury fungiert auch in Spaldings Bestimmungsschrift der Bestimmungsbegriff als neue substituierende Reflexionskategorie dafür, was herkömmlich von der theologisch-dogmatischen Anthropologie im Rahmen schöpfungs-, prädestinations‑ und vorsehungstheologischer Kontexte thematisch wurde. Ohne dass Spalding sich in der Schrift selber oder anderswo ausführlicher zu der Entscheidung sowohl für die Selbstgesprächsform wie auch für die bestimmungslogische Rahmenkonzeption ausgelassen hat, konnte die rhetorische, psychologische und bewusstseinstheoretische Rekonstruktion von Spaldings Umsetzungsversuch zeigen, dass alle wesentlichen von Shaftesbury erörterten Strukturmomente hier eine kongeniale Realisierung gefunden haben. Der „Advice to an Author“, ‚der Ratschlag ein einen Autor‘ ist bei Spalding, so könnte man sagen, angekommen und verwirklicht worden. So sehr Spalding jedoch von Shaftesbury abhängt, so sehr kommt ihm über Shaftesbury hinaus in der
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Geschichte des Bestimmungsbegriffes das Verdienst zu, ihn als titelprägenden Grundbegriff einer Philosophie des Menschen verwendet und so ins allgemeine gebildete Bewusstsein gebracht zu haben. Während der Begriff der Bestimmung zunächst einen rein formal-teleologischen Operator bereitstellt, erfährt dieser eine erste inhaltliche Konkretisierung durch den Begriff der Glückseligkeit, der bei Shaftesbury wie in der Bestimmungsschrift im Verhältnis zu den einzelnen Bestimmungsstufen als metastufige Telosbestimmung zu stehen kommt: Als letzten Zweck des menschlichen Daseins bringt Spalding in der Bestimmungsschrift die Glückseligkeit und mit ihr das Vergnügen und Seelenruhe zur Geltung. Die Glücksthematik begleitete Spalding bereits seit seiner Disputation. Ihre Analyse hatte gezeigt, dass Spalding nicht zuletzt über seine Rezeption der Philosophie Andreas Rüdigers und Christian Wolffs sowie auch anderer Denkströmungen mit dem zeitgenössischen Glücksdiskurs bekannt wurde. Glück fungiert in diesem frühen religions‑ und christentumsapologetischem Entwurf als Kriterium wahrer Religion: Diese habe zeitliches Glück und überzeitlichewiges Glück zu befördern. Eine anthropologische Dimension der Glückseligkeit als prinzipielles Lebensziel kommt damit, wenn überhaupt, nur indirekt zur Geltung. Jedoch begegnet schon in der Disputation der dann stärker werdende Grundgedanke, dass die Plausibilität von Religion und Christentum strukturell nur über je übergeordnete Grundannahmen menschlichen Selbstverständnisses gezeigt werden könne. Diese glückstheoretische Funktion von Religion prägt auch das Religionskonzept der Bestimmungsschrift. Hinsichtlich der Differenz von zeitlichem und ewigem Glück ist festzustellen, dass Spalding diese in der Bestimmungsschrift implizit übernimmt, jedoch signifikant variiert. Er unterscheidet zwischen dem Glücksbewusstsein der Unsterblichkeitshoffnung und der realen Glückseligkeit im jenseitigen Leben und legt den Schwerpunkt dabei auf die diesseitig bewusste Jenseits-Glückseligkeit. Mit dieser Figur unterläuft er den Vorwurf der Jenseitsvertröstung, der ihm von der deistischen Kritik an diesem Aspekt christlicher Eschatologie geläufig war. Einen ähnlichen Befund erbrachte Spaldings Schrift über die „Staats-Gottseligkeit“. Mit dem Gedanken der ‚unendlichen Glückseligkeit‘ und der ‚höchsten Stufe der Glückseligkeit‘ klingt hier erstmals die in der Bestimmungsschrift verifizierte Idee an, dass das Glück in Stufen eine Steigerbarkeit fähig ist. In den zentralen Fokus seines philosophischen Interesses tritt der Glücksbegriff jedoch erst mit der Shaftesburyrezeption. Dies ist bereits terminologisch in den Übersetzungen und begrifflich-systematisch in den beiden Vorreden zu greifen. Die Analyse der Übersetzung der „Inquiry“ machte deutlich, dass Spalding hier erstmals den anthropologisch-teleologischen Bestimmungsbegriff und den Begriff der Glückseligkeit als Telos des Menschen samt ihrer lusttheoretischen Struktur in einen Zusammenhang und zugleich die Moralität als einen ihrer wesentlichen Realisierungsmodi zur Geltung bringt.
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In der Vorrede zur Übersetzung der „Untersuchung über die Tugend“ wird dieses letzte Motiv von Spalding verstärkt: Shaftesburys Konzept der Moralität resp. moralischen Empfindung sei daher zu begrüßen, weil sie die Glückseligkeit des Menschen begründe. Damit verschränkt Spalding Glück und Moralität. Des Weiteren begegnet in der Vorrede ein neues Motiv, welches den schon bekannten Aspekt der ewigen Glückseligkeit nicht unwesentlich verändert oder wenigstens präzisiert. Im Kontext seiner Zustimmung zu Shaftesburys Kritik am gemeinen christlichen Vergeltungsglauben bemerkt der Übersetzer, dass eine ‚himmlische Glückseligkeit‘ nicht nur und in erster Linie als Belohung für Moralität bzw. als Kompensation für irdische Widerfahrnisse missverstanden werden dürfe. Ineins damit würdigt Spalding den Gedanken einer diesseitigen Glückseligkeit im Sinne äußeren Wohlseins, die vor dem moralisch-innerlichen Glück nicht vernachlässigt werden könne. Dieser Glücksrealismus relativiert zum einen die einfache Koinzidenz von Glück und Tugend, zum anderen wird der Gedanke der unendlichen Glückseligkeit von moralisch resp. religiös unlauteren Motiven gleichsam bereinigt. Die Analyse der Texte Shaftesburys (vgl. IV.) hat zum einen Spaldings Interpretation hinsichtlich des Glücksgedankens grundsätzlich verifiziert. Zum anderen wurde deutlich, dass einige Theoriemomente in den Vorreden noch nicht in der Prägnanz von Spalding zur Geltung gebracht wurden, wie es bei Shaftesbury und dann in der Bestimmungsschrift der Fall ist. Dies betrifft zunächst die glückstheoretische Ganzheitsperspektive und die Gestuftheit der Bestimmung des Menschen, was vor allem für das „Soliloquy“ (vgl. IV.1.2) herausgearbeitet werden konnte. Denn signifikant für Spaldings Glücksbegriff in der Bestimmungsschrift ist, dass er nicht nur als ethisches Lebensziel zur Geltung gebracht wird, sondern als anthropologische Zielbestimmung das Leben als Ganzes integriert. Darin erblickt Claussen zu Recht ein aristotelisches Moment.396 Die Ganzheitsperspektive steht in einer Spannung: Einerseits entwickelt Spalding eine Stufenfolge des Glücks, die vom sinnlichen Vergnügen zum höheren Vergnügen der Moralität, Religion und Unsterblichkeitshoffnung klimaktisch ansteigend die je niedere Lebensform als überwunden darstellt. Andererseits unterläuft er jedoch dieses „antihedonistische Gefälle“397 durch die retrospektive Rehabilitierung sowohl der Sinnlichkeit wie auch des Vergnügens des Geistes. Damit ineins transzendiert Spalding die alte antike Entgegensetzung von innerlichem und äußerlichem Glück, was sich auch in der Unsterblichkeitskonzeption bestätigt. Hier wurde dem äußeren Gelingen des Lebens durchaus ein glücksrelevanter Eigenwert eingeräumt. Die Totalitätshinsicht des Glücksgedankens stellt mithin ein komplexes Gebilde dar, welches rhetorisch wie sachlich kunstvoll klassische glückstheoretische Alternativset396 Vgl.
Clausen, Glück und Gegenglück, S. 284.
397 Ebd.
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zungen überwindet, ohne dass Spalding hier problematisierend-diskursiv auf die Tradition Bezug nehmen müsste. Damit wird in Hinsicht auf Spaldings Rezeption des Glücksgedankens Shaftesburys deutlich, dass er wesentlich auch Theorieaspekte aus dem „Soliloquy“ resp. den entsprechenden „Miscellaneous Reflektions“ verarbeitet hat, die ihm durch seine Lektüre der „Moralists“ und der „Inquiry“ noch nicht zur Verfügung standen. Als grundlegend für Spaldings Glückskonzeption in der Bestimmungsschrift erwies sich die je subjektive Selbstentdeckungsstruktur, worin er ebenfalls v. a. Shaftesburys „Soliloquy“ folgt: Weder philosophisch noch theologisch-dogmatisch wird das Wesen wahren Glücks exponiert; vielmehr entlässt Spalding sein literarisch-suchendes Ich sowie seinen Leser in einen gedanklichen wie lebensgeschichtlichen Prozess der Entdeckung desjenigen Modus von Leben, in welchem das formale Wesen von Glück seine größte Erfüllung findet. Spaldings Glücksgedanke in der Bestimmungsschrift verfügt sodann über eine kriteriologische Funktion. Auch hierin folgt er Shaftesburys Skizze einer Bestimmung des Menschen im „Soliloquy“. Der Wert einer Lebensform bemisst sich an ihrer Glückstauglichkeit. Dabei kommt dem Vergnügen bzw. der Lust sowie dem Aspekt der Seelenruhe argumentatives Gewicht zu. Die Qualität des Glücks hängt an der Beständigkeit und dem nichtkontingenten Charakter des Vergnügens, was wiederum die Ruhe der Seele und mithin Glück evoziert. Spalding gelingt damit die Vermeidung stoisch-stoizistischer Lustabstinenz, ohne jedoch einem schlichten Hedonismus das Wort zu Reden. Dass auch für diese Vermittlungsfigur Shaftesbury Pate stand, wurde deutlich gemacht. Bezieht man die Glücksperspektive der Bestimmungsschrift auf die traditionelle theologische Terminologie und Semantik letzter Zielbegriffe des Menschen und der Welt, so kann reklamiert werden, was Claussen allgemein für einen theologischen Glücksbegriff feststellt resp. einfordert, nämlich die Relation einer „Funktionsäquivalenz“398. Dabei ist jedoch zunächst festzuhalten, dass Spaldings individualgeschichtliche Restriktion seines Bestimmungskonzeptes die heilsgeschichtliche bzw. geschichtstheologische Seite christlicher Heilserwartung ausblendet. Dies wurde spätestens an seiner Unsterblichkeitskonzeption deutlich. Während Spaldings Unterscheidung von zeitlichem und überzeitlichem Glück, an der er auch noch in der Bestimmungsschrift der Sache nach festhält, die soteriologisch-eschatologische Differenz von präsentischer und futurischer Eschatologie substituiert, restringiert er beide Perspektiven auf die subjektive Seite menschlicher Erfüllungshoffnung. Des Näheren ist Spaldings Glücksbegriff in der Lage, als funktionales Äquivalent der theologischen wie religiösen Reflexionsfigur der Erlösung zur Geltung gebracht zu werden und dies aus mehreren Gründen. Zum ersten kongruieren Glücks‑ und Erlösungshoffnung formal in ihrer teleologischen Struktur, denn beide sind Zielgedanken menschlichen Lebens. 398 Ebd.,
S. 396.
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Zum zweiten verfügt sein Glücksgedanke über eine erlösungstheoretische Struktur, insofern das moralische Glück wie auch das Glücksbewusstsein der Unsterblichkeitshoffnung jeweils von einem Negativbewusstsein bzw. von einer daraus erwachsenden Bedürftigkeit ihren Ausgang nehmen. Allererst aus dem inneren Konflikt einer äußerlich-sinnlichen und geistigen Lebensführung resultiert die Erlösungsbedürftigkeit von dieser selbstentdeckten Inkongruenz von humaner Bestimmung und faktischem Leben. Spaldings soteriologische Leistung besteht gerade darin, dass nicht einfach die Sündhaftigkeit des Menschen nur behauptet, sondern im Modus der subjektiven Introspektion in Selbsterkenntnis überführt wird. Die Bedürftigkeit der Erlösung von dem als defizient erfahrenen sinnlichgeistigen Glück motiviert den Übergang zur Moralität als einem vorläufigen Erfüllungsmodus höheren Glücks. Ähnliches ließe sich für die Übergänge von der Moralität zur Religion und zur Unsterblichkeitserwartung sagen. Das moralische Glück der Erlösung von der Selbstverstrickung wird jedoch nicht, und darin liegt ihre christentumstheoretische Grenze, als christologisch oder anderweitig vermittelt erfahren. Die moralische Empfindung und Fähigkeit des Menschen, sich zur Moralität erheben zu können, kann theologisch lediglich als Schöpfungsgnade rekodiert werden. Für diese Deutung spricht, dass Spalding im Religionsabschnitt der Bestimmungsschrift die zunächst selbstentdeckte Empfindung des Guten und Bösen vom reflektierenden Ich als göttliche Wahrheit deuten lässt. Dies betrifft mittelbar auch den Aspekt der Rechtfertigung: Während das forensische Modell einer Vergebungsgnade dem Grundkonzept Spalding vollständig widerspräche, so lassen sich durchaus im Religions‑ und Unsterblichkeitsabschnitt akzeptanztheoretische Motive namhaft machen: Der moralische Mensch weiß sich in der Übereinstimmung mit seiner Natur und deren Urheber zugleich von diesem gebilligt. Und nicht nur das: Mit dem Gedanken der Gottverähnlichung verfügt Spaldings Religionskonzept neben erlösungs‑ und rechtfertigungstheologischen Motiven auch über ein versöhnungstheologisches Moment: Der Gegensatz zwischen Urbild und Abbild kann überwunden werden, wenngleich nur in einem unendlichen und unabschließbaren Prozess, deren Vollendung das Subjekt in der Unsterblichkeit vermutet. Nimmt man die genannten Überlegungen zusammen, erscheint es durchaus als legitim und sinnvoll, Spaldings Glückkonzept als soteriologisches Modell zu interpretieren. Denn es kann zum einen nicht einfachhin als schlichter Eudaimonismus abgetan werden, verfügt es doch sowohl über ein Selbstbegrenzungsmoment wie auch über das Moment einer Unabschließbarkeit bzw. Partikularität menschlichen Glücks und damit über Aspekte, die für eine theologisch resp. christliche Anthropologie und Soteriologie unabdingbar sind. Zum anderen verfügt der Glücksgedanke als humane Telosbestimmung über eine unmittelbare Plausibilität, weshalb eine theologisch-christliche Anthropologie und Soteriologie gut beraten ist, ihre klassische Terminologie glückssemantisch zu reformulieren. Und auch andersherum tut eine ernstzunehmende Glücks-
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philosophie gut daran, die Glückshemmnisse und die Grenzen menschlichen Glücks mitzureflektieren. Stellt die Glückseligkeit den bestimmungslogischen Integrationsbegriff der Bestimmungsschrift dar, so kann gleiches vom Empfindungsbegriff in erkenntnistheoretischer bzw. psychologischer Hinsicht gesagt werden. Er fungiert zunächst als Zentralkategorie von Spaldings Tugendkonzeption, jedoch auch innerhalb seiner Reflexionen über Religion und Unsterblichkeit als Grundbegriff zur Beschreibung diesbezüglicher Bewusstseins‑ und Vorstellungsakte. Mit dem Empfindungsbegriff im Zusammenhang seines Wolffstudiums bekanntgeworden, was sich bereits in Spaldings frühen Publikationen am Rande zeigte, rückt er ihn in den Vorreden zu den Shaftesburyübersetzungen in den Fokus seiner Shaftesburydeutung. Schon die Analyse zentraler Begriffsfelder in den Übersetzungen hat sich neben dem Bestimmungsbegriff vorrangig der Analyse von Spaldings Verwendung des Empfindungsterminus’ als Übersetzungsäquivalent gewidmet, der nun bereits zu einem integralen Begriff avanciert und zahlreiche englische Termini terminologisch bündeln konnte. Deutlich wurde dies in besonderer Weise an der Übersetzung des englischen Wortes feel mit Empfindung, womit Spalding urteilstheoretische Momente in den Empfindungsbegriff importierte. Während die Analyse der Übersetzung vorerst den Befund darlegte, konnten im Kontext der Rekonstruktion der Vorreden die begrifflichen und bildungsgeschichtlichen Gründe für Spaldings Favorisierung des Empfindungsbegriffes eruiert werden. Unsere Grundthese bestand darin, dass Spalding den Empfindungsterminus als Übersetzungsäquivalent und Interpretationskategorie verwendet, weil dieser zum ersten der deutschen Theoriesprache und gelehrten Öffentlichkeit von Christian Wolffs Metaphysik und der in ihrer Tradition stehenden Poetologie‑ und Ästhetikdebatte her bekannt war. Neben diesem rezeptionsstrategischen Motiv wurden jedoch zum anderen v. a. sachliche Überschneidungen wesentlicher Begriffsmomente bei Shaftesbury und der genannten deutschen Denktradition ins Feld geführt. Dies betraf in erster Linie die Beurteilungsstruktur, die lust‑ und vermögenstheoretische Dimension der Empfindung. Im Rahmen der Analyse der Vorrede zur „Untersuchung über die Tugend“ wurde darüber hinaus auch augenfällig, dass Spalding mit dem Rekurs auf das Deutlichkeits‑ bzw. Klarheits‑ und Lustmoment auf den psychologischen Theorierahmen, auf die Entgegensetzung der Empfindung von der Demonstrationsmethode wie Methode der Vernunftschlüsse, auf die ästhetische und geschmacks-, vermögens‑ sowie urteilstheoretische Bedeutungsebene die wolffschen-wolffianischen bzw. poetologischen Dimensionen des Empfindungsbegriffes hervorhebt, die bei Shaftesbury entweder nur angelegt oder gar nicht anzutreffen sind. Alle diese Begriffsmomente finden sich in dem Empfindungsbegriff der Bestimmungsschrift wieder. Hier ist vor allem die psychologische und vermögenstheoretische Grundlegung der Empfindung im Geschmacksbegriff
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und die damit einhergehende Betonung der ästhetischen Dimension der moralischen Empfindung hervorzuheben. Dieses Analyseergebnis der Übersetzungen und Vorreden hat die Einschaltung eines eigenen Kapitels zur Konjunktur des Empfindungsbegriffs in der poetologisch-ästhetischen Debatte in Deutschland vor 1750 motiviert. Hier wurde deutlich, dass Spalding in der Tat zentrale Begriffsmomente bzw. Schwerpunktsetzungen seines interpretatorischen Empfindungsbegriffes seiner Rezeption dieser Debatten verdankt haben dürfte. Es ist daher der These Dehrmanns, dass Spalding „in der moralischen Empfindung eine Möglichkeit, der rationalistischen Aufklärung Wolffs eine aufklärerische Alternative zur Seite und damit entgegen zu stellen“399 beabsichtigt haben könnte, nur teilweise zuzustimmen. Einerseits erweist sich Spalding in dieser Hinsicht auch als Schüler Wolffs, andererseits schließt er sich der Wolffkritik der ihrerseits wolffianisch geprägten Poetologen und Ästhetiktheorien an und bewerkstelligt mit Rückgriff auf deren Empfindungs‑ und Geschmacksbegriff nichts Geringeres als ein ethisch-religionstheoretisches Seitenstück zur Geschmacks‑ und Ästhetiktheorie. Als spezifisch shaftesburyanische Begriffsmomente des Empfindungsbegriffes in der Bestimmungsschrift kommen 1. die tugendtheoretische Funktion der Empfindung, 2. die rationale bzw. begriffliche Dimension und die damit zusammenhängende Bezugnahme auf Shaftesburys kosmologisch-ontologisch begründeten Begriff eines Besten der Welt, 3. die Stufigkeit von Primär‑ und Sekundärempfindungen und 4. schließlich die These, dass die Lust der moralischen Empfindung eine höhere Form von Lust als die äußerlich-sinnliche Lust darstellt, zu stehen. Dies deutete sich schon in der Vorrede zur „Untersuchung über die Tugend“ an, wo Spalding all diese Momente hervorhebt. Jedoch geht Spalding in der Vorrede von 1747 in einem Punkt über Wolff, die Poetologie und Shaftesbury hinaus. Hier verknüpft Spalding die Bedeutung der Empfindung mit der humanen Triftigkeit der Frage nach der Bestimmung des Menschen als Angelegenheit des Menschen. Diese neue Perspektive findet dann in der Bestimmungsschrift ihre Durchführung. Da die Bestimmung jedoch nicht einfach in der Moralität besteht, sondern sich stufig aufbaut resp. sich gleichsam anreichert, entschränkt Spalding parallel dazu auch den Empfindungsbegriff: Nicht nur für die Tugend, sondern bereits im Kontext des sinnlichen Lebens, dann aber auch in der religiösen Deutung des Lebens und im Unsterblichkeitsbewusstsein kommt der Empfindung eine basale Wahrnehmungs‑ und Erkenntnisfunktion zu. Damit erweist sich die Empfindung in bestimmungslogischer wie auch erkenntnistheoretischer Hinsicht als eine anthropologische Integrationskategorie. Hatte die bisherige Forschung Spaldings Tugendkonzeption resp. seinen Empfindungsbegriff in der Bestimmungsschrift ausschließlich auf seine Shaf399 Dehrmann,
Moralische Empfindung, S. 57.
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tesburyrezeption bzw. auf den Einfluss Francis Hutchesons zurückgeführt, so stellt sich das Bild komplexer dar. Zunächst kann die immer wieder repetierte These Schollmeiers, Spalding sei stärker von Hutcheson als von Shaftesbury beeinfluss worden, aufgrund der mangelnden Anhaltspunkte in den Quellen abgewiesen werden. Jedoch auch die These, dass Spalding sich im Zuge seiner Shaftesburybegeisterung mehr oder weniger vollständig von Christian Wolff abgewendet hat, muss relativiert werden. Als richtig erwies sich zwar, dass Spalding den Empfindungsbegriff als erkenntnistheoretisches Gegenprogramm zur Demonstrationsmethode Wolffs verstand. Jedoch konnte gezeigt werden, dass der Empfindungsbegriff so etwas wie eine Brückenfunktion zwischen Wolff und Shaftesbury zu übernehmen in der Lage war. Wesentliche Begriffsmomente der Empfindungskonzeption Spaldings finden sich bereits in Wolffs SeelenMetaphysik. Die Kontinuitäten zur deutschen Debattenlage überwiegen also bei weitem die Differenzen, und Spaldings Leistung kann deshalb darin erblickt werden, von Shaftesbury aus den deutschen Empfindungsbegriff inklusive seiner geschmacks‑ und ästhetiktheoretischen Dimension in Richtung einer moral‑ und religionsphilosophischen Basiskategorie weiterentwickelt zu haben. Die moralische Empfindung stellt das begriffliche Fundament einer positiven Anthropologie dar, die Spalding dann v. a. mit seinem Würdebegriff bzw. Wertbegriff expliziert. Wurde das anthropologische Konzept Spaldings in der Forschung v. a. über seine implizite Ermäßigung der lutherischen Sündenanthropologie erörtert, so wurde hier die These vertreten, dass der Würde‑ und vor allem der Wertbegriff die positiven Reflexionskategorien seiner anthropologischen Neukonzeption darstellen. Der Wert des Menschen stellt für Spalding noch keine politische und rechtstheoretische, sondern eine ausschließlich anthropologische Kategorie dar. Dem Allgemeinurteil, „die aufklärerische Theologie versteht den Begriff der Menschenwürde strikt anthropologisch, nicht aber politisch“400, ist daher im Blick auf Spaldings Bestimmungsschrift rundweg zuzustimmen. Der Wert des Menschen resp. des Subjektes besteht für Spalding zunächst in seiner Moralität, sodann in der dadurch konstituierten Übereinstimmung mit seiner Bestimmung und schließlich in der in der Moralität begründeten Übereinstimmung mit dem göttlichen Geist sowie in der ethischen Vervollkommnung bis hin zur Unsterblichkeit. Integriert sind diese Gesichtspunkte in dem Wert der Seelenruhe. Würde und Wert des Menschen bestehen also nicht schon in der Potentialität des Menschen zur Freiheit, Moralität und Religion, sondern allererst in deren konkret-biographischer Aktualisierung bzw. Realisierung in einem ethisch-religiösen Lebensganzen. Anderen Lebensformen wird ein nur relativer Wert beigelegt, insofern sie der Selbsterhaltung dienen und die ethisch-religiöse Lebensführung nicht nachteilig berühren.
400 Sparn,
Aufrechter Gang, S. 231.
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Auch hinsichtlich Spaldings anthropologischem Wert‑ und Würdebegriffs ist es sehr wahrscheinlich, dass Shaftesbury im Hintergrund steht. Im Kontext der Analyse seiner Bestimmung des Menschen konnte in unterschiedlichen Theoriezusammenhängen die Verwendung axiologischer Theoreme aufgezeigt werden. Spalding verwendete schon in seiner Vorrede zur „Untersuchung über die Tugend“ den Wertbegriff im anthropologisch-moralischen Sinne. Es wäre in der anderen Richtung lohnenswert zu eruieren, inwieweit der Wert‑ und Würdebegriff in Spaldings späteren Auflagen der Bestimmungsschrift und v. a. in seinen Spätschriften an Bedeutung gewinnt und inwieweit seine Kantrezeption diesen Vorgang befördert haben könnte401. Während der Begriff der Würde und des Wertes ein integraler Bestandteil der konstruktiv-aufbauenden Seite des anthropologischen Umformungskonzeptes der Bestimmungsschrift darstellt, verfügt diese auch über eine kritisch-ermäßigende Seite, die in erster Linie die lutherisch-orthodoxe Erbsündenlehre betrifft. War die Forschungsliteratur zur Bestimmungsschrift über einzelne Hinweise und diesbezügliche Globalurteile nicht hinausgekommen, wurde diesem Aspekt hier ein gesondertes Augenmerk gewidmet. Der rezeptionshermeneutische Zugang über Johann Melchior Goezes Rezension hat sich in Bezug auf das in Frage stehende Thema als äußerst fruchtbar erwiesen, liest doch schon er Spaldings prima facie gänzlich unpolemische und ausschließlich konstruktiv gefasste Schrift als Angriff auf die traditionelle lutherische Lehre vom Menschen. In der Analyse der Kritik Spaldings an der Erbsündenlehre wurde deutlich, dass die zentralen Theoreme seines Bestimmungskonzeptes erbsündenkritische Implikationen aufweisen. Dies betrifft vornehmlich die moralische Empfindung und die mit ihr einhergehende freiheits‑ und naturtheoretische Deutung des Menschen. Spalding nimmt rezeptionsstrategisch geschickt mit dem Natur‑ und Ursprünglichkeits‑ bzw. Angeborenheitsbegriff erbsündentheologische Topoi auf und kodiert sie anthropologisch um. Auch das erbsündenkritische Potential der glücks‑ und perfektibilitätstheoretischen Gesamtperspektive bringt Spalding zur Geltung, indem er das Glücksstreben moralisch und religiös legitimiert und damit die Fähigkeit zur dynamischen Vervollkommnung voraussetzt und als Gegenkonzept zum statischen Differenzmodell der lutherisch-dogmatischen Statuslehre ins Spiel bringt. Damit unterläuft er ein mögliches Abdriften in einen anthropologischen Optimismus zugunsten eines normativen anthropologischen Naturbegriffes, der zwischen seinem Charakter als Anlage bzw. Einrichtung und Bestimmung bzw. Endzweck changiert und – modalkategorial gedeutet – eher eine Möglichkeit denn eine Wirklichkeit darstellt. Trotzdem kommt Spaldings Verdikt gegen die lutherisch-orthodoxe Erbsündenanthropologie eine theologie401 Einen ersten Hinweis können die vorzüglichen Begriffsregister der Kritischen Spaldingausgabe liefern.
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geschichtliche Schlüsselfunktion zu, nicht zuletzt deshalb, weil die Kritik nicht vonseiten des verfemt-verschrieenen Deismus ausging, sondern aus der Feder eines lutherischen Theologen und nachmaligen Kirchenmannes stammte: „Kein Philosoph oder dissidenter Freigeist, sondern eine bald in kirchlichen Angelegenheiten führende Persönlichkeit klammert die möglichen Verdorbenheiten der menschlichen Natur als Hindernis der Tugend zunächst einmal vollständig aus und macht die Tugend zur unerlässlichen Möglichkeitsbedingung einer glückseligen Unsterblichkeit.“402 Wenn wir fragen, inwieweit Spaldings positive Anthropologie in der Bestimmungsschrift in seinem bisherigen Oeuvre präfiguriert sowie bildungsgeschichtlich begründet ist, so verspricht auch hier der Blick auf seine Shaftesburyrezeption einen Anhaltspunkt zu geben. Da Spalding noch in seinen Aufsätzen über die „Staats-Gottseligkeit“ (1740) und v. a. über die „Gedanken über die Verleumdung und Spötterey“ (1742) im Gefolge seiner Rezeption der französischen Moralistik eine eher pessimistische Anthropologie vertreten hat, ist es evident, dass er auch in diesem Punkt allererst durch seine Shaftesburyrezeption auf seine Spur gebracht wurde. Mit dem Abweis der herkömmlichen Erbsündenanthropologie geht nicht eine Verabschiedung einer religiösen Selbst‑ und Weltdeutung einher. Auch wenn eine einfache Übernahme des lutherischen gnaden‑ und rechtfertigungstheologischen Erlösungsparadigmas als zur Sündenlehre komplementäres Religions‑ und Christentumskonzept nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, entwickelt Spalding in den letzten beiden Hauptteilen der Bestimmungsschrift sein Religions‑ und Unsterblichkeitskonzept, welches an die defiziente Struktur der moralischen Empfindung anknüpft und kompensatorische Funktion hat, sich darin jedoch keineswegs erschöpft. Die Analyse der akademischen und journalistischen Schriften Spaldings hat offen gelegt, dass die Religions‑ und Unsterblichkeitsthematik den jungen Theologen nicht erst im Kontext der Bestimmungsschrift beschäftigt hat. In der Disputation ist bereits neben dem Begriff der wahren Religion ein Begriff der natürlichen Religion zu greifen, den er im Zusammenhang seiner Wolffrezeption und der Rezeption französischer und englischer apologetischer Literatur kennengelernt hat. Es konnte gezeigt werden, dass sich jedwede positive Religion an den Grundwahrheiten der natürlichen Religion zu messen habe. Hier rücken schon der Glücksgedanke und die Moralität in eine religionstheoretische Perspektive. Jedoch sei noch nicht ein natürlicher Begriff von Religion, sondern erst die geoffenbarte christliche Religion – Spalding bezieht sich v. a. auf die Lehren Jesu – für die Glückseligkeit und Tugend des Menschen hinreichend. In der Dissertation und der Bittschrift richtet sich Spaldings Interesse auf eine emphatische Apologetik der Metaphysik bzw. natürlichen Theologie Christian 402 Sommer,
Sinnstiftung durch Individualgeschichte, S. 185.
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Wolffs, jedoch dezidiert in ihrer Funktion für eine begriffliche Grundlegung der natürlichen und christlichen Religion. Ein ähnliches Bild ergab die Rekonstruktion der Glückwunsch-Schrift, während in dem Aufsatz zur „Staats-Gottseligkeit“ die glücks‑ und tugendtheoretischen Motive aus der Disputation wiederkehren: Wahre natürliche und geoffenbarte Religion müssen ihre Relevanz als eine Funktion der Moralität und des Glücksstrebens des Menschen erweisen. Mit der Vorrede zur Silhouette-Übersetzung und dem „Schreiben über Mosheim“ rückt der Begriff der natürlichen Religion ganz zugunsten eines kritischen Begriffes von Offenbarung in den Hintergrund. Spaldings Offenbarungsbegriff ist anthropologisch eingebettet: Jedwede Offenbarungsreligion müsse sich als für die wahren Angelegenheiten des Menschen relevant erweisen, für seine Glückseligkeit und seine Tugend. Mit Spaldings Shaftesburyrezeption rückt nun der ihm bereits vertraute Begriff der natürlichen Religion ganz ins Zentrum seines Interesses, was sich negativ darin niederschlägt, dass christentums‑ und offenbarungstheoretische Erwägungen ausgeblendet werden, wenngleich Spalding – dies zeigte die Analyse der Replik auf Goezes Rezension der Bestimmungsschrift – durchaus der Offenbarung, der christlichen zumal, eine relative Gültigkeit zugesteht. Mit der Lektüre und Übersetzung von Shaftesburys „Moralists“ und „Inquiry“ macht er sich mit dessen vielschichtigem Religionskonzept bekannt. Dies findet in den Vorreden einen ersten Niederschlag. In seiner Einleitung zu den „Sitten-Lehrern“ verteidigt der Übersetzer den Engländer gegen den Atheismus‑ und Pantheismusvorwurf. In diesem Kontext benennt Spalding fünf Merkmale seines Verständnisses von natürlicher Religion: 1. Schöpfung der Welt, 2. Zweckmäßigkeit dieses Weltganzen, 3. Zweckmäßigkeit der Natur im Weltganzen, 4. Zielgerichtetheit aller Einzelereignisse und Entitäten auf den Endzweck des Weltganzen und 5. die Annahme eines höchsten Wesens. Auch Shaftesburys Unsterblichkeitsbegriff rechnet Spalding zu den natürlich-religiösen Grundwahrheiten, der wir uns gesondert widmeten. Die Vorrede zu der „Untersuchung über die Tugend“ hebt neben der auch hier wieder breiten Raum einnehmenden Unsterblichkeitsthematik aus dem religionstheoretischen Komplex der „Inquiry“ einen Gedanken heraus, die Idee der Gottverähnlichung. Es ist zudem Spaldings Betonung der Glücksrelevanz der Religion zu erwähnen. Alle wesentlichen Theoriemomente seines bisherigen Begriffes der natürlichen Religion finden sich denn auch in Spaldings Religionskonzept in der Bestimmungsschrift wieder. Den Ausgangspunkt bildet die aus der moralischen Empfindung erwachsene kosmologische ästhetische Ganzheitsperspektive. Nicht mehr nur die moralische Integration des Menschen und Einzelphänomene der Natur werden als schön wahrgenommen, sondern auch die Natur sowie die Welt als Ganze. Dies führt das räsonierende Subjekt unvermittelt zur Ahnung eines Urbildes und eines Ursprungs der Schönheit und Vollkommenheit, der von
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Spalding als denkender, schöpferischer und lenkender Geist vorgestellt wird, ohne den Gottesbegriff in traditionell-theologischer Terminologie und Semantik zu gebrauchen. Einen Gottesbeweis, sei es in der Tradition der lutherischen Dogmatik, sei es in der Spielart der Theologia naturalis à la Christian Wolff, sucht macht vergebens. Spalding substituiert den Geltungsanspruch des Gedankens eines höchsten Wesens vielmehr durch den Hinweis auf die Empfindung eines urbildlichen Geistes. Mit der Empfindung ist nicht nur der erkenntnistheoretische Status von Spaldings Gottesbegriffes benannt, sondern auch seine affektive Dimension, die sich in intentione recta als Ehrfurcht und Erhabenheitsbewusstsein, in intentione obliqua als Endlichkeitsbewusstsein äußert. Letzteres kondensiert sich im Bewusstsein der Abhängigkeit von der Gottheit. Zudem unterläuft Spalding die Extreme von Pantheismus und eines strikten Supranaturalismus, indem er seinen Gottesgedanken ausschließlich aus seinen naturtheoretischen und anthropologisch-ethischen Reflexionen ableitet. Insofern der höchste Geist auch als moralischer Gesetzgeber empfunden wird, erfährt auch die moralische Empfindung eine religiöse Vertiefung ihrer Verbindlichkeit, die Spalding mit dem Gewissensbegriff verknüpft. Damit hat die Religion auch eine, wenn nicht moralitätskonstituierende, so doch eine moralitätsstabilisierende Funktion. Neben den Motivationsaspekt stellt Spalding die Anerkennung des moralischen Subjektes durch das höchste Wesen, die er werttheoretisch fasst: Einen höchsten Wert erfährt der Tugendhafte allererst durch die Anerkennung durch den moralischen Gesetzgeber. Das Anerkennungsmoment des religiösen Bewusstseins komplementiert Spalding durch den Gedanken der Gottverähnlichung: Das ethische Subjekt weiß sich nicht nur in seiner Moralität von der Gottheit anerkannt, worin sich auch eine Differenz beider Instanzen ausdrückt, sondern auch aufgefordert, der Quelle des Guten ähnlich zu werden, wodurch die Differenz durch einen unendlichen Approximationsprozess wenn nicht nivelliert, so doch relativiert wird. Dieser religiöse Aspekt moralischer Perfektibilität stellt einen Ansatzpunkt der Unsterblichkeit dar, die die Bedingung der Möglichkeit der Gottverähnlichung darstellt. In der Übernahme des Homoiosis-Theo-Motivs von Shaftesbury kristallisiert sich gleichsam der gegenüber der lutherisch-orthodoxen Sünden‑ und Rechtfertigungstheologie gänzlich andere Grundton seines Religionskonzeptes aus. Den Übergang zur Unsterblichkeitsthematik markiert ein letzter wesentlicher Gesichtspunkt von Spaldings Religionsbegriff, der Gedanke der Vorsehung, genauer in ihrer Funktion als Übereinstimmungsgarantie zwischen Moralität und Glückseligkeit. Hier käme die Religion in die Krise, wenn nicht zum Gedanken eines höchsten Wesens der Unsterblichkeitsgedanke hinzuträte, mit dem Spalding neben der Idee der unendlichen Perfektibilität einen ermäßigten Vergeltungsgedanken verbindet. Die Analyse von Shaftesburys Religionskonzept hat gezeigt, dass Spalding in allen wesentlichen Aspekten seiner Religionstheorie auch hier Schüler Shaftes-
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burys ist. Es wurde deutlich, dass Religion und Moralität zwar aufs engste zusammenhängen, wenngleich Religion weder in ihrer kompensatorischen Funktion noch gar in Moralität aufgeht. Es ist Ulrich Dreesman zuzustimmen, dass Spaldings Religionskonzept in der Bestimmungsschrift auf den mentalen und individuellen Aspekt von Religion beschränkt ist und jedwedes institutionelle Arrangement unberücksichtigt lässt; seine These aber, dass sie „im empfindsamen Gewande“403 erscheine, verschleiert ihren komplexen Charakter, der sich neben der empfindungstheoretischen Dimension auch rational-begrifflicher und für die Lebensführung funktionaler Momente verdankt. Auch wenn Spalding keinen förmlichen Existenzbeweis Gottes liefert, so spannt er in die enthusiastischen Gedankenfolgen seines reflektierenden Ichs durchaus so etwas wie ein Netz von religionsphilosophischen Argumenten für die Plausibilität des Gedankens eines höchsten Wesens ein. Da Spalding an keiner Stelle dezidiert biblisch bzw. dogmatisch-theologisch argumentiert, stellte sich die in der Aufklärungsdeutung resp. Spaldingforschung bis heute vieldiskutierte Frage, was sein Konzept von natürlicher Religion für das Verhältnis von natürlicher und Offenbarungsreligion bedeutet. Stand er in seinen frühen Publikationen in der Tradition übergangstheologischer und wolffscher Optionen, konnte im Rahmen der Analyse der Vorreden der Shaftesbury-Übersetzungen festgestellt werden, dass sich seine Position wandelt. Der Mensch könne als empfindendes und vernünftiges Wesen die zentralen religiösen Wahrheiten und Gewissheiten im Modus der Selbstreflexion gewinnen. Damit wird der Offenbarungsreligion resp. dem Christentum ein Mehrwert in materialinhaltlicher Hinsicht abgesprochen, wenngleich Shaftesburys Religions‑ und Unsterblichkeitskonzept als ein solcher Deismus‑ bzw. Theismus von Spalding verstanden wird, der der Offenbarung nicht prinzipiell eine gewichtige Funktion für den Aufbau des religiösen Bewusstseins abspricht. Da Spalding den Begriff der natürlichen Religion der offenbarungskritischen Partei des englischen Deismus zuschreibt, vermeidet er ihn als Interpretationskategorie in seiner Shaftesburydeutung. Diesen Faden nimmt Spalding in der Bestimmungsschrift wieder auf. Auch hier sucht man den Terminus der natürlichen Religion vergebens, weil er seinen Begriff von Religion und Unsterblichkeit als Strukturtheorie von Religion allgemein zur Geltung bringen will und damit eine einfache komplementäre Relation von natürlicher und offenbarter Religion unterläuft. Was dies konkret bedeutet, erwies sich in der Analyse des Anhangs zur 3. Auflage der Bestimmungsschrift, der auch als Replik auf Goezes Rezension fungierte. Hier bedient sich Spalding denn doch des Terminus’ der natürlichen Religion, jedoch in einem spezifischen Sinne. In materialer Hinsicht verfüge die Offenbarungsreligion über
403 Dreesman,
Aufklärung der Religion, S. 91.
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keinen Mehrwert, wenngleich sie in funktionaler Hinsicht sowohl die natürliche Religion bestätigt – und andersherum – sowie die subjektiv-praktische Aneignung natürlich-religiöser Einsichten befördert. Darüber hinaus komme der Offenbarungsreligion, wenn nicht eine geltungstheoretische, so doch eine historische Vorgängigkeit sowie eine didaktische Funktion zu. Dies trifft – und hier zeigt sich Spalding als christlicher Theologe – in erster Linie für die christliche Religion resp. das Evangelium zu. Die natürlichen Einsichten in die eigene Bestimmung zur Moralität und zur Religion unterminieren nicht die Funktion der Offenbarung, sondern führen das Subjekt allererst zu ihr. Damit liegt zwischen natürlicher Religion und Offenbarungsreligion keine genetische Ablösungsrelation, sondern ein strukturell komplexes Komplementärverhältnis vor. Die Hermeneutik der Bestimmungsschrift wird von dieser Interpretation aus von dem Verdikt befreit, Spalding vertrete das Konzept einer natürlichen Religion als suffiziente Alternative zur christlichen Religion. Vielmehr dürfte sein indirektes und implizites Anliegen darin bestanden haben, den historischen Wert, den Geltungswert und den praktischen Nutzen der christlichen Religion von einer solchen Richtung aus ins Licht zu rücken, die prima facie das Gegenteil zu bewirken scheint. Problemgeschichtlich erwies sich zudem zweierlei als bemerkenswert. Zum einen unterläuft Spalding die einfache Differenz von natürlich-vernünftiger und übernatürlicher Gotteserkenntnis. Denn innerhalb seiner Religionskonzeption kommt der religiösen Empfindung als emotional-affektivem wie gleichermaßen rational-begrifflich vermitteltem Erkenntnismodus eine gewichtige Funktion zu. Damit hebt Spalding die deutsche aufgeklärt-aufklärerische Debatte um die natürliche Religion auf eine höhere Komplexitätsstufe. Zum anderen konnte in kurzen Strichen gezeigt werden, dass Spaldings Konzept abgesehen von Shaftesbury einerseits in der Tradition John Lockes steht und anderseits mit den späteren einschlägigen Entwürfen Lessings und Kants vergleichbar ist. Die Unsterblichkeitsthematik beschäftigt Spalding bereits seit seiner Disputation, wenngleich sie erst in den Übersetzungsvorreden ins Zentrum seines theoretischen Interesses rückt, um dann in der Bestimmungsschrift in den Rang eines bestimmungslogischen Zielpunktes seiner Anthropologie erhoben zu werden. In der Disputation und in der Schrift über die Staats-Gottseligkeit verbirgt sich unter dem Begriff der ewigen Glückseligkeit innerhalb des Glücksaspektes der Unsterblichkeitsgedanke. Damit kommen bereits hier der Unsterblichkeits‑ und Glücksgedanke zusammen zu stehen. In der Silhouette-Vorrede erörtert Spalding die Aussicht auf ein zukünftiges Leben im Rahmen der Frage nach der Notwendigkeit von Offenbarung. Allein als Offenbarungswahrheit kann der Hoffnung auf ein ewiges Leben das Gewissheitsmoment verliehen werden, welches den Menschen aus seiner Angst vor göttlichen Strafen befreit. Damit weist Spalding hier noch die natürliche Religion als insuffizienten Erkenntnismodus der Unsterblichkeit ab.
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In der Vorrede zu den „Sitten-Lehrern“ vertritt Spalding die These, dass der Vergeltungs‑ bzw. Unsterblichkeitsgedanke ein notweniges Hilfsmittel der moralischen Empfindung darstelle, nicht in konstitutions‑ und begründungstheoretischer Funktion, sondern in der Funktion einer moralischen Motivation und Stabilisierung. Hierin weiß er sich mit Shaftesburys Konzept einig, das er auch in diesem Punkt gegen mögliche Einwände vonseiten seiner Kritiker verteidigt. Spalding zeigt sich also hier durchaus sensibel dafür, dass Shaftesburys kritische Haltung gegenüber herkömmlichen Vergeltungskonzepten allzu schnell zu der These verleiten könnte, Shaftesbury lehne jedweden Unsterblichkeitsgedanken rundweg ab. Ein gleiches Bild ergab die Analyse der Vorrede von 1747. Auch hier weiß sich Spalding mit Shaftesbury in dem Abweis einer einfachen Vergeltungslogik nach Lohn und Strafe einig. Er betont aber auch hier, Shaftesbury aufgrund dieser relativen Kritik einen konstruktiven Begriff von Vergeltung und Unsterblichkeit nicht vollständig absprechen zu können. Wenn nicht moralkonstituierend, so könne doch die Unsterblichkeitserwartung als Hoffnung auf Vereinigung von Tugend und individuellem Glück die Tugend stabilisieren und unterstützen. Dass Spaldings diesbezügliche Shaftesburydeutung durchaus den Kern von Shaftesburys kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit dem Unsterblichkeitsgedanken getroffen hat, wurde durch die gesonderte Analyse der einschlägigen Kapitel in der „Inquiry“ deutlich. In der Bestimmungsschrift übernimmt Spalding von Shaftesbury die Kritik am herkömmlichen Vergeltungsgedanken. Während von der Erwartung von jenseitigem Lohn und Strafe in moralitätsbegründender Funktion keine Rede ist, liegt das argumentative Hauptgewicht auf der Übereinstimmungsrelation zwischen Lebensführung und Glückseligkeit. Die Unsterblichkeitshoffnung hat lediglich die Aufgabe, die aus der moralisch-religiösen Krise erwachsene Moralitätshemmung durch den Gedanken einer jenseitigen Kompensation aufzulösen. Neben dieser Kompensations‑ resp. Motivationsfunktion liegt der Schwerpunkt von Spaldings Unsterblichkeitskonzept jedoch ganz auf der bestimmungs‑ und perfektibilitätstheoretisch begründeten Vorstellung der Möglichkeit einer unendlichen moralischen Vervollkommnung. Über Shaftesbury hinausgehend macht Spalding einerseits den erkenntnistheoretischen Postulatcharakter der Unsterblichkeitserwartung deutlich und weist damit auf Kants Unsterblichkeitspostulat voraus, andererseits geht es ihm nicht so sehr um das Glück in der Unsterblichkeit selber, sondern vielmehr um das Unsterblichkeitsbewusstsein und die daraus für das diesseitige Leben erwachsene stabilisierte Moralität und Glückseligkeit. Die Plausibiltität der Hoffnung auf ein jenseitiges Leben verdankt sich keinem seelenmetaphysischen Unsterblichkeitsbeweis, sondern allein der Forderung, die aus der Struktur des moralisch-religiösen Bewusstseins selbst entspringt.
VI. Systematische Anschlussüberlegungen „Die Erforschung der Aufklärung, die um ihre nicht nur antiquarischen Interessen weiß, ist ein Beitrag zur Archäologie der Moderne.“1 Diese geschichtshermeneutische Funktionsbestimmung der Aufklärungsforschung kann sich vorliegende Studie uneingeschränkt zueigen machen. Neben durchaus eher antiquarischen Interessen, die in der Perspektive der Arbeit auf die Bestimmungsschrift vor allem die Analyse der frühen Texte Spaldings betrafen, trägt die genetisch-systematische Rekonstruktion der frühen Bestimmungskonzeption Spaldings aufgrund ihres methodisch textexegetischen und rezeptionsgeschichtlichen Schwerpunktes eine archäologische Signatur. Archäologisch kann sie auch deshalb genannt werden, weil mit ihr einiges Licht in die Anfänge (archai) der Aufklärungstheologie gebracht werden sollte. Dabei hat sich gezeigt, dass die neologische Grundschicht keineswegs so klar von unter und hinter ihr liegenden Sedimentierungen vorneologischer Epochen abzugrenzen ist. Ob es sich jedoch um einen Beitrag zur Archäologie der Moderne handelt, lässt sich nicht so ohne Weiteres über eine einfache zeitliche Verortung behaupten. Dazu bedarf es vielmehr einer erneuten Sichtung der Ergebnisse unter einer neuzeit‑ und modernitätstheoretischen Perspektive, wobei es nicht darum gehen kann, eine Diskussion über den Anfang der Neuzeit, der Moderne und in protestantismushistorischer Sicht des Neuprotestantismus zu führen, sondern darum, Spaldings Bestimmungskonzept in den Horizont gegenwärtiger Reflexionsarbeit an einer modernen und aufgeklärten Gestalt protestantischer Theologie zu stellen. Dabei wird in einem ersten Schritt versucht, Spaldings Darstellung eines introspektiven Selbstaufklärungsprozesses auf Strukturprinzipien hin zu befragen, die für den Diskurs um eine Theorie konkreter Subjektivität fruchtbar zu machen sind. Es geht um nichts Geringeres als um eine prinzipielle Begründung der Möglichkeit, Notwendigkeit sowie Struktur geistiger und kulturell vermittelter Selbstdeutung, mithin auch religiöser Selbstdeutung (1.). Sodann wird die Wirkungsgeschichte von Spaldings Begriff der Bestimmung des Menschen zur Debatte stehen (2.). Stellt der Bestimmungsbegriff den formalen Rahmen für die introspektive Selbsterkundung bereit, so findet er im Glücksbegriff sein materiales Komplement, der in gegenwärtigen Bemühungen um eine evangelische Theologie des Glücks als anthropologische, ethische und soteriologische Integrationskategorie an Gewicht gewinnt. Dass die Komplexität von Spaldings 1 Nowak,
Vernünftiges Christentum, S. 95.
1. Selbstaufklärung – Selbstdeutung
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Glücksbegriff einen Leitfaden für eine protestantische Glückstheologie bereitstellt, soll anhand seines Perspektivenreichtums deutlich gemacht werden. (3.). Bereits der Bestimmungs‑ wie auch der Glücksbegriff verfügen über ein enormes Potential für das, was sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und bis heute als anthropologische Wende auch in der protestantischen Theologie vollzieht. Die Konjunktur eines Begriffs des Wertes und der Würde des Menschen in der akademischen wie kirchlichen evangelischen Theologie seit gut 25 Jahren indiziert einen radikalen anthropologischen Umformungsprozess, der sich hinsichtlich seiner theologie‑ und protestantismusgeschichtlichen Erkundung und Selbstvergewisserung bislang weitestgehend an der Aufklärungstheologie vorbei abspielte. Dass Spaldings Wert‑ und Würdebegriff als Referent einer aufgeklärt-protestantischen Konzeption von Menschenwürde von Relevanz ist, wird vor dem Hintergrund des aktuellen Menschenwürdediskurses zu zeigen sein (4.). Mit Spaldings Religionsbegriff kommt eine spezifische Form von Selbstdeutung und Selbst-Bestimmung in den Blick, der jenseits seiner Oberflächenstruktur und aufklärungsepochalen Signatur vermittels seines Perspektivenreichtums sowie seiner differenzierten Semantik einerseits die kategoriale Vielfalt religiöser Selbst‑ und Weltdeutung umfasst und andererseits als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit zu identifizieren ist. Damit kann die Hermeneutik der Bestimmungsschrift als der Differenz von natürlicher und geoffenbarter Religion verpflichtet konstruktiv unterlaufen und der Begründungsstatus von Religionstheorie für jedwede positive Religion ausgelotet werden (5.). Hatte die Rekonstruktion des erkenntnistheoretisch komplexen Empfindungsbegriffs zunächst seiner ebenso komplizierten Genese und begriffgeschichtlichen Diversität sowie seiner systematischen Verflechtung ins Gesamt der Bestimmungskonzeption Spaldings gegolten, so soll abschließend sein Erschließungspotential für die alte wie aktuelle Diskussion der im tiefsten Sinne religionspsychologischen Frage nach der Verhältnisbestimmung von Vor‑ bzw. Irrationalität und Rationalität religiöser Selbst‑ und Weltinterpretation erörtert werden (6.). Methodisch wird in diesem letzten Kapitel größtenteils auf bereits in der Interpretation der Bestimmungsschrift Ausgeführtes (vgl. v. a. V) zurückgegriffen, ohne dies im Einzelnen auszuweisen, und wenn notwendig weitere Theoriemomente zur Geltung gebracht. Insofern handelt es sich nicht um ein einfaches Resümee, sondern um Anschlussüberlegungen über bis heute unabgegoltene Grundprobleme evangelischer Theologie.
1. Selbstaufklärung – Selbstdeutung Ein allgemeinerer Reflexionshorizont für die Thematisierung von Moralität und Religion oder, um es mit einem Begriff Max Webers zu sagen, von Lebensführung mit all ihren Konkretionen als die Frage nach der Bestimmung des Menschen
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
lässt sich wohl nicht denken, jedenfalls dann, so müsste einschränkend gesagt werden, wenn es um die Plausibilisierung der in Frage stehenden Daseinsmodi humanen Lebens zu tun ist. Denn nicht schon die interne Systematizität und Kohärenz theoretischen wie auch praktischen Wissens um sich, seine Welt und deren Grund, sondern allererst die Notwendigkeit der Plausibilisierung dieses Wissens macht die anthropologische Perspektivierung notwendig. Wer über die Bedeutung von Daseinsformen und ‑deutungen menschlicher Lebensführungspraxis deskriptiv oder normativ unter den Bedingungen einer weltanschaulich und religiös diversifizierten, freiheitlichen und pluralistischen Moderne nachdenkt, muss zwangsläufig bei über Allgemeinverbindlichkeit verfügenden Grundfragen, konkret bei einer Wesensbestimmung des Menschen seinen Ausgangpunkt nehmen und diese argumentativ ausweisen. Und es muss noch ein Schritt weitergegangen werden: Denn auch die anthropologische Plausibilisierungsnotwendigkeit wird erst virulent, wenn einerseits unmittelbare Plausibilitäten strittig geworden sind und wenn andererseits ein Interesse des Menschen an sich selbst, und zwar in Form von Selbstreflexion, überhaupt noch besteht. Auch wenn diese Einsichten bereits in den Debatten um das Naturrecht und den Begriff einer natürlichen Religion seit Ende des 17. Jahrhunderts gewachsen sind, so kommt doch Spalding das Verdienst zu, erstmals programmatisch ein anthropologisches, moral‑ und religionstheoretisches Konzept in den Kontext der grundlegenden wie existentiellen Frage nach der Bestimmung des Menschen gestellt zu haben. Während ihre Renaissance in den letztgenannten Wissenschaftsbereichen im nächsten Abschnitt zur Debatte steht, soll hier in einem ersten Schritt die problem‑ und ideengeschichtliche Bedeutung der Struktur von Spaldings bestimmungstheoretischem Gesamtkonzept für eine moderne Theorie von Selbstdeutung und konkreter Subjektivität erwogen werden. Unter der Vielfalt der philosophischen und theologischen geisttheoretischen und subjektivitätstheoretischen Konzepte können wir im Rahmen unserer Studie nur eines exemplarisch auswählen. Ulrich Barths Subjektivitätstheorie verfügt aus zwei Gründen über eine systematische Erschließungskraft für die Relevanz von Spaldings Bestimmungskonzept: Zum einen unternimmt er seinerseits den Versuch, seine Theorie konkreter Subjektivität als Interpretationshintergrund und Lieferant von hermeneutischen Reflexionskategorien für seine Interpretation von Spaldings Bestimmungskonzept in Anspruch zu nehmen und diese mit aktuellen Theoriegestalten und deren Begrifflichkeit ins Gespräch zu bringen. Zum anderen eröffnet er damit Perspektiven für eine Hermeneutik der Differenz zwischen historisch Bedingtem und noch heute Geltung beanspruchenden Strukturprinzipien der Bestimmungskonzeption des Aufklärungstheologen. Dabei ist gegebenenfalls über Barths eigene Applikationen hinauszugehen.
1. Selbstaufklärung – Selbstdeutung
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In seinem Aufsatz „Mündige Religion – selbstdenkendes Christentum. Deismus und Neologie in wissenssoziologischer Perspektive“2 ist es dem Autor um die geistes‑ und theologiegeschichtliche Erkundung wichtiger Stationen von dem zu tun, was er als „wissenssoziologischen Transformationsprozeß neuzeitlicher Religions‑ und Christentumsgeschichte“3 bezeichnet. Insofern er an exemplarischen Vertretern von Deismus und Neologie und deren Konzepten natürlicher Religion das „Selbstverständnis neuzeitlicher Religionskultur“ wie auch „Faktoren …, die die Gestalt des religiösen Bewußtseins selber betreffen“, deutlich macht, geht es ihm um solche Aspekte, die das Aufklärungszeitalter „überdauert und sich der religionssoziologischen Struktur der Moderne als bleibendes Moment eingeschrieben“4 haben. In dem Abschnitt über Spaldings Diskursbeitrag bezieht er sich ausschließlich auf dessen Bestimmungsschrift. Schon seine (Re)formulierung der Grundthese Spaldings erhellt Barths Anliegen: „Religion entspringt der Frage des Menschen nach sich selbst und kann auch nur in Form der Anleitung zu einem solchen Selbstdeutungsprozeß vermittelt werden.“5 Mit dem Begriff der Selbstdeutung ist derjenige Begriff gefallen, der Barths Interpretation kategorial steuert. Hinzu treten Begriffe wie Lebensdeutung, Selbstfindung, Selbstbesinnung und Selbsterfahrung, die je für sich spezifische Aspekte von Selbstdeutung fokussieren. Mit dem Begriff der Selbstdeutung nimmt Barth eine zentrale Kategorie seiner eigenen Theorie von Selbstbewusstsein auf, die er in geisttheoretischer Hinsicht in seinem Aufsatz „Gehirn und Geist. Transzendentalphilosophie und Evolutionstheorie“6 und in religionstheoretischer Hinsicht in seinem Aufsatz „Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung“7 skizziert und strukturell auffächert. Eine Analyse dieser Texte, wenigstens bezüglich des in Frage stehenden Problems, wird deshalb notwendig einzubringen sein, weil allererst über sie deutlich werden kann, wie unmittelbar Barths Spalding-Interpretation am Leitfaden seiner Selbstdeutungstheorie orientiert ist. Der Begriff der Selbstdeutung verdankt sich der durch Heidegger geschulten Einsicht, dass selbstbewusste Subjektivität über das formale Ich-Bewusstsein, das allen mentalen Synthesisleistungen operational zugrunde liegt, und über Selbst-Reflexion im Sinne nachträglicher Bezugnahme auf solche Synthesisakte hinausgeht. Denn Selbstbezugnahme ist nie nur auf Vorstellungen resp. theoretische Einstellungen gerichtet, sondern im Alltagsbewusstsein ebenso auch auf existentielle und lebenspraktische Sachverhalte. Eine selbstbewusstseinstheoretische Synthese aus formalem Ich-Bewusstsein und Reflexion auf der einen und 2 Vgl.
Barth, Mündige Religion. S. 201. 4 Ebd., S. 224. 5 Ebd., S. 221. 6 Vgl. Barth, Gehirn und Geist. 7 Vgl. ders., Was ist Religion. 3 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
konkretem lebensweltlichem Verstehen seiner Selbst auf der anderen Seite bringt Barth auf den Begriff der Selbstdeutung. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass allererst aufgrund dieses Doppelcharakters von Selbstbewusstsein Spaldings Bestimmungskonzept in der Perspektive einer Theorie der Selbstdeutung in den Blick kommen kann, in dem es ja in erster Linie um selbsthermeneutische Fragen der Lebensgestaltung, der kognitiven, emotionalen und praktischen Daseinsbewältigung und Lebensführung geht, von der Moralität und Religion abkünftige Konkretionen sind. Von besonderem Interesse für unsere Rekonstruktion ist nun aber Barths Entfaltung der komplexen Gestalt „unterschiedlichster Teilfunktionen“8 von humaner Selbstdeutung. Die erste bringt Barth auf die Differenzformel von Erleben und Deuten bzw. die Unterscheidung von reflektiertem und reflektierendem Ich9, wobei die Beziehung relational verstanden wird: Die reflektierte Seite des Bewusstseins ist nur in Relation zur reflektierenden vor-bewusst. Vor allem diese Einschränkung des Unbewusstseinsstatus der reflektierten Seite hat, so unsere Annahme, Barth in die Lage versetzt, diese Differenz auf Spaldings Reflexionsstruktur zu applizieren: Die „konzeptionelle Raffinesse der Bestimmungsschrift“ zeige sich am deutlichsten an den Übergängen von einer Lebensformreflexion zur darauffolgenden, und diese gründe auf der „Ebenenunterscheidung zwischen standpunktverhaftetem und reflektierendem Ich“10. Auch wenn Barth dies nicht explizit an Spaldings Text durchdekliniert, ist uns damit gleichsam eine Metatheorie zur Beschreibung der Prozessstruktur der existentiellen Selbstbesinnung an die Hand gegeben. Der in jedem Abschnitt immer erst durch Reflexion bzw. Deutung gewonnene Standpunkt – Sinnlichkeit, geistige Lust, Tugend und Religion – wird als solcher als gültig anerkannt, zunächst als lebensbestimmend erfahren und damit in Relation zum Vorher und Nachher der Reflexion entzogen. Erst durch das Erleben einer internen Problematik der gewonnenen Lebensform wird das Subjekt wieder zur Reflexion angeregt, die das Subjekt zur je höheren Stufe führt. Dort wiederholt sich die Sequenz von Standpunktgewinnung und Reflexion bzw. Erleben und Deutung aufs Neue. Bereits in unserer Beschreibung der Iterationsstruktur von Erleben und Deuten klingt Barths zweite Teilfunktion von Selbstdeutung an, nämlich die Differenz von spontaner und habitualisierter Deutung. Auch wenn Barth dies nicht explizit tut, ließe sich auf Spalding angewandt die je zu sich gekommene Lebensform als habitualisierte Selbstdeutung beschreiben, die das Resultat spontaner Deutung ist und im Akt einer erneuten spontanen Selbstauslegung wieder in Frage gestellt wird, um sich dann wiederum zu sedimentieren und zu habitua 8 Ders.,
Gehirn und Geist, S. 456. ebd., S. 456 f. 10 Ders., Mündige Religion, S. 222. 9 Vgl.
1. Selbstaufklärung – Selbstdeutung
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lisieren. Barth bedient sich in seiner Beschreibung dieser Differenzstruktur des Bestimmungsbegriffes: „Jede einzelne Station des Gesamtkontinuums humaner Selbstauslegung steht darum in der unauflöslichen Spannung zwischen dem SichBinden an ursprünglich spontan erzeugte, danach jedoch habituell verinnerlichte Selbstbilder und dem Sich-Losreißen davon in neuen Aktionen spontaner Selbstbestimmung, deren Resultate sich dann wiederum als Bestimmtheitssedimente ablagern.“11 Der Bestimmungsbegriff fungiert hier also, so ließe sich sagen, als formalster Charakter von Deutung, der hier konkret in der Differenz von abgelagerter Bestimmtheit (habitualisiert) und aktivem (Weiter)bestimmen (spontan) zur Geltung gebracht wird, jedoch allen Teilfunktionen von Selbstdeutung eignet. Damit wird deutlich, dass die Anwendbarkeit von Barths Selbstdeutungskonzept auf Spaldings Bestimmungsschrift wenn nicht nur, so doch auch auf der terminologischen Äquivalenz eines zentralen Grundbegriffes gründet. Dies nimmt nicht besonders Wunder, weil jede Form von (Selbst)deutung immer auch die Form von Bestimmung bzw. Bestimmtheit aufweist. Aus dem Bestimmungs-/Bestimmtheitscharakter spontaner und habitualisierter Selbstdeutung entspringt für Barth die dritte „Ausdifferenzierungsmöglichkeit[en]“12. Bestimmung verfügt über die „logisch-semantische Differenz“ von prädikativer bzw. deskriptiver und normativer bzw. präskriptiver Bedeutung. Jedes Seiende und – so könnte man bereits eingrenzend anmerken – vornehmlich freiheitlich verfasste Subjekte können als etwas und zu etwas bestimmt werden. Insofern wir im Kontext der Analysen zum Bestimmungsbegriff bei Spalding (und Shaftesbury; vgl. v. a. II.2.2.2; 3.2; IV.1; V.3 f.) diese Differenzhinsicht am Bestimmungsbegriff und das semantische Feld faktischer und normativer Bestimmtheiten des Menschen am Bestimmungsbegriff selber wie auch am Naturbegriff fokussiert haben, wird deutlich, dass hier der unmittelbarste Anknüpfungspunkt für Barths Deutungstheorie gegeben ist: „Die Verständigung über das eigene Dasein [bei Spalding; G. R.] zerfällt in deskriptive und präskriptive Bestimmungen: Wer bin ich, was soll ich sein?“13 Dass bei Spalding mit der ethiktheoretischen Unterscheidung von Deskription und Präskription bzw. moralischer Faktizität resp. Normativität nicht nur das moralische Bewusstsein im engeren Sinne avisiert ist, erhellt daraus, dass auch Religion und das Unsterblichkeitsbewusstsein unter diese Differenz fallen. Es handelt sich mithin um eine Figur, die die Selbstdeutung als ganze betrifft. Das letzte zu erörternde Spannungsmoment humaner Selbstdeutung verdankt sich ebenfalls der semantisch-logischen Struktur des Bestimmungsbegriffs, nämlich des impliziten Allgemeinheitsmoments eines jeden Bestimmungs‑ bzw. Urteilsaktes.14 Die Anwendung von Allgemeinheitsmomenten auf die eigene Person 11 Ders.,
Gehirn und Geist, S. 457. S. 458. 13 Ders., Mündige Religion, S. 222. 14 Vgl. ders., Gehirn und Geist, S. 458. 12 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
verfährt in der Regel so, dass „interpersonal oder gesellschaftlich vorgegebene Deutungsmuster in den individuellen Selbstauslegungsvollzug“ einbezogen werden und zwar im Modus des davon zu unterscheidenden freien Aktes der „individuelle[r]n Selbstzuschreibung“15 Genau auf diesen zweiten Aspekt nimmt Barth in seinem anderen Spaldingaufsatz explizit Bezug: Bei der Frage, „wie sich Religion als Moment der eigenen Lebenssicht vermitteln läßt“, hängt alles „an der Möglichkeit der freien Aneignung und individuellen Selbstzuschreibung“16. Auch wenn es Barth an dieser Stelle darum geht, Spaldings Verfahren von der autoritativen Vermittlung religiöser Wahrheiten abzusetzen, betrifft die je individuelle Selbstzuschreibung im Selbstbestimmungsvollzug zunächst die Aneignung der sinnlichen, geistig-intellektuellen, ethischen und religiösen Lebens‑ und Selbstinterpretationsmodi, wobei hier noch keine traditionellen Deutungsmuster im strikten Sinne im Spiel sind. Jedoch eröffnet sich damit eine Interpretationshinsicht der Bestimmungsschrift, die die einfache Differenz von natürlicher Religion auf der einen und positiver (offenbarter) Religion auf der anderen Seite produktiv unterläuft. Denn wer sich seiner religiösen Bestimmung zunächst im freien Selbstbestimmungsverfahren bewusst wird, kann durchaus auf konkret-historische Bestimmungen positiver Religionen Bezug nehmen, sei es auf Heilige Texte, Stifterpersönlichkeiten, Lehren und Dogmen sowie andere Ausdrucksformen gelebter Religion. Dies kann die religiöse Selbstdeutung kulturell spezifizieren, an Religionsgemeinschaften anschlussfähig machen und damit stabilisieren. Jedoch gilt auch hier: Die Geltung solcher Deutungsmuster kann nicht autoritativ, sondern nur im Modus freier und individueller Aneignung vermittelt werden. Dass aus diesem Strukturmoment von Lebensdeutung nichts weniger als eine normative Grundstruktur und funktionale Restriktion religiöser Interaktion und Bildung resp. praktischer Theologie und schließlich auch für religiöse Vergemeinschaftung (inkl. Kirche) abgeleitet werden kann, dürfte evident sein. Spalding selber hat in seiner Predigtlehre die pastoraltheologischen und homiletischen Konsequenzen gezogen17 und damit die komplexe Vermittelbarkeit zwischen subjektiver Selbstbestimmungsarbeit und einem aufgeklärten Christentum ausgelotet und praktisch-theologisch ausgearbeitet.18 Damit können wir den Durchgang durch eine an Barths Selbstdeutungstheorie geschulten Rekonstruktion von Spaldings Bestimmungskonzeption beenden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die letzten und impliziten Strukturprinzipien 15 Ebd.
16 Ders.,
Theologia naturalis, S. 169. Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes. 18 Es wäre hier noch anzumerken, dass der Aspekt der individuellen Aneignung vorfindlicher Deuteschemata nicht nur den Reflexionsprozess der Bestimmungsschrift, sondern auch deren Rezeptionsprozess betrifft. Denn im Modus einer Einladung und exemplarischen Anleitung zur individuellen Selbstdeutung kommt die Bestimmungsschrift ihrerseits als komplexes Deuteschema zu stehen, das erst durch freie Aneignung Geltung am Orte des Lesers erlangen kann. 17 Vgl.
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der Selbstbestimmung des Menschen bei Spalding ungeachtet der materialen Durchführung den Standards einer modernen Theorie von Subjektivität und subjektivem Geist bzw. Selbstbewusstsein und Selbstdeutung entspricht. Es handelt sich mit diesem kleinen Text also nicht nur um eine Anweisung zu Moralität und Religion unter aufklärungsspezifischen Bedingungen, sondern um ein frühes Dokument einer Entwicklung, die man als subjektivitätstheoretischen Transformations‑ oder Umformungsprozess19 innerhalb protestantischer Theologie bezeichnet hat und der nichts anderes zu bewerkstelligen versuchte und bis heute versucht als der Hinwendung zum Subjekt als letztem Referenzpunkt in wohl fast allen kulturellen Lebens‑ und Deutungswelten neuzeitlich-moderner Gesellschaften kritisch, aber auch konstruktiv gerecht zu werden. Abschließend zu fragen, worin der Geltungsgrund einer dergestaltigen subjektivitätstheoretischen Begründung von Religion und Christentum besteht, würde wohl zu weit führen. Denn: „Für die einen ist das Subjektivitätsparadigma das Schibboleth einer modernen, philosophisch auf der Höhe der Zeit sich befindenden Theologie […,] [f]ür andere ist die Konzentration auf Subjektivität eine Sackgasse der Theologie der Neuzeit“20. Nur so viel sei angedeutet: Spaldings Strukturtheorie aufgeklärt-aufklärender Selbstdeutung in der Perspektive von Ulrich Barths Theorie von konkreter Subjektivität gelesen verfügt über eine enorme Erschließungskraft und auch Anschlussfähigkeit an solche Paradigmen, die sich gerne auch subjektivitätstheoriekritisch gerieren: die Existenzphilosophie / -theologie, die funktionalen Modelle der Symbol‑ und Zeichentheorie (Semiotik), die Strukturorientierung der Systemtheorie, die Perspektive auf das leibliche Selbst der Phänomenologie und die verstehende Methode der Text‑ und Kulturhermeneutik21. Dies sei hier nur angedeutet: 1. Der Spaldingsche Blick auf sein Ich und Barths Begriffs der Deutung bewegen sich weit jenseits einer Reduktion auf ein formales Ich. Die biographisch-existentielle Betroffenheit und lebensgeschichtliche Gesättigtheit von Spaldings Bestimmungskonzeption, die ja nicht konstitutionstheoretische Letztbegründungsfragen umtreibt, sondern sich gleichsam im Prozess und Vollzug existentieller Selbstanalyse zusieht, sowie die Erlebensdimension stellen keineswegs einen Widerspruch zu existenzphilosophischen bzw. ‑hermeneutischen Zugängen zum (religiösen) Menschen dar, sondern integrieren sie und lassen sich nahtlos an sie anschließen22.
19 Der Begriff der Umformung resp. Umformungskrise stammt von Emanuel Hirsch, den in der jüngeren Theologiegeschichte v. a. Falk Wagner wieder aufgenommen hat. 20 Dalferth / Stoellger, Krisen der Subjektivität, S. IX f. 21 Vgl. bspw. ebd., S. XI–XVII. 22 Dies hat Ulrich Barth – wir haben bereits darauf hingewiesen – im Blick auf Heidegger ausdrücklich beansprucht (vgl. Barth, Gehirn und Geist, S. 455 f. und ausführlich: ders., Cartesianische oder hermeneutische Subjektivität).
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
2. Mit der Erlebensdimension ist zudem die Fülle menschlicher Selbsthaftigkeit – eben auch seine Leibhaftigkeit – eingeholt und zur Geltung gebracht und damit eine Reduktion auf die Geistigkeit oder kognitive Reflexionsinstanz des Ich unterlaufen. Dass Spalding gerade die Dimension der Sinnlichkeit, der leiblichen Lust und überhaupt die Befriedigungsstruktur menschlichen Daseins nicht aus den Augen verliert, wurde in unterschiedlichsten Zusammenhängen vorgeführt. 3. Von einer Abkehr von der konkreten Lebenswelt von Religion resp. Christentum sowie von der Vielfalt theologischer und frömmigkeitsgeschichtlicher Tradition kann nicht gesprochen werden, da mit der Differenzfigur von Deuteschema und individueller Aneignung die Fülle historisch vorfindlicher Phänomene (Heilige Schriften, Lehrbestände etc.) in Bezug zum religiös autonomen Subjekt gesetzt werden. Dies betrifft letztlich auch die symbol‑ und zeichentheoretische Perspektive: Symbol‑ und Zeichensysteme sind als Texte und Kulturen deutungsbetroffene Entitäten, institutionell oder kollektiv vermittelt und als solche in kritisch-konstruktiver und je individueller Aneignung in die eigene Selbst‑ und Weltdeutung zu integrieren. Ihre semantisch-funktionale Struktur bleibt durch den Bezug zum Subjekt des Zeichen‑ und Symbolgebrauchs nicht nur völlig unberührt, sondern kommt gleichsam zu sich selbst. 4. Schließlich ist mit der Iterationsstruktur von Erleben und Deuten, mit der Habitualisierungs‑ wie auch mit der optionalen Rezeption von Deuteschemata eine mögliche Überlastung des Subjektes durch Dauerreflexion (Schelsky) strukturell abgefedert. Spaldings wie auch Barths Selbstdeutungskonzepte bieten nicht nur einen Anknüpfungspunkt für intellektuelle Bildungsreligion, sondern für jedweden Modus von Frömmigkeit. Jedoch erspart sie auch nicht die eigene Freiheit und Mündigkeit in Angelegenheiten selbstverantworteter Lebensführungspraxis. Sie bleibt Gabe und Aufgabe.
2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie Nachdem die Quellen und die Struktur von Spaldings Reflexionskategorie der Bestimmung des Menschen rekonstruiert worden sind (vgl. v. a. II.2.2.2; 3.2; IV.1; V.3 f.), stellt sich hier die Frage nach ihrer theologiegeschichtlichen und aktuellen Bedeutung für die protestantische Theologie. Während im Rahmen dieses Resümees in allen Erörterungskontexten die systematische Valenz des Bestimmungsbegriffs ausgelotet wird, soll es hier im Besonderen darum gehen, die Wirkungs‑ und Rezeptionsgeschichte des Bestimmungsbegriffes von der Neologie bis zu aktuellen anthropologischen und ethischen Konzepten zu rekapitulieren und abschließend Überlegungen über die Bedeutung der Frage nach der Bestimmung des Menschen für die theologische Systematik christlicher Selbstdeutung anzustellen.
2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie
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Wäre der Terminus und die Sache der Bestimmung des Menschen eine Spezialität Spaldings geblieben, hätte der Begriff sicherlich keinen Einzug in den Olymp des aufklärungshistorischen Ideenhimmels gefunden, den Norbert Hinske für die deutsche Aufklärung entworfen hat. Wie bereits skizziert (vgl. Prolegomena 2.2; II.2.2.2), rechnet der Aufklärungshistoriker die Formel ‚Bestimmung des Menschen‘ zu den Basisideen der deutschen Aufklärung: „Es gibt kaum einen Autor der deutschen Spätaufklärung, bei dem das Stichwort nicht in dieser oder jener Form anklingt.“23 Damit erfährt diese Ideen-Formel eine aufklärungshermeneutische Adelung, die die Aufmerksamkeit der Aufklärungsforschung zu Recht für die anthropologische Fragestellung dieser Geistesepoche nachhaltig sensibilisiert hat.24 Dass die Bestimmungsformel in der Tat die Geister seiner Zeit überzeugte, zeigt zum einen Spaldings publizistischer Erfolg, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seines Gleichen sucht. Spaldings Schriftchen wurde mit seinen vom Autor selbst autorisierten elf Auflagen und seinen zahlreichen Raubdrucken und Übersetzungen25 ein wirklicher „Bestseller“26 der Epoche und gewiss im eminenteren Sinne ein theologischer Klassiker als seine Predigtlehre27. Spaldings Schrift wurde viel und lange gelesen, und damit sedimentierte sich der Begriff der Bestimmung des Menschen im geistig-kulturellen Bewusstsein der Zeit. Diesen Rezeptionsvorgang indiziert auch die wie selbstverständliche Übernahme der Kategorie sowie ihre kritisch-konstruktive Rezeption in dem „breiten Diskussions‑ und Benutzungsbereich des Ausdrucks“28 nach 1750. Die Formel verfügte über eine weite Vernetzbarkeit, Offenheit und Adaptionsfähigkeit, so dass sie sowohl in unterschiedlichste theologische und philosophische Denkmodelle als auch andere anthropologische Debattenzusammenhänge Eingang finden konnte. Fotis Jannidis’ kultursemiotische Analyse des weitverzweigten Gebrauchs dieser sprachlichen Figur und seine statistischen Ergebnisse bestätigen dies für die 2. Hälfte des Aufklärungsjahrhunderts in qualitativer und quantitativer Hinsicht.29 Auch die neologischen Kollegen haben gerne und zahlreich auf das Diktum Spaldings zurückgegriffen. Dies kann an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem 23 Hinske,
Grundideen der deutschen Aufklärung, S. 435. bspw. Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung, S. 39–119 [Der Mensch und seine Bestimmung]. – Im Forschungsbericht wurde darauf verwiesen, wie sehr Hinskes Anstoß diesbezügliche Forschungsbemühungen auslöste und befruchtet hat (vgl. Prolegomena 2.2). 25 Vgl. Spalding, BdM, S. XXV f. [Einleitung von Albrecht Beutel]. 26 Vgl. ebd., S. V [Vorwort von Albrecht Beutel]. 27 Christoph Bultmanns Bemühen, Spaldings Schrift „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ (Erstauflage 1772, vgl. Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes) als theologischen Klassiker zu würdigen, müsste wohl eher der Bestimmungsschrift gegolten haben (vgl. Bultmann, Was ist ein theologischer Klassiker). 28 D’Alessandro, Wiederkehr eines Leitworts, S. 22. 29 Vgl. Jannidis, Bestimmung des Menschen, v. a. S. 14 ff. 24 Vgl.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
beispielhaft gezeigt werden, der in seinen „Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion“ in unterschiedlichsten Kontexten auf die Bestimmungsformel Bezug nimmt30. In seinen Ausführungen zur Existenz Gottes erblickt der Abt von Riddagshausen in der Annahme eines höchsten Wesens die „ganze Bestimmung“31 des Menschen. Im Kontext seiner Vorsehungslehre kommt Gott als derjenige zu stehen, der einem jedem einzelnen Menschen seine Bestimmung zuweist32. Jerusalem spricht von der „moralischen Bestimmung“33 und „höhere[n] Bestimmung des Menschen“34, und im Zusammenhang seiner christologischen Überlegungen kann er den Bestimmungsbegriff sogar für die Wesensbestimmung der Person Jesu beanspruchen35 und damit in einen zentralen theologischen Themenbereich transponieren. Auch wenn er die Frage nach der Wahrheit der Religion zu seinem Ausgangpunkt nimmt, durchziehen beinahe alle seine Kapitel bestimmungsterminologische Formulierungen, die das ganze semantische Feld abdecken (Natur, Anlage, Endzweck, Ziel usw.). Auch ohne eine genaue Analyse kann festgehalten werden, dass der Begriff der Bestimmung des Menschen bei Jerusalem als integratives Strukturmoment anthropologischer, theologischer, christentums‑ und religionstheoretischer Argumentation fungiert. Neben Spalding und Jerusalem (und anderen: Reimarus, Johann August Nösselt, Jacob C. R. Eckermann36) war es v. a. Johann Gottfried Herder, der seinen Humanitätsgedanken in einen bestimmungslogischen Rahmen stellte37 und damit seinerseits den Bestimmungsbegriff prägte. Mit Herder hat der Bestimmungsbegriff begonnen, in die seit 1780 sich entwickelnde Geschichtsphilosophie Einzug zu halten38, wo er auch bei Kant eine Rolle spielt.39 Die Perspektive auf die Bestimmung des Subjekts wird ergänzt durch die auf die Bestimmung der Menschheit als Gattung in ihrer Geschichte. Im Blick auf Kant hat jüngst Reinhard Brandt mit seiner Studie „Die Bestimmung des Menschen bei Kant“ sowohl Spalding als auch die systematische und gedankliche Erschließungskraft des Bestimmungsbegriffs ins Bewusstsein der Kantforschung gehoben. Ausgehend vom Primat der praktischen Vernunft vertritt er die These, dass der Bestimmungsbegriff bei Kant nicht etwa nur einen begrenzten Ort innerhalb seiner anthropologischen und geschichtsphilosophischen Systemteile hat, sondern so etwas wie eine „Leitidee“ 30 Vgl.
Jerusalem, Betrachtungen [Müller], bspw. S. 38; 60 f.; 119; 125; 132; 250; 258 ff. S. 38. 32 Ebd., S. 60 f. 33 Ebd., S. 119; 132. 34 Ebd., S. 125; 250. 35 Vgl. ebd., S. 258 ff. 36 Vgl. zu diesen und einigen anderen Referenten: D’Alessandro, Die Wiederkehr eines Leitworts. 37 Vgl. dazu Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen; Ders., Anthropologie, S. 40–76. 38 Vgl. D’Alessandro, Die Wiederkehr eines Leitworts, S. 34–47. 39 Vgl. v. a. Kants Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 (vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte). 31 Ebd.,
2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie
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und ein „Gravitationszentrum“40 darstellt, wodurch das Gesamt philosophischer Reflexion funktional-teleologisch in die humane Selbstbestimmung integriert wird, wie er seine Überlegungen abschließend zusammenfasst: „Der Mensch erkennt, fühlt und handelt und ist dazu bestimmt, seine Tätigkeiten unter der höchsten Bestimmung, der Verwirklichung zur Moral, zu vereinigen.“41 Spaldings letzte Auflagen seiner Bestimmungsschrift fallen bereits mitten in die Phase von Kants kritischer Philosophie und amalgamieren zum Teil kantsches Denken, und die letzte Auflage von 1794 erscheint im selben Jahr, in dem Johann Gottlieb Fichte seine „Bestimmung des Gelehrten“42 herausbringt, der er 1800 seine „Bestimmung des Menschen“ folgen lässt und damit gleichsam „den letzten Höhepunkt der Bestimmungsliteratur“43 markiert. Ihm ist es wie Kant, aber mit programmatischerer Emphase und unter den theoretischen Bedingungen seiner Wissenschaftslehre darum zu tun, dass die praktische Vernunft den archimedische Punkt aller Vernunft und Wissenschaften darstellt und mit ihr die Frage nach der Bestimmung des Menschen, die er wie Spalding einem monologisierenden Ich stellt und in populärphilosophischer Manier beantwortet. Nach 1800 ebbt das Interesse an der Bestimmung des Menschen als einem Leitbegriff aller Philosophie und Wissenschaft ab44. Ein Indiz und eine Begründung für diesen atmosphärischen Jahrhundertwechsel geben vielleicht Friedrich Schleiermachers „Monologen“ (ebenfalls 1800 erschienen), die wie Spaldings und Fichtes Bestimmungsschrift als Selbstgespräch verfasst sind und hier und da auf den Bestimmungsbegriff zurückgreifen. Der Frühromantiker entwickelt eine Ethik der Individualität und geht damit über das subjektivitätstheoretische Interesse der Aufklärung an der eher allgemeinen strukturell-isomorphen Form von Subjekt‑ und Personsein hinaus. Während die allgemeine Struktur von Subjektivität der Bestimmungsfrage höchst affin ist, stellt sich – so könnte man sagen – der Individualitätsgedanke zu einer allgemeinen Bestimmung bzw. Bestimmbarkeit quer. Die mögliche Formulierung, dass die Romantik resp. Schleiermacher so etwas wie einen subjektivitätstheoretischen Wechsel von der Bestimmung des Menschen zur Moralität bzw. allgemeinen Subjektivität zur Bestimmung des Menschen zur Individualität vollzogen habe, würde nur verdecken, dass letztere Formel auf einer kategorial anderen Ebene steht.
40 Brandt,
Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 10; 12. S. 534. – Brandts Studie sichtet eine erstaunliche Fülle von Autoren und Texten, die sich zwischen 1750 und 1800 des finalen Bestimmungsbegriffes bedient haben (vgl. Brandt, Bestimmung des Menschen bei Kant, S. 77–102). 42 Illustrativ für das Phänomen eines gewissen Bestimmungsenthusiasmus im Gefolge dieses Textes sind Brandts Ausführungen zur einschlägigen Begeisterung der „Litterärischen Gesellschaft der freien Männer in Jena“ zwischen 1794–1796 (vgl. Brandt, Kants Bestimmung des Menschen, S. 98). 43 Ebd., S. 61. 44 Vgl. Jannidis, Bestimmung des Menschen, S. 14 ff. 41 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Im 19. Jahrhundert, in dem durchaus in der fortgeschrittenen Spätaufklärung und im Deutschen Idealismus dem Bestimmungsbegriff verwandte Fragestellungen perpetuiert und verwandelt werden, treten jedoch zunehmend andere Diskurse in den Vordergrund. Mit dem Begriff der Individualität ist bereits die seit der Romantik beginnende und das ganze Jahrhundert bestimmende geschichts‑ und texthermeneutische Perspektive angesprochen. Die historische Aufklärung beginnt die humane Selbstaufklärung zu überflügeln; hinzu kommt der naturwissenschaftliche Empirismus, der Lebens-, Wert‑ und Kulturbegriff45. In der evangelischen Theologiegeschichte bricht sich in der Erweckungsbewegung ein antirationalistisch-antiaufklärerischer Affekt Bahn, und die Konfessionalisierung des Luthertums verdrängt die mit dem Konzept natürlicher Religion und dem Ringen um das Wesen des Christentums einhergegangene Entkonfessionalisierungs‑ und Entdogmatisierungstendenz der Aufklärungstheologie. – Mit der Fokussierung auf historische Phänomene, auf die Irrationalität des Lebens, die Objektivitäten von Wert‑ und Kultursphären, die Offenbarungspositivität der Bibel wie die dogmatische Bekenntnisgestalt des Christentums rückt unweigerlich auch die subjektivitätstheoretische Orientierung an der übergeschichtlichen, vernünftigen, natürlichen und damit überkonfessionellen Bestimmung des Menschen ins Abseits. Auch wenn sich die Formel noch hier und da seitdem in Buchtiteln sowie kontextuell-semantisch eingewebt – v. a. im Kontext der Lehre von der Gottebenbildlichkeit – fand46, hat sie ihren Status als farbgebende Basisidee seitdem und bis weit ins 20. Jahrhunderts weitestgehend verloren. Insbesondere ist es bemerkenswert, dass der Terminus ‚Bestimmung des Menschen‘ in der philosophischen Anthropologie Portmanns, Gehlens, Plessners und Schelers keine gesonderte Rolle spielt. Dies liegt – so sei nur vermutet – an der biologisch-naturwissenschaftlichen und konstitutionstheoretischen Ausrichtung dieser Anthropologietradition. Jedoch hat sich gleichsam das theologische Begriffsgedächtnis in den letzten 50 Jahren seiner wieder erinnert und als deutungstheoretische, theologisch-anthropologische und ethische Reflexionskategorie wiederentdeckt. Dies betrifft vornehmlich die Anthropologie Wolfhart Pannenbergs und die jüngst erschienene Ethik Wilfried Härles, wobei hier auch nicht annähernd die Vielfalt ihrer Bestimmungen des anthropologischen Bestimmungsbegriffs rekonstruiert werden kann. Erschien Pannenbergs großer theologisch-anthropologischer Entwurf 1983, so gingen ihm kleinere Veröffentlichungen voraus, die den Begriff der Bestimmung des Menschen im Titel oder in Kapitelüberschriften führten und seine anthropologische Valenz systematisch und theologiegeschichtlich ausloteten. 45 Vgl.
zur Debattenvielfalt nach 1830: Schnädelbach, Philosophie in Deutschland. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen, S. 13–22. Trotz der wichtigen Hinweise, die Pannenberg gibt, steht eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte des anthropologischen Bestimmungsbegriffes im 19. und 20. Jahrhundert noch aus. 46 Vgl.
2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie
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1962 erschienen elf Vorlesungen unter dem Titel „Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“47, in denen der Autor sich „die Aufgabe einer theologischen Verarbeitung der verschiedenenartigen anthropologischen Forschungen der Gegenwart hinsichtlich ihrer Methoden und Resultate“48 vornimmt. Nicht nur das 5. Kapitel, wo er die Formel explizit aufnimmt („Die Ichhaftigkeit und die Bestimmung des Menschen“49), sondern alle Kapitel stehen unter dem Leitbegriff der Bestimmung des Menschen. Er durchzieht wie ein roter Faden das Büchlein. Pannenberg bezieht sich mit seiner Methode der konstruktiven Korrektur zum einen auf die Tradition der Philosophischen Anthropologie Max Schelers, Arnold Gehlens und Helmuth Plessners und deren Theoreme der Weltoffenheit, der Daseinsbewältigung, Sicherung und Ich-Zentralität, um nur einige zu nennen, zum anderen auf eine ganze Fülle philosophischer, soziologischer, psychologischer und überhaupt humanwissenschaftlicher Studien50, deren Ergebnisse er aufnimmt und unter der Perspektive seines Begriffes der unendlichen Bestimmung des Menschen zu einer dezidiert christlich-theologischen Anthropologie weiterdenkt. Vergleichbarkeiten mit Spaldings Bestimmungskonzeption ergeben sich über die ethischen und religiösen (v. a. Ewigkeitsdimension) Bestimmungsaspekte. Mit der Einbeziehung des gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Bezugsrahmens menschlichen Daseins sowie mit seiner christologisch fundierten geschichtstheologischen Konzeption51 gibt er dem Begriff der Bestimmung ein ganz eigenes Gepräge. Hatte Pannenberg in „Was ist der Mensch?“ bereits auf Johann Gottfried Herders Humanitätskonzept Bezug genommen52, verifiziert er seinen Begriff der Bestimmung des Menschen im theologiegeschichtlichen Rekurs auf diesen „Ahnherrn der modernen Anthropologie“53 und seinen Begriff der „Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen“54. Das Verdienst dieser kleinen Studie besteht darin, die Umformungsbemühungen Herders (und auch anderer Aufklärungsdenker) um den Gedanken der Gottebenbildlichkeit und dessen darauf gegründete systematische Verknüpfung mit dem Begriff der Bestimmung des Menschen aufgearbeitet zu haben. „Erst bei Herder, so scheint es, kommt es zur Verschmelzung der beiden Gedankenlinien. Dabei ändert sich sowohl der Begriff der Gottebenbildlichkeit wie auch der der Bestimmung des Menschen. Letzterer wird nicht mehr in erster Linie auf die Unsterblichkeit als eine jenseiti47 Vgl.
Pannenberg, Was ist der Mensch. S. 3 [Vorwort]. 49 Ebd., S. 40–49. 50 Vgl. ebd., S. 104–114 [Anmerkungen]. 51 Vgl. ebd., S. 95–103 [Der Mensch als Geschichte]. – In diesem Teil rekurriert Pannenberg auf sein ein Jahr zuvor erschienenes Buch „Offenbarung als Geschichte“ (vgl. ebd., S. 114 [Anmerkungen]). 52 Vgl. ebd., S. 12. 53 Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen, S. 3. 54 Vgl. ebd. 48 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
ge Vollendung bezogen, sondern auf die Bildung zur Humanität, die nach Herder in der Religion gipfelt.“55 Spielte die Gottebenbildlichkeit bei Spalding nicht explizit, sondern nur indirekt eine Rolle, macht Pannenbergs Rekonstruktion dieses wichtigen Kapitels im Prozess der anthropologischen Wende darauf aufmerksam, dass der aufgeklärte anthropologische Bestimmungsbegriff nur im Modus einer kritischen Transformation christlicher Anthropologumena eine hinreichende dogmatische Verankerung erfahren konnte. Gesehen zu haben, dass sich dafür der universalistische schöpfungstheologische Begriff der Gottebenbildlichkeit in gewandelter Gestalt geradezu anbot, sei das Verdienst Herders gewesen. In seiner großangelegten „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983 rekurriert Pannenberg im 2. Kapitel: „Weltoffenheit und Gottebenbildlichkeit“56 ausführlich auf seine Studien zu Herder und arbeitet auch den Begriff der Bestimmung des Menschen hier und in anderen Sachkontexten in sein anthropologisches Konzept ein, wenngleich er bereits im Vorwort bemerkt, dass er im Gegensatz zu seinem frühen Entwurf („Was ist der Mensch?“) nun den Identitätsbegriff zum Leitgesichtspunkt erhebt57. Neuerdings hat Wilfried Härle in seiner „Ethik“ der Formel „Bestimmung des Menschen“ eine „maßgebliche Rolle“58 und in ethiktheoretischer Hinsicht und in explizitem Rückbezug auf Spalding die Funktion einer „Leitperspektive“59 zugewiesen, in der Pflichten-, Güter-, Verantwortungs‑ und Tugendethik als Einheit gefasst werden können. „Eine an der Bestimmung des Menschen orientierte Leitbildethik knüpft damit an den Gedanken an, dass Ethik vom Grundgedanken des höchsten Gutes (summum bonum) aus zu entwerfen und zu entfalten ist. Die Ethik wandelt damit auch ihren gebietenden in einen einladenden Ton und Stil.“60 Aus der Fülle der Bezugspunkte zum Bestimmungsbegriff sei herausgehoben, dass Härle wie Pannenberg eine systematische Verknüpfung von Bestimmung und Gottebenbildlichkeit herstellt und auch die Würde des Menschen mit seiner Bestimmung verknüpft61. Grundsätzlich sei der Mensch ein relationales Wesen – ein Grundgedanke Härles – und damit zur Gemeinschaft mit anderen Menschen und mit Gott bestimmt. Damit können wir unsere Skizze einer (Rezeptions)geschichte des Begriffs der Bestimmung des Menschen von Spalding bis ins frühe 21. Jahrhundert abschließen und grundsätzlich feststellen, dass er sich ohngeachtet seiner aufklärungsepochalen Entdeckungsbedingungen und frühen Konzeptualisierungen als 55 Ebd.,
S. 19. ders., Anthropologie, S. 40–76. 57 Vgl. ebd., S. 8. 58 Härle, Ethik, S. 142 f. [Anm. 17]. 59 Ebd., S. 205. 60 Ebd., S. 206. 61 Vgl. ebd., S. 149–151; 249–259. 56 Vgl.
2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie
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höchst anschlussfähig und variabel für unterschiedlichste Theoriemodelle erwiesen und so manchen Paradigmenwechsel überstanden hat. Seine theoretische Applikativität und Strapazierfähigkeit dürfte in seiner strukturellen Offenheit zu suchen sein, die es abschließend zu bedenken gilt. Dabei richtet sich der Fokus auf die Theologie resp. die Systematische Theologie. 1. Bestimmen stellt einen mentalen Grundakt dar, der von der einfachen begrifflichen Bestimmung bis zur komplexen Deutung das gesamte Feld kognitiver sinn‑ und bedeutungsstiftender Bezugnahmen auf Entitäten umgreift. Als Selbst-Bestimmung, Welt-Bestimmung und Bestimmungen im Begriff eines Unbedingten bzw. im Gottesbegriff umfasst er das Gesamt von Wirklichkeit. Jedwede kategoriale Aussage in qualitativer, quantitativer, relationaler und modaler Hinsicht basiert auf Bestimmungen. In der Dualität von Ist‑ und Sollbestimmungen bzw. deskriptiven und präskriptiven Aussagen eröffnet dieser Grundakt modalkategorial die Perspektive auf alles Seiende in der aktualen Wirklichkeit wie auch in der potentiellen Möglichkeit. Bestimmen ist das Gemeinsame aller kultureller Sphären, sowohl der theoretischen (Wissenschaft und Kunst), der praktischen (Individualethik, Recht und Gesellschaft) wie auch der religiösen. 2. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen stellt sowohl in Hinsicht auf die je subjektive Selbstdeutung als auch in Hinsicht auf jedweden theoretischen Erörterungskontext einen Ausgangspunkt dar, der beim existentiellen Interesse des Menschen an sich selbst anknüpft. Zugleich können alle konkreten Bestimmtheiten des Menschen als Modi dieses existentiellen Selbstinteresses des Menschen ausgewiesen werden und gewinnen damit ein Höchstmaß an Plausibilität: Was sich als Funktion der Frage nach der Bestimmung des Menschen explizieren lässt, drängt sich als theoretische bzw. lebenspraktische Angelegenheit gleichsam auf. 3. Der Begriff der Bestimmung des Menschen ist eine genuin neuzeitliche Reflexionskategorie. Sie indiziert durch die Notwendigkeit ihrer Thematisierung einerseits eine Krise humanen Selbstverständnisses und anthropologischer Reflexion in der Philosophie wie auch Theologie und eröffnet durch ihren Spontaneitäts‑ und Selbstzuschreibungscharakter einen Horizont der Freiheit; andererseits bewahrt sie durch ihre Form habitualisierter Bestimmung und Bestimmung durch Deuteschemata vor einer potentiellen Überstrapazierung humaner Selbstbesinnungsarbeit (vgl. oben VI.1). Sie eröffnet somit einen Horizont neuzeitlicher Selbstdeutungskultur, in der Freiheit und zugleich Stabilisierung dieser Freiheit in einer Spannungseinheit zusammengehalten werden. 4. Die Frage nach der Bestimmung des Menschen betrifft wissenschaftssystematisch resp. systematisch-theologisch zunächst die Anthropologie, ist jedoch auf alle Bereiche der Theologie und religiösen Selbstdeutung beziehbar. 4.1 Für die Schöpfungslehre und Anthropologie erschließt die Frage nach der Bestimmung des Menschen einerseits die unmittelbare Gegebenheits‑ und Vor-
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
findlichkeitsstruktur von Menschsein, indem sie die leiblichen und geistigen endlichen Bestimmtheiten des Menschen thematisiert. Andererseits rückt mit der präskriptiven Figur von Bestimmung auch die normativ-teleologische Struktur humanen Daseins in den Fokus. Beides wird in der Semantik von Anlage und Bestimmung zusammengefasst. Neben die Ist-Bestimmungen der Konstitutionsbedingungen menschlicher Existenz treten Soll-Bestimmungen, die insofern mit den Ist-Bestimmungen korrelieren als in ihnen ein Entwicklungspotential ausgesagt ist. Dies betrifft sowohl die geistige wie auch die praktisch-ethische Dimension, die Selbst‑ und Weltdeutung wie auch die Lebensführung als ganze. Die lange Tradition der Verknüpfung des anthropologisch-teleologischen Bestimmungsbegriffes mit dem symbolischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit macht deutlich, dass diese allgemeine Struktur humaner Selbstdeutung an die theologisch-christliche Anthropologie anschlussfähig ist. Im Gottebenbildlichkeitsgedanken verdichtet sich die anthropologisch-schöpfungstheologische Doppelperspektive auf das Schon-Sein und Noch-Werden-Müssen des Menschen, das formal unter der Verwendung der Bestimmungssemantik am adäquatesten ausgesagt werden kann. 4.2 Damit verfügt der Bestimmungsbegriff über eine religionstheoretische Tiefendimension. Jedwede Form der Bestimmung von Selbst und Welt kann in Hinsicht auf deren unbedingten Grund und Sinngehalt hin weiterbestimmt werden. Denn die Frage nach der Bestimmung des Menschen evoziert die Frage nach dem Woher und dem Grund bzw. nach einer Instanz dieser Bestimmung, derer wir uns bewusst werden können, der wir uns aber auch als nicht selbst verdankt bewusst werden. Ist-Bestimmungen des Menschseins wie auch die Totalität der Welt werden religiös-symbolisch bzw. schöpfungstheologisch als von Gott verfügt gedeutet, Soll-Bestimmungen als Forderungen bzw. Wille Gottes für das menschliche Leben. 4.3 Von der normativen Struktur der Soll-Bestimmungen ist der gesamte Bereich theologischer Ethik betroffen. Die Kontrafaktizität der teleologischen Bestimmungen evoziert die Notwendigkeit einer Reflexion auf diejenige Normen, Werte, Pflichten und Lebensführungspraxen, die die Übereinstimmung des Lebens mit der Bestimmung des Menschen ermöglichen. Während Spaldings Ethik in der Bestimmungsschrift am Konzept der moralischen Empfindung orientiert ist, ist der Bestimmungsbegriff offen auch für andere Ethikmodelle. 4.4 Das potentielle und je aktuale Scheitern an den religiös begründeten und sich selbst zugeschriebenen Soll-Bestimmungen thematisiert die Harmatiologie. Spaldings Darstellungsform in seiner Bestimmungsschrift hat jedoch gezeigt, dass das Negativitätsbewusstsein des Menschen bereits am Scheitern an der Frage nach der Soll-Bestimmung selbst bewusst werden kann. Neben dem Sündenbewusstsein im engeren Sinne stellt bei Spalding auch der Gedanke einer unendlichen Perfektibilität eine gemäßigte Form des Bewusstseins eines strukturellen Zurückbleibens hinter Soll-Bestimmungen dar. Damit
2. Bestimmung des Menschen – zur Karriere einer Reflexionskategorie
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eröffnet sich die Perspektive auf das Lebensganze, auf den Gedanken der Unabschließbarkeit dieses Prozesses in diesem Lebensganzen und mithin auf die Notwendigkeit des Gedankens einer Unsterblichkeit des Menschen: 4.5 Die Unendlichkeitsqualität der Soll-Bestimmung ist Thema der Eschatologie. Bei Spalding zielte der Selbstbestimmungsprozess auf die Unsterblichkeitshoffnung. Während bei ihm ausschließlich die individuelle Eschatologie als Unsterblichkeit thematisch wird, ist jedoch der Bestimmungsbegriff auch offen einerseits für eine geschichtstheologische Perspektive und andererseits für die ganze Vielfalt christlich-eschatologischer Symbole und Deuteschemata (Auferstehung, Ewigkeit etc.). 4.6 Während Spalding in seinem Bestimmungskonzept ganz ohne spezifisch christlich-soteriologische Theologumena auskommt, verfügt eine bestimmungslogische Strukturierung religiöser Selbstdeutung und systematisch-theologischer Reflexion mit seiner Teleologie auf letzte Gesichtspunkte glücklichen, gelingenden und heilen Lebens über Anknüpfungspunkte für die Soteriologie. In der Christologie kann die Person Jesu sowohl in der Personlehre wie auch in der Ämterlehre unter dem Gesichtspunkt exemplarischer Entsprechung des Lebens zur Bestimmung des Menschen gedeutet werden, die als Vorbild und Exempel wie auch in seinem Erlösungswerk zur je eigenen Bestimmung jedes Menschen ins Verhältnis zu setzten wäre. Speziell die christologisch begründete lutherische Rechtfertigungslehre ist in ihrer akzeptanztheoretischen Grundstruktur auf das Bewusstwerden möglicher Nichtentsprechung zur Bestimmung des Menschen beziehbar. 4.7 Dies betrifft unmittelbar auch die Lehre von den Heilsmitteln und der Kirche (Ekklesiologie). Die doppelte Gestalt des Wortes Gottes bzw. der Offenbarung in Gesetz und Evangelium ist beziehbar einerseits auf die Deutung deskriptiver Bestimmtheit des Menschen als Wille und Gesetz Gottes und andererseits auf die rechtfertigungstheologische Figur der gnädigen Anerkennung und Akzeptanz dessen, der sich des Scheiterns am Gesetz Gottes bzw. an seiner religiös gedeuteten Telosbestimmung bewusst wird. Das Sakrament der Taufe ist der liturgische und lebensweltliche Ort, wo all das zur Sprache gebracht werden kann, was unter 4.1. gesagt wurde (schöpfungstheologische Deutung der Taufe). Im Sinne der Frage nach der Bestimmung des Menschen kann hier sowohl die endliche Vorfindlichkeit menschlichen Lebens, dessen Aussein auf Glück und Heil und schließlich die Gefährdungsangst und Bewahrungshoffnung zur Sprache gebracht werden. Das Abendmahlssakrament kann in anthropologisch-bestimmungssemantischer Hinsicht der Ort sein, an dem sich jeder einzelne Mensch in Gemeinschaft mit anderen Menschen der gemeinsamen Bestimmungen von Menschsein bewusst werden kann. Die Kirche bzw. religiöse Institutionen und Vergemeinschaftungen sind im Sinne dieser Überlegungen der Ort, an dem das Nachdenken, die Reflexion über die Bestimmung des Menschen hinsichtlich ihrer religiösen Tiefendimension
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
und unter Bezugnahme auf die Symbolwelt und Deuteschemata einer konkreten Religionskultur stabilisiert und institutionell abgesichert wird. Damit konnten lediglich die Strukturmomente einer an der Frage nach der Bestimmung des Menschen orientierten theologischen Systematik skizziert werden, die aber haben deutlich werden lassen, dass das Gesamt theologisch-dogmatischer Deutung menschlichen Lebens an diese existentielle Frage des Menschen nach sich selbst anschlussfähig ist.
3. Glück als Telos der Lebensführung Es gehört wohl zu den begrüßenswertesten Entwicklungen innerhalb der protestantischen Theologie der letzten ca. 20 Jahre, dass man sich einem ungeliebten Stiefkind wieder angenähert hat, dem Glück. Dass erste Impulse, wie auch beim Religionsbegriff, vonseiten der Praktischen Theologie schon früher ausgingen, liegt wohl daran, dass sie jenseits einer „sachdominanten als auch text‑ und vergangenheitslastigen Theologentheologie“62 als Praxistheorie gegenwärtigen Christentums die individuelle und soziale Dimension religiös-christlichen und kirchlichen Handelns unweigerlich in den Blick bekam.63 Innerhalb der Systematischen Theologie begann man seit Anfang der 1990er Jahre, das Glücksthema in unterschiedlicher Weise wiederzuentdecken. Die Herausforderungen, vor die sich die theologiegeschichtlichen Studien und ersten Entwürfe einer protestantischen Glückstheologie dabei gestellt sahen, sind vielfältig und lassen sich aber im Kern auf den Begriff einer protestantischen Selbstvergewisserung bringen. Diese hat es im Wesentlichen mit vier Problemkreisen zu tun: Zunächst: Evangelische Bemühungen um eine Rückgewinnung des Glücksthemas sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass die vorreformatorische Theologie und überhaupt die katholische Theologie ein entspannteres Verhältnis zum Glück haben als sie selbst. Auch die fachphilosophische Glücksforschung bezieht sich ausnahmslos auf sie. Die aktuelle evangelisch-theologische Debatte kommt daher an der langen Tradition eines mittelalterlichen bzw. katholischen Glücksdiskurses und ihrer Rezeption nicht vorbei. Während Thomas von Aquin64 und Meister Eckart65, ganz abgesehen von Augustinus, als mittelalterliche Referenten im Mittelpunkt stehen, werden auch die jüngeren philosophischen Glücksentwürfe bspw. Robert Spaemanns66 und
62 Wagner,
Metamorphosen des modernen Protestantismus, S. 238(ff.). bspw. Scharfenberg, Symbole des Glücks; Ders., Was ist Glück. 64 Vgl. Gradl, Deus beatitudo hominis; vgl. Leonhardt, Glück als Vollendung des Menschseins; vgl. Lauster, Gott und das Glück, S. 66–73. 65 Vgl. ebd., S. 74–76; vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 162–204. 66 Vgl. ebd., S. 20–23. 63 Vgl.
3. Glück als Telos der Lebensführung
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Josef Piepers67 in ihrer konfessionell-katholischen Prägung wahrgenommen. Das Glücksthema bietet damit, so könnte man ohngeachtet sachlicher Differenzen festhalten, einerseits Potential für einen christlich-interkonfessionellen Dialog über letzte Leitgesichtspunkte theologischer Anthropologie, Ethik und Dogmatik, um nur einige Bereiche zu nennen. Andererseits macht diese konfessionelle „Schlagseite“ der Glückstradition die apologetische Arbeit für eine spezifisch protestantische Glückstheologie nicht gerade einfacher. Sodann: Kant als Philosophen des Protestantismus zu verstehen hat eine lange Tradition philosophischer Selbstvergewisserung vonseiten evangelischer Theologie spätestens seit Ende des 19. Jahrhundert. Die Relationabilitäten zwischen lutherischer resp. reformatorischer Theologie und Kants Philosophie sind vielfältig und ihre methodische Beherrschung komplex, sie betreffen aber auch die in Frage stehende Sache der Glücksthematik. Wer seine evangelische Glückstheologie an Kant vorbeijonglieren würde, könnte schnell dem Vorwurf ausgesetzt sein, nicht nur mit Luther das theologische Erbe des Protestantismus zu verraten, sondern auch seinen philosophischen Hauptreferenten unberücksichtigt zu lassen. Daher ist auch ein breites Bemühen um Kants Zustimmung zu einer protestantischen Wiederbelebung eines theologisch restringierten Eudaimonismus zu beobachten68, das nicht unberechtigt ist, wenngleich es sich dabei mit einer breiten Tradition antieudaimonistischer Kanthermeneutik gerade vonseiten neuprotestantischer Theologen wie Ernst Troeltsch, Wilhelm Herrmann, Karl Holl und Emanuel Hirsch auseinanderzusetzen hat69. Drittens: Um sich in – wenn auch einer kritischen – Identität und Kontinuität mit der reformatorischen Theologie zu wissen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem Glücksvorbehalt Martin Luthers und einer Rekonstruktion glückstheologischer Anknüpfungspunkte innerhalb der Theologie des Reformators. Während Jörg Lauster in dieser Angelegenheit eher zu einem negativen Ergebnis kommt70, konnten Johann Hinrich Claussen71 und Rochus Leonhardt72 zeigen, dass jenseits von Luthers Invektiven gegen den Glücksbegriff unterschiedliche seiner theologischen Figuren über glückstheoretisches Potential verfügen. In einer subtilen Analyse hat Claussen gezeigt, dass Luthers Ideologiekritik auch sublimsten Glücksstrebens im Kern nichts anderes als ein seinerseits sublimes Konzept von religiös-christlichem Gegenglück darstellt, welches sich am Orte des von einfachem Glücksstreben befreiten Menschen in Rechtfertigungsgewissheit und „lustvoll genossene[r] Gottinnigkeit“73 niederschlägt. Daneben kann 67 Ebd.,
S. 23 ff. Lauster, Gott und das Glück, S. 106 ff.; vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 326–379. 69 Vgl. Barth, Kants Grundlegung der Ethikotheologie, S. 283. 70 Vgl. Lauster, Gott und das Glück, S. 91 ff. 71 Vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 205–274. 72 Vgl. Leonhardt, Luthers Rearistotelisierung der christlichen Ethik. 73 Claussen, Glück und Gegenglück, S. 386. 68 Vgl.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Claussen auch Luthers christliche Berufsethik als freiheitlich-antiasketisches Gegenglück rekonstruieren und damit dessen ethische Dimension, der sich auch Leonhardt vornehmlich widmet. Dabei unternimmt der letztgenannte den Versuch, die Verselbständigung christlichen Lebens von soteriologischer Überforderung in eine Linie mit Aristoteles’ „Verselbständigung der Ethik gegenüber der Metaphysik“74 zu bringen, wobei Luthers Konzept im Rekurs auf die Replatonisierung der Ethik bei Thomas von Aquin als Rearistotelisierung zu deuten wäre. Die soteriologische Dimension des Glücks in Luthers Rechtfertigungstheologie wird von Leonhardt nur insofern zur Geltung gebracht, als die Rechtfertigung des Sünders den religiös-soteriologischen Ausgangspunkt der soteriologisch irrelevanten Lebensführung christlicher Freiheit darstellt. – Wie auch immer: Leonhardt ist zuzustimmen, wenn er den methodischen Status der Reflexion auf das Verhältnis der Reformation zur Glücksfrage als „Prolegomena zu einer evangelischen Theologie des Glücks“75 betitelt. Die theologische Bruchlinie zwischen dem sich auf Luther – berechtigt oder unberechtigt – beziehenden Antieudaimonismus protestantischer Theologie und gegenwärtigen Rehabilitierungsversuchen des Glücksbegriffs bedarf als Bedingung der Möglichkeit ihrer Heilung einer sensiblen glückstheologischen Lutherhermeneutik. Viertens: Protestantische Selbstvergewisserungsbemühungen um die Berechtigung einer protestantischen Glückstheologie und ‑ethik müssen an solche protestantischen Traditionen den Anschluss suchen, für die das Streben nach Glück im theologischen Sinne zum legitimen Wesen des Menschen gehört. Hier steht die Neologie einsam auf weitem Feld. Diese Erkenntnis in der evangelischen Aufklärungsforschung gehört zu ihren jüngsten Errungenschaften. Selbst die fulminante Aufklärungsdeutung Emanuel Hirschs76 hat die Prominenz des Glücksdiskurses der Aufklärungsphilosophie und ‑theologie mit der Strahlkraft anderer gewichtiger Kategorien überblendet, und auch ältere und neuere Gesamtdarstellungen zeigen sich in ihrer Aufklärungshermeneutik merkwürdig glücksblind77. Es gehört zu den besonderen Verdiensten der Arbeit von Claussen, dass sie eine ihrer Fallstudien mit Spalding der neologischen Rehabilitierung des Glücksbegriffs widmet. Ihm ist unumwunden zuzustimmen, dass die Aufklärung die einzige protestantische Christentumsepoche war, die den Glücksgedanken ins Zentrum ihrer Umformungsbemühungen um Religion und Christentum gestellt hat.78
74 Leonhardt,
Luthers Rearistotelisierung der christlichen Ethik, S. 153. S. 134. 76 Vgl. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie. 77 Vgl. Gericke, Theologie im Zeitalter der Aufklärung; vgl. Kantzenbach, Protestantisches Christentum im Zeitalter der Aufklärung; vgl. Beutel, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. 78 Vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 275. 75 Ebd.,
3. Glück als Telos der Lebensführung
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Im Sinne dieser letztgenannten protestantismushistorischen Problemperspektive und eingedenk des neologischen Alleinstellungsmerkmals hinsichtlich einer genuin evangelischen Glückstheologie, gilt es nun hier, nicht noch einmal die Analyse des Glücksbegriffs in der Bestimmungsschrift zu rekapitulieren (vgl. V.4). Vielmehr soll versucht werden, diejenigen Strukturmomente an Spaldings gedanklich hoch komplexer Glückskonzeption zu evaluieren, die für den gegenwärtigen protestantischen Glücksdiskurs fruchtbar zu machen wären. Dabei bleiben die folgenden Systematisierungsfiguren nicht nur bei einer im „persönlichen Ton“ gehaltenen „religiösen Rede“79 stehen, in der nach Claussen dogmatische Theologie heute bestehe, und es geht auch nicht nur darum, „auf den religiösen Klang des Glücksbegriffes aufmerksam zu machen“80. Vielmehr gilt es, ein Ensemble von Prinzipien einer protestantischen Glückstheologie zu projektieren. 1. Glück ist nicht gegeben, sondern zunächst aufgegeben, nicht Gabe, sondern Aufgabe. Unbenommen des Spontaneitäts‑ und Unverfügbarkeitscharakters von Glückseligkeit als eines subjektiv erlebbaren Erfüllungszustandes, stellt sich das Glück dem nach sich selbst fragenden Menschen zunächst immer als Problem dar. Nicht die beglückende Lust steht am Anfang, sondern die innere Bereitschaft, sich selbst Rechenschaft über letzte Ziele und Kriterien eines geglückten Lebens zu geben. Wer nach Glück strebt, kapituliert nicht einfach vor seiner natürlichen Triebstruktur und verschreibt sich amoralischer Selbstsucht, so ein möglicher Vorwurf ethischer oder theologischer Glückskritik, sondern „macht mit seinem eigenen Leben ernst [Hvhb. G. R.]“81, und zwar in zweifacher Hinsicht: Nicht nur der Weg zum Glück und die Wahl der Mittel, sondern das Glück als Zweck des Daseins selber ist problematisch und bedarf der Reflexion. Dies bezeugt sowohl die alltagsweltliche individuelle Glückssuche wie auch das gedankliche Ringen des philosophischen Glücksdiskurses von der Antike bis heute, auch wenn die Fülle der aktuell konjunkturierenden Lebensberatungsliteratur in Sachen Glück ganz auf die Suche nach den einfachen Mitteln des Glücks abzustellen scheint. Es ist geradezu verblüffend, wie sehr diese Schlagseite zur Reflexion auf die Mittel bereits der semantisch-syntaktischen Struktur vieler Titel solcher populär-erbaulicher Glücksratgeber zu entnehmen ist: Man frage nach dem Weg82, nach der Formel83 und dem Wie84, dem Mittel85 und nach Stra79 Ebd.,
S. 389. S. 394. 81 Ebd., S. 390. 82 Vgl. bspw. Dalai Lama, Der Weg zum Glück. Sinn im Leben finden; vgl. Latz, Das Glück beginnt im Kopf. Mein Weg zum selbstbewussten Leben. 83 Vgl. bspw. Klein, Die Glücksformel. Oder: Wie die guten Gefühle entstehen; vgl. ders, Einfach glücklich. Die Glücksformel für jeden Tag. 84 Vgl. ebd.; vgl. Wisemann, So machen Sie ihr Glück. Wie Sie mit einfachen Strategien zum Glückspilz werden. 85 Vgl. bspw. Posch, Erfolg und Glück durch positives Denken und positives Handeln. 80 Ebd.,
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tegien86; das Glück komme nicht allein87, man brauche Kunstregeln88 und man müsse nur das Geheimnis knacken89, so einfach90 sei das. Auch populär-theologische Lösungsangebote, der Glaube mache glücklich91, stimmen hier nicht selten ein ins Konzert der Problemsimplifizierung, um auf der publizistisch sowie kommerziell vielversprechenden und relevanzsteigernden Welle des Glückshypes mit vorgeblichen Alternativangeboten mitzuschwimmen, – und stimmen damit eher skeptisch. Glücksphilosophie oder ‑theologie, die der Komplexität des Glücksproblems gerecht zu werden beansprucht, sollte diese Komplexität nicht reduzieren und Einfachheit versprechen. Die ehrliche Frage nach der eigenen Bestimmung zum Glück bedarf der „ernsthafteste[n] Ueberlegung“ und bedeutet „Mühe“, wie Spalding ganz am Anfang seines Textes unverhohlen dem geneigten Leser eingesteht.92 Dies ist eine erste basale Dimension dessen, was Claussen zu Recht wie auch terminologisch einfallsreich mit der Kategorie des Gegenglücks namhaft macht. Das Glück beginnt gleichsam beim Gegenteil seiner selbst. Damit ist bereits die Bedürftigkeit des Menschen angesprochen: 2. Glück realisiert sich in der Spannungseinheit von Bedürftigkeit und Fähigkeit des Menschen. Das biblisch-narrative und mythische Wissen um die Endlichkeit und Bedürftigkeit des Menschen, die christliche Theologie der Schöpfung sowie die mit ihr verbundene Anthropologie stellen einen reichen Fundus für das kulturelle Gedächtnis von der defizitären Verfasstheit des Menschen dar. Unbesehen der in der Christentumsgeschichte äußerst diversifizierten Debatten und Standpunkte um die Natur des Menschen, wobei die augustinisch-lutherische (Erb)sündenlehre den einen Pol, das aufklärungstheologische Theorem der Potentialität von Anlagen – noch nicht deren Aktualität! – den anderen Pol darstellt, kann sich eine Theologie des Glücks auf dem theologischen common sense begründen, dass der Mensch ein physisch und psychisch bedürftiges Wesen ist, und daher „strebt er nach der Erfüllung seiner Bedürfnisse“93. Die theologische Ethik hat dies als „Orientierungsbedürftigkeit des Lebens“94, die philosophische Anthropologie bspw. unter den Stichworten Mängelwesen 86
Vgl. Wisemann, […] Wie Sie mit einfachen Strategien zum Glückspilz werden. Hirschhausen, Glück kommt selten allein. 88 Vgl. Kirschner, Die Kunst, ein Egoist zu sein. Das Abenteuer glücklich zu leben, auch wenn es anderen nicht gefällt. 89 Vgl. Jackson, Die zehn Geheimnisse des Glücks. 90 Vgl. Franckh, Einfach glücklich: 7 Schlüssel zur Leichtigkeit des Seins; vgl. Klein, Einfach glücklich. Die Glücksformel für jeden Tag. 91 Vgl. bspw. Holtbernd, Macht Glauben glücklich?; vgl. Werner, Macht Glaube glücklich? Freiheit und Bezogenheit als Erfahrung persönlicher Heilszusage; vgl. Wallner, Wer glaubt wird selig. Gedanken eines Mönchs über das Glück, sinnvoll zu leben; vgl. Schaefer, Schokolade macht glücklich – Gott auch! Ermunterung zum Glauben. 92 Spalding, BdM, S. 1 [S. 3]. 93 Claussen, Glück und Gegenglück, S. 390. 94 Rendtorff, Ethik (Bd. 1), S. 63(ff.). 87 Vgl.
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und Instinktreduktion95 beschrieben. Mit dem letzten Begriff ist zugleich die glückstheoretisch valente Einsicht verbunden, dass jedoch schon die Bedürfnisse selber nicht gegeben, sondern aufgegeben sind. Es gilt nicht nur, Bedürfnisse zu erfüllen, sondern zunächst sich dieser Bedürfnisse bewusst zu werden und nach ihrem Geltungswert abzuwägen. Dieses Abwägen bedarf als Reflexionshorizont einer Bestimmung des Menschen und eines höchsten Begriffes von Erfüllung humanen Lebens. Für letzteren kommt der Glücksgedanke in Frage, weil er „die gebräuchlichste und umfassendste Erfüllungskategorie unserer Sprache ist“96. Was das Glück aber ist, ist zunächst ebenso strittig und reflexionsbetroffen wie die Bedürfnisstruktur selber. Damit wird sich menschliches Leben bereits auf seiner basalen Ebene von Bedürfnissen und Erfüllungs‑ bzw. Glücksstreben seines Grundcharakters der wiederum metastufigen Bedürftigkeit nach Reflexion, nach Handlungsorientierung und emotionalem Management bewusst. Insofern der Begriff der Lebensführung (Max Weber) nicht nur ihre ethische und praktische Seite, sondern auch kognitive Deutungsleistungen und emotionale Zustände integriert, stellt er die prinzipiellste Wesensbestimmung menschlichen Lebens dar. In der Bestimmungsschrift wird dies dadurch deutlich, dass nicht am Anfang eine allgemeine Definition des Glücks und menschlicher Bedürfnisse den Ausgangspunkt bildet, sondern dass beides erst im Reflexions‑ bzw. Lebensführungsprozess stufenweise zu Bewusstsein kommt, die „gemeinen Bestrebungen nach Reichtum und Ehre“97, der „Trieb zum Vergnügen“98, das „Bestreben[s]“99 des Geistes, die moralischen „Triebe und Empfindungen“100, die religiöse Befriedigung „in allen ihren [scil. Seele; G. R.] Trieben“101 und die „grosse Erwartung“102 der Unsterblichkeit als Bedürfnisse wie auch die diesen Bedürfnissen entsprechenden relativen und absoluten glücklichen Erfüllungsmomente. Neben der Bedürfnisstruktur verfügt der Mensch aber auch über ein Ensemble von Fähigkeiten und über Freiheit. Er trägt „vielfältige Anlagen in sich“ und er ist „auf die freie Entfaltung seines Selbst aus“103. Mit dem Begriff der Anlage verwendet Claussen einen Terminus, der bei Spalding als Integrationsbegriff der Möglichkeitsfülle menschlichen Lebens fungiert. Die Freiheit „als Fähigkeit zu wählen“ stellt eine Grundanlage dar, die mit der Anlage zur „Ueberlegung“104 bzw. Reflexion korreliert. Des Näheren ist auf der Anlageseite auch die Fähig 95 Vgl.
Gehlen, Der Mensch, S. 20; 26 u. ö. Glück und Gegenglück, S. 5. 97 Spalding, BdM, S. 2 [S. 4]. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 6 [S. 8]. 100 Ebd., S. 7 [S. 9]. 101 Ebd., S. 16 [S. 18]. 102 Ebd., S. 22 [S. 23]. 103 Claussen, Glück und Gegenglück, S. 390. 104 Spalding, BdM, S. 1 [S. 3]. 96 Claussen,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
keit sinnlichen Vergnügens, die „Kräfte des Geistes“105, dann aber vor allem der „natürliche[r] Begriff“ bzw. die „natürliche Empfindung“106 von Gut und Böse und die Fähigkeit zur Empfindung eines höchsten Wesens sowie schließlich die Perfektibilitätsmöglichkeit, „die eines Wachstums ins Unendliche fähig ist“107, zu verbuchen. Die Bedürfnisstruktur und Notwendigkeit menschlicher Lebensführung im eminenten Sinne wird bei Spalding also nicht als defizitär betrachtet, sondern mit der Anlage von Fähigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung in Korrelation gebracht. Stellt das Glück die umfassendste Erfüllung menschlicher Bedürfnisse dar und will es nicht einzelne Dimensionen ausblenden, so eröffnet sich damit eine Perspektive auf den Menschen in seiner gleichermaßen umfassenden Ganzheit: 3. Glück betrifft als umfassendste Erfüllungskategorie die endliche Ganzheit und Integration des Menschen. Ganzheit und vielmehr noch Ganzheitlichkeit als ihr ideologiegefährdetes Derivat sind Begriffe, die in den letzten Jahrzehnten die Humanwissenschaften und auch die Theologie stark geprägt haben. In Reaktion auf den sich beschleunigenden soziokulturellen Ausdifferenzierungsprozess und die damit einhergehende Verrechenbarkeit und Zerstückelung des Menschen unter seine je spezifischen Rollen wie auch auf die alten abendländisch-christlichen Dualismen von Leib und Seele, Körper und Geist, Transzendenz und Immanenz wie auch Vernunft und Irrationalität – die Reihe ließe sich unschwer fortführen – hat sich eine schillernde Mischkultur esoterischer, populärwissenschaftlicher und wissenschaftlicher, aber auch religiöser Forderungen nach einer neuen Berücksichtigung der Ganzheit(lichkeit) des Menschen entwickelt. „Die Forderung nach einer ganzheitlichen Betrachtung der Wirklichkeit ist in den Rang eines höchsten ethischen Postulates gerückt.“108 Neben der Medizin, Psychologie, Psychotherapie und Pädagogik hat vor allem die Seelsorge109 diesen Trend in die Theologie und in die Kirche importiert. Das theologische und ekklesiologische Hauptmotiv dürfe darin liegen, den Folgen der Säkularisierung als Segmentierungsprozess und damit der Partikularisierung von Religion und Christentum wenigstens im Modus der eigenen Thematisierung des Menschen kompensatorisch entgegenzuwirken, indem sie den Anspruch erhebt, nicht wie alle anderen sozialen Teilsysteme und Deutungsmächte das Humanum eindimensional zu betrachten, sondern eben ganzheitlich. Ohngeachtet dieser latent modernitätskritischen Debattenlage verfügt die Religion in zweierlei Hinsicht strukturell über eine Ganzheitsperspektive: Wird sich ein Subjekt im Horizont einer Idee des Unbedingten seiner selbst bewusst, so projektiert es – neben anderen kategorialen Grenzbestimmungen des Ab105 Ebd.
106 Ebd.,
S. 9 [S. 10]. S. 20 f. [S. 22]. 108 Eibach, Heilung für den ganzen Menschen, S. 50. 109 Vgl. bspw. Winkler, Seelsorge, S. 173. 107 Ebd.,
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soluten – die Idee unbedingter bzw. realer Ganzheit, zu der es gleichzeitig sein endliches personales Ganzheitsbedürfnis ins Verhältnis setzt110. Will also eine theologische Glückskonzeption diesen Aspekt berücksichtigen und Glück auch religionstheoretisch entfalten, so hat sie menschliches Glück auch als die Ganzheit des Menschen betreffende Totalitätskategorie zu entfalten. Für eine Theologie des Glücks kann mithin festgestellt werden, dass sie in besonderer Weise in der Lage ist und sein muss, den Blick auf den Menschen als ganzen zu richten, denn nur so kann Glück als umfassende Erfüllungskategorie zur Geltung gebracht werden und gleichzeitig die Endlichkeit dieser Erfüllung vor dem Hintergrund gedachter absoluter Erfüllung mitreflektieren. Wenn das Glück die Erfüllung der unterschiedlichsten Bedürfnislagen darstellt, kann es sich nicht nur auf eine Dimension humanen Lebens beziehen, sondern muss „den ‚ganzen‘ und ‚wirklichen‘ Menschen in den Blick nehmen“111. Spaldings Bestimmungsreflexion leistet dies in vielfacher Hinsicht: 3.1 Die Selbstdeutung in Hinsicht auf das Glück integriert alle psychischen Vermögen: Rationalität, Emotionalität und die Motivations‑ und Handlungsebene. Am Übergang von der Sinnlichkeit zum Vergnügen des Geistes formuliert Spalding explizit die Forderung, dass die Suche nach der Bestimmung bzw. nach dem eigenen Glück erst dann erreicht ist, wenn etwas „meine ganze Sele ausfüllet“112. Rationalität: Die Verstandesebene kommt bereits mit dem rationalen Charakter der subjektiven Introspektion selbst zum Tragen: Spalding lässt das virtuelle Ich fragen, was es „vernünftiger Weise seyn soll“113. Dies zieht sich als Metastruktur durch alle Bestimmungsstufen, jenseits ihrer dann spezifischen psychischen Eigenstruktur: Das Glück wird im Modus der Reflexion Gegenstand einer rationalen Evaluation. Es wird nie nur einfach gefühlt, sondern wird sich allererst im Modus der je aktuellen, erinnernden resp. biographischen Reflexion seiner selbst bewusst. Neben der Rationalität des Selbstdeutungsprozesses an sich kommt im Kontext der Reflexion auf das Vergnügen des Geistes diese seelische Funktion noch einmal eigens zum Tragen. Seine Formulierungen wie „Kräfte meines Geistes“, „mein Gedächtnis“, „meine Begriffe“ und „meine Einsicht“114 stehen für die Vervollkommnungsdimension rationaler Geistesvermögen. Darüber hinaus verfügen jedoch auch die Tugend mit ihren natürlichen Begriffen von Gut und Böse, die Religion mit ihren „Gedanken“, „Vorstellung[en]“ und „Begriffe[n]“115
110 Vgl. Barth, Was ist Religion, S. 12; 15 f.; Ders., Theoriedimensionen des Religionsbegriffs, v. a. S. 57. 111 Claussen, Glück und Gegenglück, S. 6. 112 Spalding, BdM, S. 6 [S. 8]. 113 Ebd., S. 1 [S. 3]. 114 Ebd., S. 6 [S. 8]. 115 Ebd., S. 14 f. [S. 16 f.].
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
eines höchsten Geistes und schließlich die Unsterblichkeitshoffnung mit ihrem „Begriff von [m]einem wahren und ganzen Leben“116 über rationale Momente. Neben der rational-reflexiven Gesamtstruktur des Glücksstrebens, das sowohl als Unterbrechung des Erlebnisflusses an bestimmten Wendepunkten und Bruchstellen des Lebens als auch in Form von lebensbegleitender Dauerreflexion ihren lebensgeschichtlichen Ort hat, kann das Glück auch gleichsam im retrospektiven Nachhinein autobiographisch-narrativ eingeholt werden. Dabei geht es nicht in erster Linie um ein Resümee, ob und wann das Leben glücklich verlaufen ist, vielmehr ist, wie Claussen an Augustins „Confessiones“ ausführt117, das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte und damit von der krisenhaften Selbstentdeckung samt seiner geglückten und unglücklichen Momente als solches beglückend. Spaldings Bestimmungsschrift sollte deshalb auch als Anleitung zu einer solchen retrospektiven Selbsterkundung gelesen werden. Emotionalität: Zudem ist das Glück auf allen Lebensstufen affektiv-emotional dimensioniert, insofern sie allesamt von der Empfindung von Lust und Vergnügen begleitet werden. Spalding erblickt in der Freude, in der Lust oder im Vergnügen bzw. Seelenruhe die formal-emotionale Bewusstseinsstruktur des Glücks. Dabei ist selbstverständlich, dass das sinnliche Vergnügen als Daseinsform als solches von Lust begleitet wird. Von besonderer Bedeutung ist aber, dass auch die Tugend vermittels der lustvollen Empfindung sowie der auf sie gerichteten reflexiven Lust an der eigenen Moralität bzw. an der Moralität anderer über ein affektives Begleitmoment verfügt. Gleiches betrifft auch die Religion und die Unsterblichkeitshoffnung. Es wäre noch zu ergänzen, dass mit der Schönheit der Tugend und der religiösen Empfindung eines „Urbildes … ursprüngliche[n]r Schönheit“118 auch die ästhetische Urteilskraft zu ihrem Recht kommt, die ihrerseits rationale und irrational-emotive Anteile in sich vereinigt. Damit zeichnet sich das Glück jenseits seines Gewahrwerden im Modus von selbstverfügter Selbstreflexion durch einen Widerfahrnischarakter aus, der jedweder und eben auch der Glücksempfindung eignet. Glück ist in dieser Hinsicht kein auf Dauer zu stellendes Bewusstsein, sondern oft nur als momentanes flüchtiges Zustandsbewusstsein erlebbar. Motivations‑ und Handlungsebene: Zunächst ließe sich festhalten, dass sowohl alle Lebensformen, die Lebensführung als ganze und auch der Selbstdeutungsprozess immer auch über einen handlungspraktischen bzw. aktuosen Aspekt verfügen. Mit der Tugend als einem wesentlichen Garant menschlichen Glücks avisiert Spalding jedoch auch eine an sich praktische Lebenssphäre. 3.2 Die Glücksreflexion integriert nicht nur das Subjekt in psychischer Hinsicht und in Bezug auf unterschiedliche Lebensformen, sondern auch in Bezug auf 116 Ebd.,
S. 22 [S. 23]. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 137 ff. 118 Spalding, BdM, S. 15 [S. 17]. 117 Vgl.
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seine soziale Umwelt und die Welt als ganzer. Vor allem mit der Moralität als Funktion menschlichen Glücks bekommt Spaldings Bestimmungskonzept auch die Relation des Einzelnen zu seiner sozialen Umwelt und letztlich zum Gesamt der Welt in den Blick, denn die Tugend hat auch „das Beßte anderer oder das allgemeine Beßte zu ihrem eigentlichen Zweck“119 zu erheben. Ein einfacher Subjektivismusvorwurf gegenüber Spaldings Entwurf trifft schon deshalb ins Leere, weil seine Tugendlehre essentiell sozial‑ und weltbezogen ist. Daneben verfügt auch die Religion über ein transsubjektives Moment, weil nicht nur das Subjekt, sondern „ein Ganzes, das so mannichfaltig, und doch durch den genauesten Zusammenhang Eines ist“120, zu Bewusstsein kommt. Der Gedanke eines höchsten Verstandes ist eben nicht nur ein Epiphänomen einer unglücklichen Moralität, sondern er weiß diesen als einen, „der für das Ganze denkt, der das Ganze einrichtet und lenket“121. 3.3 Stellt eine Vielzahl philosophischer, theologischer und populärphilosophischer Glückstheorien auf Reduktion auf einzelne Lebens‑ und Daseinsformen ab, hat eine modernitätsfähige theologische Glückskonzeption die Pluralität der Möglichkeiten von Menschsein zu berücksichtigen. Nicht allein Tugendhaftigkeit und geistige Vernunftaskese wie bei Aristoteles122, nicht allein die „Seligkeit in Gott“123 wie bei Augustin, nicht allein die zeitentgrenzende Einigkeit mit Gott wie bei Meister Eckart124, nicht allein das Erlösungsglück des Rechtfertigungsglaubens und die Freiheit der Lebensführung wie bei Luther und auch nicht allein das Glück eines moralischen Wertgefühls bzw. der Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit wie bei Kant garantieren eine umfassende Erfüllung, sondern die Integration all dieser glücksvalenten Sphären zu einem Ganzen. Spaldings bestimmungstheoretisches Glückskonzeption vermag trotz seiner teleologischen Perspektive die vorläufige Glückswertigkeit aller von ihm vorgestellten Lebensformen in relativer Geltung zu lassen: Das Glück sinnlichen Vergnügens wird nicht sündentheologisch verdammt, sondern Spalding lässt es an seiner internen Unglücksstruktur vorerst scheitern. Gleiches betrifft das Vergnügen des Geistes. Das glücksstiftende Vergnügen an der ethischen Empfindung wird nicht pflichtethisch im Sinne Kants desavouiert oder im Sinne der Stadienlehre Kierkegaards relativiert, und auch das Gottesbewusstsein lässt er nicht am Zweifel an der Vollkommenheit der Welt zerbrechen. Auch wenn Spalding die eigentliche Bestimmung und Glück im eminenten Sinne in der Unsterblichkeitshoffnung erfüllt sieht, erfahren die vorläufigen Lebensformen des sinnlichen Vergnügens, geistigen Lebens keine Totalabsage und die Moralität und 119 Ebd.,
S. 10 [S. 12]. S. 15 [S. 16]. 121 Ebd., S. 15 [S. 17]. 122 Vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 382. 123 Ebd. 124 Vgl. ebd., S. 384. 120 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Religion keine Bestätigung ihrer Selbstzweifel, sondern auf jeder nächst höheren Stufe der Reflexionsleiter wird die vorherige Selbstdeutungsform im Modus der erfahrenen Relativierung reintegriert. 3.4 Das nach Glück strebende Wesen Mensch wird sich, abgesehen von momentanen Erfüllungserlebnissen, bewusst, dass sein Aus-Sein auf Erfüllung an Grenzen seiner Partikularität stößt125. Glück stellt damit „nicht das Erreichen eines Endziels, sondern eine Ausrichtung und ansatzweise Teilhabe“126 dar. Seine endliche Ganzheit kann der Mensch nur im Modus religiöser Projektionen von Unbedingtheit begrifflich überschreiten und in Form von Grenzbegriffen formulieren, die sowohl sein religiöses Bewusstsein im engeren Sinne als auch seine religiöse Selbstdeutung betreffen. Das religiöse Bewusstsein legt sich bei Spalding im Begriff der Welt und eines die Welt begründenden Grundes aus. Das universale „Ganze voller Ordnung“ verdanke sich eines „Verstandes, der für das Ganze denkt“, der ein „Regierer des Ganzen“127 ist. Diese intentionale Bezugnahme auf einen religiösen Welt‑ und Gottesbegriff spiegelt sich zurück auf das Subjekt, welches sich in seiner Partikularität bzw. in seinem Teil-Sein von dieser Welt sowie in seiner (Mit)abhängigkeit von Gott gewahr wird.128 Der Ewigkeitsgedanke bzw. die Unsterblichkeitshoffnung ist nun jedoch der Ort, wo die Differenz zwischen göttlich-realer Unbedingtheit von Ganzheit, Ewigkeit, Unendlichkeit und Notwendigkeit und ihrer bedingten Selbsterlebnisse als annäherungsweise überwunden erlebt und gedeutet werden. Spaldings Umformungsleistung innerhalb dessen, was man lehrsystematisch als Eschatologie bezeichnet, besteht darin, dass er die klassische zukunftsorientierte Auferstehungssemantik durch eine „Gegenwartseschatologie der religiösen Individuen“129 substituiert, wie sie Falk Wagner als Grundsignatur der diesbezüglichen Umformungsleistung neuprotestantischer Religionstheologie bezeichnet hat. Bereits innerhalb der Religionskonzeption der Bestimmungsschrift lässt Spalding die Moralität als von einem Urbilde alles Guten abkünftiges Selbstwissen als „ewige[n] Wahrheit“130 deuten; und die Moralität als Grund des göttlichen Wohlgefallens wird ebenfalls mit dem Ewigkeitsprädikat versehen131. Noch deutlicher wird dieses Gegenwärtigkeitsmotiv innerhalb der Unsterblichkeitskonzeption, wo Spalding das Ich erkennen läßt, dass „dieses sichtbare Leben nicht den ganzen Zweck meines Daseins erschöpfe“ und bereits der „Einfluß von dieser großen Ansicht 125 Auf den Aspekt der Partikularität und Ganzheit wird in Abschnitt 5 ausführlicher zurückzukommen sein. 126 Claussen, Glück und Gegenglück, S. 397. 127 Spalding, BdM, S. 15 f.; 18 [S. 16 f.; 19]. 128 Dies ist weiter unten um Kontext Überlegungen zu Spaldings Religionskonzept weiter auszuführen (vgl. VI.5). 129 Wagner, Metamorphosen des Protestantismus, S. 47. 130 Spalding, BdM, S. 17 [S. 18]. 131 Ebd.
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meiner künftigen Bestimmung in die ganze Verfassung meiner Sele“132 dringt. Es gilt, diesen Gedanken als „gegenwärtig [zu] erhalte[n]“ und „die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten“133. Das Bewusstsein der Ganzheit des Daseins bedarf also der Ewigkeitsvorstellung, die im Vorstellungsstatus – noch nicht erst im Realisierungsstatus! – die Erfüllung und damit auch vollkommenes Glück antizipiert. Die Spannungseinheit faktischer Uneinholbarkeit und projektierter Ganzheit humanen Glücks in der Unsterblichkeitshoffnung kann strukturell an Luthers rechtfertigungstheologische Figur des simul iustus et peccator anschließen: Trotz des Bewusstseins der Fragmentarität und Partikularität des Glücks (peccator) erlebt sich der Mensch im eschatologischen Horizont als hoffnungsvoll und damit als glücklich (iustus). Dieser Einsicht und dem darin eingeschlossen kritischen Impetus gegen jedwede „Machbarkeitsideologie in Sachen Glück“134 entspricht in Luthers Rechtfertigungssemantik die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und die Glückshoffnung der Rechtfertigungsfreude, wobei beide ihre Erfüllung in einen eschatologischen Vorbehalt gestellt wissen (peccator in re, iustus in spe). 4. Glück als Erfüllung von wesensgemäßem Menschsein gründet in der Dialektik von Glück und Gegenglück. Diese Erkenntnis verdankt die theologische Glücksdebatte der Studie Johann Hinrich Claussens, der im schillernden Begriff des Gegenglücks antagonistische und glückskritische Momente in die Glückssuche integriert und damit die Komplexität des Glücksbegriffs substantiell steigert. „Erst wenn Glück und Gegenglück dialektisch-konstruktiv miteinander ins Verhältnis gesetzt sind, ergibt sich die Perspektive auf einen Glücksbegriff, der hinreichend komplex ist, um Momente der Erfüllung, Entfaltung und Verwirklichung ebenso zur Geltung zu bringen wie Momente der Steigerung, Überschreitung, Sublimierung und Kritik.“135 Seine Grundeinsicht besteht darin, dass das Glücksstreben in seinem Prozess vorläufige Glücksoptionen kritisch hinterfragen und Notwendigkeiten von Verzicht aufzeigen muss, um solche Daseinsformen glückstheoretisch zu Geltung bringen zu können, die prima facie glücksuntauglich erscheinen, sich jedoch dann als höhere Formen von Glück erweisen. Mit dem gedanklichen Gewinn dieser prinzipiellen Struktur von Glück ist eine notwendige Vertiefung des gegenwärtigen Glücksdiskurses erreicht, da dieser dadurch von jedwedem falschen „Schein des Unproblematischen befreit“136 ist. Einfachen lebensweisheitlichen Glücksoptionen ist damit eine Absage erteilt. Die spezifische Leistung von Spaldings Bestimmungsschrift hinsichtlich dieses Aspektes von Glück besteht darin, dass er Formen höheren Glücks nicht durch ein asketisches Verdikt erkauft, sondern zum ersten je vorläufigen Glücksformen 132 Ebd.,
S. 24 [S. 25]. S. 23 [S. 24]. 134 Leonhardt, Luthers Rearistotelisierung der christlichen Ethik, S. 165. 135 Claussen, Glück und Gegenglück, S. 391. 136 Ebd., S. 392. 133 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
ihr verhältnismäßiges Eigenrecht einräumt, zum zweiten relative Glückskritik als Moment der Glückssuche bestimmt und schließlich Momente des Verzichtes bis hin zur Selbstvergessenheit selber als beglückend ausweist. Vor allem die beiden letztgenannten Figuren betreffen das moralische und religiöse Glück. Das Gewahrwerden des höheren Glücks in der Moralität und in der Religion wird nicht in Opposition zum sinnlichen und geistigen Vergnügen bzw. des moralischen Glücks in Stellung gebracht, sondern das nach seiner Bestimmung fragende Subjekt wird durch deren interne Glückskrise weitergetrieben. Beide Reflexionsstufen verfügen per se über eine Verwiesenheitsstruktur über die eigene Person hinaus: Wer sich seiner Moralität bewusst wird, erfährt sich empfindend und handelnd auf je andere Subjekte bezogen; und wer sich selbst vor dem Horizont einer Idee des Unbedingten sieht, weiß sich als eine von diesem Unbedingten bedingte Entität. In der Moralität lernt das Subjekt, sein eigenes Glück in den „Glückseligkeiten anderer Wesen“137 zu entdecken und sich in diesem Glück selbst zu vergessen138. Das Gleiche betrifft die Religion: Angesichts „der obersten allgemeinen Vollkommenheit“ kann der Mensch „sich selbst vergessen“139. Insofern das Glück die Erfüllung von Selbstwerdung darstellt, verfügt das Glück über die paradoxe Struktur, dass das Selbst auf dem Umweg der Selbstlosigkeit zu sich selbst kommt. 5. Glücksstreben realisiert sich nicht in einer biographisch-linearen Stufenentwicklung, sondern ist zirkulär verfasst. So sehr es zur Grundsignatur philosophischer und theologischer Glücksreflexion gehört, ausgehend von der anthropologisch begründeten Strebestruktur die Möglichkeiten von Daseinsformen als Stufenfolge und Vervollkommnung des Glücks zur Darstellung zu bringen, so wenig gehorcht die konkrete Lebensführung dieser Darstellungslogik. Glück beginnt nicht bei einem Nullpunkt und realisiert sich nicht als Umsetzung einer theoretischen Einsicht, sondern setzt sich immer schon als Erfahrungshorizont voraus. Die lebensgeschichtliche Bedeutsamkeit des eigenen Glücks als Ziel des Daseins plausibilisiert sich nicht erst als absolut kontrafaktische Soll‑ bzw. Willensbestimmung, sondern baut sich an seiner wie auch immer qualitativ zu bestimmenden Faktizität auf. Wer Glück erstreben will, muss es als erstrebenswertes bereits erlebt haben. Methodische Glücksreflexion und konkret-biographische Glücksarbeit sind nicht deckungsgleich oder anders ausgedrückt: Die Genesis und Geltung von Glücksformen können quer zu einander stehen. Dass Spaldings Bestimmungsschrift in aristotelischer Tradition stehend zunächst eine einfache Stufenfolge des Glücks entwirft, dürfte seinem zugrunde liegenden Perfektibilitätsparadigma geschuldet sein. Auf den ersten Blick scheint das nach sich selbst fragende Subjekt auf der Stufenleiter immer höher zu steigen. 137 Spalding,
BdM, S. 7 [S. 9]. ebd., S. 8 [S. 10]. 139 Ebd., S. 16 [S. 18]. 138 Vgl.
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Jedoch bietet Spaldings Entwurf Anknüpfungspunkte für eine Hermeneutik, die zirkuläre Momente namhaft machen kann. Der Grund dafür liegt in der Konzeption selber, die formal zwischen philosophisch-theologischer Reflexion und konkreter Selbstbeobachtung eines nach seiner Bestimmung fragenden Subjektes changiert. Indem er zunächst seinen Ausgangspunkt beim Glück sinnlichen Vergnügens nimmt, setzt er eine basale vorfindliche Glückserfahrung voraus. Sodann eröffnet die je interne Krise der Moralität und Religion einerseits die Möglichkeit des Aufstiegs, aber andererseits eben auch des relativen Rückfalls in die Lebensform des sinnlichen bzw. geistigen Vergnügens. Zum dritten verfügt jede Lebens‑ und Selbstdeutungsform durch diese interne Krisenhaftigkeit in sich selbst über eine zirkuläre Wechselstruktur von Glücksmomenten der Erfüllung und dem Empfinden unglücklicher Momente. Man könnte auch hier im Anschluss an Luthers rechtfertigungstheologisches Diktum von simul iustus et peccator bzw. von einem permanenten transitus diese Wechselverfasstheit des Glücks auf die Formel eines perspektivischen simul beatus et miser bringen: Das Glücksstreben steht in dem transitorischen Wechsel von Glücks‑ und Unglücksmomenten. Und schließlich stellen Moralität und Religion inklusive der Unsterblichkeitshoffnung sich jeweils gegenseitig bedingende Selbstdeutungsmodi dar, die keine einfache stufenweise Abfolge darstellen. Je nach der Perspektive wechselt das Subjekt zwischen moralischer und religiöser Selbstdeutung. 6. Der Glücksbegriff als anthropologische Teloskategorie kann als „Funktionsäquivalent zu klassischen soteriologischen Termini“140 fungieren. Bezieht man die Glücksperspektive der Bestimmungsschrift auf die traditionelle theologische Terminologie und Semantik letzter Zielbegriffe des Menschen und der Welt, so kann reklamiert werden, was Claussen allgemein für einen theologischen Glücksbegriff feststellt resp. einfordert, nämlich die Relation einer „Funktionsäquivalenz“141. Dabei ist jedoch zunächst festzuhalten, dass Spaldings individualgeschichtliche Restriktion seines Bestimmungskonzeptes die heilsgeschichtliche bzw. geschichtstheologische Seite christlicher Heilserwartung ausblendet. Dies wurde spätestens an seiner Unsterblichkeitskonzeption deutlich. Während Spaldings Unterscheidung von zeitlichem und überzeitlichem Glück, an der er auch noch in der Bestimmungsschrift der Sache nach festhält, die soteriologisch-eschatologische Differenz von präsentischer und futurischer Eschatologie substituiert, restringiert er beide Perspektiven auf die subjektive Seite menschlicher Erfüllungshoffnung. Des Näheren ist Spaldings Glücksbegriff in der Lage, als funktionales Äquivalent der theologischen wie religiösen Reflexionsfigur der Erlösung zur Geltung gebracht zu werden und dies aus mehreren Gründen. Zum ersten kongruieren Glücks‑ und Erlösungshoffnung formal in ihrer teleologischen Struktur, denn beide sind 140 Claussen, 141 Ebd.
Glück und Gegenglück, S. 396.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Zielgedanken menschlichen Lebens. Zum zweiten verfügt sein Glücksgedanke über eine erlösungstheoretische Struktur, insofern das moralische Glück wie auch das Glücksbewusstsein der Unsterblichkeitshoffnung jeweils von einem Negativbewusstsein bzw. von einer daraus erwachsenden Bedürftigkeit ihren Ausgang nehmen. Allererst aus dem inneren Konflikt einer äußerlich-sinnlichen und geistigen Lebensführung resultiert die Erlösungsbedürftigkeit von dieser selbstentdeckten Inkongruenz von humaner Bestimmung und faktischem Leben. Spaldings soteriologische Leistung besteht gerade darin, dass nicht einfach die Negativitätsdimension des Menschen nur behauptet, sondern im Modus der subjektiven Introspektion in Selbsterkenntnis überführt wird. Die Bedürftigkeit der Erlösung von dem als defizient erfahrenen sinnlich-geistigen Glück motiviert den Übergang zur Moralität als einem vorläufigen Erfüllungsmodus höheren Glücks. Ähnliches ließe sich für die Übergänge von der Moralität zur Religion und zur Unsterblichkeitserwartung sagen. Das moralische Glück der Erlösung von der Selbstverstrickung wird jedoch nicht, und darin liegt ihre christentumstheoretische Grenze, als christologisch oder anderweitig vermittelt erfahren. Die moralische Empfindung und Fähigkeit des Menschen, sich zur Moralität erheben zu können, kann theologisch lediglich als Schöpfungsgnade rekodiert werden. Für diese Deutung spricht, dass Spalding im Religionsabschnitt der Bestimmungsschrift die zunächst selbstentdeckte Empfindung des Guten und Bösen vom reflektierenden Ich als göttliche Wahrheit deuten lässt. Dies betrifft mittelbar auch den Aspekt der Rechtfertigung: Während das forensische Modell einer Vergebungsgnade dem Grundkonzept Spalding vollständig widerspräche, so lassen sich durchaus im Religions‑ und Unsterblichkeitsabschnitt akzeptanztheoretische Motive namhaft machen: Der moralische Mensch weiß sich in der Übereinstimmung mit seiner Natur und deren Urheber zugleich von diesem gebilligt. Und nicht nur das: Mit dem Gedanken der Gottverähnlichung verfügt Spaldings Religionskonzept neben erlösungs‑ und rechtfertigungstheologischen Motiven auch über ein versöhnungstheologisches Moment: Der Gegensatz zwischen Urbild und Abbild kann überwunden werden, wenngleich nur in einem unendlichen und unabschließbaren Approximationsprozess, deren Vollendung das Subjekt in der Unsterblichkeit lediglich vermutet. Nimmt man die genannten Überlegungen zusammen, erscheint es durchaus als legitim und sinnvoll, Spaldings Glückkonzept als soteriologisches Modell zu interpretieren. Es verfügt sowohl über ein Selbstbegrenzungsmoment wie auch über das Moment einer Unabschließbarkeit bzw. Partikularität menschlichen Glücks und damit über Aspekte, die für eine theologisch resp. christliche Anthropologie und Soteriologie unabdingbar sind. Der Glücksgedanke birgt als humane Telosbestimmung eine unmittelbare Plausibilität, weshalb eine theologisch-christliche Anthropologie und Soteriologie gut beraten ist, ihre klassische Terminologie glückssemantisch zu reformulieren. Und auch andersherum
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tut eine ernstzunehmende Glücksphilosophie gut daran, die Glückshemmnisse und die Grenzen menschlichen Glücks erlösungstheoretisch mitzureflektieren. Damit können wir das Ergebnis zusammenfassen: Die Rekonstruktion des Aufgabe‑ bzw. Projektcharakters menschlichen Glücks, der Spannungseinheit von Bedürftigkeit und Fähigkeit als Ausgangspunkte humanen Glücksstrebens und seiner Ganzheitlichkeitsdimension sowie Integrationsfunktion, des inneren Antagonismus von Glück und Gegenglück und deren zirkulärer Struktur wie auch der Strukturäquivalenz des Glücksgedankens zu einer Reihe soteriologischer Topoi hat dartun können, dass Spaldings Glückskonzeption keineswegs und einfachhin unter das Verdikt eines platten aufklärerischen Eudaimonismus zu verbuchen ist. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass sie mit Grundannahmen christlich-protestantischer Anthropologie und Soteriologie vereinbar ist und deren Anschlussfähigkeit an das moderne Selbstverständnis von Menschsein allererst mitkonstituiert. Es gilt abschließend, die genannten Aspekte in protestantismus-, religionstheoretischer und theologisch-systematischer Hinsicht zu fokussieren: 1. Das Wesen protestantischer Religion in Hinsicht auf ihre subjektive Dimension besteht in der freien und kritischen Reflexion über das Leben in all seinen Sinnbezügen im Horizont einer Idee des Unbedingten und im Rekurs auf die Symbole christlichen Glaubens. Der Glücksgedanke eröffnet in seiner prinzipiellen Offenheit (hinsichtlich seiner Ziel‑ und Mittelbestimmung) und vermittels seiner integrativ-ganzheitlichen Struktur einen Reflexionshorizont, der den religiös-christlichen Selbstumgang des Menschen an dessen unmittelbares Aussein auf Erfüllung anbindet und somit als Angelegenheit des Menschen ausweist. Eine prinzipiellere Betroffenheit von jedweder Form von Selbstdeutung als durch die Integration in das unhintergehbare Glücksstreben des Menschen lässt sich nicht denken. Insofern Spalding sein Modell humaner Selbstbesinnung sowie seine Begründung von Religion an der anthropologischen Zielidee des Glücks orientiert, vermag er es, die Plausibilität von Religion auszuweisen. 2. Das Glück als letzte Telosbestimmung steht dem Menschen als Ziel nicht einfach zur Verfügung, dem sich dann alles unterzuordnen hätte, sondern es drängt sich selbst als Problem und Aufgabe auf, welche nicht unabhängig von allen anderen Sinnsphären des Daseins zu lösen und zu bewältigen ist. Gerade im Suchen nach dem, was wirklich glücklich macht, wird sich der Mensch seiner Freiheit wie auch der Möglichkeit der Selbstverstrickung der eigenen Freiheit als endlicher Freiheit bewusst. Damit sind beide Haupttopoi christlich-protestantischer Anthropologie im Glücksgedanken integriert: In der Anlage zur Freiheit und im Auftragscharakter der Lebensführung auf Glück hin kann sich der Mensch seiner Gottebenbildlichkeit bewusst werden, die in der Spannung von Anlage und Bestimmung steht und somit die Faktizität wie auch Prospektivität von Menschsein zum Ausdruck bringt. Zugleich eröffnet sich im Modus des Übergangs aus der Potentialität zur Realisierung auch die Möglichkeit des Scheiterns und des sich Selbstverfangens und zwar sowohl in der Bestimmung
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
dessen, worin die Erfüllung gelingenden Lebens besteht, als auch im Prozess selber. Eine glückstheologische Fassung der anthropologischen Symbole der Gottebenbildlichkeit und der Sünde vermag es in besonderer Weise, deren Sinn plausibel zu machen. 3. So sehr das Glück als umfassende Aufgabe der Lebensführung bewusst wird, so sehr wird es auch als Gabe erlebt. In Äquivalenz zum ästhetischen Erleben entziehen sich glückliche Erfüllungsmomente letztlich menschlicher Verfügbarkeit und stellen sich spontan und momenthaft ein; sie sind nicht auf Dauer zu stellen. Wann und ob sich ein Empfinden von Glück bzw. Freude einstellt, hängt nicht nur vom Wollen und Realisieren glücksrelevanter kognitiver, emotionaler und praktischer Prozesse und Einstellungen ab, sondern erhält als religiöses wie auch als ethisches Glück den Charakter von Gnade und Geschenk. 4. Damit korreliert, dass die Glückssuche keinen einfachen Perfektibilitätsprozess beschreibt, sondern vielmehr zirkulär verfasst ist. Dies ermöglicht, auf eine strukturelle Vergleichbarkeit mit dem lutherischen resp. rechtfertigungstheologischen Gleichzeitigkeits‑ und transitus-Gedanken auszugreifen. Das Leben im Horizont von Glückseligkeit benimmt der eigenen Lebensdeutung nicht die Einsicht in die Dimension des Wechsels von Scheitern und Gelingen, von verfehltem und gerecht(fertigt)em Leben. Der rechtfertigungstheologische Aspekt erfüllt sich in besonderer Weise im Wissen um die Akzeptanz des eigenen selbstintegrierten Lebens durch Gott, welches sich als religiöse Glücksfreude manifestiert, die Momente der Ewigkeit begründet. 5. Menschliches Glück bleibt damit immer auch in der Modalität der Partikularität und Unvollkommenheit verhaftet. Das Glück wird nicht in die Machbarkeit des Lebensprozesses hineingezogen, sondern wird in seiner Unbedingtheitsdimension als uneinholbar bewusst. Zugleich ist jedoch die Ganzheit und Vollkommenheit des Glücks als eschatologische Hoffnung präsent. Die dialektische Spannungseinheit von endlich-realem und unendlich-zukünftigem Glück ließ sich auf die dialektische Figur der lutherischen Rechtfertigungslehre – peccator in re iustus in spe – abbilden. 6. Mit der Figur des Gegenglücks (Claussen) konnten diejenigen Momente in den Blick kommen, die gleichsam eine glücksimmanente Asketik bedeuten. Vorläufige Glücksoptionen unterliegen im Ausgreifen auf das dem Menschen wesentlichere Glück der Relativierung, ohne dass sie jedoch einer vollständigen Sublimierung unterlägen. Die leiblich-sinnliche Dimension von Glück behält ihr Recht. Jedoch kommen Ethik und Religion als eigentliche Erfüllungsgaranten von wahrem Glück zur Geltung. Glück als höchste Erfüllungskategorie von Lebensführung lässt höhere Daseins‑ und Deutungsmodi nicht dem einfachen Aussein auf Lust und Vergnügen zum Opfer fallen, sondern lässt umgekehrt Lust‑ und Erfüllungsmomente an ihnen deutlich werden. Selbst Momente des Selbstvergessens im ethischen Lustaffekt am Wohl des Anderen wie auch im religiösen Affekt der Ehrfurcht vor Gott können als Glück gewärtig werden.
4. Anthropologie der Menschenwürde
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Gegen den möglichen Vorwurf, eine Anthropologie und Theologie des Glücks reduziere den Menschen auf sein Selbstsein und sei daher solipsistisch, hat Spaldings moralphilosophische Vertiefung des Glücksbegriffs deutlich gemacht, dass das Glück des Einzelnen nicht ohne dessen Sozialität zu haben ist: Wer sein Glück sucht, sucht auch das Wohl und das Glück des je Anderen. Der glückliche Mensch fragt nicht nur nach sich selbst (sua quaerere) und ist nicht auf Selbstliebe beschränkt (amor sui). Und auch auf der Stufe religiöser Selbst‑ und Weltdeutung und damit im Wissen, ein Teil der Welt sowie durch einen unbedingten Grund begründet zu sein, wird der Mensch aus seiner isolierten Selbstperspektive herausgehoben und sich seiner Bedürftigkeit nach Vorsehung, Akzeptanz, Erlösung und Versöhnung bewusst.
4. Anthropologie der Menschenwürde Der Menschenwürdebegriff hat es seit ca. 30 Jahren geschafft, sich in vielen ethischen, rechtlichen und politischen Debatten als Fundamentalkategorie zu etablieren. Als verfassungsrechtliche Prämisse, anthropologische Wesensbestimmung des Menschen und ethische Grundnorm scheint sie über eine unbegrenzte argumentative Reichweite zu verfügen, wenn letzte Prinzipien persönlichen oder staatlichen Handelns in Frage stehen. Wenn es um grundsätzliche Standards menschlichen Zusammenlebens wie auch um Grenzfragen des Menschseins geht, scheint der Begriff der Menschenwürde zunehmend an ideenpolitischer Brisanz zu gewinnen. Wer seine Position unantastbar machen will, greift schnell auf die Unantastbarkeit dieser verfassungsrechtlichen Metanorm zu, um gleichsam die Tabuisierung der humanen Würde für die eigene Argumentation in Anspruch zu nehmen. „Man zieht den Würdejoker, um der eigenen Position die Aura unüberbietbarer verfassungsrechtlicher Legitimität zu verschaffen.“142 Diese Kategorie ist damit in besonderer Weise in Gefahr, im Deutungskampf überdehnt und machtpolitisch missbraucht zu werden. Wenn irgend möglich werden oder sind an diesen Debatten auch protestantische Theologen, kirchliche Würdenträger und Gremien beteiligt. Dabei verblüfft sowohl die Selbstverständlichkeit der Inanspruchnahme, die begriffliche Flexibilität im Umgang mit dem Würdebegriff als auch der exklusive Anspruch ihrer Anwaltschaft. Nicht selten wird der Eindruck vermittelt, dass es ohne die christliche Theologie und Kirche resp. ihre katholischen und auch protestantischen Gestalten schlecht um die Würde des Menschen bestellt wäre. Dabei gehört es zur gängigen Argumentation, dass ohne eine theologische Begründung die Würde des Menschen unterbestimmt sei. So fällt nicht selten dem eigenen Deutungs142 Graf,
Missbrauchte Götter, S. 178.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
anspruch gerade die Grundidee des verfassungsrechtlichen Würdebegriffes aus Art 1 GG zum Opfer, da nämlich die Universalität der Menschenwürde an ihrer formalen verfassungsrechtlichen Begründung hängt. Dass in dessen Auslegungs‑ und Kommentierungsgeschichte seit 1949 der freiheitstheoretische Würdebegriff Immanuel Kants eine herausragende Rolle gespielt hat und bis heute spielt, indiziert das Bemühen um eine formale, rationale, universalistische und nichttheologische Fassung. Friedrich Wilhelm Graf hat deshalb zu Recht darauf hingewiesen, dass „Verfassungsjuristen hier die primäre Auslegungskompetenz zukommt“ und dass jedwede Inanspruchnahme des Würdebegriffs vonseiten der Vertreter nichtjuristischer Deutungskulturen aufgrund seines verfassungsrechtlichen Primates die Standards grundrechtlicher Begründungsmuster „konstruktiv zur Kenntnis nehmen“143 müsse. Die verfassungsrechtliche Debattenlage ist jedoch durch deren eigene metaphysische und konfessionelle Aufladungen in den letzten Jahren nicht einfacher geworden.144 Damit wird gleichsam dem Beteiligungsbemühen vonseiten anderer, auch der Kirchen und ihrer Theologen, zugearbeitet und etwas Wesentliches deutlich gemacht: Neben der Begründung der Geltung des Art 1 GG wird immer auch die Genese des Menschenwürdebegriffs und wiederum der mit ihr verbundene Deutungsanspruch eine Rolle spielen. Auch aus diesem Grunde kann die Deutungshoheit nicht allein beim Verfassungsrecht liegen. Vielmehr bedarf es einer rechts‑ und philosophiehistorischen Begriffsgeschichte, kulturwissenschaftlicher Reflexionsarbeit und eben auch der Mitarbeit kirchlicher und akademischer Theologie. Hinzu kommt die Notwendigkeit, die Menschenwürde auch im Allgemeinbewusstsein ihrer Träger mental zu verankern, wofür die christlichen Kirchen mitverantwortlich zeichnen. Beides zusammengenommen, die historische Reflexion wie auch die ethisch-religiöse Stabilisierung letzter Grundwerte, stellt die Voraussetzung dar, von denen der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde im Blick auf die staatliche Durchsetzbarkeit ihrer vorerst nur formalen Grundordnung spricht.145 Einfacher gesagt: Recht resp. Grundwerte bedürfen als Voraussetzung einer tragfähigen Rechts- resp. Wertegesinnung. Will die protestantische Theologie und wollen die protestantischen Kirchen hier ihren notwendigen Beitrag leisten, so können sie das nur dann glaubwürdig tun, wenn sie sich ihrerseits mit ihrer gebrochenen – speziell protestantischen – Geschichte mit dem Menschenwürdebegriff kritisch und konstruktiv auseinandersetzen. Historisch-kritisch, im eminenten Sinne des Wortes, hätte ein protestantischer Versuch einer Theologie der Menschenwürde zunächst zur Kenntnis zu nehmen, dass sowohl der christentumsgeschichtliche wie auch der protestanti143 Vgl. 144 Vgl.
ebd., S. 180. ebd., S. 180 ff.; vgl. Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts,
S. 346. 145 Vgl. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, S. 212.
4. Anthropologie der Menschenwürde
471
sche Traditionsstrang eines positiven Zugangs zum Menschenwürdebegriff sehr dünn ist. In der einschlägigen Forschungsliteratur werden immer wieder für die vorreformatorische Zeit der altkirchliche Platonismus und die christliche Renaissancephilosophie146, für die protestantisch-lutherische Theologiegeschichte Immanuel Kant und dann erst wieder die Debatten seit den 1960er Jahren, die 1985 in die Demokratiedenkschrift der EKD eingemündet sind, sowie die aktuellen ethischen Diskurse um Grenzfragen menschlichen Handelns genannt. Die Bemühungen evangelischer Selbstversicherungen in Sachen Menschenwürde haben jedoch auch gezeigt, dass schon im sozialen Protestantismus des späteren 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Debattenkontexten der Terminus oder die Sache der Menschenwürde im Ringen mit anderen anthropologischen Leitbegriffen wiedergewonnen wurde, wenngleich nur am Rande und nicht im kirchlich-theologischen Mainstream.147 Die These von Scheliha, „zwischen der kantischen Freiheitsphilosophie und der gegenwärtigen theologischen Konjunktur des Begriffs der Menschenwürde … klafft eine historische ‚Lücke‘ “, wäre also von ihm selber her zu relativieren sowie insofern zu ergänzen, dass auch zwischen Renaissance und Kant eine noch größere Lücke sich auftue, in der auch die reformatorische Theologie ihren Ort hat. Gleichsam jenseits theologiegeschichtlicher Verifikationsbemühungen fällt ein breiter Rückgriff auf den alttestamentlichen Topos der Gottebenbildlichkeit auf, der in theologisch-kirchlichen Statements zu ethischen Diskussionen immer wieder bemüht wird, ja geradezu ein „Epitheton ornans des Menschenwürdebegriffs“148 darstellt. Sieht man einmal von der unmittelbar mit dem biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit selbst aufgegebenen Interpretationsnotwendigkeit und Uneindeutigkeit wie auch von der christologisch-soteriologischen Vermittlungskonstruktion im Neuen Testament bei Paulus ab149, so müsste eine protestantische Menschenwürdekonzeption zunächst den historischen Sachverhalt zur Kenntnis nehmen, dass die gottebenbildliche Begründung der dignitas hominis ihre theologie‑ und christentumsgeschichtlichen Wurzeln im altkirchlichen Platonismus sowie in der Renaissancephilosophie hat, die beide mit dem lutherisch-reformatorischen Vorbehalt gegenüber dem Gottebenbildlichkeitsgedanken wenig gemein haben. Es stellt sich also in dogmengeschichtlicher und letztlich protestantismustheoretischer Sicht die grundsätzliche Frage, inwieweit die reformatorische Restriktion der imago Dei auf den status integritatis einem ungebrochnen und problemgeschichtlich unreflektierten Rückgriff auf die Gottebenbildlichkeitsvorstellung konträr gegenübersteht. Oder anders gesagt: Eine protestantische Begründung der Menschenwürde über die Gottebenbildlichkeit 146 Vgl.
Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, S. 352–357. Scheliha, Menschenwürde, S. 246–261. Zur Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. auch Sparn, Aufrechter Gang, S. 237–241. 148 Anselm, Rechtfertigung und Menschenwürde, S. 474. 149 Vgl. dazu: Gielen, Grundzüge paulinischer Anthropologie. 147 Vgl.
472
VI. Systematische Anschlussüberlegungen
verursacht das dogmatisch-anthropologische Folgeproblem, zunächst die Gottebenbildlichkeit als unverlierbare Wesensbestimmung des Menschen begründen zu müssen. Dabei reicht es nicht aus, auf die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese von Gen 1–3 resp. Gen 1–9 zu verweisen150, die gegen die gemeinmittelalterliche und v. a. augustinisch-lutherische Tradition der postlapsarischen teilweisen oder absoluten Verlorenheit der Gottebenbildlichkeit zur Geltung gebracht haben, dass diese Hoheitsprädikation keineswegs für den Garten Eden reserviert ist, sondern dem Menschen auch außerhalb des Paradieses noch zukommt (vgl. Gen 5–9)151. Vielmehr bedürfte es darüber hinaus einer komplexen wie kritischen Auseinandersetzung mit der protestantischen Anthropologie und Soteriologie als ganzer. Abgesehen von den systematischen Folgeproblemen einer gottebenbildlichen Grundierung eines evangelischen Menschenwürdekonzeptes verfügt die schöpfungstheologisch-anthropologische Figur der Gottebenbildlichkeit über eine Universalitäts‑ bzw. Allgemeingültigkeitsqualität, die alleine dem „universalistischen Charakter der Menschenwürde“152 adäquat und damit anderen spezifisch christlichen Deutungsfiguren (soteriologische Figuren wie Taufe und Rechtfertigung etc.) weit überlegen ist. Darauf wird weiter unten zurückzukommen sein. Dagegen haben jedoch v. a. Wilfried Härle153, Walter Sparn154 und Rainer Anselm155 mahnend darauf insistiert, dass mit einer unkritischen Begründung der Menschenwürde durch die Gottesebenbildlichkeit die „Unvollkommenheit und die Angewiesenheit auf das gnädige Handeln Gottes“156 verdrängt würde und in eins damit der evangelische Grundgedanke der Rechtfertigungsbetroffenheit sündigen Menschseins. Gerade im Kontext bio‑ und medizinethischer Debatten um den Menschwürdestatus ungeborenen Lebens resp. „unvollkommenen“ Menschenlebens werde – so Anselm – evident, dass über konkrete Wesensmerkmale wie Vernunft, Freiheit und eben die darauf fußende Gottebenbild-
150 Wie
bspw. Gräb-Schmidt, Einführung, S. 7 f. Die Anfänge liegen im 18. Jahrhundert: vgl. Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion [Müller], S. 198–234 [Vom Sündenfall]; vgl. Michaelis, Gedanken über die Lehre der heiligen Schrift von der Sünde; vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon; vgl. diverse Abhandlungen aus: Töllner, Theologische Untersuchungen; vgl. Gerstenberg, Eden, das ist Betrachtungen über das Paradies und die darin vorgefallenen Begebenheiten; vgl. Rosenmüller, Erklärung der Geschichte vom Sündenfall; vgl. Eichhorn, Urgeschichte: Repetitorium für biblische und morgenländische Literatur; vgl. Eifert, Untersuchung der Frage. – Zu neueren Darstellungen vgl. bspw. Metzger, Die Paradieserzählung. 152 Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, S. 370. 153 Vgl. Härle, Der Mensch Gottes, S. 540 f.; Ders., Ethik, S. 150. 154 Vgl. Sparn, Aufrechter Gang, S. 245. 155 Vgl. Anselm, Die Würde des gerechtfertigten Menschen; Anselm, Rechtfertigung und Menschenwürde. 156 Ebd., S. 474. 151
4. Anthropologie der Menschenwürde
473
lichkeit keine Begründung der dignitas hominis gehen könne. Mit solchen „aufklärerischen Gedanken“157 sei nicht weiterzukommen. Eingedenk dieser Vorbehalte sowie vor dem Hintergrund der katholischen Dominanz in der Auslegungsgeschichte des Art. 1 GG nach 1949158 solle die Menschenwürde rechtfertigungstheologisch begründet werden und damit eine Kontinuität zur reformatorischen Theologie hergestellt werden. Jedoch auch hier bürdet man sich die Last einer Umdeutung des Rechtfertigungsgedankens auf, denn der genuine Grundgedanke Luthers war es ja, dass der Sünder – der gerade nicht über Würde verfügt159 – gerechtfertigt werden muss. Würdig ist allein Christus und exklusiv der gerechtfertigte Christ. Vor allem jedoch die Differenz der Relationen beider Reflexionskategorien spricht eher für eine Vorsicht im Transfer des von der Beziehung Gottes zum Menschen her operierenden Anerkennungsbewusstsein des Rechtfertigungsglaubens auf den zunächst interpersonal-sozialen Beziehungshorizont der rechtlichen und ethischen Achtung der Menschenwürde. Nachdenkenswert scheint mir lediglich der von Arnulf von Scheliha entwickelte einschlägige Gedanke, dass der unendliche Wert der menschlichen Seele und die Freiheit durch die göttliche Rechtfertigung wiederhergestellt seien und damit – so ließe sich schlussfolgern – eine interpersonale Behaftung des Menschen bei seiner Unvollkommenheit gerade nicht statthaft sei.160 Zudem könnte der gedankliche Wert der Rechtfertigungslehre und der ihr zugrundeliegenden Sündenanthropologie für die Idee der Menschenwürde einerseits darin bestehen, dass ihre Achtung und Annerkennung unabhängig von der moralisch-religiösen Integrität des Würdeträgers gelten muss (virulent v. a. in der Debatte um das Folterverbot), andererseits darin, dass der normative Charakter des Achtungsgebotes der Menschenwürde – sowohl als ethische wie auch juridische Norm – als kontrafaktische Anmutung natürlich davon ausgeht, dass Menschenwürde unter den Bedingungen endlich-moralischer Subjekte auch verletzt wird und gleichsam sündenanfällig ist. Damit soll lediglich der Problemhorizont einer am Gottebenbildlichkeits‑ und Rechtfertigungsgedanken orientierten Begründung der Würde des Menschen benannt sein, wodurch jedoch eines deutlich wurde: Die notwendige selbstkritische Aufarbeitung des gebrochenen Verhältnisses des Protestantismus zum Konzept der Menschenwürde ist damit noch nicht einmal umschifft, sondern vielmehr umso dringlicher geboten. 157 Ebd.,
S. 478. ebd., S. 473 f. 159 Vgl. die Ausführungen von Hamm, Die Stellung der Reformation, S. 191. – Es sei an die bekannte Formulierung Luthers aus seinem Kleinen Katechismus erinnert, in dem die Rechtfertigung durch Gott „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte, Barmherzigkeit ohn alle mein Verdienst und Wirdigkeit [ex mera sua paterna ac divina bonitate et misericordia sine ullis meis meritis aut ulla dignitate]“ komme (Luther, Kleiner Katechismus [Der Glaube, erster Artikel], S. 511). 160 Vgl. Scheliha, Menschenwürde, S. 263. 158 Vgl.
474
VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Aufgrund dieses eher negativen Befundes verwundert es, dass ein Rückbezug auf diejenige protestantische Epoche in der neueren Forschungsliteratur nur spärlich wahrzunehmen ist, die noch vor und neben Kant der Würde des Menschen anthropologisches, religionsphilosophisches und ethisches Gewicht gegeben hat, nämlich der Aufklärungstheologie resp. der Neologie. Neben einigen wenigen Aufsätzen, die sich nur am Rande mit dem Menschenwürdebegriff der Aufklärungstheologie befassen161, sticht nur die Studie Walter Sparns heraus, die die „Menschenwürde als Thema der Aufklärung“162 namhaft macht. Er rekurriert u. a. auf Johann Gottfried Herders Umbildung der Gottebenbildlichkeitsvorstellung zu einem teleologischen Bildungsauftrag zur Humanität sowie eben auch auf Spaldings sittliche Bestimmung des Wertes und der Würde des Menschen. Würde werde hier lediglich als anthropologisch begründete praktisch-religiöse Qualität zur Geltung gebracht, die auf der Willensfreiheit, Vervollkommnungs‑ und moralischen Empfindungsfähigkeit gründe. Sie konstituiere sich als Selbstzuschreibung und Motiv moralischer Selbstmotivation. Von Menschenwürde im rechtlich-politischen bzw. menschenrechtlichen Sinne sei hier noch nicht die Rede.163 Damit sind einige wichtige Aspekte des Würdebegriffs Spaldings benannt, der jedoch für ein theologisch-systematisches Konzept einer Würde des Menschen weitaus mehr austrägt, was im Folgenden gezeigt werden soll, ohne auch hier noch einmal die textexegetischen Analysen zur Bestimmungsschrift zu wiederholen (vgl. V.6). Vier Aspekte seien hervorgehoben: 1. Zunächst sei ein Gedanke Sparns aufgegriffen, um ihn zugleich zu vertiefen. Der Beitrag der Aufklärung zur Genese des Menschenwürdebegriffs bestehe darin, ihn als anthropologisches und ethisches Grundprinzip etabliert zu haben und eben noch nicht als Rechtskategorie. Dies trifft im Blick auf Spalding fraglos zu. Damit steht Spalding in der Tradition des Menschenwürdebegriffs, der zunächst ausschließlich als anthropologische und ethisch-religiöse Reflexionskategorie gedacht war. Abgesehen von Anklängen an die Menschenwürde im Kontext der frühen Verfassungstexte der USA zu Ende des 18. Jahrhunderts und in französischen Rechtsdeklarationen im Kontext der Französischen Revolution hat es der Terminus der Würde des Menschen erstmals in der Weimarer Reichsverfassung von 1919, in einer faschistischen Verfassung Portugals von 1933 und dann in der Verfassungspräambel Irlands aus dem Jahr 1937 zu verfassungsrecht161 Vgl. Benrath, Menschenbild; Gräb, Religion der freien Einsicht. – Auch Friedrich Wilhelm Graf bezieht sich im Kontext seiner Überlegungen zum ‚theologischen Anthropologie-Diskurs‘ der Aufklärung auf die Verknüpfung des Nachdenkens über die Bestimmung und Würde des Menschen bei Spalding und bei dem reformierten Georg Joachim Zollikofer (vgl. Graf, Missbrauchte Götter, S. 99–101). 162 Sparn, Aufrechter Gang, S. 223. 163 Erst Carl Friedrich Bahrdt habe begonnen, die Menschenwürde und die Menschenrechte als politische Rechte theologisch zu begründen (vgl. ebd., S. 232–234).
4. Anthropologie der Menschenwürde
475
lichem Rang gebracht164. Bis dahin war der Würdebegriff als Terminus des Rechts völlig ungebräuchlich, auch bei Kant. Für eine protestantisch-theologische Konzeption der Menschenwürde ist dieser historische Sachverhalt insofern von Relevanz, weil im aktuellen deutschen Diskurs um eine theologische Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte beinahe ausschließlich Bezug auf den grundrechtlichen Würdebegriff in Art. 1 GG genommen wird und damit die Reichweite theologischer Reflexionsarbeit am Menschenwürdebegriff verkürzt wird. Weil der grundgesetzliche Würdebegriff in erster Linie ein Abwehr‑ und Schrankenrecht gegenüber staatlichen Gewalten darstellt und als Norm an diese adressiert ist, müsste eine theologische Begründung sich eigentlich im Bereich der Staatstheorie und politischen Ethik engagieren. Erst über den allmählichen Statusgewinn einer Schutzverpflichtung des Staates für die Rechtsträger der Menschenwürde hat sich nach und nach und vor allem im Zusammenhang konkreter ethischer Debatten der Kreis der Normadressaten auf potentiell alle Menschen ausgeweitet. Als Grundwert der Verfassung betrifft er mehr und mehr den gesamten Bereich sozialen Zusammenlebens. Oder kurz gesagt: Jeder Bürger resp. jeder Mensch im Einzugsbereich des Grundgesetzes hat die Würde eines je anderen Menschen zu achten. Und genau hier hat die Theologie und haben die Kirchen die wichtige Funktion einer Mitwirkung an der Stabilisierung eines Verfassungsethos bzw. einer diesbezüglichen Rechtsgesinnung und an der Abstützung inhaltlicher Bestimmungen der Menschenwürde durch eine christentums‑ und theologiegeschichtliche Verifizierung wie auch durch kirchliche Bildungsarbeit. Jedoch darin geht ihre Aufgabe nicht auf, und bereits der Begriff des Verfassungsethos und der Rechtsgesinnung macht deutlich, dass sich die Aufgabe der Theologie im Bereich des Vorrechtlichen befindet. Dabei hat sie nicht nur im engeren Sinne an einer verfassungsethischen Legitimierung mitzuwirken, sondern – so unsere These – grundsätzlich das Prinzip der Menschenwürde als sozialen Grundwert zu begründen. Spaldings anthropologische, ethische und religiöse Konzeption des Wertes und der Würde des Menschen betrifft denn auch ausschließlich diesen weiteren Horizont. Erst eine ethisch-religiöse Vergewisserung über die tragenden Leitideen jenseits ideenpolitischer, deutungspolitischer und gesellschaftsfunktionaler Interessen und jenseits konkreter ethischer Diskussionen kann eine wirklich tiefgegründete subjektive Verbindlichkeit der Würde und des Wertes des Menschen vermitteln. Mit dem Wertbegriff ist der Begriff gefallen, der für Spaldings Würdekonzept grundlegend ist. 2. Spalding verwendet den Wert‑ und Würdebegriff wechselweise, wobei der Wertbegriff quantitativ überwiegt. Auch wenn immer wieder angemahnt wird, dass ein Import von Wertesemantik in den Würdebegriff diesem abträglich sei, 164 Vgl.
Tiedemann, Was ist Menschenwürde, S. 13.
476
VI. Systematische Anschlussüberlegungen
weil damit eben auch die Differenz von wert und unwert mitgebucht165 sowie der Zuschreibungsstatus der Würderelation zuungunsten des Vorgegebenheitscharakters der Würde überbetont werde166, befindet sich Spalding mit der werttheoretischen Fassung seines Würdekonzeptes in bester Gesellschaft. Denn bekanntlich hat auch Kant die Würde formal über den Wertbegriff definiert: Würde sei ein absoluter – kein relativer – Wert und hat mithin auch keinen Preis. Dass es sich bei Spalding und dann bei Kant um keinen Ökonomisierungsversuch des Menschenbildes handelt, dürfte selbstverständlich sein.167 Ganz gegen diese wertkritischen Befürchtungen verfügt gerade der Wertbegriff über eine dichte und kritisch-konstruktive Anschlussfähigkeit nicht nur an Kants Wertbegriff, sondern darüber hinaus an Hegels, Albrecht Ritschls und Adolf von Harnacks Figuren des unendlichen Wertes der Menschenseele168, an den kulturwissenschaftlichen Wertbegriff des Südwestdeutschen Neukantianismus (Rickert, Windelband u. a.)169, an die eher konservative wertphilosophische Begründung des verfassungsrechtlichen Menschenwürdebegriffs seiner frühen juristischen wie verfassungsrichterlichen Interpretationsgeschichte nach 1949 sowie an neuere werttheoretische Deutungsansätze des Verfassungsrechts und deren Anknüp165
Vgl. Grafs diesbezügliche Einlassungen in: Graf, Missbrauchte Götter, S. 100; vgl. Gadamer, Die Menschenwürde, S. 95. 166 Vgl. Herms Einwände gegen eine werttheoretische Fassung des Würdebegriffs bei Herms, Menschenwürde, S. 89–95. 167 Wir haben darauf verwiesen, dass Spaldings Wertbegriff keinerlei Anleihen bei einem ökonomischen Wertbegriff genommen hat, der sich ohnehin erst im späten 18. und dann im 19. Jahrhundert entwickelte, sondern vielmehr auch hier Shaftesbury im Hintergrund steht und zwar mit dem Terminus „worth“, der im Deutschen mit Wert und Würde zu übersetzen und vom englischen Terminus „value“ abzuheben ist, der eher den ökonomischen Wert von Waren benennt. Ein ideologiekritischer und begriffspolitischer Verdinglichungsverdacht, wie ihn bspw. Adorno für den Wertbegriff pauschal wie kritisch reklamiert hat, ist daher für Spaldings Wertbegriff unzutreffend (vgl. Adorno, Der Positivismusstreit, S. 74 ff.). 168 Arnulf von Scheliha hat in seiner Studie zur Menschenwürde gezeigt, dass der Begriff der christlichen Freiheit als unendlicher Wert der Menschenseele im liberalen Protestantismus im Anschluss an Hegels Kant-Deutung als Konkurrenzbegriff zum Menschenwürdebegriff in Stellung gebracht wurde und dass diese ideenpolitische Konkurrenz durch die Besinnung auf den ideengeschichtlichen und begrifflich-systematischen Zusammenhang von Freiheit resp. Wert und Würde erst nach und nach wieder überwunden wurde (vgl. Scheliha, Menschenwürde, S. 254–261). Durch Harnacks Übertragung des Diktums des unendlichen Wertes der Menschenseele auf die Anthropologie Jesu von Nazareths wurde eine Tür geöffnet, die Sache der Menschenwürde ideen‑ und christentumsgeschichtlich auch auf die Reich-Gottes-Predigt Jesu zurückzuführen. Dies ist m. E. die einzig legitime Form einer christologischen resp. jesuanischen Begründung des Würdewertes des Menschen, weil sie in Analogie zur schöpfungstheologischen Gottebenbildlichkeitsvorstellung ihrerseits universalistisch angelegt ist (vgl. Harnack, Wesen des Christerntums, 43 ff.). Die Vermittelbarkeit beider Traditionen erhellt aus folgendem Satz Ulrich Barths: „Der Glaube an die Würde des Menschen als einen von Gott verliehenen unendlichen Wert ist das anthropologische und ethische Grunddatum des neuzeitlichen Christentums.“ (Vgl. Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, S. 370.) 169 Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 219–225.
4. Anthropologie der Menschenwürde
477
fung an aktuelle Grundwertedebatten170. Letztere machen deutlich, dass sich sowohl ein rechtstheoretischer wie auch ein ethischer Menschenwürdebegriff im Kontext eines Diskurses über ein gemeinsames Ethos von Grundwerten zu bewähren haben, das als ethische Legitimationsbasis eines je konkreten Menschenwürdebegriffs fungieren können muss. Ein Ethos der Grundwerte kann auch als Surrogat einer naturrechtlichen Menschenwürdebegründung in einer pluralistischen Diskurskultur verstanden werden; insofern wäre eine werttheoretische Begründung der Würde des Menschen auch an diese alteuropäische Denktradition anschlussfähig. Viel schwerer als diese Argumente für die Anschlussfähigkeit eines werttheoretischen Würdebegriffs wiegt jedoch der geltungstheoretische Aspekt, der mit dem Wert‑ in den Würdebegriff eingetragen werden kann. Werte verfügen oder konstituieren sich über ihr In-Geltung-Stehen, welches sich immer subjektiv durch Abwägung, Beurteilung und Anerkennung begründet.171 Gegen jedwedes Beschwören des Vorgegebenheitscharakters und Faktischen der Menschenwürde172 ist damit der Wertbegriff in der Lage, die subjektive Anerkennungsbetroffenheit der normativen Gültigkeit der Würde des Menschen ins Problembewusstsein der Würdedebatte zu heben.173 Dabei geht es gerade nicht darum, die Achtung der Menschenwürde einer diskursiven Dauerreflexion anheimzugeben; vielmehr hat Spaldings Würdekonzept gezeigt, dass sich das subjektive Bewusstsein eines Wertes durchaus auf einer „vordiskursiven Überzeugungsebene“174 abspielt und damit den Gewissheitsstatus von Grundüberzeugungen inne hat, die ähnlich wie ästhetische (Wert)urteile so etwas wie subjektive Allgemeinheit beanspruchen. 3. Neben der werttheoretischen Begründung des Würdebegriffs verfügt auch Spaldings Integration seines Wert‑ und Würdebegriffes in ein Konzept der Bestimmung des Menschen über eine problemgeschichtliche Verankerung wie auch über ein hohes Plausibilisierungspotential, und dies aus drei Gründen:
170
Vgl. Vögele, Menschenwürde, S. 324–336. Vgl. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 201. 172 Vgl. v. a. Hermes, Menschenwürde, S. 89–96; vgl. Härle, Ethik, S. 235 f. – Härle verwechselt die je individuelle Zuschreibung von Menschenwürde mit ihrem prinzipiellen interpersonalen Deutungs‑ und Anerkennungscharakter. Während die erstere in der Tat abzulehnen ist, wenn sie sich auf bestimmte aktuale Subjektseigenschaften gründet, handelt es sich mit dem zweiten Aspekt um ein Strukturmoment kulturell vermittelter anthropologischer, religiöser, ethischer wie auch rechtlicher Selbstinterpretationen des Menschen. Wäre dies nicht so, wäre die interkulturelle und anwendungsethische Menschenwürdedebatte ein gehöriges Problem los. 173 Auch Schnädelbach plädiert aus werttheoretischen Gründen für einen Zuschreibungsstatus der Menschenwürde: „Würde findet man nicht vor, sondern man schreibt sie zu auf der Grundlage von Bewertungen feststellbarer Tatsachen – und das führt manchmal zu dem Aberglauben, Würde sei selber eine simple feststellbare Tatsache.“ (Schnädelbach, Werte und Würde, S. 30.) 174 Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, S. 368. 171
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
a) Mit der Integration in ein Konzept der Bestimmung des Menschen verfügt ein wie auch immer in der Sache gefasster Begriff der Würde des Menschen über den denkbar weitesten Reflexionsrahmen. Das Bewusstsein der eigenen Würde und des eigenen Wertes ist vermittelt durch den je eigenen Selbstdeutungsprozess unter dem Leitgesichtspunkt der Bestimmung des Menschen. Wenngleich in materialer Hinsicht das Glück als letzte Erfüllung der Selbst-Bestimmung und mittelbar die Moralität und Religion als Bestimmungshinsichten gelten, so stellt auch der Wert des Menschen als ein mit der Empfindung moralischen und religiösen Glücks einhergehendes Hoheits‑ oder eben Würdebewusstsein ein wesentliches Begleitmoment dar: Der Mensch ist nach Spalding auch zur Würde bestimmt. Da auch die renaissancephilosophischen Dignitas-Traktate nicht explizit, aber der Sache nach von der Frage nach der anthropologisch-teleologischen Bestimmung des Menschen ausgehen, steht Spaldings Würdekonzept in dieser ideengeschichtlichen Tradition. Ähnliches trifft auf Kants Würdekonzept zu, der die Würde des Menschen im Kern in der „Anlage und Bestimmung zum Gebrauch der Freiheit“175 erblickt. Mit dem systematischen Ausgang beim Konzept einer Bestimmung des Menschen und dem Verzicht auf jedwede christlich‑ bzw. konfessionelltheologische Begründung verfügt die Würde des Menschen nicht nur über einen anthropologischen Reflexions‑ und Plausibilisierungshorizont, sondern damit auch über ein Höchstmaß an universaler Geltung. b) Auch wenn der Begriff der Gottebenbildlichkeit für Spalding keine Rolle spielt, kann von einer bestimmungslogischen Konzeption einer Theorie der Würde des Menschen unschwer ein Brückenschlag zur Tradition einer Begründung der Menschenwürde über die Gottebenbildlichkeitsvorstellung geschlagen werden. Es war v. a. Wolfhart Pannenberg, der in unterschiedlichen Erörterungskontexten zur Entwicklung des Gottebenbildlichkeitsgedankens in der neueren (evangelischen) Theologiegeschichte darauf insistiert hat, dass bei Johann Gottfried Herder die Gottebenbildlichkeit nicht dem Menschen als solchem eignet, sondern in seiner Bestimmung zur Humanität allererst realisiert werden muss, innerhalb derer Moralität und Religion eine gewichtige Rolle spielen176. Damit bewegt sich Herder in einer Linie, die bereits im altkirchlichen Platonismus und in der christlichen Renaissancephilosophie mit deren Amalgamierung der alttestamentlichen Rede vom Bild Gottes mit der platonischen Figur der teleologischen Gottverähnlichung (homoiosis to theo) zu ziehen begonnen wurde. Die Gottebenbildlichkeit wird allererst im Prozess der Gottverähnlichung des Menschen aus ihrem Anlagecharakter zu ihrer Bestimmung geführt. Spalding kann in diese Linie deshalb gestellt werden, weil er, worauf wir hingewiesen haben (vgl. 175 Ebd., S. 359. – Zur Orientierung der Vorkommnisse der Begriffe Bestimmung (des Menschen), Würde des Menschen und Endzweck im Werk Kants vgl. die entsprechenden Lemmata in Eisler, Kantlexikon. 176 Vgl. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen; vgl. ders., Anthropologie, S. 40–57.
4. Anthropologie der Menschenwürde
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v. a. V.8.1), den Gedanken der Gottverähnlichung von Shaftesbury übernommen und damit über diesen Umweg den Gottebenbildlichkeitsgedanke indirekt integriert hat. Insofern die Gottverähnlichung sich als Prozess der Moralität und Religion resp. Unsterblichkeit vollzieht, steht sie auch bei Spalding in einem systematischen Zusammenhang mit seinem Wert‑ und Würdekonzept. Diese aufklärungstheologische Transformationsgestalt der Gottebenbildlichkeitsidee samt ihrer Kritik an der lutherischen Sündenanthropologie wäre in der Lage, für eine protestantische Theologie der Menschenwürde zur Geltung gebracht zu werden. c) Schließlich ist Spaldings Gedanke der Bestimmung zur Würde an aktuelle diesbezügliche Versuche anschlussfähig, an denen zugleich eine Grenze von Spaldings Würdebegriff deutlich gemacht werden kann. Neben Gräb-Schmidts Versuch, die naturrechtliche Begründung der Menschenwürde für einen protestantischen Menschenwürdebegriff unter dem Titel „Würde als Bestimmung der Natur des Menschen? Theologische Reflexionen zu ihrem (nach‑) metaphysischen Horizont“177 zu repristinieren, hat jüngst Wilfried Härle in seiner Ethik dem Bestimmungsbegriff als umfassendem Leitbegriff auch hinsichtlich seiner Überlegungen zur gottebenbildlich begründeten Menschenwürde einige Bedeutung eingeräumt: „Die Bibel und die christliche Lehre sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass der Mensch zum Ebenbild Gottes geschaffen ist, d. h. nicht mit gleichen Eigenschaften ausgestattet, sondern zu Gottes Gegenüber und Beauftragten auf der Erde bestimmt ist. Das verleiht dem Menschen eine unverlierbare und unantastbare Würde.“178 Härle schärft verschiedentlich ein, dass, „[w]enn Menschenwürde nur insofern und insoweit als gegeben angenommen werden könnte, wie die Bestimmung des Menschen individuell realisiert ist, dann wäre die Anerkennung und Achtung der Menschenwürde abhängig davon, ob diese Realisierung für andere Menschen erkennbar wird und diese daraufhin das Vorhandensein von Menschenwürde konstatieren.“179 Die Würde muss unabhängig von der Realisierung der Bestimmung des Menschen am Orte eines je anderen Menschen geachtet werden. Diese Einsicht ließe sich auf der einen Seite als Kritik an Spaldings Verknüpfung von Bestimmung und Würde verstehen, da er in der Tat dem reflektierenden Ich die Würde erst bewusst werden lässt, wenn er sich als moralisches und religiöses Subjekt erlebt. Auf der anderen Seite kann Spaldings Konzept auch so gelesen werden, dass es ihm an keiner Stelle um die Achtung der Würde eines je anderen Menschen zu tun ist, sondern ausschließlich um den selbstreflexiven Entdeckungszusammenhang an der eigenen Person. Als Grund interpersonaler Anerkennung kommt die Würde für ihn nicht in den Blick. Jedoch macht Spalding damit auf einen unaufgebbaren Aspekt von Menschenwürde aufmerksam. Denn die Plausibilität der Anerkennung und Achtung 177 Vgl.
Gräb-Schmidt, Würde als Bestimmung der Natur des Menschen. Ethik, S. 149 f. 179 Ebd., S. 260. 178 Härle,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
der Menschenwürde gegenüber anderen Personen bedarf als mentalen Hintergrund zunächst immer der Besinnung auf die eigene Würde. Zudem verfügt der Begriff der Bestimmung über diejenige begriffliche Dimension, die v. a. in katholischen Menschenwürdekonzepten mit dem Begriff der Potentialität bezeichnet wird. Der Bestimmungsbegriff in seiner teleologischen Fassung reflektiert durch seine Polarität von normativer Potentialität bzw. Kontrafaktizität und Aktualität immer auch seinen Modus des Noch-Nicht-Realisiertseins mit, ohne dass dies notwendig eine anthropologische Abwertung des Bestimmungssubjektes zur Folge haben muss. Man könnte also im Anschluss an Spalding sagen: Nicht nur das seine Bestimmung realisierende Subjekt verfügt über ein Wert‑ und Würdebewusstsein, sondern dieses kann immer auch alle anderen Subjekte dieser Bestimmung unabhängig ihres Realisierungsgrades in ihrer Würde anerkennen, und diese Anerkennung gewinnt gerade durch das je vorgängige eigene Wertbewusstsein an Plausibilität180. 4. Abschließend sei auf Spaldings Korrelation seiner Erbsündenkritik und seines Würdekonzeptes eingegangen. Wir haben bereits im Kontext der Überlegungen zur Gottebenbildlichkeit und rechtfertigungstheologischen Begründung der Menschenwürde die Notwendigkeit herausgestellt, einen protestantischen Begriff von Menschenwürde mit der je eigenen Anthropologie als Ganzer in systematische Übereinstimmung zu bringen. Von verschiedener Seite wurde immer wieder auf den historischen Zusammenhang aufgeklärter Kritik an der reformatorisch-lutherischen Erbsündenanthropologie und der Wiederentdeckung der Würde des Menschen hingewiesen, auch von Ernst Cassirer in seiner Aufklärungsdeutung: „Der tiefe Riß zwischen Renaissance und Reformation, zwischen dem humanistischen Ideal der menschlichen Freiheit und der menschlichen Würde und der Lehre von der Unfreiheit und Verderbnis des menschlichen Willens, ist damit [scil. Kritik des Erbsündendogmas in der Aufklärung resp. Neologie; G. R.] geheilt.“181 Mit dem Fokus auf den Freiheitsbegriff nimmt Cassirer genau den Punkt auf, der auch für Spaldings implizite Erbsündenkritik in der Bestimmungsschrift leitend ist (vgl. V.7.2). Der Wert und die Würde des Menschen, die in der Anlage und Bestimmung des Menschen zur freien Selbstbesinnung auf die der Freiheit gemäßen Lebensführung und ‑deutung sowie die konkrete Bestimmung zur Moralität und Religion ihren Kerngehalt erblickt, ist schlechterdings unvereinbar mit einer Anthropologie der (Erb)sündenlehre, innerhalb derer die notwendige Selbstverstrickungsstruktur der menschlichen Freiheit maßgeblich ist. Spalding hat diesen Zusammenhang gesehen und auf seine Weise gelöst, ohne jedoch dabei einerseits die möglichen 180 Aufgrund des Ansatzpunktes bei der Selbstentdeckungsstruktur eigener Würde ist Spaldings Konzept der rein transzendentalphilosophischen und v. a. pflichtethischen Menschenwürdekonzeption Kants nicht auf der Begründungs-, wohl aber auf der Motivationsebene überlegen. 181 Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 167.
5. Religionstheorie als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit
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Realisierungshemmnisse der humanen Bestimmung wie auch andererseits die Unabhängigkeit der Würdezuschreibung von dem Modus dieser Realisierung aus dem Blick zu verlieren. Er steht beispielhaft für das, was Cassierer für den Beitrag der Neologie für die anthropologische Wende des 18. Jahrhunderts reklamiert, und er markiert zugleich den systematisch-dogmatischen Standard, unter dessen Niveau ein tragfähiger Menschenwürdebegriff nicht zu haben ist: Ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der anthropologischen Tradition des Altprotestantismus hinge der Menschenwürdebegriff gleichsam in der Luft. Dass Spalding damit keineswegs Verrat am Protestantismus übt, ist über eine solche konfessionelle Wesensbestimmung deutlich zu machen, die in der Entwicklung des Christentums zu einer Religion der Freiheit und Anerkennung des unendlichen Wertes der Menschenseele ihren gebündelten Ausdruck findet. In dieser Perspektive ist Cassirers Deutung des in Frage stehenden anthropologiegeschichtlichen Vorgangs zu verstehen, wenn er im Anschluss an das obige Zitat feststellt: „Damit erst ist jene Auffassung des Protestantismus erreicht, in welcher Hegel in seiner Geschichtsphilosophie seine eigentliche Wesenheit und Wahrheit erblickt. Indem er sich mit dem Humanismus versöhnt, ist er zur Religion der Freiheit geworden.“182 Indem Freiheit, Subjektivität und Kritik die lutherische Reformation und die Aufklärung übergreifende Leitideen darstellen183, kann Spaldings Gesamtkonzept wie auch gerade seine freiheitstheoretische Begründung der Menschenwürde und deren erbsündenkritische Prädisposition als legitime Gestalt eines aufgeklärten Protestantismus gewürdigt werden.
5. Religionstheorie als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit Im Prozess der neuzeitlichen Umformungskrise des Christentums spielt die Neologie mit ihrer „Basisarbeit“184 am Religionsbegriff eine zentrale Rolle. Gegenüber ihren frühen aufklärungstheologischen Vorläufergestalten der Physiko‑ und Übergangstheologie sowie des (theologischen) Wolffianismus besteht ihre spezifische Leistung darin, nicht nur die „gröbsten Anstößigkeiten der orthodoxen Kirchenlehre“185 zu beseitigen und damit die Vereinbarkeit wesentlicher Lehrbestände christlicher Theologie mit der Vernunft deutlich zu machen wie auch im Sinne einer Theologia naturalis metaphysische Gottesbeweise zu liefern, sondern vielmehr die Rationalität und Plausibilität von Religion resp. Christentum für die je eigene subjektive Lebensführung zu erweisen. Es wäre jedoch und zumal im Blick auf Spaldings Bestimmungsschrift zu kurz gegriffen, das Wesen 182 Ebd. 183 Vgl.
Barth, Aufgeklärter Protestantismus, S. VII [Vorwort]. Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, S. 246. 185 Barth, Theologia naturalis, S. 145. 184 Beutel,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
seiner Religionskonzeption auf Begriffe wie Moralisierung und Ethisierung oder gar eine Identifizierung von Moral und Religion zu bringen. Eine solche Reduktion würde die Reichweite des mit dem Begriff der Lebensführung gemeinten einseitig verdecken. Denn mit ihm ist nicht nur die im engeren Sinne praktische Seite humanen Lebens angesprochen, sondern das Gesamt von selbst‑ und weltbewusstem Leben im Prozess von Selbst‑ und Weltdeutung. Es geht uns deshalb im Folgenden nicht so sehr um eine Verhältnisbestimmung von Moralität und Religion, auf die Spaldings Religionsbegriff häufig reduziert wird186. Vielmehr soll die Komplexität seines Religionsbegriffes vor dem Hintergrund des aktuellen Religionsdiskurses skizziert werden. Wie bereits bei der subjektivitäts‑ und deutungstheoretischen Interpretation der Bestimmungskonzeption (vgl. oben VI.1) bietet sich auch hier die Religionstheorie Ulrich Barths in besonderer Weise an. Sie soll als systematischer Leitfaden dienen, ohne dass jedoch die hochkomplexen gedanklichen Ableitungen vollständig nachvollzogen werden können.187 Den einen Ausgangspunkt von Barths Theorie des religiösen Bewusstseins bildet der Begriff des Unbedingten, der jedoch bei Spalding expressis verbis keine Rolle spielt und den es deshalb hier auch nicht weiter auszuführen gilt188. Das zweite Konstitutionsmerkmal von Religion stellt ihre Erfahrungsbezogenheit dar, und diese Bezogenheit realisiert sich im Modus der „Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten“189. Spaldings Religionsbegriff erfüllt in besonderer Weise das Kriterium der Erfahrungsbezogenheit. Denn sie betrifft nicht nur ihre affektiv-emotionale Seite190, sondern die Erfahrung ist intentional auf das Selbst und die Welt gerichtet und weist sowohl affektive als auch kognitive und volitive Momente auf. Den Brückenschlag zwischen der abstrakten Idee des Unbedingten und der Bedingtheitssphäre der Erfahrung schlägt Barth unter Rückgriff auf kategoriale Grenzbegriffe des empirischen Verstandes als Schematisierungen der reinen Unbedingtheitsidee, die diese näher bestimmen. Es ergeben sich folgende Reflexionshinsichten des religiösen Bewusstseins, die zum einen die Immanenz-, zum anderen die Transzendenzperspektive zum Ausdruck bringen: In quantitätslogischer Hinsicht die Polarität von Endlichkeit und Unendlichkeit; in qualitätslogischer Hinsicht die Polarität von Partikularität und Ganzheit, in relationslogischer Hinsicht die Polarität von Zeitlichkeit und Ewigkeit / Zeitenthobenheit und schließlich in modallogischer Hinsicht die Polarität von Kontingenz und Notwendigkeit. Die sich an diesen Begriffspaaren eröffnende religiöse Perspektive auf Erfahrung differenziert sich prinzipiell aus in Welt‑ und Selbstbewusstsein, mit ihr 186 Vgl. Beutel, Johann Joachim Spalding, S. 231; vgl. Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 97–105; v. a. S. 101. 187 Vgl. zum Folgenden: Barth, Was ist Religion. 188 Vgl. dazu: ebd., S. 5–10. 189 Ebd., S. 10. 190 So meint Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 106.
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kann die Gegenstandswelt (Natur und Geschichte) wie auch das konkrete Ich in einer Transzendenz‑ und Immanenzperspektive wechselseitig gedeutet werden. Auf der Seite der religiösen Selbstdeutung kommen zu den Grundkategorien religiöser Deutung metastufige Vermittlungsstrukturen hinzu: „Die für die subjektive Seite des religiösen Lebens signifikante Sequenz von Geschöpflichkeit, Sündigkeit, Erlösungsbedürftigkeit und Heilsbesitz bildet offensichtlich deshalb einen in sich geschlossenen Vorstellungszyklus, weil die ihm zugrunde liegenden paarweise geordneten und miteinander verzahnten Reflexionsmomente eine vollständige Ausfächerung der Strukturmomente religiöser Selbstdeutung darstellen. Wir bezeichnen diese für den Vollzug religiöser Selbstdeutung konstitutiven polaren Formelemente, nämlich Unmittelbarkeit / Andersheit, Andersheit/ Widerstreit, Widerstreit/Vermittelbarkeit, Vermittelbarkeit/Teilhabe, darum terminologisch als die Reflexionskategorien religiöser Selbstdeutung.“191 Unschwer ist zu erkennen, dass Barth einerseits die formalen Strukturmomente abstrakt fasst, andererseits aber terminologisch auch auf zentrale Grundbegriffe christlicher Selbstdeutung bzw. theologische Lehrtopoi zurückgreift. Damit eröffnet sich für eine Interpretation von Spaldings Entwurf unter Anwendung der Religionstheorie Barths die Möglichkeit, innerhalb seiner Bestimmungs‑ bzw. Religionskonzeption Strukturmomente zu eruieren, die an spezifisch christliche Lehrgehalte und Semantiken anschlussfähig sind. Wir beginnen beim religiösen Selbst-Bewusstsein. Bereits auf der prinzipiellen Ebene der Bestimmungsschrift wird sich das selbstreflektierende Subjekt seiner Geschöpflichkeit bzw. der Spannung zwischen Unmittelbarkeit und Andersheit bewusst. Mit der Frage nach der Telosbestimmung tritt das Ich aus der Unmittelbarkeit seines So-Seins heraus und nimmt auf sich Bezug unter der Frage nach dem, was es sein soll. Sowohl der Bestimmungsbegriff als auch die mit ihm verbundene Natürlichkeitssemantik evozieren ein Bewusstsein, dass der Mensch durch etwas bedingt ist, was sein Selbst transzendiert. Die Soll-Bestimmungen lassen das Ich sich selbst erleben unter der Forderung nach Andersheit. Die Übergänge von der dann wiederum je als Unmittelbarkeit erlebten Lebensdeutung zur je höheren Stufe lässt sich ebenfalls als Überschritt von Unmittelbarkeit zu Andersheit beschreiben, die auf der Stufe moralisch-religiöser Selbstdeutung zu einem relativen Abschluss findet. Die Differenz zwischen dieser moralisch-religiösen Selbstbestimmung und den vorgängigen Daseinsformen des sinnlichen und geistigen Vergnügens wird in einer geradlinigen Perspektive retrospektiv, in einem dauertransitorischen Hin und Her immer wieder als Widerstreit bzw. als Sündigkeit bewusst. Dies stellt jedoch in Spaldings Konzeption nur die eine Seite des Selbstbewusstseinskomplexes von Andersheit/Widerstreit dar. Bevor die andere Seite dargelegt wird, muss an dieser Stelle der Status des Religionsabschnittes innerhalb des Aufbaus 191 Barth,
Was ist Religion, S. 23.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
der Bestimmungsschrift unter der hier gewählten Perspektive genauer bestimmt werden. Ist das Subjekt zunächst seiner Bestimmung zur Moralität ohne ein explizites Bewusstsein eines transzendenten Woher dieser Bestimmung gewahr geworden, wird im Religionsabschnitt gleichsam die religiöse Dimension allererst eingeholt und damit im strikten Sinne die Spannung von Unmittelbarkeit und Andersheit als Geschöpflichkeit und die potentielle Spannung von Andersheit und Widerstreit als Sündhaftigkeit bewusst. Erst hier lässt Spalding das reflektierende Ich ein Bewusstsein davon haben, dass die Bestimmung zur Moralität durch eine göttliche Instanz bedingt ist: „Die grosse Empfindung des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts, die ich in mir erkannt habe, rühret nicht weniger von demjenigen her, der seine mächtigen Einflüsse überall ausbreitet. Es ist also eine göttliche Stimme, es ist die Stimme der ewigen Wahrheit, die in mir redet.“192 Damit zur anderen Seite. Auch innerhalb des religiösen Bewusstseins wiederholt sich noch einmal die Spannung zwischen Unmittelbarkeit und Andersheit bzw. Andersheit und Widerspruch; denn aus dem relativ-unmittelbaren Bewusstsein eines höchsten Geistes leitet das Ich eine gleichsam religiöse SollBestimmung ab, zum einen die höchste Vollkommenheit und ihre Quelle zu verehren und zum anderen, jenem „Urbilde der Ordnung nach meiner Fähigkeit ähnlich“193 und deswegen von der Gottheit anerkannt zu werden. Der Widerstreit resultiert aus der doppelten Krise religiös-ethischer Selbst‑ und Weltdeutung: Einerseits erlebt das Subjekt die Abständigkeit seiner faktischen Lebensführung zu seiner Bestimmung, andererseits wird die religiös-ethische Seinsdeutung aufgrund der Kontingenzen des Lebens an sich selber fraglich. Hier knüpft die Erlösungsbedürftigkeit an; das Subjekt geht vom Bewusstsein des Widerstreits über zur Vermittelbarkeitshoffnung, bei Spalding in der Form der Unsterblichkeitserwartung. Das komplementäre Erfüllungserlebnis der Teilhabe am Heil koinzidiert im Modus der hoffenden Antizipation des ewigen Lebens bereits mit der Erlösungsbedürftigkeit, um dann aber erst in der Realität personaler Ewigkeit Teilhabe am Göttlichen zu erlangen. Damit ist der religiöse Selbstdeutungsprozess strukturell zu einem Abschluss gekommen, jedoch – und darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen – ist diese strukturelle Abfolgelogik zu unterscheiden von der lebensweltlich-existentiellen Komplexität religiösen Bewusstseins, welches auch zirkulär, retardierend bzw. unabgeschlossen bleiben kann. Damit können wir auf die Ebene der religiösen Gegenstandskategorien zurückkommen. Hier unterscheiden wir nicht gesondert zwischen ihrer Beziehung zur äußeren Erfahrungswelt und subjektiven Selbstdeutung, sondern werden beide intentionale Relationen zusammen verhandeln. 192 Spalding, 193 Ebd.
BdM, S. 17 [S. 18].
5. Religionstheorie als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit
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Das Bewusstsein existentiell-religiöser Endlichkeitserfahrung nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Erfahrung der endlichen Verfasstheit von Leiblichkeit, Natürlichkeit, bei der Bedürfnis‑ und Strebestruktur nach Glück wie auch bei der Krisenerfahrung moralisch-religiöser Subjektivität. Letztere transzendiert die eigene Endlichkeit und die alles natürlich Seienden, indem sie zunächst die Welt als „unermäßliche[n] Natur“ empfindet und in einem zweiten Reflexionsschritt eine unbedingte und bedingende noch „unermäßlichere Gottheit“ resp. „unendlichen Geist“ erahnt, der als „unendliche Liebe“ vorgestellt wird. In wirklicher Re-Flexion dieses Unendlichkeitsbewusstseins wird das Ich seiner „Kleinheit“194, d. h. Endlichkeit gewahr. Zugleich wird sich aber das Subjekt in der Unsterblichkeitshoffnung auch seiner potentiellen Unendlichkeit bewusst, nämlich dass die Fähigkeiten „eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind“195. Die eigene ‚Kleinheit‘ kann so im modalen Status der Möglichkeit als überwindbar gedeutet werden: „So klein ist meine Sele nicht, deren Dauer und Empfindungen sich unendlich weiter erstrecken.“196 Damit semantisch und sachlich eng verknüpft ist die Differenzerfahrung von Zeitlichkeit und Ewigkeit/Zeitenthobenheit: Das moralisch Gute wird als von Gott bedingt als „ewig recht“197 und „ewige[n] Wahrheit“198 ausgelegt, wodurch die Moralität aufgrund ihrer unbedingten Geltung als Statthalter immanentüberzeitlicher Ewigkeitsmomente zu stehen kommt; und „die gegenwärtige Zeit“ und die „wenigen Tage“ irdischer Existenz werden als Erziehung zur „Ewigkeit“199 verstanden; und auch das irdische fragile Glück wird gegen das „ewige[n] Gefühl der reinesten Freude“200 in der Unsterblichkeit abgesetzt. Es ist hier sehr deutlich, dass sich die Immanenz‑ und Transzendenzperspektive gleichsam gegenseitig aufrufen. Die religiöse Deutungshinsicht nach der Polarität von Partikularität und Ganzheit spielt für Spaldings Religionskonzept eine zentrale Rolle, wie bereits die Prominenz von Ganzheitssemantik indiziert. Sie eröffnet sich am Erleben der partikularen Integrität des moralischen Empfindens sowie weiterer „Spur[en] der Schönheit und Regelmäßigkeit“ in der Welt, das sich zu einer Ästhetik einer „allgemeinen Schönheit“ und zum Gedanken eines „Ganzen voller Ordnung“201 steigert. Dieser religiöse Weltgedanke wird transzendiert durch die Instantiierung eines „Verstand[es], der für das Ganze denkt“202. 194 Ebd.,
S. 16 [S. 17]. S. 20 f. [S. 22]. 196 Ebd., S. 22 [S. 24]. 197 Ebd., S. 20 [S. 21]. 198 Ebd., S. 17 [S. 18]. 199 Ebd., S. 22 [S. 23]. 200 Ebd., S. 23 [S. 24]. 201 Ebd., S. 15 [S. 16]. 202 Ebd., S. 15 [S. 17]. 195 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
In intentione obliqua, auf das eigene Subjekt bezogen, beginnt die ganzheitliche Hinsichtnahme des Ich als Frage nach dem, was „die ganze Verfassung meines Lebens“203 zu einer Einheit integriert. Die Stufen der Sinnlichkeit und des geistigen Lebens werden als nur partikulare Daseinsmodi erlebt, die nicht die „ganze Sele ausfülle[t]n“204. Erst die Unsterblichkeitshoffnung als letzte Bestimmung des Menschen habe einen beglückenden und heilvollen Einfluss „in die ganze Verfassung [der] Sele“ und erfüllt das „ganze[s] Gemüth“205, da so die kognitiven, emotiven und volitiven Bedürfnislagen im Begriff, in der Empfindung und in der Motivation zur Perfektibilität und moralischen Weltordnung integriert sind und die Seele zur Ruhe kommen lassen. Dieses Ganzheitsbewusstsein ist ein gegenwärtiges Bewusstsein: Hier kann der Mensch „die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes“206 wissen. Damit wird deutlich, dass die irdische Existenz immer noch unter der Kautele der Partikularität steht und die Biographie als Fragment bewusst bleibt, jedoch zugleich religiös transzendiert wird; es ist gleichsam eine getröstete Partikularität. Damit kommen wir schließlich zur Selbst‑ und Weltdeutung unter dem kategorialen Aspekt der Polarität von Kontingenz und Notwendigkeit. Spaldings Darstellung des subjektiven Selbstbestimmungsprozesses als ganze kann als Konzept einer deutenden Kontingenzbewältigungspraxis unter der Leitfrage gelesen werden: Welche Bestimmung erweist sich modallogisch nicht nur als vorläufige und seiende bzw. mögliche Bestimmung, sondern als notwendige SollBestimmung und damit als gültige Norm für die Lebensführung? Der Selbstfindungsprozess bis hin zur in Geltung stehenden moralisch-religiösen Deutung der Welt und des Selbst überführt das Leben aus der Form der Kontingenz in die Form der Notwendigkeit. Der Überschritt von der moralischen Empfindung zur Religion stellt seinerseits noch einmal eine Geltungsanreicherung der Notwendigkeit einer bedingten moralischen Selbstbestimmung dar, weil diese auf eine unbedingte Instanz zurückgeführt und damit abgestützt wird: Die Wahrheit der moralischen Empfindung wird nun als „ewige[n] Wahrheit“207 gewusst. Jedoch auch auf dieser Stufe wird das Subjekt wiederum mit Kontingenzerlebnissen eigener Art konfrontiert, die das Ich auch in seinem moralisch-religiösen Selbstverständnis beunruhigen. Spalding spricht von „Verwirrungen dieses Lebens“, von widrigen „Umständen“, „Schicksalen“ und einer daraus entspringenden existentiellen Ungewissheit („alles macht mich ungewiß.“ „[I]n der Welt ist mir alles ein Rätsel.“208), die moralisch-religiös destabilisiert. Diese Kontingenzsemantik wird im Übergang zur Unsterblichkeitshoffnung überwunden durch 203 Ebd.,
S. 1 [S. 3]. S. 6 [S. 8]. 205 Ebd., S. 24 [S. 25]. 206 Ebd., S. 23 [S. 24]. 207 Ebd., S. 17 [S. 18]. 208 Ebd., S. 18 [S. 19 f.]. 204 Ebd.,
5. Religionstheorie als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit
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eine Notwendigkeitssemantik: „[E]s ist nicht möglich, daß die Welt also regieret werde, da sie einmal regieret wird. Es muß nothwendig ein besseres Verhältniß der Dinge da seyn … Es muß eine Zeit seyn …“209 Diese Notwendigkeitshoffnung wird durch den Gedanken der Unsterblichkeit in eine selbstgewisse Notwendigkeit transformiert, weil das Ich gewiss wird, dass es „nicht nothwendig der Vertilgung mit unterworfen seyn müsse“210. Der perfektibilitätstheoretische Vorsehungsgedanke ist der theologische Topos, der das Gesamt des Lebens überspannt und der den Reflexionsrahmen auch für die Unsterblichkeitshoffnung resp. Kontingenz/Notwendigkeitsreflexion herstellt.211 Da der Mensch in „Umstände gerathe[n]“ kann, davon er die „Folgen und Entwickelungen nicht voraus sehe[n]“212 kann, bedarf es einer höheren Vorsehung. „Von seiner Fürsicht [scil. ewigen Vorsehung; G. R.] geleitet, werde ich mitten durch die fürchterlichsten Verwirrungen dieses Lebens glücklich hindurchgelangen …“213 Damit können wir die systematische Rekonstruktion der Religionskonzeption Spaldings abschließen und das Ergebnis zusammenfassen. 1. Dem Religionsbegriff Spaldings im systematischen Arrangement der Bestimmungsthematik ist an seiner bewusstseinstheoretischen Dimension in der doppelte Perspektive von Objekt‑ und Selbstbewusstsein gelegen, wobei jedoch der Schwerpunkt ohne Frage auf dem letzteren liegt. Es konnte anhand der Terminologie und Semantik gezeigt werden, dass die Bestimmungsschrift als Beschreibung und Anleitung zur subjektiven Selbstbestimmung und ihrer damit gegebenen Affinität zu einem deutungstheoretischen Religionsbegriff die ganze Komplexität der intentionalen Struktur des religiösen Bewusstseins abdeckt: Das nach sich selbst fragende Ich erfährt und deutet sich in den korrelierenden Differenzperspektiven von Endlichkeit und Unendlichkeit, Partikularität und Ganzheit, Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit / Ewigkeit und Kontingenz und Notwendigkeit sowie in den rein selbstbezogenen Reflexionshinsichten von Geschöpflichkeit, Sünde, Erlösungsbedürftigkeit und Heilsgewissheit, die sich in die polar und iterativ geordneten Reflexionsmomente von Unmittelbarkeit und Andersheit, Andersheit und Widerstreit, Widerstreit und Vermittelbarkeit, Vermittelbarkeit und Teilhabe ausfächern lassen. 2. Dies hat zur Konsequenz, dass Spaldings Bestimmungsschrift nicht nur hinsichtlich ihrer expliziten Thematisierung natürlicher Religion, sondern in ihrem Gesamtcharakter ein religionstheoretisches Gesamtgepräge hat, da mit den Bedingtheitsaspekten (Endlichkeit etc.) und den religiösen Selbst-Bestimmungen 209 Ebd.,
S. 20 [S. 21]. S. 22 [S. 23]. 211 Arnulf von Scheliha hat in seiner Studie zum Vorsehungsglauben deutlich gemacht, dass dessen Grundstruktur in Kontingenzbewältigung besteht (vgl. Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung). 212 Spalding, BdM, S. 19 [S. 20]. 213 Ebd. 210 Ebd.,
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
der Geschöpflichkeit bis Erlösungsbedürftigkeit bereits die Thematisierungsnotwendigkeit der Bestimmung des Menschen samt ihrer vorläufigen Reflexions‑ und Daseinsstufen als gleichsam die eine Seite der Polarität religiöser Selbst‑ und Weltdeutung eingeschlossen wird. 3. Spaldings Religionsbegriff weist auf der Ebene der hier avisierten Strukturebene weit über seine prima facie identifizierbare moralitätsstabilisierende Funktion und sein Unsterblichkeitsmoment hinaus. 4. Seine Theorie religiöser Erfahrung ist aufgrund ihrer perspektivischen Ausdifferenzierung höchst anschlussfähig an aktuelle dogmatische Debattenkontexte einerseits wie auch an neuere praktisch-theologische Theorien andererseits. Dies betrifft vor allem die Reflexionspaare Kontingenz/Notwendigkeit und Partiku larität/ Ganzheit: 4.1 Auf den unmittelbaren Zusammenhang von deutendem Umgang mit Kontingenz und dem religiösen Vorsehungsgedanken, wie wir ihn bei Spalding ausmachen konnten, hat Arnulf von Scheliha aufmerksam gemacht. Im Durchgang durch die sozialphilosophischen und soziologischen Kontingenztheorien Hermann Lübbes (im Gefolge von Arnold Gehlen) und Niklas Luhmanns, die geschichtsphilosophischen Konzepte Kants und Hegels und schließlich die dogmatischen Entwürfe Albrecht Ritschls und Werner Elerts erblickt Scheliha das Wesen des Vorsehungsglaubens in der Interpretation von Kontingenzerfahrung: „Der Glaube an die göttliche Vorsehung ist die religiöse Form des Umgangs mit dem als Schicksal zusammenfassend interpretierten Kontingenzrisiko, dem der menschliche Lebensvollzug unterliegt.“214 Religion als Kontingenzbewältigungspraxis im Glauben an die göttliche Vorsehung betrifft zum einen den Umgang mit den natürlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen der Existenz (providentia generalis bzw. allgemeine Vorsehung) und zum anderen mit den je konkreten und individuellen Vorkommnissen im lebensgeschichtlichen Dasein (providentia specialis/specialissima bzw. besondere Vorsehung). Jenseits des Inrechnungstellens ihres strukturellen Charakters als Moment im Selbstdeutungsprozess des Menschen hätte eine aktuelle und zeitdiagnostisch fundierte Vorsehungslehre die modernen Formen sozialer und persönlicher Kontingenzen ins Kalkül zu ziehen, die, wenn man der soziologischen Kontingenztheorie der (post)modernen Gesellschaft Ulrich Becks unter dem Titel „Risikogesellschaft“215 Glauben schenken mag, durch Individualisierung, Enttraditionalisierung, Entstandardisierung und prinzipielle Reflexivität von Subjektivität und Lebensführung gekennzeichnet sind. Dass Spaldings Bestimmungsschrift als Dokument der Anfangsphase dieses Prozesses zu interpretieren ist, zeigt bereits ihre Grundintention, nämlich der Kontingenz strittig gewordener Selbstbilder vom Menschen reflexiv-deutend habhaft zu werden. 214 Scheliha, 215 Vgl.
Der Glaube an die göttliche Vorsehung, S. 340. Beck, Risikogesellschaft.
5. Religionstheorie als Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit
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Über die je persönliche Lebensreflexion hinaus hat der religiöse Umgang mit der Kontingenzbehaftetheit sowohl in der Seelsorge wie auch in der Kasualpraxis seine praktisch-theologische bzw. kirchliche Heimstatt. Dabei geht es nicht nur um Negativerlebnisse, sondern gerade bei der Taufe oder bei Trauungen drängen auch positive Kontingenzen zur Integration ins Lebensganze. 4.2 Damit ist bereits die Polarität von Partikularität und Ganzheit angesprochen. Hierum haben sich vor allem solche Praktisch-theologischen Entwürfe verdient gemacht, die ihrerseits auf dem Projekt einer Theorie subjektiver Religion bzw. „Theologie des Subjektes“216 aufbauen, wie Henning Luther sein Programm einer Praktischen Theologie bezeichnet. Dabei bildet für ihn im kritischen Anschluss an die Identitätstheorien Eriksons und Meads die der Ästhetik entlehnte Kategorie des Fragments bzw. der Fragmentarität von Lebens‑ und Bildungsprozessen den gedanklichen Mittelpunkt.217 Die Ganzheitsperspektive religiöser Biographiedeutung projektiert dabei eine Grenze und Vollendungsgestalt, auf die hin das unabschließbare Leben in Hoffnung ausgreift und das unter einem eschatologischen Vorbehalt steht. Religion habe es deshalb mit der Bewältigung von prinzipieller und konkreter Partikularitätserfahrung zu tun, was dann auch Konsequenzen für die Religionspädagogik und Homiletik hat. Wilhelm Gräb hat im Rekurs u. a. auf Henning Luther den religiösen Umgang mit Fragmentarität in zahlreichen Publikationen sünden‑ und rechtfertigungstheologisch entfaltet.218 Damit hat er einerseits die Rückbindung dieses religionstheoretischen Strukturprinzips an die traditionelle lutherische Dogmatik resp. religiöse Symbolsprache bewerkstelligt und andererseits diese sowohl für den kirchlich-pastoralen Umgang mit Lebensgeschichten als auch für eine religiöse Kulturhermeneutik medialer und ästhetischer Phänomene fruchtbar gemacht. 5. Schließlich hat die Anwendbarkeit der Strukturmomente religiösen Bewusstseins – Geschöpflichkeit, Sünde, Erlösungsbedürftigkeit und Heilsgewissheit – auf Spaldings Bestimmungskonzept als Ganzes Konsequenzen, die seine theoretische Reichweite betreffen. Jenseits von Spaldings eigener Verhältnisbestimmung von der in der Bestimmungsschrift entwickelten Theorie einer natürlicher Religion und einer Offenbarungsreligion resp. des Christentums, die wir oben rekonstruiert haben (vgl. V.8.2), kann seine Selbstdeutungstheorie als Strukturtheorie der subjektiven Dimension christlicher Religion interpretiert werden, ohne dass in ihr auf konkrete Topoi christlicher Theologie sowie christlichen Glaubens Bezug genommen wird. Alle „zentralen Bestimmungen des christlichen Bewusstseins“219 konnten als Reflexionsmomente humaner Selbstbesinnung ausgewiesen werden. Dies ist gerade im Blick auf die Sünde bzw. 216 Luther,
Religion und Alltag, S. 9. dazu ebd., S. 160–182. – Zum systematischen Zusammenhang von Identität und Ganzheit vgl. Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs, S. 50–62. 218 Vgl. bspw. Gräb, Sinn fürs Unendliche, S. 335–347. 219 Barth, Was ist Religion, S. 19. 217 Vgl.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Negativität des Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit hervorzuheben, da es sich mit ihnen um wesensmäßige Grundbestimmung christlicher Selbstauslegung handelt, die von der Aufklärungstheologie – so ein gängiger kritischer Vorwurf – in der Regel vernachlässigt worden seien. Dass Spalding das auf sich selbst reflektierende Ich durchaus seiner Negativität wie auch seiner Erlösungsbedürftigkeit durchsichtig werden lässt, wurde deutlich. Einerseits hat dies für die Geltung des christlichen Bewusstseins, seiner religiösen Symbole und seiner dogmatischen Metatheorie zur Konsequenz, dass sie an das allgemeinmenschliche Selbstbewusstsein konstruktiv und explikativ anknüpfen können; als historisch gewordene und normativ beanspruchte Gehalte fungieren sie als kulturell vermittelte Deuteschemata religiöser Selbstdeutung. Andererseits hat sich eine Christentumskonzeption und theologische Dogmatik aber auch an einer kriteriologischen Strukturtheorie von Religion hinsichtlich ihrer Plausibilität auszuweisen.
6. Vernunft und Empfindung – die rational-irrationale Dimension ethisch-religiöser Selbstdeutung Wer sich auf die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Rationalität und Irrationalität innerhalb von Religion und Christentum einlässt, begibt sich auf vermintes Gelände. Denn innerhalb der religionstheoretischen und theologiegeschichtlichen Debatten sind zum einen nicht minder Emotionen im Spiel, die die Auseinandersetzung mit diesem prinzipiellen Problem nicht einfacher machen. Zum anderen besteht die Gefahr von Missverständnis und somit ein permanenter Klärungsbedarf hinsichtlich dessen, was jeweils unter Vernunft auf der einen und Affekt, Empfindung und Gefühl auf der anderen Seite des Näheren verstanden wird. Das Problem durchzieht die protestantische Theologiegeschichte: Den Anfang machten Luthers Streitigkeiten mit mystischen Nebengängern und den Schwärmern um die Frage nach der Bindung religiöser Erkenntnis an die Bibel.220 In der jüngeren Lutherforschung wird zudem auf die affektive Dimension von Luthers Gewissens‑ und Rechtfertigungsglauben hingewiesen221. Dass auch die lutherische Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts nicht einfach unter das Verdikt des Doktrinalismus und trockener Scholastik zu verbuchen ist, haben neuere Forschungsarbeiten gezeigt222 und erhellt auch aus einem einfachen Blick auf die Frömmigkeitssprache der Dichtung und Lieder dieser Epoche. Wenn Paul Gerhard fordert, „[f]röhlich soll mein Herze springen“ (EG Nr. 36) und 220 Vgl.
Holl, Luther und die Schwärmer; vgl. Peters, Luther und Müntzer. Metzger, Gelebter Glaube; vgl. Mühlen, Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Reformationszeit; vgl. Claussen, Glück und Gegenglück, S. 240–262. 222 Vgl. bspw. Wallmann, Art. Lutherische Orthodoxie. 221 Vgl.
6. Vernunft und Empfindung
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in der 8. Strophe meint, „[w]er sich fühlt beschwert im Herzen, wer empfind’t seine Sünd und Gewissenschmerzen, sei getrost …“, dann liefert er nur ein augenfälliges Zeugnis davon, dass diese Herzens‑ und Seelen-Poesie durchaus die affektive Dimension christlicher Frömmigkeit kennt. Auch die orthodoxe Erbauungsliteratur ermäßigt den dogmatischen Charakter des Zeitalters, bspw. Johann Arndts „Wahres Christentum“223, aber auch Johann Gerhards „Meditationes sacrae“224. Ihr Anliegen liegt in der subjektiven und herzensmäßigen Aneignung christlicher Lehrgehalte. Mit dieser „Frömmigkeitswende zu Beginn des 17. Jahrhunderts“225 verflüssigt sich der Übergang zum Pietismus, der nun das Bemühen um die innerlich empfundene Herzensfrömmigkeit ins Zentrum rückt. Die Spannbreite reicht hier von einer gemäßigten Erfahrungsseelenkunde religiöser Affekte innerhalb der Hermeneutik bei August Hermann Francke226 über eine Empfindsamkeit des frommen Herzens und mystische Denkformen bei Tersteegen227 bis hin zu Zinzendorf228 und zu Extremen hypertroph-schwärmerischen Enthusiasmus’ im radikalen Pietismus229. Damit sind wir im 18. Jahrhundert angekommen. Norbert Hinske reklamiert für die Schwärmerei den Titel einer Kampfidee der Aufklärung. Ihrem Hang zu Nüchternheit und ihrem Rationalitätsbedürfnis verdankt sich ihr Kampf gegen jedweden religiösen Enthusiasmus und Fanatismus, gegen die „vollständige Verinnerlichung oder Verflüssigung der Beziehung des Menschen zum Transzendenten“230. Ohne dass Spalding in der Bestimmungsschrift diese Diskursebene explizit benennt, liegt sie ihr ohne Frage zugrunde. Wir werden im Folgenden den Schwerpunkt auf die komplexe Vermittlung rationaler und vorrationaler Momente im subjektiven Reflexionsprozess der Bestimmungsschrift legen, die sich in seinem Empfindungsbegriff auskristallisiert. Dabei können wir auf die Ergebnisse unserer Analysen zurückgreifen (vgl. v. a. V.5) und diese lediglich bündeln. Wir haben uns dem Empfindungsbegriff ausführlich gewidmet und die bei Spalding auszumachende doppelte Abstämmigkeit von Christian Wolff und den wolffianisch geprägten ästhetisch-poetologischen Debatten einerseits und Shaftesburys Sense-Begriff andererseits rekonstruiert. Ohne Frage stellt der Empfindungsbegriff diejenige erkenntnistheoretische Kategorie im begrifflichen Gefüge der Bestimmungsschrift dar, in der sich die Komplexität und das Ineinandergreifen rationaler und irrationaler Momente im ethisch-religiösen Selbstdeutungsprozess konzentriert niederschlägt. 223 Vgl.
Johann Arndt, Vier Bücher Von wahrem Christenthumb. Sträter, Meditation und Kirchenreform. 225 Wallmann, Pietismus, S. 28. 226 Vgl. Barth, Die hermeneutische Krise, S. 169–175. 227 Zu Tersteegen vgl. Kemper, Deutsche Lyrik, S. 58–96. 228 Zu Zinzendorf vgl. ebd., S. 19–58. 229 Vgl. Wallmann, Pietismus, S. 136–180. 230 Hinske, Grundideen der deutschen Aufklärung, S. 432. 224 Vgl.
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VI. Systematische Anschlussüberlegungen
1. Moralische Empfindungen richten sich in intentione recta auf moralische Phänomene am Ort des eigenen oder anderer Subjekte und evozieren ein Gefühl der Lust oder Unlust. Dieses ist jedoch begrifflich vermittelt, indem die Empfindung ihrer Erkenntnisstruktur nach als Geschmacksurteil verfasst ist, bei dem die Übereinstimmung zwischen einem Begriff eines allgemeinen Besten und des Guten auf der einen und moralischen Einstellungen und Verhaltensweisen auf der anderen Seite als Ordnung und Schönheit beurteilt wird. Das im Gefühl verortete Lustmoment entspringt dem ästhetischen Urteilsaspekt. In intentione obliqua erfährt sich das Subjekt als gut und wird sich seines Wertes bzw. seiner Würde bewusst, welches sich im Affekt der Selbstbilligung und ‑achtung äußert. 2. Auch im religiösen Bewusstsein sind gedanklich-reflexive und emotionale Momente eng verknüpft (vgl. v. a. V.8.1). Auf die ästhetische Weltvorstellung und die darauf gründende Vorstellung eines Urbildes dieser Schönheit und Vollkommenheit folgt die gemischte Empfindung eines ‚entzückenden Schauders‘ an der ‚Wirklichkeit dieses obersten Geistes‘. Die Ambivalenz resultiert aus der Doppelperspektive der religiösen Einstellung, die sich korrelativ auf den Gedanken einer Gottheit und auf das reflektierende Subjekt bezieht. Gegenüber der Erhabenheit der Natur und Gottheit empfindet der Mensch in intentione recta Bewunderung und Ehrfurcht, gegenüber sich selbst hingegen kommt ihm in intentione obliqua seine Kleinheit und Abhängigkeit zu Bewusstsein. Letztlich mündet das religiös Bewusstsein in das Vergnügen an der höchsten Schönheit und das darin empfundene Glück ein, welches in Seelenruhe und im Selbstvergessen zu sich selbst kommt. In moralischer Hinsicht wird der Affekt der Selbstachtung vor dem eigenen Wert und der eigenen Würde durch das religiöse Bewusstsein gesteigert, weil von der Gottheit selbst der Affekt des Wohlgefallens an der ethischen Vollkommenheit vermutet wird. 3. Sowohl die moralischen als auch die religiösen Empfindungen verfügen trotz ihrer komplexen und begrifflich vermittelten Struktur über einen Widerfahrnis‑ und Unwillkürlichkeitscharakter: Sie stellen sich unvermittelt ein; und genau darin besteht für Spalding der Vorzug vor dem ‚langweiligen Weg der Vernunftschlüsse‘ im Sinne der Pflichtenethik und Gottesbeweise der natürlichen Theologie Christian Wolffs und seiner Schule. Zugleich hat er aber gegen die schwärmerisch-pietistische Option die Notwendigkeit rationaler Momente im Aufbau ethisch-religiösen Bewusstseins zur Geltung gebracht. In diesem sachlichen und theologiegeschichtlichen Vermittlungsbemühen besteht der systematische Wert von Spaldings Empfindungskonzeption innerhalb der protestantischen Aufklärungsgeschichte über die rational-irrationale Dimension von Religion. 4. Es sei noch auf einen Aspekt eingegangen, der sich mit Spaldings Empfindungskonzeption gleichsam von selbst aufdrängt und eine prinzipielle Frage der Religionstheorie betrifft, nämlich das Psychologische an ihr. Damit ist immer zugleich auch die Ir‑ bzw. Vorrationalität religiösen Bewusstseins avisiert, da
6. Vernunft und Empfindung
493
eine psychologische Verortung des Religiösen basale und basalste Phänomene religiösen Erlebens und Deutens thematisch macht, die weit diesseits gedanklicher, philosophischer oder dogmatische Explikations‑ und Reflexionsmodi zu verorten sind. Dies trifft auf Spaldings Konzept jedenfalls fraglos zu, da mit der Empfindung und dem Gefühl der Lust oder Unlust samt ihrer ästhetischen Beurteilungs‑ und Wertungsmomente elementare Erlebens‑ und Deutungsformen von Wirklichkeit benannt sind. Nicht zuletzt läuft der Spaldingsche Selbstdeutungsprozess auf nichts anderes heraus als auf eine durch Moralität und Religion erwirkte lustvolle Seelen-Ruhe und mithin Glückseligkeit. Damit war das Problem für Spalding jedoch keineswegs erledigt. Auch wenn er der Sache nach in allen seinen späteren Schriften von der Grundthese der Bestimmungsschrift nicht abrückt, widmet er sich mit seiner Schrift „Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum“ von 1761 einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Gefühlsdimension von Religion und dies nun in ausdrücklicher Opposition zur schwärmerischen „Gefühligkeit“ in manchen pietistischen Strömungen. Seine vermittelnde These besteht auch hier darin, dass die Empfindungsdimension fraglos für Religion konstitutiv ist, dass diese jedoch vermittels der reflexiven Vernunft hinsichtlich ihrer Gründe sowie ihrer Folgen zu überprüfen sei.231 Im Blick auf die Debatte gießt Spalding nicht das pietistische Gefühlsbad mit dem vermeintlich neologischen Lieblingskind reflektierter Vernünftigkeit aus, sondern geht einen mittleren Weg. Dass Spalding hier viel stärker als in der Bestimmungsschrift neben dem Empfindungs‑ auch den Gefühlsterminus verwendet, dürfte zum einen den Grund haben, dass er an der pietistischen Erfahrungsreligiösität das unkontrollierte und dunkle Moment der gefühlten Lust und Unlust unmittelbarer religiöser Erfahrung mit dem Gefühlsbegriff bezeichnet und diesem seinen Begriff einer ‚aufgeklärten Empfindung‘232 gegenüberstellt. Zum anderen hat die Debatte innerhalb der empirischen Psychologie und Ästhetik in den 1750er Jahren verstärkt den Gefühlsbegriff in die Terminologie implementiert, um die vorreflexiven undeutlichen bis dunklen Vorstellungsmomente wie auch das Selbstgefühl der Lust und Unlust vom Gesamtkomplex der Empfindungen abheben zu können. Dafür stehen Namen wie Moses Mendelssohn233 und Johann Georg Sulzer234. Damit ist der Anfang einer Entwicklungslinie markiert, der bis hin zur schrittweisen Herausbildung einer vermögenstheoretischen Begründung des Gefühlsbegriffs bei Johann August Eberhard, Johann Nicolaus Tetens und schließlich 231 Vgl. die bündige Interpretation von Spaldings Konzeption in Dreesman, Aufklärung der Religion, S. 111–118. 232 Vgl. Spalding, Werth der Gefühle, S. 50 [S. 10 f.]. 233 Vgl. die vor 1761 entstandenen Abhandlungen der Ästhetischen Schriften Moses Mendelssohns, v. a. „Von dem Vergnügen“ (1755) und „Über die Empfindungen“ (1755) (vgl. Mendelssohn, Ästhetische Schriften). 234 Vgl. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem, S. 129 f.
494
VI. Systematische Anschlussüberlegungen
Immanuel Kant235 einmündete und eine empirisch-psychologische Theorieebene bereitstellte, auf deren Grundlage die reife gefühlstheoretische Religionskonzeption Friedrich Schleiermachers basiert. Dass die von ihm und der Romantik selbst inszenierte Bruchlinie zwischen romantischer Gefühlsreligion und aufgeklärt-moralischer Vernunftreligion vor einem differenzierteren Verständnis der Aufklärungstheologie nicht standhält, hat bereits die Schleiermacherforschung gezeigt. Seine Verwurzelung im 18. Jahrhundert ist vielfältig und betrifft nicht zuletzt seine theoretischen Anleihen bei der empirischen Psychologie und Ästhetik bspw. seines Hallenser Lehrers Johann August Eberhard. Eine einfache Zuordnung von Aufklärung und Vernunft bzw. Romantik und Gefühl ist bereits von daher obsolet. In die gleiche Richtung einer Kontinuität zwischen beiden Geistesformationen in Sachen Gefühlsdimension von Religion hat auch die Studie von Albrecht Beutel gewiesen, der in seinem Vergleich zwischen Spaldings später Religionsschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ von 1797 und Schleiermachers Reden von 1799 hinsichtlich der Gefühlsproblematik zu dem Ergebnis kommt: „Daß das Wesen der Religion als Gefühl zu bestimmen sei, darin stimmten Schleiermacher und Spalding überein.“236 Mit exemplarischer Bezugnahme auf Spalding zieht Beutel diese These zu einer Wesensbestimmung neologischer Religionstheologie aus: Es „bestimmte bereits die Neologie – und also nicht erst der junge Schleiermacher – das Wesen der Religion als Gefühl.“237 So problematisch und differenzierungsbedürftig dieses Urteil ist, so macht es doch deutlich, dass die Gefühlsdimension von Religion nicht nur ein Nebenthema der Neologie und gewissermaßen eine Spezialität Spaldings darstellte, sondern die reife Aufklärungstheologie als Ganze betrifft.
7. Schluss Hatte in der protestantischen Deutung der Aufklärungstheologie resp. Neologie der Diskurs um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, die Entwicklung einer historisch-kritischen Bibelhermeneutik, die Dogmenkritik und ihr Bemühen um ein Konzept natürlicher Religion im Mittelpunkt gestanden, so haben diese Studie und Anschlussüberlegungen gezeigt, dass mit Spaldings Bestimmungsschrift als der Programmschrift der Neologie Begriffe und konzeptionelle Gesichtspunkte ins Blickfeld gerückt werden, die zum Teil an die aufklärungshistoriographische Tradition anschließen, jedoch auch weit über sie hinausgehen. Die Deutung von Spaldings Bestimmungskonzept als einer Strukturtheorie von Selbstdeutung, der Fokus auf dem Bestimmungs-, Glücks‑ 235 Vgl.
die sehr schlüssige Darstellung der Entwicklung bei: ebd., S. 134–140. Aufklärer höherer Ordnung, S. 293. 237 Ders., Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, S. 245. 236 Beutel,
7. Schluss
495
und Menschenwürdebegriff wie auch die Interpretation der Bestimmungsschrift als religionstheoretische Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit und schließlich ihr Austrag für die religionstheoretisch-psychologische Dauerdebatte um das Verhältnis rationaler und vor‑ bzw. irrationaler Momente im Aufbau des ethisch-religiösen Bewusstseinslebens konnten deutlich machen, dass Spaldings Aufklärungsbemühungen um die Frage nach dem Wesen des Menschen solche Probleme ins Bewusstsein hob, die nicht nur die Aufklärungsepoche als ganze bewegten, sondern noch in aktuellen Debatten nicht abgegolten sind. Und noch mehr: Spaldings Konzept konnte nicht nur in problemgeschichtlicher Sicht gewürdigt werden, sondern auch als ein solches, das für die aktuelle protestantische Theologie relevant ist. Dies betrifft die Rezeption des Bestimmungsbegriffs in der theologischen Anthropologie und Ethik (Pannenberg, Härle), die Bedeutung seines komplexen Glücksbegriffes für evangelische Bemühungen um eine Theologie des Glücks und auch sein Wert‑ und Würdekonzept, das in vielerlei Hinsicht den aktuellen theologischen Menschenwürdediskurs bereichern könnte. Die Interpretation der introspektiven Selbstaufklärung als Konzept von Selbstdeutung wie auch seine Rekonstruktion als einer komplexen religionstheoretischen Strukturtheorie christlicher Frömmigkeit haben gezeigt, dass Spaldings Bestimmungskonzept durchaus den Standards moderner Theorien konkreter Subjektivität und Religion (Ulrich Barth) gerecht zu werden in der Lage ist. Spalding kann daher mit Fug und Recht als ein „Bahnbrecher der Moderne“238 und seine Bestimmungsschrift als ein gewichtiger Beitrag zum Projekt eines aufgeklärten Protestantismus gewürdigt werden.
238 Beutel,
Spalding und Goeze, S. XXI.
Literaturverzeichnis Die Quellen und die Sekundärliteratur werden nach Autoren in alphabetischer, Spaldings Texte (abgesehen von der SpKA) in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. Für die meisten Titel wird ein Kurztitel in eckigen Klammern angegeben, der im Fußnotentext Übersichtlichkeit und zugleich ein leichtes Auffinden der vollständigen bibliographischen Angabe im Literaturverzeichnis ermöglicht.
1. Quellen 1.1 Johann Joachim Spalding Spaldings Schriften werden nach Möglichkeit nach der Kritischen Ausgabe zitiert, die im Folgenden mit SpKA abgekürzt wird. Nachdem zuerst die Bände der Kritischen Spaldingausgabe aufgeführt werden, folgen die einzelnen in der Arbeit zitierten Titel in chronologischer Reihenfolge. SpKA I,1: Spalding, Johann Joachim: Die Bestimmung des Menschen (11748–111794), hg. v. Albrecht Beutel/Daniela Kirschkowski/Dennis Prause, Tübingen 2006 [Spalding, BdM]. SpKA I,2: Spalding, Johann Joachim: Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (11761–51784), hg. v. Albrecht Beutel / Tobias Jersak, Tübingen 2005 [Spalding, Werth der Gefühle]. SpKA I,3: Spalding, Johann Joachim: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772–31791), hg. v. Albrecht Beutel/Tobias Jersak, Tübingen 2002 [Spalding, Nutzbarkeit des Predigtamtes]. SpKA I,4: Spalding, Johann Joachim: Vertraute Briefe, die Religion betreffend (11784– 3 1788), hg. v. Albrecht Beutel/Dennis Prause/Tobias Jersak, Tübingen 2004 [Spalding, Vertraute Briefe]. SpKA I,5: Spalding, Johann Joachim: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (11797– 41806), hg. v. Albrecht Beutel/Tobias Jersak/Georg Friedrich Wagner, Tübingen 2001 [Spalding, Religion]. SpKA I,6,1: Spalding, Johann Joachim: Kleinere Schriften 1, hg. v. Albrecht Beutel / Olga Söntgerath/Daniela Kirschkowski, Tübingen 2006 [Spalding, Kleinere Schriften 1]. SpKA I,6,2: Spalding, Johann Joachim: Kleinere Schriften 2: Briefe an Gleim – Lebensbeschreibung, hg. v. Albrecht Beutel/Tobias Jersak, Tübingen 2002 [Spalding, Kleinere Schriften 2]. –: [Disputatio] De calumnia Juliani Apostatae in confirmationem Christianae religionis versa Exercitatio Theologica […], 1735, in: SpKA I,6,1, 1–37 [Spalding, Disputation].
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Namenregister Abbt, Thomas 9, 35 f., 39, 41, 159 f. Adam, Wolfgang 131 Adorno, Theodor W. 476 Aepin, Franz Albert 63 f., 72, 76, 78 Ahlwardt, Peter 74, 159 Albrecht, Michael 180 Albrecht, Wolfgang 41 f., 50 Alt, André 336 Aner, Karl 14 ff., 101, 104, 376, 381, 383, 409 Annet, Peter 67 f. Anselm von Canterbury 270 Anselm, Reiner 471 f. Aquin, Thomas v. 452, 454 Aristoteles 28, 35, 37, 118, 126, 134, 454, 461 Arndt, Johann 491 Augustinus 17, 28, 38, 118, 222, 270 f., 376, 381 f., 388, 392, 399, 452, 456, 460 f., 472 Aurel, Marc 35, 269–272, 330 Axt-Piscalar, Christine 388 Baasner, Rainer 95, 123 f., 241 Bacon, Francis 43 Baeumler, Alfred 154 f., 232, 236, 240, 245, 248, 251, 370, 493 Bahr, Petra 238, 249, 261, 265, 268 Bahrdt, Carl Friedrich 337, 474 Baier, Johann Wilhelm 71 Balmer, Hans Peter 115, 119 Barth, Hans-Martin 388 Barth, Karl 1, 16 Barth, Ulrich 2, 8, 13, 16, 23–28, 37, 51 f., 64, 71, 73, 78, 194, 222, 254, 270 f., 343, 345, 351 f., 360, 381, 387, 395, 399, 436–442, 453, 459, 470–483, 489, 491, 495 Baum, Angelica 272, 300, 327 Baumgarten, Alexander Gottlieb 57, 87,
122 f., 127 f., 131 f., 154, 192, 210, 212, 217, 223 f., 230, 236–241, 248 f., 252–268 Baumgarten, Sigmund Jakob 12, 99 Bayer, Oswald 388 Beck, Lewis White 321 Beck, Ulrich 488 Beckmann, Kurt 13 Beiner, Melanie 388 Benrath, Gustav 474 Berghahn, Klaus L. 245 Betz, Manfred 131 Beutel, Albrecht I, 2 f., 8–13, 20 ff., 30, 46, 50 ff., 58, 60, 72, 79 f., 101, 185 f., 222, 340 ff., 365, 370, 381, 384, 406, 415, 443, 454, 481 f., 494 f. Bilfinger, Georg Bernhard 72, 79 Blumenberg, Hans 399 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 470 Bodmer, Johann Jakob 135, 240, 242, 245, 249, 252 Boileau-Despréaux, Nicolas 125 f., 245 Brandt, Reinhard 9, 41–44, 50, 339–345, 352, 415, 444 f. Breitinger, Johann Jakob 242, 249, 252 Briese, Olaf 411 f. Brockes, Barthold Hinrich 95 Brückner, Dominik 241 f., 247 ff., 263 Bruyère, Jean de La, 115, 117–120 Buchenau, Stefanie 209, 227, 261 Buddeus, Johann Franz 63 f., 74 f. Bultmann, Christoph 443 Burger, Christoph 396 Butler, Joseph 18 Canz, Israel Gottlieb 72 Cassirer, Ernst 381 f., 400, 480 f. Cherbury, Herbert v. 24, 215, 325 Chladenius, Johann Martin 404 Ciafardone, Raffaele 34 f., 160, 341, 443 Cicero 35, 244
524
Namenregister
Claussen, Johann Hinrich 27 f., 52 f., 194, 358 ff., 421 f., 452–465, 468, 490 Collins, Anthony 24, 67, 183, 187 Cramer, Johann Andreas 108 Crousaz, Jean Pierre de 94 ff., 155, 235, 240 f., 252 Crusius, Christian August 35, 160 D’Alessandro, Guiseppe 160, 443 f. D’Holbach, Paul Henri Thiry 412 Dähnert, Johann Carl 98 Dalai Lama 455 Dehrmann, Mark-Georg 9, 44–55, 99, 104–109, 130–139, 179, 182, 221, 340, 375, 404, 425 Descartes, René 43, 271, 372 Dierse, U. 118 Disse, Jörg 358 Diterich, Johann Samuel 383 Döring, Detlef 109 Dreesman, Ulrich 8 ff., 13, 19, 29 ff., 52, 59, 79, 131, 138, 343, 370, 395 f., 415, 431, 482, 493 Drehsen, Volker 31, 131 Dreier, R. 354 Drexler, H. 376 Dubos, Jean-Baptiste 241, 244, 254, 395 Dülmen, Richard van 335 Dürig, Walter 376 Eberhard, Johann August 20, 154, 370, 383, 493 f. Eckermann, Jacob C. R. 444 Eibach, Ulrich 458 Eichhorn, Johann Gottfried 472 Eifert, Carl Traugott 472 Eisler, Rudolf 478 Elert, Werner 488 Esprit, Jaques 114 f., 118 Feiereis, Konrad 71 Fertig, Ludwig 337 Fichte, Johann Gottlieb 351, 403, 412, 445 Fink, Gonthier-Louis 336 Fischer, Hermann 1 Francke, August Hermann 491 Franckh, Pierre 456 Franke, Ursula 255
Freier, Hans 248 Fuchs, H.-J. 118 Gabler, Hans-Jürgen 248 Gadamer, Hans-Georg 376, 476 Garber, Jörn 39, 51 Gärtner, Karl Christian 108 Gehlen, Arnold 446 f., 457, 488 Gellert, Christian Fürchtegott 108, 404 George, Siegfried 303, 325 Gerber, Uwe 358 Gerhard, Johann 270, 491 Paul Gerhard 490 Gericke, Wolfgang 392, 454 Gerlach, Hans-Martin 72 Gerstenberg, Jakob Heinrich v. 472 Gielen, Marlies 471 Gilhus, Ingvild Saelid 358 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 12, 49, 51, 131–138, 217, 343 Gleixner, Ulrike 271 Goethe, Johann Wolfgang v. 9, 39 ff., 105, 376 Goeze, Johann Melchior 3, 21 ff., 50, 58, 79, 186, 341, 365, 383–386, 405 f., 413, 415, 427, 429, 431, 495 Goschke, Thomas 353 Gottsched, Johann Christoph 26, 45, 47–51, 55, 57, 77 f., 87 f., 104–116, 121–131, 141, 192, 208–212, 217, 223 f., 232, 236–258, 261, 266 ff., 359 Götz, Johann Nikolaus 131 f. Gräb, Wilhelm 474, 489 Gräb-Schmidt, Elisabeth 472, 479 Gradl, Stefan 452 Graf, Friedrich Wilhelm 469 f., 474 ff. Grawe, Ch. 160, 376 Grean, Stanley 325 Gross, Julius 386 Gross, Steffen W. 255, 258, 262 Grossklaus, Dirk 272 Grudzinski, Herbert 142 Grunert, Frank 24 f., 74, 222, 359 f., 367 Habermas, Jürgen 335 Hagedorn, Friedrich v. 133 Hager, F. P. 354 Hamm, Berndt 473
Namenregister Härle, Wilfried 446 ff., 472, 477, 479, 495 Harnack, Adolf v. 476 Heesch, Matthias 411 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25, 351, 476, 481, 488 Heidegger, Martin 352, 437, 441 Hellwig, Marion 95 Helvetius, Claude Adrien 412 Hepfer, Karl 352 Herder, Johann Gottfried 11, 13, 20 f., 41, 105, 327, 376, 444, 447 f., 474, 478 Herms, Eilert 11, 13, 476 Herrmann, Wilhelm 453 Heutger, Nicolaus 63 Heydenreich, Karl Heinrich 155 Hinske, Norbert 9, 34 f., 39 f., 42, 159 f., 402 Hirsch, Emanuel 1, 7, 16 f., 33, 37, 50, 52, 67, 99, 382, 402, 406, 410, 441, 453 ff. Hirschhausen, Eckart v. 456 Hobbes, Thomas 1, 300, 324 Hoffmann, Heinrich 11, 33 Holl, Karl 453, 490 Holtbernd, Klaus 456 Hölty, Ludwig Heinrich Christoph 154 f., 165, 175 Holzhey, H. 336, 412 Homer 282 Horatius, Flaccus [Horaz] 116, 124 ff., 239, 252, 281, 283 Horlacher, Rebekka 9 Hornig, Gottfried 402 Huber, Wolfgang 376 Hutcheson, Francis 18, 20, 28, 32, 39, 188 f., 426 Jackson, Adam 456 Jannidis, Fotis 4, 9, 39 ff., 51, 53, 443, 445 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 14, 19, 24, 37, 104, 337, 376, 413, 443 f., 472 Jesus, v. Nazareth 68 Joel, Karl 7 Jordan, Lothar 9, 45, 47, 51, 105 f., 133, 137, 142 Julian (röm. Kaiser) 66–69 Kant, Immanuel 1 f., 8 f., 13, 20, 23, 27, 29, 33, 35, 37, 39, 42 ff., 58, 71, 154, 160,
525
186, 222, 227, 238, 321, 337, 343, 370, 376, 398, 403, 409–412, 415, 427, 432 f., 444 f., 453 f., 461, 470–480, 488, 494 Kästner, Abraham Gotthelf 108 Kaufmann, Thomas 388 Kemper, Hans-Georg 126, 491 Kertscher, Hans-Joachim 131 f. Kirschner, Josef 456 Klein, Stefan 455 f. Klemme, Heiner F. 143, 180 Kohfeldt, Gustav 63 Kondylis, Panajotis 2, 354 König, Johann Friedrich 64, 168 König, Johann Ulrich 57, 224, 240–248, 255, 266 f. Kopper, Joachim 327 Körte, Wilhelm 133–138 Kosenina, Alexander 5, 338 Krause, Gerhard 342 Krueger, Joachim 231–236 Kubik, Andreas 32 f., 51 La Mettrie, Julien Offray de 412 Lange, Joachim 73, 83 Lange, Samuel Gotthold 132 Latz, Jenny 455 Lauster, Jörg 358, 452 f. Lavater, Johann Caspar 413 Lechler, Gotthard Victor 7, 67 f. Lehmkühler, Karsten 399 Leibniz, Gottfried Wilhelm 1, 35 f., 39, 44 f., 94, 104 ff., 155, 160, 186, 209, 225, 228, 231, 235, 237, 261, 359, 372, 381, 412 Leonhardt, Rochus 5, 358, 452 ff., 463 Leppin, Volker 388 Lessing, Gotthold Ephraim 14, 22, 35, 42, 101, 104 f., 142, 144, 160, 231 f., 376, 381, 384, 409 f., 432 Lewalter, Ernst 63, 78 Linden, Mareta 3 Locke, John 1, 24, 43, 97, 324, 409 f., 432 Longinus (Pseudo) 126, 140 Lorenz, Stefan 9, 160 Löscher, Valentin 112 Lotter, Konrad 309 Lübbe, Hermann 488 Lüdke, Friedrich Germanus 337
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Namenregister
Ludovici, Christian 145–149, 152, 156, 162 f., 205 Lühe, Astrid von der 242 Luhmann, Niklas 488 Luthardt, Chr. Ernst 168, 386 Luther, Henning 489 Luther, Martin 24, 222, 358, 381 f., 386, 388, 396, 399 f., 453 f., 461–465, 473, 490 Lütkemann, Gabriel Timotheus 66 Mainusch, Herbert 105 Manteuffel, Ernst Christoph v. 108 Markworth, Tino 412 Marquardt, Odo 3, 5 Meier, Georg Friedrich 57, 122–127, 131 f., 208–211, 223 f., 236, 238 ff., 252–268 Meister Eckart 452, 461 Melanchthon, Philipp 386 Mendelssohn, Moses 9, 35–39, 45, 48, 144, 159 f., 395, 404, 412 f., 493 Merki, Hubert 399 Metzger, Günther 490 Metzger, Martin 472 Meyer, Horst 143, 188 Michaelis, Johann David 337, 472 Mirandola, Pico della 400 Mocek, Reinhard 335 Mohr, Rudolf 336 Moser, Philipp Ulrich 158 Mosheim, Johann Lorenz 46, 75, 98 ff., 103, 182, 429 Mühlen, Karl-Heinz z. 381, 490 Müller, Wolfgang Erich 19 f., 444, 472 Musäus, Johannes 71 Neurohr, Johann Anton 34 Nicolai, Friedrich 376 Nietzsche, Friedrich 381 Nolte, Ulrich 271 Nordmann, Hans 14 f., 52, 80, 86, 88 f., 93, 185, 339 Nörtemann, Regina 133 Nösselt, Johann August 444 Nowak, Kurt 7, 11, 15 f., 19, 343, 351, 382, 434 Oesterle, G. 154 Origenes 399
Paetzold, Heinz 256–260, 499 Panknin-Schappert, Helke 316 Pannenberg, Wolfhart 1, 444, 446 ff., 478, 495 Persius 35, 161, 273, 276, 279, 340 Peters, Albrecht 396 Peters, Christian 490 Pfotenhauer, Helmut 3 Piepmeier, Rainer 240 f. Platon 194, 269 Plessner, Helmuth 446 f. Pope, Alexander 94 ff., 125, 187 Portmann, Adolf 446 Portmann, Paul Ferdinand 145 Posch, Josef 455 Pöschl, Viktor 376 Pufendorf, Samuel 1, 376 Pyra, Immanuel Jakob 132 Quintillian 244 Raming, Rolf 284 f., 400 Ramler, Karl Wilhelm 49, 132–138 Regenbogen, Arnim 372 Reimarus, Hermann Samuel 25, 413, 444 Rendtorff, Trutz 8, 456 Resnel, Jean Francois du Bellay de 94 f., 125 Rickert, Heinrich 476 Rieck, Werner 133, 135 Riedel, Wolfgang 3, 6 Riemann, Albert 241, 255 Ritschl, Albrecht 476, 488 Rochefoucauld, Francois de La 114, 117–120 Rohls, Jan 189, 382 Rollin, Charles 244 Rosenau, Hartmut 411 Rosenmüller, Johann Georg 472 Roth, Michael 358 Rüdiger, Andreas 26, 74–78, 359, 420 Rudnik, Paul Jakob 132 Sack, August Friedrich Wilhelm 7, 12, 14, 18, 29, 60, 132, 337, 344 Sauder, Gerhard 155 Schaefer, Markus 456 Scharfenberg, Joachim 452
Namenregister Scheible, Hartmut 248 Scheibler, Christoph 63, 78 f. Scheler, Max 446 f. Scheliha, Arnulf v. 168, 471, 473, 476, 487 f. Schings, Hans-Jürgen 5 f. Schlegel, Johann Elias 108 f. Schleiermacher, Friedrich 2, 8, 10 ff., 20 f., 24, 33, 71, 154, 271, 337, 445, 494 Schmidt, Andreas 63, 78 Schmidt, Horst-Michael 255 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 3 Schmidt-Haberkamp, Barbara 276, 282, 285 f. Schnädelbach, Herbert 446, 476 f. Schneiders, Werner 340 f., 359 Schollmeier, Joseph 18 ff., 39, 50, 59, 72, 128, 179 f., 185, 189, 214, 426 Schopenhauer, Arthur 144 Schott, Christoph Friedrich 158 Schrader, Wolfgang H. 189, 325, 327 Schubert, Anselm 3, 5, 382 f. Schüddekopf, Carl 133 f., 137 f. Schulemann, Zacharias David 85 f., 107, 110 Schümmer, Friedrich 156, 240 Schwabe, Johann Joachim 85, 108–111, 122 f., 129 f. Schwaiger, Clemens 36, 46, 51, 58, 158 f., 161, 180, 185 f., 228, 231, 415 Schwarz, Reinhard 400 Schweizer, Hans-Rudolf 238 Semler, Johann Salomo 10, 12, 17, 19, 351, 472 Sherlock, Thomas 67 f. Silhouette, Étienne de 32, 93–98, 103, 122, 125, 130, 429, 432 Sommer, Andreas Urs 36 ff., 50 ff., 63, 340 ff., 364, 367, 377, 387 f., 392, 401 ff., 412, 414, 428 Spaemann, Robert 74, 452 Sparn, Walter 320, 377, 412, 426, 471 ff. Spener, Jakob Philipp 13, 270 Spinoza, Baruch de 20 Stegmann, Andreas 64 Steinbart, Gotthilf Samuel 359, 383 Stephan, Horst 11 ff., 33, 406 Stollberg-Rillinger, Barbara 335
527
Sträter, Udo 270 f., 491 Straube, Gottlob Benjamin 108 Suarez, Francisco 63, 78 Sulzer, Johann Georg 45, 48, 132–138, 154, 254, 370, 395, 493 Süßmilch, Johann Peter 132 Teller, Wilhelm Abraham 24, 383 Tersteegen, Gerhard 491 Tetens, Johann Nikolaus 154, 370, 493 Thomasius, Christian 35, 74, 160, 359 Tiedemann, Paul 376, 475 Tillich, Paul 6 f. Tippmann, Caroline 28 f., 59 Toellner, Johann Gottlieb 19, 337, 383, 387 Toland, John 24, 143, 183, 187, 215, 315 Treuner, Johann Philipp 63 Troeltsch, Ernst 1, 6 f., 12, 453 Ulbrich, Franz 108–113, 131 Uz, Johann Peter 131–137 Vierhaus, Rudolf 335 Vögele, Wolfgang 477 Voigt, Christopher 47, 67, 187, 221 Voss, Johann Heinrich 154 f., 165, 175 Wachter, Johann Georg 130 Wagenmann, Julius August 63 Wagner, Falk 8, 441, 452, 462 Wallmann, Johannes 490 f. Wallner, Pater Karl 456 Walzel, Oskar F. 45, 105, 142, 327 Warburton, William 94 f. Weber, Hans Emil 64 Weber, Max 435, 457 Weiser, Christian Friedrich 142 Werner, Gunda 456 Wezel, Johann Karl 155 Whichcote, Benjamin 272, 300 Wieckenberg, Ernst-Peter 44 Wieland, Christoph Martin 48, 105, 123, 142 Windelband, Wilhelm 476 Winkler, Klaus 458 Wisemann, Richard 455 f. Wolfes, Matthias 74
528
Namenregister
Wolff, Christian 4 f., 12, 23–26, 35 f., 39, 42 f., 46, 48, 51, 54–57, 60–93, 97, 102–106, 111 ff., 122, 127 f., 145, 148 f., 154 f., 160, 169, 186, 192, 204, 207–212, 218, 220, 223–240, 245–262, 265 ff., 359 f., 372, 375 f., 393, 402, 407, 409, 412 f., 415, 420, 424–430, 481, 491 f. Woolston, Thomas 67, 69 Wundt, Max 63 f., 74, 236 ff. Wyttenbach, Johann 34
Zachhuber, Johannes 411 Zager, Werner 388 Zarnow, Christopher 1 Zelle, Carsten 4, 126, 396 Zeman, Herbert 131 f. Zöller, Günter 351 Zscharnack, Leopold 11, 33, 410
Sachregister Abbild (vgl. Urbild) 277, 328 f., 394 f., 399, 423, 466 Aberglaube 34, 184, 477 Absicht (anthropologisch, ethisch; vgl. telos, Ziel, Zweck) 39, 100, 114 ff., 125, 129, 150, 174, 187, 230, 284, 356, 367, 378, 389, 391, 396, 406, 411, 415, 444 Achtung 118, 263, 274, 313, 318 f., 333, 398, 473 ff. affair (vgl. Angelegenheit, concern, interest, relate) 144, 177, 200, 276, 293, 308 affection (vgl. Affekt) 144, 149, 153, 164, 177, 199, 288, 296 ff. Affekt (vgl. affection) 38, 53, 114 ff., 120 f., 165, 173, 175, 197, 199 f. 207, 210 ff., 220, 243, 258–269, 280, 288, 296–320, 329, 332 f., 360, 364, 374, 385, 395 ff., 416, 430, 432, 446, 460, 468, 482, 490 ff. – Affektenlehre 300, 396, 490 Allgemeinbegriff (vgl. conceptus communis) 199, 202, 227, 243 f., 257, 302 f. amor sui (vgl. amour propre, Eigenliebe) 118, 387, 392, 469 amour de soi 118 amour-propre (vgl. amor sui, Eigenliebe) 118 f. Anakreontik 22, 51, 55, 131 ff., 217 Angelegenheit (des Menschen) 11–15, 19 ff., 28, 97, 110, 117, 141, 176 ff., 200 f., 218, 276 f., 281 ff., 290, 292, 308, 331, 338, 404, 415, 425, 428 f., 442, 449, 467, 494 Angemessenheit (vgl. Übereinstimmung) 197, 467 Anlage (vgl. constitution, Einrichtung, Potentialität) 27, 176, 179, 218, 251, 254, 317, 352, 356, 371, 389, 396, 414, 418, 427, 444, 450, 456 ff., 467, 478, 480
Anschauung 3, 229–235, 253, 296, 303, 322, 364 f., 400 Anthropologie 2–19, 27, 35–52, 93, 121, 158, 160 f., 184, 188 f., 194, 213, 221 f., 282, 291, 300, 338, 343, 359 f., 375–389, 399–402, 412, 417–432, 444–456, 466–481, 495 Anthropologische Wende 2–8 Apologie 71, 80, 83, 88, 97, 110, 340, 383 appetite (vgl. Begierde) 296 apprehension 149 f., 204 f., 342 Ästhetik 3 ff., 15, 45, 54–61, 82, 103, 122–158, 180, 184, 188–280, 303–309, 322, 328–334, 341 f., 370 ff., 379 f., 391–401, 424–429, 460, 468, 477, 485, 489, 491 ff. Atheismus/Atheisterey 70 f., 78, 81, 83 f., 169, 315–320, 333, 411, 429 Aufklärung 1–65, 71 ff., 79, 88 f., 92, 97, 99, 101–109, 119, 123, 130–138, 148, 159 ff., 179, 204, 219, 239 f., 270 ff., 286, 309, 320, 335–343, 351, 358 f., 370, 375 f., 381 ff., 395 f., 400, 402, 408–412, 417, 425, 431, 434–448, 454, 456, 474, 479 ff., 490–495 – Aufklärungsforschung 3, 5, 11–19, 33 ff., 159, 376, 411, 434, 443, 454, 495 – Aufklärungsphilosophie 1, 36, 309, 454, 382, 480 – Aufklärungstheologie (vgl. Neologie) 2, 6–20, 32, 45 ff., 59 f., 71, 92, 101, 219, 270 f., 309, 341, 343, 351, 358 f., 375 f., 381 f., 408–412, 434 ff., 446, 456, 474, 479, 481, 490, 494 – Spätaufklärung 3, 5, 35, 39, 41, 160, 402, 443, 446 Ausdifferenzierung 1, 25, 50, 218, 261, 395, 439, 458, 488
530
Sachregister
Begehrungsvermögen 192, 210 ff., 225, 229, 232 f., 259, 265 Begierde (vgl. appetite) 91, 112, 117, 120, 149, 190 f., 237, 263, 265, 296, 355–369, 374, 377 ff., 385, 387, 398 Begriffsgeschichte 35, 56, 160, 223 f., 257, 470 Bekenntnis 2, 238, 386, 405, 446, Belohnung (vgl. Strafe) 172, 183, 212 f., 319 ff., 333, 403 Beredsamkeit (vgl. Rhetorik) 64, 87, 110, 123 Bestimmung – Als-Bestimmung 169, 218 – Ist-Bestimmung 166, 352, 397, 450 – Soll-Bestimmung 166 f., 175, 219, 290, 345, 352, 450 f., 483 ff. – Telosbestimmung 40, 70, 190, 353, 401 f., 420, 423, 451, 466 f., 483 – Zu-Bestimmung 169, 174, 218 Beurteilung (vgl. Urteil) 153 f., 192, 198, 203, 209, 235, 247–254, 262 f., 280, 298, 303 ff., 332, 371, 380, 424, 477, 493 Beweis 66–71, 76 f., 81 f., 109, 111, 117, 174, 237, 240, 243 f., 262, 312, 333, 394, 415 Bewunderung (vgl. Entzückung) 130, 140, 144, 152, 157, 203, 210 f., 265, 274, 303 f., 323, 387 f., 394, 396, 492 Bewusstsein 170, 202 f., 206, 208, 224 ff., 234, 252, 261, 301, 303, 322, 328, 330, 345, 348, 351, 360, 368, 376–380, 392, 397, 406, 414, 420, 423 f., 430, 450, 457, 460, 473, 477 f. – ästhetisches Bewusstsein 393 f., 398 – Bewusstseinsphänomenologie 350 – Bewusstseinstheorie 51, 54, 226, 284, 331, 419, 487 – Differenzbewusstsein 151, 304, 358, 401 – Endlichkeitsbewusstsein 430 – Glücksbewusstsein 420, 423, 466 – Gottesbewusstsein 318 f., 379, 396, 461, 484 – Ichbewusstsein 348 – moralisches Bewusstsein 333, 379, 385, 389 f., 394, 398, 402, 414 f., 439 – Negativ(itäts)bewusstsein 348, 392, 397, 423, 450, 466
– religiöses Bewusstsein 333, 365, 374, 394–398, 416, 430 f., 433, 462, 482–495 – Selbstbewusstsein 25, 348 f., 351, 376, 380, 392, 396, 415, 437 f., 441, 482–490 – Unendlichkeitsbewusstsein 485 – Unsterblichkeitsbewusstsein 406, 425, 433, 439 – Wahrheitsbewusstsein 2 – Weltbewusstsein 393 f., 398, 463, 482 Bibel 14, 42, 318, 329, 394 f., 405, 413, 431, 446, 456, 471 f., 479, 490, 494 – Bibelkritik 381 Bildung 9, 12, 23 f., 30, 35 f., 40–43, 116, 154, 185, 230, 238 f., 242, 245, 277, 281, 312, 400, 417, 440, 442, 448, 474 f., 489 – Bildungsfähigkeit 371 Billigung 153, 244, 365, 379, 398–403, 423, 466, 492 bon gout (vgl. Geschmack, relish, taste) 241 Bonität (vgl. good, Gutheit) 115, 119, 163 f., 211, 287, 304, 390 causa efficiens 69 causa finalis 345 Christentum 2, 6–32, 46–50, 59, 66, 68 f., 71, 74–92, 103, 112, 195, 316, 341, 381 f., 420, 431, 437, 440 ff., 454, 458, 481, 490 – Christentumsapologetik 65, 79, 84, 98, 102, 420 – Christentumskultur 8, 53 – Christentumstheorie 29, 49, 88, 195, 423, 466 cognitio intuitiva 228–233, 261 cognitio sensitiva 261 cognitio symbolica 228, 261 conceptus communis (vgl. sensus communis) 243 concern (vgl. affair, Angelegenheit, interest, relate) 177 f., 200 conscience 149 constitution (vgl. Anlage, Einrichtung, Potentialität) 161, 166, 176 f., 278, 291 ff. Dankbarkeit 22, 196, 301, 405 Deismus 2, 6 ff., 12, 24 f., 44–49, 66–71, 76, 88, 94, 99–104, 112, 181–187, 195, 212, 215, 221, 381, 420, 428, 431, 437
Sachregister Demonstration (logisch) 26, 81 f., 201, 211, 225, 230, 234, 239, 247, 373, 393, 405, 417 – Demonstrationsmethode 81, 223, 238 f., 243, 264, 415, 424, 426 destinare/destine 161 f., 170 determinare/determine 162, 168 f., 257 ff., 286, 293, 320 Determination 162, 293, 352, 390 Determinismus 388 Deuten (vgl. Erleben) 25, 438, 442 Deutlichkeit (erkenntnistheoretisch) 82, 86, 91, 97, 100, 208 f., 212, 225–237, 245–267, 375, 407, 424, 493 Deutscher Idealismus 10, 16, 37, 351, 446 Deutung – Deuteschema 25 f., 405, 440, 442, 449, 451 f., 490 – Deutungskultur 2, 271, 405, 449, 470 – Deutungsmuster 440 – Selbstdeutung 1, 24 ff., 51 ff., 102, 142, 200, 269 ff., 286, 346, 352, 381, 400 f., 405 f., 428, 434–451, 459–469, 478, 482–495 – Weltdeutung 1, 51, 269, 314 f., 327, 355, 405 f., 428, 435, 442, 450, 469, 482–495 Dialog 4, 106, 112, 157, 187, 269, 282–291, 307, 322 f., 327, 338, 394, 400, 417, 453 Dichtkunst (vgl. Poesie, Poetik, 87, 106, 110, 116, 122, 125–129, 224, 239 f., 245–255, 267 Diesseits 28, 75, 171, 214, 358, 367, 392, 413 f., 420 f., 433 dignitas hominis (vgl. Menschenwürde, Wert, worth) 376, 471, 473, 478 dispositio 255 Dogmatik 2, 4, 7, 17 ff., 31, 38, 49 ff., 60, 64 f., 71, 73, 75, 82, 102, 104, 168, 170, 194, 219, 222, 270, 275 f., 291, 330 f., 336–343, 351, 376, 381–416, 417, 419–431, 446–455, 472, 480 f., 488–493 Dogmenkritik 14, 16, 52, 58, 170, 181, 376, 387, 494 Dunkelheit (erkenntnistheoretisch) 82, 86, 89, 209, 225 ff., 247, 254–260, 402
531
Ehrfurcht 170, 317, 328 f., 396, 430, 468, 492 Eigenliebe (vgl. amor sui, amour propre) 115–121, 128 f., 216, 320, 354, 387 Einbildung 227, 277, 287, 361 – Einbildungskraft (vgl. Phantasie) 156, 227, 250 Einfachheit (vgl. simplicitas) 253, 329, 410, 416, 456 Einrichtung (vgl. Anlage, constitution, Potentialität) 91, 165 ff., 173, 176 f., 190, 218, 291, 344, 356, 371, 378, 386–389, 418, 427 Ekklesiologie (vgl. Kirchenlehre) 451, 458 elocutio 255 Empfindung 5 f., 12, 21, 31 f., 47, 49–61, 79, 82, 85, 90 ff., 103, 130, 140, 146–158, 188–212, 223–268, 300–307, 342, 355, 367–379, 423 ff., 437 f., 457 ff., 490 ff. – Ästhetisch-geschmackliche Empfindung 191, 218, 223–268 – Ästhetisch-moralische Empfindung 146–158, 300–307, 325 f., 332, 360–370, 393 – Ethische/moralische Empfindung 32, 46, 50 ff., 75, 149 f., 171, 182, 188–207, 212 f., 220, 320, 367–375, 387–398, 402–404, 421–429, 425 f., 450, 466, 484, 486 – religiöse Empfindung 350, 374 f., 395–398, 409, 430 ff., 460, 478, 485 f., 490 ff. Endlichkeit (vgl. Unendlichkeit) 381, 396 f., 430, 456, 459, 482–487 Enthusiasmus 84, 105, 112, 137–140, 491 Entzückung (vgl. Bewunderung) 144, 203, 210, 304, 365, 374, 395 ff., 492 Epistemologie (vgl. Erkenntnistheorie) 50, 52, 57, 81, 86, 89, 91, 103, 144, 200, 220, 225, 267, 271, 371 Erbauung 60, 64, 240, 341 Erbauungsliteratur 4, 270 f., 336, 341 f., 417, 491 Erbschuld 17, 382 Erbsünde (vgl. Imputation) 17, 37, 364, 377, 381–392 – Erbsündenanthropologie 27, 213, 377, 427 f., 480
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Sachregister
– Erbsündenkritik 6, 17, 52, 375, 381–392, 405, 427, 480 f. – Erbsündenlehre (vgl. Sündenlehre) 17, 38, 54–60, 75, 118, 222, 376, 381–392, 399, 418, 427, 480 Erhabenheit 126, 140, 144, 171, 182, 194, 279 f., 319, 328 f., 394, 396 f., 430, 492 Erhaltung 167 f., 176, 292, 332, 394 Erkenntnis 50, 56 ff., 64, 82, 86, 151, 201, 209 ff., 220, 292, 353, 463 – Ästhetische Erkenntnis 208 ff., 232, 250, 264 ff. – Anschauende Erkenntnis (vgl. cognitio intuitiva, intuitus) 224–253 – Erkenntnistheorie (vgl. Epistemologie) 5, 23, 54, 61, 82, 92, 146, 158, 188, 200 ff., 208–267, 304, 324 f., 367, 372–380, 395, 404, 411, 414, 424–435, 491 f. – Erkenntnisvermögen 82, 84, 87, 210, 224–267 – Moralische/Ethische Erkenntnis 198 f., 205, 208 f. – Natürliche Erkenntnis 78, 244 – Religiöse/Gotteserkenntnis 31 f., 82, 91 f., 97, 266 f., 329, 334, 432, 490 – Selbsterkenntnis 49, 280–289, 331, 343, 348, 353, 423, 466 Erleben (vgl. Deuten) 16, 25, 232, 238, 264, 344–349, 362, 369–373, 380, 396 f., 417, 438–442, 468, 483 ff., 493 Eschatologie 29, 412, 420, 451, 462–465 Ethik (vgl. Moralphilosophie, Sittenlehre) 2–6, 31, 39, 46–58, 75, 113, 141 f., 146, 158–161, 183 f. 189, 192, 211, 229–237, 267, 272, 281, 292–300, 327, 332, 341–375, 381, 385, 402 f., 417 ff., 439, 445–479, 492, 495 Ewigkeit 17, 70–75, 88, 91, 93, 171, 219 f., 314, 320, 328, 350–360, 366, 379, 380, 392–398, 409, 416, 420 f., 432, 447, 451, 462–468, 482–487 Fanatismus 491 feel (vgl. Gefühl) 148–156, 177, 204, 218 – immediate feeling 151 felicitas aeterna (vgl. Ewigkeit, felicitas temporalis, Glück) 74
felicitas temporalis (vgl. Ewigkeit, felicitas aeterna, Glück) 74 fit 168, 293 Fortschritt 37, 274 f., 330, 351, 401–404 f. Freidenker (vgl. Freigeister, Deismus) 46, 112, 181–187 Freiheit 1, 23, 26 f., 31, 38, 175, 219, 274, 329, 376, 381, 387 f., 392, 396, 426 f., 436, 439, 442, 449, 454–481 Freigeister (vgl. Deimus, Freidenker) 96, 182 f., 428 Fremdliebe 5 Freundschaft 22, 30 f., 48, 55, 113, 118 ff., 131–138, 157, 181, 217, 307 f., 313 Frömmigkeit 4, 6, 11 f., 21, 27, 32 f., 51, 60 f., 81, 89–93, 103, 113, 213, 271, 320, 336, 342, 358 f., 399, 435, 442, 481, 490 ff. Ganzheit (vgl. Totalität, Universum, Welt) 5, 33, 280, 296, 326 ff., 346, 353, 368, 421, 429, 458–467, 482–489 Gattung – begrifflich 124, 155, 215, 361 – biologisch/anthropologisch 3, 37, 163–178, 195–199, 218 f., 277–279, 292–312, 326–332, 401 f., 444 – literarisch 4, 18, 31, 40, 51–56, 86, 88, 102 f., 110 f., 116, 144, 179–181, 257, 269–276, 286, 323, 337–344, 417 – Gattungsbestimmung 275, 339 – Gattungssystem 163 f., 295 Gedächtnis 64, 92, 446, 456, 459 Gefallen (vgl. Missfallen) 249, 251, 278, 283, 386, 400 f., 405 Gefühl (vgl. feel) 3, 12–15, 20 f., 28, 31 f., 42, 49–54, 60, 90, 92 f., 118–120, 129, 146, 150–156, 178, 203–249, 269, 272, 284, 296, 299–330, 336–348, 361–371, 379, 389–397, 455–461, 485, 490–494 Gehorsam 171 f., 194, 319, 398, 400 Geist 5, 14, 21, 25 f., 42, 69, 83 f., 90 f., 100, 109, 119, 126–130, 139, 153, 179, 183, 186, 196, 216, 239, 253, 264, 277, 290 f., 304–308, 310–315, 320, 323–334, 339, 346–374, 380 f., 386, 390–401, 408, 421 ff., 426, 430, 437–445, 450, 457–466, 483 ff., 492
Sachregister – Geistesgeschichte 6, 10, 14 f., 38, 43, 48, 51, 53, 102, 113, 269, 343, 377, 381, 437 Geltung 54, 201, 289, 311, 320, 332, 354, 356, 389, 407 f., 418 f., 430, 432, 436, 440 f., 457, 464, 470, 477 ff., 485 f., 490 Gemäßheit 166, 174 f., 260, 295, 362, 372 Gemüt 12, 117, 123, 125, 146, 149, 178, 183, 189, 210, 214, 242, 246, 250, 259, 265 f., 350, 355, 363, 366, 403, 486 – Gemütsart (vgl. temper) 164, 178, 278, 298 ff., 318, 332 – Gemütsbewegung 153, 164, 178, 296–312, 316, 320 – Gemütsruhe (vgl. Seelenruhe) 289 Genesis/Genese 3, 464 Gerechtigkeit 41, 70, 207, 318, 350 Geschlecht 37, 89, 117, 120, 167, 178, 307 f., 363, 410 Geschmack (vgl. relish, taste) 47, 49–52, 57, 69, 90, 95, 106, 119, 123, 126 ff., 135, 141, 146–158., 184 f., 192 f., 203–211, 218–268, 277 f., 331, 337, 365, 370 f., 424 ff., 492 Gewissen 48, 53, 97, 205, 397–401, 430, 490 f. Gewissheit 82, 97, 237, 264 ff., 287, 346 f., 374, 381, 401, 403 ff., 417, 431 f., 453, 477, 486 ff. Glaube 12, 17, 29, 34, 44, 57, 60, 73, 81, 83, 86 f., 94, 130, 168, 172, 184, 186 f., 193, 213 ff., 221 f., 286, 317–323, 333, 339, 344, 360, 376, 381 ff., 387, 402, 406–411, 415 f., 421, 456, 461, 467, 473, 476 f., 487 ff. – Glaubenslehre 317, 408 Glück 16, 25 ff., 49–60, 75, 77, 135, 215– 222, 237, 283, 309–313, 321 f., 329 f., 333, 349–368, 391, 402 f., 413–435, 451–469, 478, 485–495 – ewiges Glück 17, 70 f., 74 f., 91, 213, 219, 359 f., 366 f., 420 ff., 428, 432 – Glückseligkeit 40, 51, 71, 74 ff., 87, 91 ff., 102, 170–179, 185 f., 193, 195, 212–222, 237, 239, 287 ff., 309, 331, 333 f., 356–368, 374, 378, 391 ff., 403 ff., 420 f., 424, 429–433, 455, 461, 464, 468, 493
533
– Glücksstreben 24, 26 ff., 359 f., 392, 427, 429, 453–467 – Glücksstufen 28 – zeitliches Glück 17, 70 f., 74, 359, 420 ff. Gnade 90, 99, 101, 219, 239, 382, 386, 392, 400, 423, 466, 468 – Gnadenlehre 382–386, 399, 413, 428, – Schöpfungsgnade 423, 466 – Vergebungsgnade 423, 466 good (vgl. Bonität, Gutheit) 164, 170 f., 177, 286, 294, 297–305, 309, 313, 318 f., 321 Gott 1, 10, 20, 23, 38, 70, 78, 81 f., 84, 90 f., 96, 99 f., 168–172, 186, 190, 194, 213, 219, 221, 314–321, 334, 386, 391, 396 ff., 405, 407, 413, 415, 431, 444, 448, 450 ff., 461 f., 468, 472 f., 476, 478 f., 485 – Existenz Gottes 82, 431, 444 – Gottebenbildlichkeit (vgl. imago Dei) 194, 329, 377, 399, 444–450, 467–480 – Gottesbegriff 13, 81, 169–172, 186–191, 205, 215, 314–318, 333, 391, 396, 399 f., 430, 449, 462 – Gottesbeweis 26, 73, 78, 81, 395, 407, 430, 481, 492 – Gotteslehre 395, 399 – Gottseligkeit 89 ff., 103, 113, 126 – Gottverähnlichung (vgl. homoiosis to theo) 53, 194 f., 213, 222, 329, 334, 380, 399 f., 414, 423, 429 f., 466, 478 f. Großmut 84, 157, 196, 371, 387 Gutheit (vgl. Bonität, good) 163, 197, 233, 242, 244, 278, 294, 299 f., 332, 391, 396, 416 Habitus/Habitualisierung 25, 40, 207, 244, 251, 283, 306, 349, 371, 438 f., 442, 449 Hang 118, 123, 300, 491 Harmatiologie (vgl. Sündenlehre) 450 Harmonie 72, 89, 153, 280, 289, 292, 303, 308, 312, 323 f., 413 f. Hedonismus 33, 422 Heil 359, 451, 484 – Heilsgewissheit 487, 489 Heilige Schrift (vgl. Bibel) 17, 41, 99, 337, 440, 442, 472
534
Sachregister
Hermeneutik 5, 56, 58, 179, 208, 281, 331, 399, 407, 432, 435 f., 453 f., 465, 491, 494 – Kulturhermeneutik 441, 489 – Religionshermeneutik 32 Homiletik (vgl. Predigtlehre) 10, 21, 24, 29, 489 homoiosis to theo (vgl. Gottverähnlichung) 28, 53, 194, 213, 222, 399, 401, 430, 478 Humanismus 381, 400, 481 Humanität 40, 444, 447 f., 474, 478 Idealismus (deutscher) 10, 16, 37, 351, 446 Idee 23, 34 f., 44, 49, 60, 70, 79, 131, 133, 159 ff., 183, 186, 191, 213, 219, 221, 250, 334 ff., 415, 445, 475 – angeborene Idee (vgl. innatae ideae/ koinai einoiai) 303, 324 f., 372 – Basisidee 34 f., 159 f., 375, 419, 443, 446 – Grundidee 34, 159, 402, 470 – Kampfidee 34, 159, 491 – Programmidee 34, 159, 402 Ideengeschichte 2, 9, 13, 16, 18, 21, 23, 27 f., 34 f., 38, 41, 43 f., 51, 56 f., 113, 118, 145, 179, 222, 249, 256, 261, 327, 372, 375, 409, 436, 476, 478 Identität 1, 36 ff., 60, 106, 137, 285, 306, 374, 412, 448, 453, 489 imago Dei (vgl. Gottebenbildlichkeit) 471 Immanenz (vgl. Transzendenz) 395, 458, 482 f., 485 Imputation (vgl. Erbsünde) 383, 390 inclination 162, 172 ff., 305, 319 Indifferentismus 83 Individual-/Individuenbegriff 257 f. Individualität 20, 32, 36 f., 50, 60, 257, 271, 340, 401, 422, 445 f., 449, 465, 488 Indoktrination 170, 286, 336 innatae ideae/koinai einoiai (vgl. Idee, angeborene) 303, 324, 372 Innerlichkeit 66, 69, 90 f., 117, 120, 150 ff., 206 f., 214, 236, 241–254, 261, 263, 283, 335, 350, 363 f., 367, 378, 386, 391, 403, 421, 439, 491 Institution 4, 30, 402, 431, 442, 451 f. Integration 3, 5, 29, 42, 51–54, 57, 69, 76, 148, 153–158, 209, 218, 224, 242, 268, 288, 307, 331, 346, 359, 365, 378, 391 f.,
416, 418, 421, 424–429, 434, 441–445, 457–468, 471–479, 485 f., 489 intellectus (vgl. Verstand) 235 intend 162 f., 173 ff. Intentionalität 117, 174, 190, 196, 276, 302, 388, 395, 462, 482, 484, 487 interest (vgl. affair, Angelegenheit, concern, relate) 177 f., 197, 200, 286 f., 291, 294, 297, 303, 308–312, 321 Introspektion 37, 41, 120, 269, 279, 286, 338, 347 ff., 355–360, 378, 380, 399, 404 ff., 414, 423, 434, 459, 466, 495 intuitus (vgl. cognitio intuitiva)231 invention 255 Irrationalität 114, 120, 154 f., 243, 435, 446, 458, 460, 490–495 iudicium (vgl. Beurteilung, judgment, Urteil) 259, 262 Jenseits 37, 41 f., 186, 367, 413, 420 – Jenseitsglaube 333 judgment (vgl. Beurteilung, iudicium, Urteil) 153, 155, 286, 307, 322 Kalokagathie 309 Katechetik 29 Kirche 1 f., 15 f., 18, 23, 29 f., 44, 118, 337, 411, 440, 451, 458, 469 – Kirchengeschichte 2, 9–12, 17, 19–22, 64 – Kirchenglaube 44, 411 – Kirchentheologie 68 – Kirchentheorie (vgl. Ekklesiologie) 29 f. Klarheit (erkenntnistheoretisch) 86, 89, 209, 225–228, 234, 247, 249, 254–267, 407, 413, 424 Kognition 30 f., 54, 65, 197, 352 f., 438, 442, 449, 457, 468, 482, 486 Konfession 1, 7, 51, 53, 270 f., 340, 386, 446, 453, 470, 478, 481 – Konfessionalisierung 24, 446 Konstitution (vgl. constitition) 31, 163 f., 168 f., 175, 177, 210, 218, 231, 293, 356, 433, 441, 446, 450, 482 Kontingenz 482–489 – Kontingenzbewältigung 486 ff. Kontrafaktizität (vgl. Normativität ) 174, 218 f., 295, 450, 480
Sachregister Kreatur 147, 163–167, 173–177, 196, 280, 291, 294–305, 310 ff. Kultur 1, 5, 30 f., 133, 269, 276, 384, 402, 417, 434, 441, 442 f., 446, 449, 456, 458, 488, 490 – Christentumskultur 8, 53 – Deutungskultur 2, 271, 440, 449, 470 – Kommunikationskultur 31, 217 – Kulturgeschichte 12, 269, 275, 280 ff., 335, 377 – Kulturhermeneutik 441, 489 – Kulturprotestantismus 6, 15 – Kulturwissenschaft 335, 470, 476 – Religionskultur 24 f., 30, 270, 351, 437, 452 – Wissenskultur 335 f. Kunst 64, 87, 109 f., 122–128, 132, 140, 178, 211, 231, 238, 241–247, 251, 261, 263, 275 ff., 280 ff., 291, 308, 317, 324, 421, 449, 456 – Kunstkritik 124–128, 141 Lebewesen 163–169, 174, 218, 292–302, 326, 332 Lebendigkeit 33, 64, 167, 237, 253, 264 ff., 323, 393, 405, 409 Lebensführung 7, 39, 51, 269, 286 f., 290, 345–349, 352, 360, 400, 417, 419, 423, 426, 431–442, 450–461, 464–468, 480–488 Lebensgeschichte 36, 53, 269, 422, 441, 460, 464, 488 f. Lebhaftigkeit 114, 140, 264 ff. Leidenschaft (vgl. passion) 119, 126 f., 152, 164, 214, 279, 281, 288, 296–300, 305, 311, 321, 350, 378 Letztbegründung 39, 437, 441 Literaturkritik 106, 111, 113, 116 f., 121, 123–129, 140 f., 193, 217, 245 Literaturtheorie 15, 55, 106, 109, 126, 140 f., 245 Literaturwissenschaft 5, 9, 28, 39, 41 Liturgik 29, 451 Lust (ästhetisch, ethisch, religiös) 28, 52, 114, 149, 151, 156, 162, 175, 182, 189–192, 197 ff., 203–210, 216, 219 f., 229–250, 254, 258–267, 288 f., 304, 306, 309–313, 320 f., 329, 332 f., 348 f.,
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360–374, 380, 385–389, 393, 420–425, 438, 442, 453 ff., 460, 468, 492 – Lustempfindung 198, 203, 210, 217, 233 f., 249, 258, 263, 313, 360 f., 368 f., 374, 395, 425, 460 – Lustgefühl 120, 212, 230, 242, 249, 307, 361, 369, 492 f. Menschenbild 119, 474, 476 Menschenwürde (vgl. Wert, worth) 6, 28, 54, 59, 375 ff., 399 f., 426, 435, 448, 469–481, 495 Menschheit 40, 274, 277, 308, 364, 385, 396, 444 Metaphysik (vgl. Weltweisheit) 5, 20, 43, 55, 63 ff., 71–89, 102–113, 141 f., 148 f., 159, 192, 207–212, 223 ff., 228–239, 245 ff., 252 ff., 261, 266, 281, 393, 412, 415, 424–428, 454 – Schulmetaphysik 5, 64, 71, 78, 245, 253 Missfallen (vgl. Gefallen) 199, 203, 304 f., 321 Mitleid 87, 196 f., 298, 301, 305 Moderne 1, 6 ff., 30, 53, 160, 292, 381, 434, 436 f., 441, 447, 452, 467, 488, 495 Monolog (vgl. Selbstgespräch, Soliloquium) 6, 37, 269 ff., 279, 331, 343, 445 Moral 20, 38, 50, 201, 245, 281, 308, 415, 445, 482 – Moralität 23, 33, 56, 82, 93, 117, 124, 128, 169, 173, 185 f., 190, 193, 195, 205, 207, 212, 216, 241, 282, 288, 290, 300, 305 ff., 314–321, 331 ff., 341, 353–369, 373, 379 f., 389, 391, 398, 403 f., 409 f., 416, 420–435, 438, 441, 445, 460–466, 478–485, 493 – Moralphilosophie (vgl. Ethik, Sittenlehre) 2, 14, 32, 43, 57 f., 128, 142, 163, 168, 181 f., 189, 194 f., 200, 237, 245, 281, 291, 296, 300, 309, 318, 331, 359, 417, 419, 426, 436 – moral sense (vgl. Empfindung, moralische) 18, 46, 48, 56, 146 ff., 154, 189, 212, 220, 268, 332 Motivation 80, 100, 173, 184 f., 193, 210 ff., 221 f., 242 f., 279, 299, 308, 310,
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Sachregister
333, 373, 391, 408, 430, 433, 459, 460, 474, 480, 486 Mündigkeit 24, 30, 34, 437, 442 Nachahmung 91, 170, 213, 252, 282, 333 Natur 41, 99 ff., 147 f., 164–169, 173–178, 187–194, 218, 237, 244, 251 f., 277, 279 f., 289, 291–299, 309–319, 322–334, 353–366, 378–383, 385, 393 ff., 407, 429, 444, 483, 485, 492 – Natur des Menschen 1 f., 41, 161, 172, 178, 194, 219 ff., 233, 307 f., 329, 347, 352–361, 364 f., 375–383, 386–392, 398, 408, 413, 423, 427 ff., 456, 466, 479 – Naturalismus 13, 100 – Naturrecht 1 f., 73, 97, 436, 477, 479 Neigung 31, 91, 115, 119 ff., 149, 152–156, 162–175, 178, 190–199, 203, 216, 220, 243, 281, 296, 299, 305, 310–319, 349, 354 f., 361 f., 366, 369, 385–390 Neoepikureismus 44, 360 Neologie (vgl. Aufklärungstheologie) 2, 7 f., 13 f., 16 f., 21–28, 32 f., 43, 52, 60, 104, 343, 358 f., 375 f., 382 f., 409, 412, 437, 442, 454, 474, 480 f., 494 Neostoizismus (vgl. Stoizismus) 44 Neuzeit 1, 6 f., 16, 24, 26, 30 ff., 38, 73, 381, 400, 434, 437, 441, 449, 476, 481 Norm 166, 172, 282, 290, 354, 393, 417, 450, 469, 473, 475, 486 Normativität (vgl. Kontrafaktizität) 8, 25, 53, 120, 166, 174, 197, 201, 218 f., 222, 269, 275, 277, 279, 280 f., 308, 331 f., 354, 373, 396, 418, 427, 436, 439 f., 450, 473, 477, 480, 490 nosce te ipsum 282 Offenbarung 2, 14–17, 22 f., 38, 46–48, 66, 69, 84, 88 f., 93, 96 ff., 101, 103, 183 f., 215, 221, 384, 404, 406–410, 413, 429, 431 f., 446 f., 451, 494 – Offenbarungsglaube 73, 221, 410 f. – Offenbarungsreligion 43, 50, 96 f., 215, 404, 407 ff., 429 ff., 489 – Offenbarungstheologie 44–49, 54, 96, 340, 395, 405 f., 413
Öffentlichkeit 12, 25, 70, 105, 118, 286, 335 f., 341, 351, 417, 424 Oikeiosis-Lehre 118 Ontologie 42, 78, 218, 229, 232, 373 ordo salutis 75, 412 Organismus 163, 165, 246, 323 f. Orthodoxie (protestantische) 4, 12, 14–18, 22, 27, 46, 60, 63 f., 67, 71, 75 f., 84, 94, 100 ff., 184, 188, 270, 342, 382 f., 386 ff., 399, 405, 412, 427, 430, 481, 490 f. Pantheismus (vgl. Deismus, Theismus) 183, 186 ff., 395, 429 f. passion (vgl. Leidenschaft) 152, 164, 280 f., 288, 296, 299 f., 305, 312 Passivität 231, 236, 264 Pelagianismus 22 perceive 149, 151, 309 Perfektibilität (vgl. Vervollkommnung) 34, 37, 41, 53, 186, 189, 214, 357, 379 f., 400, 402, 412 ff., 427, 430, 433, 450, 458, 464, 468, 486 f. Pflicht 58, 70, 76, 91 ff., 113, 125, 139, 215, 283, 285, 308, 310, 448, 450, 461, 480, 492 Phänomenologie 25, 344, 350 f., 385, 395, 397, 441 Phantasie (vgl. Einbildungskraft) 156, 250, 279, 289, 417 Pietismus 4, 11, 13, 15, 18, 21, 24, 63 f., 72 f., 82 ff., 88–93, 101, 103, 112 f., 271, 336, 342, 492 f. Platonismus 43 f., 53, 130, 171, 194, 213, 222, 300, 303, 324 f., 329, 334, 372, 380, 391, 399 f., 412, 454, 471, 478 Poesie 77, 109 f., 124–129, 247, 249, 282, 289, 491 Poetik (vgl. Dichtkunst) 47, 49, 94, 105, 109 f., 116, 123–129, 131, 172, 187, 211, 237, 248, 252–260, 283 Poetologie 5, 49 ff., 56, 61, 82, 87, 89, 103, 106 f., 111, 121–131, 141, 145, 154 f., 158, 180, 192, 195, 207–212, 217 f., 220, 223, 232, 236 ff., 245, 252, 254f, 266 f., 375, 424 f., 491 Poimenik 29 Popularphilosophie 4, 13, 60 f., 88, 271, 336–344, 359, 417, 445, 461
Sachregister Potentialität (vgl. Anlage, constitution, Einrichtung) 356, 377, 388, 426, 456, 467, 480 Prädestination (vgl. Vorherbestimmung) 37, 170 f., 219, 388, 419 Predigt 17, 21, 70, 90, 240, 272, 300, 323, 376, 476 – Predigtlehre (vgl. Homiletik) 29, 440, 443 Privatheit 2, 32, 101, 207, 276, 297 f., 310, 321, 330 ff., 351 prodesse et delectare 124 f., 239 Projektion 462 Proportion/proportion 153, 166 f., 202, 208, 279 f., 292, 300, 303–308, 313, 324 f., 393, 414 – Proportionalität 203, 325 f., 332, 364, 414 Protestantismus 7 f., 11, 15, 23 ff., 27, 33, 52, 59, 63, 71, 78, 222, 342, 358, 360, 375–382, 434 f., 441 f., 452 ff., 467–476, 479 ff., 490, 492, 494 f. – Altprotestantismus 70 f., 75, 194, 270, 337, 381 ff., 388, 399, 481 – Kulturprotestantismus 6, 15 – Neuprotestantismus 11, 17, 21, 24, 50, 270, 359, 382, 434, 453, 462 provide 162, 166, 168, 175 f., 292 f., 309 providentia/Providenz 168, 293, 402, 488 – providentia extraordinaria 168 – providentia ordinaria 168 psychologia empirica 35, 229, 232, 238 Psychologie 4 f., 12, 21, 50, 54 ff., 78, 93, 106, 113 f., 118, 120, 127, 146, 148, 158, 196, 203 f., 208 ff., 220, 223–233, 245–254, 259 f., 262, 266 f., 284, 331, 346, 360, 370, 374 f., 394 f., 407, 412, 416, 419, 424, 435, 447, 458, 492 ff. – Vermögenspsychologie 106, 148, 245, 250, 346, 407 Rationalismus 2, 12, 45 f., 63, 78, 101, 105, 236, 241, 268, 407, 409, 425, 446 Rationalität 1 f., 4, 24, 32, 49 f., 56, 65, 73, 81 f., 84, 89 f., 92 f., 114, 119 f., 155, 163, 170, 184, 188, 195, 199 f., 206, 209, 211, 220, 224, 227, 234–243, 251, 254, 269, 302–310, 326–329, 343, 372, 375, 385,
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393 ff., 409, 412 f., 417, 425, 432, 435, 459 f., 470, 481, 490–495 Rechtfertigung 101, 382, 392, 414, 423, 453 f., 461, 472 f., 490 – Rechtfertigungslehre 17, 384, 399, 423, 428, 430, 451, 454, 463–468, 473, 480, 489 reflection 204, 275, 301, 303 Regelmäßigkeit 150, 165, 173 f., 199, 205, 207, 210, 216, 274, 304, 309, 324, 364, 393 f., 485 relate (vgl. affair, concern, interest, Angelegenheit) 144, 177 f. Religion 2, 4, 7 f., 11–33, 38, 46, 49–60, 66, 69–98, 103, 110, 112, 129, 131, 142, 169, 173–188, 193, 195, 201, 205, 212 ff., 221 f., 241, 300, 314–322, 333 f., 337, 341, 343, 346, 351, 358 ff., 365, 367 f., 377, 392, 394, 398, 400, 404, 406–415, 420, 423–448, 454, 458–468, 478–495 – christliche Religion 25, 30, 66, 69–73, 78, 84, 87 f., 98, 129, 359, 407 ff., 428 f., 432, 489 – natürliche Religion 25 f., 51, 70–76, 81, 84, 102 f., 182 f., 186 ff., 215, 221, 404–410, 428–432, 436 – geoffenbarte Religion 14, 22, 54, 87, 94–100, 215, 407 ff., 428 f., 435 – Religionshermeneutik 32 – Religionskultur 24 f., 30, 270, 351, 437, 452 – Religionsphilosophie 1 f., 4, 13 f., 43, 57, 71, 101, 106, 142, 168, 176, 181 f., 185, 200, 221, 292, 314, 329, 332, 399, 417, 426, 431, 474 – Religionsstreitigkeit 1 – Religionstheologie 6 ff., 10, 19, 29 ff., 38, 50, 59 f., 104, 462, 494 relish (vgl. taste, Geschmack) 156, 206, 278 Renaissance 10, 376, 381, 400, 436, 471, 480 – Renaissancephilosophie 73, 376, 471, 478 – Renaissanceplatonismus 399 f. Rhetorik 25, 31, 87, 107, 121, 255, 265, 290, 301, 323, 344, 347, 351, 356, 404, 406, 417–421
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Sachregister
Rühren 64, 129, 140, 148, 178, 193, 197 ff., 209 ff., 363, 365, 369 f., 387, 409 Säkularisierung 249, 335, 342, 458 Satisfaktionslehre 17, 70, 170 Schönheit (ästhetisch, moralisch, religiös) 42, 87, 123, 127, 140, 144, 147 f., 157, 178, 184, 189, 191 f., 198, 206 f., 210 ff., 216, 229, 232, 242 f., 248–253, 260, 263–266, 278, 280, 289, 304, 306 ff., 324–334, 349, 363 ff., 370 ff., 391–398, 401, 429, 460, 485, 492 Schulphilosophie 45, 51, 56, 73 f., 78, 105, 154, 209 f., 236 f., 255, 338, 341 Schwärmerei 34, 82, 87 ff., 134, 490 ff. Seele 42, 56, 100, 110, 126 f., 129, 135, 190, 199, 201–212, 220, 224 ff., 236, 243, 246 f., 253, 258, 261–272, 280, 285, 308, 313, 324, 331, 333, 347 f., 350, 361 ff., 374, 385, 388, 402 f., 407, 412, 415 f., 422, 457 f., 473, 476, 481, 486, 491 – Seelenkunde 236, 491 – Seelenmetaphysik 56, 415, 433 – Seelenruhe (vgl. Gemütsruhe) 360, 363 f., 367, 397, 401, 416, 420, 422, 426, 460, 492 – Seelenvermögen 211, 247 ff., 263 Selbst 115, 119 f., 269, 279, 285 f., 290, 329, 346 f., 355, 362, 364, 366, 379, 393, 397, 438, 441 f., 450, 457, 464, 482 f., 486 – Selbstauslegung 438 ff., 490 – Selbstbefragung 347 – Selbstberatschlagung 284 – Selbstbesinnung 269, 289, 332, 343 f., 417, 419, 437 f., 449, 467, 480, 489 – Selbstbestimmung 6 f., 25, 33, 53, 173, 219, 270, 342, 344 f., 417, 435, 439 ff., 445, 449, 451, 478, 483, 486 f. – Selbstbetrachtung 269, 271 f., 283, 364, 366 – Selbstbewusstsein 25, 348 f., 351, 378, 380, 392, 396, 415, 437 f., 441, 455, 482 f., 487, 490 – Selbstbild 439, 488 – Selbstdenken 24, 34, 344, 437 – Selbstdifferenzierung 331, 348 – Selbstentdeckung 38, 286, 347 f., 368, 392, 422, 460, 480
– Selbsterhaltung 118, 167, 298, 311 f., 380, 426 – Selbstgespräch (vgl. Monolog, soliloquium) 4, 7, 18, 26, 48, 51, 57, 129, 269–291, 330 ff., 338, 343 ff., 349 ff., 417 ff., 445 – Selbstgewissheit 381, 417, 487 – Selbstinterpretation 440, 477 – Selbstreflexion 6 f., 25, 37, 345–352, 394, 398, 431, 436, 460, 479 – Selbstsucht 298 f., 455 – Selbstumgang 335, 349 ff., 467 – Selbstvergewisserung 270, 346 f., 406, 415, 435, 452 ff. – Selbstzweck 17, 309 Semiotik 39 ff., 441, 443 sensatio 148, 262 f. sensation 148–151, 155 f., 325 f. sense 144–158, 146 ff., 196, 202, 210, 218, 279, 281, 301, 307, 313, 324 f., 328, 375 f., 491 – common sense 376, 456 – moral sense 18, 46, 48, 56, 146–154, 189, 212, 220, 268, 332 – reflected sense 153 f., 196 f., 301 sensus 158, 261, 263 – sensus communis (vgl. conceptus communis) 241 f. – sensus internus 261, 263 – sensus externus 261, 263 sentiment 149–157 simplicitas (vgl. Einfachheit) 416 simul iustus et peccator 392, 463, 465 Sinn 17, 36, 67, 76, 127, 146 ff., 157 f., 163, 203–207, 210, 212, 241, 250, 261, 263, 270 f., 285, 369 – ästhetischer Sinn 242, 254 – äußerer Sinn 261, 302 – innerer Sinn 147, 261, 263, 301, 332, 370 – moralischer Sinn 146, 205 f., 210, 303, 307, 316 ff., 364 Sinnlichkeit 5, 38, 42, 148 ff., 179, 183, 186, 209, 227, 236, 255, 262, 346 ff., 360–364, 368, 370, 374, 377, 380, 388 f., 421, 438, 442, 459, 486 Sittenlehre (vgl. Ethik, Moralphilosophie) 94, 99, 114, 129, 135, 180, 193, 195, 216, 241, 406
Sachregister Sittlichkeit 40, 70, 172, 184 f., 190, 192 f., 284, 380 soliloquium/Soliloquium (vgl. Monolog, Selbstgespräch) 36, 269–272, 283–290, 331, 338, 343, 349 f. Soteriologie 29, 171, 222, 359, 388, 399 f., 422 f., 434, 451, 454, 465 ff., 471 f. Sozinianismus 381 Spontaneität (vgl. Unmittelbarkeit) 203, 357, 449, 455 Spiritualität 28, 32 Staat 1 f., 30, 87, 291, 337, 469 f., 475 – Staatsphilosophie 2 – Staatstheorie 1, 475 status corruptionis 389 status gratiae 391 status integritatis 391, 471 Stoa 269–272, 325, 339, 422 Stoizismus (vgl. Neostoizismus , Stoa) 44, 288, 324 f., 340, 372, 422 sua quaerere (vgl. Sünde) 469 Subjektivität 4, 7, 23–28, 32 f., 37, 50 ff., 59, 115–119, 178, 190, 211, 218, 263, 270 f., 279, 300–306, 310, 321, 331 ff., 342–353, 367, 372, 375, 381, 406, 415 ff., 422 f., 432–441, 445, 449, 455, 459–491, 495 – Subjektivitätstheorie 26, 37, 50, 53 f., 59, 344, 351, 367, 417, 436, 441, 445 f., 482 Sünde (vgl. Erbsünde) 118, 337, 377, 382 f., 388 ff., 392, 400, 468, 472, 487, 489 – Sündenanthropologie (vgl. Erbsündenanthropologie) 27, 52, 184, 188, 213, 383, 400, 426 ff., 473, 479 f. – Sündenfall 387, 472 – Sündenlehre (vgl. Erbsündenlehre) 17, 22, 52, 384, 392, 399, 428, 456, 480 Supranaturalismus (vgl. Naturalismus) 100 f., 395, 410, 430 Symbol 228, 261, 441 f., 450 ff., 467 f., 489 f. System/system 4, 7, 14, 53 ff., 57, 60, 141 f., 150, 163–168, 176, 186, 197, 199, 218, 276, 281, 291–300, 304, 310, 314, 324–327, 332, 338, 418, 458 – Systemphilosophie 5, 282
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– Wissenschaftssystem 11, 61, 209, 220, 224, 269, 449 taste (vgl. Geschmack, relish) 156 f., 206, 278 Taufe 451, 472, 489 telos (ethisch, anthropologisch; vgl. Absicht, Ziel, Zweck) 171, 174, 287, 294, 298, 355, 399 ff., 420, 452 Teleologie (v. a. anthropologisch, ethisch) 28, 37, 40 f., 54, 169, 173–177, 194, 201, 218 f., 292, 295–298, 315, 352–357, 361, 401 ff., 413, 418–422, 445, 450 f., 461, 465, 474, 478, 480 temper (vgl. Gemütsart) 149, 164, 178, 298 ff., 318 Theismus (vgl. Atheismus, Deismus) 195, 215, 314–317 ff., 323, 431 Theodizee 414 theologia naturalis (vgl. Theologie, natürliche) 5, 25, 71, 73, 81 f., 430, 481 Theologie 1, 6–20, 24, 27–30, 33, 38, 42, 59, 62 f., 73, 84, 104, 132, 222, 272, 320, 336 f., 339 f., 351, 358, 375–383, 399 f., 412, 434 f., 441 f., 447–459, 469 ff., 473, 475, 479, 489, 495 – Natürliche Theologie (vgl. theologia naturalis) 25, 49, 63, 71 ff., 78–82, 91 f., 142, 395, 407, 428, 492 – Pastoraltheologie 29 – philosophische Theologie 270 – Physikotheologie 39 – Praktische Theologie 9 f., 29, 31, 34, 440, 452, 489 – Populartheologie 23, 271, 340 – rationale Theologie 92, 407 – Systematische Theologie 7, 9 ff., 23, 27 f., 59, 449, 451 f., 467, 474, 481 – Theologiegeschichte 7–21, 32, 39, 60, 64, 102, 358 f., 381 f., 427 f., 435, 437, 441 f., 446 f., 452, 471, 475, 478, 490, 492 – Übergangstheologie 25, 60, 68, 74, 76, 481 Toleranz 376 Totalität (vgl. Ganzheit, Universum, Welt) 163, 177, 393, 397, 421, 450, 459 Trieb 114–121, 172, 177, 184, 190 ff., 243, 298, 361–371, 387 f., 391, 397, 455 ff.
540
Sachregister
Trinität 17 Tugend 6, 17, 29, 40, 57, 70–76, 87, 92 f., 102, 113–119, 125–130, 139–146, 154, 163 f., 169, 173, 179, 183–208, 211–222, 233, 242, 289 f., 294, 296, 300–322, 330–341, 346–357, 360, 365 ff., 378, 380, 386, 388, 392, 402–416, 421, 424–430, 433, 438, 448, 459 ff. – Tugendlehre 7, 300 – Tugendtheorie 4, 300, 353, 425, 429 Transzendenz (vgl. Immanenz) 120, 171, 395, 421, 458, 482–486, 491 Transzendentalphilosophie 2, 23, 33, 238, 415, 437, 480 Übernatürlich 84, 97–101, 384–388, 432 Unbedingtheit 82, 172, 270, 327, 449 f., 458–469, 482, 485 f. Undeutlichkeit (erkenntnistheoretisch, vgl. Deutlichkeit) 82, 86, 97, 208–212, 225–236, 247 ff., 253 f., 258–267, 493 Unendlichkeit 326, 393, 396, 451, 462, 482, 485, 487 Universum (vgl. Ganzheit, Totalität, Welt) 57, 163, 196, 201, 292–299, 308 f., 314 ff., 322–328, 418 f. Unsterblichkeit 3, 6, 22 f., 28, 37, 39 ff., 49–54, 59, 93, 97, 103, 171, 179, 185 f., 193, 219, 221 f., 289, 316, 346, 350–360, 365 ff., 379, 392, 401, 404 ff., 411–416, 421–433, 439, 447, 451, 457, 462–466, 479, 484, 487, 488 – Unsterblichkeitsglaube 57, 320 f., 333 – Unsterblichkeitshoffnung 4, 23, 222, 367 f., 374, 379 f., 420 ff., 433, 451, 460–466, 485 ff. – Unsterblichkeitspostulat 23, 222, 321, 412, 416, 433 Urbild (vgl. Abbild) 328, 374, 379, 391–401, 423, 429 f., 460, 462, 466, 484, 492 Urteil (vgl. Beurteilung, iudicium) 106, 151–158, 170, 192, 199, 202–212, 218, 220, 231–267, 286, 304 ff., 322, 371, 424, 426, 439, 477, 492 – Geschmacksurteil 158, 242–251, 261, 492
– Urteilskraft 241, 248 f., 253, 302 f., 332, 364, 460 – Urteilsstruktur 155, 202, 244, 248, 251, 267, 305 f. vera religio 70 Verfassung (ontologisch, anthropologisch, moralisch) 116, 163, 167, 173, 176 f., 189, 272, 292, 294, 311, 313, 345, 358, 378, 384, 415, 463, 486 Vergeltung 17, 53, 183 ff., 195, 206, 213 f., 221 f., 320 f., 333, 414, 430, 433 – Vergeltungsglaube 184 ff., 193, 214, 221, 321, 333, 421 – Vergeltungslehre 184 Vergnügen (ästhetisch, ethisch, religiös) 5, 114, 119, 136, 139, 150 f., 157, 175, 183, 186 190, 197 f., 215 f., 219, 222, 239, 262, 265, 287 ff., 309–313, 321, 329–334, 346 ff., 356, 360–371, 374, 379, 393, 397, 403, 416, 420 ff., 457–468, 483, 492 f. Vernunft 5, 8, 14, 16, 22 f., 26, 31, 84, 87 f., 93–97, 101 ff., 130, 150, 183, 196, 209, 242 f., 247 f., 251, 261, 273, 288, 289, 303, 326, 340, 385, 404–410, 458, 472, 481, 490–494 – Praktische Vernunft 43, 70, 184, 444 f. – Theoretische Vernunft 74 – Vernunftoptimismus 37, 388 – Vernunftschlüsse 200, 202, 208–211, 239, 265, 424, 492 Versöhnung 423, 466, 469 Verstand (vgl. intellectus) 60, 64, 92, 99 f., 129, 146, 155 f., 161, 205, 209 f., 227 f., 230, 235, 241–255, 278, 328, 391, 394, 396, 398, 401, 461 f., 482, 485 Vervollkommnung (vgl. Perfektibilität) 37, 53, 124, 126 f., 185 f., 357, 371, 401 f., 410, 412 f., 426 f., 433, 459, 464, 474 Vorherbestimmung (vgl. Prädestination) 170 Vollkommenheit (ontologisch, ethisch) 70, 84, 87, 90 f., 124–127, 171 f., 189–194, 198, 210–216, 220, 229–235, 242 ff., 248–266, 278, 289, 296, 308 f., 314 f., 319–328, 332 ff., 357, 362, 365 ff., 371 ff., 387, 391–398, 402, 404, 414, 429, 461–468, 472 f., 484, 492
Sachregister Vorsehung 188, 219, 221, 308, 344, 366, 401 ff., 413, 430, 469, 487 f. – Vorsehungsglaube 402, 487 f. – Vorsehungslehre 168, 219, 444, 488 – Vorsehungstheologie 28, 53, 168, 219, 401, 419 Wahrheit 1, 16, 66–70, 75, 80, 86, 100, 114, 233, 239, 241, 260, 262, 265, 339, 350, 365, 370, 378, 380, 385, 397, 406, 411, 423, 444, 462, 466, 481, 484 ff. – Wahrheitsbewusstsein 2 – Wahrheitswert 74, 86, 251 Wahrnehmung 147–153, 196–208, 230, 303 f., 306 f., 324–330, 346 ff., 356, 363 f., 368 f., 387, 393, 398, 417, 425 Wahrscheinlichkeit 68, 264, 266, 416 Welt (vgl. Ganzheit, Totalität, Universum) 37 f., 100, 111, 113 f., 119 f., 136, 163–169, 184, 187–193, 214, 221, 237, 244, 262, 280 f., 293, 295, 308 f., 314, 317, 319, 323, 328 f., 332, 348, 354 f., 363, 372 f., 380, 388, 393 ff., 402 f., 408, 413 f., 418, 422, 425, 429, 436, 449 f., 461 f., 465, 469, 482, 485 ff. – Weltanschauung 7, 14, 43 f., 336, 436 – Weltbewusstsein 393 f., 398, 482 – Weltdeutung 1, 51, 269, 314 f., 327, 355, 405 f., 428, 435, 442, 450, 469, 482–488
541
– Weltweisheit (vgl. Metaphysik) 63, 77, 85 ff., 94 f., 109 f., 141 f., 224, 236 f., 246, 253, 267 Wert (anthropologisch, ethisch, vgl. worth, Menschenwürde) 6, 52, 58 ff., 215, 222, 259, 306, 317 f., 321, 330 ff., 342, 357 f., 365, 375–380, 393, 398, 418, 426–435, 473–481, 492, 495 – Wertgefühl 330, 409, 461, 493 – Werturteil 249, 259, 297 ff., 306 – Wert des Lebens 192, 289, 345, 422 – Wert der Religion 16, 74 Wissenssoziologie 4, 24 f., 27, 38, 43, 50, 54–58, 230, 233, 239, 243, 335 f., 410, 417, 437 worth (v. a. anthropologisch, ethisch; vgl. Menschenwürde, Wert) 171, 194, 307, 318 f., 330, 476 Wunder 66–69, 75 f., 84, 98 ff. Zeichentheorie (vgl. Semiotik) 228, 441 f. Ziel (v. a. ethisch, anthropologisch; vgl. Absicht, Zweck, telos) 119, 124, 162, 177, 214, 219 f., 294, 308, 353, 356–360, 365 f., 392, 444, 462–467 Zweck (v. a. ethisch, anthropologisch; vgl. Absicht, telos, Ziel) 176, 278, 285–289, 292–296, 331, 356–362, 371 ff., 380, 402, 407, 420, 455, 461 f. Zweinaturenlehre 17