Aufklärung, Band 11/1: Die Bestimmung des Menschen 9783787334841, 9783787341894

Gegenstand des Jahrbuches Aufklärung« ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedank

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German Pages 144 [145] Year 1999

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Aufklärung, Band 11/1: Die Bestimmung des Menschen
 9783787334841, 9783787341894

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske unter Mitwirkung von Klaus Gerteis und Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle

Jahrgang 11, Heft 1, 1996

Thema: Die Bestimmung des Menschen Herausgegeben von Norbert Hinske

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1999. ISBN 978-3-7873-1397-6·  ISBN eBook 978-3-7873-3484-1  ·  ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1998. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

INHALT

Einleitung. Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung. Von Norbert Hinske . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Abhandlungen Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung . . . . . . . . . . . . .

7

Giuseppe D' Alessandro: Die Wiederkehr eines Leitworts: Die ,,Bestimmung des Menschen" als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Karl Eibl: Goethes Faust als poetisches Spiel von der Bestimmung des Menschen

49

Kurzbiographie Horst Schröpfer: Christian Gottfried Schütz (1747-1832) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Textedition Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen

69

Diskussionen und Berichte Norbert Hinske: Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie. Zur Diskussion über die Anfänge der Anthropologie im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Hans Reiss: Ueber die Buchmacherey. Zu Kants letzter Schrift und dessen Kritik an Möser und Nicolai, mit einer Korrektur eines Details in Kant und Möser von Reinhard Brandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Horst Schröpfer: Eine kleine Sammlung von Silhouetten aus Jenas klassischer Zeit

11 S

Martin Mulsow: Polyhistorie und Litterärgeschichte im frühen 18. Jahrhundert: Jakob Friedrich Reimmann (1668- 1743). Ein Tagungsbericht . . . . . . . . . . . . . .

123

Cecilia Campa: Legge, poesia e mito. Giannone, Metastasio e Vico fra 'tradizione' e ,trasgressione' nella Napoli degli anni Venti de! Settecento. Internationaler Kongreß in Neapel, 3.-5. März 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Aufkllnlng ISSN 0178·7128, Jaluiang 11, Heft 1. 1996. ISBN 3-7873-1397-4 lnterdisziplintre Halbjahresschrift zur Erfol$Cbuog des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft fllr die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von GOnter Birtsch, Karl Eibl und Norbert Hinske. - Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Muimilians-Universitlt Manchen, Institut Rlr deutsche Philologie. Schellingstra8t 3, D-80799 MOnchen, Telefon (0 89) 21 80-62 20 C> Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1999. Printed in Germany. - Gedruckt mit UnterstOtzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. - Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Bcitrtge sind urheberrechtlich geschDttt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzullssig und strafbar. Das gilt insbesondere Rlr Vervielflltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Satz von der moralischen Bestimmung unserer Natur, nur allein in einem ins Unendliche gehenden Fortschritte zur völligen Angemessenheit mit dem Sittengesetze gelangen zu können, ist von dem größten Nutzen Einern vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unendliche, von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit, möglich Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Riga 'l 788, 220 (Wyttenbach, I 346 f.)

in intellectueller und moralischer Rücksicht ist der Mensch ohne alle Widerrede eines unendlichen Progresses fähig Von allen Wesen, die wir kennen, ist der Mensch das einzige, bestimmt ewig nach einem unerreichbaren Ziele zu streben, ewig unvollkommen zu seyn, und immer vollkommener zu werden Johann Ith, Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen, Winterthur 21803 (11794f.), 539 (Wyttenbach, I 347f.)

Nennt man nun jene völlige Uebereinstimmung mit sich selbst Vollkommenheit, in der höchsten Bedeutung des Worts, wie man sie allerdings nennen kann: so ist Vollkommenheit das höchste unerreichbare Ziel des Menschen; Vervollkommnung ins unendliche aber ist seine Bestimmung Johann Gottlieb Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, Jena und Leipzig 1794, 18 (Wyttenbach, I 349)

EINLEITUNG

NORBERT HINSKE

Eine antike Katechismusfrage Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung

Zu den facetten-, quellen- und aufschlußreichsten Textauswahlen der deutschen Aufklärung zählen die drei Sammelbände Aussprüche des reinen Herzens und der philosophirenden Vernunft über die der Menschheit wichtigsten Gegenstände von Wyttenbach (dem späteren Lehrer von Karl Marx) und Neurohr.' Wie die rasch folgende zweite, „vennehrte und verbesserte" Auflage zeigt, waren sie zu ihrer Zeit fast schon so etwas wie ein Erfolgsbuch. Aber auch heute noch sind sie eine wahre Fundgrube. Wer sich über das Ideenensemble der deutschen (Spät-)AufkJärung orientieren will, wird sie mit Gewinn zur Hand nehmen. Denn sie ordnen die Texte nach großen Leitideen, teilweise nach sozusagen zeitlosen Stichwörtem (Mensch, Freiheit, Pflicht, Tugend, Wahrheit usw.) und teilweise nach solchen, in denen das spezifische Gedankengut der Aufklärung zum Ausdruck kommt. Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung sind da zu einem guten Teil versammelt, ihre Programmideen (Aufklärung, Erziehung) und Kampfideen (Schwärmerei) ebenso wie ihre Basisideen.2 Zu den letzteren zählt auch die Idee der Bestimmung des Menschen.3 Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage heißt es: „Ueberall lagen sie" - die ,,Aussprüche des natürlichen moralischen Gefühls, dieser verschleierten Anzeige des göttlichen Gesetzes der Sittlichkeit" - ,,zum Grunde, und ließen den Menschen, auch bey allen seinen Verirrungen, nie ganz die Bahn zu seiner erhabenen Bestimmung verfehlen. " 4 Deutlicher kann man die Schlüsselrolle der Idee der Bestimmung des Menschen kaum noch betonen.

' Johann Hugo Wynenbach und Johann Anton Neurohr, Aussprüche des reinen Herzens und der philosophirenden Vernunft Ober die der Menschheit wichtigsten Gegenstände. Zusammen getragen aus den Schriften älterer und neuerer Denker, 3 Bde„ Leipzig 2 1801 f. Der Titel der ersten Auflage lautete: Aussprüche der philosophirenden Vernunft und des reinen Herzens Ubcr die der Menschheit wichtigsten Gegenstände mit besonderer Rocksicht auf die kritische Philosophie, Bd. 1, Wien 1797, Bel 2 und 3, Jena 1798 ff. 2 Vgl. Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen AuflC(;ht, Stuttgart 1990, 407-458. - Während das Heft 1/ 1 (1986) dieser Zeitschrift „Eklektik, Selbstdenken, MOndigkeit" einer Programmidee der deutschen Aufklärung und das Heft 3/ 1 (1988) ,,Die Auflc!Arung und die Schwl!rmer'' einer ihrer Kampfideen gewidmet ist, hat das vorliegende Heft eine ihrer großen Basisideen zum Thema. 3 Vgl. Aussprüche (wie Anm. 1), Bd. 1, 342- 407. • Ebd. Bd. I, Vllf.

Aufklärung 11/I 0 Felix Meiner Verlag, 1999, ISSN 0178-7128

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Norbert Hinske

Exzerpiert werden unter diesem Stichwort nun aber nicht etwa nur Texte des 18. Jahrhunderts. Obwohl die Karriere des Begriffs ja offenkundig mit Spaldings immer wieder aufgelegter Betrachtung über die Bestimmung des Menschen von 17485 ihren Anfang nimmt, nennt die Sammlung von Wyttenbach und Neurohr wie bei zahlreichen anderen Stichwörtern auch - zunächst ganz andere Autoren. Zu ihren Gewährsmännem zählen allen voran Konfuzius, Zoroaster, Aristoteles, Cicero, Epiktet, Persius (und zwar mit der gleichen Passage, der auch Spalding sein Motto entnimmt6) und Marc Aurel. Eben das erklärt auch die Formulierung des Untertitels: ,,Zusammen getragen aus den Schriften älterer und neuerer Denker''. Offenbar haben Wyttenbach und Neurohr in der Frage nach der Bestimmung des Menschen, die dem heutigen Leser fast wie eine Katechismusfrage der christlichen Theologie vorkommen mag, so etwas wie ein zeitloses Thema gesehen. Ähnliches gilt offenkundig auch für Spalding, der seine Schrift ja nicht von ungetahr mit einem Persius-Zitat beginnt.7 Bemerkenswert ist nun aber die Art und Weise, in der Wyttenbach und Neurohr mit jenen Gewährsmännem aus der Antike umgehen. Am Beispiel Ciceros läßt sich das aufs plastischste illustrieren. Zitiert wird aus De officiis: „Unsre Bestimmung ist ernsthaft; unsre Geschäfte sind groß und wichtig. - In der That, wenn wir bedenken, was der Mensch sey, welche Kräfte in seiner Natur liegen, zu welcher Vortrefflichkeit er gelangen könne: so werden wir [ ... ]"s. Das stammt wortwörtlich aus Garves berühmter Übersetzung.9 Im Text des Originals dagegen sucht man den Begriff der Bestimmung bzw. ein lateinisches Pendant dazu vergeblich. Dort heißt es statt dessen: „Neque enirn ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamus, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora." 10 „Atque etiam, si considerare volemus, quae sit in natura exce//entia et dignitas, intellegemus, quam sit turpe diftluere luxuria et delicate ac molliter vivere, quamque honestum parce, continenter, severe, sobrie." 11 Die Frage nach der Bestimmung des Menschen steht für Wyttenbach und Neurohr also in der Tradition der Frage nach der „natura" bzw. der „excellentia et dignitas" des Menschen.

s Vgl. die Neuausgabe der Auflage von 1768 mit den Varianten der ersten Auflage von 1748 unten 69ff., sowie zu den tiefgreifenden Umarbeitungen der verschiedenen Auflagen: Norbert Hinske, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: Michael Albrecht, Eva Engel und Norbert Hinske (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, TObingen 1994, 139 f. ' Vgl. den Beitrag von Clemens Schwaiger, Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung, unten 13. 1 Die von Wolfgang Erich MOller besorgte Neuausgabe: Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794 [Theologische Studien-Texte, Bd. 1), Waltrop 1997, verhunzt das Motto, das ja gewissennaßen den Schlüssel zum Ganzen an die Hand gibt, gleich zweimal; S. 3 liest man: „Quid samus?", S. 36: „Quidfamus?". 1 Aussprilche (wie Anm. 1), Bd. I, 342 f. 9 Abhandlung tlber die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero übersetzt von Christian Garve, Breslau 2 1784 (11783), 78 und 80. 10 M. Tullius Cicero, De officiis, 129, 103. II Ebd. 130, 106.

Einleitung

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Fast noch aufschlußreicher ist das - möglicherweise von Spalding inspirierte Persius-Exzerpt. Zwar bringt die Frage: Wer sind wir, Sterbliche? zu welchen Pflichten, Zu welchem Stand, nach wessen Plan gebohren?12 Quid sumus, et quidnam victuri gignimur?l3

aufs treffendste das Problem der Bestimmung des Menschen zum Ausdruck. Auch hier aber sucht man den entsprechenden Begriff vergebens. Statt dessen liest man: Wozu hat mich die Gottheit auserkohren? Und welchen Posten hat sie mir vertraut? Dem forschet nach. 14 [ ... ) quem te Deus esse Jussit, et humana qua parte locatus es in re? Disce [ ... ) u

Die begriffsgescbichtlicbe, am Auftreten eines bestimmten Terminus orientierte Methode stößt hier an ihre Grenzen. Sie bedarf offenkundig der Ergänzung durch problem- und ideengeschicbtliche Fragestellungen, ohne die die geschichtlichen Hintergründe nicht zureichend zu erhellen sind. Was die Vertreter der deutschen Aufklärung angeht (von den Franzosen werden in diesem Abschnitt nur Bonnet und Condorcet mit einbezogen, bei denen der Begriff der Bestimmung bezeichnenderweise nicht auftritt16), so ist es für die drei Bände insgesamt charakteristisch, daß sie die unterschiedlichsten Autoren und Traditionen unbekümmert nebeneinander stellen. Gleich zu Beginn des ersten Bandes stößt man als Motto des Ganzen auf zwei Zitate, das erste von Carl Christian Erhard Schmid, das zweite von Johann Gottlieb Fichte (Fichte war von 1794 bis 1799 gleichfalls Professor in Jena). Die beiden erbitterten Antipoden, die zu diesem Zeitpunkt bereits heillos zerstritten waren, sind hier also noch auf einer und derselben Seite traulich vereint. Auch der Abschnitt über die „Bestimmung des Menschen" schöpft demgemäß aus den verschiedenartigsten Quellen der Literatur und Philosophie: Mendelssohn und Kant, Lessing, Goethe und Schiller, Fichte und Schelling, aber ebenso Frühkantianer wie Karl Ludwig Pörschke, Karl Heinrich Heydenreich oder Sebastian Mutschelle, und viele andere mehr. Einige dieser Texte sind in den Seitenfüllsein des vorliegenden Heftes abgedruckt. Sie dokumentieren zugleich auch die Vielschichtigkeit der Thematik, die im Rahmen eines 11

Aussprüche (wie Anm. 1), Bd. l, 343. A. Persius Flaccus, Satirae IU 67. Aussprüche (wie Anm. 1), Bd. 1. " Persius, Satirae III 17ff. 16 Ein durchaus anderes Bild bietet z.B. gleich anschließend der Abschnitt "Erziehung", Aussprüche (wie Anm. 1), 408-460. Obwohl nicht unerheblich ldlrur, finden sich hier immerhin fllnfTexte französischer und drei englischer Provenienz. Auch das ist ein Beleg daftlr, daß es sich bei der Basisidee der Bestimmung des Menschen um ein Charalcteristilcum der deutschen Auflcllrung handelt. 13 14

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Norbert Hinske

Zeitschriftenheftes immer nur schlaglichtartig zu beleuchten ist. Eine umfassende Darstellung der Probleme steht bis heute aus. 17 Das gilt auch für ihre lange Vorgeschichte. Der Hinweis auf die antiken Autoren ist jedoch alles andere als eine bloß historische Arabeske. Er ist vielmehr zugleich von hohem sachlichen Interesse. Er führt aufs anschaulichste vor Augen, daß die Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen zuerst und zunächst nicht etwa im Felde der Offenbarungstheologie, so wichtig diese auch sein mag, zu suchen ist. Die Antwort hat sich vielmehr zunächst auf die Bauform des Menschen zu gründen, auf charakteristische Merkmale seiner Existenz, die sich durch die verschiedensten Epochen in dieser oder jener Form durchhalten. Diese Merkmale zeichnen die Grundlinien vor, in denen sich die Suche nach einem erfüllten Leben zu bewegen hat, und schließen bestimmte Existenzentwürfe a limine aus. Wer das nicht wahrhaben will, überschätzt oder mißversteht die Möglichkeiten menschlicher Selbstbestimmung und unterliegt einem anthropologischen Mißverständnis. Der Machbarkeitswahn, eine der großen Illusionen unserer vorgeblich so illusionslosen Gegenwart, betrifft ja nicht etwa nur die technischen oder gesellschaftlichen Möglichkeiten des Menschen. Er tangiert auch die individuelle Lebensgestaltung, die sich nicht ungestraft über bestimmte anthropologische und individuelle Vorgaben hinwegsetzt. Der Mensch hat nicht die Freiheit, aus seinem Leben zu machen, was er gerade will. Das gilt, wie insbesondere Mendelssohn betont hat, ebenso für das Spezifische der conditio humana wie für das Individuelle. Wo Einsichten dieser Art verlorengehen, ist der Weg zum Psychotherapeuten nicht weit. Eben deshalb stellt sich auch die Frage, ob die mangelnde Aktualität der Thematik, zumindest was die deutsche Bewußtseinslage 1999 angeht, tatsächlich ein zureichender Beweis dafür ist, daß die Frage nach der Bestimmung des Menschen inzwischen der Sache nach obsolet geworden sei. Für das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung und ihre Anthropologie ist sie jedenfalls von grundlegender Bedeutung. freilich ist Spaldings Erfolgsbuch über Die Bestimmung des Menschen von 1748 nur einer der großen Impulse, der die beginnende Karriere der philosophischen Anthropologie im 18. Jahrhundert maßgeblich prägt. Ein zweiter, gewiß nicht weniger wichtiger Impuls geht von Christian Wolffs Psychologia empirica des Jahres 1732 aus, die schon bald eine ganze Flut von ähnlich gearteten Psychologien oder Erfahrungsseelenlehren nach sich zieht. Eben deshalb enthält dieses Heft im Rahmen der „Diskussionen und Berichte" sozusagen als Merkposten auch einen eigenen Beitrag über „Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie". Erst wenn man beide Traditionslinien zusammenfügt, erhält man ein halbwegs repräsentatives Bild von der philosophischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts.

11 Zu einzelnen Aspekten vgl. Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, Bern und München 2 1963 ('1949), 13ff.; Norbert Hinske, Mendelssohns Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? oder Über die Aktualität Mendelssohns, in: ders. (Hg.), Ich handle mit Vernunft ... Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung, Hamburg 1981, 93 ff.: Mendelssohns Verankerung der Aufklärung in der Idee der Bestimmung des Menschen. Dort auch weitere Literaturhinweise.

ABHANDLUNGEN

CLEMENS SCHWAIGER

Zur Frage nach den Quellen von Spaldings

Bestimmung des Menschen Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung

Die Philosophie der Aufklärung zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß sie die uralte Frage des Menschen nach sich selbst mit neuer Entschiedenheit stellt und zu beantworten sucht. „Was ist der Mensch?" - so faßt bekanntlich der späte Kant sein philosophisches Fragen überhaupt zusammen. 1 Diese einfache und doch eindringliche Fonnulierung ist aber keineswegs erst eine Erfindung Kants. Wie in vielen anderen Fällen geht auch bei der Frage nach dem Wesen des Menschen der klassisch gewordenen Prägung durch Kant schon eine jahrzehntelange Diskussion in der deutschen Aufklärung voraus. So heißt es wortwörtlich bereits im Jahre 1748 bei dem reformierten Theologen August Friedrich Wilhelm Sack, dem Nestor der neologischen Bewegung: „Was ist der Mensch? woher kommt er? wozu ist er bestimmt? und welche sind die Mittel, die ihn zu seiner Bestimmung bringen können?"2 In der gleichzeitig erscheinenden Betrachtung über die Bestimmung des Menschen des lutheranischen Neologen Johann Joachim Spalding wird dieselbe Frage in prima persona aufgeworfen: „was bin ich?" „Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll."3 Der Titel dieser wieder und wieder aufgelegten Abhandlung liefert der deutschen Aufklärung das Stichwort für eine ihrer markantesten Basisideen. Daß der Mensch über seine Bestimmung Klarheit gewinnt, gilt dem 18. Jahrhundert als eigentlicher Sinn aller Bildung. Obwohl dieses Problem von Beginn der Aufklärung an im Zentrum ihres Interesses stand, bürgerte sich der Ausdruck 'Bestimmung des Menschen' erst im Anschluß an Spaldings so benanntes Bändchen ein. Spätestens aber

1

Vgl. Logik Jlsche IX,251-io; Logik POlitz [Metaphysik L2) XXVlll,S33:w-S34,; Brief an Carl Friedrich St!udlin vom 4. Mai 1793 (XI,42910-16; alle Stellen zitiert nach: Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [und Nachfolgern), Berlin [und Leipzig]21910tT. [IJ900tT.)); Marginalie des Rostocker Anthropologiemanuskriptes (Immanuel Kant, Werke in zehn Binden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd.10, Darmstadt 4 1983 ['1964), 623). - Zum relativ seltenen und splten Auftauchen der Frage bei Kant siebe auch Reinhard Brandt, D' Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte (1 , 2, 3/4), Stuttgart 1991, 129. 2 August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen. Fllnftes Stilck, Berlin 1748, 6. 3 Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997, 16 und 3. Aufklärung 1111 C Felix Meiner Verlag, 1999, ISSN 0178-7128

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Clemens Schwaiger

seit der Kontroverse zwischen Moses Mendelssohn und Thomas Abbt über die Best!mmung des Menschen, die l 764 durch das Erscheinen der siebten Auflage diese~ Erfolgsbüchleins ausgelöst worden ist, ist das Thema aus der Epoche nicht mehr wegzudenken.4 Während die Wirkungsgeschichte von Spaldings Bestseller zumindest in jüngster Zeit eine etwas stärkere Beachtung in der Forschung gefunden hat, 5 sind die Quellengeschichte und der Entstehungshintergrund dieser Schrift und damit die Gründe für das Aufkommen dieser anthropologischen Fragerichtung noch weithin unerhellt. Darin spiegelt sich die generelle Unsicherheit bezüglich der Herkunft und der Einordnung der Neologie wider. 6 Bereits der Frage nach möglichen Vorläufern für den Titelbegriff selbst ist bislang kaum nachgegangen worden.7 Auch hinsichtlich der maßgeblichen lnspirationsquelle von Spaldings erstem großen Wurf sind die Einschätzungen geteilt. Sehen die einen das Werk zunächst stark von Leibniz-Wolffschem Gedankengut getragen, ist es für andere ganz aus Shaftesburyschen Anregungen erwachsen.s Im folgenden soll durch ein genaueres Stu-

• Vgl. Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Auflclärung in geschichtlicher Entwicklung, &m und München 21963 (' 1949), 13; Norbert Hinske, Die tragenden Grundideen der deutschen Auflcllrung. Versuch einer Typologie, in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer Sprecht, Stuttgart 1990, 407-458, hier 434f., sowie die Quellentexte in Kap. 1 dieses Bandes unter dem Titel „Der Mensch und seine Bestimmung" (39-119). ' Vgl. z.B. Stefan Lorenz, Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte Ober Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: Michael Albrecht, Eva J. Engel und Norbert Hinske (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, TObingen..1994, 113- 133; Norbert Hinske, Das stillschweigende Gespräch. Prinzipien der Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Mendelssohn und Kant, in: ebd„ 135-156. 6 Vgl. Bruno Bianco, „Vernünftiges Christentum". Aspects et problemes d'interpretation de la neologie allemande du XVIII' siecle, in: Archives de Philosophie 46 ( 1983), 179-218, hier l 82f. 1 In den europäischen Nachbarsprachen scheinen vergleichbare Termini schon früher in Gebrauch gewesen zu sein. So heißt es etwa bei dem apologetischen Schriftsteller Jacques Abbadie, Traite de la verite de la religion chrctienne, Bd. 1, Amsterdam 7 1729 (Rotterdam 11684), 11.5, 157 lapidar: „la Religion fait la destination de l'homme." In der deutschen Übersetzung dieses Werks, die Spalding bereits in seiner allerersten Schrift, wenngleich in anderem Zusammenhang, zitiert (De calumnia Juliani Apostatae in confirmationem christianae religionis versa exercitatio tbeologica, Greifswald 1735, 13 [§ 10] und 25 (§21]), wird dieser Ausdruck noch als 'Endzweck des Menschen' wiedergegeben (zumindest in der mir vorliegenden Ausgabe: Gründlicher Tractat von der Warheit und Gewißheit der christlichen Religion, Leipzig und Rudolstadt 1739, 151). Angeregt durch die angeführte Bemerkung Abbadies wirkt das Schlagwort im Lateinischen schon vor Spalding titelbildend bei Christoph Friedrich Schott und Philipp Ulrich Moser, Dissertatio moralis, de praecipua hominis destinatione, TObingen 1739 (vgl. 9 [§ 8] und 14 [§ 13]). Auch der Greifswalder Magister Peter Ahlwardt, der auf Spaldings geistige Entwicklung Mitte der dreißiger Jahre entscheidenden Einfluß nahm (vgl. Johann Joachim Spalding's Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt und herausgegeben mit einem Zusatze von dessen Sohne Georg Ludewig Spalding, Halle 1804, 7 f.), hat eine freilich undatierte und unveröffentlichte ,.Abhandlung Ober die wahre Bestimmung des Menschen" (Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr 1791 , Zweytes Jahr. Erster Band, Gotha 1792, 369) hinterlassen. - Eine genauere sprachgeschichtliche Untersuchung der hier nur angedeuteten Wurzeln von Spaldings Begriffsverwendung bleibt ein Desiderat der Forschung. • Vgl. z.B. Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A Biographical Study, University, Alabama 1973, 132: „Spalding's meditation was a faithful mirror of tbe Leibniz/Wolffian philosophy". Sehr skeptisch gegenober einer ROckfübrung von SpaldJngs Denken auf Einflüsse von Leibniz und Wolff äußert sich dagegen Giorgio Tonelli in seiner Rezension des genannten Werks in: l.ntcmational Studies

Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen

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dium von Spaldings Werdegang und Schriftstellerei bis 1748 versucht werden, etwas mehr Liebt in das Dunkel seiner geistigen Ursprünge zu bringen. 9 Dabei wird sich der junge Spalding als entschiedener Verfechter der Wolffschen Metaphysik zeigen, der dann aus seiner Übersetzungsarbeit am Oeuvre Shaft.esburys literarisch wie inhaltlich entscheidende Anstöße für seine Bestimmung des Menschen empfängt. Es versteht sich dabei von selbst, daß angesichts der offenen Forschungslage das Aufkommen des anthropologischen Interesses bei Spalding hier nur in einer anfanghaften Spurensuche verfolgt werden kann. Ausgeklammert werden muß ferner die weitere Entwicklung seines Denkens, die sich in ständigen, oft einschneidenden Umarbeitungen späterer Auflagen dokumentiert und sein Bändchen zu einem getreuen Spiegelbild der philosophischen Wandlungen in der zweiten Jahrhunderthälfte macht.

/. Der kämpferische Anwalt der Wolf!schen Philosophie Als Spalding im Frühjahr 1731 die Universität Rostock bezieht, um Theologie zu studieren, herrscht dort noch uneingeschränkt die althergebrachte aristotelischscholastische Orthodoxie. Die kleine, glanzlose Landesuniversität ist damals an einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung angelangt. Zwar wird Wolff schon seit etwa 1724 oft als Thema philosophischer Dissertationen gewählt, aber dann nur zu polemischen Zwecken. 10 „Man eiferte wider die Wolfische Philosophie großentheils als gegen ein Ungeheur, welches man nur vom Hörsagen kennete." 11 Spaldings Entdeckung der Wolffianischen Philosophie etwa Anfang 1734 vollzieht sich außerhalb der Universität durch private Lektüre und hat wie bei manch anderen Zeitgenossen den Charakter einer ungemein befreienden Erleuchtung. 12 Die philosophische Abschlußdissertation preist den ausgezeichneten Nutzen, den die jüngst erneuerte, von den Spitzfindigkeiten der Scholastiker gesäuberte Metaphysik und zumal die philosophische Gotteslehre der Theologie erweisen könnten. 13 Diese Arbeit zeigt noch ein recht verhülltes Bekenntnis zur Wolffianischen Philosophie, da sie bei ihrer Endredaktion durch den nicht eben Wolffisch gesinnten Praeses Peter Christian Kaempffer noch komprornißlerisch zurechtgestutzt wor-

in Philosophy 6 (1974), 222-223. Ähnlich sieht auch Joseph &:hollmeier, Johann Joachim Spalding. Ein Beittag zur Theologie der AuflcJAnmg, GOtersloh 1967, 16-18 u.O., die Herausbildung von Spaldings genuiner Position erst durch Shaftesbwys spltere Einwirlcung und nicht schon durch die frOhe Wolff-Lek!Ore veranlaßt. 9 Als Ausgangspunkt sehr hilfreich filr die Einordnung Spaldings in die geistige Situation der Zeit ist die leider unveröffentlicht gebliebene Dissertation von Dominique Soure!, La vie de Johann Joachim Spalding. Problemes de la theologie allemande au xvnr siecle, 2 Bde„ Paris 1980, bes. Bd. I, 91-146 und Bd. II, 87-132. 10 Vgl. Gustav Kohfeldt, Rostocker Professoren und Studenten im 18.Jahrhundert. &:hilderungen nach den Akten und nach zeitgenössischen Berichten, Rostock 1919, 114. 11 Spalding, Lebensbesclueibung (wie Anm. 7), 3f. 12 Vgl. ebd., 6f. •l Vgl. Spalding, Disscrtatio philosophica, quaestionum metaphysicarum bigas sistens, Rostock 1736,3-20.

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Clemens Schwaiger

den ist. 14 Doch in den folgenden außeruniversitären Publikationen unternimmt Spalding einen literarisch originellen Werbefeldzug für die Sache Wolffs. In einer 'Bittschrift' beklagt sich die personifizierte Wolffsche Weltweisheit über ihre mangelnde Aufnahme in dem kaltsinnigen Rostock, während ihr sonst fast überall der Aufenthalt gestattet werde. Sie werde nur deshalb beschuldigt, dem Christentum gefährlich und schädlich zu sein, weil man lediglich gegen ein selbstgemachtes Gespenst kämpfe, nicht aber sie selbst vor Augen habe. In Wirklichkeit aber bestreite niemand den Atheismus mit stärkeren Waffen als sie. 15 In dieselbe Kerbe schlägt eine weitere Propagandaschrift, ein 'Traum' über die Vorteile einer gesunden Philosophie. Die wahre Weltweisheit, womit zweifelsohne die Wolffsche Philosophie gemeint ist, fliehe nicht vor dem Unglauben, sondern sei mit ihrem Licht dazu behilflich, daß man den Weg zur geoffenbarten Religion finde. 16

II. Der erfolgreiche Herold von Shaftesburys Philosophie Schon in diesen ersten Gelegenheitsarbeiten kündigt sich Spaldings spätere literarische Meisterschaft an. Sein schriftstellerischer Ehrgeiz ist es denn auch, der ihn in der Folgezeit in die Arme Shaftesburys treibt und zu seiner zweiten geistigen Erweckung führt. 17 Der englische Starautor ist bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland kein Unbekannter mehr, aber erst Spaldings Übersetzungen verhelfen seinem Denken zum Durchbruch auf breiter Front.' 8 Überhaupt haben die Englischübersetzungen der Neologen einen maßgeblichen Anteil an der nunmehr einsetzenden Anglomanie. Als einer der Männer der ersten Stunde überträgt der pommersche Theologe die beiden Hauptwerke des englischen Moralphilosophen ins Deutsche. 19 Die Inquiry concerning Virtue and Merit und The Moralists. A Philosophical Rhapsody, die später den zweiten Band der Characteristicks bilden, machen nach Shaftesburys eigener Ansicht das Herzstück seiner Philosophie aus. 20 Doch auch die übrigen Werke Shaftesburys müssen angesichts

Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 12. " Vgl. Spalding, Der Wolffischen Philosophie Bittschriffi an die Academie zu R•• ans Licht gestellet von einem Liebhaber der Wahrheit, Frankfurt und Leipzig 1738, S f. und 16. Die Schrift, die in der Bibliographie von Schollmeier, Johann Joachim Spalding (wie Anm. 8), ungenau zitien (233) und als in deutschen Bibliotheken nicht mehr vorhanden bezeichnet wird (239), lag mir in einer Kopie der Staatlichen Bibliothek Amberg (Sign.; 4 Phys. 221) vor. 16 Vgl. Johann Joachim Spalding, Die Vonheile der Herrschaft einer gesunden Weltweisheit, in einem Traume, an den Hm. M. Zach. David Schulemann, in; Belustigungen des Verstandes und des Witzes 2 (1741), 145-157. 11 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 13 und l 7f. 11 Vgl. Herbert Grudzinski, Shaftesburys Einfluss auf Chr. M. Wieland. Mit einer Einleitung Qber den Einfluss Shaftesburys auf die deutsche Literatur bis 1760, Stuttgart 1913, 13. " Vgl. Die Sittenlehrer oder Erzehlung philosophischer Gesprllche, welche die Natur und die Tugend betreffen. Aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt. Nebst einem Schreiben an den Uebersetzer, Berlin 1745; Untersuchung über die Tugend, aus dem Englischen des Grafen von Schaftesbury übersetzt. Nebst einem Schreiben des Uebersetzers, Berlin 1747. 10 Vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Miscellaneous Reflections IV. I, in; ders„ Standard Edition, Bd.1.2. Stuttgan-Bad Cann.statt 1989, 228-23 1. 14

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der nahezu uneingeschränkten Begeisterung für den wahl- und geistesverwandten Engländer als wichtige Quellen für Spaldings eigenes Schaffen und zumal für seine Bestimmung des Menschen im Blick behalten werden.2 1 Den aufinerksamen Zeitgenossen fiel hauptsächlich die sprachlich-literarische Nähe zwischen dem englischen Grafen und seinem kongenialen deutschen Interpreten in die Augen.22 Vor allem der glänzende Einfall, die Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen in Form eines inneren Dialogs zu gestalten, dürfte sich allem Vermuten nach der Anregung Shaftesburys verdanken. Denn letzterer hatte in einer eigenen Schrift mit dem Titel Soliloquy: or, Advice to an Author die Vorzüge der Methode des Selbstgesprächs hervorgehoben.23 Während das direkte Erteilen von Ratschlägen in Sachen Lebensweisheit gewöhnlich nicht gern ertragen werde und jedes philosophische Verfahren, das die geringste Ähnlichkeit mit einem Katechismusunterricht aufweise, abschreckend wirke, sei sozusagen die Verdopplung seiner selbst in zwei Personen eine ideale Methode der Prüfung. Indem man seine eigenen Vorstellungen anrede und sich vertraulich an sie wende, sei man nämlich gezwungen, Farbe zu bekennen und Partei zu ergreifen.24 Den Wink von Shaftesburys Autorenratgeber zu beherzigen lag für Spalding zudem von seiner äußeren Situation her nahe, in der er sich bei der Niederschrift befand. Die durchwachten Nächte am Bett seines todkranken Vaters, in denen seine Gedanken über die Bestimmung des Menschen nach und nach Gestalt annahmen, boten ihm genügend Gelegenheit zur stillen Einkehr in sich selbst. Das allmähliche Dahinsterben des über Monate hinweg schwer leidenden Kranken, dessen Pflege der Sohn alleine zu bewerkstelligen hatte, gaben diesen unfreiwilligen Mußestunden unerbittlichen existentiellen Emst.2 S Spalding war im übrigen nicht

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Daß die unObersetzten Schriften nicht einbezogen wurden, bezeichnet eine Grenze des ansonsten verdienstvollen, detaillierten Systemvergleichs zwischen Spalding und Shaftesbury bei Schollmeier, Johann Joachim Spalding (wie Anm. 8), 145- 156. Nicht zuzustimmen ist m. E. auch der These des Verfassers, Spalding stehe Hutcheson alles in allem nAber als Shaftesbury (vgl. 156). Wenn diese Einschätzung tatsAchlich zutrtfe, hAtte Spalding dann nicht viel eher die Schriften des schottischen Moralphilosophen übersetzen mOssen, die damals dem deutschen Publikum ebenfalls noch unbekannt waren? 22 Eine zweifelsfreie Identifikation zwischen dem unbekannten Shaftesbury-Übersetzer und dem anonymen Verfasser der 'Bestimmung' gelang aufgrund der Gleichheit des Stils Friedrich Christoph Oetinger, Jnquisitio in sensum communem et rationem, TObingen 1753, Nachdruck: Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 264, was Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 31, mit Recht als bemerlcenswert notierte. Oetinger war freilich ein kompetenter Beurteiler in dieser Sache, denn er übte sich zu dieser Zeit ebenfalls als Übersetzer des englischen Grafen (vgl. die kommentierte Bibliographie zeitgenössischer Übersetzungen von Christian Friedrich Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben, Leipzig und Berlin 1916, Nachdruck: Dannstadt 1969, 558). n Laut Weiser, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben (wie Anm. 22), 557, handelt es sich dabei um das einzige Werlc Shaftesburys, das schon vor (1738) bzw. dann nochmals während Spaldings Übersetzertlitigkeit ( 1746) in deutscher Sprache vorgelegt wurde. Zu den Motiven dieser ersten Übersetzungen, die im Gefolge Gottscheds entstanden sind, siehe Lothar Jordan, Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie Gottsched - Wieland, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 44 (1994), 410- 424, bes. 413- 415. " Vgl. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Soliloquy: or, Advice to an Author 1.1, 1.2 und IU.2, in: ders., Standard Edition, Bd.1.1 , Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 , 40-47, 84-87 und 230-233.

u Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 32f. und 35; Briefe von Herrn Spalding an Herrn Gleim, Frankfurt und Leipzig 1771 , 22 (Brief vom 8. MArz 1748). In diesem Schreiben, nur

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der einzige, der den Überzeugungsgewinn zu nutzen versuchte, den ein derartiges Soliloquium verspricht. Auch der Berliner Hofprediger Sack, der mit ihm seit 1745 bekannt war und ihm als leuchtendes Vorbild auf dem Weg zum aufgeklärten Theologen voranging,26 arbeitet mit demselben literarischen Mittel. In seinem schon zitierten, gleichzeitig erschienenen apologetischen Werk Vertheidigter Glaube der Christen bedient er sich „der Art und Weise eines Selbst-Gesprächs, da ein nachdenckender Mensch, der die Warbeit sucht, mit sich selbst redet".2 7 Dennoch haben beide offenbar unabhängig voneinander dieselbe Darstellungsform gewählt, denn Spalding bekam die Schriftenreihe seines theologischen Freundes erst nach der Drucklegung seines eigenen Bändchens zu Gesicht, konnte aber dann eine gewisse Enttäuschung über die auffällige Parallele nicht verhehlen. 28 Bei allen drei Autoren handelt es sich nun aber bei dieser innerseelischen Rhetorik nicht lediglich um einen raffinierten Kunstgriff oder gar um einen billigen Trick, der beliebig austauschbar wäre. Vielmehr ist die Vergewisserung des Ich im Gespräch mit sich selbst gerade da unabdingbar, wo es um den Menschen und seine Bestimmung geht. Dort, wo die ureigensten Belange auf dem Spiel stehen und die persönliche Einsicht unverzichtbar ist, wäre es fehl am Platz, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen und auf das Urteil anderer zu vertrauen. Als Ignorant erwiese sich, wer viel von Welt- und Menschenkenntnis daherredete, aber an Selbsterkenntnis nicht einmal gedacht hätte. Obwohl es also von der Sache her vordringlich wäre, in puncto menschlicher Bestimmung zunächst mit sich selbst ins reine zu kommen, setzt der Mensch die Prioritäten gewöhnlich genau andersherum. Zumal Shaftesbury hat als eigentümliches Paradox immer wieder eindrucksvoll herausgestellt, daß man gerne vor dem Studium seiner selbst davonläuft, um sich desto intensiver auf die Erforschung äußerer Gegenstände stürzen zu können. Während viele um uns herum liegende Dinge, die keine Beziehung auf unsere wahren Interessen hätten, gewissenhaft bis ins kleinste Detail verfolgt würden, stellten wir uns niemals ernsthaft die Frage, wer oder was wir seien und worin unser Endzweck bestünde. Für alles und jedes hätten wir eine gewisse Haushaltungskunst, nur diese innerliche Anatomie studierten die wenigsten unter uns. Niemand schäme sich hierin sogar der tiefsten Unwissenheit, sondern wir überließen es gütig anderen, dies für uns zu untersuchen, und vertrauten dabei bereitwillig den erstbesten. 29 Gegenüber dieser gleichsam natürlichen Tendenz zur Flucht in die

wenige Wochen nach dem Tod des Vaters 8n den Dichter und Freund Johann Wilhelm Ludwig Gleim gerichtet, gibt Spalding n.ebenbei auch eine aufschlußreiche Selbstcharakterisierung: „ Vielleicht haben Sie sich hierbey [=bei der Lektüre der 'Bestimmung'] mit Lust cinmaI einen geistlichen Verfasser vorgestellet, der das glaubt, was er schreibt; und darin bitten Sie dann eben so gJ"Oß Unrecht nicht" (25 f.). 26 Vgl. Spalding, Lebensbeschreibung (wie Anm. 7), 22f. und 27-29. 21 August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen. Erstes Stück, Berlin 1748, 33. 21 Vgl. Briefe von Herrn Spalding an Herrn Gleim (wie Anm. 25), 28f.: ,,Daß Herrn Sacks Schrift die Einrichtung hat wie meine Bestimmung, das gelllllt mir nicht allerdings. Ich werde sein Nachahmer heisscn müssen. Doch Sacken kann ich endlich schon nachahmen. Ich hoffe es nAchstens zu bekommen, was er zur Vertheidigung des Glaubens der Christen drucken lassen" (Brief vom 16. MArz 1748); siehe auch 31-33 und 40. 29 Vgl. Shaftcsbury, Miscellaneous Reflcctions Ill.I (wie Anm. 20), 192-197; dcrs., Untersuchung Ober die Tugend U.1.2 (wie Anm. 19), 124; ders., Die Sittenlehrer 11.4 (wie Anm. 19), 134.

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Unmündigkeit betonen Spalding und Sack entschieden den Willen zu einer eigenständigen Urteilsbildung in den fundamentalen Fragen des Lebens. Die Beispiele der Nebenmenschen könnten diesbezüglich aufgrund ihrer unendlichen Verschiedenheit keine sichere Orientierung bieten, so daß man schon aus diesem Grund selbst nach dem richtigsten Wege zu forschen habe. Da hier ein jeder seiner Überzeugung für sich selbst gewiß sein müsse, dürfe er sein Urteil nicht durch das Urteil anderer regieren lassen. 30 Daß Spalding bei diesem Appell an das Selbstdenken in Sachen Bestimmung des Menschen wirklich Shaftesbury vor Augen gehabt hat, beweist nun nahezu zweifelsfrei die Tatsache, daß in eben diesem Zusammenhang bei dem englischen Ethiker das Persius-Zitat begegnet, das der deutsche Theologe pointiert als Motto an den Anfang seiner gesamten Abhandlung gestellt hat: „Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?" „Was sind wir? Zu welcher Art Leben geboren?"31 Diese Doppelfrage nach Wesen und Bestimmung seines Daseins würde sich jeder vernünftige Mensch ganz natürlich stellen, so Shaftesbury, wenn er urplötzlich an einen neuen Schauplatz des Lebens versetzt wäre. Wer sich etwa unversehens auf einem unbekannten Schiff wiederfinde, der verspüre unwillkürlich und unabweisbar ein Bedürfnis nach Orientierung, der wolle unbedingt wissen, wo er sei und wohin unterwegs. Nun aber, da der Mensch schon seit langem in der Welt sei, könne es vorkommen, daß die Fragen nach dem Wo und Was, dem Woher und Wohin der Existenz nicht einmal ernsthaft gestellt, geschweige denn beantwortet würden.32 Die Grundfrage nach Sinn und Zweck des Lebens ergibt sich zwar, wie die angeführte Stelle des römischen Dichters beweist, mit dem Menschsein als solchem und also unabhängig von einer bestimmten religiösen Überlieferung. Doch steht sie allzu leicht in der Gefahr, überdeckt und verschüttet zu werden, und muß daher immer wieder ausdrücklich ins Bewußtsein gerufen werden. Aber nicht nur seine Leitfrage, sondern auch den Leitfaden seiner Antwort verdankt Spalding dem verehrten englischen Vorbild. Einmal mehr erweist sich dabei der fragliche Abschnitt in den Miscel/aneous Rejlections als die Keimzelle der Bestimmung des Menschen. Denn Shaftesbury empfiehlt dort dem Menschen, der überlegt, was er aus seinem Leben machen soll, sich in sich selbst zu vertiefen und seine inneren Kräfte und Fähigkeiten zu prüfen. Bei dieser Untersuchung werde sich zeigen, ,,zu welcher Handlungsweise er kraft seiner natürlichen Beschaffenheit und Veranlagung bestimmt"33 sei. Die menschliche Natur, konkretisiert in bestimmten Anlagen und Neigungen, bildet für Shaftesbury einen festen, keiner Mode oder Laune unterworfenen Maßstab, an dem der Zweck menschlichen Daseins ablesbar wird. Außerhalb der Vorschrift der Natur suche man vergebens nach

Vgl. Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 3; Sack, Vertheidigter Glaube (wie Anm. 27), 77. Vgl. Aulus Persius Flaccus, Satiren lll,67; Shaftesbury, Miscellaneous Reflections III.1 (wie Anm. 20), 194f.; Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 3. Die zeitgenössische Quelle dieses lateinischen Verses ennittelt richtig auch Reinhard Brandt, Rousseau und Kants ~Ich denke", in: Autographen, Dokumente und Berichte. Zu Edition, Amtsgesch!ften und Werk Immanuel Kants, hg. von Reinhard Brandt und Werner Stark, Hamburg 1994, 1-18, hier 6 und 8. 32 Vgl. Shaftesbury, Miscellaneous Reflections lll.l (wie Anm. 20), 192-195. n Ebd., 192f.: „[...] to what Course of Action he is by his natural Frame and Constitution destin'd". 30

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einer verläßlichen Richtschnur oder RegeJ.34 In ähnlicher Weise möchte auch Spalding einzig und allein der Stimme seiner Natur gehorchen. „Ich sehe nunmehr, wohin meine Natur mich führet, meine ganze Natur, wenn ich sie unverstünunelt und unverfälscht betrachte; und ich will ihr folgen, wohin sie mich führet. [ ...] Mein Wert und meine Glückseligkeit sollen nun darin bestehen, [ ...) daß ich also überhaupt in einem jeden Augenblicke meines Lebens das sein möge, wozu meine Natur und die allgemeine Natur der Dinge mich bestinunen."35 An dieser Stelle liegt indes ein gravierender Einwand nahe: Setzen sich Shaftesbury und Spalding mit dieser Ausrichtung am Maßstab des Natürlichen nicht dem Vorwurf des Naturalismus aus? Wird beim Ausgeben von einer vorgegebenen Natur nicht die Tatsache der unaufhebbaren Verschränkung von Natur und Kultur übersehen? Doch recht besehen trifft die Gefahr, daß der Mensch durch eine dem tierischen Instinkt analoge, vordefinierte Natur fixiert wäre, keineswegs zu. Das Charakteristikum des Menschen ist ja gerade die freie Wahl der ihm angemessensten Lebensform. Er vermag sich zu seiner eigenen Bestimmung selbst zu entschließen, indem er je individuell festlegt, was sein Leben sein soll. Konunt bei diesem Selbstvollzug auch unweigerlich eine Vielzahl äußerer Bedingtheiten mit ins Spiel, so handelt es sich doch im tiefsten nicht um Fremd-, sondern um Selbstbestinunung. Sich selbst aufgegeben zu sein in einem Spielraum von Bestimmtheit und Unentschiedenheit zeichnet eben den Menschen vor allen Tieren aus. 36 Auch in der konkreten Durchführung dieses Programms einer freien Selbstwahl, die am Naturgedanken orientiert ist, bleibt Spalding in vielem Shaftesbury verpflichtet. Wie bei dem englischen Philosophen wird auch bei seinem deutschen Übersetzer das Streben nach Reichtum und Ehre relativ rasch als glücksuntauglich abgetan, da es auf bloßer Einbildung und Meinung beruhe und deshalb zu sehr für Enttäuschungen anfällig sei. 37 Ein handfesterer Glückskandidat und damit auch diskussionswürdiger ist da schon der Trieb zum Vergnügen in seinen vielfältigsten Spielarten. Doch setzt hier eine eigentümliche Dialektik ein, die das Aussein auf Vergnügungen und Freuden zu immer höheren Formen treibt. Bei den Vergnügen der Sinne ließen sich selbst bei noch so ausgeklügelter Dosierung Phänomene des Überdrusses, ja des Ekels nicht vermeiden. Auch der allerraffinierteste 'Wollüstling' sei ob seiner Unersättlichkeit und Unvergnügsamkeit nicht zu beneiden. Demgegenüber sei bei geistigen Vergnügen, mögen sie auch nicht so rauschhaft wirken, weniger Übersättigung und Krisenanfälligkeit zu befürchten. Doch würden sie in ihrer Beständigkeit und Wachstumsfähigkeit ihrerseits noch einmal weit übertroffen von den geselligen Freuden. Die wohlwollende Anteilnahme am Glück anderer mache das hauptsächlichste Mittel der Zufriedenheit mit sich selbst aus. 38 In .1< Vgl. cbd., IV.2, 258-269; ders., Soliloquy IIl.3 (wie Anm. 24), 286f.; ders. , Untersuchung über die Tugend 11.2.2 (wie Anm. 19). 198. 35 Vgl. Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 11 und 13. 36 Vgl. dazu Friedrich A. Uehlein, Kosmos und Subjektivität. Lord Shaftesburys Philosophical Regimen, Freiburg i. Br. und München 1976, 126-132 und 233. l7 Vgl. Shaftesbury, Miscellancous Reflections IV.I (wie Anm. 20), 236-253, bes. 248f.; Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 3f. 38 Vgl. Shaftesbury, Soliloquy IIl.2 (wie Anm. 24), 234-237; ders., Miscellancous Rcflections JIJ.I (wie Anm. 20), 176-179; ders., Die Sittenlehrer 11.1 (wie Anm. 19), 67f. und 80; ders. , Untersuchung

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typisch aufklärerischer Manier erweist sich damit die Tugend, hier verstanden vor allem als soziales Verhalten, als der Königsweg zum Glück. Spaldings Auffassung deckt sich daher mit derjenigen Shaftesburys, aber darüber hinaus mit der Grundüberzeugung seines Zeitalters, wenn der Schlußsatz seiner Abhandlung das Ziel des Lebens in der Formel zusammenfaßt, der Mensch sei dazu bestinunt, „rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu sein."39 In der Moralphilosophie und am augenfälligsten vielleicht in der Annahme wohlwollender Neigungen zeigt sich Spalding folglich als ein uneingeschränkter Anhänger Shaftesburys. Er bekennt sich denn auch selbst ausdrücklich zur Lehre vom moralischen Gefühl. 40 Hinsichtlich der Religionsphilosophie aber gelangt er nicht zur selben bruchlosen Identifikation mit seinem Autor. Zwar ist er auch hier nach Kräften bemüht, verbreitete religiöse Bedenken gegen den als Freigeist verschrienen Shaftesbury zu zerstreuen. In den Moralists etwa gebe es schwerlich eine Stelle, von der die Religion echten Nachteil zu besorgen hätte.41 Doch ist nicht zu verkennen, daß der deutsche Pastorensohn in der zentralen Frage nach dem Jenseitsglauben die Akzente deutlich anders setzt als der englische Lord. Shaftesbury wittert die Gefahr, daß echte Religiösität untergraben wird, wenn die Hoffnung auf künftige Belohnungen und die Furcht vor jenseitigen Bestrafungen zum Hauptmotiv der Pflichterfüllung gemacht werden.42 Zwar räumt auch Spalding ein, daß allenfalls klug, aber nicht eigentlich sittlich handle, wer auf sein irdisches Glück zugunsten eines erhofften himmlischen verzichte. Aber deshalb sei dem Glauben an ein künftiges Leben nicht aller Nutzen abzusprechen. Die Erwartung einer ausgleichenden Gerechtigkeit stütze die Moral, weil nur dann die Unterdrückung der Tugend und das Glück des Lasters nicht das letzte Wort behielten. 43 Auf dieses unnenschliche Bedürfnis, sich mit den irdischen Ungerechtigkeiten nicht abfinden zu können, sondern einmal alles zurechtgerückt und in eine llber die Tugend 11.2.I (wie Anm.19), 141-183; Il.2.2, 194 und 201 f.; siehe cbd. Spaldings Zusammenfassung im 'Schreiben des Übersetzers', 30-34; ders., Bestimmung (wie Anm. 3), 4-14. 39 Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 23; vgl. ders„ Schreiben des Übersetzers, in: Shaftesbury, Untersuchung Ober die Tugend (wie Anm. 19), 28-30; ferner ebd„ Beschluß, 222; Spalding, An den Leser, in: Shaftcsbury, Die Sittenlehrer (wie Anm.19), 19; siehe auch ebd., 11.4, 133; siehe auch Sack, Vcrtheidigtcr Glaube (wie Anm. 2), 116: „die Bestimmung des Menschen zur Wahrheit, zur Tugend und zur GlOckseligkeit ist unveränderlich". 40 Vgl. Spalding, An den Leser, in: Shaftcsbury, Die Sittenlehrer (wie Anm. 19), 16: „Ich gestehe es Ihnen, daß ich davon [=vom moralischen System Shaftesburys] eingenommen bin. Die moralische Empfindung hat meiner Meinung nach so etwas grosses, und mit der weisen Güte des Schöpfers sowol, als mit der Erfahrung so übereinsti.mmcndcs an sich, daß ich sie als eine ungczweifelte Sache ansehe." Spalding schickt denn auch seiner Übersetzung von Shaftcsburys ethischem Hauptwerk einen Abriß von dessen Grundsitzen in der Sittenlehre voraus mit dem erklärten Ziel, dem Begründer der MoralSense-Philosophie neue Anhänger zu verschaffen (vgl. Spalding, Schreiben des Übersetzers, in: Sbaftcsbury, Untersuchung über die Tugend [wie Anm. 19], 3). 41 Vgl. Spalding,An den Leser, in: Shaftcsbury, Die Sittenlehrer(wieAnm.19), S. Es beißt deshalb den Bogen überspannen, wenn Schollmeier, Johann Joachim Spalding (wie Anm. 8), ISS, bei der lnterpretation dieses Vorworts behauptet, Spalding habe „die grundsltzliche Unchristlichkeit Shaftcsburys von Anfang an klar erkannt und sieb darin scharf von ibm distanziert." • 2 Vgl. Shaftcsbury, Die Sittenlehrer ll.3 (wie Anm. 19), 116-120. • 1 Vgl. Spalding, Schreiben des Übersetzers, in: Sbaftesbury, Untersuchung llber die Tugend (wie Anm. 19), 14-16 und 21-24; ders„ An den Leser, in: Shaftcsbury, Die Sittenlehrer (wie Anm. 19), 9; ders„ Bestimmung (wie Anm. 3), 18f.

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schlußendliche Harmonie gebracht zu sehen, gründet Spalding sein Unsterblichkeitspostulat, das schon erstaunlich weit auf Kant vorausweist. „Nein! Es ist nicht möglich, daß die Welt also regieret werde, da sie einmal regieret wird. Es muß notwendig ein besseres Verhältnis der Dinge da sein, sollte ich dies auch in seiner völligen Klarheit außer dem Bezirk dieses Lebens zu suchen haben. Es muß eine Zeit sein, da ein jeder das erhält, was ihm zukommt". 44 Über das Verlangen nach Gerechtigkeit hinaus entdeckt Spalding aber noch ein weiteres Anzeichen dafür, daß hier nicht bloß der fromme Wunsch der Vater des schönen Gedankens zu sein braucht. Ganz leibnizianisch-wolffianisch sieht er die unendliche Dynamik menschlicher Fertigkeiten und Anlagen, die in seinen Augen ebenfalls auf eine künftige Existenz hindeutet. Denn der natürliche Drang nach ständigem Fortschritt in der Vervollkommnung ist innerweltlich gar nie zu befriedigen. „Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachstums ins Unendliche fähig sind, und die auch außer der Verbindung mit diesen Körpern sich nicht weniger äußern können. Sollte mein Vermögen, das Wahre und Gute zu erkennen und zu lieben, alsdenn aufhören, wenn es entweder erst durch die Übung geschickt wird, soviel geschwinder zu einer größern Vollkommenheit hinanzusteigen, oder auch, wenn es kaum angefangen hat, sich auszuwickeln und in Bewegung zu setzen? Das wäre zuviel Vergebliches in den Veranstaltungen einer unendlichen Weisheit. " 4 S In dieser Unendlichkeitsperspektive hat die irdische Existenz lediglich vorbereitenden Charakter; sie ist metaphorisch gesprochen sozusagen ,,meine erste Kindheit, worin ich zu der Ewigkeit erzogen werde".46

III. Ursprung und Genese der Frage nach der Bestimmung des Menschen Nach diesem entwicklungsgeschichtlichen Blick auf den frühen Spalding und dem quellengeschichtlichen Durchgang durch sein Erfolgsbüchlein sei zum Schluß noch einmal die Frage nach dem präzisen Ort seines Denkens aufgeworfen. Vor welchem geistigen Hintergrund gewinnt die Formel von der Bestimmung des Men-

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Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 19; selbst bei Shaftesbury, Die Sittenlehrer fl.3 (wie Anm. 19), 117 f., findet sich die Erwartung eines künftigen Daseins bereits fragend-hoffend ausgesprochen. •s Spalding, Bestimmung (wie Anm. 3), 19f. 46 Ebd„ 21. Der Gedanke einer Bestimmung des Menschen zur Unsterblichkeit ist frühes neologisches Gemeingut, wie folgende frappierende Parallele unterstreichen mag. Für Sack, Vertheidigter Glaube (wie Anm. 27), 13f., besteht