Die Bestimmung des Gemeinwohls 9783110379020, 9783110378962, 9783110389685

What reliably characterizes political decisions that serve the common good? Based on insights from ethics and the politi

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German Pages 252 Year 2015

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung
1.1 Die Renaissance des Gemeinwohls
1.2 Die Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Handelns und die Funktion des Gemeinwohlrekurses
1.3 Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund
1.4 Die Bestimmung des Gemeinwohls – Zielsetzung und Methodik
2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie
2.1 Das Basismodell der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie
2.2 Rekonstruktion der metaethischen Grundlagen des Prozeduralismus
2.3 Der objektivistische Prozeduralismus
2.3.1 Grundriss des moralischen Objektivismus
2.3.2 Die prozedurale Gemeinwohlbestimmung in Rousseaus Contrat Social
2.3.3 Generaleinwände gegen den objektivistischen Prozeduralismus
2.4 Der subjektivistische Prozeduralismus
2.4.1 Souveränitätsprinzip und Verfahrensprinzip
2.4.2 Vorzüge des subjektivistischen Prozeduralismus als allgemeine Theorie
2.4.3 Das Gemeinwohl in der aggregativen Demokratietheorie
2.4.4 Kritik an der aggregativen Demokratietheorie
2.4.5 Das Gemeinwohl in der deliberativen Demokratietheorie
2.4.6 Kritik an der deliberativen Demokratietheorie
2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus
2.5.1 Der Irrtumseinwand
2.5.2 Der Inadäquatheitseinwand
2.5.3 Der Exklusionseinwand
2.6 Zwischenfazit
3 Die integrative Gemeinwohltheorie
3.1 Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These
3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie
3.2.1 Qualifiziertes Souveränitätsprinzip und qualifiziertes Verfahrensprinzip
3.2.2 Rahmenbedingungen prozeduraler Gemeinwohlbestimmung – vier Hypothesen
3.2.3 Sachbereiche
3.2.4 Verfahrenskriterien
3.2.5 Grenzwerte und Signifikanzschwellen
3.2.6 Plausibilisierung der integrativen Gemeinwohltheorie als Anwendungstheorie
4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie
4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung
4.1.1 Ursprünge und Entwicklung der Sicherungsverwahrung
4.1.2 Die EGMR-Urteile und ihre Folgen
4.1.3 Die Probleme der Risikoprognostik
4.1.4 Beurteilung der nachträglichen Sicherungsverwahrung anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie
4.2 Der Dresdner Brückenstreit
4.2.1 Die Planungsgeschichte der Dresdner Waldschlösschenbrücke
4.2.2 Die Bewerbung um den Weltkulturerbe-Titel des Dresdner Elbtals
4.2.3 Die Eskalation des Dresdner Brückenstreits
4.2.4 Beurteilung des Dresdner Brückenstreits anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie
5 Konklusion
5.1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung – und ihre Antwort
5.2 Ausblick
6 Literaturverzeichnis
6.1 Forschungsliteratur
6.2 Gutachten und Reports
6.3 Urteile, Protokolle und Drucksachen
6.4 Presse
6.5 Online-Ressourcen
Personenregister
Sachregister
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Die Bestimmung des Gemeinwohls
 9783110379020, 9783110378962, 9783110389685

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Christian Blum Die Bestimmung des Gemeinwohls

Ideen & Argumente

Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Christian Blum

Die Bestimmung des Gemeinwohls

DE GRUYTER

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-037896-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-037902-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038968-5 ISSN 1862-1147 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Umschlagsgestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagskonzept: +malsy, Willich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2011/2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen und am 2. 5. 2012 im Rahmen der Disputation verteidigt. Zur Veröffentlichung wurde sie inhaltlich und stilistisch überarbeitet; neueste Forschungsliteratur wurde berücksichtigt. Die Abfassung dieser Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung meiner Lehrer, Freunde, Kollegen und meiner Eltern – ihnen gilt mein aufrichtiger Dank. Dem Erstgutachter meiner Dissertation, Michael Quante, danke ich insbesondere dafür, dass er mich mit beständiger, aber immer konstruktiver Kritik angehalten hat, meine Argumentation zu hinterfragen, zu präzisieren, auf den Punkt zu bringen. Er hat mich, so hoffe ich zumindest, davor bewahrt, mich mit meinem Vorhaben zu überheben und mich allzu sehr in die verästelten Stränge philosophischer Debatten zu verstricken. Er trägt maßgeblichen Anteil daran, dass es mir allererst möglich war, diese Untersuchung abzuschließen. Meiner Zweitgutachterin, Christine Chwaszcza, danke ich vor allem für ihre Unterstützung bei der Entwicklung meiner Methodik. Sie hat mich daran erinnert, dass eine politisch-philosophische Theorie ihre Plausibilität auch und vor allem aus der Anwendbarkeit auf die alltägliche politische Praxis bezieht. Die Entwicklung des vierten Kapitels meiner Arbeit geht entscheidend auf ihre Anregung zurück. Meinem Drittgutachter, André Kaiser, danke ich für seine ungemein hilfreichen Literaturempfehlungen zu Themen der politikwissenschaftlichen Demokratietheorie. Ich habe bei der Lektüre dieser Texte viel gelernt. Zentrale Anregungen und Ideen habe ich aus Diskussionen mit Christina Zuber und Karsten Witt bezogen. Michael Alex vom Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum hat mir in einem sehr erhellenden Gespräch zentrale Probleme des deutschen Rechts der Sicherungsverwahrung verdeutlicht. Im Zuge meiner Recherchen zum Konflikt um den Bau der Waldschlösschenbrücke im Dresdner Elbtal konnte ich Peter Neumann vom Deutschen Institut für sachunmittelbare Demokratie und Ralf Weber vom Verein Bürgerbegehren Tunnelalternative am Waldschlösschen als überaus entgegenkommende Interview-Partner gewinnen. Alfred Dewald vom Institut für Kernphysik der Universität zu Köln verdanke ich Informationen zur Kernkraftsicherheit, die für eine angemessene Beurteilung des Luftsicherheitsgesetzes sehr hilfreich waren. Unterstützung habe ich auch von meinen lieben Eltern erfahren, die mich stets in der Einschätzung bestärkt haben, dass mein Forschungsvorhaben relevant ist. Ein besonderer Dank gilt meiner Korrektorin Mareike von Landsberg.

VI

Vorwort

Für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe Ideen und Argumente möchte ich mich bei den Herausgebern Wilfried Hinsch und Lutz Wingert bedanken. Des Weiteren danke ich einem anonymen Gutachter des Verlags de Gruyter. Gefördert wurde die Arbeit durch ein Graduiertenstipendium der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne. Die Drucklegung des Buches wurde ermöglicht durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Der allergrößte Dank gebührt jedoch Anja Becker. Trotz der ungeheuren räumlichen Distanz, die uns während der Abfassung meiner Arbeit trennte – zwischen Köln und der kenianischen Ortschaft Chemolingot, wo sie ihre Feldforschung durchführte, liegen über 10.000 Kilometer – hat sie mir jeden Tag aufs Neue Mut zugesprochen, liebevoll Kritik geäußert, wenn es nötig war, und mich keinen Augenblick vergessen lassen, dass sie an meiner Seite steht. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

Inhalt Einleitung

1

7  Die Frage der Gemeinwohlbestimmung 7 . Die Renaissance des Gemeinwohls . Die Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Han9 delns und die Funktion des Gemeinwohlrekurses . Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund 25 29 . Die Bestimmung des Gemeinwohls – Zielsetzung und Methodik  Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie 34 34 . Das Basismodell der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie . Rekonstruktion der metaethischen Grundlagen des 38 Prozeduralismus 39 . Der objektivistische Prozeduralismus 42 .. Grundriss des moralischen Objektivismus .. Die prozedurale Gemeinwohlbestimmung in Rousseaus Contrat 45 Social .. Generaleinwände gegen den objektivistischen Prozeduralismus 47 . Der subjektivistische Prozeduralismus 51 54 .. Souveränitätsprinzip und Verfahrensprinzip .. Vorzüge des subjektivistischen Prozeduralismus als allgemeine 58 Theorie .. Das Gemeinwohl in der aggregativen Demokratietheorie 60 69 .. Kritik an der aggregativen Demokratietheorie .. Das Gemeinwohl in der deliberativen Demokratietheorie 73 .. Kritik an der deliberativen Demokratietheorie 83 . Generaleinwände gegen den subjektivistischen 88 Prozeduralismus 88 .. Der Irrtumseinwand 93 .. Der Inadäquatheitseinwand 95 .. Der Exklusionseinwand . Zwischenfazit 98  Die integrative Gemeinwohltheorie 101 . Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These

101

VIII

. .. .. .. .. .. ..

Inhalt

Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie 111 Qualifiziertes Souveränitätsprinzip und qualifiziertes Verfahrensprinzip 111 Rahmenbedingungen prozeduraler Gemeinwohlbestimmung – vier 118 Hypothesen 120 Sachbereiche Verfahrenskriterien 127 143 Grenzwerte und Signifikanzschwellen Plausibilisierung der integrativen Gemeinwohltheorie als Anwendungstheorie 154



Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie 157 157 . Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung .. Ursprünge und Entwicklung der Sicherungsverwahrung 158 162 .. Die EGMR-Urteile und ihre Folgen 168 .. Die Probleme der Risikoprognostik .. Beurteilung der nachträglichen Sicherungsverwahrung anhand der Kri176 teriologie der integrativen Gemeinwohltheorie . Der Dresdner Brückenstreit 182 183 .. Die Planungsgeschichte der Dresdner Waldschlösschenbrücke .. Die Bewerbung um den Weltkulturerbe-Titel des Dresdner Elbtals 188 192 .. Die Eskalation des Dresdner Brückenstreits .. Beurteilung des Dresdner Brückenstreits anhand der Kriteriologie der 200 integrativen Gemeinwohltheorie  Konklusion 212 . Die Frage der Gemeinwohlbestimmung – und ihre Antwort 218 . Ausblick  Literaturverzeichnis 224 224 . Forschungsliteratur . Gutachten und Reports 236 . Urteile, Protokolle und Drucksachen 237 . Presse . Online-Ressourcen 237 Personenregister Sachregister

238 240

236

212

Einleitung Der Begriff des Gemeinwohls ist – vor allem in Deutschland – ein geschichtlich zutiefst belasteter Begriff. In seiner 1974 veröffentlichten und bis heute intensiv rezipierten Monographie Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht konstatierte der Rechtshistoriker Michael Stolleis, dass im Nationalsozialismus die Formeln „Interessen der Allgemeinheit“, „Nutzen aller“, „Gemeininteresse“ und „Gemeinwohl“ eine bis dahin unbekannte Verwendungsbreite erlangten und zu Kernbegriffen von Propaganda und Gesetzgebung avancierten.¹ Unter Rekurs auf den absoluten Primat des Gemeinwohls vor allen anderen gesellschaftlichen Interessen, der am prägnantesten im 25-Punkte-Programm der NSDAP („Gemeinnutz vor Eigennutz“) formuliert ist, rechtfertigten die Entscheidungsträger der NS-Diktatur nicht nur ihren alleinigen Anspruch auf die Ausübung staatlicher Herrschaftsgewalt, sondern auch die Unterdrückung Andersdenkender und die systematische Ermordung der europäischen Juden und anderer Bevölkerungsgruppen, die als „Volksschädlinge“ eingestuft wurden.² Angesichts dieser Begriffsverwendung ist es wenig verwunderlich, dass unter den deutschen Intellektuellen und Politikern der Nachkriegszeit die Einschätzung überwog, „die Gemeinwohlformeln seien sowohl durch die unter ihrem Signum begangenen Verbrechen als auch generell durch den Verschleiß in der Propaganda entweder für immer diskreditiert oder doch zumindest zeitweise nicht mehr verwendbar.“³ Exemplarisch hierfür ist die Mahnung des Philologen Viktor Klemperer: „Man sollte viele Worte des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.“⁴ Etwas zurückhaltender äußerte sich der Rechtstheoretiker Hans Dölle mit dem Vorschlag, den Begriff des Gemeinwohls nur mehr zu ausgesprochen seltenen Anlässen – und nicht inflationär wie zu Zeiten des Nationalsozialismus – zu gebrauchen.⁵ Freilich lag diesen Mahnungen nicht nur das Unbehagen an der begriffsgeschichtlichen Konnotation

 Vgl. Stolleis (1974: S. 1 f.). Siehe zu diesem Thema auch Stolleis (1972). Freilich beschränkte sich die extensive Nutzung von Gemeinwohlformeln keinesfalls auf das nationalsozialistische Regime: Wie Stolleis in einem Aufsatz neueren Datums (siehe Stolleis 2010) feststellt, war der Rekurs auf das Wohl des Gemeinwesens als Ganzes ebenso fester Bestandteil der sowjetkommunistischen Herrschaftsdoktrin.  Vgl. Schmitz-Berning (2000: S. 259 f.).  Stolleis (1974: S. 1).  Klemperer (1969: S. 25), zitiert nach Stolleis (1974: S. 2). Zur philologischen Auseinandersetzung mit dem Vokabular der NS-Diktatur in der deutschen Nachkriegszeit siehe auch Frind (1964).  Vgl. Dölle (1949: S. 70). Für einen kurzen, aber informativen Überblick zur Diskussion um die Verwendung des Gemeinwohlbegriffs in der deutschen Nachkriegszeit siehe Hoffmann (2002).

2

Einleitung

des Gemeinwohlkonzepts zugrunde, sondern auch eine weit tiefer gehende Sorge: Impliziert der Rekurs auf das Gemeinwohl als Legitimationsprinzip politischen Handelns nicht mit begrifflicher Notwendigkeit die Berufung auf ein höheres moralisches Gut, das die aktualen, uninformierten und egoistischen Einzelinteressen der Gemeinschaftsmitglieder transzendiert und bei dessen Realisierung ergebnisoffene Verfahren der politischen Willensbildung, wie Wahlen oder Abstimmungen, nur hinderlich sind? Und: Ist die Bezugnahme auf das Wohl des ‚Gemeinwesens als Ganzes‘ nicht grundsätzlich unvereinbar mit der Struktur moderner Gesellschaften, deren wesentliches Charakteristikum die religiöse, soziale und ethnische Pluralität ihrer Lebensformen ist? Das Konzept des Gemeinwohls führe, so die Kritik, wenn es als politischer Leitbegriff ernst genommen werde, in die Rechtfertigung einer paternalistischen Diktatur und in die gewaltsame Erzwingung gesellschaftlicher Homogenität; folglich stelle seine extensive Verwendung seitens der Nationalsozialisten zum Zwecke der Herrschaftslegitimation gar keinen ‚Missbrauch‘ dieses Begriffs im eigentlichen Sinne dar, sondern eine konsequente Umsetzung seiner normativen Implikate.⁶ Die nachfolgenden Generationen von politischen Repräsentanten, zivilgesellschaftlichen Aktivisten, Gewerkschaftsfunktionären und anderen Protagonisten der politischen Debatte haben sich nicht an diese Mahnungen gehalten: Der Begriff des Gemeinwohls ist in den öffentlichen Auseinandersetzungen der Gegenwart inzwischen nicht nur wieder ‚salonfähig‘; er ist geradezu ubiquitär geworden, insofern er von verschiedensten Akteuren zur Rationalisierung ihrer Handlungen und zur Kritik am Handeln politischer Gegner herangezogen wird – und zwar in Bezug auf viele, höchst unterschiedliche Politikfelder, die vom Sektor der Sicherheitspolitik über den des Umweltschutzes bis zur Infrastruktur- und Verkehrspolitik reichen.⁷ Dieser Umstand hat viele Autoren aus den Disziplinen der Sozialwissenschaften, der Rechtswissenschaften und der Philosophie veranlasst, eine „Renaissance des Gemeinwohls“ in den demokratischen Gemeinwesen der Gegenwart zu diagnostizieren und in diesem Kontext die oben angesprochene Kritik erneut zu thematisieren.⁸ Zugleich hat die wieder erstarkte Debatte um das Gemeinwohl

 Vgl. zu dieser Auffassung etwa Talmon (1952). Für eine detaillierte Explikation und Diskussion dieser Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns, die an dieser Stelle nur in sehr allgemeiner Form angerissen sind, siehe Kap. 1.3 und 3.1.  Zur Darstellung und Analyse von Gemeinwohlrekursen in den öffentlichen Auseinandersetzungen moderner demokratischer Gemeinwesen siehe Kap. 1.1. und 1.2.  Zum Begriff der Gemeinwohl-Renaissance siehe Offe (2001). Beispielhaft für ein erstarktes wissenschaftliches Interesse am Begriff des Gemeinwohls ist die Publikation der interdisziplinären Forschungsberichte der ‚Arbeitsgruppe Gemeinwohl und Gemeinsinn‘ der Berlin-Bran-

Einleitung

3

sowohl neue Formen der Kritik an seiner Plausibilität als politischem Legitimationsprinzip erbracht – am einflussreichsten ist hier der Einwand, dass sich angesichts der Verwendungsvielfalt dieses Konzepts keine kohärente Begriffsbestimmung des Gemeinwohls⁹ geben lässt – als auch Versuche, den Begriff in eine normative Theorie der Demokratie einzubetten und so vom Stigma des Totalitarismus zu befreien. Der diskussionsbeherrschende Ansatz ist hierbei die Theorierichtung des Prozeduralismus, die auf der These fußt, dass das Gemeinwohl im Output eines politischen Systems besteht, dessen Verfahren bestimmten normativen Adäquatheitsbedingungen der demokratischen Partizipation aller Mitglieder am politischen Prozess sowie bestimmten funktionalen Adäquatheitsbedingungen der effizienten und effektiven Umsetzung der partizipatorisch eingebrachten Mitgliederinteressen genügen.¹⁰ Die entscheidende Pointe des Prozeduralismus ist – zumindest seinem eigenen Anspruch nach –, dass dieser, insofern er das Gemeinwohl als Output demokratischer Prozeduren begreift, nicht nur dessen Vereinbarkeit mit einer demokratischen Ordnung gewährleistet, sondern die Ausübung demokratischer Willensbildung zur unverzichtbaren Bedingung der Gemeinwohlbestimmung macht. Zudem beansprucht der Prozeduralismus, ohne eine inhaltliche Konkretion des Gemeinwohls seitens der Theorie selbst auszukommen; er stipuliert, dass eine plausible Theorie lediglich formale Verfahrensbedingungen angeben muss, bei deren Einhaltung ein System automatisch das Wohl des respektiven Gemeinwesens produziert. Meine Untersuchung ist im Kontext dieser Debatte verortet. Sie fragt im Rahmen einer politisch-philosophischen Begriffsanalyse und gestützt auf Befunde der Politikwissenschaft, der normativen Demokratietheorie und der Metaethik danach, ob sich eine plausible Bestimmung des Gemeinwohlkonzepts angeben lässt, die dessen kohärente und mit den Grundsätzen einer demokratischen Ordnung vereinbare Verwendungsweise als Legitimationsprinzip politischen Handelns erlaubt. Eine solche Bestimmung könnte uns, so meine Hypothese, zugleich ein Beurteilungskriterium an die Hand geben, um Gemeinwohlrekurse politischer Akteure auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu denburgischen Akademie der Wissenschaften,vgl. Münkler & Bluhm (Hrsg.) (2001– 2002), die sich unter anderem aus politikwissenschaftlicher, rechtstheoretischer, philosophischer und soziologischer Perspektive mit der Analyse dieses Begriffs befassen.  Paradigmatisch für diese Argumentationsrichtung ist die Kritik Werner Nowaks (1973) und Friedhelm Neidhardts (2002), denen zufolge das Gemeinwohl lediglich eine „Leerformel“, eine rhetorische Phrase ohne kohärent bestimmbaren Bedeutungskern, darstellt; zur Diskussion dieses Einwands siehe Kap. 1.3.  Zur Diskussion der Theorierichtung des Prozeduralismus, als deren ‚Ahnherr‘ in der deutschen Politikwissenschaft und politischen Philosophie Ernst Fraenkel (1991) angesehen werden kann, vgl. Kap. 3.

4

Einleitung

kritisieren; sie würde es also ermöglichen, unbegründete von begründeten Rekursen zu unterscheiden.¹¹ Meine Analyse gliedert sich in fünf Kapitel: Das erste Kapitel ist der Frage gewidmet, welche politische Relevanz der allseitig diagnostizierten „Renaissance des Gemeinwohls“ zukommt und welche Funktion Gemeinwohlrekurse in den öffentlichen Auseinandersetzungen moderner demokratischer Gemeinwesen erfüllen. Meine erste Kernthese besagt hier, dass das Gemeinwohl als ein bedeutender Prima-Facie-Rechtfertigungsgrund politischen Handelns unter einer Pluralität irreduzibler, potentiell konfligierender und nicht strikt lexikalisch geordneter Rechtfertigungsgründe fungiert; wobei sich die erhebliche Bedeutung des Konzepts sowohl aus seiner großen Verwendungsvielfalt und -häufigkeit ergibt als auch aus dem großen Gewicht, welches politische Akteure der Beförderung und dem Schutz des Gemeinwohls beimessen. Der Umstand, dass in der normativen Staatstheorie gleichwohl schwerwiegende Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund einschlägig sind, verschärft, so meine zweite These, die Dringlichkeit einer Analyse dieses Begriffs, weil diese Kritik den Verdacht nahelegt, dass die „Renaissance“ des Gemeinwohls in Wahrheit einen gefährlichen Irrweg in der Rechtfertigungspraxis demokratischer Gemeinwesen darstellt. Im zweiten Kapitel diskutiere ich die einflussreichste Theorierichtung in der aktuellen Debatte um die Gemeinwohlbestimmung – den Prozeduralismus. Ansatzpunkt meiner Untersuchung ist, dass die überwiegende Mehrheit der Vertreter des Prozeduralismus für dessen Plausibilität nur negativ argumentiert, indem sie alternative Gemeinwohltheorien als unhaltbar zurückweist, aber die Frage nach einer positiven Bestätigung des eigenen Ansatzes ausblendet. Folglich erörtere ich, auf welche normativen Hintergrundannahmen dieser Ansatz selbst festgelegt ist und ob sich im Ausgang von diesen Annahmen überhaupt plausibel für eine prozeduralistische Gemeinwohlkonzeption argumentieren lässt. Hierbei zeigt sich, dass der Prozeduralismus zwar sowohl auf der Basis eines ethischen Objektivismus als auch eines ethischen Subjektivismus rekonstruiert werden kann, dass aber die subjektivistische Lesart zumindest eine größere Anfangsplausibilität besitzt. Anders als die objektivistische Variante, die das Gemeinwohl exklusiv über interessenunabhängige Kriterien definiert, die, so seine Kernthese, mittels politischer Verfahren zuverlässig identifiziert werden können, ist der subjektivistisch fundierte Prozeduralismus in größerem Maße anschlussfähig an unser staatsbürgerliches Selbstverständnis als Akteure, die das Gemeinwohl autonom gestalten und nicht einfach ‚finden‘; er räumt den Mitgliedern des Gemeinwesens,

 Für eine kondensierte Fassung meiner Argumentation siehe Blum (2012, 2013).

Einleitung

5

indem er das Gemeinwohl über ihre partizipativ geltend gemachten Interessen definiert, selbst die Deutungshoheit über das Gemeinwohl ein. Dieser Befund rechtfertigt eine detailliertere Rekonstruktion des subjektivistischen Prozeduralismus, in deren Verlauf ich die beiden paradigmatischen Binnenpositionen dieses Ansatzes diskutiere – die aggregative und die deliberative Demokratietheorie. Trotz ihrer größeren Anfangsplausibilität scheitert auch diese Variante des Prozeduralismus (und damit auch ihre Binnenpositionen) an verheerenden Einwänden: Der für meine weitere Argumentation zentrale Einwand besagt, dass es dem subjektivistischen Prozeduralismus unmöglich ist, Irrtümer der Mitglieder über die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen zu explizieren. Dieses instruktive Scheitern beider prozeduralistischen Varianten mündet in die Forschungsfragen ein, ob erstens anstelle einer rein prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption eine Theorie, die neben prozeduralen Kriterien der Gemeinwohlbestimmung auch eine inhaltliche bzw. prozedurtranszendente Bestimmung des Gemeinwohls vornimmt, größere Plausibilität besitzen könnte; und ob eine solche Theorie zweitens geeignet sein könnte, sowohl der souveränen Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl Rechnung zu tragen als auch der Möglichkeit von Gemeinwohl-Irrtümern. Einen solchen Ansatz entwickele ich im dritten Kapitel mit der integrativen Gemeinwohltheorie. Dieser Theorieentwurf setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: einer subjektiv-prozeduralen und einer objektiv-prozedurtranszendenten. Erstere besteht in den sogenannten qualifizierten Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien, denen zufolge die Mitglieder mittels egalitärer demokratischer Prozeduren, die der Umsetzung ihrer partizipatorisch eingebrachten Interessen dienen, selbst festlegen können, worin das Wohl ihres Gemeinwesens dem Inhalt nach besteht – es sei denn, sie verstoßen dergestalt gegen bestimmte objektive und prozedurtranszendente Mindeststandards. Die objektiv-prozedurtranszendente Komponente besteht aus einem Katalog ebendieser Standards, die im Sinne limitierender Rahmenbedingungen festlegen, welche der Outputs der oben genannten Verfahren entgegen dem subjektiven Für-gut-Halten der Mitglieder entweder gemeinwohlschädlich oder -irrelevant sind oder, positiv gesagt, welchen Anforderungen diese Outputs genügen müssen, wenn sie nicht gemeinwohlschädlich oder -irrelevant sein sollen. Die Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung ergibt sich nach diesem Modell daraus, dass die respektive Handlung sowohl durch demokratische Verfahren autorisiert ist als auch diese verfahrenstranszendenten Standards nicht verletzt. Dieser Ansatz trägt der subjektivistisch fundierten Deutungshoheit der Mitglieder insofern Rechnung, als er deren demokratische Willensbildung zur unverzichtbaren Vorbedingung der Bestimmung gemeinwohldienlicher Handlungen macht; und er trägt der Möglichkeit von Gemeinwohl-Irrtümern Rechnung, insofern er

6

Einleitung

diese in objektiven Standards fundiert, an denen diese Willensbildung in Hinblick auf das Gemeinwohl scheitern kann. Zwar bietet dieser Ansatz eine plausible und mit den Grundsätzen einer demokratischen Ordnung vereinbare Bestimmung des Gemeinwohls, aber damit steht noch aus, ob seine Kriteriologie auch geeignet ist, um die konkreten Gemeinwohlrekurse, die für die öffentlichen Auseinandersetzungen moderner Gemeinwesen charakteristisch sind, zu analysieren und gegebenenfalls zu kritisieren. Dieser Frage gehe ich im vierten Kapitel nach. Hierbei untersuche ich, ob die Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie im Sinne einer ‚Checkliste‘ nutzbar ist, um zwei exemplarisch herangezogene politische Streitfälle, die durch Gemeinwohlrekurse charakterisiert waren, plausibel zu beurteilen. Bei diesen Streitfällen handelt es sich erstens um die Debatte über die Maßregel der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung und zweitens um die Kontroverse über den Bau der Waldschlösschenbrücke durch das UNESCO-geschützte Dresdner Elbtal. Bei der Analyse dieser Streitfälle zeigt sich, dass die Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie – wenn sie durch spezialwissenschaftliche Kenntnisse komplementiert wird – geeignet ist, um erstens begründet die oben genannte Maßregel als gemeinwohlirrelevant zu kritisieren und zweitens den Bau der Waldschlösschenbrücke als gemeinwohlschädlich einzustufen. Dieses Ergebnis belegt, so mein Fazit, die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes als anwendungsbezogene politische Theorie. Im fünften Kapitel rekapituliere ich die Resultate meiner Untersuchung und diskutiere deren wissenschaftlich-theoretische und politisch-praktische Relevanz. Ich argumentiere erstens dafür, dass die Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie den Ausgangspunkt einer Reihe wichtiger interdisziplinärer Forschungsfragen bildet, die von der politischen Philosophie im Verbund mit empirischen Disziplinen bearbeitet werden können. Zweitens lässt sich, so meine These, die integrative Gemeinwohltheorie als Beitrag zur Stärkung der kritischen Kapazitäten der politischen Öffentlichkeit begreifen, insofern sie deren Mitgliedern ein Instrument an die Hand gibt, um Gemeinwohlrekurse wohlbegründet bewerten zu können.

1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung 1.1 Die Renaissance des Gemeinwohls Seit über einem Jahrzehnt diagnostizieren politische Philosophen, Politologen, Soziologen und Juristen eine „Renaissance des Gemeinwohls“ in der politischen Debatte.¹² Politische Akteure wie Parteien, Verbände, zivilgesellschaftliche Netzwerke und Medien, aber auch Gerichte rekurrieren, so der Befund, zur Rationalisierung ihres Handelns und zur Kritik am Handeln politischer Gegner wieder verstärkt auf das Konzept des allgemeinen Wohles.¹³ Die Revitalisierung dieses Leitbegriffs, der bis in die 1990er Jahre – vor allem in Deutschland – aufgrund seiner extensiven Verwendung durch das NS-Regime zur Rechtfertigung einer totalitären Diktatur verfemt war,¹⁴ findet, wie zahlreiche Autoren mit Erstaunen feststellen, innerhalb des gesamten politischen Spektrums statt. So bemerkt Claus Offe, dass das Gemeinwohl nicht mehr nur von konservativen Interessenformationen, die mit diesem Begriff traditionell geringere Berührungsängste hätten, sondern auch von der „politischen Linken“, wie z. B. sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften, zur Entscheidungslegitimation herangezogen werde.¹⁵ Paradigmatisch hierfür ist die Rede des damaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder nach seinem Amtsantritt 1998 beim Gewerkschaftstag der IG Metall: Die Aufgabe der neuen Regierung, der diese mit ihrem sozial- und wirtschaftspolitischen Reformprogramm Rechnung trage, sei es,

 Geprägt wurde das Schlagwort von der Gemeinwohl-Renaissance von Offe (2001). Seitdem ist es von Autoren juristischer und sozialwissenschaftlicher Disziplinen und in der politischen Philosophie immer wieder aufgegriffen worden; vgl. unter anderem Buchstein (2002), Portinaro (2002), von Arnim (2003), Große Kracht (2004), Seubert (2006), Kitzmann (2009) und Bohlken (2011).  Obwohl die Revitalisierung des Gemeinwohlbegriffs in der politischen Debatte vor allem in Deutschland intensiv diskutiert wird, handelt es sich hierbei keinesfalls um ein spezifisch deutsches Phänomen. Dies zeigt sich daran, dass der entsprechende Befund sowohl von angelsächsischen Autoren (vgl. etwa Etzioni 2004 sowie Riordan 2008) und nicht-westlichen Theoretikern (vgl. Zaman 2006) geteilt wird; vgl. hierzu auch die Einschätzung von Häberle (2008). Ob indes die konkreten Ursachen für diesen allgemeinen Trend jeweils landesspezifisch sind, ist eine empirisch-sozialwissenschaftliche Frage, der ich im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgehen werde.  Vgl. Hellmann (2002). Charakteristisch für diese begriffsgeschichtlich bedingte Tabuisierung ist die Einschätzung des Staatsrechtlers Fritz Ossenbühl, der noch in den 1980ern mahnte, dass man den Begriff des Gemeinwohls, wenn überhaupt, dann „nur mit ‚spitzen Fingern‘ anfassen [dürfe], um sich nicht ideologisch zu beflecken oder zu infizieren“, Ossenbühl (1983: S. 301).  Offe (2001: S. 459).

8

1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung

das Gemeinwohl in Deutschland sozial gerecht und wirtschaftlich stark zu organisieren. Das [sei] der Leitfaden – nicht die Forderungen aus Interessenverbänden, Gemeinden oder einzelnen Bundesländern.¹⁶

Ein weiteres prononciertes Beispiel neueren Datums bietet die Bestreikung der nordrhein-westfälischen Kindertagesstätten im Jahr 2011: Im Rahmen landesweiter Protestkundgebungen ermutigte der Kölner Vorsitz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Beschäftigten, die für Lohnerhöhungen und verbesserte Arbeitsbedingungen demonstrierten, ihre Arbeitsniederlegung um des Gemeinwohls willen fortzusetzen: „Ihr streikt nicht nur für Euch, Ihr streikt für Eure Kinder in den Einrichtungen, Ihr streikt für die Eltern, Ihr streikt für das Allgemeinwohl, Ihr streikt für uns alle.“¹⁷ Doch auch diejenigen Akteure, deren Agenda wesentlich durch Umweltschutz-Belange bestimmt ist, haben unterdessen das Gemeinwohl als Leitbegriff für sich entdeckt. Anlässlich seiner Wiederwahl zum Grünen-Vorsitzenden im November 2010 erklärte etwa Cem Özdemir die Grünen zur „Gemeinwohl-Partei“ und begründete diese Charakterisierung mit deren Programmatik, die auf eine ökologisch nachhaltige Politik ausgerichtet sei.¹⁸ Eine signifikante Rolle spielte der Gemeinwohlbezug auch während der kommunalpolitischen Auseinandersetzung in Dresden um den Bau einer Brücke durch das seinerzeit UNESCO-geschützte Elbtal in den Jahren von 2007 bis 2009: So rechtfertigten Umweltschutzverbände und Bürgerinitiativen ihren vehementen Widerstand gegen das Projekt und die zeitweilige Besetzung der Brückenbaustelle damit, dass verkehrspolitische Interessen um keinen Preis die „Oberhand […] über Gemeinwohl und Umweltschutz, über Klugheit und Weitsicht“ gewinnen dürften.¹⁹ Freilich beschränken sich diese Rekurse in ihren konkreten Formulierungen nicht allein auf den Ausdruck des „Gemeinwohls“ – stattdessen ist auch vom „öffentlichen Interesse“, vom „Nutzen für die Allgemeinheit“ oder von „Kollektivinteressen“ die Rede. Der Bedeutungsinhalt ist jedoch, wie Fritz Ossenbühl konstatiert, „trotz dieser sprachlichen Vielfalt im Kern identisch“:²⁰ So argu-

 Zitiert nach Offe (2001: ebd).  Neue Rheinische Zeitung vom 28. 8. 2011.  Tagesspiegel vom 20.11. 2010.  Sächsische Zeitung vom 19. 3. 2007. Bemerkenswert ist dieser Fall vor allem deshalb, weil die Fraktion der Brückenbefürworter (eine Allianz von Mitgliedern der sächsischen CDU und FDP sowie des ADAC und der sächsischen Ingenieurskammer) ihrerseits den Bau der Brücke dezidiert als gemeinwohldienlich rechtfertigten. Für eine eingehende Diskussion dieser Auseinandersetzung, die als „Dresdner Brückenstreit“ sowohl deutschlandweite als auch internationale Aufmerksamkeit erfahren hat, siehe Kap. 4.2.  Ossenbühl (1983: S. 302). Vgl. auch Häberle (2008: S. 241).

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mentieren Akteure, wenn sie ihre Handlung in diesem Kontext legitimieren, entweder damit, dass diese – in der prospektiven Bewertung – das Gemeinwesen als Ganzes vor Schaden bewahren wird bzw. – in der Ex-Post-Bewertung – vor Schaden bewahrt hat; oder dass die Handlung das Gemeinwesen besserstellen wird bzw. bessergestellt hat. Die respektive Kritik bezieht sich hingegen darauf, dass die Handlung des politischen Gegners das Gemeinwesen voraussichtlich entweder nicht besserstellen wird oder sogar schlechterstellen wird, bzw. dass die entsprechenden Handlungsfolgen bereits eingetreten sind. Angesichts dieser Verwendungspraxis lässt sich, so meine Hypothese, konstatieren, dass das Gemeinwohl als ein bedeutender Rechtfertigungsgrund politischen Handelns in öffentlichen Auseinandersetzungen fungiert,²¹ wobei der Begriff politischen Handelns, wie ich ihn im Folgenden verstehe, ein Spektrum umfasst, das sich von hoheitlichen Aufgaben staatlicher Institutionen wie dem Erlassen von Gesetzen, der Ausübung von Exekutivbefugnissen und der Normenkontrolle bis hin zu zivilgesellschaftlichen Aktivitäten wie zivilem Ungehorsam und dem konzertierten Boykott von bestimmten Produkten oder Unternehmen erstreckt.²² Um die Relevanz der „Renaissance“ des Gemeinwohlbegriffs einschätzen zu können, ist es somit erforderlich, zu klären, welche Rolle die öffentliche Rechtfertigung politischen Handelns in modernen Gemeinwesen spielt, und was genau politische Akteure damit meinen, wenn sie beanspruchen, eine Handlung sei durch das Gemeinwohl gerechtfertigt.

1.2 Die Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Handelns und die Funktion des Gemeinwohlrekurses Die öffentliche Rechtfertigung politischen Handelns – sei es durch Parlamentsdebatten, in Rundfunk und Fernsehen übertragenen Ansprachen politischer Entscheidungsträger, die Verkündung von Gerichtsurteilen oder Protestkundgebungen – ist nicht nur ein fester Bestandteil der politischen Kultur moderner demokratischer Gemeinwesen; sie ist nach weit geteilter Auffassung der politischen Theorie auch ein essentielles Merkmal dieses Typus politischer Systeme, das seine Vorzugswürdigkeit gegenüber nicht-demokratischen Regimen begründet. Hierfür lassen sich drei Hauptargumente anführen: Erstens wird geltend ge-

 Vgl. zu dieser Einschätzung unter anderem Barry (1964), Kratochwil (1982: S. 4), Offe (2001: S. 468) sowie Neidhardt (2002: S. 162).  Diesen Begriff politischen Handelns entlehne ich von Kinder & Sears (1985: S.659 f.).

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macht, dass „[p]olitical decisions made behind closed doors or shrouded in mystery are destructive of political trust“.²³ Klandestine Prozesse politischer Entscheidungsfindung nähren, so das Argument, im Gegensatz zu transparenten Prozeduren unter den Mitgliedern des Gemeinwesens den Verdacht, dass die entsprechenden Handlungen nur dazu dienen, die Interessen einflussreicher Eliten zu sichern – ein Umstand, der sich negativ auf die allgemeine Bereitschaft zur Befolgung politisch autorisierter Normen auswirkt, Korruption und Klientelismus begünstig und so das politische System als Ganzes destabilisiert. Zweitens gewährleistet, wie Jeremy Waldron argumentiert, die durch öffentliche Handlungsrechtfertigung etablierte Transparenz des politischen Systems, dass die Mitglieder auch tatsächlich ineffizientes Regierungshandeln durch Abwahl der Regierung sanktionieren bzw. effizientes Handeln durch deren Wiederwahl belohnen können. Wenn politische Entscheidungsträger den Gemeinschaftsmitgliedern hingegen keine Rechenschaft über die Gründe ihres Handelns ablegten, die von diesen auf Plausibilität und Überzeugungskraft hin überprüft werden könnten, hätten politische Wahlen lediglich den Charakter von Willkürentscheidungen und wären in keinerlei Weise Ausdruck einer begründeten Bewertung politischer Performanz.²⁴ Das dritte Argument stellt schließlich darauf ab, dass den Mitgliedern „as persons, potentially governed by reason, capable of listening to and responding to reasons and arguments, and generating reasons and arguments of their own“ ein moralischer Anspruch darauf zukommt, dass politische Akteure ihnen Rechenschaft über die Gründe ihres Handelns ablegen.²⁵ Ihnen die Einlösung dieses Anspruchs zu verwehren, hieße, die Gemeinschaftsmitglieder in ihrer Eigenschaft als autonome, zur selbständigen Urteilsbildung und zum Austausch rationaler Handlungsgründe befähigte Individuen zu missachten. Die Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis lässt sich nun meiner Auffassung nach plausibel in Analogie zu dem Modell des ethischen Pluralismus, wie es am einflussreichsten von dem Moraltheoretiker William D. Ross vertreten worden ist, rekonstruieren.²⁶ Der Ross’sche Pluralismus basiert auf vier Kern-

 Wall (1996: S. 502).  Vgl. Waldron (1993) sowie Habermas (1998).  Bertram (1997: S. 565). Dieses Argument findet sich bereits bei John Stuart Mill ([1861] 2010: S. 37 ff.). Für eine umfassende Diskussion siehe Forst (2007).  Vgl. Ross (1930). In den folgenden Ausführungen orientiere ich mich an Brad Hookers (1996) Darstellung des Ross’schen Pluralismus, die meines Erachtens die klarste und überzeugendste Erörterung dieser philosophischen Position bietet. Hierbei geht es mir, wie einschränkend zu bemerken ist, nicht darum, eine vollständige normative Theorie der öffentlichen Rechtfertigung politischen Handelns zu entwickeln; mein Ziel ist nur, die basale Struktur der entsprechenden Praxis,wie sie sich in demokratischen Gemeinwesen darstellt, in plausibler Weise – und das heißt,

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prämissen: Die erste Annahme besagt, dass unsere moralische Rechtfertigungspraxis durch eine Pluralität von Handlungsgründen charakterisiert ist, wie etwa die Pflichten, keine Versprechen zu brechen, das Wohlergehen von Mitmenschen zu befördern, nicht zu lügen etc. Der zweiten Annahme zufolge ist diese Pluralität von Gründen irreduzibel, was bedeutet, dass sich die verschiedenen Pflichten nicht aus einem übergeordneten Prinzip ableiten lassen bzw. explanatorisch auf ein Prinzip zurückgeführt werden können. Entsprechend unterscheiden sich pluralistische Positionen in der Ethik von sogenannten monistischen Theorien, wie z. B. dem klassischen Utilitarismus, demzufolge sich alle moralischen Anforderungen unter Rekurs auf das Prinzip der Kollektivnutzen-Maximierung begründen lassen, oder der kantischen Deontologie, die auf der Annahme beruht, dass alle entsprechenden Verpflichtungen nur Instanzen der Anwendung des kategorischen Imperativs sind.²⁷ Gemäß der dritten Annahme können diese verschiedenen Handlungsgründe in konkreten Situationen miteinander in Konflikt treten. So konfligiert z. B. die Anforderung, meine Mutter, wie versprochen, pünktlich vom Bahnhof abzuholen, mit der Verpflichtung, einem Unfallopfer, dem ich unterwegs begegne, Nothilfe zu leisten: Wenn ich meiner Verpflichtung, dem Not leidenden Menschen zu helfen, nachkomme, werde ich es nicht rechtzeitig zum Bahnhof schaffen und muss mein Versprechen brechen; setze ich hingegen alles daran, mein Versprechen zu halten, werde ich keine Nothilfe leisten können.²⁸ Die vierte Annahme besagt schließlich, dass zwischen den verschiedenen Rechtfertigungsgründen keine strikte lexikalische Ordnung besteht, nach der sich solche Konflikte pauschal auflösen ließen. Einfach gesagt: Keiner der Gründe ist in dem Sinne absolut, dass er nicht prinzipiell in einer Konfliktsituation von einem anderen Grund übertrumpft werden könnte.²⁹ Aus diesen Annahmen ergibt sich nun, dass die jeweiligen Gründe bei der Beurteilung, welche Handlungsweise in konkreten Einzelfällen die am besten gerechtfertigte ist, zunächst nur als Prima-Facie-Gründe fungieren; dies bedeutet, wie Kurt Baier treffend formuliert: Jede Tatsache, die dafür spricht [eine bestimmte Handlung durchzuführen], begründet die Vermutung, daß ich die entsprechende Handlung durchführen soll, jede Tatsache, die dagegen spricht, begründet die Vermutung, daß ich sie nicht durchführen soll. Jede dieser

in Übereinstimmung mit unseren vortheoretischen Überzeugungen und Alltagsbeobachtungen – zu modellieren und in diesem Kontext die Funktion des Gemeinwohlbegriffs zu klären.  Vgl. Wolf (1996: S. 607).  Die Voraussetzung für das Auftreten dieses konkreten Konflikts ist natürlich, dass der zeitliche Aufwand, den die Nothilfe erfordert, in der Tat so groß ist, dass er ein pünktliches Erreichen des Bahnhofs unmöglich macht.  Vgl. Williams (1972: S. 90).

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Vermutungen kann später durch das Abwägen des Für und Wider widerlegt oder bestätigt werden.³⁰

Entsprechend ist dieser Konzeption zufolge für die finale Beurteilung des Rechtfertigungsstatus einer Handlung die Abwägung des moralischen Gewichts der respektiven Gründe und Gegengründe erforderlich; denjenigen Rechtfertigungsgrund, der nach allseitiger Abwägung schließlich als der gewichtigste und folglich handlungsanleitende identifiziert worden ist, bezeichnet man in diesem Kontext als Rechtfertigungsgrund „sans phrase“.³¹ Hierbei ist jedoch anzumerken, dass dem Ross’schen Pluralismus zufolge nicht alle Abwägungen notwendig in die Identifizierung eines solchen Rechtfertigungsgrundes sans phrase einmünden müssen: Einerseits ist es möglich, dass Konflikte auftreten können, die so komplex sind und/oder deren Bewertung unter einem solchen Zeitdruck erfolgen muss, dass die Identifizierung eines Grundes, der sich zuverlässig als der gewichtigste ausweisen lässt, unmöglich wird.³² Konflikte dieses Typs sind jedoch nicht prinzipiell unauflösbar: Der genannte Umstand ergibt sich nur aus kontingenten Eigenschaften der aktualen Beurteilungssituation, die den epistemischen Zugriff des Entscheidungsträgers auf alle relevanten Handlungsgründe beeinträchtigen; ein hypothetisch-idealer Beurteiler, der über unbegrenzte Zeit zur Bewertung der Konstellation und über vollständiges Wissen hinsichtlich der respektiven Gründe und ihrer relativen Gewichtung verfügte, wäre entsprechend durchaus in der Lage, die bestmöglich gerechtfertigte Handlungsweise zu ermitteln. Andererseits können sich jedoch auch moralische Dilemmata einstellen, d. h. situations where there is a moral requirement for an agent to adopt each of two alternatives, and the agent cannot adopt both, but neither moral requirement is overridden in a morally relevant way.³³

In diesen Fällen ergibt sich die Unmöglichkeit zur Identifizierung eines Rechtfertigungsgrundes sans phrase nicht aus den epistemischen Einschränkungen des aktualen Beurteilers, sondern daraus, dass zwei (oder mehr) praktisch inkompatible Handlungsoptionen durch Gründe gestützt werden, von denen keiner den (oder die) jeweils anderen in irgendeiner moralisch relevanten Hinsicht über-

   

Baier (1974: S. 101); meine Hervorhebung. Vgl. Baier (1974: S. 103). Vgl. van Willigenburg (2000: S. 395 f.). Sinnott-Armstrong (1985: S. 322).

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trumpft. Entsprechend wäre in solchen Konstellationen auch ein idealer Beurteiler nicht in der Lage, die bestmöglich gerechtfertigte Handlungsweise zu ermitteln.³⁴ Das entscheidende Argument, welches nach Brad Hooker für die Plausibilität dieses Modells spricht, ist, dass „Ross-style pluralism can do an unbeatable job of cohering with the moral convictions most of us share and have confidence in.“³⁵ Da meine Untersuchung nicht in den Bereich der Moraltheorie, sondern in den der politischen Philosophie fällt, werde ich nicht erörtern, ob das Ross’sche Modell eine überzeugende Rekonstruktion individueller moralischer Praxis bietet. Die relevante Frage lautet vielmehr, ob Hookers Einschätzung über die Leistungsfähigkeit des Modells auf die öffentliche Rechtfertigungspraxis politischen Handelns zutrifft, d. h. ob es dazu geeignet ist, deren Struktur in plausibler und mit unserer vortheoretischen Beurteilungspraxis kompatibler Weise zu systematisieren und in diesem Kontext die Funktion des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund zu klären. Um diese Frage zu beantworten, ist es meines Erachtens sinnvoll, zu überprüfen, ob die zuvor dargelegten vier Grundannahmen auf die öffentliche Rechtfertigungspraxis zutreffen oder nicht. Zunächst zur ersten Grundannahme: Meiner Ansicht nach ist es in der Tat schwer bestreitbar, dass die verschiedenen Akteure der politischen Debatte auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Rechtfertigungsgründen zur Rationalisierung ihrer Handlungen (bzw. zur Kritik an Handlungen politischer Gegner) rekurrieren, wobei die Bezugnahme auf die jeweiligen Gründe zu einem gewissen Grade politikfeldspezifisch ist. So ziehen etwa Regierungen, wenn sie den Entschluss zur militärischen Unterstützung eines befreundeten Staates legitimieren, häufig die Verpflichtung zur Bündnistreue gegenüber Alliierten heran (bzw. die politische Opposition mahnt – wenn die Regierung einem verbündeten Staat, der sich einem Angriff ausgesetzt sieht, nicht militärisch beisteht – die Wahrung dieser Bündnistreue an). Beispielhaft hierfür ist die berühmte Wendung von der „uneingeschränkten Solidarität“, mit der die deutsche Regierung die Beteiligung der Bundeswehr an dem von den USA geführten Krieg gegen Afghanistan im Rahmen der Operation ‚Enduring Freedom‘ nach den Terror-Anschlägen vom 11.9. 2001 legitimierte. Humanitäre Hilfsleistungen (wie z. B. die Entsendung von ÄrzteTeams oder Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen) an Staaten, die von verheerenden Katastrophen bedroht sind, werden wiederum unter Bezug auf die karitative Verpflichtung des Gemeinwesens begründet, auch denjenigen Men-

 Die Erörterung des Begriffs des moralischen Dilemmas stellt ein ausgesprochen komplexes und bis heute intensiv diskutiertes Thema der Moraltheorie dar, dessen weitere Vertiefung meine Arbeit inhaltlich überfrachten würde; für einen exzellenten Überblick vgl. jedoch Sinnott-Armstrong (1988).  Hooker (1996: S. 535).

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schen, die sich außerhalb der eigenen Staatsgrenzen befinden, beizustehen. Die Etablierung bestimmter Sonderrechte für ethnische und/oder religiöse Minderheiten innerhalb des eigenen Territoriums (wie etwa Ausnahmeregelungen, die in bestimmten Regionen den Schulunterricht in der Sprache der Minderheit erlauben) werden meist damit gerechtfertigt, dass den entsprechenden Gruppen ein legitimes Partikularinteresse an der Wahrung ihrer kulturellen und/oder religiösen Integrität und an der Fortführung ihrer Traditionen zugesprochen wird.³⁶ Das Konzept der sozialen Gerechtigkeit wird hingegen als Rechtfertigungsgrund vor allem in Kontexten bemüht, in denen die (Um‐)Verteilung von Ressourcen innerhalb des Gemeinwesens thematisch ist – so etwa bei Reformen der Steuer- und Sozialpolitik. Der Begriff des Gemeinwohls kommt schließlich bei einer Vielzahl höchst unterschiedlicher Politikfelder zur Geltung (Näheres zu den damit einhergehenden Problemen der Gemeinwohlbestimmung siehe Kap. 1.3): So werden etwa Maßnahmen des Katastrophenschutzes (wie z. B. die Entsendung von Soldaten zur Errichtung von provisorischen Staudämmen in Regionen, die von Überflutung bedroht sind) mit dem Schutz der Allgemeinheit begründet; Gleiches gilt für sicherheitspolitische Regelungen, wie die nach den Anschlägen vom 11.9. 2001 in Deutschland erlassenen Anti-Terror-Gesetze, die unter anderem striktere Sicherheitskontrollen an Flughäfen vorsehen und Polizeibehörden erweiterte Befugnisse zur Observierung von Terror-Verdächtigen zugestehen. Neben den eingangs erwähnten Beispielen aus dem Umweltschutzsektor kann auch auf das Feld der Verkehrspolitik verwiesen werden: So argumentieren bei kommunalen Auseinandersetzungen über den Ausbau von Verkehrswegen deren Befürworter oft damit, dass die Verbesserung des Straßennetzes, insofern es sich hierbei um ein öffentlich nutzbares Gut handele, der Allgemeinheit zugutekomme.³⁷ Zuletzt ließe sich – um die nicht einmal annährungsweise vollständige Auflistung von Politikfeldern, in denen Gemeinwohlrekurse stattfinden, abzuschließen – der Sektor der Kulturpolitik anführen: Ein gängiges Argument, mit dem z. B. Museumsverbände und Denkmalschützer für eine Aufstockung von Kulturetats ein Eine eng geführte Interpretation von Jean-Jacques Rousseaus Contrat Social ([1762] 2001) hat dazu geführt, dass in der politischen Theorie der Gegenwart Partikularinteressen häufig mit im starken Sinne egoistischen Einzelinteressen gleichgesetzt werden, vgl. etwa Neidhardt (2002). Ich gebrauche den Begriff im Folgenden wertneutral und bezeichne damit die spezifischen Interessen bestimmter Gruppen innerhalb des Gemeinwesens, die mit dessen Kollektivinteressen konfligieren können, aber nicht müssen, und die sowohl legitim als auch illegitim sein können. Dafür, dass dieses Verständnis in der Tat dem Rousseau’schen Konzept von „volontées particulières“ besser entspricht als die oben angeführte Deutung, werde ich an dieser Stelle nicht eigens argumentieren; vgl. hierzu jedoch Herb (1989: S. 194– 205).  Für eine ausführlichere Diskussion des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns auf dem Sektor der Verkehrsinfrastrukturpolitik siehe Kap. 4.2.4.

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treten, ist, dass diese Gelder in die Bewahrung des kulturellen Erbes der Allgemeinheit investiert würden; ohne entsprechende finanzielle Unterstützung sei man gezwungen, diese Güter dem Verfall preiszugeben. In den Bereich der Kulturpolitik fallen jedoch auch solche Gemeinwohlrekurse, die darauf abzielen, etablierte kulturelle Praxen und Wertordnungen (wie z. B. die heterosexuelle Ehe, bestimmte Kleidungssitten oder die Ausübung der christlichen Konfession) unter besonderen Schutz zu stellen, und/oder hiervon abweichende Praxen zu ächten. Die respektiven Sitten und Bräuche seien, so wird argumentiert, konstitutiv für die kollektive Identität – und somit auch für das Wohl – des Gemeinwesens. Sie nicht zu bewahren (bzw. die Überhandnahme abweichender Normen nicht einzudämmen) hieße, eine bedeutende Komponente des Gemeinwohls zu vernachlässigen. Die Überprüfung der zweiten Annahme gestaltet sich demgegenüber schwieriger. Zweierlei werde ich im Folgenden nicht versuchen: Ich werde mich nicht bemühen, eine Liste irreduzibler Rechtfertigungsgründe politischen Handelns zu entwickeln, und ich werde auch nicht versuchen, zu beweisen, dass es begrifflich unmöglich ist, das Konzept des Gemeinwohls auf einen anderen, wie auch immer gearteten, Rechtfertigungsgrund zu reduzieren. Zur Realisierung einer solchen Zielsetzung (wenn sie denn überhaupt umsetzbar ist) müsste eine vollständige normative Theorie der öffentlichen Rechtfertigung politischen Handelns entwickelt werden; ein derartiges Projekt strebe ich im Rahmen dieser Untersuchung, die auf die Bestimmung des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund ausgerichtet ist, jedoch nicht an.³⁸ Stattdessen werde ich – angesichts meines vorrangigen Erkenntnisinteresses – dafür argumentieren, dass der Annahme, wonach das Gemeinwohl einen irreduziblen bzw. eigenständigen Rechtfertigungsgrund darstellt, eine erhebliche Grundplausibilität zukommt. Und zwar, indem ich darlege, dass eine spezifische gegenläufige These, die vor allem von politischen Philosophen, die sich dem Liberalismus zuordnen, vertreten wird, unplausibel ist: Diese These besagt, dass der Begriff des Gemeinwohls lediglich „an expression of social justice“ sei.³⁹ Wann immer wir eine Handlung als gemeinwohldienlich bezeichnen, meinen wir damit, so diese Position, nichts anderes, als dass diese

 Siehe Fn. 26.  Preston (2007: S. 150). Diese Reduktionsthese kann meines Erachtens auch John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit zugesprochen werden, insofern dieser das Gemeinwohl als Herstellung gerechter Verteilungsverhältnisse definiert, „die jedermann gleichermaßen zum Vorteil gereichen“, Rawls (1979: S. 263). Eine ähnlich gelagerte Position wird auch von dem einflussreichen katholischen Sozialethiker Johannes Messner vertreten, demzufolge das Gemeinwohl „in der allseitigen Verwirklichung der Gerechtigkeit“ besteht, Messner (1962: S. 54). Für eine kritische Diskussion dieser These siehe Ladwig (2002).

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dazu beiträgt, eine gerechte (oder zumindest im Vergleich zum vorherigen Zustand des Gemeinwesens gerechtere) Verteilung von bestimmten Grundgütern wie Rechten, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen an die einzelnen Mitglieder des Gemeinwesens zu realisieren. Entsprechend könnten wir alle Urteile der Art ‚Handlung x ist gemeinwohldienlich‘ ohne Bedeutungsverlust in Urteile der Art ‚Handlung x ist sozial gerecht‘ umwandeln; bzw. Urteile der Art ‚Handlung y ist gemeinwohlschädlich‘ in Urteile der Art ‚Handlung y ist sozial ungerecht‘. Nun ist diese Position allerdings kein Bestandteil eines spezifischen reduktionistischen Programms, wie man es z. B. aus der Debatte der Philosophie des Geistes kennt, in der Vertreter des Physikalismus dezidiert dafür argumentieren, dass sich mentale Phänomene explanatorisch auf neuronale Zustände reduzieren lassen.⁴⁰ Die Annahme, wonach der Begriff des Gemeinwohls auf den der Gerechtigkeit reduzierbar sei, wird von ihren Vertretern in der Regel als unproblematisch und daher als nicht weiter begründungsbedürftig vorausgesetzt.⁴¹ Gleichwohl ist der Vorzug dieser Position aus wissenschaftstheoretischer Sicht offenkundig: Eine Theorie, die bei gleicher Leistungsstärke darauf verzichtet, den Begriff des Gemeinwohls als eigenständigen Rechtfertigungsgrund anzunehmen, ist schlechterdings sparsamer als eine Theorie, die dessen Irreduzibilität voraussetzt.⁴² Ich halte diese Position jedoch für nicht überzeugend, weil sie mit der Verwendung des Gemeinwohlbegriffs in den Rechtfertigungspraxen aktualer Gemeinwesen und mit unseren vortheoretischen Beurteilungsstandards von Gemeinwohlrechtfertigungen nicht übereinstimmt: So ist es meines Erachtens intuitiv plausibel, dass erstens bestimmte Handlungen durchaus gemeinwohldienlich und zugleich ungerecht sein können; und dass zweitens bestimmte Handlungen gemeinwohldienlich sein können, aber der Begriff der Gerechtigkeit in diesen Fällen nicht sinnvollerweise angewandt werden kann. Was den ersten Punkt betrifft, lässt sich als Beispiel die deutsche Debatte um die Verabschiedung des Luftsicherheitsgesetzes im Jahr 2005 anführen:⁴³ Unter dem Eindruck der Anschläge vom 11.9. 2001 hatte die Bundesregierung ein – später vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für grundgesetzwidrig erklärtes – Gesetz erlassen, das die Exekutive autorisierte, gekaperte Passagierflugzeuge zum Abschuss durch die Luftwaffe freizugeben, wenn ein begründeter Verdacht bestünde, dass die Entführer beabsichtigten, diese als ‚fliegende Bomben‘ gegen Kernkraftwerke ein-

 Vgl. zu dieser Position Kim (1998, 2005).  Vgl. Ladwig (2002: S. 85).  Für eine Diskussion des Sparsamkeits-Prinzips als Gütekriterium wissenschaftlicher Theorien vgl. Baker (2010).  Für eine eingehendere Erörterung siehe Blum (2010).

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zusetzen. Auch unter Absehung von der konkreten Rechtslage einzelner Gemeinwesen dürfte unstreitig sein, dass die Entscheidung, eine Passagiermaschine abzuschießen, die von Terroristen auf ein Atomkraftwerk zugesteuert wird, dem Schutz des Gemeinwohls dient, bzw. dass die Weigerung, einen solchen Befehl zu erteilen, gemeinwohlschädlich ist: Die Folgen eines derartigen Anschlags wären nach Einschätzung der angewandten Kernphysik entweder der Eintritt einer Kernschmelze, die zu einer radioaktiven Verseuchung des umliegenden Areals (in einem Umkreis von ca. 70 Kilometern um das Kraftwerk) und zu gravierenden Sekundärfolgen für angrenzende Regionen führen würde, oder einer Kernexplosion, deren nuklearer Fallout einen noch weit größeren Radius hätte.⁴⁴ Dass beide Ereignisse verheerende Folgen für das Wohl des Gemeinwesens als Ganzes hätten – neben den Todesopfern ist z. B. auch an die wirtschaftlichen Folgen einer solchen Katastrophe und die hieraus resultierende Destabilisierung des politischen Systems zu denken –, ist offenkundig. Ebenso unbestreitbar wie die Gemeinwohldienlichkeit des Abschussbefehls ist in einem solchen Fall jedoch auch die Tatsache, dass dieser Befehl nicht als gerecht bezeichnet werden kann: Durch den Abschuss der Maschine werden die staatlich garantierten Grundrechte der Passagiere auf Achtung ihrer körperlichen Unversehrtheit verletzt; ihr unfreiwilliges Opfer wird bewusst in Kauf genommen, um Schaden vom Gemeinwesen abzuwenden. Für die Ungerechtigkeit dieser Handlung, einer Gruppe von Personen ihren Grundrechtsschutz zu entziehen, um so das Leben von unzähligen anderen Personen zu retten, ist hierbei unerheblich, dass die Passagiere aufgrund der Absichten der Entführer als ‚ohnehin schon so gut wie tot‘ gelten können:⁴⁵ Entscheidend ist, dass der Befehl erstens eine fundamentale Verletzung derjenigen Rechte darstellt, die allen Mitgliedern des Gemeinwesens gleichermaßen zukommen, und dass diese Rechtsverletzung zweitens nur eine spezifische Personengruppe betrifft, nämlich diejenigen, die sich zufällig an Bord befinden. Die Passagiere selbst haben in diesem Falle jedoch nichts getan, was den Befehl in irgendeinem Sinne als ‚verdient‘ oder ‚gerecht‘ erscheinen ließe – sie hatten nur das Pech, den falschen Flug zu buchen. Insofern den Passagieren also unverdientermaßen die Wahrung eines grundlegenden Rechtsanspruchs, den sie mit denjenigen Gemeinschaftsmitgliedern teilen, die das Glück haben, nicht in der Maschine zu sitzen, verwehrt wird, ist es meines Erachtens plausibel, zu sagen, dass ihnen eine Ungerechtigkeit widerfährt.

 Für diese Informationen danke ich Alfred Dewald vom Institut für Kernphysik der Universität zu Köln.  Vgl. hierzu auch die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG, 1 BvR 375/05 vom 15. 2. 2006, Abs. 132.

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Gleichwohl ist der Abschussbefehl (zumindest prima facie) gerechtfertigt – aber eben dadurch, dass er gemeinwohldienlich ist, nicht dadurch, dass er gerecht ist. Einen weiteren Beispielfall, den ich an dieser Stelle nur kurz anreißen werde, stellt die Verhängung einer militärischen Quarantäne über eine Region innerhalb des Gemeinwesens dar, deren Bewohner sich mit einem hochgradig ansteckenden und gefährlichen Erreger infiziert haben.⁴⁶ Die Gemeinwohldienlichkeit einer solchen Maßnahme dürfte – da sie darauf ausgerichtet ist, die Ausweitung der Epidemie auf das gesamte Gemeinwesen (und die damit möglicherweise einhergehenden weiteren Opfer) zu verhindern – kaum bestreitbar sein. Gleichwohl hat eine solche Handlung wie im obigen Beispiel zur Folge, dass die Grundrechte einer spezifischen Personengruppe, vor allem deren Recht auf Freizügigkeit, eingeschränkt werden, und zwar um das Gemeinwesen als Ganzes vor weiterem Schaden zu bewahren. Auch in diesem Falle dürfte es meines Erachtens intuitiv plausibel sein, dass diese Maßnahme zwar nicht als gerecht, aber dennoch als (prima facie) gerechtfertigt gelten kann. Der zweite Punkt, demzufolge bestimmte Maßnahmen in den Bereich gemeinwohldienlicher Handlungen fallen, aber nicht sinnvollerweise überhaupt als gerecht oder ungerecht eingestuft werden können, lässt sich unter Bezug auf den Sektor des Umwelt- und Landschaftsschutzes illustrieren: Ein gängiges Argument, mit dem Umweltorganisationen dafür eintreten, dass bestimmte unbewohnte Naturräume den Schutzstatus von Nationalparks erhalten sollen, ist, dass deren Reichtum an seltenen Tier- und Pflanzenarten einen besonderem Wert „für die Allgemeinheit“ habe oder dass deren Sicherung „für uns alle“ von immenser Bedeutung sei.⁴⁷ Die Gemeinwohldienlichkeit solcher Schutzmaßnahmen ergibt sich nach dieser Argumentation folglich daraus, dass das Gemeinwesen als Ganzes in Hinblick auf seine ökologische Vielfalt aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig geschädigt würde, wenn man diese Areale nicht unter besonderen Schutz stellte. Obwohl Gemeinwohlrekurse dieses Typs durchaus einen etablierten Bestandteil unserer öffentlichen Rechtfertigungspraxis darstellen und intuitiv plausibel sein dürften, erscheint es nun abseitig, die respektiven Schutzmaßnahmen als gerecht (oder ungerecht) zu bezeichnen: Die entsprechenden Naturräume sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht von Personen bewohnt werden, die gemäß ihrer individuellen Anspruchsrechte durch eine Verteilung von Gütern entweder besser oder schlechter gestellt werden könnten. Wenn man also die Etablierung von Nationalparks unter Rekurs auf das Prinzip der Gerechtigkeit legitimieren würde, beginge man meines Erachtens schlicht einen Kategorien-

 Für eine vertiefende Diskussion dieses Themas vgl. Anderheiden (2006: S. 91 f.).  Siehe etwa Greenpeace Magazin 1998 (6).

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fehler; und ebendieser Umstand schlägt sich auch in unserer vortheoretischen Beurteilung, wonach eine solche Rechtfertigung begrifflich unangemessen wäre, nieder.⁴⁸ Nun ist mit dieser Argumentation, wie ich bereits einschränkend bemerkt habe, nicht bewiesen, dass das Gemeinwohl einen irreduziblen Rechtfertigungsgrund darstellt. Da jedoch erstens, wie ich denke, die angeführten Beispiele die Überzeugungskraft der Gegenthese, wonach das Gemeinwohl lediglich „an expression of social justice“ sei, unterminiert haben,⁴⁹ und zweitens kein weiterer ‚Kandidat‘ neben dem Gerechtigkeitsprinzip, der als Reduktionsbasis fungieren könnte, in Sicht ist, genügt dies, um der Annahme die erforderliche Grundplausibilität zu verleihen. Die Beweislast liegt somit bei den Gegnern meiner These: Sie müssten entweder zeigen, dass die angeführten Beispiele unplausibel sind, oder sie müssten zeigen, dass ein anderer Rechtfertigungsgrund politischen Handelns angeführt werden kann, auf den sich die Bedeutung des Gemeinwohlkonzepts reduzieren lässt. Dieses Ergebnis berechtigt mich meiner Auffassung nach, mit der Diskussion der dritten Grundannahme fortzufahren. Die Plausibilität der Auffassung, wonach die verschiedenen Rechtfertigungsgründe politischen Handelns in konkreten Situationen miteinander konfligieren können, ist relativ offensichtlich; aufgrund meines vorrangigen Erkenntnisinteresses werde ich mich bei den folgenden Erörterungen auf Situationen beschränken, in denen die Realisierung des Gemeinwohls mit anderen Gründen in Konflikt gerät. Eine wohlbekannte Konstellation stellen hier kommunale und regionale Auseinandersetzungen über den Bau von Flughäfen in ländlichen Gebieten dar: Während Befürworter solcher Projekte oft damit argumentieren, dass diese sowohl eine Verbesserung der Flugverkehrsanbindungen als auch einen Zuwachs an Arbeitsplätzen (z. B. im ServiceSektor auf dem Flughafengelände und in den angrenzenden Gaststätten und Hotels) zur Folge haben und somit die Region als Ganzes besserstellen, führen deren Gegner – häufig handelt es sich hierbei um örtliche Bürgerinitiativen – an, dass der zu erwartende Fluglärm nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Le Zur Veranschaulichung könnte man sich z. B. fragen, wie ein Nationalpark-Ranger (so heißen inzwischen Forstwirte mit diesem spezifischen Aufgabenfeld in Deutschland) auf die Frage reagieren würde, ob er die Ziele der ihn beschäftigenden Institution, wie etwa die Sicherung der natürlichen Abläufe im Schutzareal, die behutsame Aufforstung geschädigter Zonen und die Auswilderung bestimmter Tierarten, für ‚gerecht‘ halte. Meine Vermutung ist, dass er auf diese Erkundigung einigermaßen irritiert reagieren dürfte, die Frage nach deren Gemeinwohldienlichkeit jedoch entschieden bejahen würde.  Dieser Befund schließt natürlich keinesfalls aus, dass zur Rechtfertigung bestimmter politischer Handlungen sowohl deren Gemeinwohldienlichkeit als auch deren Gerechtigkeit angeführt werden kann – dann allerdings als distinkte Rechtfertigungsgründe.

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bensqualität der Anwohner, sondern auch zur Entwertung der Immobilien, die sich in der Einflugschneise befinden, führen würde. Beide Seiten ziehen zur Begründung ihrer Position (prima facie) plausible Rechtfertigungsgründe heran: Während die Befürworter des Flughafenbaus dessen Gemeinwohldienlichkeit ins Felde führen, fordern dessen Gegner die Wahrung ihrer legitimen Partikularinteressen, die auf den Schutz vor Fluglärm und auf den Werterhalt ihres Eigentums ausgerichtet sind, ein. Ein weiteres Beispiel bietet die Debatte um die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz im Jahr 2001:⁵⁰ So wurde, wie erwähnt, zwar von Regierungsseite die „uneingeschränkte Solidarität“, die Deutschland den USA schulde, als Rechtfertigungsgrund für die Kriegsbeteiligung herangezogen; dem hielten jedoch Kritiker entgegen, dass ein Militäreinsatz gegen ein islamisches Land eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit der deutschen Allgemeinheit berge: einerseits durch radikalisierte Muslime auf dem eigenen Territorium (sogenannte ‚homegrown terrorists‘), andererseits durch international operierende Netzwerke wie alQaida, die die Bundesrepublik als militärischen Alliierten der USA verstärkt mit Anschlägen bedrohen würden. Eingedenk der berechtigten Sicherheitsinteressen Deutschlands sei es zumindest fragwürdig, ob diese den USA uneingeschränkte Solidarität zollen sollten; in jedem Falle stehe diese Entscheidung im Konflikt mit den entsprechenden Sicherheitsinteressen. Die Erörterung der vierten und letzten Annahme, der zufolge die öffentliche Rechtfertigungspraxis maßgeblich dadurch charakterisiert ist, dass die verschiedenen Gründe politischen Handelns von den Akteuren als nicht strikt lexikalisch geordnet und somit als – je nach Einzelfall – abwägungsbedürftig begriffen werden, gestaltet sich ähnlich diffizil wie die der zweiten Annahme. Auch hier werde ich nicht versuchen, deren Richtigkeit in Hinblick auf alle möglichen Rechtfertigungsgründe zu beweisen, sondern mich darauf beschränken, dieser Annahme in Bezug auf das Gemeinwohl durch die Diskussion von Beispielen eine Grundplausibilität zu verleihen. Hierfür lassen sich exemplarisch zwei bis heute intensiv debattierte Urteile des BVerfG anführen: Den ersten Fall stellt die bereits angesprochene Entscheidung des Gerichts dar, das von der Bundesregierung im Jahr 2005 verabschiedete Luftsicherheitsgesetz für nichtig zu erklären.⁵¹ Zwar erkannte das Gericht an, dass das Gesetz durchaus geeignet sei, „besonders schwere[] Unglücksfäll[e] im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 22 GG“ zu verhindern (wobei diesem Rechtsverständnis nach der Begriff des ‚schweren Unglücksfalles‘ auch solche Katastrophen umfasst, die von Terroristen mutwillig herbeigeführt

 Für eine umfassende Diskussion dieses Themas vgl. Schilling (2010).  Eine tiefergehende rechtswissenschaftliche Analyse dieses Themas bietet Nolte (2009).

1.2 Die Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Handelns

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werden),⁵² und somit im Interesse des Gemeinwesens gerechtfertigt werden könne. Andererseits sei es jedoch schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich, wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Flugzeugs, in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, […] vorsätzlich zu töten.⁵³

Der Eingriff in das Recht der betroffenen Einzelpersonen auf körperliche Unversehrtheit wiege so schwer, dass die Schutzaufgabe des Staates gegenüber der Allgemeinheit dahinter zurückzustehen habe. Entscheidend für die Analyse dieses Urteils ist zweierlei: Erstens lässt sich der Begründung entnehmen, dass das Gericht sowohl den Schutz des Gemeinwesens als auch die Achtung vor dem Rechtsanspruch der Passagiere bei der Beurteilung des Rechtfertigungsstatus des Luftsicherheitsgesetzes thematisierte und gegeneinander abwog und diese somit als konfligierende Prima-Facie-Rechtfertigungsgründe behandelte. Zweitens lässt sich der Verweis auf die überragende Schwere des Grundrechtseingriffs dahingehend verstehen, dass dieser nach Auffassung des Gerichts den Rechtfertigungsgrund der Gemeinwohldienlichkeit übertrumpfte bzw. in der finalen Bewertung einen Rechtfertigungsgrund sans phrase darstellte. Ein genau entgegengesetztes Bild bietet hingegen das Urteil zur nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jahre 2009.⁵⁴ Der entsprechende Gerichtsentscheid bezog sich auf Verfassungsbeschwerden von Inhaftierten gegen eine von der Bundesregierung beschlossene Verschärfung des Rechts der Sicherungsverwahrung – einer Maßregel, die es erlaubt, Straftäter auch über die Verbüßung ihrer Haftstrafe hinaus in Gefängnissen unterzubringen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie eine fortgesetzte Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Die Reform autorisierte die Strafkammern dazu, die Sicherungsverwahrung künftig auch nachträglich über solche Inhaftierten zu verhängen, für die eine entsprechende Maßregel im Ausgangsurteil noch gar nicht vorgesehen war, deren Verhalten während des Vollzugs aber Grund zur Vermutung gebe, dass sie nach der Entlassung schwere Straftaten begehen würden. Die Anwälte der betroffenen Inhaftierten argumentierten gegen die Reform unter Verweis darauf, dass diese gegen ein verfassungsrechtlich garantiertes Justizgrundrecht verstoße: Die

 BVerfG, 1 BvR 375/05 vom 15. 2. 2006, Abs. 135.  Ebd.: Abs. 130.  Da ich diesen Fall in Kap. 4.1 ausführlich diskutieren werde, verzichte ich an dieser Stelle auf eine detailliertere Schilderung der Kontroverse um die Maßregeln der nachträglichen Sicherungsverwahrung und beschränke mich darauf, die Aspekte, die für die Plausibilisierung der vierten Grundannahme relevant sind, herauszuarbeiten.

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1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung

nachträglich angeordnete Verwahrung verletzte das Recht auf Freiheit und Sicherheit, demzufolge einer Person nur durch ein Gerichtsurteil, in dem auch die Schuld des Angeklagten (und nicht bloß seine Gefährlichkeit) festgestellt wird, die Freiheit entzogen werden darf. Bei der Begründung für seine Ablehnung dieser Beschwerden konzedierte das Bundesverfassungsgericht nun durchaus, dass die neue Maßregelbestimmung die Grundrechte der Inhaftierten in schwerwiegender Weise einschränkte und somit „verfassungsrechtlich relevante Nachteile“ hätte.⁵⁵ Andererseits stelle jedoch das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel eines effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor einzelnen hochgefährlichen Straftätern, von denen weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind, durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, […] ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar⁵⁶

und entsprechend müssten in diesem konkreten Konfliktfalle die Belange der „von der Neuregelung betroffenen Verurteilten […] hinter dieses Gemeinwohlinteresse zurücktreten.“⁵⁷ Angesichts dieser Urteilsbegründung dürfte unstreitig sein, dass auch hier die Beurteilung des Gerichts die Form einer Abwägung zwischen konfligierenden Prima-Facie-Rechtfertigungsgründen hatte – nur dieses Mal mit dem Ergebnis, dass das Ziel der Gemeinwohlsicherung als der gewichtigere und daher handlungsanleitende Grund identifiziert wurde. Nun geht es mir in diesem Kontext nicht darum, zu klären, ob diese konkreten Einschätzungen überzeugend sind oder nicht. Die Urteile dienen vielmehr zur Illustrierung des Umstands, dass das Verfassungsgericht das Gemeinwohl als einen abwägungsfähigen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns begriff, der – je nach konkreter Konfliktlage – einen anderen Grund entweder übertrumpfen kann oder von diesem übertrumpft wird. Bei der finalen Beurteilung des Rechtfertigungsstatus einer politischen Handlung stellt das Gemeinwohl demnach keinen Grund dar, der im Konfliktfalle pauschal vorrangig oder pauschal nachrangig wäre, sondern dessen Gewicht relativ zu den konfligierenden Gründen ist. Die Urteilsbegründungen sind zur Plausibilisierung dieser These insofern gut geeignet, als das Gericht in seinen Formulierungen dezidiert auf diejenigen Abwägungen, die der Urteilsfindung zugrunde lagen, verwies, indem es etwa auf den „überragenden“ Charakter des Gemeinwohlinteresses im einen Fall und auf die besondere Schwere der Grundrechtsverletzung im anderen Fall rekurrierte. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass die Auffassung von der Abwägungsfähigkeit

 BVerfG, 2 BvR 2098/08 vom 5. 8. 2009, Abs. 31.  Ebd.: Abs. 23.  Ebd.

1.2 Die Struktur der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Handelns

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des Gemeinwohls lediglich von der Institution des Bundesverfassungsgerichts vertreten würde; sie kommt, so meine These, all denjenigen politischen Akteuren zu, die sich auf die Grundprinzipien des modernen, demokratischen Rechtsstaates verpflichtet haben:⁵⁸ Dieser Typus von Gemeinwesen zeichnet sich wesentlich durch den Konsens aus, dass einerseits die Sonderinteressen bestimmter Gruppen von Gemeinschaftsmitgliedern (oder andere, potentiell mit dem Gemeinwohl konfligierende Gründe) gegenüber Belangen, die für das Gemeinwesen als Ganzes von Bedeutung sind, nicht als pauschal nachrangig eingestuft werden können;⁵⁹ dass aber andererseits diese Interessen in bestimmten Konfliktkonstellationen durchaus hinter das Gemeinwohl zurücktreten müssen. Zur Beantwortung der Frage, welche Handlung in einem solchen Falle die am besten gerechtfertigte ist, bleibt somit keine andere Möglichkeit, als „sorgfältig abzuwägen und, je nach Art des Entscheidungsverfahrens, [die entsprechende Beurteilung] auch zu begründen.“⁶⁰ Jetzt, da die Rekonstruktion der öffentlichen Rechtfertigungspraxis politischen Handelns und die Funktionsbestimmung von Gemeinwohlrekursen in diesem Zusammenhang abgeschlossen ist, ist ersichtlich, warum das Gemeinwohl gemäß meiner in Kap. 1.1 aufgestellten These in der Tat einen bedeutenden Rechtfertigungsgrund politischen Handelns darstellt: Einerseits haben die verschiedenen diskutierten Beispiele gezeigt, dass das Gemeinwohl keinesfalls ein bloß randständiges Konzept der öffentlichen Debatte ist, dessen Inanspruchnahme sich auf wenige, hochspezifische Kontexte beschränkt; es wird vielmehr von verschiedensten politischen Akteuren zur Handlungsrechtfertigung herangezogen – und zwar in Bezug auf eine große Anzahl höchst unterschiedlicher Politikfelder. Diese Verwendungsvielfalt und -häufigkeit macht es meines Erachtens schwer, die Relevanz des Gemeinwohlbegriffs in öffentlichen Auseinandersetzungen zu bestreiten. Andererseits haben Gemeinwohlrekurse, wie z. B. in der Diskussion um die Maßregeln der Sicherungsverwahrung deutlich geworden ist, die Funktion, die Zurückstellung anderer, bedeutender Rechtfertigungsgründe (wie etwa die Grundrechtsicherheit bestimmter Personengruppen) zu legitimieren. Das in dieser Verwendungsweise implizierte Gewicht, das Akteure dem Gemeinwohl zumessen, ist ein weiteres Indiz für die Relevanz dieses Begriffs und somit auch für die Bedeutsamkeit seiner „Renaissance“ in der politischen Debatte.

 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Morlok (2008: S. 10 f.).  Diese Auffassung unterscheidet moderne Demokratien nach Martin Morloks Auffassung denn auch grundlegend von totalitären Diktaturen, in denen der Vorrang des Gemeinwohls vor anderen Interessen Teil der totalitären Herrschaftsdoktrin ist, vgl. ebd.: S. 10.  Ebd.

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1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung

Nunmehr ist es auch möglich, auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, was genau politische Akteure eigentlich damit meinen, wenn sie beanspruchen, eine Handlung sei durch das Gemeinwohl gerechtfertigt. Ein solcher Gemeinwohlrekurs impliziert meines Erachtens dreierlei: erstens, dass das Gemeinwohl in der Tat einen plausiblen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns darstellt; zweitens, dass entweder das Gemeinwohl nach Abwägung möglicher Gegengründe als der gewichtigste Rechtfertigungsgrund bzw. als Rechtfertigungsgrund sans phrase ausweisbar ist, oder dass keine Gegengründe vorliegen; drittens, den Anspruch, dass die zu rechtfertigende Handlung in der Tat gemeinwohldienlich ist. Entsprechend lassen sich Gemeinwohlrekurse auch auf drei Ebenen kritisieren: Erstens kann bestritten werden, dass das Gemeinwohl per se einen plausiblen Rechtfertigungsgrund darstellt. Wie aus den vorangegangenen Erörterungen deutlich geworden sein dürfte, ist dies jedoch eine Strategie, die von den allermeisten Protagonisten der öffentlichen Rechtfertigungspraxis nicht (mehr) verfolgt wird; gleichwohl wird diese Position, wie ich im folgenden Kap. 1.3 darlegen werde, von einigen politischen Theoretikern vertreten. Zweitens lässt sich in Zweifel ziehen, dass das Gemeinwohl nach Abwägung aller entscheidungsrelevanten Gründe den gewichtigsten Rechtfertigungsgrund darstellt. Beispielhaft für eine derartige Kritik ist etwa das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Drittens besteht die Möglichkeit, in der Kritik darauf abzustellen, dass die zu rechtfertigende Handlung überhaupt nicht gemeinwohldienlich, sondern z. B. in Wahrheit gemeinwohlschädlich ist. Ein Beispiel für diesen Typus von Kritik ist etwa der Vorwurf, der in den letzten Jahren vor allem von Vertretern islamischer Verbände erhoben wurde, wonach ein repressiveres staatliches Vorgehen gegen in Deutschland lebende Muslime (etwa in Form polizeilicher Observation einzelner Gemeinden) nicht nur keine Eindämmung islamistischer Terror-Gefahr, sondern vielmehr eine Radikalisierung bislang moderater Gläubiger nach sich ziehe.⁶¹ Aufgrund ihrer tatsächlichen Konsequenzen verfehle – so die Kritik – die entsprechende Handlung dasjenige Ziel, um dessentwillen sie gerechtfertigt worden war. Mit dieser Strukturierung ist indes eine entscheidende Frage noch nicht geklärt, nämlich, was genau eine bestimmte politische Handlung überhaupt zu einer gemeinwohldienlichen Handlung macht bzw. wie wir erkennen können, ob eine Handlung gemeinwohldienlich ist. Ohne ein entsprechendes Beurteilungskriterium ist es jedoch unmöglich, die Plausibilität einzelner Gemeinwohlrekurse zu überprüfen, und ein solches Kriterium lässt sich nur aus einer Theorie des Gemeinwohls selbst gewinnen. Um diese Frage – und vor allem die mit ihr einherge-

 Für einen Überblick zu dieser Debatte vgl. Fijalkowski (2004).

1.3 Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund

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henden Schwierigkeiten und Herausforderungen – klären zu können, ist es erforderlich, die bereits angesprochene Fundamentalkritik, wonach das Gemeinwohl überhaupt keinen plausiblen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns darstellt, in den Blick zu nehmen.

1.3 Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund Gegen die grundsätzliche Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns werden in der politischen Theorie zwei zentrale Argumente angeführt: Das erste Argument bestreitet, dass sich überhaupt ein kohärenter Gemeinwohlbegriff angeben lässt, der zur Systematisierung und Beurteilung der unterschiedlichen Gemeinwohlrekurse in politischen Gemeinwesen geeignet wäre. Das zweite Argument läuft darauf hinaus, dass die Auffassung, wonach das Konzept des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns fungieren könne, mit einer demokratischen Grundordnung, in der allen Gemeinschaftsmitgliedern gleiche Partizipationsrechte an der politischen Willensbildung zukommen, unvereinbar ist; sie mündet vielmehr, so die Kritik, in die Rechtfertigung einer paternalistischen Diktatur ein. Die erste Form der Kritik hat Brian Barry wie folgt auf den Punkt gebracht: Die faktische Verwendungsweise des Gemeinwohlbegriffs in öffentlichen Auseinandersetzungen begründe erhebliche Zweifel daran, dass der Begriff des „‘public interest‘ points to a clearly definable range of considerations in support of a policy“.⁶² Vielmehr läge der Verdacht nahe, dass dieses Konzept nichts anderes sei als ein „handy smoke screen“,⁶³ ein rhetorischer Kniff gewissermaßen, mit dem politische Akteure die Verfolgung höchst unterschiedlicher und systematisch unverbundener Politikziele zu legitimieren suchten – wohl wissend, welche Attraktionskraft von diesem Leitbegriff ausgeht. Jenseits dieser bloß rhetorischen Funktion habe das Gemeinwohlkonzept jedoch keinen, in kohärenter Weise bestimmbaren, Bedeutungsgehalt.⁶⁴

 Barry (1964: S. 1). Hierbei ist allerdings zu bemerken, dass Barry diese Kritik nicht selbst teilt, sondern nur referiert; er spricht sie allerdings Frank J. Sorauf (1957) zu.  Ebd.  Entsprechend bezeichnet z. B. Werner Nowak das Gemeinwohlkonzept auch als eine bloße „Leerformel“, Nowak (1973: S. 37); vgl. zur selben Kritik auch Neidhardt (2002). Allerdings muss man aus der Annahme, dass sich kein kohärenter Gemeinwohlbegriff angeben lässt, keinesfalls mit Notwendigkeit folgern, dass alle politischen Akteure diesen Begriff somit nur nutzen, um alteriore Handlungsmotive zu verschleiern; es bleibt ebenfalls die Möglichkeit, dass diese Akteure

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1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung

In der Tat scheinen die verschiedenen Gemeinwohlrekurse, die ich in den Kapiteln 1.1 und 1.2 angeführt habe, diesen Verdacht zu bestätigen: Zunächst ist festzustellen, dass das Spektrum der Politikfelder, in denen das Gemeinwohl zur Handlungslegitimation herangezogen wird, so heterogen ist, das hierbei kein augenfälliger Zusammenhang auszumachen ist. So ließe sich etwas zugespitzt fragen, was denn die als gemeinwohldienlich gerechtfertigte Verschärfung der Maßregeln der Sicherungsverwahrung mit Umweltschutzbelangen, wie etwa der Einrichtung von Nationalparks, zu tun haben sollte; und was der Einsatz von Soldaten im Landesinneren zum Zweck des Katastrophenschutzes mit dem Bau von Flughäfen in ländlichen Gebieten. Anders gesagt: Akteure rechtfertigen eine Handlung stets damit, dass diese gemeinwohldienlich sei, insofern sie die innere Sicherheit verbessere; insofern sie dem Umweltschutz diene; insofern sie für die Bewahrung von Kulturgütern unerlässlich sei etc. Es erhellt aber nicht, so die Kritik, dass die subordinierende Konjunktion „insofern“ tatsächlich auf ein zugrunde liegendes, einheitsstiftendes Prinzip verweist, unter das sich die verschiedenen Handlungen (bzw. die respektiven Politikfelder) in überzeugender Weise subsumieren ließen. Plausibler wäre es, zu sagen, dass eine Handlung einfach dadurch gerechtfertigt ist, dass sie zur Verbesserung der inneren Sicherheit beiträgt; dass sie dem Umweltschutz dient; dass sie für die Bewahrung von Kulturgütern unerlässlich ist etc. – und die verschiedenen Rekurse dergestalt auf gänzlich distinkte, politikfeldspezifische Handlungsgründe (und nicht auf ein vermeintlich basales Konzept der Gemeinwohldienlichkeit) zurückzuführen. Doch selbst wenn sich diese Schwierigkeit etwa durch ein plausibles Kriterium zur Identifikation gemeinwohlrelevanter Politikfelder lösen ließe und wenn sich des Weiteren begründete Kriterien dafür angeben ließen, wann eine bestimmte Handlung in Bezug auf ein gemeinwohlrelevantes Politikfeld einen gemeinwohldienlichen Effekt erzielt, ergibt sich ein weiteres Problem daraus, dass öffentliche Auseinandersetzungen nicht selten durch konkurrierende Gemeinwohlrekurse charakterisiert sind, die sich auf jeweils unterschiedliche Politikfelder beziehen.⁶⁵ Exemplarisch hierfür ist etwa die in Kap. 1.1 erwähnte Kontroverse um den Bau einer Brücke durch das seinerzeit UNESCO-geschützte Elbtal: Während die Gegner des Projekts darauf verwiesen, dass der Bau aufgrund seiner verheerenden Konsequenzen für den Landschaftsschutz gemeinwohlschädlich sei, verteidigten dessen Befürworter die Errichtung der Brücke als gemeinwohldienlich – allerdings in Hinsicht auf die Verbesserung der städtischen (oder zumindest ein Teil von ihnen) einfach einem Missverständnis aufsitzen und aufrichtig – aber eben fälschlicherweise – der Überzeugung sind, dass eine bestimmte von ihnen vertretene Handlung durch deren Gemeinwohldienlichkeit gerechtfertigt ist.  Dieses Problem diskutiere ich in Kap. 3.2.5 unter dem Schlagwort der „Sachbereichskonflikte“.

1.3 Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund

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Verkehrsinfrastruktur. Hier helfen auch Kriterien zur Identifikation gemeinwohlrelevanter Politikfelder und zur Bestimmung gemeinwohldienlicher Handlungsfolgen nicht weiter: Denn offensichtlich wäre es in einer solchen Konstellation durchaus möglich, dass sich eine Handlung als in einer Hinsicht (nämlich in Bezug auf den Sektor der Verkehrspolitik) gemeinwohldienlich und in der anderen Hinsicht (nämlich in Hinblick auf das Politikfeld des Landschaftsschutzes) gemeinwohlschädlich erweisen könnte. Und es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich zwei derart distinkte Politikfelder ‚gegeneinander aufrechnen‘ lassen könnten, um zu einer plausiblen Bewertung der konkurrierenden Rekurse zu gelangen. Hier liegt der Schluss näher, dass solche Bemühungen vielmehr in theorieinterne Widersprüche einmünden würden – ein Problem, das sich erst gar nicht stellt, wenn man den Begriff des Gemeinwohls als einheitlichen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns einfach quittiert. Der zweite Einwand, demzufolge die Annahme des Gemeinwohls als politischer Rechtfertigungsgrund in die Ablehnung einer demokratischen Ordnung bzw. in die Rechtfertigung einer paternalistischen Diktatur einmündet, ist z. B. von Jacob Talmon vertreten worden,⁶⁶ seine präziseste Formulierung findet sich jedoch in David Estlunds Monographie Democratic Authority: ⁶⁷ Wenn wir erstens annehmen, es gäbe in der Tat normative Standards der Gemeinwohldienlichkeit politischen Handelns (etwa in Form einer Liste konkreter, gemeinwohlkonstitutiver Güter), dann ist es auch plausibel, davon auszugehen, dass bestimmte Gemeinschaftsmitglieder diese Standards besser kennen als andere und entsprechend auch besser geeignet sind, gemeinwohldienliche Entscheidungen zu treffen. Die entsprechende Gruppe von Personen – nennen wir sie der Einfachheit halber Gemeinwohl-Experten – muss in ihren Erkenntnisfähigkeiten in Bezug auf diese Standards nicht unfehlbar sein. Es genügt, wenn sie insgesamt erheblich zuverlässigere Urteile über die Gemeinwohldienlichkeit von Handlungen trifft als Gemeinwohl-Laien, etwa so, wie Mediziner insgesamt erheblich zuverlässigere Entscheidungen darüber treffen, ob bestimmte Behandlungsmethoden dazu geeignet sind, Krankheiten zu heilen als medizinische Laien. Die entsprechende Expertise könnte sich beispielsweise daraus ergeben, dass diese Personengruppe ein besseres Verständnis vom Funktionieren politischer Institutionen hat als die übrigen Gemeinschaftsmitglieder, dass sie besser dazu in der Lage ist, KostenNutzen-Kalkulationen bei der Verfolgung politischer Ziele anzustellen etc. Wenn wir nun zweitens annehmen, dass die Verwirklichung des allgemeinen Wohles in der Tat eine bedeutende Funktion politischer Systeme darstellt, dann ist

 Vgl. Talmon (1952).  Vgl. Estlund (2008: S. 30 – 33).

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1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung

es auch plausibel, diesen Gemeinwohl-Experten exklusive Herrschaftskompetenzen über das Gemeinwesen zuzugestehen (bzw. die übrigen Mitglieder von der politischen Entscheidungsfindung auszuschließen) und somit eine demokratische Organisation des Gemeinwesens abzulehnen – und zwar aus folgendem Grund: Demokratische Systeme sind geradehin dadurch gekennzeichnet, dass sie allen Mitgliedern die gleichen politischen Ressourcen (klassischerweise in Form gleicher aktiver und passiver Wahlrechte) zur Beteiligung an politischen Entscheidungsfindungen gewähren;⁶⁸ dies hat jedoch zur Folge, dass GemeinwohlExperten und Gemeinwohl-Laien auch die gleichen Chancen zur Einflussnahme auf politische Entscheidungen zukommen, was wiederum dazu führt, dass diese Entscheidungen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit gemeinwohldienlich sind, als dies der Fall wäre, wenn ausschließlich die Gruppe der GemeinwohlExperten herrschte.⁶⁹ Eine benevolente paternalistische Diktatur durch eine politische Elite von Gemeinwohl-Experten hätte demgegenüber eine wesentlich bessere Erfolgsbilanz bei der Realisierung des allgemeinen Wohles und wäre entsprechend auch besser gerechtfertigt als eine Demokratie.⁷⁰ Entsprechend ließe sich auch sagen, dass die extensive Verwendung des Gemeinwohlbegriffs zum Zwecke der Herrschaftslegitimation durch Vertreter totalitärer Weltanschauungen – neben der Ideologie des Nationalsozialismus ist beispielsweise auch an den Sowjetkommunismus und an den Jakobinismus zu denken – im eigentlichen Sinne keinen ‚Missbrauch‘ dieses Konzepts darstellt. Vielmehr haben die Gewährsleute totaler Herrschaft die Implikate dieses Begriffs allererst ‚richtig verstanden‘ und durch die Etablierung entsprechender Institu-

 Für eine detailliertere Diskussion des Konzepts politischer Ressourcen und seiner verschiedenen Interpretationen in der politischen Theorie siehe Kap. 2.4.3 bis 2.4.6.  Dies natürlich unter der Annahme, dass die übrigen Mitglieder nicht zuverlässig stets diejenigen Personen in politische Ämter wählen, die über die größte Gemeinwohl-Expertise verfügen. Letzteres wäre jedoch – offenkundig – eine ausgesprochen unrealistische Hoffnung.  Dieser Einwand ist natürlich nur dann schlagkräftig, wenn die zwei folgenden Alternativen unplausibel sind: So ließe sich nämlich einerseits dafür argumentieren, dass eine demokratische Organisation tatsächlich das bestmögliche institutionelle Arrangement darstellt, um zuverlässig die Standards gemeinwohldienlichen Handelns zu identifizieren – und zwar deshalb, weil demokratische Entscheidungsverfahren eine Synergie der epistemischen Kompetenzen aller Gemeinschaftsmitglieder gewährleisten und dergestalt ein zuverlässigeres Resultat erbringen als eine Diktatur durch Gemeinwohl-Experten. Andererseits ließe sich bestreiten, dass tatsächlich normative Standards der Gemeinwohldienlichkeit existieren, die von den – durch demokratische Partizipation geltend gemachten – Interessen der Gemeinschaftsmitglieder unabhängig wären und durch Gemeinwohl-Experten ‚identifiziert‘ werden könnten. Das Gemeinwohl wird, dieser These zufolge, allererst durch den Prozess kollektiver Willensbildung konstituiert, und entsprechend ist eine demokratische Organisation für das Ziel der Gemeinwohlrealisierung unabdingbar. Diese beiden Optionen werde ich in Kap. 2 diskutieren.

1.4 Die Bestimmung des Gemeinwohls – Zielsetzung und Methodik

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tionen auch in die Tat umgesetzt. Es sind stattdessen diejenigen politischen Akteure, die sich auf die Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates verpflichtet haben, die sich in einem Selbstmissverständnis befinden, wenn sie auf das Gemeinwohl als Legitimationsgrund politischen Handelns rekurrieren. Eben dieses Selbstmissverständnis aufzudecken, ist, so diese Argumentation, eine bedeutende Aufgabe der politischen Philosophie. Die Pointe dieses Einwands besteht offenkundig nicht darin, zu bestreiten, dass es grundsätzlich plausibel ist, Standards gemeinwohldienlichen Handelns anzunehmen und überdies davon auszugehen, dass eine bestimmte Gruppe von Mitgliedern über eine besondere Expertise in Hinblick auf diese Standards verfügt; beides wird von Vertretern dieses Arguments gar nicht bestritten. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass wir dieser Argumentation zufolge der Versuchung widerstehen sollten, das Gemeinwohl als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns zu begreifen, weil diese Annahme in die Delegitimierung demokratischer Systeme einmünden würde. Kurz gesagt: Da die Demokratie (und die mit ihr verbundenen gleichen Partizipationsrechte für alle Mitglieder) einen unbestreitbaren intrinsischen Wert besitzt und deren Ablehnung intuitiv unplausibel ist, und da das Konzept des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund mit dieser Form politischer Ordnung unvereinbar ist, sollten wir den Gemeinwohlbegriff als politischen Rechtfertigungsgrund quittieren. Nun bedeuten diese beiden Einwände nicht notwendig das Aus für das Projekt einer Bestimmung von Kriterien gemeinwohldienlichen (und -schädlichen) Handelns. Allerdings bürden sie einer Theorie, die sich nicht damit bescheiden will, das Konzept des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns einfach zu quittieren, zwei erhebliche Beweislasten auf: Eine solche Theorie muss erstens zeigen, dass sich durchaus ein kohärenter Begriff des Gemeinwohls bestimmen lässt, der als plausibler Beurteilungsmaßstab für konkrete Gemeinwohlrekurse fungieren kann; und sie muss zweitens zeigen, dass ein solches, wie auch immer bestimmtes, Gemeinwohlkonzept mit demokratischen Verfahren politischer Willensbildung kompatibel ist.

1.4 Die Bestimmung des Gemeinwohls – Zielsetzung und Methodik Fassen wir zunächst die Ergebnisse der vorangegangenen Erörterungen zusammen: Ausgehend von der Diagnose einer „Renaissance“ des Gemeinwohlbegriffs in der politischen Debatte, habe ich dafür argumentiert, dass das Gemeinwohl inzwischen als ein bedeutender Rechtfertigungsgrund politischen Handelns in öffentlichen Auseinandersetzungen fungiert. Bedeutend ist das Gemeinwohl-

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konzept einerseits aufgrund seiner großen Verwendungsvielfalt und -häufigkeit und andererseits aufgrund dessen, dass politische Akteure unter Rekurs auf das Gemeinwohl die Zurückstellung anderer gewichtiger Rechtfertigungsgründe legitimieren. In diesem Kontext stellt sich jedoch die drängende Frage nach einem Beurteilungskriterium für Gemeinwohlrekurse, also nach einem Maßstab, anhand dessen sich bemessen lässt, ob eine bestimmte Handlung gemeinwohldienlich ist. Ein solches Projekt sieht sich jedoch zwei gravierenden Einwänden ausgesetzt: Einerseits argumentieren Kritiker, dass sich überhaupt kein kohärenter Gemeinwohlbegriff entwickeln lässt, der als ein solcher Beurteilungsmaßstab fungieren könnte; andererseits steht, selbst wenn sich ein solcher Begriff entwickeln ließe, in Frage, ob das Gemeinwohl in seiner Funktion als politischer Rechtfertigungsgrund überhaupt mit einer demokratischen Ordnung vereinbar ist. Diese Kritik verschärft meines Erachtens die Dringlichkeit der Analyse des Gemeinwohlbegriffs, insofern sie nämlich die Vermutung nahelegt, dass die „Renaissance“ des Gemeinwohlbegriffs einen gefährlichen Irrweg in der öffentlichen Rechtfertigungspraxis moderner Gemeinwesen darstellt, der von der politischen Philosophie auch als ein solcher aufgedeckt werden sollte. Entsprechend kann eine Klärung dieses Konzepts für die politische Philosophie nur gewinnbringend sein: Entweder zeigt sich im Verlauf der Untersuchung, dass in der Tat so gravierende Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns vorgebracht werden können, dass es erforderlich wird, den Begriff zu quittieren. In diesem Falle hätte die Analyse gewissermaßen einen ‚therapeutischen Effekt‘ in dem Sinne, dass sie ein fundamentales begriffliches Missverständnis aufklärt. Oder aber es lässt sich in der Tat eine plausible Bestimmung des Gemeinwohls angeben, die den genannten Einwänden standhält. Damit hätten wir ein Kriterium an der Hand, um die unterschiedlichen Gemeinwohlrekurse, durch die die öffentliche Rechtfertigungspraxis geprägt ist, zu systematisieren und zu beurteilen. In jedem Falle reicht die Relevanz einer solchen Untersuchung über das Feld einer rein akademischen Debatte der politischen Philosophie hinaus: Die Analyse des Begriffs ist auch für die Mitglieder des Gemeinwesens qua Adressaten von Gemeinwohlrechtfertigungen selbst von Belang, insofern sie Letztere in die Lage versetzt, solche Rechtfertigungsstrategien zu bewerten, sich ein wohlbegründetes Urteil zu bilden und entsprechend zu handeln. Somit kann das Projekt der Gemeinwohlbestimmung auch als ein Beitrag zur Stärkung der kritischen Kapazitäten der politischen Öffentlichkeit begriffen werden. Nun handelt es sich bei dem Gemeinwohl allerdings – und dieser Aspekt ist für das Vorgehen bei seiner Analyse von großer Bedeutung – um einen Begriff, dessen Verwendungsweise bereits durch politische Praxen etabliert ist, und von dessen Funktion und Bedeutung wir ein gewisses, wenn auch nicht immer klares oder

1.4 Die Bestimmung des Gemeinwohls – Zielsetzung und Methodik

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kohärentes, Vorverständnis haben. Wenn die philosophische Bestimmung des Gemeinwohls also nicht bloß eine von der politischen Praxis abgehobene ‚intellektuelle Fingerübung‘ sein soll, muss sie an ebendieses Vorverständnis anschlussfähig sein.⁷¹ Die beste Theorie des Gemeinwohls ist entsprechend eine, die „most faithful to our ordinary concept and our ordinary experience“ ist.⁷² Diese Bedingung, die häufig auch als Anforderung deskriptiver Adäquatheit bezeichnet wird, ist erfüllt, wenn sich die Ergebnisse der philosophischen Begriffsbestimmung (in größtmöglichem Umfang) mit unseren vortheoretischen Überzeugungen decken.⁷³ Hierbei ergibt sich jedoch das Problem, das diese Überzeugungen kein kohärentes System bilden, in dem alle Auffassungen aller Mitglieder des Gemeinwesens übereinstimmen; vielmehr lässt sich mit Leonard W. Sumner in diesem Kontext zwischen einem Kernbereich vortheoretischer Überzeugungen und einer Peripherie unterscheiden:⁷⁴ Kernüberzeugungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie von allen (oder doch den allermeisten) Personen geteilt werden und von diesen auch mit großer Zuversicht für wahr gehalten werden. So würde, um auf ein Beispiel aus Kap. 1.2 zurückzukommen, wohl niemand (oder doch fast niemand) bestreiten, dass ein erfolgreicher terroristischer Anschlag auf ein Kernkraftwerk in der Tat eine erhebliche Schädigung des Gemeinwohls darstellt. Der Bereich der Peripherie ist hingegen durch einen gewissen Grad an Uneinigkeit zwischen den Trägern entsprechender Überzeugungen gekennzeichnet und dadurch, dass die respektiven Auffassungen einen bloß tentativen Charakter haben. So dürfte es z. B. ausgesprochen umstritten sein, ob der Bau einer Brücke durch ein UNESCO-geschütztes Areal zum Zwecke der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur eine gemeinwohldienliche oder -schädliche Handlung darstellt. Aus diesem Umstand, der freilich nicht als eine klare Trennung zwischen einem Sektor von Kernüberzeugungen und einem Sektor peripherer Überzeugungen, sondern im Sinne einer graduellen Abstufung zu begreifen ist, ergibt sich eine doppelte Aufgabe an die Begriffsanalyse: Sie muss einerseits unsere zentralen und unmittelbar evidenten Intuitionen über die Bedeutung des Konzepts theoretisch fundieren; und sie muss andererseits eine wohlbegründete Auflösung strittiger Fälle ermöglichen. Bei der folgenden Analyse des Gemeinwohlbegriffs werde ich freilich nicht ‚from scratch‘ beginnen, etwa indem ich ein Set von Grundannahmen stipuliere und versuche, aus diesen einen Begriff des Gemeinwohls zu deduzieren, der die

 Diese Anforderung bringt Leonard W. Sumner treffend wie folgt auf den Punkt: „Because the notion […] already has a vernacular currency it is not available as a term of art, to be defined in whatever way will best suit some favored theoretical needs.“ Sumner (1999: S. 10).  Ebd.  Vgl. Sumner (1995: S. 764) sowie Enoch (2005: S. 785).  Vgl. Sumner (1995: S. 12).

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1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung

genannten Anforderungen erfüllt. Ein solches Unterfangen würde die bedeutenden theoretischen Ressourcen, die die bisherigen Untersuchungen in der politischen Philosophie zu diesem Thema erbracht haben, missachten: Auch wenn die Bestimmung des Gemeinwohls ein im Vergleich zu der von John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit angestoßenen Diskussion des Gerechtigkeitsbegriffs eher randständiges Thema der normativen Staatstheorie der Gegenwart darstellt,⁷⁵ lässt sich gleichwohl eine – parallel zur „Renaissance“ des Gemeinwohls in der politischen Debatte erfolgende – Revitalisierung dieses Topos in der wissenschaftlichen Diskussion konstatieren.⁷⁶ Die einflussreichste Theorierichtung stellt in diesem Kontext die prozeduralistische Gemeinwohltheorie dar. Diese beruht auf der These, dass das Gemeinwohl im Output eines politischen Systems besteht, das bestimmte (von der konkreten Theorie weiter zu spezifizierende) normative Adäquatheitsbedingungen gleicher demokratischer Partizipationsmöglichkeiten aller Mitglieder am politischen Prozess und bestimmte funktionale Adäquatheitsbedingungen der effizienten und effektiven Umsetzung der partizipatorisch eingebrachten Mitgliederinteressen erfüllt. Um die Realisierung des Gemeinwohls in einem Gemeinwesen zu ermöglichen, ist es dieser Theorierichtung zufolge erforderlich, sicherzustellen, dass dieses den entsprechenden Bedingungen genügt. Der Prozeduralismus eignet sich, neben seiner Wirkmächtigkeit in der philosophischen Debatte um die Bestimmung des Gemeinwohls, auch deshalb so gut als Ausgangspunkt meiner Untersuchung, weil er eine Lösung der in Kap. 1.3 aufgeworfenen Probleme verspricht: Insofern diese Theorierichtung das Gemeinwohl als Output demokratischer Verfahren begreift, gewährleistet sie nicht nur seine Vereinbarkeit mit einer demokratischen Ordnung; sie macht die Ausübung demokratischer Willensbildung sogar zur unverzichtbaren Vorbedingung der Gemeinwohlbestimmung. Des Weiteren hat der Prozeduralismus offenkundig gute Aussichten darauf, den Gemeinwohlbegriff als ein kohärentes, einheitsstiftendes Prinzip zu etablieren, unter das sich verschiedenste Handlungen als gemeinwohldienlich subsumieren lassen. Denn zur Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Handlung – ganz gleich, in welches konkrete Politikfeld sie fällt – gemeinwohldienlich ist, muss nur geklärt werden, ob diese Handlung durch adäquate demokratische Verfahren autorisiert worden ist oder nicht. Anders gesagt:

 Anders sieht es z. B. in der politischen Philosophie des Mittelalters aus, die der Verwirklichung des „bonum commune“ als höchstem Staatsziel eine herausragende Bedeutung beimaß. Da diese philosophische Tradition jedoch mit einer Anzahl von Prämissen belastet ist, die mit unserem modernen, demokratischen Staatsverständnis unvereinbar sind – allen voran die Annahme vom Gottesgnadentum des Monarchen – werde ich auf diesen Theoriestrang hier nicht weiter eingehen. Vgl. zu diesem Thema jedoch Simon (2001) sowie von Kielmannsegg (1977: S. 38 ff.).  Vgl. Buchstein (2001: S. 217 f.).

1.4 Die Bestimmung des Gemeinwohls – Zielsetzung und Methodik

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Die differentia specifica, die gemeinwohldienliche Handlungen von allen anderen Handlungen unterscheidet, ist nach dieser Theorie deren gemeinsame Eigenschaft, Ergebnis angemessener demokratischer Prozeduren zu sein. Entsprechend werde ich im folgenden Kapitel die Theorierichtung des Prozeduralismus ausführlich darstellen und diskutieren, um zu überprüfen, ob der ihr zugrunde liegende Gemeinwohlbegriff in der Tat plausibel ist, oder ob eine Modifikation dieses Modells oder gar ein völliger theoretischer Neuanfang erforderlich ist.

2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie 2.1 Das Basismodell der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie Der Prozeduralismus stellt die einflussreichste Theorierichtung in der aktuellen Debatte um die Bestimmung des Gemeinwohls in der normativen Staatstheorie dar.⁷⁷ Er beruht auf der Kernthese, dass das Gemeinwohl im Output eines politischen Systems besteht, dessen Verfahren und Institutionen bestimmten normativen und funktionalen Adäquatheitsbedingungen genügen. Aufgrund der Prädominanz der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie finden sich unzählige Formulierungen dieser Kernthese – am bekanntesten und wirkmächtigsten innerhalb der deutschen Staatstheorie ist jedoch die des Politologen und Philosophen Ernst Fraenkel. Ihm zufolge ist das Gemeinwohl „die Resultante aus dem Parallelogramm der divergierenden ökonomischen, sozialen und ideellen Kräfte“⁷⁸ eines Systems, in dem „die Spielregeln des politischen Wettbewerbs mit Fairneß gehandhabt [und] die Rechtsnormen, die den politischen Willensbildungsprozeß regeln, unverbrüchlich eingehalten werden.“⁷⁹ Unter den normativen Adäquatheitsbedingungen des politischen Systems werden in der Regel, von der konkreten Theorie weiter zu spezifizierende, demokratische Bedingungen der gleichen und fairen Partizipation aller Mitglieder des Gemeinwesens am politischen Prozess verstanden;⁸⁰ die funktionale Adäquatheit eines Systems bemisst sich hingegen an seiner Responsivität gegenüber den partizipatorisch eingebrachten Interessen der Mitglieder bzw. an der Effizienz und Effektivität bei deren Umsetzung.⁸¹ Das dem Prozeduralismus zugrunde liegende Systemverständnis lässt sich an einem Input-Output-Modell explizieren: Den Input in das System bilden die Interessen der Mitglieder des Gemeinwesens, die von Letzteren durch verfasste Partizipationsverfahren (Wahlen, Referenden, Petitionen etc.) oder unverfasste Partizipationsverfahren (Demonstrationen,

 Vgl. zu dieser Einschätzung beispielsweise Offe (2001: S. 459), Ladwig (2002: S. 88) sowie Morlok (2008: S. 13).  Fraenkel (1991: S. 273).  Ebd. S. 275.  Vgl. Seubert (2004: S. 104 f.).  Die Frage nach den Bedingungen funktionaler Adäquatheit bleibt zumindest in der politischen Philosophie unterbestimmt. Sie erfährt stärkere Beachtung in der Politikwissenschaft, z. B. in Robert D. Putnams Monographie Making Democracy Work, in der ein Kriterienkatalog zur Beurteilung der Effizienz und Effektivität italienischer Regionalregierungen aufgestellt wird, vgl. Putnam (1992: S. 63 – 73).

2.1 Das Basismodell der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie

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Boykotte, ziviler Ungehorsam etc.) geltend gemacht werden. Die so eingebrachten Interessen werden von den Institutionen des Systems rezipiert und in Form von Policies (Gesundheitsgesetze, Umweltverordnungen, Haushaltsbeschlüsse etc.), welche insgesamt das Systemoutput bilden, implementiert. Zweierlei Aspekte dieser Theorierichtung sind für deren Einschätzung und weitere argumentative Beurteilung von besonderer Bedeutung: Erstens kommt der Prozeduralismus seinem eigenen Anspruch nach – dies ergibt sich aus seiner Begriffsbestimmung – ohne inhaltliche Konkretion des Gemeinwohlbegriffs, sei es durch eine Güter- oder Werteliste oder ein politisches Aktionsprogramm, seitens der Theorie selbst aus. Er stipuliert, dass eine plausible Theorie des Gemeinwohls lediglich formale Verfahrensbedingungen angeben muss, bei deren Einhaltung ein System automatisch das Wohl des respektiven Gemeinwesens produziert;⁸² entsprechend lässt sich auch von einem formalistischen Gemeinwohlbegriff sprechen.⁸³ Der Prozeduralismus ist folglich auf die Auffassung festgelegt, dass, egal was ein adäquates System als Output hervorbringt, es sich hierbei um das Gemeinwohl handelt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Systemoutput allein unter Rekurs auf nicht eingehaltene Verfahrensnormen als gemeinwohlschädlich kritisiert werden kann – jeder Bezug auf verfahrenstranszendente Kriterien ist aufgrund von Prämissen ausgeschlossen.⁸⁴ Zweitens versteht sich der Prozeduralismus als präskriptive und anwendungsbezogene Theorierichtung, d. h. die in den Theorien spezifizierten Adäquatheitsbedingungen werden als Leitlinien für politische Reformen in realen Systemen in die Debatte eingebracht und durch konkrete institutionelle Vorschläge präzisiert.⁸⁵ Die Debatte innerhalb der prozeduralistischen Theorierichtung weist indes eine Eigentümlichkeit auf, die den Ausgangspunkt meiner kritischen Auseinandersetzung mit dieser Gemeinwohlkonzeption bildet: Die überwiegende Mehrheit der Theoretiker, die sich dem Prozeduralismus zurechnen, diskutieren über die

 Amy Gutman und Dennis Thompson haben diese These des Prozeduralismus am treffendsten auf den Punkt gebracht: „Once the right procedures are in place, whatever emerges from them is right“. Gutman & Thompson (2004: S. 24).  Vgl. Ladwig (2002: S. 88).  Thomas Christiano konstatiert in diesem Kontext, prozeduralistische Theorien seien „preemptive of other considerations because, by hypothesis, there are no other considerations that have any weight.“ Christiano (2004: S. 267).Vgl. zu dieser Bestimmung des Prozeduralismus auch Gutman & Thompson (2004: S. 24 f.).  Eines der anschaulichsten Beispiele aus der jüngeren Debatte ist die Forderung von Bruce Ackerman und James Fishkin, in den USA einen neuen Feiertag, den ‚deliberation day’, einzuführen, an dem die Mitglieder des Gemeinwesens einen Tag vor entscheidenden Wahlen in lokalen Zentren über politische Streitfragen diskutieren sollen; vgl. Ackerman & Fishkin (2005). Ähnlich gelagerte Vorschläge finden sich z. B. auch bei John S. Dryzek (2000).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

konkrete Bestimmung derjenigen Adäquatheitsbedingungen, deren Einhaltung die Gemeinwohlrealisierung ermöglicht; für den Prozeduralismus als gesamte Theorierichtung wird indes nur negativ argumentiert, insoweit alle nicht-prozeduralistischen Theorien der Bestimmung des Gemeinwohls als unplausibel zurückgewiesen werden.⁸⁶ Die beiden zentralen Argumente seien hier zunächst nur kurz angeführt:⁸⁷ Erstens sei die Konzeption eines durch eine normative Staatstheorie inhaltlich vorbestimmten Gemeinwohlbegriffs „mit der für den demokratischen Staat kennzeichnenden Vorstellung von der Autonomie politischer Willensbildung […] nicht in Einklang zu bringen“.⁸⁸ Die Konzeption eines inhaltlich vorbestimmten Gemeinwohles als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns würde, so die Kritik, mit begrifflicher Notwendigkeit in die Rechtfertigung einer paternalistischen Diktatur politischer Experten (welche qua Experten Einsicht in die Natur des Allgemeinwohls haben) – und somit in die Zurückweisung der Demokratie – einmünden.⁸⁹ Während das erste Argument die Implikationen einer nicht-prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption für die Legitimität der Staatsform thematisiert, richtet sich das zweite Argument gegen deren gesellschaftliche Konsequenzen: Der Begriff des Gemeinwohles, dergestalt aufgefasst, impliziere die Festlegung auf einen „common way of life“⁹⁰, dem sich (z. B. religiös oder sexuell) abweichende Lebensformen unterzuordnen hätten. Eine inhaltliche Gemeinwohlbestimmung wäre somit mit gesellschaftlichem Pluralismus unvereinbar.⁹¹ Entscheidend ist, dass sich nach Auffassung der Theorievertreter die Debatte dergestalt in zwei disjunkte Lager teilt: auf der einen Seite die Vertreter einer rein prozeduralistischen Theorie, die das Gemeinwohl allein auf Grundlage formaler Verfahrensnormen bestimmen, und auf der anderen Seite die

 Exemplarisch für diese Stoßrichtung ist die Einleitung von Herfried Münkler und Harald Bluhm in Band I der Forschungsreihe Gemeinwohl und Gemeinsinn, vgl. Münkler & Bluhm (2001: S. 10); vgl. auch Morlok (2008: S. 13).  Eine detaillierte Diskussion und Konkretion beider Kritikpunkte erfolgt in Kap. 3, in dem – infolge der Zurückweisung der prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption in Kap. 2.5 – geprüft wird, ob die beiden genannten Argumente tatsächlich verheerend für eine nicht (rein) prozeduralistische Gemeinwohltheorie sind.  Fraenkel (1991: S. 272 f.).  Vgl. zu diesem Argument auch Gutman & Thompson (2004: S. 25) sowie Estlund (2008: S. 30 f.).  Kymlicka (1997: S. 226).  Die beiden genannten Argumente erscheinen durchaus ähnlich und werden aus diesem Grund auch häufig ineinander geschoben. Dass es sich jedoch um separate Argumente handelt, zeigt sich daran, dass – zumindest begrifflich – sowohl eine pluralistische Diktatur (wenn man darunter einen Staat versteht, der eine Pluralität von Lebensformen zulässt, ohne seinen Mitgliedern demokratische Partizipationsrechte zuzugestehen) als auch eine sozial homogene Demokratie (paradigmatisch hierfür ist Rousseaus republikanische Utopie) möglich sind.

2.1 Das Basismodell der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie

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Vertreter einer sogenannten rein substantialistischen Theorie, die das Gemeinwohl anhand einer konkreten Güter- oder Werteliste oder anhand eines politischen Aktionsprogramms bestimmen – wobei ausgeschlossen wird, dass es eine Möglichkeit gibt, diese Positionen auf irgendeine Weise zu integrieren.⁹² Diese Auffassung können wir als Tertium-Non-Datur-These bezeichnen.⁹³ Selbst wenn sich mit diesen Argumenten eine nicht-prozeduralistische Gemeinwohlbestimmung zurückweisen lassen sollte, wird bei der einseitigen Festlegung auf diese argumentative Stoßrichtung die Frage nach der metaethischen Hintergrundtheorie, auf die der Prozeduralismus selbst festgelegt ist (bzw. auf die er rationalerweise festgelegt sein sollte) ausgeblendet. Wenn jedoch die normativen Prämissen des Prozeduralismus unterbestimmt oder nur implizit bleiben, lässt sich keine positive Bestätigung der Theorie geben bzw. es bleibt offen, ob der Prozeduralismus nicht selbst Vorannahmen enthält, die ähnlich unplausibel oder ethisch problematisch sind wie die, die er nicht-prozeduralistischen Theorien unterstellt. Ein weiteres Problem besteht darin, dass durch die Zurückweisung nicht-prozeduralistischer Theorien noch nicht der Einwand ausgeräumt ist, wonach das Gemeinwohl weder in seiner prozeduralistischen noch in seiner nichtprozeduralistischen Lesart ein angemessener Begriff ist, um politische Handlungen oder institutionelle Arrangements zu rechtfertigen.⁹⁴ Es gibt also aus Sicht des Prozeduralismus zwei Gründe, um dessen Vorbedingungen zu rekonstruieren und explizit zu machen, um daraus das Modell eines adäquaten politischen Systems abzuleiten: Erstens muss gezeigt werden, dass die eigenen Prämissen

 Die Unterscheidung zwischen formalistisch-prozeduralistischen Gemeinwohltheorien, die das Gemeinwohl exklusiv über die Befolgung formaler Verfahrensnormen bestimmen, und substantialistischen Gemeinwohltheorien, die auf der Annahme beruhen, dass seitens der Theorie selbst eine inhaltliche Konkretion des Gemeinwohls (z. B. im Sinne einer Liste gemeinwohlkonstitutiver Güter) vorgenommen werden muss, ist eine Distinktion, die sich durch die gesamte politikwissenschaftliche und philosophische Literatur, die sich mit dem Gemeinwohlkonzept befasst, zieht. Gegen diese Nomenklatur lässt sich zurecht anführen, dass sie insofern verunklarend ist, als der Ausdruck „substantiell“ de facto den Gegenbegriff zu „akzidentell“ und nicht zu „formal“ darstellt; entsprechend wäre es meines Erachtens im Grunde terminologisch sinnvoller, zwischen formalen und materialen Gemeinwohlkonzeptionen zu unterscheiden (siehe hierzu auch Anderheiden 2006: S. 13). Da sich die oben genannte Terminologie jedoch eingebürgert hat, werde ich sie im Folgenden ebenfalls verwenden, d. h. ich werde die Ausdrücke „material“, „substantiell“ und „prozedurtranszendent“ als bedeutungsäquivalente Ausdrücke gebrauchen.  Genau diese Tertium-Non-Datur-These werde ich in Kap. 3.1 im Zuge meiner kritischen Auseinandersetzung mit den anti-substantialistischen Argumenten zurückweisen und ihr die Auffassung entgegenstellen, dass eine plausible Gemeinwohltheorie formale und inhaltliche bzw. prozedurale und prozedurtranszendente Kriterien integrieren muss.  Diese Kritik wird u. a. vertreten von Schumpeter ([1947] 2005: S. 397– 426) und Shapiro (2003: S. 146 – 151).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

plausibel genug sind, um eine Abkehr vom Gemeinwohlbegriff zurückzuweisen; zweitens muss gezeigt werden, dass diese Prämissen nicht unplausibler oder ethisch problematischer sind als die nicht-prozeduralistischer Theorien.

2.2 Rekonstruktion der metaethischen Grundlagen des Prozeduralismus Die Theorie des Prozeduralismus lässt sich auf der Basis zweier, stark verschiedener metaethischer Hintergrundtheorien rekonstruieren: des ethischen Objektivismus und des ethischen Subjektivismus. Beide Theorien können als Grundlegungen eines demokratischen institutionellen Arrangements herangezogen werden, dessen Verfahren als gemeinwohlproduzierend begriffen werden – wobei den entsprechenden Arrangements jedoch, selbst wenn sie strukturidentisch sind, je nach Hintergrundtheorie sehr unterschiedliche Funktionen zukommen. Während in der objektivistischen Lesart des Prozeduralismus ein politisches System als epistemisches Instrument fungiert, um moralische Tatsachen, die für das Wohl des Gemeinwesens relevant, aber von den aktualen Interessen der Gemeinschaftsmitglieder metaphysisch unabhängig sind, zu identifizieren, rücken diese Interessen in der subjektivistischen Lesart ins Zentrum der Rechtfertigung des politischen Systems. Letzteres hat demnach die Funktion, die Interessen der Mitglieder, welche hier als wertkonstitutiv begriffen werden, unter Berücksichtigung bestimmter formal-normativer Rahmenbedingungen (faire Aggregation oder reziproke deliberative Rechtfertigung) zu realisieren. Im Folgenden werde ich zunächst die objektivistische und danach die subjektivistische Rekonstruktion des Prozeduralismus untersuchen. Hierbei wird sich zeigen, dass der Objektivismus als Basis des Prozeduralismus eine geringere Grundplausibilität besitzt als der Subjektivismus, weil er mit seiner Interpretation von demokratischen Prozessen als epistemischen Instrumenten mit unserem staatsbürgerlichen Selbstverständnis als Akteure, die das Gemeinwohl gestalten und nicht einfach ‚finden’, inkompatibel ist. Des Weiteren ergibt sich das Problem, dass politische Systeme durch den vom Prozeduralismus stipulierten Gemeinwohlautomatismus (Gemeinwohl ist, was vom System als Output produziert wird) epistemisch überlastet sind. Vor allem, weil die subjektivistische Lesart den Gestaltungsaspekt des Gemeinwohls besser explizieren kann, kommt ihr auch eine größere Anfangsplausibilität zu, die eine detaillierte Rekonstruktion rechtfertigt. Dass auch die subjektivistische Lesart scheitert, verdankt sich drei Einwänden: Erstens kann der Subjektivismus Irrtümer der Mitglieder über das Gemeinwohl nicht erklären; zweitens taugt der subjektivistisch informierte Prozeduralismus nicht, wie gefordert, als Anwendungstheorie, weil reale politische Systeme nie alle

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus

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Adäquatheitsbedingungen erfüllen, was zur Folge hätte, dass das Gemeinwohl nie produziert würde; drittens kann ein solcher Prozeduralismus aufgrund der notwendigen Zugangsbeschränkung seiner Verfahren nie alle Mitglieder mit einbeziehen: Bestimmte Interessen von Kindern und geistig Behinderten bleiben ungerechtfertigterweise außen vor. Dennoch scheitern beide Rekonstruktionen auf informative Art, weil sie einerseits zeigen, dass eine Gemeinwohltheorie nicht ohne Rekurs auf interessentranszendente moralische Tatsachen auskommt, andererseits aber die Souveränität der Bürger bei dessen Bestimmung berücksichtigen muss.

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus Ausgangspunkt der objektivistisch-prozeduralistischen Theorie der Gemeinwohlbestimmung ist eine durchaus plausible Grundintuition über die Bewertung politischer Handlungen und der Systeme, die diese Handlungen hervorbringen, welche bereits Jean-Jacques Rousseau im Contrat Social wie folgt zusammenfasst: „il ne s’ensuit pas que les déliberations du peuple aient toujours la même recitude. On veut toujours son bien, mais on le voit pas toujours.“⁹⁵ Weil, so die Annahme Rousseaus, der sich alle Vertreter des objektivistischen Prozeduralismus anschließen, sich die Mitglieder eines Gemeinwesens darüber irren oder getäuscht werden können, was dem Wohl ihrer Gemeinschaft dient, ist es möglich, dass Verfahren politischer Willensbildung das Gemeinwohl verfehlen. Diese Möglichkeit des Irrtums setzt indes Standards voraus, an denen Entscheidungen – auch solche, die kollektiv für richtig gehalten werden – scheitern können; diese müssen, wie Estlund in seiner Reprise des Rousseau’schen Arguments schreibt, „in some way objective“ sein.⁹⁶ Selbst wenn man die Klärung der Frage, worin solche Standards bestehen, für den Moment aufspart und es zunächst bei der Bestimmung belässt, dass sie in irgendeinem Sinne von dem Für-gut-Halten der Mitglieder unabhängig sein müssen, ergibt sich daraus eine Bewertungsgrundlage für politische Systeme: „it must count in favor of a social decision procedure that it tends to produce the better decision.“⁹⁷ Die Legitimität eines Systems bemisst sich demnach an seiner epistemischen Güte, d. h. daran, mit welcher Zuverlässigkeit seine Verfahren Fehler vermeiden und richtige bzw. gemeinwohldienliche Entscheidungen treffen.

 Rousseau ([1762] 2001: S. 68).  Estlund (2008: S. 98).  Ebd.

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

Die beiden oben genannten Prämissen bilden die Grundlage einer Staatstheorie, die auch als epistemische Legitimitätstheorie bezeichnet wird.⁹⁸ Um aus diesen Prämissen eine prozeduralistische Gemeinwohltheorie im Sinne des Basismodells aus Kapitel 2.1 abzuleiten, welche in diesem Sinne eine Unterklasse epistemischer Legitimitätstheorien darstellt, bedarf es einer weiteren Annahme, die auch in genau diesem Sinne von Rousseau – und in seinem Gefolge von Carlos Nino und William Nelson – vertreten wird:⁹⁹ Es lassen sich Adäquatheitsbedingungen für Prozeduren angeben dergestalt, dass, wenn sie erfüllt sind, das System zuverlässig und kontinuierlich das Gemeinwohl produziert. Der Vorzug des objektivistischen Prozeduralismus liegt, zumindest prima facie, in seiner Eleganz: Das Output eines adäquaten politischen Systems lässt sich demnach deshalb als Gemeinwohl auffassen, weil seine Verfahren epistemisch so zuverlässig sind, dass sie die für das Gemeinwohl relevanten moralischen Tatsachen identifizieren und die entsprechend gerechtfertigten Entscheidungen umsetzen. Der objektivistische Prozeduralismus kann also einerseits die Intuition inkorporieren, wonach Irrtümer über das Gemeinwohl möglich sind, indem er dessen Begriff in einer objektivistischen Metaethik fundiert; andererseits umgeht er das Problem, demokratische Entscheidungsprozesse durch einen prädefinierten Gemeinwohlbegriff zu unterminieren, indem er auf eine inhaltliche Konkretion verzichtet und nur formale Bedingungen der Zuverlässigkeit angibt und diese als Adäquatheitsbedingungen formuliert. Allerdings ist angesichts der vermeintlichen Eleganz dieser Theorie Vorsicht geboten: Es ließe sich nämlich bereits an dieser Stelle in Zweifel ziehen, ob sich die Position des objektivistischen Prozeduralismus aufgrund ihrer Prämissen überhaupt als konsistente Theorie vertreten lässt; oder ob nicht vielmehr der Rekurs auf interessentranszendente, gemeinwohlkonstitutive moralische Tatsachen einerseits und das Insistieren auf rein prozedurale Maßstäbe der Gemeinwohlbestimmung seitens der Theorie (welche ein vom Theoretiker vorgegebenes inhaltliches Kriterium der Gemeinwohlbestimmung ausschließen) andererseits inkompatibel sind. Muss der objektivistische Prozeduralist, lässt sich fragen, wenn er die epistemische Güte an objektiven Standards misst, Letztere nicht selbst inhaltlich bestimmen, um die Prozeduren, die er für adäquat erachtet, identifizieren zu können bzw. um die Prozeduren ‚eichen’ zu können? Woraus sich die Anschlussfrage ergibt: Ist der Verzicht auf eine inhaltliche bzw. nicht-formale

 David Estlund, der sich selbst dieser Theorierichtung zurechnet, bietet hier einen guten Überblick, vgl. Estlund (2008: S. 102); zur weiteren Diskussion dieses Themas vgl. auch Knight & Johnson (1994: S. 280) sowie Landemore (2013). Zur Kritik an der epistemischen Legitimitätstheorie siehe Blum (2014).  Vgl. Nino (1991) und Nelson (1980).

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus

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Gemeinwohldefinition seitens Rousseaus sowie Ninos und Nelsons nicht einfach ein Theorienfehler ihres epistemischen Rechtfertigungsansatzes politischer Systeme? Und in der Tat geben die entsprechenden Autoren überhaupt keine Begründung für ihren Definitionsverzicht. Es scheint also schon hier alles gegen den objektivistischen Prozeduralismus als Gemeinwohltheorie zu sprechen. Meines Erachtens sollte sich die objektivistische Lesart jedoch (zumindest an dieser Stelle) noch nicht geschlagen geben. Der oben genannte Einwand lässt sich nämlich durch Hinzunahme einer plausiblen Prämisse, die überdies ideengeschichtlich durchaus ehrwürdig ist, ausräumen: Die entsprechende Prämisse besagt, dass die von den adäquaten Prozeduren zu identifizierenden objektiven Tatsachen überhaupt nicht seitens des Gemeinwohltheoretikers spezifiziert werden können, weil dieser als singuläres Individuum nicht alle relevanten Politikfelder, Zusammenhänge zwischen diesen Feldern und möglichen Handlungsfolgen antizipieren und abwägen kann;¹⁰⁰ diese Leistung kann nur durch die kollektive Befolgung der Verfahrensnormen seitens aller Gemeinschaftsmitglieder erbracht werden. Das entsprechende Argument ist bereits von Aristoteles als ‚Argument von der Weisheit der Massen’ in die politiktheoretische Debatte über eine Begründung der Demokratie eingebracht worden. So schreibt dieser in Buch III der Politik: Denn die Menge, von der der Einzelne kein tüchtiger Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein zu können als jene Besten [mit denen Aristoteles die mit besonderem Erkenntnisvermögen ausgestatteten aristoi meint, C.B.]; nicht jeder Einzelne für sich, sondern die Gesamtheit, so wie die Speisungen, zu denen viele beigetragen haben, besser sein können als jene, die ein Einzelner veranstaltet.¹⁰¹

Und er fügt begründend hinzu: Denn es sind viele, und jeder hat einen Teil an Tugend und Einsicht. Wie sie zusammenkommen, so wird die Menge wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und Wahrnehmungsorgane hat, und ebenso, was den Charakter und den Intellekt betrifft […] der eine beurteilt diese, der andere jene Seite, und so urteilen alle über das Ganze.¹⁰²

 Vgl. Michelmann (1997: S. 160 f.) sowie Freeman (2000: S. 285 f.).  Aristoteles (2006: S. 1281, a38-b9).  Ebd. Allerdings schränkt Aristoteles diese Argumentation für eine epistemische Begründung der Demokratie insofern ein, als er daran festhält, dass in einem Gemeinwesen, dessen Mitglieder, wie er schreibt, „unzivilisiert“ sind und in ihren Meinungen daher keine Bereicherung für die Gemeinwohlbestimmung darstellen, die Herrschaft eines einzelnen Weisen vorzugswürdig ist.Vgl. hierzu auch Estlund (2008: S. 209).

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Die Pointe dieser Argumentation ist also, dass durch die Synergie der epistemischen Kompetenzen aller Gemeinschaftsmitglieder (auch wenn jeder für sich besehen weniger kompetent ist als der Gemeinwohltheoretiker) ein zuverlässigeres Resultat erbracht wird, als wenn ein einzelner (und sei er noch so kompetent) sich an einer inhaltlichen Konkretion des Gemeinwohls versuchen würde. Dem Gemeinwohltheoretiker verbleibt – um den Bogen zurück zur Rechtfertigung des objektivistischen Prozeduralismus zu schlagen – nur die Aufgabe, die politischen Verfahrensbedingungen dergestalt zu spezifizieren, dass die größte epistemische Synergie der Individualauffassungen über das Gemeinwohl erzielt wird; eine weitere inhaltliche Konkretion ist ihm aufgrund der eigenen epistemischen Beschränkung auch gar nicht möglich.¹⁰³ Bevor ich den Fragen nachgehen kann, wie Rousseau, dessen Staatstheorie ich im Folgenden paradigmatisch heranziehe, die entsprechenden Adäquatheitsbedingungen spezifiziert und wie plausibel solche Bedingungen generell sein können, muss die aufgeschobene Frage geklärt werden, welchen moralisch-metaphysischen Status die oben genannten objektiven Standards haben. Da der objektivistische Prozeduralismus seinem Anspruch nach ohne deren konkrete inhaltliche Bestimmung auskommt, genügt ein Abriss, um der Position eine Grundplausibilität zu verleihen.

2.3.1 Grundriss des moralischen Objektivismus Die Grundannahme des moralischen Objektivismus bildet eine zweigliedrige These über den epistemischen Status moralischer Urteile und den begrifflichmetaphysischen Status moralischer Tatsachen: Erstens sind dem moralischen Objektivismus – qua Unterklasse des moralischen Kognitivismus – zufolge mo-

 Eine konkrete Ausführung dieser Theorie bietet in Bezug auf die direkte majoritäre Demokratie beispielsweise Marie Jean de Condorcet in seinem Essai sur l’application de l’analyse à la probabilité des decisions rendues à la pluralité des voix, der in dieser Hinsicht ebenfalls als Vertreter eines objektivistischen Prozeduralismus zu werten ist: Wenn, so Condorcets Annahme, man plausiblerweise davon ausgeht, dass alle Mitglieder mit einer Wahrscheinlichkeit >0,5 bei einer einfachen Ja/Nein-Abstimmung über politische Sachfragen ‚richtig liegen’ (also das Gemeinwohl nicht verfehlen), dann wird die Abstimmungsmehrheit in einem hinlänglich großen Gemeinwesen unfehlbar das Gemeinwohl bestimmen – was wiederum ein schlagendes epistemisches Argument für demokratische politische Prozeduren darstellt; vgl. Condorcet (2011). Kontemporäre Kritiker haben gegen diese These kritisch angemerkt, dass diese Argumentation auf den ausgesprochen unrealistischen Annahmen beruht, dass Wahlentscheidungen von Individuen voneinander statistisch unabhängig sind und dass sich alle politischen Entscheidungen in Form einfacher binärer Alternativen operationalisieren lassen; vgl. Estlund (2008: S. 223 – 228).

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus

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ralische Urteile grundsätzlich wahrheitsfähig; zweitens handelt es sich bei den Wahrmachern moralischer Urteile um moralische Tatsachen, die von den kontingenten Interessen oder Standpunkten aktualer moralischer Akteure sowohl begrifflich als auch metaphysisch unabhängig, also objektiv, sind.¹⁰⁴ So wird z. B. das Urteil, wonach die Verleumdung Unschuldiger falsch ist, durch die Tatsache, dass die Verleumdung Unschuldiger falsch ist, wahr gemacht – unabhängig davon, ob diese Auffassung von einer aktualen Person für richtig befunden wird oder einer sozialen Konvention entspricht. Die entscheidende Frage, anhand derer sich der moralische Objektivismus in zwei binnenstrukturierte Lager aufteilt, betrifft die Natur moralischer Tatsachen – sie spaltet die Vertreter des moralischen Objektivismus in Konstruktivisten und Realisten. Konstruktivisten vertreten in diesem Kontext die These, dass die Wahrheitsbedingungen moralischer Urteile aus den hypothetischen Überlegungen und Entscheidungen eines idealen, rationalen und wohlinformierten Akteurs oder einer Gruppe solcher Akteure konstruiert bzw. durch diese konstituiert werden. Entsprechend bestreiten sie die Annahme, dass es moralische Wahrheiten (bzw. Tatsachen) gibt, die unabhängig von den Urteilen solcher Akteure existieren; ideale Akteure werden in dieser Konzeption folglich nicht als moralisch-epistemische Akteure begriffen, die darauf abzielen, moralische Wahrheiten zu identifizieren – sie reagieren mit ihren Überlegungen und Entscheidungen vielmehr auf ein hypothetisches Szenario, das noch keine moralischen Tatsachen enthält und konstituieren dadurch allererst jene Wahrheitsbedingungen moralischen Urteilens, die für aktuale Personen gelten. Wie bereits angeführt, lässt sich das Lager der Konstruktivisten in zwei Binnenpositionen differenzieren, die sich an der Entscheidung ausrichten, ob ein oder mehrere ideale Akteure als moralkonstitutiv verstanden werden. Die erstere Position, die häufig als Ideal Observer Theory bezeichnet wird, basiert auf der These, das moralische Tatsachen durch das rationale Urteil eines singulären Akteurs konstituiert werden; so wäre, um das obige Beispiel wieder aufzugreifen, das Urteil, dass die Verleumdung Unschuldiger falsch ist, genau dann wahr, wenn die entsprechende Norm für ein wohlinformiertes und rationales Individuum akzeptabel wäre oder von ihm nicht abgelehnt werden könnte.¹⁰⁵ Entgegen dieser These vertreten Kontraktualisten die Auffassung, dass die Objektivität moralischer

 Diese Begriffsbestimmung sowie die folgende Unterteilung objektivistischer metaethischer Theorien übernehme ich von Shafer-Landau (2003: S. 3) sowie von Miller (2003: S. 138 ff.).  Ein wichtiger Vertreter dieser Theorierichtung ist Bernard Gert (1998), der die Auffassung vertritt, dass ein moralisches Gut sich als etwas bestimmen lässt, das kein rationaler Akteur vermeiden würde, und dass ein Übel in etwas besteht, das jeder rationale Akteur vermeiden würde.

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Normen dadurch konstituiert wird, dass die entsprechenden Normen von einer Gruppe von Vertragspartnern unter idealisierten Bedingungen (z. B. strikte Interdependenz, Unwissenheit über die soziale Ordnung, in der die Normen gelten sollen) konsensual akzeptiert würden.¹⁰⁶ Objektivistische Realisten divergieren von der Position des Konstruktivismus in der entscheidenden Hinsicht, dass sie moralische Wahrheiten (bzw. Tatsachen) als grundsätzlich einstellungsunabhängig begreifen – sowohl von den Einstellungen aktualer Akteure (diese Auffassung teilen sie indes mit den Konstruktivisten) als auch von den Einstellungen idealer Akteure.¹⁰⁷ Anders gesagt: Die Wahrheit eines moralischen Urteils stellt keine Funktion dessen dar, was irgendein Akteur über den entsprechenden Sachverhalt denkt. Dies bedeutet nicht, dass Realisten prinzipiell darauf verzichten, Normen unter Rekurs auf die Urteile idealer Akteure zu rekonstruieren (‚Wahr ist, was ein rationaler, wohlinformierter Akteur für wahr hält’); sie begreifen jedoch entsprechende Urteile nicht als wahrheitskonstitutiv, sondern als völlig reliable Methode zur Identifizierung unabhängig existierender moralischer Tatsachen.¹⁰⁸ Das Lager der Realisten wiederum spaltet sich in zwei Fraktionen hinsichtlich der Frage, welche Rolle einstellungsunabhängige moralische Tatsachen innerhalb des naturwissenschaftlichen Paradigmas der Erklärung natürlicher und sozialer Ereignisse spielen sollen. Um den Primat der kausalen Geschlossenheit des natürlichen Systems nicht zu verletzen und das Problem der ‚metaphysischen Extravaganz’ nicht-natürlicher (und also nicht raumzeitlich instantiierter) moralischer Tatsachen zu vermeiden, vertreten naturalistische Realisten die These, dass sich moralische Tatsachen explanatorisch auf physikalische Tatsachen reduzieren lassen oder – diese abgeschwächte These wird häufig als Cornell Realism bezeichnet – zumindest auf solchen Tatsachen supervenieren oder von ihnen multipel realisiert werden können.¹⁰⁹ Die naturalistische Auffassung, wonach sich moralische Tatsachen vollständig in ein naturwissenschaftliches Weltbild einpassen lassen, wird – um hiermit die Klassifikation abzuschließen – von jenen Theoretikern bestritten, die sich dem  Eine entsprechende Position vertritt beispielsweise Milo (1995). Ob Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1979) ebenfalls diesem Lager zuzurechnen ist, ist zumindest umstritten; vgl. hierzu Shafer-Landau (1994).  Der entsprechende, von Ronald Milo eingeführte Ausdruck lautet „stance-idependent“ und hat sich inzwischen in der Metaethik als Terminus technicus etabliert; vgl. Milo (1995: S. 82).  Um der Gefahr der Begriffsverwirrung, die die Verwendung der Heuristik idealer Akteure in beiden Lagern nach sich zieht,vorzubeugen, schlägt Shafer-Landau vor, zwischen moral observers (im wahrheitskonstitutiven Sinne) und moral judges (im wahrheitsidentifizierenden Sinne) zu unterscheiden; vgl. Shafer-Landau (1994: S. 338, Fn. 7).  Für eine umfassende Diskussion des naturalistischen Realismus vgl. Miller (2003).

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus

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nicht-naturalistischen Realismus zuordnen. Diese sind der Auffassung, dass moralische Tatsachen metaphysisch primär sind und weder auf physikalische Tatsachen reduziert werden können noch in Supervenienz- oder Realisierungsbeziehungen zu Letzteren stehen und daher auch nicht Gegenstand empirischer Forschung sein können.¹¹⁰

2.3.2 Die prozedurale Gemeinwohlbestimmung in Rousseaus Contrat Social Rousseaus Konzeption prozeduraler Gemeinwohlbestimmung ist im Contrat Social eingebettet in eine kontraktualistische Theorie, der zufolge die Legitimität eines politischen Gemeinwesens in den Bedingungen eines idealen Gesellschaftsvertrages fundiert ist.¹¹¹ Die einzige ‚Klausel’ dieses Gesellschaftsvertrags, die sogenannte „aliénation totale“, besteht darin, dass alle Vertragspartner wechselseitig ihre natürlichen Rechte und Besitztümer aneinander abtreten und sich auf diese Weise zu einer politischen Körperschaft vereinigen. Die dergestalt konstituierten Abhängigkeitsverhältnisse ziehen eine reziproke Interessenmodifikation und -synchronisation der Vertragspartner nach sich, die in die Bildung eines gemeinschaftlichen Willens des politischen Kollektivs, der „volonté générale“, einmündet. Letzteren charakterisiert Rousseau als unfehlbar auf das allgemeine Wohl gerichtet und sich durch gemeinwohldienliche, allgemeine Gesetzesbeschlüsse konkretisierend. In diesem Kontext begreift er, wie Iring Fetscher hervorhebt, den Gemeinwillen nicht als gemeinwohlkonstitutiv, sondern – im Gegenteil – als über seine epistemische Verbindung mit dem unabhängig von ihm bestehenden, allerdings nicht inhaltlich definierten, Gemeinwohl bestimmt.¹¹² Während Buch I des Contrat Social der weiteren Bestimmung der normativen Geltung des allgemeinen Willens und seines Verpflichtungscharakters gegenüber den Vertragspartnern gewidmet ist, geht Rousseau in Buch II der Frage nach, wie der allgemeine Wille in einem realen politischen System realisiert werden soll bzw. welches Verfahren den idealen Prozess der aliénation totale (und die mit ihr einhergehende Interessensynchronisierung, die in die Bestimmung des Gemeinwohls einmündet) restituieren kann. In diesem Zusammenhang konstatiert Rousseau auch die oben angeführte These über die Fehlbarkeit bestimmter Typen von Volksbeschlüssen, die – so lässt sich nun konkretisierend ergänzen – daran

 Diese Position wird prominent vertreten von John McDowell (1998).  Rousseau nimmt an, dass der von ihm entwickelte Gesellschaftsvertrag zwar niemals förmlich ausgesprochen wurde, aber die ‚stillschweigende’ Grundlage aller moralisch gerechtfertigten Gesellschaftsordnungen darstellt. Vgl. Rousseau ([1762] 2001: S. 56).  Fetscher (1999: S. 127 f.). Dieselbe Auffassung vertritt auch Herb (2000b: S. 175).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

scheitern, dass sie den Standard des aus dem Gesellschaftsvertrag entwickelten idealen Gemeinwillens verfehlen. Um die Fehlbarkeit politischer Willensbildung zu vermeiden, müssen bestimmte Vorsichtsmaßnahmen („précautions“) ergriffen werden, die sicherstellen, „que la volonté générale soit toujours éclairée, et que le peuple ne se trompe point.“¹¹³ Die Hauptfehlerquelle im Prozess politischer Willensbildung erblickt Rousseau in der Bildung von Parteien („sociétés partielles“), die im politischen Wettbewerb um die Bestimmung des Gemeinwohles beanspruchen, die aggregierten Interessen ihrer Mitglieder zu repräsentieren; in diesem Falle gäbe es nicht mehr so viele Stimmen wie das Gemeinwesen Mitglieder hat, sondern nur noch so viele wie Parteien – was wiederum zu einer Verzerrung des Ergebnisses führte. Bei der Beantwortung der Frage, warum die Parteienbildung nachteilig sein soll, bleibt Rousseau indes dunkel. Seine Argumentation lässt sich jedoch wie folgt rekonstruieren: Wenn man die Annahme zugrunde legt, dass die Zuverlässigkeit des idealen Prozesses der aliénation totale darin begründet ist, dass hierbei atomisierte Individuen zur politischen Konsensbildung genötigt sind, lässt sich folgern, dass jede Abweichung von dieser atomisierten, idealen Prozedur eine epistemische Ungenauigkeit nach sich zieht. Rousseau scheint der Ansicht zu sein, dass die Perspektive jedes Individuums einen genuinen epistemischen Wert hat, der vermindert wird, wenn sich Individuen zu innerstaatlichen Gruppen zusammenschließen und in diesen einen Binnenkonsens generieren.¹¹⁴ Die Plausibilität dieser Rekonstruktion zeigt sich daran, welche Vorsichtsmaßnahmen Rousseau für geraten hält, um eine epistemisch zuverlässige Gemeinwohlbestimmung sicherzustellen: Demnach müssen alle Mitglieder des Gemeinwesens ihre zwar wohlinformierte, aber abgeschirmt gegen jegliche gesellschaftlich vermittelte Willens- und Interessensbildung, d. h. vollkommen im Privaten geformte Meinung darüber, welche politische Handlung die aus ihrer Sicht richtige sei, in die Volksversammlung zur Konsensbildung einbringen.¹¹⁵ Je selbstbezogener die Interessensbekundungen der Mitglieder ausfallen, desto größer ist die Aussicht auf den Beschluss eines gemeinwohldienlichen Gesetzes.  Rousseau ([1762] 2001: S. 69); meine Hervorhebungen. Der vermeintliche Widerspruch, der sich aus Rousseaus Formulierung zu ergeben scheint, dass zuvorderst durch institutionelle Arrangements sichergestellt werden muss, dass die „volonté générale toujours éclairée“, also stets aufgeklärt sei, obschon er doch in seiner Schilderung des Gesellschaftsvertrags eben die Unfehlbarkeit des Gemeinwillens betont hat, lässt sich aufklären, indem man zwischen dem Gemeinwillen als idealem Rechtswillen (wie er aus dem Gesellschaftsvertrag entsteht) einerseits und zwischen dem Gemeinwillen als realem Rechtswillen (wie er durch reale politische Willensbildung entsteht) andererseits unterscheidet. Vgl. hierzu Herb (1989: S. 201).  Vgl. Herb (1989: S. 203).  Herb (2000b: S. 176).

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus

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Die entsprechende Konsensbildung erfolgt nun dergestalt, dass man von den einzelnen Interessen das „Mehr und das Weniger“ („les plus et les moins“), hinsichtlich derer sie nicht übereinstimmen, abzieht; in einem ‚Neutralisierungsprozess’ heben sich also unvereinbare Interessen wechselseitig auf, und es verbleibt eine Schnittmenge, hinsichtlich derer alle Mitglieder des Gemeinwesens übereinstimmen. Diese repräsentiert das allgemeine Wohl.¹¹⁶

2.3.3 Generaleinwände gegen den objektivistischen Prozeduralismus Die Argumente, die gegen die konkreten Adäquatheitsbedingungen des politischen Systems in Rousseaus Contrat Social vorgebracht wurden, sind – selbst wenn man nur Rousseaus Zeitgenossen in Betracht zieht – ohne Zahl.¹¹⁷ Sie lassen sich jedoch grob in zwei Kategorien unterteilen: In die erste Kategorie fallen jene Argumente, die die Praktikabilität des Rousseau’schen Modus politischer Willensbildung in Zweifel ziehen. In modernen Flächenstaaten erscheint die Konzeption einer gesetzgebenden Volksversammlung aus logistischen Gründen schlicht nicht umsetzbar, die Mediation von Interessen durch Parteien oder Verbände hingegen unumgänglich. Zur zweiten Kategorie zählen jene Argumente, die die epistemische Leistungsfähigkeit des Rousseau’schen Verfahrens der Konsensbildung in Zweifel ziehen. Es ist, so die Kritik, nicht einsichtig, warum ein gesellschaftsinterner Diskurs über die Bestimmung des Gemeinwohls, in dem die Geltendmachung von Meinungen mit der Verpflichtung des Vorbringens von Gründen und des Anerkennens guter Gegengründe verknüpft ist, der Konzeption abgeschirmter Privatmeinungsbildung gegenüber epistemisch nachteilig sein soll. Rousseau selbst hat sich bemüht, die Argumente seiner zeitgenössischen Kritiker konstruktiv in die späteren Verfassungsentwürfe für Polen (1765) und Korsika (1777) zu inkorporieren. Ob ihm dies gelungen ist und welche Auswirkungen die Modifikationen am Modell aus dem Contrat Social im Einzelnen haben, bleibt eine Frage für die Rousseauforschung und ist nicht weiter Gegenstand meiner Erörterung des objektivistischen Prozeduralismus.¹¹⁸ Meiner Ansicht nach

 Rousseau spricht an anderer Stelle auch von jenem „point dans lequel tous les intérêts s’accordent“, welcher das Gemeinwohl repräsentiere, auf das ein legitimes Gemeinwesen stets ausgerichtet sei; Rousseau ([1762] 2001: S. 65). Dass diese Konzeption der epistemischen Gemeinwohlbestimmung auch in der Neuzeit indes keine genuin Rousseau’sche ist, zeigt sich daran, dass James Madison in den Federalist Papers eine fast identische Auffassung vertritt. Vgl. Goodin (1996: S. 332 ff.) sowie Mackie (2003: S. 423 ff.).  Eine hervorragende Übersicht bietet auch hier einmal mehr (Herb 2000a).  Zur Debatte um Rousseaus Verfassungsentwürfe vgl. Forschner (1977).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

ist eine weitere Diskussion dieser Kritik auch deshalb nicht erforderlich, weil sich vier Einwände vorbringen lassen, die zeigen, dass mit der Theorierichtung des objektivistischen Prozeduralismus sui generis etwas nicht stimmt – allerdings auf eine Weise, für die der Contrat Social exemplarisch ist.¹¹⁹ Die ersten beiden Gegenargumente haben nicht die Funktion, die grundsätzliche Plausibilität des objektivistischen Prozeduralismus in Zweifel zu ziehen, sondern aufzuweisen, dass dieser sich wegen seiner metaethischen Verpflichtungen bestimmte erhebliche Beweislasten aufbürdet, die – wie sich in Kapitel 2.4.2 zeigen wird – für den konkurrierenden subjektivistischen Prozeduralismus gar nicht erst anfallen. Eine zentrale Vorgabe, die eine plausible Rekonstruktion des Gemeinwohlbegriffs meines Erachtens erfüllen muss, besteht darin, die Motivationalität des Gemeinwohls erklären zu können. Diese schlägt sich in der schwer bestreitbaren Tatsache nieder, dass der Adressat einer Gemeinwohlrechtfertigung, so er diese akzeptiert, auch zu einem gewissen Grade motiviert sein muss, die gerechtfertigte Handlung auszuführen, ihr zuzustimmen, sie nicht zu behindern etc. Anders gesagt: Wenn man eine Handlung als gemeinwohldienlich anerkennt, geht mit dieser Anerkennung bzw. mit dem entsprechenden normativen Urteil üblicherweise auch ein positiver motivationaler Impuls einher. Die Rekonstruktion dieses Phänomens stellt eine Theorie, die in einer objektivistischen Metaethik fundiert ist, jedoch vor ein Problem: Es ist nämlich prima facie nicht einsichtig, wie die Erkenntnis objektiver, und das heißt, von den Einstellungen aktualer Personen unabhängiger Tatsachen eine Person überhaupt zu etwas motivieren kann. Damit Willensentscheidungen und Handlungen zustande kommen können, so die auf David Hume zurückgehende Kritik am Objektivismus, in die dieser Einwand eingebettet ist, sind kausale Impulse erforderlich; während Affekte, Gefühle und Wünsche zweifelsohne solche Impulsgeber darstellen, scheiden jedoch Erkenntnisse und Wissenszustände (im Falle epistemischer Legitimitätstheorien, Erkenntnisse über das Gemeinwohl) für diese Rolle aus.¹²⁰ Mit diesem Argument ist die Debatte keineswegs endgültig zu Ungunsten des objektivistischen Proze Weil sich, so meine Einschätzung, zeigen lässt, dass sich alle Theorien des objektivistischen Prozeduralismus der Gemeinwohlbestimmung mit guten Gründen zurückweisen lassen, die gänzlich unabhängig von der jeweiligen Konkretion der systemischen Adäquatheitsbedingungen sind, erübrigt sich auch eine Diskussion anderer Theoretiker, die Rousseaus Ansatz fortentwickelt haben, wie z. B. Nino (1991) und Nelson (1980).  Für eine detaillierte Darstellung der Motivationsproblematik in der objektivistischen Ethik vgl. Smith (1994: S. 92– 125); siehe auch Quante (2008: S. 101 ff.). Es bleibt darauf hinzuweisen, dass dieses Problem in der Diskussion um die Plausibilität epistemischer Rechtfertigungsstrategien demokratischer Systeme innerhalb der politischen Theorie nicht einmal am Rande thematisiert wird.

2.3 Der objektivistische Prozeduralismus

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duralismus (bzw. zu Ungunsten des Objektivismus) entschieden. Im Gegenteil zählt die von Hume angestoßene Diskussion zu einer der vitalsten Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen Metaethik, wobei die Beweislast bei den Vertretern einer objektivistischen Moraltheorie darin liegt, entweder zu plausibilisieren, dass Wissenszustände durchaus motivational sein können oder dass Hybride zwischen Wissens- und Wollenszuständen (sogenannte „besires“ oder „pushmipullyus“) existieren können.¹²¹ Der zweite Einwand bezieht sich auf die problematischen metaphysischen und epistemologischen Implikate, die die Prämisse objektiver moralischer Tatsachen nach sich zieht. Wenn die das Gemeinwohl konstituierenden moralischen Tatsachen nämlich von den Einstellungen aktualer Subjekte unabhängig sein sollen, dann scheinen diese prima facie nicht in die natürliche Welt der deskriptiven Fakten zu gehören, sondern vielmehr den Status nicht-natürlicher Entitäten (z. B. platonischer Ideen) innezuhaben. Diese Konsequenz wäre, zumindest für alle Theoretiker, die ihre Ethik mit der Annahme eines kausal geschlossenen natürlichen Systems vereinbaren wollen, fatal. Als Anschlussproblem ergibt sich die Frage, wie die Prozeduren eines politischen Systems es seinen Mitgliedern ermöglichen sollen, solche nicht-natürlichen Entitäten überhaupt zu erkennen – die Wahrnehmung durch unsere natürlichen Sinne scheint jedenfalls auszuscheiden.¹²² Auch dieser Einwand markiert für sich besehen keinesfalls das Ende des objektivistischen Prozeduralismus, aber er zeigt doch eine Beweislastverschiebung zu seinen Ungunsten an: Theoretiker, die an einem moralischen Objektivismus festhalten wollen, sind demnach – wenn sie an der Geschlossenheit des natürlichen Systems festhalten wollen – gezwungen, zu zeigen, dass sich moralische auf natürliche Tatsachen reduzieren lassen oder auf Letzteren supervenieren, wobei sich auf diese Weise auch das epistemologische Problem lösen ließe; oder aber sie müssen gute Gründe angeben, um die Geschlossenheitshypothese aufzugeben, wobei dann das epistemologische Problem noch immer offen stünde. Der dritte und vierte Einwand richtet sich, anders als die oben ausgeführte metaethische Kritik, gegen den objektivistischen Prozeduralismus in seiner Eigenschaft als genuin politische Theorie, die beansprucht, einen praktikablen Mechanismus der Gemeinwohlbestimmung bereitzustellen und zugleich in ihren normativen Grundvoraussetzungen an unser politisches Selbstverständnis an-

 Für einen guten Überblick vgl. Shafer-Landau (2003: S. 119 – 164).  Auch diese Problemstellung findet trotz ihrer Bedeutung für die metaethische Diskussion keinen Niederschlag in der politischen Theorie.

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

schlussfähig zu sein. In beiden Hinsichten – so meine Hypothese – scheitert die Theorie grundlegend. Der dritte Einwand beansprucht hierbei nicht, zu zeigen, dass die Prämissen des objektivistischen Prozeduralismus inkompatibel oder die daraus gezogenen Schlüsse inkonsistent sind – er bestreitet vielmehr eine seiner Kernprämissen: Die Auffassung nämlich, wonach sich Adäquatheitsbedingungen eines Systems angeben lassen, die eine völlige epistemische Zuverlässigkeit sicherstellen – paradigmatisch formuliert in Rousseaus „précautions […] pour que la volonté générale soit toujours éclairée, et que le peuple ne se trompe point“. Im Ausgang von der Annahme, dass es tatsächlich objektive Standards gemeinwohldienlichen oder gemeinwohlschädlichen Handelns gibt, ist ein System, gleich welcher Art seine Verfahren sind, durch eine solche Vorgabe epistemisch überlastet. Angesichts der Fülle und Komplexität von Themenfeldern, in denen politische Handlungen unter Rekurs auf das Gemeinwohl rationalisiert werden, gibt es keine guten Gründe anzunehmen, dass formale Verfahrenskriterien epistemische Zuverlässigkeit garantieren – und zwar auch dann nicht, wenn sie stets korrekt befolgt werden. Diese Kritik lässt sich durch Rekurs auf den Umstand untermauern, dass es, sieht man von bestimmten logischen Schlussformen ab, keine epistemische Methode gibt, deren Anwendung völlige Zuverlässigkeit verbürgt; warum sich im Falle politischer Entscheidungsprozesse eine Ausnahme finden lassen sollte, erhellt nicht. Der vierte Einwand, der zugleich den Ausgangspunkt der Thematisierung der subjektivistischen Lesart des Prozeduralismus bildet, besagt, dass dem objektivistischen Prozeduralismus eine gravierende normative Fehlrekonstruktion demokratischer Willensbildung unterläuft, insofern er den Interessen der Mitglieder eine rein instrumentelle, nicht aber konstitutive Bedeutung bei der Bestimmung des Gemeinwohls einräumt. Die für diesen Einwand zentrale Frage lässt sich am besten wie folgt stellen: Warum sollte es gerechtfertigt sein, die Interessen aller Mitglieder in den Prozess der Gemeinwohlbestimmung zu inkorporieren? Die Antwort des objektivistischen Prozeduralismus lautet: Weil sie einen epistemischen Wert haben, der für die Bestimmung des Gemeinwohls unabdingbar ist.¹²³ Diese Antwort scheint sich indes mit unserem Grundverständnis demokratischer Prozesse und des Konzepts der Volkssouveränität nicht zu decken – im Ausgang von diesem Verständnis müsste die, weitaus plausiblere, Antwort lauten: Weil es eben die Interessen der Mitglieder sind.

 Genau diese Auffassung vertritt auch Estlund in seiner Reprise des Rousseau’schen Arguments, wenn er schreibt: „One natural hypothesis why we want people’s views taken account of by the process is that we expect people’s views to be intelligent“, Estlund (2008: S. 6).

2.4 Der subjektivistische Prozeduralismus

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Das Proprium demokratischer Volkssouveränität, die Interessen der Mitglieder um ihrer selbst willen als berechtigt anzuerkennen, lässt sich auf Grundlage des objektivistischen Prozeduralismus nicht rekonstruieren, weil Letzterer offenkundig den Unterschied zwischen dem Rechtfertigungsstatus von Meinungen einerseits und Interessen andererseits einebnet. Während Meinungen dadurch gerechtfertigt sind, dass sie in Relation zu Weltzuständen epistemisch adäquat sind, sind Interessen aufgrund von Eigenschaften ihrer Träger gerechtfertigt – im Falle politischer Systeme aufgrund der Eigenschaft, Mitglieder eines souveränen Gemeinwesens zu sein. Genau diese Differenzierung kann der objektivistische Prozeduralismus jedoch nicht vornehmen, weil er den Interessen der Mitglieder eine lediglich epistemisch-instrumentelle Bedeutung bei der Bestimmung des Gemeinwohls beimisst.¹²⁴ Entsprechend ist es, wie Herb in seiner Rousseau-Exegese anmerkt, auch im Grunde falsch, beim Prozess der Gemeinwohlbestimmung im Contrat Social überhaupt von einer Willensbildung zu sprechen, weil Letztere voraussetzte, dass die Interessen der Mitglieder den Inhalt des Gemeinwohles selbst festlegen und nicht lediglich darauf verweisen.¹²⁵ Wenn es nun jedoch unplausibel ist, die Relation zwischen den im System artikulierten Interessen und dem Gemeinwohl als eine epistemisch-instrumentelle zu deuten, weil dies mit dem Konzept der Volkssouveränität grundsätzlich inkompatibel ist, fragt sich, wie diese Relation sonst zu begreifen ist. Die Antwort findet sich in Herbs Anmerkung zum Begriff politischer Willensbildung: Wenn wir den Prozess der Gemeinwohlbestimmung als Willensbildung begreifen, dann müssen wir die Interessen der Gemeinschaftsmitglieder als gemeinwohlkonstitutiv, und das heißt, als Letzterem gegenüber metaphysisch vorgängig begreifen. Diese Auffassung führt indes weg von einer objektivistischen und hin zu einer subjektivistischen Deutung des Prozeduralismus.

2.4 Der subjektivistische Prozeduralismus Die subjektivistische Lesart des Prozeduralismus lässt sich am besten als Antwort auf das Problem des objektivistischen Prozeduralismus lesen, die partizipative Geltendmachung von Interessen bei der Gemeinwohlbestimmung zu rechtfertigen.Während die instrumentell-epistemische Rechtfertigung der objektivistischen Lesart gegenüber unserem normativen Politikverständnis unplausibel ist, weil sie mit dem Prinzip der Volkssouveränität nicht vereinbar ist, trägt der Subjektivismus

 Vgl. hierzu auch Beitz (1989: S. 49).  Vgl. Herb (2000b: S. 175).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

genau diesem Prinzip Rechnung. Indem er das Gemeinwohl über die Interessen der Gemeinschaftsmitglieder definiert, begreift er das Gemeinwohl als Resultat kollektiver Willensbildung – und nicht als Ergebnis eines (lediglich) epistemischen Prozesses. Der moralische Subjektivismus basiert auf der These, dass das ethisch Gute (in diesem Falle das Allgemeinwohl) ausschließlich in der Verwirklichung der aktualen Interessen von Individuen (in diesem Falle der Mitglieder der politischen Gemeinschaft) besteht. Der Begriff des Interesses kennzeichnet eine Klasse bewusster mentaler Zustände bzw. Einstellungen, in denen Individuen etwas wünschen, vorziehen oder erstreben. Alle Zustände dieser Art zeichnen sich durch vier essentielle Merkmale aus: Sie sind intentional, intersubjektiv kommunizierbar, prospektiv, und sie enthalten Wertungen – wobei Letztere zugleich als wertkonstitutiv verstanden werden.¹²⁶ Dass es sich bei Interessen um intentionale Einstellungen handelt, bedeutet, dass diese objektgerichtet sind und die Existenz derjenigen Objekte, auf die sie sich richten, nicht gleichsam logisch implizieren. Der Oberflächengrammatik unserer Alltagssprache zufolge können sich Interessen auf sehr unterschiedliche Objekte richten: auf Gegenstände (‚Ich möchte ein neues Crossbike’), auf Aktivitäten (‚Ich will eine Reise nach Kenia unternehmen’) oder auf Zustände (‚Es ist mir ein dringendes Anliegen, dass die Standards industrieller Massentierhaltung verbessert werden’). Dieses heterogene Spektrum möglicher Objekte lässt sich jedoch homogenisieren, indem man diese zu Sachverhalten umbildet, die in Form von Propositionen ausgedrückt werden.¹²⁷ So ist der Satz ‚Ich will ein neues Fahrrad’ bedeutungsäquivalent mit dem Satz ‚Ich will, dass ich ein neues Fahrrad besitze’, der Satz ‚Ich will eine Reise nach Kenia unternehmen’ mit dem Satz ‚Ich will, dass ich nach Kenia reise’. Ein weiteres Merkmal der alltagssprachlichen Verwendung des Interessenbegriffs ist die häufige Einschränkung der Begriffsextension auf egoistische Anliegen oder Wünsche; dies kommt z. B. im Begriff der ‚Interessenpolitik’ zum Ausdruck, der eine Klasse von Policy-Entscheidungen bezeichnet, die nur dem Wohlergehen einzelner Gesellschaftsgruppen (auch unter bewusster Zurückstellung der Interessen anderer Gruppen) dienen. Im Vergleich hierzu ist der Interessenbegriff des ethischen Subjektivismus, wie er im Prozeduralismus zum Tragen kommt, neutral bzw. weiter gefasst: Er umfasst alle Formen von Wünschen – sowohl egoistische als auch altruistische.¹²⁸

 Vgl. Sumner (1999: S. 122 ff.).  Vgl. Sumner (1999: S. 124).  Vgl. Quante (2008: S. 55).

2.4 Der subjektivistische Prozeduralismus

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Insofern es sich bei Interessen um bewusste mentale und objektgerichtete Zustände handelt, sind diese ihren Trägern empirisch zugänglich und können folglich intersubjektiv in Form propositionaler wahrheitsfähiger Aussagen kommuniziert werden.¹²⁹ Diese Eigenschaft ist Grundlage dafür, dass Individuen ihre Interessen in politischen Systemen als berechtigte Forderungen geltend machen können, beispielsweise durch Wahlen, Demonstrationen, Petitionen, Boykotte etc. Einfach gesagt: Ihre intersubjektive Kommunizierbarkeit qualifiziert Interessen als Input politischer Systeme. Infolge dieser Eigenschaft können geltend gemachte Interessen im politischen System auch von anderen Individuen als unmoralisch, irrational, unbedeutend etc. kritisiert werden. Interessen werden dergestalt zum Gegenstand von Rechtfertigungsforderungen und können entsprechend auch revidiert werden. Die Eigenschaft der Prospektivität von Interessen besteht darin, dass diese immer zukunftsgerichtet sind, d. h. sie beziehen sich immer auf zukünftige Sachverhalte und nicht auf die Gegenwart oder die Vergangenheit. Natürlich kann ich ein Interesse daran haben, dass bestimmte Zustände, wie beispielsweise die finanzielle Unterstützung durch ein Forschungsstipendium, andauern, aber bei der Fortzahlung meiner monatlichen Zuwendung handelt es sich dennoch um ein künftiges Ereignis. Aufgrund ihrer Prospektivität zeichnen sich Interessen durch eine charakteristische epistemische Lücke aus, die sich aus der Differenz zwischen der ex ante Erwartung, dass die Realisierung eines angestrebten Sachverhalts mich (bzw. einen anderen, auf dessen Wohlergehen sich das Interesse richtet) besser stellt, und der ex post Bewertung des realisierten Sachverhalts ergibt. So könnte es z. B. der Fall sein, dass sich meine (wie auch immer gearteten) Erwartungen an das teuer erworbene neue Crossbike nicht erfüllen und ich mir nun wünschte, ich hätte stattdessen ein Auto gekauft. Dass schließlich alle Interessen Wertungen enthalten, bedeutet, dass der Zustand, an dessen Realisierung ein Interesse besteht, von den entsprechenden Individuen als etwas Positives angesehen wird. Die Pointe des Subjektivismus, die sich in der oben genannten Kernthese von der Wertkonstitutivität der Interessen niederschlägt, besteht darin, dass es ausschließlich an der wertenden Einstellung eines Individuums liegt, ob ein Sachverhalt einen positiven oder negativen moralischen Wert hat. Es sind also „ausschließlich die Interessen von Subjekten, aufgrund derer die Welt ethische Eigenschaften oder Wertigkeiten bekommt.“¹³⁰ Dies impliziert, dass der ethische Wert eines Sachverhalts keine von den Ein-

 Entsprechend fallen subjektivistische, genau wie objektivistische Theorien in die Kategorie des moralischen Kognitivismus; vgl. Quante (2008: S. 54 f.) sowie Shafer-Landau (2003: S. 18).  Quante (2008: S. 56).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

stellungen der Individuen ablösbare Tatsache ist; entsprechend ist dem ethischen Subjektivismus zufolge eine Feststellung, wonach ein von allen Gemeinschaftsmitgliedern für gut gehaltener Sachverhalt unethisch sei, sinnlos – der Subjektivismus immunisiert sich aufgrund seiner Prämissen gegen jede ethische Kritik, die die aktualen Einstellungen der Individuen transzendiert.

2.4.1 Souveränitätsprinzip und Verfahrensprinzip Die subjektivistische Fundierung des Prozeduralismus, die die Anbindung des Gemeinwohls an den Prozess kollektiver Willensbildung sicherstellt, kann nun in einem Prinzip zusammengefasst werden, das sich als Souveränitätsprinzip bezeichnen lässt. Souveränitätsprinzip: Die Mitglieder eines Gemeinwesens haben die Deutungshoheit darüber inne, was als das Wohl ihres Gemeinwesens zu gelten habe.

Diese Bestimmung birgt die Gefahr eines Missverständnisses, das leicht auszuräumen ist, aber dennoch thematisiert werden muss, bevor die weitere Funktion des Souveränitätsprinzips bei der Rekonstruktion der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie diskutiert werden kann.¹³¹ So könnte man nämlich annehmen, der Begriff der Deutungshoheit bezeichne ein alleiniges Recht der Mitglieder, das Gemeinwohl auf Grundlage ihrer Interessen zu bestimmen – und zwar unabhängig davon, ob auf diese Weise tatsächlich dem Wohle ihres Gemeinwesens gedient ist oder nicht. Wenn man das Konzept der Deutungshoheit jedoch auf diese Weise begreift, hat man, indem die Möglichkeit eingeräumt wird, dass sich die Mitglieder über das Gemeinwohl irren können, die subjektivistische Prämisse bereits quittiert und einen ethischen Objektivismus, gewissermaßen durch die Hintertür, wieder eingeführt. Es würde sich nur um eine Reformulierung der zurückgewiesenen objektivistischen Position handeln. Stattdessen meint der Ausdruck der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl, dass dieses über die Interessen der Mitglieder allererst definiert ist und Letztere dem Gemeinwohl gegenüber begrifflich und metaphysisch vorgängig sind; was das Wohl eines Gemeinwesens ausmacht, ist demnach das, was die Mitglieder als dessen Wohl

 Auf die Möglichkeit dieses Missverständnisses hat mich dankenswerterweise Philip Pettit in einem Gespräch am Rande seiner Vorträge als Albertus-Magnus-Professor im Jahre 2009 an der Universität zu Köln aufmerksam gemacht.

2.4 Der subjektivistische Prozeduralismus

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ansehen.¹³² Oder anders gesagt: Die Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung ist eine Funktion des jeweiligen Für-gut-Haltens der Mitglieder. Obwohl das Souveränitätsprinzip die normative Grundlage des subjektivistischen Prozeduralismus darstellt, ist es, allein für sich besehen, als Prinzip einer anwendungsbezogenen Theorie prozeduraler Gemeinwohlbestimmung unzureichend bzw. unterbestimmt. Hierfür gibt es einen offenkundigen Grund: Es kann nicht a priori vorausgesetzt werden, dass sich alle Mitglieder immer und unmittelbar darüber einig sind, was dem Wohl ihres Gemeinwesens dient. De facto ist eine solche Annahme sogar sehr unplausibel – angesichts der vielen Sachbereiche, in denen Gemeinwohlbelange relevant sind einerseits, und angesichts des Wertepluralismus moderner Gesellschaften andererseits, ist es realitätsnäher, von Dissensen in dieser Frage auszugehen. Das Souveränitätsprinzip legt lediglich fest, dass die Mitglieder des Gemeinwesens die Deutungshoheit über das Gemeinwohl inne haben, nicht aber wie diese Deutungshoheit realisiert werden soll und wie mit Problemen der Uneinigkeit zu verfahren ist. Um den Prozeduralismus auf Grundlage des Subjektivismus zu rekonstruieren, bedarf es also eines weiteren, spezifizierenden Prinzips, das diese Wie-Frage plausibel beantwortet – hierbei handelt es sich um das Verfahrensprinzip. Verfahrensprinzip: Die Mitglieder des Gemeinwesens üben ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl mittels politischer Verfahren aus, durch die sie ihre Interessen geltend machen können, und die bestimmten normativen Adäquatheitsbedingungen partizipativer Gleichheit und funktionalen Adäquatheitsbedingungen der Effektivität und Effizienz genügen.

Die Grundidee hinter der Einführung dieses Prinzips ist, dass das Postulat der Deutungshoheit durch Prozeduren spezifiziert werden muss, durch die festgelegt ist, wie diese Deutungshoheit in einem realen Gemeinwesen umgesetzt werden soll und wie mit dem Problem von Dissensen bei der Gemeinwohlbestimmung umzugehen ist. Durch die Einführung von Verfahren ergeben sich zwei weitere Fragestellungen, die die subjektivistische Rekonstruktion des Prozeduralismus in ihrer Komplexität erweitern und sich in den oben genannten Adäquatheitsbedingungen für Verfahren niederschlagen: Erstens stellt sich die normative Frage, welche Gewichtung den jeweiligen Interessen der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder bei den Verfahren der Gemeinwohlbestimmung zukommen soll. Zweitens stellt sich die praktische Frage, wie die Verfahren gestaltet sein müssen, damit sie geeignet

 Am deutlichsten ausgedrückt in Richard Furniss’ und Edgar Snyders Introduction to American Foreign Policy: „The national interest is what the nation, i. e., the decision-maker decides it is.“ Furniss & Snyder (1955: S. 5).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

sind, die geltend gemachten Interessen auch durch entsprechende Policies zu implementieren. Die im Verfahrensprinzip niedergelegten normativen Adäquatheitsbedingungen partizipativer Gleichheit (die in dieser Form noch abstrakt und von der konkreten Theorie weiter zu spezifizieren sind) lassen sich in zwei Schritten rechtfertigen: Erstens wird angenommen, dass die Interessen jedes Gemeinschaftsmitglieds bei der Bestimmung des Gemeinwohls in gleichem Maße berücksichtigt werden müssen. Die Unhintergehbarkeit dieser Annahme, die im gleichen moralischen Wert eines jeden Mitglieds gründet, hat Thomas Christiano in Bezug auf die demokratische Gemeinwohlbestimmung mit großer Prägnanz dargelegt: This equality proceeds from the importance of interests as well as the separateness of persons. No one’s good is more important than anyone else’s. No one’s interests matter more than anyone else’s.¹³³

Weil, so die Basisannahme, kein Interesse eines Mitglieds per se ein größeres Gewicht hat als das eines anderen, wäre es illegitim, wenn die Verfahren der Gemeinwohlbestimmung eine ungleiche Berücksichtigung der Interessen vorsähen. Aus dieser Prämisse folgt jedoch keineswegs analytisch der Anspruch auf partizipative Gleichheit aller Mitglieder am Prozess der Gemeinwohlbestimmung. Der Grund ist, dass in aktualen Gemeinwesen einige Mitglieder sowohl politisch besser informiert sind als auch über größere Urteilskraft verfügen als andere, insofern sie z. B. ein besseres Verständnis vom Funktionieren politischer Institutionen haben, eher dazu in der Lage sind, Kosten-Nutzen-Kalkulationen bei der Verfolgung politischer Ziele anzustellen, und zutreffender einschätzen können, welche Interessen überhaupt realisierbar sind. Entsprechend ließe sich argumentieren, dass der gleichen Interessenberücksichtigung am besten dadurch gedient ist, die im obigen Sinne kompetenteren Mitglieder mit der Aufgabe zu betrauen, die Interessen der anderen an deren statt geltend zu machen und zu realisieren. Eine Möglichkeit, ein solches Arrangement umzusetzen, wäre die Einrichtung eines Gremiums politischer Experten mit exklusiven Legislativ- und Exekutivkompetenzen, dem die Aufgabe zukommt, die Interessen der anderen Mitglieder durch bestimmte Sozialtechniken zu antizipieren, abzuwägen und durch geeignete Mittel umzusetzen.¹³⁴ Eine andere Option, die prominent von John Stuart Mill in seiner Schrift On Liberty vertreten wird, ist die ausschließliche

 Christiano (2004: S. 269).  Diese Option wird z. B. von Estlund diskutiert; vgl. Estlund (2008: S. 34).

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Vergabe von Wahlstimmen an Mitglieder, die des Lesens und Schreibens mächtig sind und – innerhalb dieser spezifischen Gruppe – die relative Gewichtung jeder Einzelstimme proportional zum Bildungsgrad des entsprechenden Mitglieds.¹³⁵ Um aus dem Prinzip gleicher Interessenberücksichtigung auch das Prinzip partizipativer Gleichheit abzuleiten, bedarf es also zweitens plausibler Zusatzannahmen bzw. einer begründeten Zurückweisung der Vorzugswürdigkeit einer Expertokratie. Hierfür lassen sich zwei Argumente angeben: Das erste Argument, welches sich mit Christiano anführen lässt, nimmt seinen Ausgang von dem anthropologischen Faktum, dass alle (oder die allermeisten) Gemeinschaftsmitglieder mit einer kognitiven Befangenheit („a cognitive bias“) in Bezug auf ihre eigenen Interessen geschlagen sind: [P]ersons understand their own interests better than the interests of others. And so they tend quite reasonably to interpret the interests of others in the light of their own interests. So each person’s conception of the common good […] will be grounded in conceptions of other people’s interests that assimiliate them to their own.¹³⁶

Das Problem besteht also darin, dass kompetentere Personen, so sie (was ein Expertokrat ohnehin voraussetzen muss) anderen gegenüber benevolent eingestellt sind, dennoch aufgrund eigener Interessen, Einstellungen, Vormeinungen etc. dazu geneigt sind, die Interessen der übrigen Gemeinschaftsmitglieder aus einer spezifischen Perspektive zu interpretieren und dabei Gefahr laufen, sie fehlzurepräsentieren. Um diesen Negativeffekten kognitiver Befangenheit vorzubeugen, muss gewährleistet sein, dass jedes Mitglied dasselbe Recht erhält, seine eigenen Interessen selbst durch Partizipation bei der Gemeinwohlbestimmung geltend zu machen. Das zweite Argument, das von Estlund vorgebracht wird, beruht auf dem Problem der Identifizierung geeigneter Experten.¹³⁷ In pluralistischen Gesellschaften kann nicht nur von diversen Auffassungen vom Gemeinwohl ausgegangen werden, sondern überdies von vielen und einander ausschließenden Auffassungen von politischer Expertise. Selbst wenn es also objektive Kriterien politischer Expertise gäbe, anhand derer sich eine Gruppe von Mitgliedern als hinlänglich kompetent ausweisen ließe (eine Möglichkeit, die Estlund durchaus konzediert), könnte in einem aktualen Gemeinwesen keine Einigung darüber erzielt werden, wie diese Experten identifiziert werden sollten; und somit wäre auch keine stabilitätsgarantierende Anerkennung der Experten seitens aller Mitglieder

 Vgl. Mill ([1859] 1991: S. 331– 334).  Christiano (2001: S. 205).  Vgl. Estlund (2008: S. 40 ff.).

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gegeben. Entsprechend ist die Instituierung einer Expertokratie schlechterdings – weil nicht allseitig zustimmungsfähig – impraktikabel. Nur eine demographisch neutrale Organisationsform, die allen dieselben partizipativen Ansprüche einräumt, ist, so Estlunds Einschätzung, allseitig zustimmungsfähig. Im Vergleich zu den normativen Adäquatheitsbedingungen partizipativer Gleichheit erfordert die Begründung der funktionalen Adäquatheitsbedingungen einen ungleich geringeren argumentativen Aufwand. Offenkundig bemisst sich die Eignung der Verfahren eines gemeinwohlproduzierenden Systems daran, ob sie auch gewährleisten, dass die eingebrachten Interessen der Gemeinschaftsmitglieder nicht im System ‚versickern’ oder von Entscheidungsträgern verfälscht werden, sondern auch tatsächlich durch angemessene Policies umgesetzt werden. Die Verfahren müssen, mit anderen Worten, also effektiv sein. Des Weiteren muss davon ausgegangen werden, dass politische Verfahren in aktualen Systemen unter Bedingungen zeitlicher und materieller Ressourcenknappheit operieren. Dieser Umstand führt zu dem Erfordernis, dass in den Prozeduren, die auf die Realisierung des Gemeinwohls abzielen, die knappen Ressourcen auf optimale Weise genutzt werden, um die geltend gemachten Interessen umzusetzen. Die Prozeduren müssen also außerdem effizient sein.

2.4.2 Vorzüge des subjektivistischen Prozeduralismus als allgemeine Theorie Auf Grundlage der oben genannten Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien lässt sich nun rekonstruieren, warum das Output eines adäquaten politischen Systems (im Sinne des Basismodells des Prozeduralismus aus Kap. 2.1) das Gemeinwohl eines respektiven Gemeinwesens darstellt: Beim Output eines solchen Systems handelt es sich deshalb um das Gemeinwohl,weil dieses die von allen Gemeinschaftsmitgliedern unter gleichen und funktional angemessenen Bedingungen geltend gemachten Interessen repräsentiert, wobei angenommen wird, dass ebendiese Interessen festlegen, was als Wohl des Gemeinwesens zu gelten habe. Das politische System hat in diesem Sinne die Funktion, die subjektivistisch fundierte Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl zu operationalisieren, und entsprechend stellt sein Output das Resultat der Ausübung dieser Deutungshoheit dar. Wie bereits ausgeführt, besteht der entscheidende Vorzug der subjektivistischen Lesart des Prozeduralismus gegenüber seiner objektivistischen Variante darin, dass Erstere das Prinzip der Volkssouveränität ernst nimmt, indem sie politische Verfahren als Instrumente kollektiver Willensbildung rekonstruiert und die Interessen der Gemeinschaftsmitglieder als konstitutiv für deren Wohl begreift. Es lassen sich jedoch zwei weitere Vorzüge identifizieren, die eng mit den ersten beiden gegen den objektivistischen Prozeduralismus angeführten Einwänden zusammenhängen.

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Der erste dieser beiden Vorzüge besteht darin, dass für den subjektivistischen Prozeduralismus – anders als für seine objektivistische Variante – gar nicht erst das Problem auftritt, die Motivationalität des Gemeinwohls erklären zu müssen. Da das Gemeinwohl die unter fairen Bedingungen geltend gemachten Interessen der Gemeinschaftsmitglieder repräsentiert, ergibt sich unmittelbar, warum die Mitglieder durch Gemeinwohlrechtfertigungen (die sie anerkennen) motiviert sein sollten: Indem sie eine dergestalt rationalisierte politische Handlung anerkennen (z. B. indem sie eine entsprechende Gesetzesnorm befolgen), dienen sie einfach ihren eigenen Interessen, welche wiederum unbestreitbar motivationale Impulsgeber sind. Der zweite Vorzug ist, dass es sich bei den Interessen, die infolge des Souveränitätsprinzips als wertkonstitutiv begriffen werden – im Gegensatz zu objektiven moralischen Sachverhalten –, nicht um Entitäten handelt, die einer eigenen metaethischen Plausibilisierung bedürfen: Während unstreitig ist, dass Individuen in der Tat Interessen haben und über einen introspektiven empirischen Zugang zu diesen verfügen, ist in der aktuellen metaethischen Debatte keinesfalls unumstritten, ob es auch objektive moralische Tatsachen gibt und wie diese erkennbar sein sollen (siehe Kap. 2.3.3). Theoretiker, die an der Existenz solcher Tatsachen festhalten wollen, bürden sich – wenn sie an der kausalen Geschlossenheit des natürlichen Systems festhalten wollen – die Beweislast auf, zu zeigen, dass moralische Tatsachen entweder auf natürliche Tatsachen reduzierbar sind oder auf diesen supervenieren; wobei sich auf diese Weise auch das Problem der Erkenntnis solcher Tatsachen lösen ließe. Oder aber sie müssen gute Gründe angeben, aus denen die Geschlossenheitshypothese aufgegeben werden sollte; wobei dann das Problem der Erkennbarkeit der respektiven Tatsachen noch immer offen steht. Die subjektivistische Lesart der prozeduralen Gemeinwohlbestimmung ist also, zusammenfassend gesagt, sowohl anschlussfähiger an unser normatives Grundverständnis hinsichtlich der Berechtigung partizipativer Geltendmachung von Interessen in demokratischen Systemen als auch metaphysisch sparsamer und epistemologisch weniger problematisch. Dieses Zwischenfazit rechtfertigt eine detaillierte Rekonstruktion der in der subjektivistischen Demokratietheorie spezifizierten Adäquatheitsbedingungen – insbesondere der Prozeduren des Geltend-Machens von Interessen – eines als gemeinwohlproduzierend begriffenen politischen Systems und deren argumentative Überprüfung. Bei den beiden zentralen Theorierichtungen, die sich dem subjektivistischen Lager des Prozeduralismus zurechnen lassen, handelt es sich um die aggregative Demokratietheorie und um die deliberative Demokratietheorie. ¹³⁸ Die aggregative Theorie

 Dass es sich bei der aggregativen Demokratietheorie sowie ihrem deliberativen Gegenmodell um die beiden paradigmatischen Theorien der Gemeinwohlbestimmung handelt, ist innerhalb der

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spezifiziert die normativen und funktionalen Adäquatheitsbedingungen des gemeinwohlproduzierenden politischen Systems über die Prozeduren demokratischer Wahlen, welche als Interessen-Aggregationsmechanismen fungieren, und durch das damit verbundene Prinzip politischer Repräsentation durch Experten, welche zu ihren Wählern in einer Agenten-Prinzipal-Beziehung stehen. Die deliberative Theorie wiederum konkretisiert die Adäquatheitsbedingungen über das Erfordernis kommunikativer Gleichheit zwischen Teilnehmern zivilgesellschaftlicher Diskurse, zu denen staatliche Institutionen und Entscheidungsträger in einem Verhältnis passiver Exklusivität stehen. Beide Theorien sollen im Folgenden in Hinblick auf die Prozeduren der Gemeinwohlbestimmung dargestellt und auf ihre Plausibilität hin überprüft werden.

2.4.3 Das Gemeinwohl in der aggregativen Demokratietheorie Das Wohl eines Gemeinwesens besteht nach Auffassung der aggregativen Demokratietheorie in der Aggregation der individuellen und politisch gleichberechtigten Interessen der Gemeinschaftsmitglieder.¹³⁹ Den für diese Theorierichtung zentralen Aggregationsmechanismus bildet die turnusmäßige Wahl von Repräsentanten in ein legislatives Gremium, d. h. ein Parlament, dem wiederum die Aufgabe obliegt, die Interessen seiner Wähler durch Gesetzgebung zu konkretisieren und zu implementieren.¹⁴⁰ Durch ihren Fokus auf die allgemeine Wahl von Gesetzgebern als Kernmechanismus zur Ausübung von Volkssouveränität trägt die aggregative Theorie einer weithin geteilten und durch historisch bewährte politische Praxis etablierten Grundintuition Rechnung, die Fabienne Peter in Democratic Legitimacy wie folgt zusammenfasst: „In the intuitive understanding

zeitgenössischen normativen Staatstheorie weithin anerkannt, vgl. Shapiro (2003: S. 10) sowie Peter (2009: S. 7– 43).  Diese Definition ist am klarsten herausgestellt worden von Mackie (2003: S. 4; S. 191),vgl. auch Seubert (2004: S. 104 f.). Die Frage nach den spezifischen normativen und funktionalen Adäquatheitsbedingungen des politischen Systems in der aggregativen Demokratietheorie findet ihre überzeugendste Bearbeitung in den Arbeiten Thomas Christianos (1996) und Steffen Ganghofs (2005a,b; mit Christian Stecker 2008). Entsprechend werde ich mich in meiner Darstellung vor allem an letzteren Autoren orientieren.  G. Bingham Powell hat die Annahme der aggregativen Demokratietheorie über die Zentralität demokratischer Wahlen für die prozedurale Gleichberechtigung aller Interessen im Prozess kollektiver Entscheidungsfindung wie folgt auf den Punkt gebracht: „the presence of competitive elections, more than any other feature, identifies a contemporary nation-state as a democratic political system“, Powell (2000: S. 4); meine Hervorhebung.

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of many, democracy is foremost about voting.“¹⁴¹ Der aggregative Ansatz entfaltet ebendiese Intuition zu einer ausgearbeiteten Theorie. Die prozedurale Gemeinwohlbestimmung erfolgt, wie sich mit Steffen Ganghof konkretisieren lässt, insgesamt in einem zweistufigen demokratischen Prozess: ¹⁴² Die erste Stufe bildet die Wahl von Repräsentanten bzw. Parteien, die „bestimmte Bündel von und Gewichtungen zwischen unterschiedlichen Zielen“¹⁴³ vertreten und miteinander in Konkurrenz um Wählerstimmen treten. Indem die Gemeinschaftsmitglieder Repräsentanten – und mit ihnen die entsprechenden Zielbündel – wählen, üben sie mittelbar ihre souveräne „Macht zur Definition der Themenagenda“ und damit ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl aus.¹⁴⁴ Das Argument der aggregativen Demokratietheorie, demzufolge die Repräsentantenwahl der direkten Abstimmung aller Mitglieder über einzelne Sachfragen vorzuziehen ist, fußt auf der Notwendigkeit von Arbeitsteilung in Fragen politischer Entscheidungsfindung in modernen Flächenstaaten: Bürger verfügen weder über die erforderliche Zeit und politische Expertise, um Zielbündel und deren häufig hoch komplexe Gewichtungen zusammenzustellen, noch um diese durch konkrete Gesetzesnormen unter Berücksichtigung aktueller politischer Gegebenheiten zu implementieren. Folglich ist die Bestimmung von Repräsentanten, die als politische Experten mit der Realisierung von Wählerinteressen befasst sind, ein praktisches Erfordernis.¹⁴⁵ Die zweite Phase der Gemeinwohlbestimmung bildet nach diesem Modell nun die Abstimmung und/oder Verhandlung der Repräsentanten darüber, wie diese Ziele durch Gesetze umgesetzt und in Koordination mit der politischen Administration implementiert werden sollen. Das Output dieser Gesetzgebungsverfahren stellt in toto die Realisation des Gemeinwohles dar. Da der zentrale Ort prozeduraler Gemeinwohlbestimmung nach der aggregativen Demokratietheorie die demokratische Wahl ist, konkretisiert sich die politische Gleichberechtigung der Mitglieder maßgeblich durch ihre numerische Ressourcengleichheit bei der Auswahl von Repräsentanten.¹⁴⁶ Dies bedeutet, zuerst und vor allem, dass jedem Mitglied, bei dem es sich um eine erwachsene Person handelt, eine Wählerstimme zukommt, um seine Interessen in Konkurrenz zu anderen Interessen geltend zu machen, und dass jede Wählerstimme gleich-

     

Peter (2009: S. 7). Vgl. Ganghof (2005a). Ebd.: S. 751. Ebd. Vgl. Christiano (1996: S. 199 f.) und Strøm (2000: S. 266 f.). Vgl. Christiano (1996: S. 207).

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gewichtet ist.¹⁴⁷ So ist sichergestellt, dass alle Mitglieder dieselbe Macht haben, um Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung zu nehmen, insofern jede Stimme denselben Widerstand, nämlich die Stimmen der je anderen, überwinden muss.¹⁴⁸ Diese Adäquatheitsbedingung muss nach Auffassung der meisten Vertreter der aggregativen Demokratietheorie, die politische Gleichheit zum Hauptkriterium prozeduraler Fairness erheben, durch eine Kombination aus elektoralem Proporzprinzip und legislativem Mehrheitsprinzip komplementiert werden.¹⁴⁹ Das elektorale Proporzprinzip besagt in nuce, „dass der Anteil der Abgeordneten, die ein bestimmtes Bündel an politischen Zielen vertreten, so weit wie möglich dem Anteil ihrer Anhänger in der Wählerschaft entspricht“, so dass Wählerminderheit und -mehrheit proportional gleichberechtigt repräsentiert sind.¹⁵⁰ Dieses Kriterium wird durch ein, z. B. in Deutschland, Italien und Österreich geltendes Verhältniswahlrecht erfüllt, nach dem die Mandatsvergabe (d. h. die Zuteilung von Parlamentssitzen) proportional zu dem Stimmenanteil der Kandidaten bzw. Parteien in den entsprechenden Wahlkreisen erfolgt, was wiederum die Bildung eines Mehrparteiensystems befördert. Dem entgegen steht das, in sogenannten ‚Westminster-Demokratien’ wie den USA oder England geltende, Mehrheitswahlrecht, demzufolge die Mandatsvergabe nur davon abhängt, dass ein Kandidat die Mehrheit der Stimmen in einem Wahlkreis auf sich vereinigt (‚winner-takes-it-allPrinzip’), was die Bildung eines Zweiparteiensystems begünstigt.¹⁵¹ Das Argument, aus dem die politische Gleichberechtigung der Gemeinschaftsmitglieder nur durch ein elektorales Proporz-, nicht aber Mehrheitsprinzip gewährleistet wird, besagt, dass Letzteres im Gegensatz zu Ersterem das formale Kriterium der Wähleranonymität verletzt und somit deren Gleichheit bei der Verteilung von Abstimmungsmacht unterminiert. Die Anonymität einer Abstimmung ist dieser Argumentation zufolge nur dann gewährleistet, wenn die Abstimmungsergebnisse auch bei einem Austausch der Wahlpräferenzen zwischen Individuen unverändert blieben. Dass genau diese Adäquatheitsbedingung bei der Anwendung des elektoralen Mehrheitsprinzips verletzt wird, lässt sich an fol-

 Durch die Spezifizierung ‚erwachsene Person’ sind sowohl Kinder als auch geistig schwerstbehinderte Menschen (z. B. hochgradig demente oder komatöse Menschen) ausgeschlossen.  Vgl. Beitz (1989: S. 133).  Vgl. u. a. Christiano (1996), Gosepath (2004), Ganghof (2005a), Ganghof & Stecker (2008), van der Hout & McGann (2009).  Ganghof & Stecker (2008: S. 216 f.).  Vgl. Duverger (1959: S. 217).

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gendem Beispiel veranschaulichen:¹⁵² Nehmen wir an, es gibt zu einem kontroversen Thema zwei Gesetzesvorschläge – x und y – und drei Wahlkreise mit jeweils fünf Wahlbürgern Bi. In jedem Wahlkreis treten zwei Kandidaten an, von denen einer für x und der andere für y Stellung bezieht. Nehmen wir nun an, dass für die Wahl des dreiköpfigen Parlaments das elektorale Mehrheitsprinzip gilt.Wenn nun die Bürger B1-B3 (in Wahlkreis 1), B6-B8 (in Wahlkreis 2) und B11 (in Wahlkreis 3) für x und die entsprechenden Kandidaten stimmen (während B4, B5, B9, B10 und B12– 15 für y votieren), werden die Kandidaten, die x befürworten, Mehrheiten in den Wahlkreisen 1 und 2 erhalten, somit die Mehrheit im Parlament stellen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung für sich entscheiden; und dies trotz der Tatsache, dass eine Mehrheit von 8 von 15 Bürgern y bevorzugt hätte. Dass durch dieses Verfahren das Anonymitätskriterium verletzt ist, zeigt sich, wenn man nun annimmt, dass B1 und B12 ihre Wählerpräferenzen tauschten, so dass B1 für y stimmt und B12 für x. In diesem Falle würden die Befürworter von y die Mehrheit erringen. Da nach diesem Verfahren der Austausch von Wahlpräferenzen zu einem je unterschiedlichen Ergebnis führt, kann das elektorale Mehrheitsprinzip die Gewährleistung der Wähleranonymität nicht verbürgen. Das elektorale Proporzprinzip bildet indes die relative Stärke der Anhänger von x und y im Parlament perfekt ab. Das legislative Mehrheitsprinzip besagt, hieran anschließend, dass die so konstituierte parlamentarische Mehrheit die Gesetzgebung bestimmt. Durch dieses Verfahren wird die politische Gleichheit der von den Wählern bestellten Repräsentanten dergestalt gewährleistet, dass ihr Abstimmungsverfahren neutral verläuft und das Ergebnis nicht ex ante zu Gunsten einer bestimmten Alternative verzerrt ist. Dies lässt sich beispielhaft im Vergleich mit dem legislativen Einstimmigkeitsprinzip, wie es in Bezug auf zahlreiche Politikfelder z. B. im Rat der EU in Kraft ist, zeigen:¹⁵³ Während in einer Gruppe von fünf Repräsentanten, die mit der Entscheidung befasst sind, ob ein neues Gesetz x erlassen oder y, der Status quo, beibehalten werden soll, ein Votum von drei Stimmen genügt, damit x erlassen wird, macht es die Einstimmigkeitsregel erforderlich, dass alle für x votieren. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Stimme für y (bzw. gegen x) genügt, um x zu verhindern, wodurch den Gegnern des neuen Gesetzesbeschlusses erheblich mehr Macht eingeräumt ist als seinen Befürworten. Anders als das Mehrheitsprinzip, welches jedem Befürworter und jedem Gegner eines neuen Gesetzesbeschlusses gleichviel Macht über die Entscheidung einräumt, ob das  Vgl. Ganghof & Stecker (2008: S. 217 f.).  Vgl. Christiano (1996: S. 88) sowie McGann (2006: S. 94). Die gleiche Kritik lässt sich, wie Ganghof & Stecker (2008: S. 218) zeigen, auch gegen supermajoritäre Entscheidungsregeln anführen.

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Gesetz erlassen wird, bevorzugt das Einstimmigkeitsprinzip Anhänger des Status quo und verletzt dergestalt das Grunderfordernis der Ressourcengleichheit. Ob die politische Ressourcengleichheit der Mitglieder in Abstimmungs- und Verhandlungsprozessen, wie sie die oben genannten drei Adäquatheitsbedingungen sicherstellen, ausreicht, um auch eine faktische Gleichberechtigung der unterschiedlichen Interessen zu garantieren, hängt, wie Ganghof konzediert, „auch von den gesellschaftlichen Bedingungen ab“.¹⁵⁴ Ressourcengleichheit und politische Gleichberechtigung koinzidieren vor allem in ethnisch und religiös weitgehend homogenen Gesellschaften; zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die eine graduelle Ungleichverteilung politischer Ressourcen jedoch geradehin erfordern, um faktische Gleichberechtigung zu gewährleisten, zählt vor allem die Existenz struktureller – und das bedeutet in der Regel salienter ethnischer oder religiöser – Minderheiten. Um zu verhindern, dass derartige Gesellschaftsgruppen, die keine Aussicht darauf haben, selbst die gesetzgebende Mehrheit zu stellen, durch Mehrheitsentscheidungen in ihren vitalen Interessen verletzt werden, ist es erforderlich, so die Argumentation, diese mit Vetomacht auszustatten. Hierbei wird unterschieden zwischen intra- und extraparlamentarischer Vetomacht:¹⁵⁵ Intraparlamentarische Vetomacht besteht in supermajoritären Entscheidungsregeln (z. B. 2/3-Mehrheitsquoren), die bei Minderheiteninteressen betreffenden Sachbereichen zum Tragen kommen und es deren Repräsentanten ermöglichen, Gesetzesinitiativen zu blockieren. Extraparlamentarische Vetomacht besteht einerseits in der judikativen Kontrolle seitens der Verfassungsgerichtsbarkeit, die von Minderheiten angerufen werden kann, wenn diese ihre Vitalinteressen durch Mehrheitsentscheidungen tangiert sehen; und andererseits in der Etablierung einer dezentralisierten Föderalstruktur mit starkem Bikameralismus, die es regional zentrierten Minderheiten erlaubt, in zahlreichen Politikbereichen regional-autonome Gesetzgebung zu betreiben und Gesetze, die eine Zustimmung der zweiten Kammer erfordern, zu blockieren oder in Verhandlungen zu modifizieren. Jenseits der Frage, durch welches Verhältnis zwischen politischer Ressourcengleichheit einerseits und Minderheitenschutz durch Vetomacht andererseits faktische Interessengleichberechtigung zu realisieren ist (ein Problem, das nach einhelliger Meinung ohnehin nur einzelfallspezifisch geklärt werden kann),¹⁵⁶ wirft das Modell der aggregativen Demokratietheorie eine Frage auf, die nicht mehr in den Bereich politischer Gleichberechtigung fällt, sondern die funktionale

 Ganghof (2005a: S. 758).  Vgl. Ganghof (2005b: 13 ff.).  Für eine Vertiefung dieses Themas vgl. Wolf (2006).

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Adäquatheit politischer Repräsentation betrifft: Insofern die Theorie auf der Prämisse beruht, dass die Bürger die Deutungshoheit über das Gemeinwohl haben – allerdings unter der Einschränkung, dass sie diese mittelbar über Wahlen ausüben –, fragt sich, wie gewährleistet werden kann, dass es tatsächlich die Interessen der Wähler sind, die im Prozess der Gemeinwohlbestimmung zur Geltung kommen. Aus dieser Problemstellung erwachsen zwei Erfordernisse: erstens an die Beziehung zwischen Wählervotum und Regierungsbildung, zweitens an die Beziehung zwischen Wählern und Repräsentanten. Das erste Erfordernis hat G. Bingham Powell in seiner Monographie Elections as Instruments of Democracy mit großer Klarheit auf den Punkt gebracht: „First, it must be possible for the voters to be able to identify future governments at the time of election. […] there should be good reason for the voters to anticipate a tight connection between a vote for a party or team of parties and the government subsequently formed“.

Wenn die Wähler nämlich zur berechtigten Auffassung gelangen, dass die Formierung von Regierungsmehrheiten vollkommen unabhängig von Veränderungen in ihrem eigenen Wahlverhalten ist, weil die Formierung unnachvollziehbar komplex abläuft, haben sie keinen Grund, überhaupt ihre Stimme einzusetzen, um Einfluss auf künftige Gesetzgebungsprozesse zu nehmen; die politische Ressource der Wählerstimme würde wertlos. Dieses Kriterium macht offenkundig die Revision bzw. Spezifizierung der oben angeführten Adäquatheitsbedingung des elektoralen Proporzprinzips nötig: Wenn stabile parlamentarische Mehrheiten gewährleistet und der völligen Fragmentierung des Parlaments vorgebeugt werden soll – und dies ist die einzige Möglichkeit, um die geforderte Verbindung zwischen Wählervotum und Regierungsbildung sicherzustellen –, bedarf es einer prozeduralen Hürde, die den Einzug von Parteien ins Parlament regelt und beschränkt. Hierbei handelt es sich um sogenannte ‚Sperrklauseln’ (oder ‚Prozenthürden‘), die die Teilnahme von Parteien an der Mandatsvergabe von der Auflage abhängig machen, eine bestimmte prozentuale Anzahl von Stimmen oder Direktmandaten zu erreichen. Die Höhe dieser Sperrklauseln, die in allen politischen Systemen, die über Verhältniswahlsysteme verfügen, in Kraft sind, schwankt indes zwischen 0,67 % und 15 %, wobei 5 % der geläufigste Wert ist.¹⁵⁷ Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Instituierung einer Sperrklausel in Systemen mit elektoralem Proporzprinzip der Versuch eines Kompromisses zwischen dem Ideal perfekter Repräsentation und der damit einhergehenden Wäh-

 Vgl. Nohlen (2000: S. 102 ff.).

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leranonymität einerseits und der Voraussehbarkeit und Stabilität von Regierungsmehrheiten andererseits ist.¹⁵⁸ Das zweite Erfordernis ergibt sich aus dem potentiellen Spannungsverhältnis zwischen dem Souveränitätsprinzip (also der Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl) einerseits und dem Status politischer Repräsentanten als autonome Personen mit eigenen und sich möglicherweise von denen der Wähler unterscheidenden Zielen andererseits. Das Souveränitätsprinzip macht es nach Christiano erforderlich, das Verhältnis zwischen Repräsentant und Wähler im Sinne einer Autoritätsbeziehung zu bestimmen, in which one [der Wähler] has legitimate authority and the other [der Repräsentant] must carry out the authoritative directives of the other.The second does not have discretion to make her own choice, and if she disagrees […] she must still comply.¹⁵⁹

Wenn diese Autoritätsbeziehung, die in der Demokratietheorie als „PrinzipalAgenten-Beziehung“ oder als „Delegationsbeziehung“ bezeichnet wird,¹⁶⁰ nicht bestünde und die Repräsentanten frei neue politische Ziele festlegen könnten, ginge die Definitionsmacht über das Gemeinwohl faktisch an die Repräsentanten über und das Prinzip der Volkssouveränität wäre aufgehoben.¹⁶¹ Dieses Erfordernis der Prinzipal-Agenten-Beziehung ist in einem politischen System dann erfüllt, wenn die Repräsentanten nach ihrer Wahl genau diejenigen Politikziele, für die sie gewählt worden sind, auch bis zur nächsten Wahl verfolgen und nicht durch andere, neue Ziele ersetzen.¹⁶² Die praktische Herausforderung,

 Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass gerade eben die Formierung stabiler Mehrheiten und die damit einhergehende klare Zuordnung politischer Verantwortung von Repräsentanten das entscheidende Argument darstellen, mit dem sich Anhänger von ‚Westminster-Demokratien’ gegen das elektorale Proporzprinzip richten und an seiner statt das elektorale Mehrheitsprinzip vertreten. Diese Debatte kann an dieser Stelle allerdings nicht vertieft werden; vgl. jedoch Powell (2000).  Christiano (1996: S. 216).  Vgl. Ganghof & Stecker (2008: S. 228).  Kaare Strøm hat diese Verknüpfung zwischen dem Souveränitätsprinzip und der autoritativen Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen Wähler und Repräsentant in folgender Formel treffend zusammengefasst: „Democracy as popular sovereignty means that citizens are the ultimate principal“, Strøm (2000: S. 267).  Auf dieser Grundlage ist, streng genommen, auch die Freistellung von Repräsentanten vom Fraktionszwang bei Abstimmungen über besondere, ethisch kontroverse Sachfragen (paradigmatisch hierfür ist z. B. die aktuelle Debatte über ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik) unzulässig. Die einzige Möglichkeit, die einem Repräsentanten verbleibt,wenn er die Abstimmung mit seiner Fraktion nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, ist somit der Rücktritt. Vgl. Ganghof & Stecker (2008: S. 219).

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die sich an dieser Stelle jedoch stellt, ist, dass parlamentarische Demokratien sich durch eine lange Delegationskette auszeichnen, die sich von den Wählern (den eigentlichen Prinzipalen) über das Parlament und die Regierung bis zu den Verwaltungsbeamten, die Gesetze in Koordination mit der Regierung implementieren, erstreckt. Dies hat zweierlei Folgen: Zum einen ist diese lange Kette anfällig für sogenannte Delegationsverluste, also für die Abweichung von den Zielen des Prinzipals innerhalb des politischen Prozesses, weil bereits das Ausscheren eines Glieds nicht mehr durch die nachfolgenden Glieder ausgeglichen werden kann;¹⁶³ zum anderen sind die Handlungsabläufe innerhalb der Delegationskette häufig komplex und für die Bürger intransparent. Um die Einhaltung der autoritativen Bindung zwischen Wählern und Repräsentanten auch zu gewährleisten (oder weniger abstrakt: um sicherzustellen, dass die Regierung auch ‚liefert‘, was sie versprochen hat),¹⁶⁴ sieht die aggregative Demokratietheorie eine Reihe von Kontrollinstrumenten vor. Das zentrale Kontrollinstrument stellt die turnusmäßige Wahl selbst dar: Sie erlaubt es den Wählern, Repräsentanten aus der Regierung zu entfernen, wenn sie nach deren Einschätzung nicht die Zielbündel verfolgt haben, für die sie angetreten sind oder aber zu deren Realisierung ineffektive und/oder ineffiziente Mittel ergriffen haben. Da davon ausgegangen werden kann, dass alle politischen Parteien nach der politischen Mehrheit bzw. nach der Regierungsmacht streben, dient die Drohung der Abwahl zugleich auch als Anreiz an die Repräsentanten, nach der Wahl ihre Versprechen zu halten. Insofern es für die Wirksamkeit dieses Kontrollinstruments jedoch notwendig ist, dass die Wähler auch über Fehlleistungen angemessen informiert sind, um eine kompetente Wahl treffen zu können, kommt an dieser Stelle der parlamentarischen Minderheit (also der Opposition) eine Schlüsselrolle zu: Die Opposition „acts as a critic of the party in power, developing, defining the policy alternatives which is necessary for a true choice in public decisions.“¹⁶⁵ Diese Informations- und Kontrollfunktion der Opposition, die weitestgehend durch parlamentarische Debatten ausgeübt wird, wird ergänzt durch die Möglichkeit, Untersuchungsausschüsse einzurichten, Regierungsdokumente anzu-

 Vgl. Ganghof & Stecker (2008: S. 229). Hinsichtlich des Problems von Delegationsverlusten wird in der Politikwissenschaft zwischen denjenigen Fällen unterschieden, in denen es Repräsentanten verabsäumen, die Interessen ihrer Wähler umzusetzen („shirking“), und denjenigen, in denen Repräsentanten aktiv Handlungen ausführen, die den Interessen ihrer Wähler zuwiderlaufen („commission“); vgl. Strøm (2000: S. 270 f.).  Vgl. Müller (2000: S. 314).  Diese Beschreibung der Kontroll- und Informationsfunktion der parlamentarischen Opposition ist paradigmatisch formuliert worden in Ranney (1962: S. 9).

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fordern, Anhörungen durchzuführen oder, in Extremfällen, das Verfassungsgericht anzurufen, um so auch ex post Entscheidungen von Agenten zu annullieren. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die genannten Kontrollfunktionen insgesamt dann am leistungsfähigsten sind, wenn im politischen System nur zwei Parteien konkurrieren – entsprechend also ein elektorales Mehrheitsprinzip in Anwendung ist – und eine von ihnen vom Wähler mit fast unbeschränkter Regierungsgewalt betraut wird; in diesem Falle sind keine Koalitionsverhandlungen über Politikziele und deren Gewichtung erforderlich, und die Verantwortung für Gesetzgebung und Policies ist genau einer Gruppe politischer Repräsentanten zuzuordnen. Im Vergleich dazu haben die Partner in einer Regierungskoalition, welche in politischen Systemen mit elektoralem Proporzsystem die Regelerscheinung parlamentarischer Mehrheitsbildung ist, die Möglichkeit, die Verantwortung für die Nichtverfolgung versprochener Politikziele auf den Koalitionspartner bzw. auf die schwierigen Verhandlungen ‚abzuwälzen’. Die Intransparenz solcher Verhandlungsprozesse macht es den Wählern wiederum schwer, politische Verantwortung eindeutig zuzuordnen. Der höhere Grad an Delegationskontrolle in majoritären Wahlsystemen, den beispielsweise Ganghof durchaus konzediert, ist nach seiner Einschätzung jedoch durch die „künstlichen Mehrheiten“, die letztere Systeme unter Missachtung des Kriteriums der Wähleranonymität produzieren, zu teuer erkauft; die Gewährleistung politischer Gleichheit, so die These, rechtfertigt bestimmte Abstriche bei der Delegationskontrolle.¹⁶⁶ Wenn man nun die in der aggregativen Demokratietheorie ausgeführten Merkmale des demokratischen Gemeinwesens zusammenfasst, lassen sich – im Sinne des prozeduralistischen Basismodells aus Kapitel 2.1 – die Adäquatheitsbedingungen eines gemeinwohlproduzierenden Systems wie folgt spezifizieren: Ausgehend von der These, dass das Gemeinwohl in den durch die Wahl eines repräsentativen Legislativgremiums aggregierten Individualinteressen der Mitglieder besteht, beruht die normative Adäquatheit des Systems maßgeblich auf der strikten numerischen Ressourcengleichheit aller Mitglieder zum Zwecke ihrer Interessendurchsetzung bei der Bestimmung kollektiv verbindlicher Entscheidungen; eine Einschränkung erfährt diese strikte Ressourcengleichverteilung nur im Falle der Existenz struktureller Minderheiten. Die funktionale Adäquatheit des Systems, d. h. seine Responsivität gegenüber den geltend gemachten Interessen,

 Allerdings ist hier eine gewisse argumentative Verschiebung zwischen Ganghof (2005a,b) einerseits und Ganghof & Stecker (2008) andererseits festzustellen: Während in den beiden früheren Publikationen dem Erfordernis politischer Gleichheit zwischen den Wahlbürgern ein klarer Vorrang eingeräumt wird, ist die Frage nach dem angemessenen Verhältnis zwischen politischer Gleichheit einerseits und Kontrolle andererseits in der späteren Publikation als Zielkonflikt mit offenem Ausgang beschrieben.

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besteht wiederum in der Gewährleistung einer autoritativen Prinzipal-AgentenBeziehung zwischen Wählern und Repräsentanten durch politische Kontrollmechanismen, deren bedeutendstes die turnusmäßige Wahl (oder Abwahl) der Regierung ist. Dass zwischen der Gewährleistung normativer und funktionaler Adäquatheit ein potentielles Spannungsverhältnis besteht, wird von den Theorievertretern dabei durchaus zugestanden.

2.4.4 Kritik an der aggregativen Demokratietheorie Die aggregative Demokratietheorie galt bis in die frühen 1990er Jahre hinein als die paradigmatische Theorie demokratischer Legitimität und – mit ihrem Fokus auf die Interessen-Aggregationsmechanismen des Wählens und der politischen Repräsentation – als angemessene Rekonstruktion des politischen Selbstverständnisses demokratischer Gesellschaften.¹⁶⁷ Seitdem ist sie jedoch, sowohl von Seiten der politischen Philosophie als auch der (empirischen) Politikwissenschaft, unter erheblichen Druck geraten. In diesem Zusammenhang lässt sich zwischen zwei kritischen Argumentationslinien unterscheiden: Prinzipielle Gegenargumente ziehen die Plausibilität der normativen Prämissen des aggregativen Modells und die Angemessenheit des ihm zugrunde liegenden Verständnisses demokratischer Partizipation selbst in Zweifel; praktische Gegenargumente besagen hingegen, dass der aggregative Ansatz als Anwendungstheorie scheitert, insofern die in ihm spezifizierten prozeduralen Bestimmungen des politischen Systems die normativen Vorgaben der eigenen Theorie nicht erfüllen. Im Folgenden werde ich beide Argumentationslinien kurz skizzieren. In die erste Argumentationslinie fällt maßgeblich die Kritik, dass sich nach der aggregativen Demokratietheorie die normative Adäquatheit eines Systems in der Gewährleistung eines fairen Aggregationsmechanismus individueller Interessen erschöpft und dabei – fälschlicherweise – der moralische Rechtfertigungsstatus der geltend gemachten Interessen außer Acht gelassen wird:Weil sie die Interessen der Mitglieder einfach ‚als gegeben’ auffasst, nimmt die aggregative Theorie in Kauf, dass vorurteilsbehaftete (z. B. rassistische oder religiös-fundamentalistische) Interessen oder egoistische Interessen ökonomisch besser gestellter Gemeinschaftsmitglieder die gleichen Einflusschancen erhalten wie wohlinformierte und unter Berücksichtigung der Anliegen anderer Gemeinschaftsmitglieder formierte Interessen. Das Fehlen einer Rechtfertigungshürde für das Geltendmachen

 Vgl. Dryzek (2000: S. 5).

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von Interessen im politischen Prozess hat, wie Gutman und Thompson konstatieren, fatale Konsequenzen für die Qualität des Systemoutputs: By taking existing […] preferences as given, as the baseline for collective decisions, the aggregative conception fundamentally accepts and may even reinforce existing distributions of power in society.¹⁶⁸

Die einzige Möglichkeit für die aggregative Demokratietheorie, um die Einflussnahme offenkundig rassistischer oder fundamentalistischer Interessen auf den politischen Prozess zu verhindern, besteht darin, entsprechende Parteien durch Verbote aus dem Wettbewerb auszuschließen – eine Strategie, wie sie u. a. in Deutschland verfolgt wurde.¹⁶⁹ Der zweite Einwand, der in die Kategorie prinzipieller Gegenargumente fällt, besagt, dass die mittelbare Teilhabe der Bürger am Prozess der Gemeinwohlbestimmung durch die Wahl eines Legislativgremiums dem Souveränitätsprinzip nur unzureichend Rechnung trägt: Insofern die Gemeinschaftsmitglieder lediglich zwischen präformierten Zielbündeln (bzw. zwischen den Parteien, die diese Zielbündel vertreten) wählen, gestalten sie das Gemeinwohl de facto überhaupt nicht selbst, sondern votieren nur für bestimmte politische Experten, die das Gemeinwohl an ihrer statt gestalten;¹⁷⁰ die tatsächliche Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder wäre nur gewährleistet, wenn diese auch die entsprechenden Politikziele selbst festlegen könnten.¹⁷¹ Was diese Kritik im Kern bestreitet, ist die Zulässigkeit (und Notwendigkeit) der in der aggregativen Demokratietheorie vorgesehenen strikten politischen Arbeitsteilung zwischen

 Gutman & Thompson (2004: S. 16). In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass diese Kritik nicht gleichsam eine Festlegung auf prozedurtranszendente Kriterien im Sinne des bereits zurückgewiesenen objektivistischen Prozeduralismus impliziert. Sie besagt im Kern zunächst einmal nur, dass Interessen, um als gemeinwohlkonstitutiv anerkannt zu werden, auch einer Rechtfertigung gegenüber den Mitgliedern des Gemeinwesens bedürfen, dessen Wohl in Frage steht. Vgl. hierzu Gutman & Thompson (2004: S. 24 ff.).  So z. B. durch die Verbote der Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahre 1952 und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahre 1956 durch das Bundesverfassungsgericht.  Diese Kritik findet sich beispielsweise bei Dryzek (2000: S. 19).  Die diesem Einwand zugrunde liegende konkrete qualitative Unterscheidung zwischen ‚bloßer Wahlfreiheit zwischen präformierten Politikzielen’ und ‚tatsächlicher Gestaltungsautonomie’ lässt sich letzten Endes zurückführen auf die abstrakte hegelsche Differenzierung zwischen dem nur „für sich freien Willen“, dessen Autonomie sich in der Wahl zwischen „äußerlich gegeben“, d. h. nicht vom wollenden Subjekt selbst hervorgebrachten, Inhalten erschöpft; und dem „an und für sich freien Willen“, welcher seine Wollensinhalte selbst hervorbringt. Vgl. Hegel ([1820] 1995: §§15 – 23).

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Bürgern, qua Wähler, und Repräsentanten, qua politische Experten. Damit tatsächliche Volkssouveränität gewährleistet werden kann, so die Kritik, muss die exklusive Zuständigkeit politischer Experten für die Bestimmung und Realisierung politischer Ziele zugunsten einer erweiterten Partizipation aufgehoben werden. Der zentrale praktische Einwand, der gegen die aggregative Demokratietheorie vorgebracht wird, richtet sich wiederum gegen die These, dass durch die Gewährleistung numerischer Ressourcengleichheit (eine Stimme pro Wähler; Anonymität der Wahl und Neutralität der Abstimmungsverfahren) in Kombination mit den genannten Kontrollmechanismen des politischen Systems eine Chancengleichheit bei der Einflussnahme auf die Gemeinwohlbestimmung sichergestellt ist. Diese Chancengleichheit wird in realen parlamentarischen Demokratien durch die Tatsache unterminiert, „dass bestimmte Großverbände, vor allem im wirtschaftlichen […] Bereich, über einen privilegierten Zugang zum Parlament verfügen“.¹⁷² Der von Christiano so prägnant formulierten Forderung, „that each person ought to have an equal say“,¹⁷³ steht in der politischen Realität eine Vielzahl sogenannter „pressure instruments“ gegenüber, die es (wirtschaftlichen) Lobby-Gruppen erlauben, jenseits von Wahlen exklusiven Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen. Zu diesen Instrumenten zählen u. a.: förmliche Kontakte zwischen Verbänden und ‚nahestehenden’ Abgeordneten im Rahmen von Arbeitskreisen, Abgeordnetensprechstunden, Enquête-Kommissionen sowie öffentliche oder nicht-öffentliche Anhörungen von Interessenvertretern durch Parlamentsausschüsse. Wie groß der dergestalt ausgeübte Einfluss von Interessengruppen auf die Legislation ist, zeigt sich einerseits daran, dass z. B. im deutschen Bundestag inzwischen nahezu jede Gesetzesvorlage den zuständigen Ausschuss erst nach vorgängiger Anhörung durch entsprechende Interessenvertreter passiert;¹⁷⁴ und andererseits daran, dass es etablierte politische Praxis in den Bundesministerien ist, externe Mitarbeiter aus der Privatwirtschaft, die in der Regel weiterhin von den sie beschäftigenden Unternehmen bezahlt werden, zu beschäftigen, um Personalmangel und fehlende Fachkompetenz bei der Entwicklung von Gesetzesvorlagen auszugleichen.¹⁷⁵ Diese Asymmetrie der Einflusschancen ist, so die Kritiker der aggregativen Demokratietheorie, keine kon-

 Diese Prädominanz wirtschaftlicher Interessenverbände belegt Kißler in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise damit, dass im Jahre 1994 zwei Drittel der beim Bundestagspräsidenten für öffentliche und nicht-öffentliche Anhörungen registrierten Verbände aus dem Bereich der Wirtschaft stammen – Tendenz steigend; vgl. Kißler (2001: S. 560 f.).  Christiano (2008: S. 101).  Vgl. Kißler (2001: S. 561).  Für eine umfassendere Untersuchung der Beteiligung privatwirtschaftlicher Mitarbeiter an der deutschen Bundesgesetzgebung vgl. Adamek & Otto (2009).

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tingente Eigenschaft repräsentativer Systeme, sondern strukturimmanent und somit durch Verfassungsänderungen nicht korrigierbar. Der Grund hierfür ist, dass Unternehmerorganisationen in modernen Gesellschaften faktisch über bestimmte – und relativ zu demokratisch gewählten Regierungen ungleich größere – Verbandsressourcen verfügen (v. a. Informationen, Sachverstand und Produktivvermögen), ohne deren Nutzung parlamentarische Politikbearbeitung nicht auskommt.¹⁷⁶ Der zweite Einwand, der sich aus Sicht einer praktischen Gegenargumentation gegen die aggregative Demokratietheorie anführen lässt, betrifft das Problem ihres Umgangs mit strukturellen Minderheiten: Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, birgt ein politisches System, welches auf die numerische Ressourcengleichheit aller Gemeinschaftsmitglieder abzielt und zu deren Sicherstellung unter anderem auf der zweiten Ebene des demokratischen Willensbildungsprozesses (der gesetzgeberischen Ebene) ein legislatives Mehrheitsprinzip vorsieht, die Gefahr, dass die Interessen struktureller Minderheiten konsequente Vernachlässigung erfahren. Der Sicherungsmechanismus der aggregativen Demokratietheorie gegen diese Gefahr besteht in der Vergabe von Vetomacht an die Minderheiten, und das heißt hier vor allem, in der Ersetzung des legislativen Mehrheitsprinzips durch ein legislatives Proporzprinzip bei bestimmten Sachfragen.¹⁷⁷ Genau dieses, so die Kritik, birgt jedoch wiederum die Gefahr einer Politikblockade durch Minderheiten. Im Grunde ist diese Kritik im vorangegangenen Kapitel, in dem das legislative Mehrheitsprinzip unter gerechtigkeitstheoretischen Erwägungen thematisiert wurde, bereits angeklungen: Supermajoritäre Entscheidungsregeln begünstigen, so hatten wir festgehalten, die Anhänger des Status quo und haben daher problematische Konsequenzen für das Erfordernis politischer Ressourcengleichheit; sie haben aber, insofern sie eben den Status quo begünstigen, auch negative Konsequenzen für die Möglichkeit politischer Innovation überhaupt.¹⁷⁸ Hinzu kommt, wie auch Ganghof als Vertreter der aggregativen Theorie konzediert, dass durch institutionalisierte Minderheitenvetos die mögliche Transformation von Gruppenidentitäten und deren Interessen (z. B. von sezessionistischen Tendenzen ethnischer Minderheiten zu einer eher integrationswilligen Haltung) verlangsamt oder sogar gänzlich blockiert wird.¹⁷⁹ Dieses

 Vgl. Kißler (2001: S. 565) sowie Dryzek (2000: S. 18) und Kevenhörster (2008: S. 260 ff.).  Auf die Frage nach den Konsequenzen des Minderheitenschutzes durch ein aktionistisches Verfassungsgericht (also auf das Problem extraparlamentarischer Vetomacht) werde ich hier nicht weiter eingehen; vgl. jedoch Ganghof (2005b).  Für eine detaillierte Darstellung dieses Problems vgl. McGann (2006: S. 89 – 112). Siehe auch Dryzek (2000: S. 61).  Vgl. Ganghof (2005a: S. 759).

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Problem wird noch dadurch verschärft, dass supermajoritäre Verfassungen, sobald sie einmal etabliert sind, nur schwerlich wieder geändert werden können.¹⁸⁰ Die aggregative Demokratietheorie steht nach dieser Auffassung also vor einem Dilemma: Entweder sie führt – um des Minderheitenschutzes willen – Vetomacht ein, nimmt aber dergestalt die Immobilisierung des politischen Systems in Kauf; oder aber sie stellt die Funktionalität des Systems durch Beibehaltung des legislativen Mehrheitsprinzips sicher, allerdings um den Preis ungleich verteilter Einflusschancen zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und Minderheit.

2.4.5 Das Gemeinwohl in der deliberativen Demokratietheorie Infolge der oben angeführten Kritik ist seit den 1990er Jahren ein Gegenmodell zur aggregativen Demokratietheorie entwickelt worden, welches inzwischen das dominante Paradigma der normativen Demokratietheorie darstellt und für sich beansprucht, die Defizite des aggregativen Ansatzes zu vermeiden – die deliberative Demokratietheorie. Kernpunkt dieser Theorie ist, in Hinblick auf die Frage nach der prozeduralistischen Bestimmung des Gemeinwohls, die Verschiebung des Lokus legitimer Gemeinwohlbestimmung von der Institution demokratischer Wahlen zur institutionell nicht verregelten diskursiven Kapazität der Zivilgesellschaft. Die deliberative Theorie findet ihre umfassendste Ausarbeitung in den Arbeiten John Dryzeks.¹⁸¹ Das Gemeinwohl besteht nach dessen Auffassung im Ergebnis der kommunikativen Auseinandersetzungen über politische Sachfragen zwischen sozialen Diskursen innerhalb der Zivilgesellschaft, die dezidiert nichtkompetitiv ablaufen, sondern auf allseitig akzeptable Problemlösungen abzielen. ¹⁸²

 Vgl. Scharpf (1985). Eine Lösung dieses Problems innerhalb der aggregativen Demokratietheorie besteht möglicherweise darin, supermajoritäre Entscheidungsregeln durch sogenannte ‚sunset clauses’ (auch ‚Auslaufklauseln’) einzuschränken, die deren Geltung für eine bestimmte Frist festlegen und die Beibehaltung von einer neuerlichen Entscheidung des Gesetzgebers nach Fristablauf abhängig machen; vgl. Hiebert (2005).  Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang Dryzeks einflussreiche Monographie Deliberative Democracy and Beyond aus dem Jahre 2000. Alleinstellungsmerkmal der Dryzek’schen Theorie ist, dass sie – im Gegensatz zu den übrigen Vertretern des deliberativen Demokratieverständnisses – keine bloße Revision oder Modifikation der aggregativen Demokratietheorie, sondern ein explizites Gegenmodell darstellt und entsprechend deren zentrale Mechanismen der Gemeinwohlbestimmung (Wahlen und Repräsentation) nicht zu komplementieren, sondern zu ersetzen beansprucht. Vgl. hierzu auch die Reviews von Henry Richardson (2004) und Michael Bailey (2004).  Vgl. Dryzek (2000: 79) sowie Dryzek (2001: S. 659).

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Für die Schwerpunktverschiebung von demokratischen Wahlen zu zivilgesellschaftlich-diskursiven Auseinandersetzungen lassen sich vier Kernargumente anführen, welche analog zu den entsprechenden Einwänden gegen die aggregative Theorie sind: Erstens ermöglicht die Verortung der Gemeinwohlbestimmung in der Zivilgesellschaft die Etablierung eines Gegenpols zu den in den politischen Institutionen prävalenten ökonomischen Interessen und damit die Gewährleistung faktischer partizipativer Gleichheit. Zweitens produziert die kommunikative Auseinandersetzung zwischen sozialen Diskursen informiertere und moralisch reflektiertere Interessen als in der aggregativen Theorie. Drittens ist durch die egalitäre und horizontale Struktur der Zivilgesellschaft eine unmittelbare Teilhabe der Gemeinschaftsmitglieder an der Gemeinwohlbestimmung gegeben. Und viertens sichert die auf allseitig akzeptable Problemlösungen abzielende kommunikative Struktur der Zivilgesellschaft eine konstruktive Einbindung von Minderheiten, die über die bloße Gewährung von Vetomacht hinausreicht. Ausgehend von dem Befund, dass in repräsentativen Regimen Wirtschaftsinteressen aus systemimmanenten Gründen disproportional größeren Einfluss genießen als alle übrigen Interessen, bedarf es, so Dryzek, der Aktivierung der Zivilgesellschaft als Gegenpol zu den in den politischen Institutionen prävalenten Lobby-Gruppen. Die Zivilgesellschaft begreift er in diesem Kontext als System all jener sozialen Interaktionsformen, die nicht unter den Staat oder den ökonomischen Sektor subsumiert sind, oder in den Bereich des Privatlebens fallen; sie repräsentiert folglich jene Interessenfelder, die in der aggregativen Theorie keine hinreichende Geltung erfahren.¹⁸³ Als gesellschaftliche Sphäre beheimatet die Zivilgesellschaft eine Vielzahl sogenannter sozialer Diskurse, welche nach Dryzek „a shared means of making sense of the world […] grounded in assumptions, judgements, contentions, dispositions, and capabilities“¹⁸⁴ darstellen. Der Begriff des Diskurses kennzeichnet hier also als Terminus technicus, und entgegen dem alltäglichen Begriffsverständnis, keine Debatte, sondern ein von einer Gruppe von Personen geteiltes Set an Werten und Grundüberzeugungen und daraus resultierenden praktischen Einstellungen; diese erlauben es den Diskursteilnehmern, „to recognize and process sensory inputs into coherent stories or accounts, which in turn can be shared in intersubjectively meaningful fashion.“¹⁸⁵ Soziale Diskurse manifestieren

 Vgl. Dryzek (2000: S. 23).  Dryzek (2000: S. 18).  Dryzek (2001: 658). Mit dieser Definition des Diskursbegriffs lehnt sich Dryzek expressis verbis an die Begriffsverwendung Michel Foucaults an; vgl. Dryzek (2000: S. 23). Diese Bezugnahme auf Foucaults Diskursverständnis ist insofern nicht unproblematisch, als Foucault, anders als Dryzek, Diskurse nicht neutral als bloße Wert- und Überzeugungsformationen, sondern als

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sich in der Zivilgesellschaft in Form freiwilliger politischer Vereinigungen und sozialer Netzwerke, deren Grundorientierung zumindest zum Teil durch staatliches Handeln bestimmt ist: So bilden sich z. B. Friedensbewegungen in einem Staat dann, wenn dieser in einen Krieg eintritt; Umweltschutzbewegungen formieren sich als Reaktion auf kontroverse umweltpolitische Entscheidungen, wie etwa Standortfestlegungen für Giftmülldeponien. Entscheidendes funktionales Merkmal solcher Vereinigungen ist ihre Fähigkeit, durch konzertierte Aktionen wie etwa Demonstrationen, Boykott-Aufrufe oder die Ausrichtung von Konferenzen zu politischen Sachfragen Druck auf Regierungen auszuüben, um so ihre Interessen geltend zu machen. Die Wirksamkeit dieser politischen Maßnahmen verbürgt sich nach Dryzek durch die Sorge politischer Repräsentanten vor drohender politischer Instabilität oder Reputationsverlust.¹⁸⁶ Des Weiteren sind soziale Netzwerke jedoch vor allem in der Lage, einerseits innerhalb der Zivilgesellschaft selbst und andererseits in Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Interessenverbänden Einigungen über politische Streitfragen zu erzielen und so staatliche Institutionen zu umgehen. Exemplarisch für diese sogenannten paragouvernementalen Einigungen sind etwa die Einrichtung des ‚Environmental Council’ oder des ‚Forum for the Future’ in Großbritannien, deren Ziel darin besteht, „to emphasize the opportunities for strategic alliances with environmental interests and the market opportunities for environmentally benign technologies.“¹⁸⁷ Da der Mechanismus der Gemeinwohlbestimmung im deliberativen Modell die kommunikative Auseinandersetzung zwischen sozialen Diskursen in der Zivilgesellschaft (und nicht der Aggregationsmechanismus des Wählens und der politischen Repräsentation) ist, schlägt sich die zentrale normative Adäquatheitsbedingung politischer Gleichheit, d. h. die partizipative Gleichberechtigung aller Gemeinschaftsmitglieder bei der Gemeinwohlbestimmung, auch nicht in deren numerischer Ressourcengleichheit nieder (wie im aggregativen Modell), sondern in ihrer kommunikativen Gleichheit. Dies bedeutet konkret, dass jedem Gemeinschaftsmitglied, damit es partizipative Gleichberechtigung innehat, dieselben Rechtfertigungspflichten und -ansprüche bei der Geltendmachung von Interessen zukommen müssen: Jedes Gemeinschaftsmitglied muss, wenn es im

gesellschaftliche Kontrollmechanismen begreift, deren Funktion maßgeblich darin besteht, Individuen zu normieren und zu disziplinieren und bestimme Gesellschaftsgruppen auszugrenzen; vgl. Foucault (1970). Diese ‚Schattenseite’ des Diskursbegriffs bleibt in Dryzeks Arbeiten weitgehend ausgeblendet; sie wird jedoch u. a. thematisiert von Iris M.Young, die hieraus eine normative Kritik an der deliberativen Demokratietheorie ableitet; vgl. Young (2003). Für eine Diskussion dieser Kritik siehe Kap. 2.4.6.  Vgl. Dryzek (2000: S. 101 f.).  Hunold & Dryzek (2001: S. 15).

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Rahmen seiner Teilhabe an den kommunikativen Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft ein Interesse geltend macht, hierfür interpersonal akzeptable Gründe und Argumente anführen; es ist, korrespondierend zu dieser Verpflichtung, aber auch nicht gezwungen, die Interessen anderer Mitglieder zu akzeptieren, wenn diese nicht interpersonal akzeptable Gründe und Argumente anführen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass Dryzek interpersonale Akzeptabilität als konstitutiv für die Gemeinwohldienlichkeit der entsprechenden politischen Handlungen und nicht als Indiz für deren objektive Richtigkeit ansieht; entsprechend steht seine Theorie fest auf dem Boden des moralischen Subjektivismus, wenn auch das Gemeinwohl nicht durch ein Aggregat von wertkonstitutiven Individualinteressen ausgemacht wird, sondern durch intersubjektiv akzeptierte Interessen.¹⁸⁸ Das Erfordernis kommunikativer Gleichheit hat entscheidende Konsequenzen für die Adäquatheit der Struktur sozialer Netzwerke als Hauptakteure kommunikativer Auseinandersetzungen und für die Form der Austragung dieser Auseinandersetzungen: Die Netzwerke müssen horizontal (d. h. nicht-hierarchisch) und dezentral strukturiert sein und idealiter eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen sozioökonomischen und/oder ethnischen Hintergründen beinhalten. Nur unter dieser Bedingung verkörpern sie jene „principles of equality, openness, respect, and reciprocity – the standard deliberative virtues“¹⁸⁹, die einen gleichberechtigten interpersonalen Austausch von Gründen möglich machen. Die weitere theoretische Signifikanz horizontaler Netzwerke ist in Dryzeks Arbeiten (und in allen Arbeiten der deliberativen Theorie überhaupt) bedauerlich unterbestimmt – sie lässt sich jedoch unter Rekurs auf die Sozialkapitaltheorie Robert D. Putnams konkretisieren, die in diesem Kontext eine soziologische Komplementierung der Dryzek’schen Thesen darstellt.¹⁹⁰

 Entsprechend ist es auch durchaus zutreffend, wenn Ian Shapiro in seiner Analyse dieses Modells schreibt, dass durch den deliberativen Mechanismus das Gemeinwohl ‚kreiert’ und nicht etwa ‚gefunden’ werde: „The point of democratic participation, on this account, is more to manufacture the common good than to discover it“. Shapiro (2003: S. 22).  Dryzek (2001: S. 664).  Vgl. Putnam (1993, 2000). In der Tat findet sich in der deliberativen Demokratietheorie kein Verweis auf Untersuchungen der Sozialkapitaltheorie, was aufgrund der prima facie disparaten Forschungsfelder vielleicht auch nicht weiter erstaunlich ist: Die Sozialkapitaltheorie ist eine empirisch informierte soziologische Theorie über die politischen Effekte zivilgesellschaftlicher Organisationen (bzw. über die Effekte, die eintreten, wenn solche Organisationen nicht existieren), während die deliberative Demokratietheorie ein normatives Modell kommunikationsbasierter demokratischer Legitimität entwirft. Mein Verweis auf die Sozialkapitaltheorie ist in diesem Kontext eher als Anriss einer möglichen theoretischen Komplementierung zu lesen.

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Genau wie Dryzek erblickt Putnam in der Existenz der oben genannten Netzwerke das entscheidende Merkmal eines normativ adäquaten demokratischen Systems: Freiwillige horizontale Vereinigungen wie Bürgerbewegungen oder ökologische Aktionsbündnisse repräsentieren seiner Theorie nach soziales Kapital, eine gesamtgesellschaftliche Ressource („a public good“), die es den Mitgliedern eines Gemeinwesens erlaubt, kooperativ ineffizientes Regierungshandeln zu sanktionieren und auf diese Weise Einfluss auf die Qualität von PolicyOutputs zu nehmen. Diese Fähigkeit resultiert aus zwei Kerneigenschaften der entsprechenden Vereinigungen: Sie generieren und reproduzieren erstens sogenannte Normen generalisierter Reziprozität, welche darin bestehen, dass deren Mitglieder bereit sind, Leistungen füreinander zu erbringen, ohne dafür unmittelbare Gegenleistungen zu erwarten, aber davon ausgehen, dass sie in Zukunft entsprechende Leistungen von anderen Mitgliedern derselben Vereinigung erwarten können.¹⁹¹ Zweitens stiften sie zwischen ihren Mitgliedern soziales Vertrauen dergestalt, dass diese keine (oder nur geringe) Anstrengungen unternehmen, um die Wahrhaftigkeit und Kooperationsbereitschaft anderer Mitglieder zu überwachen oder zu überprüfen; dergestalt werden konzertierte Aktionen erheblich vereinfacht und, in der Sprache der ökonomischen Theorie, ‚weniger kostenintensiv’.¹⁹² Aus der strukturellen Vorgabe der Horizontalität und Dezentralität ergibt sich jedoch auch eine erhebliche Beschränkung derjenigen sozialen Vereinigungen, die nach Auffassung der deliberativen Demokratietheorie konstitutiv für partizipatorisch gleichberechtigte Prozesse der Gemeinwohlbestimmung sind: Hochprofessionalisierte Organisationen wie Greenpeace scheiden aufgrund ihrer hierarchischen Struktur ebenso aus wie stark konservative Grassroot-Bewegungen wie die ‚Tea Party Movement’, die zwar nicht-hierarchisch und dezentral organisiert ist, aber in der Zusammensetzung ihrer Mitglieder stark homogenisiert und exklusivistisch orientiert ist.¹⁹³ Die Form der Auseinandersetzung zwischen sozialen Vereinigungen der Zivilgesellschaft über die Bestimmung des Gemeinwohls wird durch das Erfordernis kommunikativer Gleichheit wie folgt auf zweierlei Weise qualifiziert: Um zu ge-

 Zum Beispiel: Ich mähe zu t1 deinen Rasen, obwohl ich dafür nicht erwarte, dass du zu t1 meinen Hund Gassi führst; aber ich tue es in der berechtigten Erwartung, dass du oder ein anderes Mitglied meiner Gemeinschaft zu tx meinen Hund Gassi führen wird, wenn ich gerade keine Zeit habe.  Vgl. Levi (1996: S. 47).  Vgl. Dryzek (2000: S. 77; S. 100 ff.). Zur gleichen Einschätzung, d. h. zur Auffassung, dass Organisationen wie Greenpeace kein Sozialkapital (oder wenn, dann doch nur in defizitärer Form) konstituieren, gelangt, wenig überraschend, auch Putnam (2000: S. 52).

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währleisten, dass nur solche Interessen Geltung erhalten, die die Kraft des besseren Arguments (und damit interpersonale Akzeptabilität) für sich verbuchen können, muss die kommunikative Auseinandersetzung erstens ohne Zwang verlaufen. Dies schließt die macht- und ressourcenbewehrte Durchsetzung partikulärer Belange ebenso aus wie die gewaltsame Durchsetzung ideologischer Konformität und die Manipulation von Gemeinschaftsmitgliedern durch Spin-Doctors, Demagogen und PR-Experten.¹⁹⁴ Zweitens darf sich der Austausch von Gründen und Gegengründen nicht auf Auseinandersetzungen in der Form eines, wie Dryzek nicht ohne Ironie schreibt, „exclusive gentleman’s club“ beschränken. Mit dieser Spitze gegen die traditionelle kritische Theorie Jürgen Habermas’ weist er die These zurück, dass kommunikative Auseinandersetzungen – so sie konstitutiv für das deliberative Demokratiemodell sein sollen – seitens aller Beteiligten leidenschaftslos, rational und logisch argumentierend durchgeführt werden müssen.¹⁹⁵ Eine solche Beschränkung zulässiger Kommunikationsmodi würde das Erfordernis kommunikativer Gleichberechtigung verletzen; und zwar indem sie jenen, die z. B. aufgrund ihres akademischen Bildungshintergrundes weit eher in der Lage sind, ihre Interessen in oben genannter Weise zu artikulieren, größere Einflussmöglichkeiten zubilligt als Personen, die nicht über derartige kommunikative Fähigkeiten verfügen – ein Argument, das Dryzek wie folgt auf den Punkt bringt: „It is partly that some people are good at making arguments and so likely to be heard, while others are less likely to be listened to.“¹⁹⁶ Um eine solche Asymmetrie kommunikativer Einflussmöglichkeiten zu vermeiden, müssen neben rationaler Argumentation auch andere Kommunikationsformen, die benachteiligten Gesellschaftsschichten zur Verfügung stehen, als gleichberechtigt anerkannt werden. Dazu zählt die Artikulation persönlicher Narrative im Idiom der jeweiligen Gesellschaftsschicht (sogenanntes „storytelling“, wie z. B. in der Rap-Musik) ebenso wie Klatsch und Tratsch („gossipping“) und sogar Klassenkampfrhetorik.¹⁹⁷ Dennoch gilt als qualifizierendes Kriterium all jener unterschiedlichen Kommunikationsmodi, dass ihre Aussagen bestimmten Standards kommunikativer Rationalität genügen müssen. Diese besagen erstens, dass alle Aussagen, also auch solche, die im spezifischen Idiom einer Gesellschaftsschicht oder Ethnie vorgebracht werden, „must be capable of resonating with individuals who do not share that situation – but who do share other characteristics (if only a common humanity).“¹⁹⁸ Alle

    

Vgl. Dryzek (2000: S. 77). Vgl. ebd.: S. 57. Ebd.: S. 64. Vgl. ebd.: S. 66. Ebd.: S. 69.

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Aussagen müssen also auch von Teilnehmern anderer Diskurse zu verstehen und in bedeutungsäquivalente Propositionen umformulierbar sein. Zweitens müssen alle in den entsprechenden Aussagen enthaltenen Tatsachenbehauptungen überprüfbar bzw. verifizierbar oder falsifizierbar sein. Die Grundstruktur kommunikativer zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzungen über politische Streitfragen (also der gleichberechtigte und zwanglose Austausch von Gründen und Gegengründen von Individuen, die in horizontalen sozialen Netzwerken organisiert sind), hat eine Reihe interdependenter Effekte, die nach Dryzek dazu führen, dass das deliberative Modell dem aggregativen gegenüber vorzugswürdig ist: Sie ermöglicht erstens allen Mitgliedern des Gemeinwesens die unmittelbare Teilhabe an der Gemeinwohlbestimmung, insofern sie auf der Zurückweisung des Konzepts politischer Arbeitsteilung und der damit verbundenen Funktion politischer Experten beruht – ein Konzept, das Dryzek in diesem Kontext auch „authenticity of control“ nennt.¹⁹⁹ Da die sozialen Netzwerke, welche die Zivilgesellschaft konstituieren, nicht-hierarchisch gegliedert sind und entsprechend auch über keine Delegationsketten verfügen, ist sichergestellt, dass die authentischen Interessen aller Individuen direkt in die Gemeinwohlbestimmung einfließen und sich die Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder nicht in der Auswahl präfigurierter Zielbündel erschöpft. Der Verzicht auf politische Arbeitsteilung und das damit verbundene Expertentum wird auch dadurch möglich, dass – hierbei handelt es sich um den zweiten Effekt – der Austausch von Gründen zu reflektierteren und informierteren Interessen seitens der beteiligten Mitglieder führt; diese selbst werden wiederum „more public spirited, more tolerant, more knowledgeable, more attentive to the interests of others“ – ein Transformationsprozess, der idealiter in einer Konvergenz der Interessen einmündet, die Dryzek als „reasoned agreement“ bezeichnet.²⁰⁰ Die Frage danach, wie Kommunikation die Einstellungen, Urteile und Präferenzen von Individuen modifizieren kann, so dass an deren Ende in der Tat ein „reasoned agreement“ eintritt, ist in Deliberative Democracy and Beyond nur angerissen – sie erfährt stärkere Bearbeitung in dem mit Christian List gemeinsam abgefassten Aufsatz ‚Social Choice Theory and Deliberative Democracy’.²⁰¹ Aus diesem dichten und in weiten Teilen technischen Text lassen sich folgende Argumente für den transformativen Effekt kommunikativer Auseinandersetzungen ziehen: Zuerst und vor allem stiftet die fortgesetzte Kommunikation Anreize für die Beteiligten, nicht über ihre Interessen und die Gründe, die sie für deren Gel-

 Ebd.: S. 29.  Ebd.: S. 21.  Vgl. Dryzek & List (2003).

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tendmachung haben, zu lügen. Der Grund hierfür ist, dass alle Zuhörer durchaus von der Möglichkeit ausgehen, dass ihr Gegenüber sie belügen könnte, und entsprechend kalkulieren, ob sie Sprechern Glauben schenken sollen; in Kombination damit, dass sich in einer gesellschaftsweiten Kommunikation sehr viele Gesprächspartner über politische Sachfragen austauschen, ergibt sich die Möglichkeit, Lügner enttarnen und bei wiederholten Verstößen mit Ausschluss von der Kommunikation (und damit von der Gemeinwohlbestimmung) sanktionieren zu können. Kurz gesagt: „there are penalties of being exposed as a liar; nobody will believe you next time“.²⁰² Da Individuen, so Dryzeks und Lists Argument, eine solche Sanktionsgefahr rationalerweise antizipieren, führt dies dazu, dass sich alle Beteiligten wahrhaftiger verhalten.²⁰³ Ausgehend von der Wahrhaftigkeit der Gesprächspartner, ist nun anzunehmen, dass gesellschaftsweite Kommunikation den Effekt hat, alle Beteiligten tatsächlich mit neuen und von ihren Kommunikatoren für wahr gehaltenen Informationen und Perspektiven über politische Sachfragen zu versorgen. Auf diese Weise wird es ihnen möglich, die eigenen Auffassungen auf faktische Richtigkeit und Konsistenz zu überprüfen, verborgene Prämissen hinter ihren eigenen Überzeugungen aufzudecken, Interdependenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu identifizieren und die Gründe ihres Gegenübers rational und empathisch nachzuvollziehen – ein Prozess, der letzten Endes in einer reziproken Modifikation von Interessen und Einstellungen einmündet. Der letzte Vorzug des deliberativen Modells gegenüber der aggregativen Theorie, der sich nach Dryzek schließlich angeben lässt, besteht darin, dass sie eine konstruktive Einbindung struktureller Minderheiten in den Prozess der Gemeinwohlbestimmung gewährleistet: ‚Konstruktiv’ bedeutet in diesem Kontext, dass die deliberative Demokratietheorie keine gleichberechtigte Beteiligung von Minderheiten in Form von Vetomachtvergabe vorsieht, die einen blockierenden, also destruktiven Effekt bei der kollektiven Willensbestimmung hat, sondern Minderheitendiskurse als gleichberechtigte Kommunikationspartner etabliert. Die Grundlage hierfür ist mit der Zulassung alternativer Kommunikationsformen gelegt, welche die Gefahr des Kommunikationsmonopols einer bestimmten, akademisch gebildeten Elite behebt. Auf dieser Grundlage also treten die Teilnehmer von Minderheitendiskursen als Träger gleichberechtigter Rechtfertigungsansprüche, aber eben auch -pflichten, in die zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein. Die Gleichberechtigung ihrer Rechtfertigungsansprüche impliziert  Dryzek & List (2003: S. 10).  Die Wahrhaftigkeitsanreize in der kommunikativen Auseinandersetzung entsprechen der Struktur nach somit den Anreizen für Kooperation in wiederholten Gefangenen-Dilemmata. Vgl. hierzu Axelrod (1984).

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in diesem Kontext, dass Minderheiteninteressen nicht einfach von gesellschaftlichen Mehrheiten ignoriert werden können, sondern in den kollektiven Prozess reziproker Interessenmodifikation einfließen müssen. Die Gleichberechtigung der Rechtfertigungspflichten hat wiederum zur Folge, dass Minderheiten nicht einfach politische Entscheidungsprozesse blockieren können, sondern für ihre Haltung Argumente angeben müssen und – falls sich diese mit berechtigten Gründen zurückweisen lassen – ihre Einstellung gegebenenfalls modifizieren oder aufgeben müssen. Auf diese Weise lassen sich (zumindest wenn die Beteiligten auch bereit sind, ihre Interessen zu modifizieren – eine Prämisse, die Dryzek, wie gezeigt, durch den transformativen Effekt sozialer Kommunikation zu plausibilisieren beansprucht), Patt-Situationen und Politikblockaden zugunsten kooperativer Lösungen vermeiden. Ebenso wie die aggregative Demokratietheorie spezifiziert auch das deliberative Modell Bedingungen funktionaler Adäquatheit des politischen Systems und seiner Institutionen, die gewährleisten sollen, dass eben genau die unter Bedingungen kommunikativer Gleichheit formierten Interessen auch tatsächlich in Form von Policies implementiert werden. Da das deliberative Modell entscheidend aus einem anti-etatistischen Impetus heraus motiviert ist und das Konzept politischer Arbeitsteilung ablehnt, bestehen diese Bedingungen indes nicht (wie beim aggregativen Modell) in einer autoritativen Prinzipal-Agenten-Beziehung zwischen Gemeinschaftsmitgliedern und politischen Experten, sondern in einer spezifischen Relation zwischen staatlichen Institutionen und ihren Repräsentanten und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Dryzek als passiv exklusiv bezeichnet.²⁰⁴ Passiv exklusive Staaten zeichnen sich dadurch aus, dass sie zivilgesellschaftlichen Bewegungen (mit Ausnahme einiger privilegierter Organisationen) keine oder nur sehr wenige institutionelle Zugangsmöglichkeiten in Form von Lobby-Kanälen oder kooperativen Politikgestaltungsmechanismen zum politischen System gewähren (Exklusivität), aber die Aktivitäten sozialer Netzwerke auch nicht durch Demonstrationsverbote oder politische Repressalien unterminieren (Passivität). Der Grund für die Vorzugswürdigkeit eines exklusiven Arrangements besteht für Dryzek darin, dass jede Inkorporation sozialer Netzwerke in den Staat eine Verminderung der diskursiven Kapazitäten und der Vitalität der Zivilgesellschaft nach sich zöge: „If a group leaves the oppositional sphere to enter the state the dominant classes and officials have less to fear in the way of public protest“.²⁰⁵ Paradigmatisch für eine passiv exklusive Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft ist nach Dryzek der deutsche Korporatismus,

 Vgl. Dryzek (2000: S. 85 – 107), Hunold & Dryzek (2001) sowie Dryzek & Tucker (2008).  Dryzek (2000: S. 87).

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welcher lediglich Arbeitnehmerinteressen (in Form von Gewerkschaften) und Arbeitgeberinteressen (in Form des Bundes der Industrie) in Verhandlungen über Policy-Entscheidungen einbezieht. Die Plausibilität dieses Arguments zeigt sich maßgeblich im Vergleich mit alternativen Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft, die von ihm als funktional inadäquat charakterisiert werden: aktiv inklusive und passiv inklusive Relationen.²⁰⁶ Eine aktiv inklusive Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft besteht darin, dass eine große Bandbreite zivilgesellschaftlicher Organisationen (von Umweltschutzgruppen über Frauenbewegungen bis zu Friedensaktivisten), die sich zur Kooperation mit staatlichen Vertretern bereitfinden, von Staats wegen finanzielle Unterstützung erfahren und die Möglichkeit erhalten, Repräsentanten in legislative Beratungsausschüsse zu entsenden; beispielhaft für eine solche Vorgehensweise sind die skandinavischen politischen Systeme. Passiv inklusive Staaten, wie vor allem die USA, wiederum stellen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen zwar keine Fördermittel bereit, bieten aber zahlreiche Zugangspunkte zur Legislation und Administration über Lobbying und öffentliche Anhörungen. Trotz der unterschiedlich gelagerten Strategien bergen diese beiden Relationen dieselbe Gefahr für die Zivilgesellschaft – nämlich deren Fragmentierung und politische Marginalisierung:²⁰⁷ Während sich in den skandinavischen Staaten das Problem auftut, dass in den Staat inkorporierte Bewegungen dazu tendieren, ihre ursprünglichen Forderungen im Austausch gegen staatliche Fördermittel und garantierte institutionelle Beteiligung abzuschwächen oder aufzugeben, transformiert das passiv inklusive US-amerikanische System Bürgerbewegungen in hochprofessionalisierte Lobby-Gruppen, die die horizontale Beteiligung aller Mitglieder an der Gemeinwohlbestimmung zugunsten der alleinigen Entscheidungskompetenz einer Führungselite preisgeben. In jedem Falle führen beide Strategien zu einer Zweiteilung der Zivilgesellschaft in solche Gruppen, die zur Inklusion bereit sind, und solche, die – um den Preis von er-

 Eine vierte Konfiguration, die der aktiv exklusiven Beziehung, welche darin besteht, dass der Staat zivilgesellschaftlichen Formationen nicht nur keine Zugangsmöglichkeiten offeriert, sondern diese überdies durch Repressalien unterminiert, wird von Dryzek aus zwei Gründen nur randständig thematisiert: Erstens, weil auch ohne weitere argumentative Untermauerung offenkundig ist, dass die Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten der politischen Umsetzung dergestalt formierter Interessen abträglich ist; und zweitens, weil eine solche Relation in modernen westlichen Demokratien auch gar nicht auftritt. Als historische Beispiele nennt Dryzek den Sowjet-Stalinismus und – in deutlich abgeschwächter Form – den Thatcherismus der 1980er Jahre in Großbritannien. Vgl. Dryzek (2000: S. 105); siehe auch Hunold & Dryzek (2001: S. 14).  Diese These suchen Hunold und Dryzek mit Bezug auf einen Vergleich der Wirksamkeit von Umweltschutzbewegungen in Norwegen, den USA und Deutschland zu bewegen, vgl. Hunold & Dryzek (2001); siehe hierzu auch Dryzek et al. (2002).

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heblichem Einflussverlust – nicht bereit sind, diese als ‚Ausverkauf’ perzipierte Strategie mitzumachen. Zusammenfassend gesagt, lassen sich auf der Grundlage der Dryzek’schen Argumentation die Adäquatheitsbedingungen eines gemeinwohlproduzierenden Systems nach dem deliberativen Modell folgendermaßen spezifizieren: Die normative Adäquatheit gleichberechtigter Partizipationsmöglichkeiten aller Gemeinschaftsmitglieder wird über deren kommunikative Gleichheit (gleiche Rechtfertigungsansprüche und -pflichten bei der Geltendmachung von Interessen) bei kommunikativen Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft sichergestellt, die wiederum durch unterschiedliche soziale Diskurse konstituiert wird, die sich in Form horizontaler und nicht-hierarchischer Netzwerke organisieren. Die funktionale Adäquatheit hingegen besteht in einer passiv exklusiven Beziehung zwischen staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Interessenformationen, die es Letzteren erlaubt, durch konzertierte Aktionen Druck auf den Staat auszuüben, ohne in diesen inkorporiert zu werden, oder zur Lösung politischer Streitfragen paragouvernementale Einigungen zu erzielen.

2.4.6 Kritik an der deliberativen Demokratietheorie Trotz ihrer Prädominanz innerhalb der gegenwärtigen normativen Demokratietheorie und ihres Anspruchs, die Defizite des aggregativen Modells zu vermeiden, sind eine Reihe von Einwänden gegen die deliberative Demokratietheorie vorgebracht worden, die sowohl die Plausibilität ihrer normativen Prämissen als auch ihre Praktikabilität im Sinne einer Anwendungstheorie in Zweifel ziehen. Entsprechend lässt sich auch hier zwischen prinzipiellen und praktischen Einwänden unterscheiden. Die maßgeblichen Einwände gegen die normativen Grundlagen des deliberativen Ansatzes lassen sich zu der These zusammenfassen, dass deren Annahme allseitiger Rechtfertigungspflichten für das Geltendmachen von Interessen in den diskursiven Auseinandersetzungen der Zivilgesellschaft den Gemeinschaftsmitgliedern eine unzulässig große Bürde auflastet. Für diese These lassen sich zwei Argumente anführen: Erstens gilt, dass für zahlreiche Personen innerhalb eines Gemeinwesens bestimmte – insbesondere religiöse oder ethnische – Grundüberzeugungen, Interessen und Einstellungen einen integralen Bestandteil ihrer persönlichen Identität und ihres biographischen Narrativs darstellen; so beispielsweise das durch Tragen eines Hidschab (einer nach dem Regelkanon der Spruchsammlung des islamischen Propheten Mohammed gebotenen Körperbedeckung für Frauen) ausgedrückte Glaubens- und Sittlichkeitsbekenntnis einer Muslimin. Qua persönlichkeitskonstitutiver Grundeinstellungen stehen solche

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Interessen für die respektiven Personen im wortwörtlichen Sinne ‚nicht zu Diskussion’ – sie sind unverhandelbar. Entsprechend, so das Argument, wäre es illegitim, von Personen zu fordern, derartige Vitalinteressen zu rechtfertigen und gegebenenfalls im Zuge der kommunikativen Auseinandersetzungen zu revidieren oder aufzugeben. In diesen Fällen verletzte die von der deliberativen Demokratietheorie angestrebte Interessenkonvergenz durch reziproke Interessenmodifikation die religiösen oder ethnischen Persönlichkeitsrechte von Individuen.²⁰⁸ Nun wäre es zwar theoretisch möglich, bestimmte religiöse oder ethnische Streitfragen durch Gesetzesbeschränkungen von den kommunikativen und auf Interessenkonvergenz abzielenden Auseinandersetzungen auszuklammern – diese Option ist allerdings nur schwer verträglich mit der von Dryzek geforderten passiv exklusiven Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft, die darauf hinausläuft, dass der Staat die zivilgesellschaftlichen Netzwerke in ihren Verhandlungen, kurz gesagt, ‚in Ruhe lässt’. Das zweite Argument für die Unzulässigkeit der Belastung durch allseitige Rechtfertigungspflichten ergibt sich aus dem Umstand, dass die Beteiligung an der kommunikativen Bestimmung des Gemeinwohls von den Mitgliedern des Gemeinwesens ein erhebliches persönliches Engagement in sozialen Netzwerken (ein weit höherer Aufwand als etwa der Wahlakt im aggregativen Modell) und damit eine Zurückstellung persönlicher Projekte impliziert. Dies trifft insbesondere Personen mit zeitintensiven Lebensplänen; im Übrigen auch Personen, die eine persönliche Aversion gegen ‚Vereinsmeierei’ haben und einen solitären Lebensstil bevorzugen. Nun konzediert Dryzek durchaus, dass jedem Mitglied freigestellt ist, sich an kommunikativen Auseinandersetzungen zu beteiligen: „At any given time, the contestation of discourses can be engaged by the many or the few“.²⁰⁹ Aber de facto stellt dieses Zugeständnis die Gemeinschaftsmitglieder vor eine schlechte Wahl: Sie können entweder ihre zeitintensiven Lebensprojekte verfolgen – dann aber unter Preisgabe ihrer Beteiligung an der Gemeinwohlbestimmung; oder aber sie können sich an der Gemeinwohlbestimmung beteiligen, allerdings nur, wenn sie ihre Projekte zurückstellen.

 Ein weiteres Beispiel, das Steven Wheatly anführt, betrifft einen hypothetischen Gesetzesvorschlag für das verbindliche Tragen schützender Kopfbekleidung, also Helmen, bei Bauarbeiten:Wenn Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Sikh, deren Glaubenssätze als ausschließliche Kopfbedeckung für Männer einen Turban vorsehen, an der kommunikativen Auseinandersetzung über dieses Gesetz beteiligt wären, wäre ein Konsens weder möglich noch zulässig, weil jede Zugeständnisforderung an sie einer Verletzung ihrer persönlichen Integrität gleichkäme. Vgl. Wheatly (2003: S. 509).  Dryzek (2001: S. 663).

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Der erste praktische Einwand gegen die deliberative Demokratietheorie läuft wiederum auf den zentralen Vorwurf hinaus, dass deren Konzeption demokratischer Entscheidungsfindung hoffnungslos utopisch ist. Das Problem beginnt mit der strikten Anforderung an die Struktur der Zivilgesellschaft, sich in Form dezentraler und nicht-hierarchischer Netzwerke zu organisieren: Nicht allein, dass die empirische Realität der meisten Gesellschaften mit diesem Ideal nicht korrespondiert (in der Tat sind es z. B. vor allem hochprofessionalisierte und internationale Organisationen wie Greenpeace und World First etc., die zivilgesellschaftlichen Belangen im Widerstreit mit staatlichen Institutionen Geltung verleihen); es ist auch schwer ersichtlich, wie eine Egalisierung zivilgesellschaftlicher Strukturen ohne Intervention einer sanktionsmächtigen Regelungsinstanz gewährleistet werden soll – eine Schwierigkeit, die sich im Übrigen auch in Hinsicht auf die Forderung auftut, dass die kommunikativen Auseinandersetzungen nicht durch Spin-Doctors und Demagogen manipuliert werden dürfen. Des Weiteren, so die Kritik, ist die Einschätzung der transformativen Effekte kommunikativer Auseinandersetzungen seitens der deliberativen Theorie zu optimistisch: So scheitert etwa der Versuch einer kommunikativen Beteiligung von politischen oder religiösen Fanatikern daran, dass Letztere gemeinhin nicht bereit sind, ihre Einstellungen zu revidieren – und zwar auch dann nicht, wenn ihnen falsche Überzeugungen oder inkonsistente Prämissen nachgewiesen werden. Überdies ist die Schlussfolgerung, wonach gleichberechtigte Kommunikation in einer Konvergenz der Interessen und entsprechenden Konfliktbeilegung einmünden muss, selbst in Bezug auf rationale und sogar kompromissbereite Personen alles andere als zwingend. So hält Ian Shapiro treffend fest: Beyond the issue of uncompromising religious values, people with opposed interests are not always aware of how opposed those interests actually are. Deliberation can bring differences to the surface, widening divisions rather than narrowing them.²¹⁰

Gesellschaftsweite Kommunikation birgt also die Gefahr, latente Konfliktlinien zu aktivieren und dergestalt die Einigungswahrscheinlichkeit nicht nur zu verringern, sondern sogar neue Streitfragen aufzuwerfen.

 Shapiro (2003: S. 26 f.). Shapiro vergleicht diesen nachteiligen Effekt mit gewohnter rhetorischer Finesse mit dem Fall eines Ehepaares, welches sich in Paartherapie begibt: „A couple with a distant but not collapsing marriage might begin therapy with a mutual commitment to settling some long-standing differences […]. Once honest exchange gets underway, however, they might unearth new irreconcilable differences, with the effect that the relationship worsens and perhaps even falls apart in acrimony.“ Shapiro (2003: S. 27).

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Dass die Mobilisierung sozialer Diskurse anlässlich politischer Streitfragen, die fundamentale Mitgliederinteressen tangieren, in der Tat nicht nur keine großen Chancen auf kommunikative Einigungen birgt, sondern überdies das Risiko gewalttätiger Konfrontationen mit sich bringt, zeigt auch Cass Sunstein in seinem Essay ‚Deliberative Trouble?‘, in dem er sich auf Erkenntnisse der empirischen Konfliktforschung und der Gruppenpsychologie bezieht.²¹¹ Ein zentraler Befund der Konfliktforschung besagt, dass gesellschaftsweite Auseinandersetzungen, in denen grundlegende, persönlichkeitskonstitutive Interessen von Gemeinschaftsmitgliedern – und hierbei handelt sich, wie bereits angeführt, in der Regel um religiöse oder ethnische Überzeugungen – thematisch sind, die Formierung von „outgroups“, d. h. von weitgehend homogenen sozialen Netzwerken, die sich anhand salienter Gruppenmerkmale von anderen sozialen Interessenformationen abgrenzen und abschotten, begünstigen.²¹² Das Problem ist Sunstein zufolge, dass sich solche Diskurse im Zuge interner Deliberation auf gemeinsame Ziele festlegen, die häufig weit radikaler sind als die prä-deliberativen Einzelinteressen ihrer Mitglieder: within-group discussion […] can ensure that e. g. ethnic groups, and individual members of ethnic groups, end up with a far stronger ethnic identification than the median member had before discussion began.²¹³

Für dieses Phänomen, das unter dem Begriff der „group polarization“ firmiert, führt die psychologische Gruppentheorie zwei Ursachen an: Erstens leiden solche Diskurse am Problem des sogenannten „limited argument pool“, was nichts anderes heißt, als dass ihre Mitglieder, die ohnehin in ihren Überzeugungen weitgehend übereinstimmen, „tend to talk only to another, fueling and amplifying their outrage, and solidifying their impression of the relevant events.“²¹⁴ Anders gesagt: Mitglieder einer Gruppe, die sich anhand ihrer Merkmale von anderen Interessensformationen abschottet, laufen Gefahr, sich im Zuge interner kommunikativer Auseinandersetzung gegenseitig weiter aufzuwiegeln und in der Richtigkeit ihrer radikalen Überzeugungen noch zu bestärken.²¹⁵ Zweitens kann Individuen das Bedürfnis zugesprochen werden, die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe auch unter Beweis zu stellen und zu sichern, und zwar indem sie dissentierende  Vgl. Sunstein (2000).  Vgl. Sunstein (2000: S. 118) und natürlich Hardin (1995: S. 142– 179).  Sunstein (2000: S. 100).  Ebd.: S. 99.  Auf diese Gefahr weist auch Jürgen Fijalkowski in seiner Analyse der kommunikativen Dynamiken in islamischen Migranten-Netzwerken in Deutschland hin; vgl. Fijalkowski (2004: S. 205).

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Überzeugungen ablegen oder verleugnen; andernfalls setzten sie sich dem Risiko aus, von den übrigen Mitgliedern als ‚Abweichler‘ oder als ‚Verräter an der gemeinsamen Sache‘ gebrandmarkt zu werden. Durch diesen Mechanismus werden jedoch solche Ansichten, die das Potential für kommunikative Einigungen mit konfligierenden Diskursen hätten, marginalisiert. Dass solche radikalisierenden Gruppendynamiken mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass rivalisierende Diskurse ihre gegenläufigen Interessen nicht mehr mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments Geltung verleihen, sondern mit Terroranschlägen, Lynchjustiz und Pogromen scheint in diesem Zusammenhang schwer bestreitbar. Allerdings konstatiert Sunstein, dass diese Gefahr der Selbstisolierung und Radikalisierung sozialer Diskurse erheblich vermindert ist, wenn die infrage stehenden Mitgliederinteressen nicht den Charakter fundamentaler Grundüberzeugungen haben: „Group polarization is diminished […] if members have a degree of flexibility in their views“.²¹⁶ Dieser gruppenpsychologische Befund wird sich im Zuge meiner Diskussion des substantiellen Gemeinwohlkriteriums der Verfahrensangemessenheit in Bezug auf spezifische Politikfelder (siehe Kap. 3.2.4) noch als relevant erweisen. Der letzte praktische Einwand besagt schließlich, dass das deliberative Verfahren der Gemeinwohlbestimmung im Vergleich zum aggregativen Modus ungleich langwieriger und daher innovationshemmender ist: Die Beteiligung aller Mitglieder an einem nicht-kompetitiven Austausch von Gründen und Information in Bezug auf politische Streitfragen ist, so die Beteiligung wirklich gleichberechtigt erfolgen soll, erheblich zeitintensiver als der zweistufige demokratische Prozess des Wählens von Repräsentanten und anschließender majoritärer Abstimmung seitens dieser Repräsentanten. Diese Kritik verfängt vor allem in Zusammenhang des politischen Umgangs mit ebenso drängenden wie schwerwiegenden Problemen, beispielsweise der Bewältigung verheerender Natur- oder Umweltkatastrophen oder der Frage nach einem möglichen Kriegseintritt des entsprechenden Gemeinwesens. In solchen Situationen führt das langwierige deliberative Entscheidungsverfahren zum Verlust von Zeit- und Personenressourcen, die zur effizienten und effektiven Problemlösung eingesetzt werden könnten; oder, wie Shapiro schreibt: „Sometimes by design, sometimes not, deliberation can ammount to collective fiddling while Rome burns.“²¹⁷

 Sunstein (2000: S. 118).  Shapiro (2003: S. 22).

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2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus Wie die wechselseitige Kritik zwischen Vertretern der aggregativen und der deliberativen Demokratietheorie zeigt, ist eine eindeutige Präferenz für eines der beiden Demokratiemodelle alles andere als leicht zu begründen. Meines Erachtens ist eine solche Festlegung – zumindest im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem subjektivistischen Prozeduralismus der Gemeinwohltheorie – jedoch auch gar nicht erforderlich. Der Grund hierfür ist, dass sich drei Einwände vorbringen lassen, wonach der subjektivistische Prozeduralismus, und damit auch seine beiden Unterarten, für sich allein keine plausible Bestimmung des Gemeinwohles angeben kann. Mein Beweisziel ist hier indes eingeschränkter als im Falle der Kritik am objektivistischen Prozeduralismus: Ich beabsichtige nicht zu zeigen, dass die aggregative oder die deliberative Demokratietheorie per se verfehlte demokratische Entscheidungstheorien, d. h. unplausible normative Grundlegungen demokratischer Entscheidungsverfahren, sind; anders also als im Falle des objektivistischen bzw. epistemischen Verständnisses demokratischer Entscheidungsverfahren, das an einer solchen Grundlegung scheitert, weil ihm aufgrund seiner Missachtung des Souveränitätsprinzips eine Fehlrekonstruktion demokratischer Willensbildung unterläuft.²¹⁸ Mir geht es hier lediglich darum, zu zeigen, dass auch der subjektivistisch fundierte Prozeduralismus das Versprechen der prozeduralistischen Gemeinwohltheorie – nämlich allein über die formale Spezifizierung prozeduraler Verfahrenskriterien eine Bestimmung des Allgemeinwohls zu geben – nicht einlösen kann. Bei den oben genannten Einwänden handelt es sich um den Irrtumseinwand, den Inadäquatheitseinwand und den Exklusionseinwand.

2.5.1 Der Irrtumseinwand Der Irrtumseinwand gegen den subjektivistischen Prozeduralismus beruht auf der These, dass die Prämisse eines reinen ethischen Subjektivismus bei der Ge-

 Diese Differenzierung ist bedeutsam, weil ich in Kap. 3.2 dafür optieren werde, dass ein qualifiziertes Souveränitätsprinzip, welches durch bestimmte verfahrenstranszendente Normen (Kriterien für Gemeinwohl-Sachbereiche, Bedingungen sachbereichsspezifischer Verfahrensadäquatheit, sachbereichsspezifische Gemeinwohl-Grenzwerte und Gemeinwohl-Signifikanzschwellen) eingehegt ist, durchaus als gemeinwohlkonstitutiv begriffen werden muss. In diesem Zusammenhang werden auch die Argumente für und wider die konkurrierenden Modelle der aggregativen und der deliberativen Demokratietheorie thematisiert werden müssen.

2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus

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meinwohlbestimmung, d. h. die Annahme, wonach das Für-gut-Halten einer politischen Handlung oder eines politischen Zieles seitens der Gemeinschaftsmitglieder mit dessen Gemeinwohldienlichkeit gleichzusetzen ist, unplausibel ist. Der Grund hierfür ist, dass sich die Mitglieder (oder für die Gemeinwohlbestimmung ausschlaggebende weite Gesellschaftsschichten) darüber irren können, was dem Wohle ihrer Gemeinschaft dient. Das bedeutet: Die Mitgliederinteressen können in Bezug auf das Gemeinwohl fehlgeleitet sein bzw., in Rekurs auf das Basismodell aus Kap. 2.1 gesagt, der Systeminput kann aufgrund von Irrtümern von Mitgliedern defizitär sein, woraus ein defizitäres Systemoutput resultiert.²¹⁹ Das entscheidende Argument hat James Griffin in seiner Monographie Well-Being wie folgt auf den Punkt gebracht: „[N]otoriously, we mistake our own interests. It is depressingly common that even when some of our strongest and most central desires are fulfilled, we are no better, even worse, off.“²²⁰ In diesem Zusammenhang ist deutlich festzuhalten, dass dieses Gegenargument kein internes Argument darstellt, welches der kritisierten Theorie inkonsistente Prämissen vorwirft oder aufweist, dass diese ihre selbst gestellten Ansprüche nicht erfüllen kann. Der Irrtumseinwand fußt vielmehr, indem er auf die Möglichkeit von Irrtümern über das Gemeinwohl verweist, auf einem externen Argument, insofern er die Annahme eines ethischen Subjektivismus und die darauf beruhende Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl als intuitiv unhaltbar zurückweist. Für die Möglichkeit solcher Irrtümer über das Gemeinwohl, die einen subjektivistischen Prozeduralismus unplausibel machen, gibt es eine Reihe von Gründen: Selbst wenn man konzediert, dass die Mitglieder nicht von Akteuren manipuliert und mit falschen Informationen versorgt werden (wenn also zentrale normative Adäquatheitsbedingungen erfüllt sind), ist es möglich, dass Individuen nicht über die erforderlichen Informationen verfügen, um angemessene bzw. nicht potentiell fehlgeleitete Interessen auszubilden. Dieses Problem potenziert sich in Hinblick auf komplexe und von der unmittelbaren Lebenswelt der Mitglieder weit entfernte politische Sachbereiche.²²¹ Des Weiteren sind, selbst wenn die Mitglieder wohlinformiert sind, logische Fehlschlüsse möglich: Individuen können selbst aus  Etwas salopp ließe sich hier auch, angelehnt an die Sprache der Informatik und der angewandten Mathematik, von einem ‚garbage in, garbage out’-Problem (GIGO) reden, vgl. Graber (1982).  Griffin (1986: S. 10 f.).  Kaum ein Theoretiker hat diesen Einwand so harsch formuliert wie Joseph A. Schumpeter in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie: „So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt. Er argumentiert und analysiert auf eine Art und Weise, die er innerhalb der Sphäre seiner wirklichen Interessen bereitwillig als infantil anerkennen würde. Er wird wieder zum Primitiven. Sein Denken wird assoziativ und affektmäßig.“ Schumpeter ([1947] 2005: S. 416 f.).

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wahren, konsistenten Prämissen Schlüsse ziehen, die beispielsweise zirkulär oder question-begging sind. Die intuitive Plausibilität dieser Irrtumsannahme lässt sich anhand von Beispielen belegen: So ist etwa die Frage, ob ein Anbauverbot genetisch veränderter Nutzpflanzen dem Gemeinwohl dient, wissenschaftlich so komplex und überdies mit derart langfristigen Nutzenabwägungen verbunden, dass ein Irrtum seitens der allermeisten Gemeinschaftsmitglieder nicht unwahrscheinlich ist. Es könnte sich etwa erweisen, dass ein Anbauverbot verhindert, dass durch Genmanipulation verursachte gesundheitsschädigende Stoffe Eingang in die Nahrungsversorgung der Gesamtbevölkerung finden – ein Ergebnis, welches intuitiv gemeinwohlschädlich sein dürfte, und zwar, offenkundig, auch dann,wenn die Mitglieder selbst ein Verbot ablehnen. Es könnte aber auch der Fall sein, dass solche schädlichen Effekte nicht auftreten und dass vielmehr durch die Zulassung genveränderten Saatguts, z. B. ertragreicherer Getreidesorten, gesellschaftsweiten Hungersnöten in Krisenzeiten vorgebeugt werden kann. Eine Risikoabwägung dieser Optionen erfordert eine solche biowissenschaftliche und medizinische Expertise, dass selbst, wenn die Mitglieder mit hinlänglichen Informationen zu dieser Sachfrage versorgt sind, bezweifelt werden kann, ob sie auch in der Lage sind, diese richtig zu gewichten und daraus korrekte Schlüsse zu ziehen. Ein anderes Beispiel, das sich im Lichte der aktuellen Debatte über Terrorismus-Prävention aufdrängt, betrifft die Gemeinwohldienlichkeit der Kriegsführung eines Gemeinwesens gegen andere Staaten: So wäre es z. B. möglich, dass ein Gemeinwesen, das durch islamistische Terroristen bedroht wird, die seitens eines anderen islamischen Staates Unterstützung erfahren (durch Finanzierung, Ausbildung, territoriale Rückzugsräume etc.), die Gefahr eines Anschlags auf seine Mitglieder erheblich vermindert, indem es diesen Staat militärisch angreift und okkupiert; und es dürfte in diesem Falle schwer fallen, die Gemeinwohldienlichkeit einer solchen Handlung zu bestreiten, auch dann, wenn die Gemeinschaftsmitglieder selbst einem Kriegseintritt ablehnend gegenüberstehen.²²² Ebenso wäre es jedoch möglich, dass diese Kriegsführung nicht nur keine Eindämmung der Terror-Gefahr bewirkt, sondern überdies zu einer Radikalisierung bislang moderater Muslime innerhalb des eigenen Gemeinwesens beiträgt, welche in der Folge eine erheblich größere Bedrohung repräsentieren als vor dem Kriegseinsatz. In letzterem Falle ließe sich die Gemeinwohlschädlichkeit des

 Damit ist indes nicht gesagt, dass jenseits des Gemeinwohles als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns beispielsweise völkerrechtliche Normen keine gewichtigen Gründe gegen eine entsprechende Militäroperation darstellen können. Diese Einschätzung ist also durchaus im Einklang mit der Auffassung vom Gemeinwohl als einem Rechtfertigungsgrund unter anderen Gründen (siehe Kap. 1.2).

2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus

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Krieges kaum bestreiten. Auch hier gilt, dass ein Mangel an Expertise seitens der meisten Mitglieder (hier in den Bereichen der Geo- und Sicherheitspolitik ebenso wie der Islamwissenschaft und Soziologie) die Gefahr fehlgeleiteter Interessen und damit eines potentiell gemeinwohlschädlichen Systemoutputs birgt. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass die Möglichkeit von Irrtümern über die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen erstens intuitiv plausibel ist, weil es z. B. rational kaum bestreitbar ist, dass ein kollektiv für richtig gehaltener Kriegseintritt, der entgegen dem intendierten Effekt zu einer Verschlechterung der nationalen Sicherheitslage führt, gemeinwohlschädlich ist. Und dass zweitens aufgrund der erforderlichen Beurteilungsexpertise für solche Sachfragen Irrtümer unter den Mitgliedern eines Gemeinwesens auch faktisch durchaus auftreten können. Offensichtlich trifft dieser Einwand die beiden Varianten des subjektivistischen Prozeduralismus, aggregative und deliberative Demokratietheorie, in unterschiedlichem Maße: Während das aggregative Modell lediglich eine Aggregierung von prä-prozedural gebildeten Interessen als gemeinwohlkonstitutiv begreift (etwa: pro/kontra Anpflanzungsverbot, pro/kontra Kriegseinsatz) und somit keine ‚Schutzmechanismen’ gegen Gemeinwohlirrtümer vorsieht, macht das deliberative Modell durch seinen Austausch interpersonal akzeptabler Gründe zwischen den Mitgliedern und der damit einhergehenden Transmission von Informationen Irrtümer weniger wahrscheinlich.²²³ Durch die allseitige Rechtfertigungspflicht bei der Geltendmachung von Interessen ist es wahrscheinlicher, dass Interessen, die auf faktischen Irrtümern oder inkonsistenten Schlüssen beruhen, aufgegeben werden. Aber – und dieser Punkt ist entscheidend (und für meine Argumentation völlig ausreichend) – es ist nicht garantiert. Genau dies müsste jedoch der Fall sein, wenn man auf Grundlage der deliberativen Theorie den Gemeinwohlautomatismus eines adäquaten Systems (‚Gemeinwohl ist, was ein adäquates System produziert’) rechtfertigen wollte. Nun steht dem Vertreter der kritisierten Theorie jedoch eine Antwortstrategie auf den Irrtumseinwand zur Verfügung, die Letzteren durch eine Modifikation der Grundprämissen scheinbar gänzlich aushebelt – er könnte nämlich einfach erwidern: ‚Natürlich meine ich nicht, dass das Gemeinwohl im Output eines Systems besteht, dessen Mitglieder sich über entscheidende politische Sachfragen irren (das wäre ja auch absurd!); es besteht vielmehr im Output eines Systems, wie es

 Der Begriff des ‚Schutzmechanismus’ gegen Gemeinwohlirrtümer ist in diesem Kontext natürlich mit Vorsicht zu genießen, weil auch die deliberative Demokratietheorie, wie ich sie skizziert habe, keine prozedurtranszendenten Maßstäbe der Gemeinwohlbestimmung, an denen sich Irrtümer ausweisen ließen, vorsieht, sondern interpersonale und nach dem Austausch von Informationen generierte Akzeptanz als Kriterium der Gemeinwohldienlichkeit ansieht.

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

sich ergäbe, wenn die Interessen aller Mitglieder rational und wohlinformiert wären.’²²⁴ Diese Antwortstrategie können wir als Idealisierungsstrategie 1 bezeichnen. Um eine Idealisierung handelt es sich insofern, als das Problem eines defizitären Systeminputs durch Irrtümer dadurch behoben wird, dass zur Bestimmung des Gemeinwohles anstelle des aktualen Inputs realer Gemeinschaftsmitglieder der hypothetische Input idealer, d. h. kontrafaktisch vollständig informierter und rationaler Mitglieder, veranschlagt wird. Hinsichtlich der genauen Kriterien vollständiger Informiertheit und Rationalität gibt es innerhalb der Metaethik eine Reihe von Kontroversen.²²⁵ Zum Zwecke der Rekonstruktion der Idealisierungsstrategie 1 ist es hinreichend, festzuhalten, dass die hypothetischen Inputgeber insofern vollständig informiert sind, als sie über alle Informationen verfügen, um politische Sachfragen in Hinblick auf das Gemeinwohl angemessen zu beurteilen und angemessene Nutzenabwägungen sowie Prognosen anstellen zu können; und dass sie insofern rational sind, als ihre auf Grundlage dieser Informationen gezogenen Schlüsse logisch konsistent und korrekterweise zielführend sind. In Bezug auf die im politischen Prozess geltend gemachten Interessen haben diese Idealisierungsstandards zwei Effekte: Erstens sondern sie fehlgeleitete, d. h. im Irrtum über das Gemeinwohl befindliche, Interessen aus, und zweitens ersetzen sie diese durch korrekte, d. h. angemessen gemeinwohlorientierte, Interessen.²²⁶ Allerdings, so meine These, stellt die durch die Idealisierungsstrategie 1 gewährleistete Überwindung des Irrtumseinwands für den Vertreter des subjektivistischen Prozeduralismus einen Pyrrhussieg dar. Der Grund ist, dass durch die Substituierung der Deutungshoheit der aktualen Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl durch die Deutungshoheit kontrafaktisch vollständig informierter und rationaler Personen das Souveränitätsprinzip nicht nur eingeschränkt, sondern gänzlich aufgegeben wird. Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie verlässt, wenn sie die Idealisierungsstratgie 1 verfolgt, schlichtweg den Boden des ethischen Subjektivismus – welcher das Gemeinwohl über die aktualen Interessen der Gemeinschaftsmitglieder definiert – und gibt damit gleichsam den argumentativen Vorteil gegenüber dem epistemischen Verständnis demokratischer Prozeduren, dessen Mängel die Hinwendung zum subjektivistischen Prozeduralismus allererst motiviert hatte, preis. Die Idealisierungsstrategie 1 ist also, kurz gesagt, kein gangbarer Weg zur Rettung des subjektivistischen Prozeduralismus, sie führt geradewegs zur Aufgabe der Theorie.

 Eine solche Gemeinwohldefinition skizziert beispielsweise Dahl (1989: S. 306 ff.).  Für einen kurzen, aber prägnanten Überblick vgl. Enoch (2005).  Vgl. Griffin (1995: S. 30).

2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus

93

2.5.2 Der Inadäquatheitseinwand Anders als der Irrtumseinwand stellt der Inadäquatheitseinwand eine interne Kritik am subjektivistischen Prozeduralismus dar: Er stellt in Abrede, dass dieser seinem selbst gesetzten Ziel, als Anwendungstheorie zu fungieren, Rechnung tragen kann. Der Einwand nimmt seinen Ausgang von der These, dass in realen politischen Systemen aus empirisch-kontingenten Gründen zu keinem Zeitpunkt alle normativen und funktionalen Adäquatheitsbedingungen vollständig erfüllt sein können. Diese These vertritt denn auch beispielsweise Claus Offe in seinem Essay ‚Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?’ mit der Feststellung, dass „normale“, d. h. aktuale, politische Prozesse dergestalt verfasst sind, dass sie niemals „eine gleichmäßige Wert- und Interessenberücksichtigung zustande bringen“.²²⁷ Aufgrund vielfältiger und kontinuierlich auftretender Ursachen wie menschlichem Versagen oder jenseits menschlicher Kontrolle liegendem und durch externe Faktoren verursachtem Systemversagen ist es unvermeidlich, dass bestimme Prozessnormen stets unerfüllt bleiben. Dieser recht triviale Umstand hat verheerende Konsequenzen für die prozeduralistische Gemeinwohlkonzeption. Weil Letztere das Gemeinwohl dezidiert und exklusiv als Output eines Systems begreift, das die von der Theorie spezifizierten Adäquatheitsbedingungen erfüllt, wäre die Folge, dass reale politische Systeme das Gemeinwohl immer verfehlen müssten. Diese Folgerung ist aber intuitiv ausgesprochen unplausibel: Die meisten aktualen politischen Systeme, die nicht im höchsten Maße undemokratisch oder korrumpiert sind, produzieren nach allseitig geteilter politischer Grundüberzeugung durchaus das Gemeinwohl – nicht immer, aber mit Sicherheit auch nicht niemals. Da der subjektivistische Prozeduralismus diese These jedoch bestreiten muss, wird er als Theorie zur Beurteilung realer politischer Systeme unbrauchbar. Wie im Falle des Irrtumseinwands trifft der Inadäquatheitseinwand die beiden Unterarten des subjektivistischen Prozeduralismus, aggregative und deliberative Demokratietheorie, in unterschiedlichem Maße – diesmal jedoch in umgekehrter Form: Während die aggregative Demokratietheorie z. B. dem Problem drohender Delegationsverluste mit systeminternen Kontrollmechanismen begegnet und der Gefahr einer Missachtung von Minderheiteninteressen durch die Vergabe intra- und/oder extraparlamentarischer Vetomacht vorbeugt, sieht die deliberative Theorie aufgrund ihres anti-etatistischen Impetus keine solchen Kontrollmechanismen vor, sondern vertraut allein auf die transformative Kraft der

 Offe (2001: S. 486).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

Kommunikation.²²⁸ Dabei ist nicht ersichtlich, wie die strikten Vorgaben des deliberativen Modells bzgl. der Horizontalität und Nicht-Hierarchizität zivilgesellschaftlicher Organisationen, um nur zwei Adäquatheitsbedingungen zu nennen, in realen Systemen näherungsweise erfüllt sein könnten. Auch in diesem Falle stehen dem Verteidiger des subjektivistischen Prozeduralismus jedoch Antwortstrategien bereit: Die erste Option besteht darin, die Idealisierungsstrategie 2 zu verfolgen. Diese besteht im Kontrast zur Idealisierungsstrategie 1 darin, das Gemeinwohl als Ergebnis eines demokratischen Prozesses zu begreifen, wie es sich ergäbe, wenn alle Adäquatheitsbedingungen erfüllt wären. Dem Problem eines defizitären Systemoutputs wird also, wie sich unter Rekurs auf das Basismodell des Prozeduralismus sagen lässt, dadurch begegnet, dass zur Bestimmung des Gemeinwohls kontrafaktisch ideal funktionierende Prozeduren veranschlagt werden. Diese Erwiderung auf den Inadäquatheitseinwand fällt meines Erachtens demselben Problem anheim wie die Idealisierungsstrategie 1: Auch sie unterminiert die Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder und verletzt damit das Souveränitätsprinzip – allerdings indirekt, und nicht wie im ersteren Falle direkt. Den Gemeinschaftsmitgliedern wird zwar nicht aufgrund der Irrtumsmöglichkeit über das Gemeinwohl die Deutungshoheit verwehrt; aber indem man das Gemeinwohl als Output eines idealen (und nicht aktualen) Prozesses begreift, wird den Mitgliedern, die zur Gemeinwohlbestimmung nun einmal auf aktuale Prozeduren angewiesen sind, die faktische Möglichkeit abgesprochen, das Gemeinwohl selbst zu bestimmen. Die Bestimmung des Gemeinwohles wird stattdessen zur Angelegenheit des Gemeinwohl-Theoretikers selbst, insofern sie nicht mehr über politische Verfahren, sondern nur über das Gedankenexperiment idealer Prozeduren definiert ist. Es gibt jedoch eine zweite Antwortstrategie, die prima facie wesentlich vielversprechender ist. Sie besteht in einer Modifikation der Prämissen durch Einführung einer Hinlänglichkeitsklausel. Diese besagt – ausgehend von den Thesen, dass erstens die Forderung nach einer vollständigen Adäquatheit zu stark ist, und dass zweitens aktuale Systeme durchaus gemeinwohlproduzierend sein können – dass das Gemeinwohl im Output eines hinlänglich adäquaten Systems besteht. Hinlänglich adäquat ist ein System dann, wenn die normativen und funktionalen Adäquatheitsbedingungen ‚im Großen und Ganzen’ erfüllt sind – d. h. wenn sich beispielsweise nach dem aggregativen Modell Delegationsverluste in sehr überschaubaren Grenzen halten oder wenn in Hinblick auf das deliberative Modell

 Übrigens ist es bezeichnend, dass Dryzek selbst in diesem Zusammenhang wortwörtlich von „faith in the power of deliberation itself“ spricht; Dryzek (2000: S. 169).

2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus

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kommunikative Gleichberechtigung weitestgehend gewährleistet ist. Der Hinlänglichkeitsklausel wird meines Erachtens am besten durch die Einführung eines normativen und funktionalen Schwellenwerts Rechnung getragen: Alle Systeme, die einen solchen Schwellenwert überschreiten, sind hinlänglich und somit gemeinwohlproduzierend; alle Systeme, die ihn unterschreiten, sind nicht hinlänglich und also auch nicht gemeinwohlproduzierend. Die Hinlänglichkeitsklausel stellt in meinen Augen eine harte Nuss für den Prozeduralismuskritiker dar. Dass sie dennoch nicht hinreicht, um den subjektivistischen Prozeduralismus der Gemeinwohltheorie gegen den Inadäquatheitseinwand zu verteidigen, hat folgenden Grund: Es ist nicht möglich, einen Schwellenwert der Hinlänglichkeit zu definieren ohne (tacit) auf prozedurtranszendente Maßstäbe der Systemoutputbewertung zurückzugreifen. Warum, so die kritische Frage, die der Prozeduralist beantworten müsste, ist diese Abweichung vom Adäquatheitsideal noch hinlänglich für die Gemeinwohlproduktion, jene aber nicht mehr, wenn es keinen externen Maßstab gibt, anhand dessen eine Abweichung für (un)zulässig befunden werden kann. Nur indem wir bereits eine, wie auch immer geartete, inhaltliche Vorbestimmung für einen gemeinwohlkonstitutiven Systemoutput voraussetzen, ist es möglich, überhaupt begründet zu behaupten, dieses System sei hinlänglich, jenes aber nicht.

2.5.3 Der Exklusionseinwand Bei dem letzten Einwand, dem Exklusionseinwand, handelt es sich, ebenso wie bei dem Inadäquatheitseinwand, um eine interne Kritik. Sie lässt sich zu der These zusammenfassen, dass eine subjektivistische Theorie prozeduraler Gemeinwohlbestimmung keine Adäquatheitsbedingungen angeben kann, die dem Souveränitätsprinzip und dem daraus abgeleiteten Verfahrensprinzip auf plausible Weise Rechnung tragen, weil sie notwendig bestimmte Gemeinschaftsmitglieder ungerechtfertigterweise von der Gemeinwohlbestimmung ausschließt.²²⁹ Das in Kapitel 2.4.1 skizzierte Verfahrensprinzip, das eine Operationalisierung des Souveränitätsprinzips und damit die Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl durch politische Verfahren ermöglicht, legt – ausgehend von der Grundprämisse gleichberechtigter Berücksichtigung der Interessen aller Mitglieder – fest, dass jedes Mitglied den Anspruch hat, seine Interessen selbst  Ich entlehne diese Kritik in weiten Teilen aus Francis Schrags Essay „Children and Democracy“ (2004). Schrag beschränkt sich in seiner Argumentation auf die Rechtfertigungsprobleme bei der partizipativen Exklusion von Kindern vom demokratischen Prozess; seine Thesen lassen sich meines Erachtens jedoch auf den Fall geistig behinderter Gemeinschaftsmitglieder ausweiten.

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

und gleichberechtigt gegenüber anderen Mitgliedern geltend zu machen. Nun gibt es jedoch bestimmte Mitglieder, die begründeterweise von der Partizipation ausgeschlossen werden, nämlich Menschen, die, wie Christiano schreibt, kein entwickeltes Verständnis ihrer eigenen Interessen (mehr) haben, also in einem spezifischen Sinne unmündig sind.²³⁰ Hierbei handelt es sich maßgeblich um Kinder und geistig behinderte Menschen.²³¹ Während Erstere aufgrund ihrer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung entweder noch keine eigenen Interessen ausgebildet haben oder kein entwickeltes Verständnis von diesen haben, gilt dies für Letztere aufgrund von mentaler Beeinträchtigung durch Behinderung. Um die Exklusion dieser Gruppe von Gemeinschaftsmitgliedern von der politischen Partizipation zu operationalisieren, bedarf es spezifizierter Zugangshürden. In Hinblick auf das – im Vergleich zur deliberativen Theorie – stärker formalisierte aggregative Modell handelt es sich hierbei um Altersanforderungen zur Wahlberechtigung (bei Kindern) sowie um den Ausschluss vom Wahlrecht aufgrund von medizinischen Gutachten (bei geistig Behinderten). In der deliberativen Demokratietheorie wird ein solcher Ausschluss hingegen durch die ungleich vageren, aber deswegen auch flexibleren Mindeststandards kommunikativer Rationalität gewährleistet. Die Crux ist nun, dass – wenn wir zunächst einmal beim aggregativen Modell bleiben – die konkrete Theorie eben spezifische Zugangshürden in ihren Adäquatheitsbedingungen aufstellen muss, beispielsweise eine Altersanforderung von 18 Jahren zur Wahlberechtigung oder einen genauen Kriterienkatalog für ärztliche Gutachten zur Aberkennung der Wahlberechtigung. Dies hat jedoch notwendigerweise (und wenn nicht notwendig im streng metaphysischen oder logischen Sinne, dann doch mit allergrößter Wahrscheinlichkeit) zur Folge, dass bestimmte Mitglieder, die durchaus ein angemessenes Verhältnis zu ihren eigenen prospektiv-intentionalen Einstellungen haben, ‚durchs Raster fallen’. Francis Schrag schildert in diesem Kontext ausführlich das Beispiel des sehr aufgeweckten James, der bereits mit 14 Jahren die Schule verlassen und ein Jahr lang arbeiten möchte, um erst im Anschluss seine Schulausbildung abzuschließen. Angenommen, dass James in der Tat ein angemessenes Verhältnis zu seinen eigenen Interessen hat (dies muss vorausgesetzt werden), dann wäre es beispielsweise ungerechtfertigt, ihm bei einer landesweiten Abstimmung über das Min-

 Vgl. Christiano (2001: S. 207).  Auf die Frage, inwieweit das folgende Problem auch auf bestimmte intelligente Primatenarten zutrifft, werde ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen – nicht deshalb, weil ich die Frage prinzipiell für grotesk oder offenkundig erachte, sondern weil sie einen ausgedehnten Exkurs in die Tierethik erforderte, für den an dieser Stelle kein Raum ist.

2.5 Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus

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destalter für Schulaustritte sein Stimmrecht zu verweigern.²³² Ein ähnliches Beispiel lässt sich fraglos auch für den Fall einer geistig behinderten Person konstruieren.²³³ Der Vertreter des aggregativen Modells steckt nun in einem instrumentellen Dilemma: Wenn er die Zugangshürden senkt, dann läuft das politische System Gefahr, auch solche Personen zu inkludieren, die im obigen Sinne unmündig sind; wenn er die Zugangshürden beibehält (z. B. bei einem Mindestwahlalter von 18 Jahren), dann droht eine Exklusion von Interessen, die gerechtfertigterweise berücksichtigt werden müssten. Nun sieht die politische Theorie durchaus eine Rechtsinstitution vor, um einem derartigen Defekt vorzubeugen, nämlich die der Vormundschaft, welche nach rechtlichen Kriterien mündigen Gemeinschaftsmitgliedern das Recht zuspricht, aber auch die Aufgabe auferlegt, die Interessen ihres zuerkannten Mündels an dessen statt geltend zu machen. Nur gibt es, so lässt sich mit Schrag argumentieren, eben keine Garantie dafür, dass der Vormund die Interessen seines Mündels geltend macht: „If a group of citizens with distinctive preferences were to be deprived of the franchise, it is more likely that their preferences would be ignored“.²³⁴ Bei der deliberativen Demokratietheorie liegen die Dinge etwas anders: Aufgrund der Vagheit der Standards kommunikativer Rationalität, die nicht über numerische Kriterien wie Altersanforderungen konkretisiert werden müssen, schließt die Theorie nicht nur nicht aus, dass auch Kinder und geistig Behinderte an der kommunikativen Bestimmung des Gemeinwohles beteiligt werden (sie ermöglicht diese, insofern sie alternative Kommunikationsformen zulässt, sogar expressis verbis); aufgrund der angestrebten Diversität der für die Zivilgesellschaft konstitutiven horizontalen Vereinigungen bietet sie überdies partizipativen Raum für politisch orientierte Jugendorganisationen ebenso wie für Behindertenverbände. Die Probleme treten indes an anderer Stelle auf: Anders als der für das aggregative Modell zentrale und vergleichsweise unaufwendige Wahlakt ist die kommunikative Geltendmachung der eigenen Interessen ungleich anspruchsvoller. Durch die Anforderung an die Mitglieder, ihre Interessen kommunikativ in das politische System einzuspeisen und also in ein interpersonal-reziprokes Geben von Gründen einzutreten, werden diejenigen Gemeinschaftsmitglieder benachteiligt, die zwar im oben genannten Sinne mündig sind, aber aufgrund von Behinderungen erhebliche Probleme damit haben, ihre Interessen auch zu artikulieren. Zu denken ist hier etwa an Personen, die an einem Locked-In-Syndrom  Vgl. Schrag (2004: 372).  Für eine Vertiefung dieses Themas, auf das ich hier nicht weiter eingehen werde, siehe beispielsweise Herr (1979).  Schrag (2004: S. 368).

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

leiden, an Personen mit autistischer Behinderung sowie – in einem geringeren Maße – an Personen mit Tourette-Syndrom. Ich sehe nicht, wie der deliberative Ansatz gewährleisten kann, dass solche Mitglieder nicht, um die vorangegangene Formulierung aufzugreifen, durch das ‚Raster’ der Adäquatheitsbedingungen fallen. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass der Exklusionseinwand darauf abhebt, dass der subjektivistische Prozeduralismus aufgrund der Notwendigkeit von Zugangshürden zum partizipativen politischen Prozess gleichsam solche Gemeinschaftsmitglieder vom Geltendmachen ihrer Interessen abhält, die darauf einen berechtigten Anspruch hätten – im Falle des aggregativen Modells aufgrund der Notwendigkeit, konkrete Kriterien der Wahlberechtigung aufzustellen; im Falle des deliberativen Modells aufgrund des hohen Anspruchs, der mit der Anforderung kommunikativer Rationalität verbunden ist. Anders als im Falle des Inadäquatheitseinwands liegt das Problem also nicht darin, dass aktuale Systeme nicht alle Adäquatheitsbedingungen erfüllen, sondern dass fraglich ist, ob sich im Ausgang von Souveränitäts- und Verfahrensprinzip überhaupt plausible Adäquatheitsbedingungen geben lassen.

2.6 Zwischenfazit Die Diskussion der prozeduralistischen Theorie des Gemeinwohls hat ein durchaus ernüchterndes, aber gleichwohl informatives Resultat erbracht. Ungeachtet seines diskussionsbeherrschenden Status in der politischen Philosophie und in den Politikwissenschaften kann der Prozeduralismus, der auf der These beruht, dass das Wohl eines Gemeinwesens allein über die Angabe formaler Verfahrenskriterien als Output eines normativ und funktional adäquaten politischen Systems definiert werden kann, keine plausible Bestimmung des Gemeinwohls angeben. Informativ ist dieses Resultat insofern, als die zentralen Argumente, welche die Überzeugungskraft einer der beiden prozeduralistischen Varianten unterminieren, der jeweils anderen Variante allererst ihre Grundplausibilität verleihen: Die subjektivistische Lesart der prozeduralistischen Theorie erhält ihre Grundplausibilität dadurch, dass sie die Gemeinwohlbestimmung definitorisch mit dem Prozess politischer Willensbildung verkoppelt und den Gemeinschaftsmitgliedern qua Trägern von Interessen und Mitgliedern eines souveränen Gemeinwesens die Deutungshoheit über das Gemeinwohl einräumt; sie scheitert indes (unter anderem, aber doch maßgeblich) daran, dass sie aufgrund des ihr zugrunde liegenden reinen ethischen Subjektivismus die Möglichkeit von Irrtümern über das Gemeinwohl nicht explizieren kann. Die objektivistische Lesart bezieht hingegen ihre Grundplausibilität aus der intuitiv einsichtigen

2.6 Zwischenfazit

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Möglichkeit von Irrtümern über das Gemeinwohl und spezifiziert folglich innerhalb des prozeduralistischen Paradigmas die Adäquatheitsbedingungen des Systems über dessen epistemische Leistungsfähigkeit bei der Identifizierung gemeinwohldienlichen Handelns; sie scheitert jedoch (neben anderen Faktoren wie der epistemischen Überlastung des Systems) daran, dass sie den demokratischen Akt kollektiver Interessenartikulation zu einem bloß epistemischen Verfahren depotenziert und den Interessen der Gemeinschaftsmitglieder somit jeden gemeinwohlkonstitutiven Anspruch aberkennt. Eine Gemeinwohltheorie, die die Vorteile der beiden Varianten inkorporieren soll, ohne deren verheerende Nachteile in Kauf zu nehmen, muss demnach zweierlei leisten: Sie muss einerseits der Möglichkeit von Gemeinwohlirrtümern durch Spezifizierung interessentranszendenter Maßstäbe Rechnung tragen, und sie muss andererseits dem Souveränitätsprinzip Rechnung tragen, indem sie den Gemeinschaftsmitgliedern die Deutungshoheit über das Gemeinwohl einräumt. Diese doppelte Anforderung kann offenkundig nur erfüllt werden, wenn keines der beiden Prinzipien verabsolutiert wird, wenn also einerseits die Deutungshoheit der Mitglieder durch interessentranszendente Kriterien eingeschränkt bzw. qualifiziert wird, und wenn andererseits diese Kriterien offen oder abstrakt genug formuliert sind, um der Deutungshoheit auch Raum zu geben bzw. um die Definitionsmacht der Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl nicht durch einen rigiden Kriterienkatalog (wie z. B. eine konkrete Güter- oder Werteliste oder ein politisches Aktionsprogramm) zu unterminieren. Eine solche Integration kann allerdings nicht im Rahmen einer rein prozeduralistischen Gemeinwohltheorie gelingen, weil beide Varianten disjunkte, d. h. einander ausschließende, Theorien darstellen: Entweder man begreift das Gemeinwohl als Output eines formal spezifizierten Verfahrens, weil man annimmt, dass das entsprechende Verfahren epistemisch so leistungsfähig ist, dass es das Gemeinwohl nie verfehlt. Oder man begreift das Gemeinwohl als Output eines solchen Verfahrens, weil man annimmt, dass die Mitglieder vermittels dieses Verfahrens ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl auf normativ und funktional angemessene Weise ausüben können. Anders gesagt (und jenseits aller übrigen Einwände gegen prozeduralistische Gemeinwohlbestimmungen argumentierend): Es macht keinen Sinn zu sagen, dass die Verfahren eines politischen Systems dazu dienen, dass Gemeinwohl zu ‚finden’ und den Mitgliedern die Definitionsmacht über das Gemeinwohl einzuräumen. Eine Vermittlung zwischen beiden Positionen ist also aufgrund der fundamental verschiedenen Funktionsbestimmung politischer Verfahren in beiden Varianten nicht möglich; und für sich besehen kann keine der beiden Theorien eine befriedigende Explikation des allgemeinen Wohles bieten.

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2 Die prozeduralistische Gemeinwohltheorie

Eine Antwort auf die Frage, wie denn nun das Gemeinwohl bestimmt werden soll, muss also jenseits des theoretischen Paradigmas gesucht werden, welches das Gemeinwohl ausschließlich prozeduralistisch bestimmt. Es muss geklärt werden, ob und wenn ja welche substantiellen bzw. inhaltlichen Bestimmungen des Gemeinwohls von der Theorie selbst gegeben werden können und wie diese mit der geforderten Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder, welche von diesen ja vermittels politischer Prozeduren der kollektiven Willensbildung ausgeübt werden muss, in Einklang gebracht werden können. Bei einem solchen Projekt stellen die beiden in Kap. 2.1 kurz skizzierten anti-substantialistischen Argumente jedoch eine schwerwiegende argumentative Herausforderung dar: Wenn sich nämlich – und so argumentieren die Vertreter des Prozeduralismus ja – zeigen sollte, dass jede inhaltliche Spezifizierung des Gemeinwohls jenseits rein formaler Verfahrenskriterien seitens der normativen Staatstheorie selbst eine demokratische Staatsform zugunsten einer paternalistischen Diktatur delegitimieren und überdies in eine Absage an einen gesellschaftlichen Pluralismus einmünden würde, wäre das Projekt einer Bestimmung des Gemeinwohls gescheitert. Und der Begriff müsste als ein möglicher Rechtfertigungsgrund politischen Handelns in der Tat ad acta gelegt werden.

3 Die integrative Gemeinwohltheorie 3.1 Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These In Kap. 2 habe ich dargelegt, dass eine rein prozeduralistische Gemeinwohltheorie an schwerwiegenden Einwänden scheitert und die These aufgestellt, dass eine plausible Konzeption der Gemeinwohlbestimmung prozedurale und substantielle Elemente integrieren muss, um sowohl dem Souveränitätsprinzip als auch der Möglichkeit von Gemeinwohlirrtümern Rechnung tragen zu können. Dieses Projekt einer integrativen Gemeinwohltheorie sieht sich jedoch zwei gravierenden Einwänden seitens rein prozeduralistischer Theoretiker ausgesetzt: der TertiumNon-Datur-These (die ich im Folgenden der Kürze halber als TND-These bezeichne) und der Pluralismus-These. Diese Einwände, die ich in Kap. 2.1 lediglich angerissen habe, weil ich in diesem Kontext die Frage einer positiven Bestätigung des Prozeduralismus thematisiert habe, laufen darauf hinaus, dass eine inhaltliche Vorbestimmung des Gemeinwohls von Seiten der Gemeinwohltheorie in die Delegitimierung demokratischer Willensbildungsprozesse und gesellschaftlicher Wertepluralität einmündet. Wären diese Einwände stichhaltig, würde dies das Aus für meinen Theorieentwurf bedeuten: Einerseits, weil sich hieraus die Inkompatibilität prozeduraler und substantieller Gemeinwohl-Elemente ergäbe, deren Integration ja gerade von meiner Theorie angestrebt wird; und andererseits, weil eine solche Theorie nicht mehr an unser normatives Vorverständnis einer legitimen Pluralität von Lebensformen in modernen Gesellschaften anschlussfähig wäre. Da weder die TND-These noch die Pluralismus-These von ihren Vertretern detailliert ausgeführt wird, muss zunächst eine Rekonstruktion der Einwände erfolgen, um deren Stichhaltigkeit überprüfen zu können.²³⁵ Hierbei wird sich zeigen, dass keiner der

 In der Tat sind die meisten Einlassungen von Autoren der politischen Philosophie zu der mutmaßlichen Unvereinbarkeit substantieller Gemeinwohlkriterien mit demokratischen Verfahren und gesellschaftlichem Pluralismus bestenfalls aperçuhaft zu nennen, vgl. unter anderem Münkler & Bluhm (2001: S. 10), Gutman & Thompson (2004: S. 25), Morlok (2008: S. 13). Eine – begrenzte – Ausnahme bilden Fraenkels Auseinandersetzung mit der substantialistischen Gemeinwohltheorie des Sowjetkommunismus, (vgl. Fraenkel 1991: S. 300 f.) und Will Kymlickas Kritik substantialistisch-kommunitaristischer Gemeinwohltheorien (vgl. Kymlicka 1990: S. 206 f.). Allerdings schieben diese beiden Theoretiker den TND-Einwand und den PluralismusEinwand ineinander (vgl. zu diesem Problem Fn. 91), so dass eine trennscharfe Distinktion der Einwände bei ihnen unmöglich wird. Aufgrund dieser Defizite ist es erforderlich, zuallererst zu klären, was die entsprechenden Kritiker überhaupt meinen, wenn sie die Ansicht vertreten, eine substantialistische Gemeinwohlbestimmung sei antidemokratisch und antipluralistisch.

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Einwände dazu geeignet ist, die Inkorporation substantieller Elemente in die Gemeinwohlbestimmung zurückzuweisen, solange man nicht die – extrem unplausible – Position eines starken Substantialismus vertritt. Die TND-These besagt in nuce, dass eine inhaltliche Spezifizierung objektiver, interessentranszendenter Maßstäbe von Seiten der Gemeinwohltheorie, an denen sich das Output eines adäquaten politischen Systems als fehlgeleitet (d. h. als gemeinwohlschädlich oder nicht gemeinwohlnützlich) ausweisen lässt, die Zurückweisung demokratisch-partizipativer Prozeduren zugunsten einer paternalistischen Diktatur zur Folge hat. Aus der veranschlagten Unvereinbarkeit substantieller und prozeduraler Kriterien der Gemeinwohlbestimmung ergibt sich eine strenge Disjunktion zweier gemeinwohltheoretischer Lager: Entweder man vertritt die Position, dass das Gemeinwohl ausschließlich auf der Grundlage formaler Verfahrenskriterien, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Mitglieder an der politischen Willensbildung sicherstellen, definiert ist; oder man ist der Auffassung, dass sich das Gemeinwohl ausschließlich im Sinne substantieller Kriterien bestimmen lässt – tertium non datur! Um zu überprüfen, wie plausibel die TND-These ist, müssen meines Erachtens zwei Fragen beantwortet werden: Erstens muss geklärt werden, welches Konzept einer inhaltlichen Spezifizierung des Gemeinwohls der These zugrunde liegt, dass diese in die Rechtfertigung einer paternalistischen Diktatur bzw. in die Zurückweisung der Demokratie einmündet. Zweitens muss erörtert werden, ob jede Theorie, die substantielle Kriterien annimmt, auch notwendig auf eine ebensolche Position festgelegt ist. Wenn dies nämlich nicht der Fall sein sollte und sich alternative substantielle Bedingungen angeben ließen als jene, die von der TNDThese veranschlagt werden, wäre das Projekt einer integrativen Gemeinwohltheorie immer noch durchführbar. Die substantialistische Gemeinwohltheorie, auf die die TND-These abzielt, muss meines Erachtens von einer zentralen Prämisse ausgehen, damit die entsprechende Kritik auch verfängt – sie muss einen starken Substantialismus vertreten. Unter einem starken Substantialismus verstehe ich die Annahme, dass sich seitens der entsprechenden Theorie eine vollständige Liste konkreter gemeinwohlkonstitutiver Güter angeben lässt, die durch ein politisches Aktionsprogramm umgesetzt werden kann.²³⁶ Dass eine solche Position mit jeder Form demokratisch-prozeduraler Gemeinwohlbestimmung unvereinbar ist, lässt sich leicht zeigen: Da dem starken Substantialismus zufolge bereits eine vollständige Bestimmung aller gemeinwohlrelevanten Güter seitens der Theorie vorliegt, sind Verfahren, bei denen alle Mitglieder des Gemeinwesens ihre Interessen unter

 Vgl. Fraenkel (1991: S. 300).

3.1 Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These

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gleichberechtigten Partizipationsbedingungen in das System einspeisen, hinsichtlich der Gemeinwohlbestimmung funktionslos. Mehr noch: Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Output eines solchen Systems auch mit Notwendigkeit mit der von der stark substantialistischen Gemeinwohltheorie aufgestellten Güterliste korrespondiert, sind demokratische Verfahren in Bezug auf die Gemeinwohlbestimmung sogar hinderlich. Die einzig rationale Konsequenz aus der Annahme einer vollständigen und konkreten Güterliste scheint – wenn man die Gemeinwohlrealisierung als bedeutende Systemfunktion voraussetzt – die Instituierung einer paternalistischen Herrschaft durch Gemeinwohlexperten zu sein; anders könnte nicht sichergestellt werden, dass das Gemeinwohl auch verwirklicht wird. Die Position eines starken Substantialismus ist in der Tat von zwei Theorierichtungen vertreten worden, und zwar von den einflussreichsten totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts – dem Sowjetkommunismus und dem Nationalsozialismus.²³⁷ Die grundlegende Legitimitätsbehauptung des Sowjetkommunismus fußt auf der Annahme, dass sich das Wohl des Gemeinwesens durch eine technokratische Parteielite, die über hinlängliche Kenntnis der Prinzipien des dialektischen Materialismus verfügt, exakt bestimmen und durch ein politisches Aktionsprogramm umsetzen lässt.²³⁸ Paradigmatisch hierfür ist die Politikgestaltung nach Fünfjahresplänen, die von der Wirtschaftspolitik über die Kultur-, Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungspolitik alle Lebensbereiche der Sowjetbürger umfasste. Demgegenüber fußt der Nationalsozialismus auf der Annahme einer unmittelbaren rationalen Einsicht, der „Vorsehung“, des Führers der Volksgemeinschaft in alle gemeinwohlrelevanten Belange des Gemeinwesens. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen normativen Grundannahmen stimmen Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus in ihrer Ablehnung demokratischer Verfahren als Hinderungsgründe der Verwirklichung eines Gemeinwohls überein, das nach Auffassung der Theorienvertreter bereits vollständig vorbestimmt ist. Die entscheidende Frage ist in diesem Kontext jedoch, ob jede Theorie, die substantielle Kriterien der Gemeinwohlbestimmung veranschlagt, auf einen starken Substantialismus festgelegt ist. Meiner Ansicht nach spricht nichts dafür: So ergibt sich keinesfalls mit begrifflicher Notwendigkeit aus der inhaltlichen Spezifizierung des Gemeinwohls seitens der politischen Theorie, dass diese

 Meine Darstellung der totalitären Gemeinwohlkonzeptionen des Sowjetkommunismus und des Nationalsozialismus ist lediglich kursorisch. Sie soll aber auch nicht dazu dienen, einen ideengeschichtlichen Überblick der Gemeinwohlkonzeptionen totalitärer Ideologien zu liefern (vgl. hierzu Stolleis 1974 sowie Arendt [1951] 2005: S. 944– 987), sondern exemplarisch die Position des starken Substantialismus zu illustrieren.  Vgl. Fraenkel (1991: S. 301).

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Spezifizierung auch über die Angabe einer vollständigen und konkreten, alle Politikfelder abdeckenden Liste gemeinwohlkonstitutiver Güter vorgenommen werden muss. Es ist nicht begrifflich ausgeschlossen, sich bei der Angabe substantieller Gemeinwohlkriterien auf negative und abstrakte Rahmenbedingungen der prozeduralen Gemeinwohlbestimmung zu beschränken. Eine solche Position können wir als moderaten Substantialismus (im Unterschied zum starken Substantialismus) bezeichnen. Im Folgenden werde ich erst ausführen, wie das Konzept negativer Rahmenbedingungen zu verstehen ist, um dann zu erläutern, was es heißt, dass diese Kriterien abstrakte Bedingungen darstellen. Der Ausdruck negativer Rahmenbedingungen meint, dass über die entsprechenden Kriterien nicht festgelegt ist, welche politischen Handlungen tatsächlich gemeinwohldienlich sind, ob also z. B. die Gewährleistung landesweiter Vollbeschäftigung oder die Subventionierung erneuerbarer Energien gemeinwohldienlich sind. Negative Rahmenbedingungen legen lediglich fest, welche Mindestanforderungen politische Handlungen erfüllen müssen, wenn sie nicht gemeinwohlschädlich oder für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant sein sollen. Das heißt, durch sie ist – um kurz zwei Fälle anzuführen, die ich in Kap. 4 ausführlich diskutieren werde – z. B. festgelegt, ob die Etablierung einer Rechtsnorm, die die nachträgliche Sicherungsverwahrung von Straftätern erlaubt, gemeinwohlirrelevant ist; oder ob der Bau einer mehrspurigen Autobrücke durch eine UNESCO-geschützte Kulturlandschaft gemeinwohlschädlich ist. Dergestalt fungieren negative Rahmenbedingungen als limitierende Kriterien, die aus der Menge aller möglichen demokratisch legitimierten Handlungen diejenigen ausschließen, die – trotz ihrer Autorisierung durch die Mitglieder – im oben genannten Sinne nicht gemeinwohldienlich sind.²³⁹ Die Eigenschaft der Abstraktheit bezeichnet demgegenüber den Umstand, dass diese materialen Vorgaben durch die Theorie nicht im Sinne konkreter Po-

 Bei diesen Bedingungen, die ich in Kap. 3.2.2 bis 3.2.5 entwickeln werde und hier der Übersicht halber lediglich kurz aufliste, handelt es sich um: 1. Kriterien zur Identifikation gemeinwohlrelevanter Politikfelder (Gemeinwohl-Sachbereiche), in denen der Rekurs auf das Gemeinwohl als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns generell überhaupt sinnvoll ist; 2. sachbereichsspezifische Verfahrenskriterien, die festlegen, welcher prozedurale Modus der Gemeinwohlbestimmung einem spezifischen Politikfeld angemessen bzw. unangemessen ist; 3. sachbereichsspezifische Gemeinwohl-Grenzwerte, die festlegen, welche Effekte politische Handlungen mindestens nicht haben dürfen, wenn sie nicht gemeinwohlschädlich sein sollen; 4. sachbereichsspezifische Gemeinwohl-Signifikanzschwellen, die festlegen, welche Effekte politische Handlungen mindestens haben müssen, um für die Beförderung des Gemeinwohls nicht irrelevant zu sein. Allen vier Bedingungen ist gemein, dass ihre jeweils singuläre Verletzung zur Folge hat, dass das respektive Systemoutput – trotz der demokratischen Autorisierung durch die Gemeinschaftsmitglieder – entweder gemeinwohlschädlich oder gemeinwohlirrelevant ist.

3.1 Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These

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litikziele fixiert sind (z. B. als genaue Obergrenze der Staatsverschuldung oder als konkreter Grenzwert der Maximalbelastung von Fließgewässern durch Schwermetalle), sondern hinreichend offen gehalten sind, um – innerhalb eines rationalen Spielraums – von den Mitgliedern selbst und über die Zeit hinweg jeweils unterschiedlich spezifiziert zu werden. Die Abstraktheit solcher Rahmenbedingungen als Gewährleistung einer Mittelposition zwischen substantialistischen und prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeptionen hat bereits Shapiro wie folgt auf den Punkt gebracht: „although I affirm the desirability of some substantive constraints on all social practices, these are conditioning constraints, defined in an open-ended and context-sensitive fashion“.²⁴⁰ Wenn man sich also bei der Angabe substantieller Gemeinwohlkriterien auf negative und abstrakte Rahmenbedingungen beschränkt, wird ersichtlich, dass die demokratische Willensbildung mit einer solchen Konzeption nicht nur vereinbar, sondern für die Gemeinwohlbestimmung schlechterdings notwendig ist. Der Grund hierfür ist, einfach gesagt, dass durch die Rahmenbedingungen nur festgelegt ist, was das Gemeinwohl nicht ist. Die positive Bestimmung dessen, was das Gemeinwohl ist, muss indes – wenn man die substantiellen GemeinwohlKriterien als konzeptionelle Einhegung des demokratischen Verfahrens versteht, an der sich begründet Gemeinwohlirrtümer ausweisen lassen – über die partizipative Interessenartikulation der Mitglieder erfolgen; gleiches gilt, innerhalb eines rationalen Spielraums, für die konkrete Spezifizierung ebendieser Rahmenbedingungen. Mit anderen Worten: Die Beschränkung auf substantielle Rahmenkriterien erlaubt es, die Sinnhaftigkeit demokratischer Partizipation zu rekonstruieren, insofern Letzterer damit die Funktion zugesprochen wird, die genannten Rahmenbedingungen allererst inhaltlich auszufüllen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Festlegung auf einen starken Substantialismus seitens einer Gemeinwohltheorie, die substantielle Elemente inkorporiert, nicht nur nicht zwingend, sondern sogar extrem unplausibel ist: Angesichts der unübersichtlichen Vielzahl von Politikfeldern, in denen Gemeinwohlrekurse zum Tragen kommen, und der mitunter hohen Komplexität dieser Politikfelder, ist nicht einsichtig, wie eine Theorie in überzeugender Weise eine vollständige Auflistung aller gemeinwohlrelevanten Güter vornehmen könnte. Das desaströse Scheitern der sowjetischen Planwirtschaft spricht – auch unter gänzlicher Absehung von der durch das Souveränitätsprinzip ausgedrückten Grundintuition, dass die Werthaltigkeit von Gemeinwohlgütern eben weitgehend über die partizipatorisch geltend gemachten Mitgliederinteressen definiert werden sollte – in jedem Falle gegen eine solche Position.

 Shapiro (1994: S. 135); meine Hervorhebung.

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die TND-These keinen stichhaltigen Einwand gegen die Inkorporation substantieller Elemente in die Gemeinwohlbestimmung liefert. Der Vorwurf der Unvereinbarkeit demokratischer Verfahren mit substantiellen Kriterien verfängt nur, wenn man einen starken Substantialismus vertritt. Eine derartige Position ist indes weder zwingend noch plausibel. Wenn man die Angabe substantieller Bedingungen auf Grenzkriterien demokratischer Gemeinwohlbestimmung beschränkt, lässt sich die Sinnhaftigkeit demokratischer Partizipation (qua positiver Bestimmung konkreter Güter als gemeinwohlrelevant) rekonstruieren und die Unvereinbarkeitsannahme zurückweisen. Ob solche Kriterien allerdings mit dem Prinzip der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl – und nicht nur mit der funktionalen Notwendigkeit demokratischer Verfahren per se – vereinbar sind, und ob sie sich überhaupt plausibilisieren lassen, ist damit noch nicht gesagt.²⁴¹ Während die TND-These die Konsequenzen einer substantiellen Gemeinwohlbestimmung für die Legitimität des politischen Systems zum Gegenstand hat, bezieht sich die Pluralismus-These auf deren gesellschaftliche Folgen: Die inhaltliche Konkretion des Gemeinwohls impliziert demnach die Festlegung auf spezifische kulturelle, religiöse und soziale Wertordnungen und Praxen als konstitutiv für die gemeinwohlrelevante Identität des Gemeinwesens und – damit einhergehend – die Abwertung abweichender Lebensformen als gemeinwohlwidrig. Diese Position erlaubt es, so die Kritik, die Lebensprojekte von Mitgliedern, die z. B. in religiöser, kultureller oder sexueller Hinsicht jenseits des gesellschaftlichen Mainstreams angesiedelt sind, im Namen des Gemeinwohls zu unterdrücken. Nur eine rein formalistische Theorie, die sich darauf beschränkt, das Gemeinwohl dadurch zu bestimmen, allen Mitgliedern (egal welcher Religion, Kultur oder sexuellen Orientierung) gleiche Partizipationschancen bei der Politikgestaltung einzuräumen, kann die Neutralität verbürgen, die es zur Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Pluralismus bedarf.²⁴² Nun könnte man diesen Einwand dadurch aushebeln bzw. umgehen, dass man diejenigen Politikfelder, die Fragen der kollektiven Identität betreffen, von einer substantiellen Bestimmung ausnimmt und in dieser Hinsicht die Möglichkeit

 In Kap. 3.2.1 werde ich Argumente dafür anführen, dass solche Rahmenbedingungen mit einem – qualifizierten – Souveränitätsprinzip und Verfahrensprinzip vereinbar sind. Da es mir in Kap. 3.1 nur um den Aufweis einer konzeptionellen Vereinbarkeit von substantiellen Kriterien mit demokratischen Verfahren und gesellschaftlichem Pluralismus per se zu tun ist, wird die Frage, ob die Funktion, die seitens der substantiellen Rahmenbedingungen demokratischen Verfahren zugewiesen ist, auch dem Konzept der Deutungshoheit angemessen ist (oder ob diese eine unangemessene Deflation dieses Konzepts zur Folge haben) hier noch nicht erörtert.  Vgl. Kymlicka (1997: S. 206).

3.1 Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These

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von Gemeinwohlirrtümern bestreitet. Dieser Argumentationszug würde es immer noch erlauben, in den Sachbereichen, die in kultureller Hinsicht ‚neutral‘ sind (evtl. Fragen der Wirtschafts-, Verteidigungs- und Umweltpolitik), substantielle Kriterien zu veranschlagen, ohne sich den Vorwurf des Antipluralismus einzuhandeln.²⁴³ Damit macht man es sich aber meines Erachtens aus zwei Gründen zu einfach. Erstens ist es ein unbestreitbares Faktum, dass gerade in Fragen kollektiver Identität und gemeinschaftlicher Wertordnungen Gemeinwohlrekurse ein gängiges Rechtfertigungsinstrument politischen Handelns darstellen: Zu denken ist z. B. an die aktuelle Debatte um die deutsche Integrationspolitik, in der unter anderem die Entstehung von Migranten-Parallelgesellschaften beklagt wird, deren Angehörige nicht in soziale Interaktionsbeziehungen mit Personen außerhalb ihrer eigenen sozialen Strukturen eintreten und deren Wertordnung mit der von den übrigen Mitgliedern geteilten Wertordnung gänzlich unverbunden ist. Das Fortbestehen-Lassen solcher Parallelgesellschaften wäre, so argumentieren zahlreiche politische Entscheidungsträger, gemeinwohlwidrig, weil es eine fortschreitende Fragmentierung des Gemeinwesens nach sich zöge.²⁴⁴ Ausgerechnet ein so kontroverses und für die politische Debatte zentrales Themenfeld von einer substantiellen Bestimmung, die die Identifizierung von Gemeinwohlirrtümern erlaubt, grundsätzlich auszunehmen, scheint das kritische Potential einer integrativen Gemeinwohltheorie vorschnell zu verspielen – zumal noch nicht ausgewiesen ist, dass eine inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls tatsächlich notwendig in einen Antipluralismus mündet. Zweitens haben meines Erachtens die generellen Einwände gegen den Prozeduralismus und die spezifischen Einwände gegen seine subjektivistischen Varianten, die aggregative und die deliberative Demokratietheorie, gezeigt, dass kein Verlass darauf ist, dass eine formalistische Theorie die Wahrung von Minderheiteninteressen bei der Gemeinwohlbestimmung garantiert. Da ich nicht den Weg beschreiten werde, den Pluralismus-Einwand durch eine Exklusion der genannten Politikfelder von der substantiellen Gemeinwohlbestimmung zu umgehen, verbleibt nur die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Einwand. In diesem Kontext ist es meines Erachtens sinnvoll, analog zur Kritik der TND-These zu argumentieren und zunächst zu prüfen, auf welche genaue

 Dies setzt allerdings voraus, dass es tatsächlich möglich ist, solche ‚neutralen‘ Politikfelder zu identifizieren. Dies scheint indes angesichts der Komplexität vieler Politikfelder und der häufigen Überschneidungen dieser Felder alles andere als einfach. Da ich diesen Weg nicht beschreiten werde, werde ich dieses Problem hier aber auch nicht weiter vertiefen.  Für einen soziologisch-politikwissenschaftlichen Überblick der Integrationsdebatte um die Entstehung von Parallelgesellschaften in Deutschland vgl. Fijalkowski (2004).

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Konzeption einer substantiellen Spezifizierung von kulturellen, religiösen und sozialen Wertordnungen und Praxen sich der Pluralismus-Einwand beziehen kann, um im Anschluss zu klären, ob eine substantielle Gemeinwohltheorie auf eine ebensolche Position festgelegt ist. Die Position, auf die der Pluralismus-Einwand abzielt, ist meines Erachtens am prominentesten von dem kommunitaristischen Theoretiker Alasdair MacIntyre in seinem Essay ‚Ist Patriotismus eine Tugend?‘ vertreten worden.²⁴⁵ In diesem Aufsatz charakterisiert er das politische Gemeinwesen als ein intrinsisch wertvolles, generationenübergreifendes Projekt, dessen Identität durch „besondere[] Merkmale, Vorzüge und Errungenschaften“, die sich in spezifischen kulturellen, religiösen und politischen Praxen niederschlagen, fixiert ist.²⁴⁶ Diese Praxen stellen die notwendige Vorbedingung dafür dar, dass sich die Mitglieder des Gemeinwesens überhaupt als moralische Akteure – und damit als Adressaten moralischer Pflichten und Träger von sinn- und bedeutungsvollen Lebensprojekten – begreifen können. MacIntyres Argument für diese These besagt, dass die Fähigkeit zum moralischen Handeln und Urteilen kein apriorisches Vermögen ist, das allen Individuen notwendig und in gleicher Form zukommt, sondern eine konkrete Eigenschaft empirischer Subjekte darstellt, die unter kontingenten Umständen bei der Ausübung entsprechender Praxen erworben wird, weswegen auch „die Moral in Begriffen bestimmter Güter gerechtfertigt werden muß, die innerhalb des Lebens bestimmter Gemeinschaften genossen werden können.“²⁴⁷ Somit ist den Mitgliedern eines Gemeinwesens „die Berufung auf die neutralen, unparteiischen und ‚unpersönlichen‘ Maßstäbe“ einer universellen Moral zur Kritik an diesen Praxen verwehrt: Sie stellte den unmöglichen Versuch dar, diejenigen kontingenten, aber gleichsam notwendigen Vorbedingungen, die uns allererst als moralische Akteure konstituieren, zu transzendieren. Hieraus folgert MacIntyre nun, dass die respektiven Praxen für ein gemeinsinniges (bzw. in MacIntyres Diktion, für ein patriotisches) Individuum „dauerhaft von der Kritik ausgenommen werden“ müssen;²⁴⁸ sie sind für die Beantwortung der Frage, worin gemeinwohldienliches Handeln besteht, unhintergehbar. Entsprechend ergibt sich auch, dass die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen daran bemessen werden muss, ob sie die authentische Bewahrung des kollektiven Projekts

 Vgl. MacIntyre (1993).  MacIntyre (1993: S. 85).  Ebd.: S. 93.  Ebd.: S. 95. Entsprechend sind nach MacIntyres Auffassung auch Proteste und Demonstrationen, die sich gegen die Normen etablierter sozialer Praxen eines Gemeinwesens richten, grundsätzlich illegitim; vgl. MacIntyre (2007: S. 68 ff.).

3.1 Tertium-Non-Datur-These und Pluralismus-These

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des Gemeinwesens „eher fördern als schädigen oder zerstören“.²⁴⁹ Es ist unmittelbar einsichtig, dass Handlungen, die darauf abzielen, solche Lebensformen, die von den etablierten Praxen eines Gemeinwesens abweichen, zu schützen oder aufzuwerten – z. B. durch die gesetzliche Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschafen mit heterosexuellen Ehen in einem Gemeinwesen, in dem die Ehe zwischen Mann und Frau die traditionelle soziale Norm darstellt – vor diesem Hintergrund nur als gemeinwohlschädlich klassifiziert werden können. Der Antipluralismus der Macintyre‘schen Position ist offenkundig: Wenn man veranschlagt, dass die Identität eines Gemeinwesens durch spezifische, von aller Kritik immunisierte soziale Praxen fixiert ist und die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen über deren authentische Bewahrung definiert ist, folgt daraus, dass die Unterdrückung abweichender Lebensformen unter Rekurs auf das Gemeinwohl gerechtfertigt werden kann. Ich bin indes der Ansicht, dass diese Position, und damit auch der mit ihr einhergehende Antipluralismus, für eine Theorie, die für die Politikfelder der kollektiven Identität und Wertordnung des Gemeinwesens substantielle Kriterien der Gemeinwohlbestimmung annimmt, weder zwingend noch plausibel ist. Dass diese Position nicht zwingend ist, hat sich im Grunde bereits bei der Diskussion der TND-These gezeigt, insofern der von MacIntyre veranschlagte Gemeinwohl-Substantialismus im Bereich der kollektiven Identität und kulturellen Wertordnung lediglich ein Unterfall der allgemeinen Position des starken Substantialismus ist. Es erscheint keinesfalls begrifflich ausgeschlossen, auch in Bezug auf diese Politikfelder einen moderaten Substantialismus zu vertreten. Letzterer besagt hier, dass Identität und Wertordnung eines Gemeinwesens nicht durch spezifische Praxen fixiert sind, die dergestalt als alleinige Kriterien zur Beurteilung der Gemeinwohldienlichkeit politischen Handelns fungieren, sondern dass diese lediglich als abstrakte Rahmenbedingungen demokratischer Entscheidungsverfahren fungieren. Dies bedeutet für die Gemeinwohlbestimmung bezüglich der genannten Themenfelder konkret: Mitgliedern des Gemeinwesens, die religiösen, ethnischen oder anderen sozialen Minderheiten angehören, kommt derselbe Anspruch zu, ihre Interessen (etwa an der freien Ausübung ihrer Religion oder Sexualität oder an der Bewahrung ihrer kulturellen Eigenständigkeit) in partizipativen Verfahren zur inhaltlichen Bestimmung des Gemeinwohls geltend zu machen, wie allen anderen Mitgliedern auch; sie stoßen nur dort an ihre Grenzen, wo extrem basale kulturelle Grundwerte – im deutschen Gemeinwesen z. B. die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Trennung von

 MacIntyre (1993: S. 96).

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Staat und Kirche, der Status der deutschen Sprache als Hauptsprache etc. – tangiert werden. Dass der Macintyre’sche starke Substantialismus nicht nur nicht zwingend, sondern auch unplausibel ist, lässt sich durch eine Kritik seiner beiden zentralen Grundprämissen ausweisen – nämlich, dass die Identität eines Gemeinwesens durch spezifische Praxen konstituiert wird und dass ebendiese Praxen unhintergehbar sind: Wenn wir unter einem Gemeinwesen eine politische, kulturelle und soziale Entität verstehen, die durch die Geschichte hindurch persistiert, aber in deren Verlauf Transformationsprozessen unterworfen ist, bei denen sich soziale Praxen – innerhalb eines bestimmten Spielraums – verändern, ohne dass das Gemeinwesen infolge dessen seine Identität verliert, dann kann diese Identität nicht durch spezifische Praxen konstituiert sein. Zu meinen, der Charakter eines Gemeinwesens sei durch ein Set konkreter Praxen fixiert, trägt unserer Grundintuition, dass ein Gemeinwesen durch geschichtliche Umbrüche hindurch mit sich selbst identisch bleiben kann, nicht Rechnung. Um das obige Beispiel wieder aufzugreifen: Auch wenn in Deutschland über Jahrhunderte hinweg die heterosexuelle Ehe als einzige sozial und rechtlich anerkannte Form der Partnerschaft etabliert war, ist es unplausibel, anzunehmen, dass durch die gesetzliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften nunmehr die deutsche Nationalidentität preisgegeben würde. Kurz gesagt: Die Macintyre’schen Identitätskriterien für politische Gemeinwesen sind einfach zu rigide, um an unser Vorverständnis von der geschichtlichen Persistenz sozialer Entitäten anschlussfähig zu sein; im Vergleich hierzu stellen die von mir veranschlagten abstrakten Rahmenbedingungen, die eine kontinuierliche Neu- und Redefinition erlauben und Letztere nur durch basale Grundwerte einhegen, eine plausiblere Position dar. Für letztere These spricht auch die Unhaltbarkeit der Macintyre’schen Annahme von der Unhintergehbarkeit der spezifischen Praxen, in denen die Mitglieder situiert sind: Auch wenn man plausiblerweise davon ausgeht, dass es den Mitgliedern unmöglich ist, zur Kritik sozialer Praxen deren normative Vorbedingungen völlig zu transzendieren, folgt daraus nicht, dass diese nicht von innen heraus kritisierbar und somit modifizierbar sind – etwa indem die internen Widersprüche einer Praxis aufgedeckt oder konfligierende Zielvorgaben unterschiedlicher Praxen thematisiert werden. In einem demokratischen Gemeinwesen kann von einem reflexiven Verhältnis der Mitglieder zu den sie integrierenden soziokulturellen Ordnungsformen ausgegangen werden, das es erlaubt, Fragen kollektiver Identität und gemeinschaftlicher Wertordnungen zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung und Willensbildung zu machen.²⁵⁰ Diese Refle-

 Die Möglichkeit eines reflexiven Verhältnisses sozial situierter Individuen zu den sie inte-

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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xionsmöglichkeit besteht nur nicht in einem Gemeinwesen, dessen Mitglieder durch einen totalitären Staat mit dem Ziel indoktriniert werden, die Infragestellung der bestehenden Wertordnung zu unterbinden. Dass eine substantielle Gemeinwohlbestimmung auf ein solches politisches System jedoch auch gar nicht festgelegt ist, hat bereits die Auseinandersetzung mit der TND-These erwiesen.

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie Nachdem durch die Zurückweisung der TND-These und der Pluralismus-These der Weg für eine integrative Gemeinwohltheorie frei gemacht worden ist, werde ich in diesem Unterkapitel den Grundentwurf einer solchen Theorie darlegen, die subjektive Elemente prozeduraler Gemeinwohlbestimmung und objektive, prozedurunabhängige Maßstäbe der Gemeinwohlbestimmung integriert – und dergestalt sowohl der Möglichkeit von Gemeinwohlirrtümern und ihrer Identifizierung als auch der Definitionsmacht der Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl Rechnung trägt. Zu diesem Zweck werde ich erstens dafür argumentieren, dass diese Integration nur durch eine Modifikation der – für eine subjektivistisch fundierte prozedurale Gemeinwohlbestimmung zentralen – Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien gelingen kann, welche eine Kompatibilisierung mit objektiven Maßstäben erlaubt. Zweitens werde ich diese Maßstäbe in Form von vier Hypothesen über die substantiellen Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung darlegen. Drittens werde ich die vier genannten Hypothesen plausibilisieren.

3.2.1 Qualifiziertes Souveränitätsprinzip und qualifiziertes Verfahrensprinzip Kap. 3.1 hat neben der Zurückweisung der TND-These und der Pluralismus-These auch einen inhaltlichen Ertrag für das Projekt einer integrativen Gemeinwohltheorie erbracht: So ist eine substantielle Bestimmung des Gemeinwohls mit einer demokratischen Organisationsform des Gemeinwesens und einem gesellschaftlichen Pluralismus durchaus vereinbar, wenn man sich auf die Angabe negativer und abstrakter Rahmenbedingungen beschränkt, durch die nur festgelegt ist, was das Gemeinwohl dem Inhalt nach nicht ist bzw. welche Arten von politischen

grierenden Praxen und Institutionen stellt einen integralen Bestandteil der politischen Philosophie Hegels dar; vgl. Hegel ([1821] 1995: §206 Anm.) sowie Neuhouser (2000: S. 86 – 93). Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Foucault (1970).

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Handlungen für das Gemeinwohl schädlich oder für dessen Beförderung irrelevant sind. Demokratischen Verfahren kommt in diesem Zusammenhang die Funktion zu – eingehegt durch die Rahmenbedingungen – festzulegen, was das Gemeinwohl ist bzw. den Gemeinwohlbegriff inhaltlich auszufüllen. Die Frage ist nun, ob diese Funktionsbestimmung auch mit dem Konzept der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl, das die Gemeinwohlbestimmung definitorisch mit der politischen Willensbildung der Individuen qua Trägern von Interessen und Mitgliedern eines souveränen Gemeinwesens verkoppelt, vereinbar ist. Sie ist es offenkundig nicht, wenn man die Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien, wie ich sie in meiner Darstellung des subjektivistischen Prozeduralismus expliziert habe (siehe Kap. 2.4.1), zugrunde legt: Dem Souveränitätsprinzip zufolge haben die Gemeinschaftsmitglieder die Deutungshoheit darüber inne, was als das Wohl ihres Gemeinwesens zu gelten habe; die Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung ist folglich eine Funktion des jeweiligen Für-gut-Haltens seitens der Mitglieder. Diese Deutungshoheit wird nach dem Verfahrensprinzip dadurch umgesetzt, dass die Mitglieder mittels normativ und funktional adäquater politischer Prozeduren ihre Interessen bei der Politikgestaltung geltend machen können. Entscheidend ist jedoch, dass der subjektivistische Prozeduralismus diese Prinzipien verabsolutiert und entsprechend die Möglichkeit prozedurtranszendenter Maßstäbe bestreitet. Die Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus haben indes gezeigt, dass diese Verabsolutierung unhaltbar ist (siehe Kap. 2.5). Um eine plausible Konzeption der Gemeinwohlbestimmung zu ermöglichen, müssen die Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien also durch substantielle Kriterien eingeschränkt bzw. qualifiziert werden. Gleichsam darf eine solche Beschränkung – dies ergibt sich aus der doppelten Zielsetzung einer integrativen Gemeinwohltheorie – das Konzept der Deutungshoheit jedoch nicht (vollständig) negieren. Eine solche Negation läge dann vor, wenn man bei der Angabe substantieller Gemeinwohlkriterien die Position eines starken Substantialismus verträte: Wenn man annähme, dass das Gemeinwohl durch eine vollständige Liste konkreter Güter definiert ist, schlösse man aus, dass die partizipatorisch geltend gemachten Interessen der Mitglieder irgendeine gemeinwohlkonstitutive Funktion innehaben können. Dergestalt zeigt sich, dass der starke Substantialismus nicht nur mit demokratischen Verfahren per se inkompatibel ist, sondern auch mit der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl. Eine Lösungsstrategie, um die Deutungshoheit zugleich zu beschränken und zu erhalten, besteht meines Erachtens in der Angabe negativer und abstrakter Rahmenbedingungen: Wenn man Letztere konzediert, räumt man einerseits die Möglichkeit ein, dass sich die Mitglieder darüber irren können, was dem Wohle ihres Gemeinwesens dient, indem sie politische Handlungen autorisieren, die diese Rahmenbedingungen ver-

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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letzen; aber andererseits gewährt man ihnen die Möglichkeit, ihre Deutungshoheit innerhalb des Spielraums dieser Rahmenbedingungen, die keine positiven Vorgaben vorsehen, auszuüben. Der gemeinwohlkonstitutive Charakter der Interessen der Mitglieder wird auf diese Weise nicht bestritten; bestritten wird nur die Verabsolutierung dieser Interessen als alleiniges normatives Fundament der Gemeinwohlbestimmung, und zwar zugunsten einer Mitteposition, die neben den Mitgliederinteressen auch objektive und prozedurunabhängige Werte als gemeinwohlrelevant anerkennt. Wir können uns das Verhältnis zwischen Souveränitätsprinzip und Rahmenbedingungen hierbei auch unter Rekurs auf die Unterscheidung zwischen „default reasons“ und „reason defeaters“ verdeutlichen, die von Walter SinnottArmstrong und Jonathan Dancy in die metaethische Debatte eingeführt worden ist.²⁵¹ Bei „default reasons“ und „reason defeaters“ handelt es sich um zwei Typen von Gründen, die für die Beurteilung des moralischen Rechtfertigungsstatus‘ einer Handlung relevant sind: Erstere sind Gründe, kraft derer eine Handlung moralisch geboten ist – es sei denn, es liegen Gegengründe vor, die deren Effekt übertrumpfen. Letztere sind Gründe, deren Vorliegen sich auf Gründe des ersten Typs dergestalt auswirkt, dass sie entweder deren Effekt aufheben (und so die entsprechende Handlung zu einer nicht moralisch gebotenen Handlung machen) oder „not only cancel but reverse the force of the reason“ (und so die entsprechende Handlung zu einer moralisch verbotenen Handlung machen).²⁵² Die Auswirkung beider Typen von Gründen auf den Rechtfertigungsstatus einer Handlung lässt sich am besten beispielhaft illustrieren:²⁵³ Nehmen wir an, ich habe mir von einem Bekannten ein Buch über politische Philosophie geliehen und finde später heraus, dass er es aus der Bibliothek gestohlen hat. Unter normalen Umständen würde der Umstand, dass ich mir das Buch geborgt habe, einen moralischen Grund darstellen, das Buch dem Bekannten zurückzugeben, wenn ich es fertig gelesen habe oder er mir mitteilt, dass er es dringend benötigt. Die Tatsache, dass er es gestohlen hat, hebt den Effekt dieses Grundes – die entsprechende Handlung zu einer moralisch gebotenen Handlung zu machen – jedoch nicht nur auf, sondern kehrt ihn sogar um: Es wäre moralisch verurteilenswert (und eben nicht moralisch geboten), das Diebesgut an den Dieb zurückzugeben, anstatt es beispielsweise in die Bibliothek zurückzubringen. In der Terminologie Sinnott-Armstrongs und Dancys fungiert die Tatsache des

 Vgl. Sinnott-Armstrong (1988: S. 98 – 101, 1999) sowie Dancy (1999). Vgl. zu diesem Thema auch Pollock (1986).  Sinnott-Armstrong (1999: S. 5).  Dieses Beispiel übernehme ich mit einigen Änderung von Dancy (1993: S. 60 f.).

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Diebstahls in diesem Falle also als „defeater“ des erstgenannten Handlungsgrundes. Diese Distinktion lässt sich wie folgt auf das Verhältnis zwischen Souveränitätsprinzip und Rahmenbedingungen anwenden: Gemäß der von mir vertretenen Einschränkung des Souveränitätsprinzips stellt das Für-gut-Halten einer Handlung seitens der Gemeinschaftsmitglieder den ausschlaggebenden Grund dar, kraft dessen diese Handlung gemeinwohldienlich ist – es sei denn, diese Handlung verletzt die Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung. In diesem Falle ist die Handlung nicht gemeinwohldienlich, sondern – je nachdem, in welcher Form sie die Rahmenbedingungen verletzt –²⁵⁴ gemeinwohlschädlich oder für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant. Gemäß der Terminologie Sinnott-Armstrongs und Dancys ließe sich also sagen, dass die Verletzung von Rahmenbedingungen als „defeater“ des wertkonstitutiven Für-gut-Haltens der Mitglieder fungiert. Aus dieser Beschränkung des Konzepts der Deutungshoheit ergeben sich Konsequenzen für die subjektivistisch-prozedurale Komponente einer integrativen Gemeinwohltheorie, die sich in einer Modifikation der Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien niederschlagen. Anstelle der Prinzipien aus Kap. 2.4.1 muss erstens ein qualifiziertes Souveränitätsprinzip veranschlagt werden: Qualifiziertes Souveränitätsprinzip: Die Mitglieder eines Gemeinwesens haben innerhalb objektiver, abstrakter Rahmenbedingungen, die die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen negativ bestimmen, die Deutungshoheit darüber inne, was als das Wohl ihres Gemeinwesens zu gelten habe.

Nun könnte man zur Einschätzung gelangen, dass diese Modifikation einfach auf das Verfahrensprinzip, dem die Funktion zugewiesen ist, die im Souveränitätsprinzip ausgedrückte Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl durch partizipative Verfahren zu operationalisieren, übertragen werden muss, und dass damit die Bestimmung der subjektiv-prozeduralen Komponente der integrativen Gemeinwohltheorie abgeschlossen wäre. Die respektive Formulierung müsste dann wie folgt lauten: Qualifiziertes Verfahrensprinzip*: ²⁵⁵ Die Mitglieder eines Gemeinwesens üben innerhalb objektiver, abstrakter Rahmenbedingungen, die die Gemeinwohldienlichkeit politischer

 Nähere hierzu siehe Kap. 3.2.2 bis 3.2.5.  Von einem ‚qualifizierten Verfahrensprinzip*’ spreche ich deshalb, weil dieses Prinzip – wie ich gleich zeigen werde – aufgrund des in Kap. 2.5.2 formulierten Inadäquatheitseinwandes zurückgewiesen und durch ein entsprechend modifiziertes ‚qualifiziertes Verfahrensprinzip‘ ersetzt werden muss, das den in diesem Einwand formulierten Argumenten Rechnung trägt.

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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Handlungen negativ bestimmen, ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl mittels politischer Verfahren aus, durch die sie ihre Interessen geltend machen können, und die bestimmten normativen Adäquatheitsbedingungen partizipativer Gleichheit und funktionalen Adäquatheitsbedingungen der Effizienz und Effektivität genügen.

Diese Einschätzung ist aber zu vorschnell, und zwar deshalb, weil diese Formulierung des Verfahrensprinzips dem in Kap. 2.5.2 gegen den subjektivistischen Prozeduralismus formulierten Inadäquatheitseinwand nicht Rechnung trägt. Letzterer hatte – ausgehend von der Annahme, dass in realen Systemen aus empirisch-kontingenten Gründen niemals alle normativen und funktionalen Verfahrensnormen erfüllt sind – besagt, dass einer rein prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption zufolge, die das Gemeinwohl exklusiv als Output eines Systems begreift, welches alle Adäquatheitsbedingungen erfüllt, das Gemeinwohl unter realen Bedingungen immer verfehlt würde. Da diese Folgerung jedoch extrem kontraintuitiv ist, musste eine rein prozedurale Bestimmung des Gemeinwohls zurückgewiesen werden. Das Problem in diesem Kontext ist nun, dass der Inadäquatheitseinwand insofern ‚zu stark‘ zu sein scheint, als er anscheinend nicht nur die Möglichkeit einer rein prozeduralistischen, sondern auch einer integrativen Gemeinwohlkonzeption eliminiert: Wenn man nämlich die im qualifizierten Verfahrensprinzip* ausgedrückte Auffassung vertritt, dass die subjektive Komponente des Gemeinwohls, d. h. die Deutungshoheit der Mitglieder über dasselbe, über vollständig adäquate Verfahren operationalisiert werden muss, dann ergäbe sich – angesichts des Inadäquatheitseinwandes – die Konsequenz, dass die subjektive Komponente des Gemeinwohls unter realen Bedingungen niemals realisiert würde. Mit anderen Worten: Wenn man voraussetzt, dass die kollektive Bestimmung dessen, was das Gemeinwohl dem Inhalt nach ist, über vollständig adäquate Verfahren erfolgen muss, dann wäre die Folge, dass in realen Systemen niemals eine solche positive Bestimmung vorgenommen werden könnte; das Gemeinwohl wäre im Sinne eines unerreichbaren Ideals der kollektiven Deutungshoheit der Mitglieder entzogen. Wie ich jedoch bereits in Kap. 2.5.2 bemerkt habe, ist eine solche Konklusion für eine als Anwendungstheorie verstandene Gemeinwohltheorie vollkommen unbefriedigend. Die Lösung für dieses Problem bzw. die mit ihr einhergehende Modifikation des Verfahrensprinzips hat gewisse Ähnlichkeit mit der Erwiderung, die ich dem Prozeduralisten als Reaktion auf den Inadäquatheitseinwand in Kap. 2.5.2 zugebilligt habe – anders als Letztere scheitert sie jedoch nicht, und zwar aufgrund des wichtigen Unterschieds, dass die integrative Gemeinwohltheorie, anders als der reine Prozeduralismus, prozedurtranszendente Maßstäbe der Gemeinwohlbestimmung voraussetzt.

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Meine Lösungsstrategie lautet wie folgt: Wenn meine bisherige Argumentation schlüssig ist, müssen wir erstens voraussetzen, dass das Gemeinwohl – neben einer objektiven Komponente – eine prozedural umgesetzte subjektive Komponente hat (Prämisse 1); zweitens ist es intuitiv plausibel und in Übereinstimmung mit unserer vortheoretischen Beurteilungspraxis, dass aktuale politische Systeme, wenn sie nicht undemokratisch oder im höchsten Maße korrupt sind, durchaus das Gemeinwohl produzieren – nicht immer, aber mit Sicherheit auch nicht nie (Prämisse 2)! Wenn Prämisse 1 und Prämisse 2 jedoch plausibel sind, dann ist die Anforderung, wonach die Deutungshoheit der Mitglieder über vollständig adäquate Verfahren operationalisiert werden muss, einfach zu stark; sie muss, wenn wir Prämisse 2 nicht aufgeben wollen, durch eine abgeschwächte Anforderung ersetzt werden. Ein plausibles Substitut findet sich (angesichts des Verweises auf Kap. 2.5.2 vielleicht wenig überraschend) in der Annahme einer Hinlänglichkeitsklausel. Diese besagt, dass die subjektive Komponente des Gemeinwohls dann realisiert ist, wenn die Gemeinschaftsmitglieder ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl vermittels Verfahren ausüben, die ‚im Großen und Ganzen‘ adäquat sind, d. h. wenn sich beispielsweise bei aggregativen Prozeduren Delegationsverluste in sehr überschaubaren Grenzen halten und wenn bei deliberativen Verfahren kommunikative Gleichberechtigung weitgehend gewährleistet ist. Dieser Konzeption wird meines Erachtens am besten durch die Einführung eines normativen und funktionalen Schwellenwerts Rechnung getragen: Alle Verfahren, die diesen Schwellenwert überschreiten, sind hinlänglich und realisieren somit die subjektive Komponente des Gemeinwohls; alle Verfahren, die ihn unterschreiten, sind nicht hinlänglich und realisieren also auch nicht die subjektive Komponente. Nun ist es allerdings angezeigt, den zentralen Unterschied zwischen der Einführung einer Hinlänglichkeitsklausel im Rahmen einer rein prozeduralistischen und einer integrativen Gemeinwohltheorie zu erörtern und zu begründen, warum diese für letztere Theorie plausibel ist, für erstere aber nicht: Ich hatte in Kap. 2.5.2 die Einführung dieser Klausel seitens des Prozeduralisten als überzeugende Erwiderung auf den Inadäquatheitseinwand zurückgewiesen, weil sie ein prozedurtranszendentes Kriterium der Systemoutput-Bewertung für die Definierung eines Schwellenwerts der Hinlänglichkeit voraussetzt bzw. weil der Prozeduralist überzeugend beantworten müsste, warum diese Abweichung vom Adäquatheitsideal noch hinlänglich ist, jene aber nicht mehr. Eine solche Antwort kann der reine Prozeduralist aber deshalb nicht geben, weil er jedwede inhaltliche Vorbestimmung eines gemeinwohlkonstitutiven Systemoutputs, die gerade die Voraussetzung für die begründete Angabe einer (un)zulässigen Abweichung ist, aufgrund von Vorannahmen bereits ausgeschlossen hat. Hier liegt nun der Unterschied: Ich habe in meiner Darstellung der integrativen Gemeinwohltheorie

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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bereits konzediert, dass wir für eine überzeugende Bestimmung des Gemeinwohls um die Annahme prozedurtranszendenter Maßstäbe nicht herumkommen und dass Letztere notwendig das Gemeinwohl mit konstituieren. Entsprechend ist für diese Theorie auch der Weg zur Annahme einer Hinlänglichkeitsklausel aufgrund von Vorannahmen nicht versperrt. Der Schwellenwert, der festlegt, welche Abweichung vom Adäquatheitsideal demokratisch-partizipative Verfahren maximal haben dürfen, wenn sie die subjektive Komponente des Gemeinwohls verwirklichen sollen, kann im Rahmen einer integrativen Gemeinwohltheorie als objektive Konstituente des Gemeinwohls angenommen werden.²⁵⁶ Nun stellt sich natürlich die naheliegende Frage, wie eine solche Hinlänglichkeitsklausel denn genau verfasst ist bzw. wie sie in concreto bestimmt werden sollte. Meiner Ansicht nach, und dies ist vielleicht eine Enttäuschung, ist die politische Philosophie als Disziplin, die zwar auf die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung rekurriert, aber selbst keine solchen Untersuchungen anstellt, hierfür der falsche Ansprechpartner. Der Grund ist in meinen Augen, dass zu diesem Zwecke Untersuchungen darüber angestellt werden müssen, welche Abweichungen vom Adäquatheitsideal überhaupt in realen Systemen, die wir prima facie als gemeinwohlproduzierend begreifen und die deshalb einen gewissen ‚Vertrauensvorschuss‘ genießen, vorliegen; bis zu welchem Grade unter realen Bedingungen überhaupt eine Annäherung an das Adäquatheitsideal möglich ist; zu welchen Kosten in Bezug auf andere wichtige Systemfunktionen eine jeweilige Annäherung erzielbar ist; welche Abwägungen zwischen normativer und funktionaler Adäquatheit unter realen Bedingungen im Konfliktfalle vorgenommen werden müssen etc. Ein solcher Aufgabenkatalog fällt offenkundig in das Forschungsfeld einer – wenngleich normativ informierten – empirisch arbeitenden vergleichenden Politikwissenschaft. Im Rahmen einer philosophischen Gemeinwohltheorie, die sich dem Gemeinwohl auf dem Weg der Begriffsanalyse annähert, kann ‚nur‘ das Argumentationsziel erreicht werden, zu zeigen, dass die Annahme einer solchen Klausel erstens möglich und zweitens durchaus plausibel ist. Ausgehend von dem bisher Gesagten, lässt sich meines Erachtens nun eine begründete Reformulierung des qualifizierten Verfahrensprinzips* angeben, die um eine kleine, aber entscheidende Komponente ergänzt ist:

 Ein Wort zur Klärung: Die Hinlänglichkeit demokratischer Prozeduren ist offenkundig eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Gemeinwohlbestimmung. Denn zweifelsohne, dies ist die Pointe des Irrtumseinwands, können auch hinlängliche Prozeduren aufgrund von fehlgeleiteten Mitgliederinteressen immer noch das Gemeinwohl verfehlen.

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Qualifiziertes Verfahrensprinzip: Die Mitglieder eines Gemeinwesens üben innerhalb objektiver, abstrakter Rahmenbedingungen, die die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen negativ bestimmen, ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl mittels politischer Verfahren aus, durch die sie ihre Interessen geltend machen können, und die hinlänglicherweise bestimmten normativen Adäquatheitsbedingungen partizipativer Gleichheit und funktionalen Adäquatheitsbedingungen der Effizienz und Effektivität genügen.

Gemäß dem qualifizierten Verfahrensprinzip wird das Gemeinwohl also als das Output eines hinlänglich adäquaten politischen Systems verstanden, welches die genannten – und im Folgenden weiter zu spezifizierenden – Rahmenbedingungen nicht verletzt. Dergestalt lässt sich aufweisen, dass die substantielle Bestimmung des Gemeinwohls durch die Angabe abstrakter Rahmenbedingungen nicht nur mit demokratischen Verfahren und einer Pluralität sozialer Lebensformen per se kompatibel ist, sondern auch mit dem Konzept der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl – wenn man dieses Konzept bzw. die ihm zugrunde liegenden Prinzipien entsprechend einschränkt bzw. qualifiziert. Die Plausibilität einer solchen Einschränkung ist jedoch durch die Argumente, die sich gegen eine Verabsolutierung der Deutungshoheit der Mitglieder anführen lassen, durchaus verbürgt.

3.2.2 Rahmenbedingungen prozeduraler Gemeinwohlbestimmung – vier Hypothesen Nachdem mit der Einführung des qualifizierten Souveränitätsprinzips und des qualifizierten Verfahrensprinzips die Bestimmung der subjektivistisch-prozeduralen Komponente der integrativen Gemeinwohltheorie abgeschlossen ist, muss nunmehr eine Spezifizierung der weiteren objektiven prozedurtranszendenten Maßstäbe erfolgen. In meinen bisherigen Ausführungen zur Kritik des reinen Prozeduralismus habe ich der Einfachheit halber sehr allgemein von „Gemeinwohlirrtümern“ oder „defizitären Systemoutputs“ gesprochen – de facto ist jedoch bereits unser vortheoretisches Beurteilungsvokabular in Bezug auf Gemeinwohlrechtfertigungen politischer Handlungen wesentlich differenzierter:²⁵⁷ Wir sprechen davon, dass bei manchen Politikfeldern der Gemeinwohlrekurs aufgrund ihrer besonderen Charakteristika einfach keinen Sinn macht; dass bestimmte politische Verfahren nicht gemeinwohldienlich sind, weil sie die Besonderheiten der respektiven Streitfragen nicht hinreichend berücksichtigen; und schließlich weisen wir Gemeinwohlrechtfertigungen zurück, weil wir die entsprechenden

 Vgl. hierzu auch Neidhardt (2002, 2004).

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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Handlungen entweder als in Wahrheit gemeinwohlschädlich oder, wenn nicht als schädlich, so doch nicht als gemeinwohlnützlich einschätzen. Zwar weisen wir in all diesen Fällen den Anspruch politischer Akteure, ihre Handlungen mit Bezug auf deren Gemeinwohldienlichkeit begründen zu können, zurück – aber wir tun dies, je nachdem, welche der oben genannten Zurückweisungen wir anführen, mit Bezug auf sehr unterschiedliche Kriterien. Eine Theorie, die die Absicht verfolgt, plausible Rahmenbedingungen prozeduraler Gemeinwohlbestimmung anzugeben, muss diesem Beurteilungsvokabular aus zwei Gründen Rechnung tragen: einerseits, weil unsere vortheoretischen Überzeugungen eine bedeutende, durch Erfahrung und bewährte politische Praxen gesättigte konzeptionelle Ressource darstellen, auf die eine Theorie bei der Analyse politischer Leitbegriffe nicht verzichten sollte; andererseits, weil wir von einer normativen Staatstheorie erwarten können, dass sie an diese Überzeugungen anschlussfähig ist und nicht einfach eine von der politischen Praxis abgehobene ‚intellektuelle Fingerübung‘ darstellt.²⁵⁸ Die beste Herangehensweise an die Spezifizierung substantieller Rahmenbedingungen ist meines Erachtens daher, unsere vortheoretischen Beurteilungskriterien zu systematisieren und zu überprüfen, ob sich hieraus plausible Maßstäbe gewinnen lassen. In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst vier Hypothesen über substantielle Rahmenbedingungen vorschlagen, die es erlauben, politische Handlungen in Bezug auf deren Gemeinwohlrelevanz zu klassifizieren und kritisch zu beurteilen: Hypothese 1: Es lassen sich Kriterien zur Identifizierung von GemeinwohlSachbereichen angeben – hierunter sind Politikfelder zu verstehen, in denen der generelle Rekurs auf das Gemeinwohl als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns überhaupt sinnvoll ist und in denen sich folglich die Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl mittels politischer Verfahren realisieren kann. Bei Feldern, die nicht unter die Sachbereichs-Kriterien fallen, ist der Gemeinwohlrekurs sinnlos und daher ungerechtfertigt. Hypothese 2: Es lassen sich sachbereichsspezifische Verfahrenskriterien dafür angeben, welcher prozedurale Modus der Gemeinwohlbestimmung für einen spezifischen Sachbereich angemessen ist. Willensbildungsverfahren, die diese Kriterien verletzen, lassen sich als ungerechtfertigt zurückweisen. Hypothese 3: Es lassen sich abstrakte, sachbereichsspezifische GemeinwohlGrenzwerte angeben, durch die festgelegt ist, welche Effekte politische Handlungen mindestens nicht haben dürfen, wenn sie nicht gemeinwohlschädlich sein sollen. Handlungen, die diese Grenzwerte verletzten, lassen sich als ungerecht-

 Vgl. Sumner (1995: S. 12 f.).

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

fertigt zurückweisen – es sei denn, es liegt ein Konflikt zwischen verschiedenen Sachbereichen vor; in diesem Falle stellen Grenzwertverletzungen Prima-FacieGegengründe gegen die Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung dar. Hypothese 4: Es lassen sich abstrakte, sachbereichsspezifische GemeinwohlSignifikanzschwellen angeben, durch die festgelegt ist, welche Effekte politische Handlungen mindestens haben müssen, wenn sie für die Beförderung des Gemeinwohls nicht irrelevant sein sollen. Handlungen, die diese Signifikanzschwellen unterschreiten, lassen sich als ungerechtfertigt zurückweisen. Die genannten Rahmbedingungen, die diesen vier Hypothesen zugrunde liegen, bilden, so meine These, eine plausible Systematisierung der substantiellen Maßstäbe, auf denen unsere vortheoretische Beurteilungspraxis in Bezug auf die Gemeinwohlbestimmung basiert. Ich gehe hierbei nicht soweit, zu behaupten, dass diese Kriteriologie erschöpfend oder alternativlos ist; ich behaupte lediglich, dass sie ein leistungsfähiges konzeptionelles Instrumentarium zur Klassifikation und Beurteilung konkreter politischer Streitfragen, die im Kontext der Gemeinwohlrechtfertigung auftreten, bietet. Bevor ich jedoch daran gehen kann, die Plausibilität dieser Kriterien durch ihre Anwendung bei konkreten Streitfragen argumentativ zu untermauern, werde ich sie zunächst allgemein bestimmen, um ihnen eine gewisse Grundplausibilität zu verleihen. Ich beginne hierbei mit der Kategorie des Gemeinwohl-Sachbereichs, welche die basalste der vier Kategorien darstellt, insofern Verfahrenskriterien, Grenzwerte und Signifikanzschwellen jeweils sachbereichsspezifisch sind und entsprechend in ihrer Bestimmung den Begriff des Sachbereichs bereits voraussetzen.

3.2.3 Sachbereiche Der Schutz und die Beförderung des Gemeinwohls spielen in der Rechtfertigungspraxis politischen Handelns eine bedeutende Rolle, und zwar bei einer großen Anzahl höchst unterschiedlicher Politikfelder – von der Sicherheits- und Wirtschaftspolitik über die Sozial- und Infrastrukturpolitik bis hin zur Umweltpolitik (siehe Kap. 1.2). Bei der Beurteilung der entsprechenden Handlungen mögen wir evtl. der Meinung sein, dass diese oder jene konkrete Handlung nicht unter Rekurs auf das Gemeinwohl gerechtfertigt werden kann, weil sie z. B. in Wahrheit gemeinwohlschädlich oder zumindest nicht gemeinwohldienlich ist. Aber wir würden kaum bestreiten, dass bei allen (oder zumindest doch den allermeisten) dieser Felder der Bezug auf das Gemeinwohl als Rechtfertigungsgrund zumindest generell sinnvoll ist. Der Grund ist offensichtlich, dass politische Handlungen, die diesen oder ähnlichen Sektoren zuzuordnen sind, das Gemeinwesen als Ganzes betreffen – sei es durch die Verbesserung oder Verschlechterung

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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der Sicherheit all seiner aktualen und zukünftigen Mitglieder, durch den Erhalt oder die Zerstörung ihrer gemeinsamen natürlichen Ressourcen und so fort. Nichtsdestotrotz gibt es Sektoren, bei denen allein der Rekurs auf das Gemeinwohl (auch ohne Ansehung der konkreten Handlung) intuitiv unplausibel ist, weil diese offenkundig nicht das Wohl des Gemeinwesens als Ganzes betreffen, sondern nur eine spezifische Gruppe von Mitgliedern oder die Mitglieder anderer Gemeinwesen. Zu denken ist hier z. B. an die Entwicklungshilfe für andere Nationen, an den Schutz ethnischer oder religiöser Minderheiten im eigenen Gemeinwesen, oder an die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter, die in der Vergangenheit unter den Repressionen des Gemeinwesens gelitten haben. Es mag eine Reihe guter Gründe geben, aus denen Handlungen in solchen oder ähnlich gelagerten Fällen gerechtfertigt sein können – etwa die Anforderung globaler Gerechtigkeit, die eine Umverteilung wirtschaftlichen Reichtums zugunsten der schlechtestgestellten Gemeinwesen gebietet, die legitimen Partikularinteressen von Minderheiten an der Bewahrung ihrer kulturellen Integrität, oder die historische Verantwortung eines Gemeinwesens für diejenigen, denen unter seiner politischen Ordnung Unrecht widerfahren ist. Aber das Wohl des respektiven Gemeinwesens als Ganzes zählt nicht zu diesen Gründen. Politische Akteure, die ihr Handeln in Bezug auf solche oder ähnliche Politikfelder unter Rekurs auf das Gemeinwohl rechtfertigen, begehen – so scheint es – einen Kategorienfehler: Weil das Wohl des Gemeinwesens als Ganzes in diesen Sektoren überhaupt nicht thematisch ist, sind hier Aussagen der Art ‚In Politikfeld x ist die Handlung y gemeinwohldienlich‘ streng genommen nicht falsch, sondern sinnlos. Falsch können sie meiner Ansicht nach nur sein, wenn der Begriff des Gemeinwohls in einem Politikfeld zumindest potentialiter als Rechtfertigungsgrund Anwendung findet und die entsprechende Rechtfertigung an spezifischen Gemeinwohl-Kriterien, die dieses Feld auszeichnen, scheitert. Wenn der Gemeinwohlbegriff in einem Politikfeld jedoch gar nicht erst sinnvollerweise verwendet werden kann, ist die Möglichkeit des Scheiterns an politikfeldimmanenten Maßstäben bereits begrifflich ausgeschlossen. Es scheint also, dass eine Theorie, die Rahmenbedingungen prozeduraler Gemeinwohlbestimmung angeben will, zuerst ein Kriterium dafür angeben muss, in welchen Politikfeldern die Bezugnahme auf das Gemeinwohl generell sinnvoll ist. Denn wenn man davon ausgeht, dass Gemeinwohlrekurse, die zumindest nicht grundsätzlich sinnlos sind, immer noch in ihrer Rechtfertigung an politikfeldspezifischen Maßstäben scheitern können, stellt das Kriterium zur Identifizierung gemeinwohlrelevanter Politikfelder die allgemeinste Kategorie substantieller Gemeinwohlbestimmungen dar, der alle anderen Kategorien nachgeordnet sind. Anders gesagt: Bevor geklärt werden kann, welche politikfeldspezifischen Rahmenbedingungen plausiblerweise angenommen werden können, muss zuvor er-

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örtert werden, welche Klasse von Politikfeldern für die Angabe solcher Rahmenbedingungen überhaupt in Frage kommt. Die Frage, die in diesem Kontext geklärt werden muss, lautet daher, wie sich das vortheoretische Klassifikationskriterium, demzufolge ein Politikfeld „das Gemeinwesen als Ganzes“ betreffen muss, um gemeinwohlrelevant zu sein, systematisieren lässt. Die vielversprechendste Theorie zur Identifizierung von gemeinwohlrelevanten Politikfeldern, oder – wie ich im Folgenden auch sagen werde – von Gemeinwohl-Sachbereichen, ist die ökonomische Theorie öffentlicher Güter. ²⁵⁹ Meine Kernthese lautet in diesem Zusammenhang, dass das Identifikationskriterium für Gemeinwohl-Sachbereiche, d. h. für gemeinwohlrelevante Politikfelder, darin besteht, dass in diesen Feldern die Bereitstellung, Sicherung oder Vermehrung öffentlicher Güter thematisch ist. Sektoren, in denen die Bereitstellung, Sicherung oder Vermehrung solcher Güter nicht thematisch ist, scheiden im Umkehrschluss als Gemeinwohl-Sachbereiche aus. Der ökonomischen Theorie der Politik zufolge umfasst die Kategorie öffentlicher Güter all diejenigen werthaltigen Sachverhalte und materiellen Entitäten,²⁶⁰ die entweder das Merkmal der Non-Exklusivität oder der Non-Rivalität aufweisen, oder die beide Merkmale auf sich vereinigen.²⁶¹ Während Non-Exklusivität besagt, dass es physisch unmöglich oder aus Kostengründen sinnlos ist, andere Mitglieder  Auf die Bedeutung des Konzepts öffentlicher Güter für eine substantielle Bestimmung des allgemeinen Wohles in der normativen Staatstheorie hat vor allem Michael Anderheiden in seiner staatsrechtswissenschaftlichen Monographie Gemeinwohl in Republik und Union hingewiesen (vgl. Anderheiden 2006: S. 110 – 143). In meinen Ausführungen orientiere ich mich unter anderem an seinen Argumenten.  Die Werthaltigkeit der respektiven Güter bemisst sich, korrespondierend zur integrativen Gemeinwohltheorie, am subjektiven Für-gut-Halten seitens der Gemeinschaftsmitglieder, sofern durch die Bereitstellung, Sicherung oder Vermehrung dieser Güter keine objektiven Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung verletzt werden; Werthaltigkeit ist demnach eine Eigenschaft mit sowohl subjektiven als auch objektiven normativen Aspekten.  Die hier zugrunde gelegte Konzeption öffentlicher Güter entlehne ich von Kirchgässner (2008: S. 53 f). Siehe auch Anderheiden (2006: S. 116) sowie Recktenwald (1967: S. 607 f.). Diese Begriffsbestimmung ist in der Wirtschaftswissenschaft nicht unumstritten: Im Gegensatz zu dem hier verwandten weiten Begriff öffentlicher Güter, optieren eine Reihe von Autoren für einen engeren Begriff, demzufolge öffentliche Güter entweder nur durch das Merkmal der Non-Rivalität bestimmt sind (vgl. Samuelson 1954: S. 387), nur durch das Merkmal der Non-Exklusivität (vgl. Olson [1971] 2002: S. 40) oder notwendig durch beide Merkmale (vgl. Musgrave 1959: S. 43 f). Da ich in dieser Arbeit keine wirtschaftswissenschaftliche Analyse des Gemeingut-Begriffs vornehmen werde – dafür ist die Debatte auch deutlich zu komplex und voraussetzungsreich – sondern ‚nur‘ ein plausibles Klassifikationskriterium für Gemeinwohl-Sachbereiche suche, ist meine Entscheidung, den weiten Begriff zu verwenden, ausschließlich pragmatisch motiviert: Ein engerer Gemeingut-Begriff würde, wie sich zeigen wird, einfach zu viele Politikfelder ausschließen, die nach unserem intuitiven Vorverständnis gemeinwohlrelevant sind.

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von der Inanspruchnahme des respektiven Gutes auszuschließen, sobald dieses für mindestens ein Mitglied bereitgestellt wird oder verfügbar ist, bezeichnet NonRivalität den Umstand, dass beliebig viele Mitglieder das Gut in Anspruch nehmen können, ohne sich dadurch in irgendeiner Weise in ihren Nutzungsmöglichkeiten wechselseitig zu beeinträchtigen. Auf Grundlage dieser Kriterien lassen sich öffentliche Güter von sogenannten Privatgütern unterscheiden, die sich sowohl durch Exklusivität als auch durch Rivalität auszeichnen, also so verfasst sind, dass der Nutzungsausschluss einzelner Mitglieder weder physisch unmöglich noch unwirtschaftlich ist und diese überdies nicht von einzelnen Mitgliedern in Anspruch genommen werden können, ohne dass dadurch deren Nutzung für andere beeinträchtigt würde – hierunter fallen klassischerweise Lebensmittel, Treibstoffe, Kleidung etc. Die Merkmale der Non-Exklusivität und der Non-Rivalität repräsentieren offensichtlich zwei unterschiedliche Hinsichten, unter denen die respektiven Güter öffentlich bzw. die Politikfelder, in denen ihre Bereitstellung thematisch ist, für das Gemeinwesen als Ganzes von Belang sind. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass beide Hinsichten in ihrer Eigenschaft als Mindestkriterien bzw. als hinreichende, aber nicht notwendige Bedingungen für die Identifizierung gemeinwohlrelevanter Politikfelder unverzichtbar sind und dass die Beschränkung auf nur eines der Kriterien ebenso zu einem Ausschluss von Politikfeldern führen würde, die nach unserem intuitiven Vorverständnis unbestreitbare Gemeinwohl-Sachbereiche darstellen, wie die Anforderung, dass ein Gut notwendig beide Merkmale aufweisen muss, um als öffentliches Gut zu gelten. Wenn man die klassischen Beispiele für non-exklusive Güter aus der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur heranzieht, ergibt sich eine umfängliche Liste höchst unterschiedlicher Güter (und korrespondierender Politikbereiche); zu diesen zählen unter anderem: saubere Luft, der Fischreichtum großer Gewässer, sehr große Weideflächen, Straßenbeleuchtung, die Landesverteidigung, öffentliche Baudenkmäler und Feuerwerke.²⁶² Die Non-Exklusivität dieser Güter lässt sich am besten illustrieren, indem man zwei der genannten Fälle herausgreift: So ist es offenkundig physisch unmöglich, für ein Mitglied oder eine Gruppe von Mitgliedern eine Verbesserung der Luftqualität (z. B. durch eine Umweltschutzverordnung, die strengere Emissionsrichtlinien für Kohlekraftwerke vorsieht) zu erzielen, ohne zugleich für alle anderen eine bessere Luftqualität zu gewährleisten – entweder alle profitieren von einer solchen Verordnung oder niemand.²⁶³ Im  Vgl. Cornes & Sandler (2003: S. 8 ff.).  Dieses Beispiel stößt nur dort an seine Grenzen, wo wir hypothetische Szenarien heranziehen: In dem berühmten Schwarzenegger-Film Total Recall etwa, der unter anderem auf einer Marskolonie spielt, deren minderprivilegierte Bevölkerung eine ‚Unterstadt‘ bewohnt und durch

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Vergleich hierzu ist es zwar physisch nicht unmöglich, Mitglieder von der Nutzung des Fischreichtums eines Großgewässers (wie etwa der Nordsee oder des Victoriasees) auszuschließen, z. B. indem man alle Küsten mit einem Sicherheitszaun abriegelt, vermint oder das Gewässer ununterbrochen durch große Marinegeschwader kontrolliert. Faktisch ist ein solches Vorgehen jedoch mit derart hohen Kosten für ein Gemeinwesen verbunden, dass es impraktikabel ist. Dass non-exklusive Güter bzw. die Politikfelder, in denen ihre Bereitstellung, Sicherung oder Vermehrung thematisch sind, in der Tat für das Gemeinwesen als Ganzes relevant sind, sieht man am besten, wenn man das negative Kriterium der Non-Exklusivität positiv umformuliert: Dergestalt zeigt sich nämlich, dass die respektiven Güter (eben weil niemand von ihrer Inanspruchnahme ausgeschlossen werden kann) von allen Mitgliedern ohne Ausnahme genutzt werden können, weswegen die Frage, ob, in welchem Umfange oder wie diese Güter bereitgestellt, gesichert oder vermehrt werden sollen, entsprechend auch potentialiter alle Mitglieder betrifft.²⁶⁴ Dennoch ist dieses Kriterium allein nicht hinreichend, um alle Politikfelder, die nach unserem Vorverständnis Gemeinwohl-Sachbereiche darstellen, zu identifizieren; dies zeigt sich daran, dass eine bedeutende Anzahl von Gütern existiert, die zwar nicht das Merkmal der Non-Exklusivität aufweisen, aber dennoch intuitiv von öffentlichem Interesse zu sein scheinen. Hierzu zählen z. B. Verkehrsinfrastrukturen wie Straßen und Autobahnen, öffentliches Fernsehen, Parks und Grünanlagen, öffentliche Gebäude wie Bibliotheken und die Gewährleistung innerer Sicherheit durch polizeilichen Schutz. Es ist weder physisch unmöglich noch unwirtschaftlich, Mitglieder von der Inanspruchnahme dieser und ähnlicher Güter auszuschließen: Parks und Grünanlagen können eingezäunt und durch Wachpersonal gesichert werden, Sender können verschlüsselt werden, so dass deren Empfang nur für Besitzer eines entsprechenden Receivers möglich ist, für Straßen und Autobahnen können Mautstellen errichtet werden etc. Der Gemeinwohlrelevanz der Politikfelder, in denen diese Güter thematisch sind, lässt sich allerdings durch das Kriterium der Non-Rivalität Rechnung tragen. Die klassifikatorische Funktion des Merkmals der Non-Rivalität lässt sich durch einen Vergleich mit privaten – und also rivalisierenden – Gütern illustrieren:

Ventilationsschächte von einem Industriemagnaten der ‚Oberstadt‘ Sauerstoff bezieht, stellt die Vorenthaltung der Atemluft ein bedeutendes politisches Druckmittel dar; Atemluft ist in diesem hypothetischen Gemeinwesen entsprechend ein exklusives Gut. Da ich mich in meiner Arbeit jedoch mit der Anwendung des Gemeingut-Begriffs in realen Gemeinwesen befasse, werde ich auf dieses Szenario nicht weiter eingehen. Es weist allerdings – instruktiverweise – darauf hin, dass der Status eines Gutes als öffentliches Gut nicht invariant gegenüber den organisatorischen und technologischen Gegebenheiten eines Gemeinwesens ist.  Vgl. Aretz (2005: S. 326).

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So rivalisieren etwa eine Anzahl potentieller Esser um den Verzehr einer Currywurst. Zwar lässt sich das entsprechende Gut aufteilen (bei der traditionell in Scheiben geschnittenen Currywurst bietet sich dieses Vorgehen sogar an), aber nichtsdestotrotz gilt, dass die Menge, die eine Person gegessen hat, von keiner anderen Person mehr gegessen werden kann; die Nutzung des Gutes durch ein Mitglied beeinträchtigt also die Nutzungsmöglichkeiten anderer. Im Vergleich dazu beeinträchtigt die Nutzung eines unverschlüsselten Fernsehprogramms durch einen Zuschauer in keiner Weise den Konsum durch andere Mitglieder – die Empfangsqualität des Senders bleibt, egal wie viele Zuschauer einschalten, für alle Empfänger unbeeinträchtigt; entsprechend stellen Fernsehsendungen klassische non-rivalisierende Güter dar. Ähnlich gelagert ist der Fall z. B. bei der Nutzung von Straßen. Zwar gilt, dass ich nicht zur selben Zeit denselben Streckenabschnitt zur Fortbewegung nutzen kann wie der Lastwagen, der vor mir fährt (anders als bei einem Fernsehkanal, bei dem offenkundig dieselbe Sendung von einer unbegrenzten Anzahl von Personen gleichzeitig gesehen werden kann). Aber dennoch wird durch die vorangegangene Nutzung dieses Streckenabschnitts durch den Lastwagen meine darauf folgende Nutzung nicht beeinträchtigt: Die Straße ist, nur weil sie zuvor von einem anderen Fahrzeug befahren worden ist, nicht ‚einfach weg‘ oder auf einmal schlechter befahrbar; in diesem Sinne sind also auch Straßen und Autobahnen non-rivalisierende Güter.²⁶⁵ Dass non-rivalisierende Güter bzw. die ihnen korrespondierenden Politikbereiche in der Tat für das Gemeinwesen als Ganzes von Belang sind, ergibt sich meines Erachtens neben der intuitiven Plausibilität der dergestalt abgedeckten Bereiche aus dem Umstand, dass die entsprechenden Güter eine unerschöpfliche Ressource darstellen, von der alle Mitglieder (zumindest potentiell) gemeinsam profitieren können. Nun ließe sich in diesem Kontext möglicherweise dafür argumentieren, Gemeinwohl-Sachbereiche nur über die Bereitstellung, Sicherung und Vermehrung nicht-rivalisierender Güter oder Güter, die weder rivalisierend noch exklusiv sind zu bestimmen;²⁶⁶ und in der Tat sind die allermeisten nonexklusiven Güter auch non-rivalisierend (nicht jedoch vice versa), so dass eine weitestgehende Abdeckung derselben Güterklassen gewährleistet sein dürfte.Was jedoch gegen diesen Argumentationszug spricht, ist das Vorliegen einer bedeutenden Güterklasse, die zwar non-exklusiv ist, aber deren Nutzung durchaus ri-

 Diese Darstellung ist natürlich in gewisser Hinsicht vereinfachend, da die kontinuierliche Befahrung von Straßen nach einiger Zeit zur Materialermüdung und somit beispielsweise zum Entstehen von Schlaglöchern führt, welche die Nutzung der entsprechenden Verkehrswege durchaus beeinträchtigen können. Für eine Diskussion dieses Aspekts, auf den ich hier allerdings nicht weiter eingehen werde, vgl. Anderheiden (2006: S. 115 f.).  Siehe Fn. 261.

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valisiert: Es handelt sich hierbei um die bereits angesprochenen Fischbestände großer Gewässer und großen Weideflächen – hinzufügen ließen sich noch die Baumbestände großer Wälder. Solche und ähnliche Güter, die auch als „common pool resources“ oder Almende-Güter bezeichnet werden, weisen das eigentümliche Charakteristikum auf, dass es zwar unmöglich oder doch zumindest sehr schwierig oder unwirtschaftlich ist, Mitglieder von ihrer Inanspruchnahme auszuschließen, aber ihre Nutzung dennoch – insbesondere, wenn sie in Form unkoordinierten Raubbaus (Überweidung, Überfischung, massenhafte Brandrodung) erfolgt – zu deren Verminderung bis hin zur Vernichtung führen kann.²⁶⁷ Wenn man die zumindest grundsätzliche Gemeinwohl-Relevanz solcher Güter nicht bestreiten will, und eine derartige Position ist meines Erachtens extrem kontraintuitiv, dann ist es unmöglich, sich bei der Spezifizierung der Sachbereiche auf das Kriterium der Non-Rivalität oder das kombinierte Kriterium von Non-Rivalität und Non-Exklusivität zu beschränken. Als einzige Möglichkeit verbleibt, die ausgangs formulierte These zu vertreten, wonach beide Kriterien zur Identifikation gemeinwohlrelevanter Politikfelder für sich besehen hinreichend, nicht aber notwendig sind. Die beiden genannten Hinsichten, unter denen Güter öffentlich sind, erlauben es, die große Anzahl höchst unterschiedlicher Güter und korrespondierender Politikfelder abzudecken, die nach unserem vortheoretischen Verständnis von öffentlichem Interesse sind; diese Klassifikation lässt sich anhand der folgenden Tabelle veranschaulichen: Tabelle 1: Klassifikation öffentlicher und privater Güter rivalisierend

non-rivalisierend

exklusiv Privatgüter (Lebensmittel, Kleidung, Treibstoff etc.)

öffentliche Güter (Verkehrsinfrastruktur, öffentliches Fernsehen, Parks und Grünanlagen, innere Sicherheit etc.) öffentliche Güter non-ex- öffentliche Güter klusiv (common pool resources: große Weideflä- (saubere Luft, öffentliche Baudenkmäler, chen, Fischereigewässer, Baumbestände Straßenbeleuchtung, Landesverteidigung etc.) großer Wälder)

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass durch die abstrakten Kriterien der Non-Rivalität und Non-Exklusivität von Seiten der Theorie

 Die Probleme der ressourcenschonenden Nutzung von Almende-Gütern und die Möglichkeit non-gouvernementaler Regelungen dieser Probleme werden unter anderem diskutiert in Elinor Ostroms einflussreicher Studie Governing the Commons (1990).

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nicht festgelegt ist, wie weit oder eng gefasst ein Politikfeld sein muss, um als Gemeinwohl-Sachbereich zu gelten – ausschlaggebend ist nur, dass auf diesem Sektor die Bereitstellung, Vermehrung oder Sicherung öffentlicher Güter thematisch ist. Zugleich ist an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Kategorie der Sachbereiche um eine negative Rahmenbedingung handelt, was bedeutet, dass es zur Gemeinwohlbestimmung und -verwirklichung nicht erforderlich ist, dass alle erdenklichen Sektoren, in denen öffentliche Güter thematisch sind, auch bearbeitet werden müssen; es gilt nur, dass eine Handlung nicht unter Rekurs auf das allgemeine Wohl gerechtfertigt werden kann, wenn sie sich nicht auf einen solchen Politikbereich bezieht.

3.2.4 Verfahrenskriterien Während durch die Sachbereichskriterien der Non-Exklusivität und/oder NonRivalität festgelegt ist, in welchen Politikfeldern der Gemeinwohlrekurs zur Rechtfertigung einer politischen Handlung grundsätzlich sinnvoll ist, spezifizieren Verfahrenskriterien, welcher prozedurale Modus der Gemeinwohlbestimmung einem konkreten Sachbereich angemessen ist. Dass die Annahme solcher sachbereichsspezifischer Kriterien durchaus in unseren vortheoretischen Überzeugungen über Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung fundiert ist, lässt sich beispielhaft illustrieren: Ein Gemeinplatz in aktuellen Debatten über regionale Planfeststellungsverfahren zum Ausbau von Verkehrswegen durch städtisches Gebiet ist etwa die Feststellung, dass der Verzicht federführender Landesregierungen auf Konsultationen mit lokalen Bürgerbewegungen illegitim sei – nur die Einbindung der Anwohner, so die weitgeteilte Auffassung, könne sicherstellen, dass das Bauvorhaben auch wirklich der Allgemeinheit dient. Das vielzitierte Schlagwort von der „starken Bürgerbeteiligung“ wird hier gegen den Anspruch gewählter Repräsentanten auf alleinige Planungshoheit ins Felde geführt.²⁶⁸ Im Gegensatz dazu drängt sich bei schwerwiegenden und dringlichen politischen Entscheidungen wie dem Umgang mit Natur- und Technikkatastrophen die Einschätzung auf, dass hier langwierige Auseinandersetzungen mit und zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren fehl am Platze sind: Es scheint auch ohne tiefer gehende Reflexion offenkundig gemeinwohlwidrig, Entscheidungen über Hilfs-

 Beispiele für solche Argumentationslinien lassen sich bei zahlreichen kommunalen und regionalen Bürgerbewegungen finden: Beispielsweise in den Stellungnahmen des Gladbecker ‚Bürgerforums A 52‘ zu dem von der nordrheinwestfälischen Landesregierung geplanten überirdischen Ausbau der Autobahn A 52 durch innerstädtisches Gebiet (vgl. http:// www.buergerforuma52.de/) und natürlich im Kontext des Stuttgarter Bauprojekts ‚Stuttgart 21‘.

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aktionen für Bürger, die Opfer einer Flutkatastrophe zu werden drohen, so lange zu vertagen, bis eine einvernehmliche Lösung unter Beteiligung aller lokalen Interessengruppen gefunden ist – seien dies nun Denkmalschützer, die einen bevorzugten Schutz historischer Gebäude fordern, oder Umweltschützer, die eine ökologische Katastrophe infolge der Überschwemmung einer örtlichen Raffinerie fürchten.²⁶⁹ Der common sense erfordert hier die schnelle und effiziente Entscheidung gewählter Repräsentanten. Was in solchen und ähnlichen Fällen moniert wird, ist nicht etwa, dass konkrete Handlungen für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant oder ihre Effekte in Wahrheit gemeinwohlschädlich sind (obwohl solche Argumente in aktualen Debatten häufig ineinandergeschoben werden), sondern dass bereits die angewandten Verfahren zur Bestimmung gemeinwohldienlicher Handlungen den Spezifika des jeweiligen Sachbereichs nicht hinreichend Rechnung tragen oder, positiv gewendet, dass bestimmte Verfahren in Bezug auf spezifische Politikfelder für die Gemeinwohlbestimmung und -verwirklichung vorzugswürdig sind. Meines Erachtens lassen sich unsere vortheoretischen Maßstäbe über sachbereichsadäquate Verfahren der Gemeinwohlbestimmung unter Bezug auf die prinzipiellen und praktischen Argumente, die für und wider die aggregativen und deliberativen Modi der Gemeinwohlbestimmung angeführt werden, systematisieren und zu einer Liste von Faktoren zusammenfassen, an denen sich bemisst, welche Verfahrensnorm für welchen Sachbereich angemessen ist. Der Nachvollziehbarkeit halber ist es meines Erachtens sinnvoll, zunächst die Argumente (siehe Kap. 2.4.3 bis 2.4.6) noch einmal gebündelt gegenüberzustellen; besondere Bedeutung kommt dem Umstand zu, dass die Einwände, die die Plausibilität des aggregativen Ansatzes unterminieren, dem deliberativen Modell seine Grundplausibilität verleihen – et vice versa. Auf prinzipieller, d. h. die normativen Prämissen der Theorie betreffender, Ebene lassen sich zwei zentrale Argumente gegen das aggregative Modell anführen: Erstens stellt sich das Problem, dass das zweistufige Interessen-Aggregationsverfahren (das in der Wahl politischer Repräsentanten nach dem Proporzprinzip und anschließender majoritärer Abstimmung seitens dieser Repräsentanten besteht) den interpersonalen Rechtfertigungsstatus geltend gemachter Interessen außen vor lässt, weswegen vorurteilsbehaftete, egoistische oder irrationale Interessen in die Gemeinwohlbestimmung einfließen können; zweitens gewährt der Ansatz den Mitgliedern durch die Wahl von Repräsentanten bzw. den Zielbündeln, für die Letztere eintreten, eine nur mittelbare Definiti-

 Für eine Übersicht und Analyse der politischen Debatten in Deutschland über den Umgang mit verheerenden Umweltkatastrophen vgl. etwa Groh, Kempe & Mauelshagen (Hrsg.) (2003).

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onsmacht über das Gemeinwohl. Der deliberative Ansatz umgeht diese Probleme. Erstens verknüpft er das Geltendmachen von Interessen mit einer allseitigen Rechtfertigungspflicht und induziert dergestalt die Revision vorurteilsbehafteter, egoistischer oder irrationaler Interessen bzw. deren Ausschluss aus dem Prozess der Gemeinwohlbestimmung. Zweitens gesteht er allen Mitgliedern durch deren Teilhabe an nicht-hierarchisch organisierten zivilgesellschaftlichen Diskursen einen unmittelbaren Einfluss auf die Gemeinwohlbestimmung zu. Im Gegenzug ergibt sich für das deliberative Modell auf prinzipieller Ebene das Problem einer potentiell ungerechtfertigten Belastung der Mitglieder durch die allseitige Rechtfertigungspflicht – einerseits insofern, als vor allem die Befassung mit hochkomplexen Streitfragen einen hohen Engagements- und Informationsaufwand nach sich zieht; andererseits insofern, als die Rechtfertigungspflicht fundamentaler Interessen (z. B. religiöser Überzeugungen) einen erheblichen Eingriff in persönlichkeitskonstitutive Grundeinstellungen impliziert. Dieses Problem fällt für die aggregative Theorie nicht an: Da sie eine politische Arbeitsteilung zwischen Mitgliedern und Repräsentanten vorsieht, entfällt der hohe Informationsaufwand für die Mitglieder; und da keine Rechtfertigungspflicht für Interessen bei deren Geltendmachung angenommen wird, stehen die Fundamentalüberzeugungen der Mitglieder bzw. deren Aufgabe im Zuge kommunikativer Auseinandersetzungen gar nicht zur Disposition. Auf der praktischen Ebene, die den Anspruch der Theorie betrifft, die eigenen normativen Vorgaben durch die spezifizierten prozeduralen Bestimmungen des politischen Systems umzusetzen, ergeben sich für das aggregative Systemmodell die folgenden zwei Probleme: Erstens lässt sich kritisieren, dass es die Vorgabe allgemeiner Chancengleichheit zur Einflussnahme auf die Politikgestaltung durch die Gewährleistung numerischer Ressourcengleichheit (eine Wählerstimme pro Person) nicht hinreichend erfüllt, sondern gut organisierten Wirtschaftsinteressen disproportionale Einflussmöglichkeiten einräumt. Zweitens steht in Frage, ob die Einbeziehung von Minderheiteninteressen bei der Gemeinwohlbestimmung durch die Vergabe von Vetomacht, wie sie das aggregative Modell vorsieht, eine konstruktive Politikgestaltung erlaubt und nicht in Politikblockaden einmündet. Diese Schwierigkeiten fallen für das deliberative Modell nicht an, insofern es erstens den in den politischen Institutionen prävalenten ökonomischen Interessen die Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Interessenformationen (wie Umweltschutzgruppen, Bürgerrechtsbewegungen etc.) entgegensetzt und die Möglichkeit paragouvernementaler Einigungen zwischen Wirtschaftsverbänden und Bürgerbewegungen betont; und insofern es zweitens durch die Anerkennung minoritärer Diskurse als gleichberechtigte kommunikative Akteure Minderheiteninteressen konstruktiv in die Gemeinwohlbestimmung einbindet.

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Im Gegenzug ergeben sich für die deliberative Theorie vier eng zusammenhängende Anwendungsprobleme. So lässt sich einwenden, dass die Anforderung, wonach allein einvernehmlich gefällte Entscheidungen autoritativ bzw. gemeinwohlkonstitutiv sind, in doppelter Hinsicht impraktikabel ist: Einerseits muss davon ausgegangen werden, dass umfassende zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen, selbst wenn sie einvernehmlich enden sollten, häufig zu langwierig sind, als dass sie zeitnahe Lösungen politischer Streitfragen erbringen könnten; andererseits steht in Frage, ob einige Mitglieder überhaupt per se bereit sind, bestimmte fundamentale Grundüberzeugungen aufzugeben oder zu revidieren. Des Weiteren ergibt sich insbesondere in Hinblick auf politische Streitfragen, die Fundamentalinteressen von Mitgliedern tangieren, die Gefahr, dass eine Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Diskurse entlang der respektiven Konfliktlinien zur Formierung homogener, sich selbst radikalisierender und gewaltbereiter Netzwerke führen kann. Zuletzt lässt sich einwenden, dass die Anforderung an den Organisationsgrund und die Struktur der Zivilgesellschaft in vielerlei Hinsicht utopisch ist: Es ist unplausibel, anzunehmen, dass in Bezug auf alle gemeinwohlrelevanten Politikfelder eine Pluralität kompetenter und kommunikationsbereiter sozialer Netzwerke existiert, die in der Lage sind, paragouvernementale Einigungen zu erzielen. All diese Schwierigkeit treten für das aggregative Modell nicht auf: Erstens ist dieser Ansatz, insofern er nicht auf der Entscheidungsregel eines gesamtgesellschaftlichen Konsensus fußt, sondern auf einer Kombination von Proporz- und Majoritätsprinzip, weit weniger zeitaufwendig als die Konkurrenztheorie. Zweitens muss er nicht das Problem unrevidierbarer Interessen bewältigen, da er nicht auf deren Konvergenz, sondern bloß auf deren Aggregation abzielt. Drittens muss in Rechnung gestellt werden, dass die Vorgaben an die Organisation des Gemeinwesens weit weniger anspruchsvoll sind: Die Adäquatheit des Systems bemisst sich hier nicht daran, ob die Zivilgesellschaft in Form nicht-hierarchischer Netzwerke organisiert ist, sondern ‚nur‘ an der Instituierung eines anonymen Wahlsystems und neutraler Abstimmungsverfahren. Zuletzt ist anzumerken, dass der aggregative Partizipationsmodus zumindest in geringerem Umfang die Gefahr birgt, gewalttätige Konflikte zwischen den Mitgliedern zu aktivieren: Der Grund ist offensichtlich, dass dieser zur Gemeinwohlbestimmung nicht auf die Mobilisierung (potentiell gewaltbereiter) sozialer Diskurse abstellt, sondern die konkrete Geltendmachung von Interessen über einen anonymen und solitären Wahlakt operationalisiert. Der Übersichtlichkeit halber können die oben genannten Vorzüge und Nachteile aggregativer und deliberativer Verfahren wie folgt tabellarisch zusammengefasst werden:

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Tabelle 2: Vorzüge und Nachteile aggregativer und deliberativer Verfahren aggregative Verfahren prinzipielle (i) geringe Partizipationsbelastung Vorzüge (Engagement, Selbstinformation) (ii) Fundamentalinteressen (z. B. religiöse Überzeugungen) sind nicht rechtfertigungspflichtig prinzipielle (i) uninformierte, egoistische oder irraNachteile tionale Interessen werden nicht revidiert oder ausgefiltert (ii) nur mittelbare Teilhabe an Bestimmung des Gemeinwohls praktische (i) geringer Zeitaufwand Vorzüge (ii) moderate organisatorische Vorgaben (iii) geringe Gefahr der Aktivierung gewalttätiger Konflikte

praktische Nachteile

(i) disproportional großer Einfluss gut organisierter Wirtschaftsinteressen (ii) Gefahr der Politikblockade durch Vetomachtvergabe an Minderheiten

deliberative Verfahren (i) uninformierte, egoistische oder irrationale Interessen werden revidiert oder ausgefiltert (ii) unmittelbare Teilhabe an Bestimmung des Gemeinwohls (i) große Partizipationsbelastung (Engagement, Selbstinformation) (ii) Fundamentalinteressen (z. B. religiöse Überzeugungen) sind rechtfertigungspflichtig (i) Gegenpol zu gut organisierten Wirtschaftsinteressen durch Mobilisierung der Zivilgesellschaft (ii) konstruktive Einbindung nicht-radikaler (kommunikationsbereiter) Minderheiten (i) sehr hoher Zeitaufwand (ii) Problem unrevidierbarer Interessen (iii) sehr hohe organisatorische Vorgaben (iv) erhöhte Gefahr der Aktivierung gewalttätiger Konflikte

Nun lassen sich die zwischen Vertretern der aggregativen und der deliberativen Demokratietheorie ausgetauschten Einwände offenkundig auf unterschiedliche Art interpretieren: Die pessimistischste Lesart besagt hier, dass die respektiven Gegeneinwände so stark sind, dass sich beide Theorien gegenseitig neutralisieren und keiner der Ansätze letzten Endes eine in allen relevanten Hinsichten überzeugende Operationalisierung der Deutungshoheit der Gemeinschaftsmitglieder über das Gemeinwohl bietet.²⁷⁰ Eine andere Option besteht darin, eine Abwägung der Argumente vorzunehmen und nach genauer Prüfung der Schwere der Einwände in den sauren Apfel zu beißen und sich schließlich dennoch für eines der

 Eine solche Einschätzung klingt z. B. in Shapiros The State of Democratic Theory an, vgl. Shapiro (2003: S. 10 f.). Entsprechend bestreitet er auch grundsätzlich, dass die Funktion demokratischer Institutionen in der Operationalisierung der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl besteht. Demokratische Arrangements haben ihm zufolge allein die Aufgabe, einen kontinuierlichen Austausch politischer Machteliten sicherzustellen, um zu verhindern, dass eine bestimmte Interessenformation über längere Zeit hinweg die Politik eines Gemeinwesens dominiert.

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beiden Systemmodelle (mit all seinen Nachteilen, die indes weniger schwer gewichtet werden als die des Alternativmodells) zu entscheiden. Meiner Ansicht nach sind jedoch beide Alternativen unbefriedigend und auch keinesfalls zwingend: Sie basieren nämlich auf der Prämisse, dass nur genau eine Verfahrensnorm im politischen System eines Gemeinwesens Anwendung finden kann; denn nur wenn man von dieser Annahme ausgeht, lässt sich auch folgern, dass sich beide Theorien entweder gegenseitig neutralisieren oder dass man gezwungen ist, sich für dasjenige Modell zu entscheiden, das mit geringeren Mängeln behaftet ist. Plausibler – und anschlussfähiger an unsere Grundintuition über unterschiedliche Maßstäbe der Verfahrensangemessenheit je nach Politikfeld – ist es, stattdessen von einer ‚Aufgabenteilung‘ zwischen aggregativen und deliberativen Verfahren auszugehen. Nach dieser Interpretation ist es nicht nötig, einen Theorietyp zu identifizieren, der in allen relevanten Hinsichten eine überzeugende Operationalisierung der Deutungshoheit erlaubt. Es ist nur erforderlich, Kriterien dafür anzugeben, in welchen Sachbereichen die Anwendung einer Prozedur adäquater ist als die der anderen bzw. in welchen Sachbereichen eine Prozedur größere Vorzüge und geringere Nachteile aufweist als die Alternativprozedur. Meines Erachtens lassen sich vier grundlegende Faktoren bestimmen, die für die sachbereichsspezifische Verfahrensadäquatheit relevant sind: die Dringlichkeit einer politischen Entscheidung, der Organisationsgrad der Zivilgesellschaft bezüglich eines Sachbereichs, die Komplexität der infrage stehenden Materie und deren Konfliktivität. Bei diesen Faktoren handelt es sich, wie sich zeigen wird, um Ceteris-Paribus-Bedingungen, d. h. um Kriterien, von denen jedes einzelne nur dann notwendig die Vorzugswürdigkeit einer Prozedur indiziert, wenn keiner der anderen Faktoren ausschlaggebend ist.²⁷¹ Da in der Praxis jedoch davon auszugehen ist, dass die Faktoren nach Sachlage entweder miteinander konfligieren oder einander komplementieren können, legt dies erstens eine Faktorengewichtung im Einzelfalle nahe und zweitens die mögliche Verwendung von Verfahren, die Mischformen zwischen aggregativen und deliberativen Ansätzen der Gemeinwohlbestimmung darstellen. Die Dringlichkeit einer politischen Entscheidung ist fraglos der unkontroverseste der genannten Faktoren. Als dringlich können politische Entscheidungsfragen gelten, wenn die Verzögerung einer Entscheidung in dem respektiven Sachbereich mit großer Wahrscheinlichkeit gravierende negative Konsequenzen für das Gemeinwesen zur Folge hat. Klassische Beispiele hierfür sind der Katastrophenschutz (sei es vor Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben oder Technikkatastrophen wie Atom- und Chemieunfällen) und die

 Zum Begriff von Ceteris-Paribus-Bedingungen vgl. Reutlinger & Hüttemann (2011).

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Landesverteidigung; zu denken ist auch an die Bewältigung nationaler oder internationaler Finanzkrisen.²⁷² In diesen Fällen gilt: Je dringlicher eine Entscheidung, desto vorzugswürdiger sind aggregative Verfahren zur Bestimmung des Gemeinwohles gegenüber deliberativen Verfahren. Das Argument für diese Einschätzung ist ein praktisches: Da mit steigender Dringlichkeit die Möglichkeit einer raschen Entscheidungsfindung an Bedeutung gewinnt, folgt daraus, dass die Verwendung langwieriger und aufgrund der Gefahr unrevidierbarer Interessen eventuell prinzipiell zum Scheitern verurteilter deliberativer Verfahren entsprechend an Plausibilität verliert, während die Anwendung der zeitsparenderen aggregativen Variante an Plausibilität gewinnt. Umgekehrt gilt meines Erachtens jedoch auch: Je weniger dringlich eine Entscheidung, desto vorzugswürdiger sind deliberative Verfahren gegenüber aggregativen Verfahren. Der Grund ist, dass mit sinkender Dringlichkeit die Zeitersparnis des aggregativen Modells bzw. die Langwierigkeit des deliberativen Modells an Relevanz verliert und gleichsam die Vorzüge der deliberativen Theorie an Gewicht gewinnen. Bei Entscheidungsfragen, die nämlich nicht innerhalb eines eng gesteckten Zeitrahmens geklärt werden müssen, ist es möglich, eine große Zahl zivilgesellschaftlicher Akteure in einen kommunikativen Prozess der Gemeinwohlbestimmung einzubinden, und dergestalt den Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, ihre Deutungshoheit unmittelbar auszuüben und vorurteilsbehaftete oder irrationale Interessen durch die Verpflichtung auf ein wechselseitiges Geben und Nehmen interpersonal akzeptabler Gründe auszufiltern. Der zweite Faktor, der Organisationsgrad der Zivilgesellschaft, bemisst sich daran, in welchem Umfang ein Sachbereich durch eine Pluralität zivilgesellschaftlicher Netzwerke besetzt ist. Politikfelder, die sich durch einen hohen zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad auszeichnen, sind, um nur zwei Beispiele aus Deutschland anzuführen, der Umweltschutz, den sich eine große Anzahl sehr unterschiedlicher Organisationen zum Gegenstand gemacht hat, und der Jugendsport-Sektor, der sich durch eine hohe Dichte von Verbänden mit ehrenamtlichen Mitarbeitern auszeichnet. In diesem Kontext lässt sich in Bezug auf die sachbereichsspezifische Verfahrensangemessenheit erstens konstatieren: Je geringer der Organisationsgrad der Zivilgesellschaft in Bezug auf einen Sachbereich, desto vorzugswürdiger sind aggregative gegenüber deliberativen Verfahren. Für diese Einschätzung sprechen zwei Argumente: Erstens hängt die Möglichkeit einer

 Ein weiteres Beispiel, auf das ich in Kap. 4.1 detailliert eingehen werde, ist der Sektor der kriminalpolitischen Prävention schwerer Gewaltdelikte. Die Dringlichkeit der entsprechenden Sachfrage ergibt sich offenkundig daraus, dass das Versäumnis einer zeitnahen Entscheidung im Zweifelsfalle den Verlust von Menschenleben oder zumindest die schwere körperliche und psychische Schädigung von Mitgliedern nach sich ziehen kann.

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deliberativen Gemeinwohlbestimmung offenkundig davon ab, ob überhaupt Netzwerke existieren, die in der Lage sind, die Interessen der Mitglieder in Bezug auf einen bestimmten Sachbereich geltend zu machen; wenn ein Politikfeld nicht (oder nur in sehr geringem Umfang) von solchen Akteuren besetzt wird, ist es schlechterdings unmöglich, paragouvernementale Einigungen zu erzielen – hier ist die konkrete Gemeinwohlbestimmung durch Repräsentanten, die sich qua politische Experten von Berufs wegen mit bestimmten (in diesem Falle von sozialen Diskursen aus welchen Gründen auch immer vernachlässigten) Politikfeldern befassen, der einzige Weg, überhaupt eine Bestimmung gemeinwohldienlicher Handlungen vorzunehmen. Zweitens kann sich bei einer Reihe von Sachbereichen das Problem stellen, dass die respektiven Themen nur von einem gut organisierten Diskurs bearbeitet werden. Wenn staatliche Institutionen hier ihre Regelungskompetenz an die zivilgesellschaftliche Sphäre abtreten, entsteht die Gefahr, dass ein Diskurs die Deutungshoheit über das Gemeinwohl monopolisiert und die nicht gleichermaßen organisierten, aber gegenläufigen Interessen der übrigen Mitglieder unterdrückt.²⁷³ Im Gegenzug gilt jedoch auch: Je höher der zivilgesellschaftliche Organisationsgrad, desto vorzugswürdiger sind deliberative gegenüber aggregativen Verfahren.Wenn, wie ich bereits zuvor argumentiert habe, die durch deliberative Verfahren verbürgte unmittelbare Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl und die Generierung reflektierterer und informierterer Interessen einen klaren Vorteil deliberativer gegenüber aggregativen Verfahren darstellen, dann steigt mit dem zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad auch die Aussicht, diese Vorteile praktisch umzusetzen. Es wäre meines Erachtens schwer zu rechtfertigen, in einem Politikfeld, das sich durch eine große Anzahl gut organisierter sozialer Diskurse auszeichnet und entsprechend das

 Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte ‚Busing Controversy‘ in den USA, die vor allem in den 1960ern und 1970er Jahren ausgetragen wurde und auch von Befürworten zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation als paradigmatisch für deren Risiken eingeschätzt wird, vgl. Putnam (2000: S. 350 – 363): Mit dem Civil Rights Act von 1964 hatte der US-Kongress die Rassentrennung in öffentliche Einrichtungen de jure abgeschafft und Maßnahmen zur Beseitigung einer an öffentlichen Schulen de facto fortbestehenden Rassentrennung beschlossen. Diese sahen unter anderem vor, Schulkinder aus überwiegend ‚weißen‘ Wohngegenden zum Besuch von Schulen in überwiegend ‚schwarzen‘ Wohngegenden zu verpflichten – und vice versa. Eine Folge war die Formierung einflussreicher weißer Elternverbände (wie z. B. der rassistischen Bürgerbewegung ‚Restore Our Alienated Rights‘ mit dem bezeichnenden Akronym ROAR), die durch Demonstrationen erzwangen, dass diese Maßnahmen in vielen Schuldistrikten trotz geltender Rechtslage nicht umgesetzt wurden. Problematisch an diesem Fall ist, wie Putnam konzediert, dass es hier einem ressourcenstarken und gut organisierten Diskurs gelang, die politische Agenda in einem Sachbereich zu dominieren – und zwar auf eine Weise, der die nicht gleichermaßen organisierte afroamerikanische Bevölkerung nichts entgegenzusetzen hatte.

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Potential eines umfassenden und wohlinformierten Austauschs über Gründe politischen Handelns birgt, die konkrete Gemeinwohlbestimmung nur einer verhältnismäßig kleinen Gruppe gewählter Repräsentanten zu überlassen. Der dritte Faktor der Komplexität lässt sich am besten anhand der Anzahl der unterschiedlichen Mitgliederinteressen hinsichtlich des respektiven Sachbereichs, der möglichen Handlungsalternativen zum Umgang mit einer politischen Problemstellung sowie der möglichen Konsequenzen, die sich aus der Verfolgung einer der jeweiligen Alternativen ergeben, erfassen.²⁷⁴ Auf Grundlage dieser Klassifikationskriterien kann – plausiblerweise, wie ich denke – z. B. ein deutlich höherer Komplexitätsgrad für die Sachfrage veranschlagt werden, ob die bundesweite Anbaugenehmigung einer neuen, transgenen und schädlingsresistenten Maissorte gemeinwohldienlich ist, als etwa für die Frage nach der Gemeinwohldienlichkeit der Baugenehmigung für eine neue Super-Mall im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Während im ersteren Falle nicht nur potentiell alle Gemeinschaftsmitglieder qua Verbraucher von der Entscheidung tangiert sind (insofern Maismehl sowohl als universelles Tierfuttermittel als auch als Grundstoff der Lebensmittelherstellung Verwendung findet), sondern auch bundesweite Umweltschutz-, Forschungs- und Agrarinteressen, betrifft letzterer Fall zumindest in größerem Umfange die Interessen der örtlichen Anwohner und Gewerbetreibenden. Des Weiteren dürfte unstreitig sein, dass Anbau und Verwertung von Nutzpflanzen, die durch ‚grüne‘ Gentechnik modifiziert worden sind, eine weit größere Anzahl möglicher und daher sowohl schwerer prognostizierbarer als auch nachprüfbarer Konsequenzen (von allergenen Reaktionen der Direktkonsumenten über die toxische Kontamination der Masttiere bis hin zu Wechselwirkungen mit dem übrigen Ökosystem infolge von Samenstreuung) zeitigen können als der Neubau einer Einkaufsmeile.²⁷⁵ Ausgehend von diesem Faktor kann meines Erachtens erstens folgende Aussage über die sachbereichsspezifische Verfahrensangemessenheit getroffen

 Innerhalb der normativen Staatstheorie gibt es, wenig überraschend, keinen Konsens darüber, anhand welcher Kriterien sich die Komplexität eines Politikfeldes bemisst; für einen Überblick vgl. den Sammelband von Werle & Schimank (Hrsg.) (2000). Da ich Politikfeldkomplexität als Faktor für Verfahrensangemessenheit diskutieren möchte, erscheint es mir sinnvoll, Erstere anhand des Umfangs und der Bedingungen politischer Entscheidungsoptionen zu bestimmen und diese Bestimmung durch Beispiele zu untermauern.  Für einen Überblick zu den wissenschaftlichen Kriterien der Risiko-Abschätzung bei der Einführung transgener Nutzpflanzen vgl. Korthals (2003). Im Übrigen soll mit diesem Vergleich nicht gesagt sein, dass die Abwägung von Gründen und Gegengründen bei innerstädtischen Großbauprojekten nicht komplex bzw. ‚simpel‘ ist; sie ist nur, so mein Argument zur Veranschaulichung einer Komplexitätsgradualität je nach Sachbereich, weniger komplex als im erstgenannten Falle.

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werden: Je komplexer ein Sachbereich ist, desto vorzugswürdiger sind aggregative gegenüber deliberativen Verfahren. Diese These beruht auf dem Umstand, dass das deliberative Modell anders als die aggregative Konkurrenztheorie die Gemeinwohlbestimmung durch den Austausch interpersonal akzeptabler Gründe und die Revision von Interessen auf Grundlage neuer Informationen und Argumente operationalisiert. In diesem Zusammenhang ist jedoch davon auszugehen, dass die Mitglieder mit der steigenden Komplexität des Sachbereichs auch gleichsam im entsprechend größeren Umfange genötigt sein werden, beständig neue Informationen zu registrieren, ihre Auffassungen zu revidieren und diese gegen andere Mitglieder argumentativ zu verteidigen. Anders gesagt: Es ist plausibel, anzunehmen, dass mit der Komplexität der Streitfragen auch die Zugangshürden für die Mitglieder steigen, um sich als kompetente Sprecher an kommunikativen Auseinandersetzungen über die Gemeinwohlbestimmung zu beteiligen – und somit auch die Anforderungen, die Verfolgung eigener Lebensprojekte zugunsten der politischen Partizipation hintanzustellen; das Belastungsproblem der deliberativen Demokratietheorie verschärft sich somit durch den Faktor der Politikfeldkomplexität. Im Gegenzug gewinnt die Entlastungsfunktion, die das aggregative Modell durch die politische Arbeitsteilung zwischen Wählern und Repräsentanten gewährleistet, an positivem Gewicht, insofern es den Mitgliedern erlaubt, die Entscheidung über hochkomplexe Themen an politische Experten, die über die erforderlichen zeitlichen Ressourcen, das entsprechende Vorwissen und die nötige Infrastruktur zur Informationsbeschaffung verfügen, zu delegieren. Zugleich gilt meiner Ansicht nach jedoch auch der Grundsatz, dass mit sinkender Sachbereichskomplexität die Anwendung deliberativer Prozeduren an Plausibilität gewinnt und die Bezugnahme auf aggregative Verfahrensnormen an Plausibilität verliert. Je weniger komplex eine Sachfrage ist und je geringer der entsprechende Aufwand für die Mitglieder ausfällt, eigene zivilgesellschaftliche Lösungen auszuhandeln, desto schwerer wird es, die Notwendigkeit einer strikten politischen Arbeitsteilung zu rechtfertigen; dies freilich unter der Annahme, dass die unmittelbare Beteiligung der Mitglieder, so sie keine unzumutbaren Belastungen impliziert, ihrer mittelbaren Partizipation an der Gemeinwohlbestimmung aus normativen Gründen vorzuziehen ist. Der vierte und letzte Faktor der Konfliktivität bezeichnet den Grad, in dem die sich auf das respektive Politikfeld beziehenden Mitgliederinteressen sowohl fundamental, d. h. konstitutiv für das evaluativ-normative Selbstverständnis der Mitglieder, als auch untereinander divergierend sind. Paradigmatisch für hochkonfliktive Sachbereiche in diesem Sinne sind: Streitfragen über die öffentliche Religionsausübung (z. B. die Auseinandersetzungen in Deutschland um die Zulässigkeit des muslimischen Gebetsrufs anlässlich der Freitagsandacht oder um

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die Durchführung des rituellen muslimischen Gebets, der Salat, während der Schulpausen), viele Politikfelder, die medizinethische Probleme betreffen (wie etwa Fragen der ärztlich begleiteten Sterbehilfe oder des Schwangerschaftsabbruchs) oder Konflikte um regionale Selbstverwaltung in ethnisch heterogenen Gemeinwesen. Was diese und ähnliche Sachbereiche auszeichnet, ist, dass hier grundlegend unvereinbare Interessenformationen einander gegenüberstehen, die überdies in tief liegenden und für die individuelle Lebensführung der Mitglieder zentralen Grundüberzeugungen fundiert sind. Der erste Grundsatz über Verfahrensangemessenheit, der sich in Bezug auf diesen Faktor formulieren lässt, besagt: Je konfliktiver ein Politikfeld, desto vorzugswürdiger sind aggregative gegenüber deliberativen Verfahren. Als erstes Argument für diese These lässt sich anführen, dass mit der steigenden Bedeutung der respektiven Überzeugungen für die persönliche Identität der Mitglieder die von der deliberativen Theorie eingeforderte Bereitschaft zur Interessenrevision ihre normative Überzeugungskraft einbüßt. Je maßgeblicher die Aufrechterhaltung bestimmter Vitalinteressen für das evaluativ-normative Selbstverständnis eines Mitglieds ist, desto schwerer rechtfertigbar wird es, von ihm zu fordern, diese zur Diskussion zu stellen und gegebenenfalls aufzugeben. Zweitens legen die Befunde der Konfliktforschung und der psychologischen Theorie der Gruppen nahe, dass bei zunehmender Konfliktivität eines Sachbereichs durch die Anwendung deliberativer Verfahren immer weniger zu gewinnen, aber immer mehr zu verlieren ist: Je tiefer die – möglicherweise latenten, aber dennoch bestehenden – ideologischen Gräben zwischen den zivilgesellschaftlichen Diskursen hinsichtlich eines Sachbereichs sind, desto größer ist auch die Gefahr, dass die von der deliberativen Theorie vorgesehene Mobilisierung dieser Diskurse zu deren Selbstradikalisierung führt; mit dem Ergebnis, dass nicht nur kein gesamtgesellschaftliches Einvernehmen erzielt wird, sondern dass sich eine fortschreitende Fragmentierung des Gemeinwesens, die das Potential gewalttätiger Eskalation birgt, vollzieht. Im Gegenzug gewinnen mit steigender Sachbereichskonfliktivität zwei Vorzüge der aggregativen Theorie gegenüber dem deliberativen Ansatz an Gewicht: So sieht Erstere nicht vor, dass Mitglieder im Zuge prozeduraler Gemeinwohlbestimmung ihre Interessen und Überzeugungen gegebenenfalls aufgrund mangelnder interpersonaler Rechtfertigbarkeit aufgeben müssen. Sie fordert nur, dass diese das Ergebnis fairer Wahlen und die Entscheidungen der gewählten Regierung als legitim und somit als autoritativ anerkennen; gleichwohl bleibt ihnen vorbehalten, mit diesen Entscheidungen inhaltlich zu dissentieren und ihren gegenläufigen Überzeugungen durch legale,verfasste und unverfasste Formen des Protests Ausdruck zu verleihen. Zweitens ist offenkundig, dass auch aggregative Verfahren die Radikalisierung zivilgesellschaftlicher Diskurse anlässlich fundamentaler politischer Streitfragen nicht ausschließen können; aber – und dies

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scheint mir der maßgebliche Unterschied zu sein – sie veranschlagt nicht die Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Diskurse entlang der respektiven Konfliktlinien als notwendige Bedingung der Gemeinwohlbestimmung. Insofern sie die Geltendmachung individueller Mitgliederinteressen (zumindest dem Modell nach) auf den anonymen und solitären Wahlakt beschränkt, ist plausibel, dass sie in Bezug auf Sachfragen, bei denen die Gesellschaft tief gespalten ist, geringere eskalatorische Effekte zeitigen dürfte als die Konkurrenztheorie. Zuletzt sollte in Rechnung gestellt werden, dass die aggregative Variante die Möglichkeit vorsieht, Konflikte zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und (religiöser und/oder ethnischer) Minderheit im Zweifelsfalle durch den Einsatz inner- oder außerparlamentarischer Vetomacht zu beenden. Die hieraus resultierende Gefahr einer weitgehenden Politikblockade lässt diese Option zwar als wenig attraktiv erscheinen; sie ist hier aber im Vergleich zu der Delegation politischer Regelungskompetenz an die Zivilgesellschaft angesichts der bereits angesprochenen Risiken meines Erachtens das geringere Übel. Abschließend, und angesichts meiner bisherigen Ausführungen wenig überraschend, bleibt der Grundsatz festzuhalten, dass mit sinkender Konfliktivität eines Sachbereichs die Vorzugswürdigkeit deliberativer gegenüber aggregativen Verfahren steigt. Je weniger fundamental die relevanten Interessen der Mitglieder sind und je geringer ihre Divergenzen ausfallen, desto zumutbarer ist es meines Erachtens, diesen die Bereitschaft zur Reflexion über ihre Interessen und zu deren möglicher Revision abzuverlangen. Des Weiteren ist begründet davon auszugehen (siehe hierzu die entsprechende Anmerkung in Kap. 2.4.6), dass weniger konfliktive Sachbereiche in weit geringerem Maße die Gefahr einer Selbstisolierung und Radikalisierung der respektiven sozialen Netzwerke bergen, was die Aussicht auf eine gewaltfreie und einvernehmliche Problemlösung unter Beteiligung aller zivilgesellschaftlichen Akteure erhöht. Dass die im Ausgang von den vier Faktoren angegeben ‚Je-desto‘-Grundsätze zur sachbereichsspezifischen Verfahrensadäquatheit allerdings, wie bereits eingangs bemerkt, in der Tat nur als Ceteris-Paribus-Bedingungen aufzufassen sind, lässt sich wie folgt illustrieren: Während etwa bei Politikfeldern, die sich sowohl durch einen hohen zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad als auch durch eine geringe Dringlichkeit, Komplexität und Konfliktivität auszeichnen, alle Faktoren die Verwendung deliberativer Verfahren indizieren, liegt in einem Sachbereich, der sowohl durch ein hohes Maß an Dringlichkeit als auch durch eine hohe Dichte sozialer Netzwerke charakterisiert ist, offenkundig ein Faktoren-Konflikt vor – das Erfordernis einer raschen Entscheidungsfindung indiziert die Verwendung aggregativer Verfahren; der zivilgesellschaftliche Organisationsgrad hingegen legt nahe, die politische Regelungskompetenz an zivilgesellschaftliche Akteure zu delegieren. Dieser Umstand bedeutet indes nicht, dass die genannten Faktoren im

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Konfliktfalle nicht mehr informativ wären, um die Vorzugswürdigkeit einer bestimmten Prozedur anzuzeigen. Da Kriterien wie Dringlichkeit oder Komplexität keine disjunkten Kategorien (in dem Sinne, dass eine Sachfrage z. B. nur ‚dringlich‘ oder ‚nicht dringlich‘ sein kann) darstellen, sondern, wie bereits die Formulierung der ‚Je-desto‘-Grundsätze impliziert, gradualisierbar sind bzw. sich als Punkte auf einem Kontinuum repräsentieren lassen, wird eine Faktorengewichtung und -abwägung je nach Einzelfall möglich – und auch nötig. Eine solche Abwägung kann, je nachdem durch welche Charakteristika sich der Sachbereich auszeichnet, entweder zum Ergebnis haben, dass nach Berücksichtigung aller Faktoren klarerweise eine der beiden Verfahrensnormen zur Gemeinwohlbestimmung indiziert ist. Dies ist z. B. mit Sicherheit der Fall, wenn die Mehrheit der Faktoren mit großer Stärke die Vorzugswürdigkeit einer Prozedur anzeigen und nur ein Faktor, und dies nicht mit gleicher Stärke, die Vorzugswürdigkeit der Konkurrenzprozedur indiziert. Oder aber – und dies gilt, wenn die unterschiedlichen Faktoren mit gleicher (oder ähnlicher) Stärke konfligieren – sie kann zu einem Resultat führen, das die Verwendung einer Mischform zwischen aggregativen und deliberativen Verfahren nahelegt.²⁷⁶ Letztere Option, die ich bislang nicht diskutiert habe, weil es mir darum ging, beide Theorien als Antipoden darzustellen, um ihre respektiven Vorzüge und Nachteile klarer herauszuarbeiten, besteht in der Verwendung von Prozeduren, die weder auf die Maximalpositionen der Herstellung einer völligen Interessenkonvergenz im Zuge paragouvernementaler Einigungen noch auf die bloße Aggregation präprozedural bestimmter Interessen durch Repräsentantenwahlen festgelegt sind, die aber bestimmte kompatible Elemente beider Demokratiemodelle integrieren.²⁷⁷ Eine zentrale Variante solcher Mischformen besteht in der Etablierung deliberativer Foren, in denen gewählte Repräsentanten über einen gewissen Zeitraum mit Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Vereinigungen über anstehende parlamen-

 Diese Einschätzung vertritt in dem Kontext z. B. auch Michael Saward, wenn er schreibt: „Future democracy will be a mix of institutions tailored to circumstance, and the crux lies in identifying the appropriate mix“; Saward (2000: S. 2).  Im Folgenden werde ich keine Auflistung aggregativ-deliberativer Mischformen vornehmen, die in irgendeinem Sinne Anspruch auf systematische Vollständigkeit erhebt. Insofern der Trend zur deliberativen Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen ein vergleichsweise neues Phänomen – sowohl in der Demokratietheorie als auch in der politischen Praxis – darstellt, sind die Möglichkeiten unterschiedlicher und auf spezielle Sachbereichserfordernisse zugeschnittener Verfahrensweisen vermutlich nicht einmal näherungsweise ausgeschöpft (vgl. zu dieser Einschätzung auch Smith 2001). Mir geht es hier nur darum, beispielhaft zu plausibilisieren, dass solche Mischformen etabliert werden können, und an zwei Modellen kurz zu illustrieren, wie sie verfasst sein können.

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tarische Entscheidungen diskutieren.²⁷⁸ Ein in diesem Kontext paradigmatischer Fall, der eingehend von Mark Button und Kevin Mattson erörtert wird, ist etwa die Konferenz ‚Energy Restructuring in the Pacific Northwest‘ aus dem Jahr 1997 in Portland, in der Kongressabgeordnete eingeladen waren, sich mit Mitgliedern von Umweltschutzgruppen, Abgesandten der ansässigen Ureinwohner und Industrievertretern über Alternativen zur bisherigen regionalen Energieversorgung auszutauschen – und zwar unter der Bedingung gleicher Redezeit für alle Teilnehmer. Ziel des Forums war allerdings nicht die Herstellung der völligen Interessenkonvergenz aller Kommunikatoren in Hinblick auf die diskutierten Sachfragen, sondern die Entwicklung eines sogenannten working consensus [which] would not require the assent of every voice or interest present, but would establish a framework within which future state and federal actions would be found legitimate and acceptable to all those affected by the proposed changes.²⁷⁹

Dieses Verfahren inkorporiert demnach deliberative Elemente insofern, als es darauf ausgerichtet ist, allen Beteiligten die Gelegenheit zu geben, die Interessen der anderen Mitglieder bzw. die Gründe, die sie für deren Geltendmachung haben, nachzuvollziehen und so ihre Divergenzen zu vermindern. Und es inkorporiert aggregative Elemente insofern, als es die finale politische Entscheidungsbefugnis bei den gewählten Repräsentanten belässt – wenngleich verbunden mit der Verpflichtung, für ihre Entscheidungsgründe im Forum Rede und Antwort zu stehen und sich mit den Argumenten zivilgesellschaftlicher Akteure auseinanderzusetzen. Eine weitere Option, die unter anderem von John Parkinson diskutiert wird, ist die Kombination des direktdemokratischen Entscheidungsinstruments des Referendums mit einem deliberativen Vorentscheidungs- und Agenda-Setting-Prozess. ²⁸⁰ Ungeachtet seiner wachsenden Bedeutung in der politischen Praxis und der erheblichen legitimatorischen Bedeutung, die eine Reihe von Theoretikern der Volksabstimmung über konkrete Sachfragen zumessen,²⁸¹ wird das Entscheidungsinstrument des Referendums in der politischen Theorie traditionell mit Skepsis gesehen. Ein Grund ist, dass „[r]eferenda present voters with more complex, less easily navigable decisions than elections for office“, was – zumal wenn

 Vgl. Button & Mattson (1999). Diese Variante wird unter anderem auch diskuiert in Mackie (2006) sowie in Gutman & Thompson (2004).  Button & Mattson (1999: S. 617).  Vgl. Parkinson (2006: S. 170 ff.) und Parkinson (2009). Für ähnlich gelagerte Ansätze siehe auch Saward (2000), Smith (2001: S. 86 – 89) sowie Luskin et al. (2006).  Siehe z. B. Beetham (1991: S. 58 ff.) sowie Bowler, Donovan & Karp (2007).

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die zur Abstimmung gestellte Entscheidung von einer die Agenda bestimmenden Interessengruppe bewusst auf missverständliche Weise formuliert ist – dazu führen kann, dass viele Mitglieder Abstimmungsentscheidungen fällen, die auf Irrtümern beruhen.²⁸² Hier schlägt jedoch, so die Vertreter einer Mischform direktdemokratischer und deliberativer Verfahren, die Stunde der kommunikativen Rationalität: Wenn ein gravierendes Defizit direktdemokratischer Entscheidungsmechanismen nämlich darin besteht, dass Mitglieder aufgrund fehlender Informationen und missverstandener Entscheidungsoptionen ihre Interessen nicht auf angemessene Weise geltend machen können, und wenn ein Vorzug deliberativer Verfahren gerade in der Generierung reflektierterer Interessen und eines tieferen Verständnisses des Sachbereichs liegt, liegt der Schluss nahe, beide Prozeduren zu kombinieren, um das Defizit des Referendums so zu kompensieren. Nichtsdestotrotz sind nicht allen Typen von Referenden gleichermaßen mit deliberativen Verfahrensnormen kompatibel. Ein zentrales Klassifikationsmerkmal in diesem Kontext ist die Unterscheidung zwischen Referenden, die von Regierungen angesetzt werden, und solchen, die von der Bevölkerung ausgehen und deren Initiierung, die Bewältigung landesspezifischer prozeduraler Hürden, die in der Beibringung einer bestimmten Anzahl von Wählerunterschriften innerhalb einer gewissen Zeitspanne bestehen, erfordert.²⁸³ Das Problem letztgenannter Verfahrensart ist, dass die Hürden, die für die Initiierung eines Referendums erforderlich sind, gemeinhin nur von professionell organisierten und ressourcenstarken Interessenformationen wie z. B. Lobby-Gruppen oder Regionalparteien bewältigt werden können: Für das großflächige Sammeln von Unterschriften (das in Gemeinwesen, in denen Initiativreferenden ein fester Bestandteil politischer Praxis sind, in der Regel von spezialisierten Unternehmen durchgeführt wird) und die erforderliche mediale Mobilisierung der Wählerschaft fehlen klassischen sozialen Netzwerken, die im größten Maße die deliberativen Tugenden flacher Hierarchien und organisatorischer Dezentralität aufweisen, die erforderlichen Mittel.²⁸⁴ Dies hat zur Folge, dass die Bestimmung der zur Abstimmung vorgese Luskin et al. (2006: S. 1).  Weitere Kriterien sind die Unterscheidung zwischen prospektiven Referenden (bei denen über die Einführung einer neuen Gesetzesnorm abgestimmt wird) und reaktiven Referenden (die die Abschaffung oder Modifikation einer bestehenden Norm zum Gegenstand haben) sowie die Distinktion zwischen nationalen und regionalen bzw. lokalen Referenden; vgl. Butler & Ranney (Hrsg.) (1994: S. 1 ff.).  So gilt z. B. im US-Bundesstaat Kalifornien, dessen Politik in den vergangenen Jahrzehnten im hohen Maße durch direktdemokratische Entscheidungen geprägt war, die Anforderung, dass innerhalb eines Zeitraums von 150 Tagen 5 % der Wähler per Unterschrift ihre Zustimmung zur Initiierung eines Referendums geben müssen, was eine durchschnittliche Mobilisierung von fast 3000 Personen pro Tag bedeutet. Die Kosten für diesen Aufwand beziffert Parkinson (2009: S. 9)

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henen Sachfragen gerade nicht unter Bedingungen kommunikativer Gleichheit erfolgt, sondern von wenigen zivilgesellschaftlichen Akteuren dominiert wird. Eine vorzugswürdige Alternative sieht Parkinson in einem dreistufigen Entscheidungsprozess, der durch eine enge Verzahnung zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die als politische Impulsgeber fungieren, und staatlichen Institutionen, die als Garanten gleicher Interessenberücksichtigung dienen, charakterisiert ist, und über eine Anzahl institutionell eingehegter deliberativer Etappen schließlich in einen Volksentscheid einmündet.²⁸⁵ Die erste Etappe in Parkinsons Modell besteht darin, dass ein für diesen Zweck eingerichteter parlamentarischer Ausschuss Vorlagen (z. B. Petitionen), die von zivilgesellschaftlichen Aktivisten eingereicht werden, sichtet und – in enger Abstimmung mit Letzteren – politische Sachfragen zur weiteren Diskussion ausarbeitet. Im zweiten Schritt, der Debatten-Phase, werden diese Anliegen zunächst unter Beaufsichtigung durch den Ausschuss in einer Reihe von Workshops, an denen sowohl Vertreter von Interessengruppen als auch wissenschaftliche Experten beteiligt sind, mit dem Ziel einer präliminarischen Identifizierung möglicher Lösungsansätze erörtert, über welche im Anschluss von der Gesamtbevölkerung im Rahmen sogenannter mikro-deliberativer Veranstaltungen (etwa „town hall meetings“) debattiert wird. Den letzten Schritt markiert die Entscheidungsphase: Da, so Parkinsons Einschätzung, zwar davon auszugehen ist, dass dieser Deliberationsprozess in die Identifizierung einer Anzahl wohlbegründeter Handlungsoptionen, nicht jedoch in einen Konsens einmünden wird (in diesem Kontext ist er also weniger optimistisch als z. B. Dryzek), ist es nunmehr angezeigt, diese Optionen in einem Referendum zur Wahl zu stellen.²⁸⁶ Ein solches Referendum hat, im Vergleich zu Volksentscheiden, die von einzelnen, einflussreichen Interessengruppen initiiert werden, den Vorzug, dass die Bestimmung der zur Wahl stehenden Optionen das Ergebnis eines kontrollierten und transparenten Prozesses ist, an dem in verschiedenen Stufen die Gemeinschaftsmitglieder gleichberechtigt beteiligt sind; zugleich bietet dieser finale Entscheidungsmechanismus (neben dem in realen Gemeinwesen schwer erreichbaren Konsens) nach Parkin-

auf 4,14 Millionen Dollar – eine Summe, die das Budget der meisten traditionellen Bürgerbewegungen und regionalen Umweltschutzgruppen bei Weitem übersteigen dürfte.  Diese Einschätzung vertritt auch, wenngleich weniger feinkörnig ausgearbeitet, Saward (2000: S. 24).  In diesem Kontext richtet sich Parkinson im Übrigen entschieden gegen die Auffassung, wonach ein Referendum nur zwei mögliche Entscheidungsalternativen (‚Ja‘ oder ‚Nein‘) umfassen sollte: „It might well be a choice between three or more options, perhaps a run-off in cases where two options receive similar levels of support“, Parkinson (2006: S. 171).

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sons Einschätzung „the one thing that other techniques cannot give – a mass, public act of consent [which] has tremendous legitimating power“.²⁸⁷ Dieses Verfahren inkorporiert einerseits aggregative Elemente der Gemeinwohlbestimmung, insofern es nicht auf die Herstellung einer völligen Interessenkonvergenz aller Mitglieder, sondern auf die Aggregation der in einer direkten Abstimmung geltend gemachten Interessen abzielt und überdies nicht auf paragouvernementale Einigungen, sondern auf eine institutionalisierte Verschränkung von staatlicher Sphäre und Zivilgesellschaft abstellt. Und es inkorporiert deliberative Elemente, insofern es dieser Abstimmung mehrere Etappen eines deliberativen Austauschs über Gründe politischen Handelns voranstellt und in diesem Kontext auf die gleichberechtigte Teilhabe aller zivilgesellschaftlichen Akteure ausgerichtet ist. Wenn man nun die Ergebnisse dieses Unterkapitels über Kriterien sachbereichsspezifischer Verfahren der Gemeinwohlbestimmung zusammenfasst, ergibt sich der entscheidende Befund, dass erstens die Gründe für die Vorzugswürdigkeit einer Willensbildungsprozedur gegenüber der anderen nicht allein in der jeweiligen Prozedur, sondern auch in der Sache selbst bzw. dem jeweiligen Gemeinwohlsachbereich selbst liegen – weswegen hier meines Erachtens auch begründet von substantiellen und damit prozedurtranszendenten Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung zu reden ist; und dass zweitens die Frage der Verfahrensadäquatheit nur unter Abwägung sachbereichsspezifischer Faktoren und unter Kenntnisnahme der Möglichkeit einer Integrierung der konkurrierenden Verfahrensnormen des aggregativen und des deliberativen Demokratiemodells zu beantworten ist. Wie eine solche Antwort im Einzelfall ausfallen muss, fällt indes nicht mehr in den Klärungsbereich einer philosophischen Gemeinwohltheorie; dies zu klären, ist Aufgabe der Mitglieder eines konkreten Gemeinwesens und der wissenschaftlichen Experten, die sich mit den entsprechenden Sachbereichen und der Beurteilung der respektiven Faktoren befassen.

3.2.5 Grenzwerte und Signifikanzschwellen Selbst wenn sich eine politische Handlung auf ein oder mehrere Politikfelder bezieht, die anhand der Kriterien der Non-Exklusivität und/oder Non-Rivalität als Gemeinwohlsachbereiche ausgewiesen sind, und überdies durch hinlängliche, sachbereichsadäquate Verfahren autorisiert ist, bedeutet dies nicht, dass dergestalt die Gemeinwohldienlichkeit der Handlung bereits verbürgt wäre. Es ist immer

 Parkinson (2009: S. 15).

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noch möglich, dass sie sich aufgrund ihrer konkreten Folgen als gemeinwohlschädlich oder als für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant erweist – und zwar, weil die ihr zugrunde liegenden Mitgliederinteressen auf Fehlinformationen, unvollständigen Informationen oder logischen Fehlschlüssen über deren Gemeinwohldienlichkeit beruhen. Um ein Beispiel aus meiner Darlegung der Generaleinwände gegen den subjektivistischen Prozeduralismus wieder aufzugreifen:²⁸⁸ Es erscheint durchaus möglich, dass ein Gemeinwesen, welches von islamistischen Terroristen bedroht wird, durch die militärische Okkupation eines islamischen Unterstützerstaates seine Sicherheitslage nicht verbessert, sondern vielmehr drastisch verschlechtert – etwa weil dieses Vorgehen nicht nur keine Eindämmung der Terror-Bedrohung bewirkt, sondern überdies eine Radikalisierung bislang moderater Muslime innerhalb des eigenen Territoriums nach sich zieht. Und es dürfte intuitiv plausibel sein, dass solche Handlungsfolgen auch dann auftreten können, wenn der Kriegseintritt durch sachbereichsadäquate Verfahren von den Gemeinschaftsmitgliedern autorisiert und als gemeinwohldienlich anerkannt worden ist. Dieser Aspekt unserer vortheoretischen Beurteilungspraxis über Gemeinwohlrechtfertigungen schlägt sich z. B. in Formulierungen nieder, wonach eine Handlung „in Wahrheit“ oder „letzten Endes“ der Allgemeinheit schadet.²⁸⁹ Einen paradigmatischen Fall, in dem die Irrelevanz einer politischen Entscheidung für die Beförderung des Gemeinwohls thematisch ist, stellt wiederum die Debatte über die EU-Verordnung von 2009 zur ausschließlichen Verwendung von Kompaktleuchtstofflampen (den sogenannten Energiesparlampen) in den EUMitgliedsstaaten dar: Wenn sich, wie Kritiker argumentieren, erweisen sollte, dass weniger als 1,5 % des Energieverbrauchs eines Haushalts für Beleuchtung aufgewandt wird und überdies die Produktion von Kompaktleuchtstofflampen weit energieaufwendiger ist als die der bisher verwandten Glühfadenlampen, stünden die von der Kommission unter Gesichtspunkten des Umweltschutzes intendierten

 Die hier skizzierten Beispiele haben lediglich den Zweck, der Annahme von substantiellen Grenzwerten und Signifikanzschwellen der Gemeinwohlbestimmung eine gewisse Grundplausibilität zu verleihen. Ich verfolge nicht das Argumentationsziel, zu zeigen, dass die im Folgenden nur knapp umrissenen politischen Entscheidungen tatsächlich gemeinwohlschädlich oder -insignifikant sind; es genügt, plausibel zu machen, dass sie es sein könnten, und dass diese Einschätzung nur auf der Grundlage von Grenzwerten und Signifikanzschwellen rekonstruierbar ist. Dass sich im Zuge einer detaillierten Analyse politischer Streitfragen tatsächlich konkrete Entscheidungen auf Grundlage der hier eingeführten Maßstäbe als gemeinwohlschädlich oder -insignifikant ausweisen lassen (dass diese Maßstäbe also im Sinne einer Anwendungstheorie tauglich sind), zeige ich exemplarisch in Kap. 4.1 und 4.2.  Vgl. Neidhardt (2004: S. 236).

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massiven Energiespareffekte offenkundig in Frage.²⁹⁰ Es scheint schwer bestreitbar, dass die entsprechende Handlung in diesem Falle für die Beförderung des Gemeinwohls schlicht irrelevant wäre. In solchen und ähnlichen Fällen sprechen wir meist davon, dass bestimmte Maßnahmen „einfach verpuffen“ oder dass ihre Effekte zumindest „verschwindend gering“ sind. Die beiden angeführten Aspekte unserer vortheoretischen Beurteilungspraxis lassen sich, so meine erste These, am plausibelsten durch die Annahme objektiver, d. h. die aktualen Interessen der Mitglieder transzendierender, GemeinwohlGrenzwerte und Gemeinwohl-Signifikanzschwellen rekonstruieren: Während Grenzwerte festlegen, welche Effekte eine konkrete Handlung mindestens nicht haben darf, um nicht gemeinwohlschädlich zu sein, legen Signifikanzschwellen fest, welche Effekte eine Handlung mindestens haben muss, um für die Beförderung des Gemeinwohls nicht irrelevant zu sein. Nur wenn wir annehmen, dass Politikfelder, die als Gemeinwohl-Sachbereiche in Frage kommen, durch solche Maßstäbe charakterisiert sind, ist es möglich, der Grundintuition Rechnung zu tragen, dass politische Handlungen – selbst wenn ihr Zustandekommen allen übrigen formalen und substantiellen Anforderungen einer integrativen Gemeinwohltheorie genügt – immer noch nicht gemeinwohldienlich sein können. Grenzwerte und Signifikanzschwellen erfüllen in diesem Sinne erstens die Funktion, die im Irrtumseinwand formulierte Zurückweisung eines reinen ethischen Subjektivismus, welcher die Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung mit deren Für-gut-Halten seitens der Mitglieder gleichsetzt, zu fundieren und dergestalt allererst die Möglichkeit zu eröffnen, sinnvollerweise von fehlgeleiteten Mitgliederinteressen sprechen zu können. Zweitens dienen sie dazu – insofern Grenzwerte und Signifikanzschwellen zwar unabhängig von aktualen Mitgliederinteressen, aber dennoch Gegenstände möglicher (wenn auch fallibler) Erkenntnisbemühungen sind – fehlgeleitete Gemeinwohlrechtfertigungen identifizieren und kritisieren zu können. In diesem Kontext ist es wichtig, zu betonen, dass meine These besagt, dass für alle relevanten Felder solche Maßstäbe angenommen werden müssen; ich beanspruche nicht, zu zeigen, dass eine philosophische Theorie die in Frage kommenden Maßstäbe selbst bestimmen kann – für eine solche Aufgabe verfügt die Philosophie als Disziplin weder über die erforderlichen methodischen Mittel noch ist einsichtig, wie eine erschöpfende Bestimmung aller in Frage kommenden Maßstäbe überhaupt zu leisten wäre. Die entsprechende Aufgabe kommt vielmehr den speziellen Wissenschaften, die sich mit den respektiven Sachbereichen befassen, und – wie ich im Folgenden argumentieren werde – den Mitgliedern der

 Für einen umfassenden Überblick zu diesem Thema siehe Worm & Karstedt (2011).

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respektiven Gemeinwesen selbst zu. Mein Argumentationsziel besteht also nur darin, zu plausibilisieren, dass es solche Maßstäbe geben muss, nicht zu deduzieren, worin diese im Einzelnen bestehen. Einem weiteren möglichen Missverständnis muss an dieser Stelle vorgebeugt werden: Ich vertrete keinen Prozeduralismus zweiter Ordnung. Letzterer würde besagen, dass das Gemeinwohl als dasjenige Output eines (hinlänglich adäquaten etc.) politischen Systems definiert ist, welches den Anforderungen bestimmter Grenzwerte und Signifikanzschwellen genügt, wie sie unter Berücksichtigung spezifischer Verfahrensnormen durch Experten und Gemeinschaftsmitglieder festgelegt worden sind.²⁹¹ Eine solche These würde alle Probleme des reinen Prozeduralismus lediglich auf eine Meta-Ebene verschieben – wo die in Kap. 2 dargelegten Generaleinwände wiederum greifen würden. Denn: Offenkundig können sich auch Experten über die Maßstäbe der Gemeinwohlschädlichkeit oder -insignifikanz einer Handlung irren; selbst wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit über zuverlässigere Erkenntnismethoden verfügen als Nicht-Experten. Des Weiteren stellen sich auch in Bezug auf solche Meta-Prozeduren die Probleme inadäquater oder ungerechtfertigterweise exklusiver Verfahren (siehe meine Inadäquatheits- und Exklusionseinwände in Kap. 2.5). Kurz gesagt: Weil Grenzwerte und Signifikanzschwellen plausiblerweise nur als objektive, interessentranszendente Kriterien der Gemeinwohlschädlichkeit und -insignifikanz begriffen werden können, und weil es sich bei den speziellen Wissenschaften um fallible Methoden des Erkenntnisgewinns handelt, kann es keine Meta-Prozedur geben, die deren Identifizierung mit Notwendigkeit garantiert. Entsprechend ist die Position eines Prozeduralismus zweiter Ordnung meines Erachtens auch unhaltbar. Meine zweite These besagt in diesem Zusammenhang, dass Grenzwerte und Signifikanzschwellen a) sachbereichsspezifisch sind und b) im Sinne abstrakter Maßstäbe der Gemeinwohlschädlichkeit und -irrelevanz aufgefasst werden müssen. Teilthese a) lässt sich unter Rekurs auf die oben angeführten Fälle recht einfach explizieren: Offenkundig macht es Sinn, den Gemeinwohl-Grenzwert auf dem Politikfeld der Terror-Prävention durch die Angabe der prozentualen Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlags zu operationalisieren (‚Eine Handlung x ist gemeinwohlschädlich genau dann, wenn sie die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit eines Anschlags um y % zur Folge hat‘); es erscheint hingegen angezeigt, die Signifikanzschwelle für den Sektor der Energiepolitik durch einen Einspar-Mindestwert in Gigawattstunden (gWh) zu spezifizieren (‚Eine Handlung x ist nicht

 Eine solche Auffassung vertreten – wenn auch in eher grob umrissenen Zügen – Gutman & Thompson (2002).

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gemeinwohldienlich genau dann, wenn sie keinen Einspar-Effekt über y gWh zeitigt). Die Spezifizität von Grenzwerten und Signifikanzschwellen besteht entsprechend darin, dass Gemeinwohlschädlichkeit und -insignifikanz, je nachdem, welches Politikfeld bei der konkreten Gemeinwohlrechtfertigung thematisch ist, etwas sehr Unterschiedliches bedeuten. Einigendes Merkmal aller Grenzwerte und Signifikanzschwellen ist indes, dass sie Maßstäbe dafür darstellen, ob eine Handlung, die sich auf ein für das Gemeinwesen als Ganzes relevantes Politikfeld bezieht, dort schädliche oder nur insignifikante Effekte zeitigt. Die Explikation und Begründung von Teilthese b) erfordert im Vergleich hierzu einen größeren argumentativen Aufwand: Sie besagt, dass die genannten Maßstäbe nicht im Sinne konkreter Werte, die für alle Gemeinwesen zu allen Zeiten gelten, verstanden werden sollten; sie konstituieren vielmehr einen rationalen Spielraum, der eine unterschiedliche Spezifizierung je nach Gemeinwesen erlaubt. Für diese Auffassung lassen sich zwei Argumente anführen: Erstens ist es, um auf das erste Beispiel zurückzukommen, uneinsichtig, warum etwa ausschließlich eine 0,5 %ige Erhöhung der Wahrscheinlichkeit eines Terror-Anschlags als Grenzwert für den gemeinwohlschädlichen Effekt eines Kriegseintritts angenommen werden sollte, nicht aber bereits eine 0,4 %ige oder eine 0,3 %ige Erhöhung. Es erscheint seitens der Theorie schlicht willkürlich, einen konkreten Wert zu veranschlagen bzw. innerhalb eines gewissen Entscheidungsspektrums unbegründbar einen Wert einem anderen vorzuziehen. Zweitens ist es meines Erachtens unbestreitbar, dass risikoaversere und risikoaffinere Gemeinwesen existieren und dass dieser Umstand Auswirkungen auf die Konkretion der entsprechenden Maßstäbe haben muss: Derselbe Effekt, der den Mitgliedern des Gemeinwesens A in der Ex-Ante-Bewertung bereits als gemeinwohlschädlich gilt, kann den Mitgliedern des Gemeinwesens B noch als zwar gemeinwohlinsignifikant, aber nicht gemeinwohlschädlich gelten. Und ich sehe keine argumentative Grundlage dafür, den Mitgliedern des Gemeinwesens B, die z. B. mehrheitlich der Auffassung sind, dass die 0,5 %ige Erhöhung einer Anschlagsgefahr noch nicht gemeinwohlschädlich sei, einen gravierenden Irrtum über das Wohl ihres Gemeinwesens vorzuhalten, und die Mitglieder des Gemeinwesens B, die diesen Wert bereits für gemeinwohlschädlich erachten, für ihre politische Urteilskraft zu belobigen. Offenkundig sind Maßstäbe der Gemeinwohlschädlichkeit und -insignifikanz demokratisch autorisierter Entscheidungen nicht nur Gegenstand möglicher Erkenntnis, sondern auch selbst – zu einem gewissen Grade – Gegenstand von Wertungen, die nur von den Mitgliedern der respektiven Gemeinwesen, freilich unter Konsultation mit Experten, vorgenommen werden können. Gleichwohl ist offensichtlich, dass dieser Wertungsspielraum nicht beliebig ausgeweitet werden kann; dies zeigt sich, wenn man die entsprechende prozentuale Wahrscheinlichkeit nur deutlich genug nach oben

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schraubt: Den Mitgliedern eines Gemeinwesens, die z. B. eine 10 % höhere Wahrscheinlichkeit immer noch als nicht gemeinwohlschädlich auffassen, könnte man meines Erachtens begründet vorwerfen, dass sie entweder kein angemessenes Verständnis von Wahrscheinlichkeiten oder vom Konzept der inneren Sicherheit eines staatlich organisierten Gemeinwesens haben. Wenn man also die Grundannahme, wonach sich die Mitglieder eines Gemeinwesens darüber irren können, was dem Gemeinwohl dient, nicht ad absurdum führen will, muss man veranschlagen, dass die Effekte politischer Handlung an einem gewissen Punkt notwendig ins gemeinwohlschädliche oder -insignifikante umschlagen. Nur wo genau dieser Punkt liegt, kann weder von einer philosophischen Theorie noch von einer Sachbereichs-Spezialwissenschaft, sondern nur von den respektiven Mitgliedern selbst bestimmt werden. Ausgehend von diesen beiden Thesen könnte man nun zu der Auffassung gelangen, dass sich alle Gemeinwohlrechtfertigungen politischer Handlungen zurückweisen lassen, wenn deren Effekte entweder die Verletzung eines sachbereichsspezifischen Grenzwerts oder die Unterschreitung einer entsprechenden Signifikanzschwelle nach sich ziehen. Aber leider ist der Fall – zumindest was Gemeinwohl-Grenzwerte anbelangt – komplizierter. Der Grund für diese Komplikation liegt darin, dass bestimmte Handlungen in ihren Effekten mehr als nur einen Sachbereich tangieren können. In diesem Kontext können nun Fälle auftreten, in denen Gemeinschaftsmitglieder oder deren Repräsentanten ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl dergestalt ausüben, dass sie eine Handlung autorisieren, die in Bezug auf einen Sachbereich A weder dessen Grenzwert verletzt noch dessen Signifikanzschwelle unterschreitet – also gemäß der integrativen Gemeinwohltheorie gemeinwohldienlich ist –, die aber in Bezug auf einen anderen Sachbereich B, gewissermaßen als Nebeneffekt, durchaus grenzwertverletzende Konsequenzen hat. Alltagssprachlich würde man sagen, dass in solchen Fällen die positiven Folgen einer Handlung in einer Hinsicht durch deren negative Konsequenzen in einer anderen Hinsicht entweder bewusst oder unbewusst „erkauft werden“. Diese Konstellation, die ich als Sachbereichskonflikt bezeichne, scheint verheerende Konsequenzen für das Projekt einer integrativen Gemeinwohltheorie zu haben: Sie scheint in den Widerspruch einzumünden, dass dieselbe Handlung sowohl gemeinwohldienlich (nämlich in Bezug auf Sachbereich A) als auch gemeinwohlschädlich (nämlich in Bezug auf Sachbereich B) sein kann.²⁹²  In diesem Zusammenhang dürfte auch deutlich sein, warum diese Komplikation nur Grenzwertverletzungen in anderen Sachbereichen, aber nicht die Unterschreitung von Signifikanzschwellen in anderen Sachbereichen betrifft: Wenn eine Handlung x durch ihre Gemeinwohldienlichkeit in Bezug auf Sachbereich A gerechtfertigt wird und in Bezug auf andere Sach-

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Bevor ich daran gehen kann, eine Strategie zur Auflösung dieses scheinbaren theorieinternen Widerspruchs zu skizzieren, ist es sicher sinnvoll, zunächst einen Beispielfall anzuführen, der illustriert, dass es sich hierbei in der Tat um eine schwerwiegende Herausforderung an meine Theorie handelt, die sich aus realen politischen Streitfragen ergibt. Ein wiederkehrender Topos in der wissenschaftlichen Debatte der Entwicklungszusammenarbeit ist die kritische Auseinandersetzung mit sogenannten „bilateralen Investitionsabkommen“ zwischen europäischen, US-amerikanischen und chinesischen Staatsfonds oder Privatinvestoren auf der einen Seite und afrikanischen Staaten (z. B. Äthiopien, Mali, Ruanda und Kenia) auf der anderen Seite:²⁹³ Gegenstand dieser Abkommen ist häufig die Verpachtung großer Landflächen in den afrikanischen Zielstaaten, üblicherweise im Bereich mehrerer Hunderttausend bis Millionen Hektar, über extrem lange Zeiträume – so sind Pachtverträge mit einer Laufzeit von 50 oder 99 Jahren keine Seltenheit.Während den Zielstaaten für die langfristige Verpachtung Kompensationszahlungen in mehrstelliger Millionenhöhe und jährliche Pachtzinsen zukommen, erhalten die Investoren Anspruch auf die exklusive agrarische Nutzung des Landes, die in der Regel in Form des hochtechnisierten Anbaus von Getreide oder den Grundstoffen für Biotreibstoffe erfolgt; Letztere werden wiederum zu 100 % ins Investor-Land exportiert. Infolge dieser Abkommen müssen ortsansässige subsistenzwirtschaftlich arbeitende Kleinbauern und Pastoralisten, die meist keine Landrechte haben, das verpachtete Land räumen – die unmittelbare Konsequenz sind häufig Nahrungsmittelknappheiten bis hin zu Hungersnöten. Solche Konstellationen lassen sich auf Grundlage des bisher Gesagten recht offensichtlich als Sachbereichskonflikte rekonstruieren:²⁹⁴ Während der Ab-

bereiche, die aber auch gar nicht Gegenstand der entsprechenden Rechtfertigung sind, keine signifikanten Effekte zeitigt, würden wir natürlich nicht davon sprechen, dass die Gemeinwohldienlichkeit dieser Handlung nunmehr in Frage steht: Es wäre z. B. gänzlich absurd, den Rechtfertigungsstatus einer genuin sicherheitspolitischen Maßnahme (etwa die Verschärfung von Sicherheitskontrollen an Flughäfen) mit Verweis darauf in Zweifel zu ziehen, dass diese keine signifikanten Energiespar-Effekte erzielt; problematisch wird der Rechtfertigungsstatus erst dann, wenn diese Maßnahme in einem anderen Sektor signifikant negative – und das heißt, grenzwertverletzende – Konsequenzen hat.  Vgl. hierzu Cotula et al. (2009), Shepard & Mittal (2010), Oakland & Vandevelde (2010: Kap. 6 – 8) sowie Lay & Nolte (2011).  Man könnte einwenden, dass solche Konstellationen als Beispiele für Sachbereichskonflikte nur bedingt tauglich sind, weil die eigentlichen Probleme bei der massiven Korruptionsaffinität der Regierungsvertreter liegen, die die entsprechenden Abkommen mit ausländischen Investoren aushandeln; die Kritik müsste also bereits bei den Prozeduren ansetzen, die solche Pachtverträge ermöglichen. Bei dieser Einschätzung handelt es sich jedoch, wie sowohl Cotula et al. (2009) als

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schluss bilateraler Investitionsabkommen seitens der Repräsentanten der afrikanischen Staaten auf dem Sektor der Haushaltspolitik den positiven Effekt zeitigt, die Staatskassen mit dringend benötigten Devisen aufzufüllen, wird hierfür auf dem Politikfeld der Nahrungsmittelsicherung eine gravierende Unterversorgung bestimmter Bevölkerungsteile in Kauf genommen – ein Umstand, der prima facie durchaus als Grenzwertverletzung in diesem Gemeinwohlsachbereich zu werten sein dürfte. Fraglos sind auch andere Sachbereichskonflikte mit weniger existentiellen Dimensionen denkbar: Ein Fall, den ich in Kap. 4.2 ausführlicher diskutiere, betrifft die Kontroverse um den Bau der Waldschlösschenbrücke im UNESCO-geschützten Dresdner Elbtal, in der die unterschiedlichen Sachbereiche der Verkehrsinfrastrukturpolitik und der Landschaftsschutzpolitik miteinander konfligieren. Gleichsam dürfte unstreitig sein, dass Sachbereichskonflikte zwischen mehr als zwei Politikfeldern auftreten können: So kann sich, um noch einmal auf das Problem bilateraler Investitionsabkommen zurückzukommen, durch die extensive und wasserintensive agrarische Nutzung gepachteter Landflächen auch das gravierende Problem der Verödung angrenzender Gebiete ergeben – wodurch die Problemkonstellation überdies eine umweltpolitische Dimension erhielte. Nunmehr dürfte zwar ersichtlich sein, dass das abstrakte Konzept von Sachbereichskonflikten eine Klasse aktualer und möglicher politischer Streitfragen abbildet, und dass diese in der Tat eine Herausforderung an eine integrative Gemeinwohltheorie darstellen, aber in Bezug auf die Problemstellung selbst sind wir durch die Anführung der genannten Beispiele keinen Schritt weiter gekommen: Es besteht immer noch das Problem, dass dieselbe Handlung, je nachdem unter welcher Hinsicht man sie betrachtet, sowohl gemeinwohldienlich als auch -schädlich zu sein scheint, ihr Rechtfertigungsstatus in Bezug auf das Gemeinwohl also widersprüchlich erscheint. Wir können aber, denke ich, von einer plausiblen Gemeinwohltheorie erwarten, dass sie uns zumindest allgemeine Kriterien an die Hand gibt, anhand derer sich Lösungen für derartige Konflikte finden lassen. Eine Konzeption, die bei der Gemeinwohlbestimmung in Bezug auf Sachbereichskonflikte kontradiktorische Aussagen aufstellt, würde nicht nur an einem schweren theoretischen Defizit kranken, sie wäre auch als Anwendungstheorie ungeeignet – zumal davon auszugehen ist, dass solche Konfliktkonstellationen in politischen Gemeinwesen keine Seltenheit darstellen dürften. Die vermutlich nächstliegende Strategie, die eine prinzipielle Lösung von Sachbereichskonflikten verspricht, besteht in der Einführung einer allgemeinen

auch Lay & Nolte (2011) nahelegen, um ein Pauschalurteil gegenüber afrikanischen Regierungen, das zumindest in dieser Form eingehenden Fallstudien nicht standhält.

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Prioritätsregel – wobei hier zwei Varianten denkbar sind:Variante 1 besagt, dass im Konfliktfalle immer die über partizipative Prozeduren ausgeübte Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl in Bezug auf Sachbereich A die Grenzwertverletzung in Bezug auf Sachbereich B (und C und D etc.) übertrumpft. Die notwendige und hinreichende Bedingung der Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung ist demzufolge, dass diese durch hinlängliche, sachbereichsadäquate Verfahren autorisiert ist und in Bezug auf Sachbereich A weder gemeinwohlschädlich noch -insignifikant ist; dieser Umstand genügt, um den gemeinwohlschädlichen Effekt in Bezug auf Sachbereich B (und C und D etc.) zu nivellieren. Variante 2 besagt demgegenüber, dass im Konfliktfalle immer die Grenzwertverletzung in Sachbereich B die Deutungshoheit der Mitglieder in Bezug auf Sachbereich A übertrumpft. Die notwendige und hinreichende Bedingung der Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung ist demzufolge, dass diese durch hinlängliche, sachbereichsadäquate Verfahren in Bezug auf Sachbereich A autorisiert ist und überdies keinerlei grenzwertverletzende Konsequenzen hat. Beide Varianten – sowohl ‚Deutungshoheit trumpft Grenzwert‘ als auch ‚Grenzwert trumpft Deutungshoheit‘ – haben den deutlichen Vorzug, dass sie uns eine klare Lösung für alle aktualen und möglichen Sachbereichskonflikte an die Hand geben: Bei der ersten Variante muss nur geprüft werden, ob in Bezug auf Sachbereich A alle formalen und substantiellen Bedingungen der integrativen Gemeinwohltheorie erfüllt sind, um die Gemeinwohldienlichkeit der respektiven Handlung konstatieren zu können; bei der zweiten Variante muss neben den Bedingungen aus Variante 1 auch das Kriterium erfüllt sein, dass ansonsten keine Grenzwertverletzungen vorliegen. Nun lässt sich allerdings zeigen, dass gegen die Einführung einer allgemeinen Prioritätsregel (und zwar in ihren beiden Varianten) trotz ihres Vorzugs zwei Einwände vorgebracht werden können, die ihre Plausibilität grundsätzlich unterminieren – hierbei handelt es sich erstens um einen internen, theorieimmanenten und zweitens um einen intuitiv begründeten Einwand. Ersterer bezieht sich auf den Umstand, dass die Annahme einer Prioritätsregel einen grundsätzlichen normativen Vorrang einer der beiden Komponenten der integrativen Gemeinwohlkonzeption, entweder der subjektiv-prozeduralen oder der objektiv-prozedurtranszendenten, gegenüber der jeweils anderen voraussetzt. Das Problem ist, dass sich ein solcher Vorrang aus der Gemeinwohltheorie, wie ich sie bislang dargestellt und begründet habe, überhaupt nicht ergibt: Aus der bloßen Feststellung, dass eine plausible Gemeinwohlkonzeption sowohl der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl (welche positiv festlegt, was das Gemeinwohl dem Inhalt nach ist) als auch der Möglichkeit von Gemeinwohl-Irrtümern (die in substantiellen Rahmenbedingungen, welche negativ festlegen, was das Gemeinwohl nicht ist, fundiert sind) Rechnung tragen muss, lässt sich keine Priorität

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einer der beiden Aspekte ableiten. Eine solche Priorität müsste als eine zusätzliche Prämisse angenommen werden, und ich sehe keine andere Begründung für deren Annahme als die, dass sie es uns eben erlaubt, alle Sachbereichskonflikte nach einem Kriterium eindeutig lösen zu können. Sie wäre in diesem Sinne lediglich ad hoc angenommen und entsprechend vollkommen unzulänglich fundiert. Der zweite Einwand besagt demgegenüber, dass jede der beiden Varianten einer prinzipiellen Prioritätsregel in kontraintuitive Konsequenzen einmündet. So sind nämlich einerseits Fälle denkbar, in denen eine Entscheidung, die in Bezug auf Sachbereich A gefällt wird,von den Mitgliedern mit großer Mehrheit oder sogar nach dem Austausch interpersonal akzeptabler Gründe einvernehmlich autorisiert sowie für im sehr hohen Maße gemeinwohldienlich befunden wird und die den Grenzwert in Sachbereich B nur sehr knapp verletzt. Andererseits sind Situationen möglich, in denen die respektive Entscheidung z. B. nur mit einer sehr knappen Mehrheit autorisiert worden ist und überdies in Sachbereich B zu massivsten Grenzwertverletzungen führt. Das Problem in diesem Kontext ist Folgendes: Sowohl der Grad an Zustimmung zu einer politischen Handlung als auch die Schwere der Grenzwertverletzung scheinen bei der finalen Beurteilung der Gemeinwohldienlichkeit oder -schädlichkeit einer Handlung im Konfliktfalle intuitiv relevant zu sein – und es ist unbestreitbar, dass in ebendieser Hinsicht ein gewichtiger Unterschied zwischen beiden Szenarien besteht.²⁹⁵ Genau dieser Unterschied wird jedoch durch die Annahme einer rigiden Prioritätsregel, die alle Fälle (ganz gleich, wie sie en Detail verfasst sind) nach einem allgemeinen Kriterium entscheidet, ausgeblendet bzw. als irrelevant eingestuft. Anders gesagt: Wenn wir davon ausgehen, dass beide Faktoren (Zustimmungsgrad und Schwere der Grenzwertverletzung) bei der finalen Bewertung einer Handlung als gemeinwohldienlich oder -schädlich eine Rolle spielen, dann kann die Einführung einer Prioritätsregel keine überzeugende Lösung anbieten, die an unser Vorverständnis von der Diversität und Komplexität solcher Konstellationen und deren Auswirkungen auf den Rechtfertigungsstatus der infrage stehenden Handlung anschlussfähig wäre. Dieses zweite Argument plausibilisiert jedoch nicht nur die Zurückweisung einer allgemeinen Prioritätsregel, es legt auch eine, wie ich denke, bessere Lösungsstrategie für Sachbereichskonflikte nahe, und zwar die Möglichkeit von begründeten Einzelfallabwägungen. Wenn nämlich erstens je nach Sachbereichs-

 Nach meiner Einschätzung ist es sinnvoll, den Zustimmungsgrad zu einer Handlung nicht nur quantitativ zu bestimmen (Wie viele Mitglieder stimmen einer Handlung x zu?), sondern auch qualitativ (Mit welcher Intensität stimmen die Mitglieder einer Handlung x zu?). Die Operationalisierung und Messung dieser beiden Aspekte von Zustimmung ist jedoch nicht mehr Gegenstand einer philosophischen Gemeinwohltheorie – sie fällt in den Zuständigkeitsbereich der empirischen Sozialwissenschaften; vgl. zu diesem Thema Farquhar & Keller (1989).

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konflikt ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Zustimmungsgrad auf der einen Seite und Schwere der Grenzwertverletzung auf der anderen Seite konstatierbar ist, und wenn zweitens die unterschiedlichen Stärken dieser Faktoren eine intuitiv plausible Auswirkung auf den finalen Rechtfertigungsstatus der respektiven Handlung haben, dann ergibt sich die Möglichkeit, zur Bestimmung der Gemeinwohldienlichkeit oder Gemeinwohlschädlichkeit eine Abwägung ebendieser Faktoren vorzunehmen. Auf die beiden oben kurz angerissenen, abstrakten Szenarien angewendet, bedeutet dies: Eine Handlung, die mit sehr großer Zustimmung (in Bezug auf Sachbereich A) autorisiert ist und nur eine sehr geringe Grenzwertverletzung (in Bezug auf Sachbereich B) zeitigt, dürfte begründet als gemeinwohldienlich bezeichnet werden; eine Handlung, die nur mit sehr knapper Zustimmung autorisiert ist und eine massive Grenzwertverletzung zur Folge hat, dürfte begründet als gemeinwohlschädlich bezeichnet werden. Offenkundig sind nicht alle Sachbereichskonflikte so eindeutig verfasst wie die oben genannten zwei Szenarien, aber dieser Umstand stellt meines Erachtens keinen grundsätzlichen Einwand gegen die Möglichkeit von Abwägungen bei Sachbereichskonflikten dar; er verweist nur darauf, dass es unter bestimmten Umständen schwierig sein kann, eine wohlbegründete Abwägung vorzunehmen und dass hierfür spezialwissenschaftliche Kenntnisse der relevanten Sachbereiche gefordert sein können. Ich bin jedoch auch nicht der Auffassung, dass eine philosophische Gemeinwohltheorie eine erschöpfende Kriteriologie zur konkreten Lösung aller aktualen und möglichen Sachbereichskonflikte anbieten kann oder muss. Eine solche Option wäre nur mit der Einführung einer allgemeinen Prioritätsregel zu haben; Letztere hat sich jedoch, wie gezeigt, als unhaltbar erwiesen. Was eine philosophische Gemeinwohltheorie indes zu leisten hat, ist, zu zeigen, dass sie nicht aufgrund ihrer Prämissen in Widersprüche bei der Bestimmung des Gemeinwohls einmündet, sondern vielmehr gute Gründe angeben kann, aus denen Sachbereichskonflikte grundsätzlich lösbar und eine Bestimmung des Gemeinwohls auch in solchen Fällen möglich ist. Dieses Argumentationsziel lässt sich durch die intuitiv plausible Zusatzannahme von Zustimmungsgrad und Schwere der Grenzwertverletzung als Abwägungsgründe erreichen. Zusammenfassend lässt sich erstens sagen, dass Gemeinwohl-Grenzwerte und -Signi-fikanzschwellen die Funktion erfüllen, die im Irrtumseinwand aus Kap. 2.5 formulierte Zurückweisung eines reinen ethischen Subjektivismus, welcher die Gemeinwohldienlichkeit einer politischen Handlung mit deren Für-gutHalten seitens der Mitglieder identifiziert, zu fundieren; sie sind dergestalt sowohl Bedingung der Möglichkeit als auch der Identifizierung inhaltlicher Gemeinwohlirrtümer. Entsprechend können die Verletzung eines Grenzwerts oder die Unterschreitung einer Signifikanzschwelle in dem Politikfeld, das in der Rechtfertigung der respektiven Handlung thematisch ist, herangezogen werden, um

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

Letztere als ungerechtfertigt zurückzuweisen. Zweitens erfüllen Grenzwerte die Aufgabe, bei Sachbereichskonflikten, in denen die Gemeinwohldienlichkeit einer Handlung durch einen negativen Nebeneffekt in einem anderen Politikfeld erkauft wird, als Prima-Facie-Gegengründe zu fungieren, die bei der finalen Bestimmung einer Handlung als gemeinwohldienlich oder -schädlich gegen den Zustimmungsgrad zu dieser Handlung abgewogen werden müssen.

3.2.6 Plausibilisierung der integrativen Gemeinwohltheorie als Anwendungstheorie Jetzt, da sowohl die Darlegung der modifizierten Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien als auch der substantiellen Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung – und somit der subjektiv-prozeduralen und der objektiv-prozedurtranszendenten Komponenten – abgeschlossen ist, lässt sich meiner Auffassung nach eine wohlbegründete Kriteriologie für die Bestimmung des Gemeinwohls angeben. Dieser zufolge besteht das Gemeinwohl im Output eines politischen Systems, das – – –

sich auf ein Politikfeld bezieht, welches anhand der Kriterien der Non-Rivalität und/oder Non-Exklusivität als Gemeinwohl-Sachbereich identifizierbar ist; das Ergebnis hinlänglicher sachbereichsadäquater Verfahren ist; in seinen Effekten weder sachbereichsspezifische Signifikanzschwellen unterschreitet noch Grenzwerte verletzt; bzw. im Fall eines Sachbereichskonflikts durch eine Abwägung zwischen Zustimmungsgrad und Schwere der Grenzwertverletzung als nicht gemeinwohlschädlich ausgewiesen ist.

Diese Konzeption hat meines Erachtens erstens den Vorzug, die in Kap. 3.1 formulierte Zielsetzung zu erfüllen, wonach eine plausible Gemeinwohlbestimmung sowohl die Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl, welche durch reale (und nicht etwa hypothetisch-ideale) politische Verfahren realisiert wird, zu inkorporieren als auch die Möglichkeit und Identifizierbarkeit von Systemoutputs, die in Bezug auf das Gemeinwohl an objektiven, interessen- und prozedurtranszendenten Maßstäben als fehlgeleitet scheitern, zu rekonstruieren und zu fundieren. Sie hat zweitens den Vorzug, an unser differenziertes vortheoretisches Beurteilungsvokabular, das unterschiedliche Kriterien der Kritik an Gemeinwohlrechtfertigungen umfasst, anschlussfähig zu sein und diese zu einer Gesamtkonzeption zu systematisieren. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob die hier vorgestellte Konzeption auch als Anwendungstheorie tauglich ist, und das heißt konkret, ob die integrative

3.2 Grundentwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie

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Gemeinwohltheorie geeignet ist, um konkrete Streitfälle in realen Gemeinwesen, in denen die Gemeinwohlrechtfertigung einer politischen Handlung in Frage steht, zu analysieren und eine begründete Beurteilung der respektiven Handlung vorzunehmen. Diese Problemstellung lässt sich in der Frage zusammenfassen, ob es möglich ist, die Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie im Sinne einer ‚Checkliste‘ zu nutzen, anhand derer sich konkrete Gemeinwohlrekurse politischer Akteure auf ihre Plausibilität hin überprüfen lassen. Nur wenn sich diese Frage mit Ja beantworten lässt, stellt die Konzeption auch ein leistungsfähiges theoretisches Instrument dar, um die verschiedensten Verwendungsweisen des Gemeinwohlbegriffs als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns in politischen Debatten einordnen und gegebenenfalls kritisch hinterfragen zu können. Da gerade der Befund einer sehr heterogenen und nicht selten dunklen, aber gleichwohl zunehmend inflationären Verwendungsweise des Gemeinwohlbegriffs in aktuellen Debatten die Ausgangsmotivation für meine Analyse dieses Begriffs dargestellt hatte (vgl. Kap. 1.2), ist es unumgänglich zu prüfen, ob meiner Gemeinwohlkonzeption hier eine klärende Funktion zukommen kann oder nicht. Die integrative Gemeinwohltheorie muss in diesem Zusammenhang meines Erachtens zweierlei leisten: Sie muss erstens eine positiv-rekonstruktive Funktion erfüllen, und zwar dergestalt, dass sie geeignet ist, konkrete Gemeinwohlrechtfertigungen als wohlbegründet zu identifizieren, um ihnen auf diese Weise eine theoretische Fundierung zu verleihen und sie gegen unberechtigte Kritik verteidigen zu können. Und sie muss zweitens eine kritische Funktion erfüllen, indem sie es erlaubt, konkrete Gemeinwohlrechtfertigungen als unbegründet zurückweisen zu können. Nun ist es aber offensichtlich unsinnig zu fordern, dass man die Leistungsfähigkeit der integrativen Gemeinwohltheorie als Anwendungstheorie in irgendeinem allgemeinen und für alle Einzelfälle geltenden Sinne deduzieren müsse. Da sich sowohl ihre positiv-rekonstruktive als auch ihre kritische Funktion eben nur in Auseinandersetzung mit dem praktischen Einzelfall zeigen kann, ist eine theorieimmanente Plausibilisierung ausgeschlossen. Gleichsam ausgeschlossen ist es auch, alle konkreten Streitfälle nacheinander durchzugehen und jedes Mal aufs Neue zu überprüfen, ob das vorliegende Schema eine überzeugende Rekonstruktion und/oder Kritik liefern kann. Nicht nur, dass dieses Vorgehen angesichts der Fülle von Gemeinwohlrekursen in der Debatte praktisch nicht umsetzbar und angesichts zukünftig auftretender Streitfälle auch unabschließbar wäre – es würde überdies eine gänzlich unrealistische Menge an spezialwissenschaftlichen Kenntnissen voraussetzen, die, wie ich mehrfach argumentiert habe, für die konkrete Gemeinwohlbestimmung unabdingbar sind. Ein realistischeres Verfahren, das ich im Folgenden verwenden werde, besteht in der Diskussion ausgewählter Einzelfälle, an denen ich die Leistungsfähigkeit

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3 Die integrative Gemeinwohltheorie

der Theorie exemplarisch demonstrieren werde. Mit diesem Vorgehen ist ein bescheideneres Argumentationsziel verbunden: Ich beanspruche nicht, beweisen zu können, dass die hier vorgestellte Konzeption der Gemeinwohlbestimmung eine Analyse aller aktualen und möglichen Fälle erlaubt; aber ich bin der Ansicht, dass eine überzeugende Analyse einzelner Fälle meiner Konzeption eine Grundplausibilität als Anwendungstheorie verleiht, so dass eine Beweislast auf der Seite möglicher Kritiker entsteht, die die Leistungsfähigkeit dieser Konzeption in Zweifel ziehen. Mit diesem Vorgehen sind gewisse Vorbedingungen der Fallauswahl verknüpft: Die entsprechenden Fälle sollten meines Erachtens in dem Sinne kontrovers sein, dass die Klärung der Frage, ob die respektive politische Handlung gemeinwohldienlich ist oder nicht, nicht so augenfällig ist, dass eine Gemeinwohltheorie als Analyse-Instrument gänzlich unnötig erscheint. Wir können, denke ich, für eine Plausibilisierung erwarten, dass es uns eine solche Theorie erlaubt, schwierige und komplexe Fragen der Gemeinwohlbestimmung zu lösen. Des Weiteren ist es erforderlich, dass zu den Fällen im hinreichenden Umfange bereits spezialwissenschaftliche Kenntnisse vorliegen, die es erlauben, den Aspekten der Gemeinwohlbestimmung, für die solche Expertise vonnöten ist, auch Rechnung zu tragen; andernfalls würde der Versuch einer Gemeinwohlbestimmung im Einzelfalle auf bloße Spekulation hinauslaufen. Die beiden Fälle, die ich im Folgenden exemplarisch diskutieren werde, sind erstens die aktuelle Debatte um die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Deutschland (Kap. 4.1) und zweitens die Kontroverse um den Bau der Waldschlösschenbrücke im UNESCOgeschützten Dresdner Elbtal (Kap. 4.2).

4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie 4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung In den Jahren 2009 bis 2010 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das deutsche Recht der Sicherungsverwahrung grundlegend auf den Prüfstand. Bereits Monate vor der eigentlichen Urteilsverkündung zeichnete sich ab, dass der EGMR ein zentrales Rechtsinstitut für menschenrechtswidrig erklären und dessen Abschaffung fordern würde – die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung. Die Reaktion der politischen Öffentlichkeit fiel ebenso einhellig wie negativ aus: Die Umsetzung des EGMR-Urteils hätte zur Folge, dass der deutsche Staat ein wirkungsvolles kriminalpolitisches Präventionsinstrument aufgäbe. Die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP reagierte mit einer Reihe von Reformgesetzen, die einen Mittelweg zwischen Gerichtsbeschluss und öffentlicher Meinung zu beschreiten suchten: Einerseits wurde zwar die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Taten ab dem Jahr 2011, sogenannte „Neufälle“, weitgehend abgeschafft. Andererseits sorgen jedoch Übergangsregeln dafür, dass eine große Anzahl von Inhaftierten nach wie vor zu nachträglicher Sicherungsverwahrung verurteilt werden kann. Hinzu kommt die Möglichkeit, Personen, die dem EGMR zufolge einen Anspruch auf Haftentlassung haben, künftig in psychiatrischen Anstalten unterzubringen.Wenig überraschend stufte der von der Opposition aus SPD, Grünen und Linkspartei dominierte Bundesrat die Reform als faulen Kompromiss ein: Die nachträgliche Sicherungserwahrung habe sich als ein im hohen Maße gemeinwohldienliches Rechtsinstitut erwiesen; ihre Abschaffung für „Neufälle“ sei daher ungerechtfertigt. Diese Kontroverse eignet sich deshalb so gut als Testfall für die in Kap. 3 entwickelte Gemeinwohl-Kriteriologie, weil sie einerseits mit dem Politikfeld der Kriminalprävention einen unstrittigen Gemeinwohl-Sachbereich tangiert; und weil hier andererseits das Gemeinwohl herangezogen wird, um einen anderen gewichtigen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns – nämlich den Menschenrechtsschutz einer spezifischen Personengruppe – zu übertrumpfen. Meine These besagt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht mit dem Gemeinwohl gerechtfertigt werden kann, weil sie keine signifikante Verbesserung der Sicherheitslage erbringt; auf diese Weise ist zugleich die Grundplausibilität von Signifikanzschwellen bei der Gemeinwohlbestimmung aufgewiesen. Im Folgen-

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

den werde ich erst Ursprung und Entwicklung der Sicherungsverwahrung unter besonderer Berücksichtigung der nachträglichen Verwahrung darstellen; in diesem Kontext muss auch auf den Spezialfall der rückwirkend verlängerten Verwahrung eingegangen werden, insofern der EGMR die nachträgliche Verwahrung in rechtlich relevanter Hinsicht analog zu Ersterer einstufte. Im zweiten Schritte werde ich die EGMR-Urteile und deren Folgen für die Neukonzeption dieses Rechtsinstituts zu erörtern. Den Abschluss bildet eine Diskussion der prognostischen Zuverlässigkeit der für die Verwahrung grundlegenden Gefährlichkeitsgutachten und der sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Gemeinwohlbestimmung.²⁹⁶

4.1.1 Ursprünge und Entwicklung der Sicherungsverwahrung Das Sanktionsinstrument der Sicherungsverwahrung, das in der juristischen Fachliteratur häufig als „ultima ratio“ oder als „schärfstes Schwert“ des deutschen Rechtsstaates charakterisiert wird, verdankt seine Existenz einem Spezifikum des deutschen Rechtssystems:²⁹⁷ Anders als in den meisten zeitgenössischen Rechtssystemen, mit Ausnahme der Schweiz, Österreichs, Italiens, Dänemarks und der Slowakei, sieht das deutsche Strafrecht zwei genuin verschiedene Sanktionsformen vor – schuldabhängige Strafen und sogenannte Maßregeln, die unabhängig von der Schuld den Täter durch fortgesetzte Inhaftierung bessern und/oder die Allgemeinheit vor ihm schützen sollen.²⁹⁸ Die Begründung dieser zweigliedrigen Struktur erwächst aus dem Umstand, dass sich die Bestrafung eines Täters im deutschen Recht nur an seiner Schuld, nicht aber an seiner Gefährlichkeit bemisst und folglich ein Sicherungsdefizit zu Ungunsten der Allgemeinheit entsteht, falls der Täter nach Verbüßung seiner Haftstrafe weiterhin einen Hang zur Begehung schwerer Verbrechen zeigt. Diesem Defizit wird durch

 Für die Unterstützung bei meiner Recherche danke ich Michael Alex von der Ruhr-Universität Bochum.  Flaig (2009: S. 32).  Aus diesem Grunde spricht man beim deutschen Strafrecht sowie bei den ähnlich strukturierten Systemen auch von „dualen“ Systemen, vgl. Flaig (2009: S. 33). Das respektive Sicherungsproblem wird in den meisten anderen, nicht dualen Rechtssystemen dadurch gelöst, dass Strafen neben der Abgeltung von Schuld auch die Prävention weiterer Verbrechen durch den Verurteilten als Funktion zugesprochen wird; entsprechend höher fallen in diesen Rechtssystemen auch die Haftstrafen aus. Für einen internationalen Vergleich der Rechtssysteme unter diesem Gesichtspunkt vgl. Flaig (2009: S. 29 ff.).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

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das Rechtsinstitut der Maßregel Rechnung getragen, das es erlaubt, einen Straftäter auch nach Verbüßung seiner Strafe weiter zu inhaftieren.²⁹⁹ Die konkrete Maßregel der Sicherungsverwahrung wurde 1933 im Rahmen des Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher mit folgender und bis heute geltender Funktionsbestimmung eingeführt: schuldfähige, aber als dauerhaft gefährlich eingestufte Täter über die Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe hinaus zum Schutz der Allgemeinheit auf unbestimmte Zeit sicher unterzubringen. Ab diesem Zeitpunkt war es Strafgerichten möglich, im Ausgangsurteil zusätzlich zur Haftstrafe eine anschließende Verwahrung in Justizvollzugsanstalten anzuordnen; der restriktiven Gesetzgebung der Nationalsozialisten entsprechend, konnte die Verwahrung in dieser Form bereits anlässlich der Begehung von Bagatelldelikten verhängt werden. Schon zu dieser Zeit war die Sicherungserwahrung jedoch juristisch umstritten und stand unter hohem Legitimationsdruck, weil dem Verwahrten ein „Sonderopfer“ abverlangt wird, insofern in seinem Falle das öffentliche Interesse an der Vermeidung weiterer Verbrechen höher gewichtet wird als sein rechtlich geschütztes Freiheitsinteresse.³⁰⁰ Nach 1945 wurde die Sicherungsverwahrung zunächst ohne weitgehende Veränderungen aus dem Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) in das Strafgesetzbuch (StGB) übernommen und der entsprechende Paragraph nur in § 66 StGB umbenannt. In den folgenden 50 Jahren sank die Bedeutung der Sicherungsverwahrung in der Rechtsprechung indes erheblich (so erfolgten z. B. 1959 noch 230 Anordnungen, 1990 jedoch nur 31); parallel dazu wurde durch eine schrittweise Anhebung der Anordnungskriterien und durch die Beschränkung auf eine Verwahrdauer von zehn Jahren im Jahre 1975 eine gesetzliche Entschärfung des Sanktionsinstruments vorgenommen.³⁰¹ Ab 1998 vollzog sich jedoch ein schlagartiger Paradigmenwechsel: Angesichts einer Serie von Sexualmorden an Kindern im belgischen Charleroi, die weltweit Aufmerksamkeit erfahren hatten, verabschiedete die Koalition von CDU/CSU und FDP das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten. Der aufsehenerregendste Bestandteil dieses Gesetzes war die Streichung der Zehn-Jahres-Frist für die Sicherungsverwahrung und deren rückwirkende Anwendbarkeit für alle bereits Verwahrten, die nach gutachterlicher – in der Regel psychiatrischer oder psychologischer – Einschätzung weiterhin ein Gefährdungsrisiko für die Allgemeinheit darstellten. Für diese Einschätzung war eine einmalige positive Feststellung der Gefährlichkeit erforderlich. Nach diesem  Vgl. Laubenthal (2004: S. 708).  Für einen Überblick zur Bedeutung der Sicherungsverwahrung im nationalsozialistischen Recht vgl. Mushoff (2008).  Vgl. Alex (2010: S. 7).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Nachweis wurde eine Beweislastumkehr vorgesehen, infolge derer in einem ZweiJahres-Turnus nun die Ungefährlichkeit des Probanden nachgewiesen werden musste; dies resultierte in der Regel in der Fortschreibung der bisherigen Gutachten.³⁰² Noch im selben Jahr legten die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Hessen mit einer Reihe von Landesgesetzen, den sogenannten Straftäter-Unterbringungsgesetzen, zur Einführung einer nachträglichen Verhängung der Sicherungsverwahrung nach: Um die Allgemeinheit effizient vor gefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern zu schützen, müsse – so die Begründung – die Sicherungsverwahrung nicht allein im Rahmen des Ausgangsurteils anlässlich der Straftat, sondern auch noch während des Strafvollzugs verhängt werden können. Andernfalls wäre man gezwungen, diejenigen Täter, die sich erst während der Haft als hochgefährlich erwiesen, ‚sehenden Auges’ in die Freiheit zu entlassen.³⁰³ Argumentiert wurde also mit einem Sicherungsdefizit, das sich daraus ergäbe, dass eine bestimmte Tätergruppe von den zuständigen Strafgerichten (z. B. aufgrund fehlender Informationen) fälschlicherweise als ungefährlich eingeschätzt und entsprechend nicht zur Sicherungsverwahrung verurteilt würde. Wie die Reaktion auf die nun eingehenden Verfassungsbeschwerden sowohl gegen die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung als auch gegen deren nachträgliche Anordnung zeigt, schloss sich das Verfassungsgericht der Argumentation des Bundes und – zumindest der Sache nach – auch der Einschätzung der Länder an.Während die Streichung der Zehn-Jahres-Frist und deren rückwirkende Anwendbarkeit nicht beanstandet wurden, wies das Gericht zwar aus kompetenzrechtlichen Gründen den Anspruch der Länder, Gesetze zur nachträglichen Verwahrung selbst zu erlassen, zurück – gleichzeitig wurde jedoch ein detaillierter Vorschlag erarbeitet, um eine entsprechende Regelung auf Bundesebene auf den Weg zu bringen. In seiner Begründung verwies das BVerfG auf die Wahrung des Gemeinwohls, die das Rechtsinstitut der nachträglichen Verwahrung rechtfertige: Der Schutz vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stellt ein

 Vgl. Kinzig (2010a: S. 54); zur kaum vorhandenen Entlassungspraxis siehe auch Ullenbruch (2007: S. 68).  Für eine umfassende Diskussion der Straftäter-Unterbringungsgesetze vgl. Flaig (2009: S. 41 ff.) sowie Mushoff (2008: S. 34 ff.).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

161

überragendes Gemeinwohlinteresse dar. Diesen Schutz durch geeignete Mittel zu gewährleisten, ist Aufgabe des Staates.³⁰⁴

Da das Gefährdungspotential inhaftierter Straftäter durch Gutachter „sicher prognostiziert werden“ könne, sei die nachträgliche Verwahrung ein wirkungsvolles Instrument zur Verbesserung der Sicherheit.³⁰⁵ Im Jahre 2004 verabschiedete die nun regierende Koalition von SPD und Grünen das Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auf Grundlage der vom BVerfG erarbeiteten Vorschläge.³⁰⁶Nach dieser Regelung konnte die nachträgliche Sicherungsverwahrung von einem Gericht verhängt werden, wenn im Falle eines Inhaftierten eine Reihe formeller und materieller Bedingungen erfüllt sind. Die zentrale formelle Voraussetzung bestand in der Identifizierung neuer, erst nach der Verurteilung erkennbarer Tatsachen, sogenannter „nova“, die auf eine hohe Bereitschaft zur Begehung schwerer Straftaten gegen das Leben, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer nach der Haftentlassung hindeuten. Zu diesen Tatsachen zählten unter anderem: verbal-aggressives Verhalten gegen Justizvollzugsbeamte, Drohungen, nach der Haftentlassung weitere Straftaten zu begehen, schädliche Milieu-Kontakte und die Weigerung an Therapien teilzunehmen.³⁰⁷ Die materielle Voraussetzung zur Verhängung der nachträglichen Verwahrung war dann erfüllt, wenn die erhebliche Gefährlichkeit des Inhaftierten durch eine individuelle Risikoprognose zweier Fachgutachter belegt wurde. Obwohl in der Gesetzesregelung nicht spezifiziert war, welche Art von Fachgutachter herangezogen werden sollen, wurde die Prognostik in den allermeisten Fällen von forensischen Psychiatern oder Psychologen vorgenommen. Entsprechend hatte das Fachgutachten in der Regel die Form einer klinischen Kriminalprognose, die auf einer sozial-amnestetischen Exploration des bisherigen Täterwerdegangs fußt.³⁰⁸ Die Vorgehensweise zur Einleitung eines Verfahrens zur nachträglichen Sicherungsverwahren bestand darin, dass die Staatsanwaltschaft – häufig ausgehend von der Gefährlichkeitseinschätzung des psychologischen oder psychiatrischen Personals der Justizvollzugsanstalt – einen Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung stellte; über die Verhängung der Sicherungsverwahrung wurde im Anschluss von der zuständigen Strafvollstreckungskammer entschieden.

    

BVerfG, 2 BvR 834/02 vom 10. 2. 2004, Abs. 164. Ebd.: Abs. 23. BT-Drucks. 15/2887. Vgl. Flaig (2009: S. 105 – 118), Alex (2010: S. 30 f.). Vgl. Alex (2010: S. 33 – 36).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die von 1997 bis 2004 vorgenommene Verschärfung des Sanktionsinstruments der Sicherungsverwahrung ein Prozess ist, an dem alle einflussreichen Parteien (mit Ausnahme der PDS) mitgewirkt haben, die vom BVerfG explizit gebilligt wurde und – wie statistische Erhebungen eindrucksvoll zeigen – die von der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit gutgeheißen wurde.³⁰⁹ Den „neuralgischen Punkt“ der nachträglichen Sicherungsverwahrung bildet, um einen Ausdruck von Jörg Kinzig zu gebrauchen, die fachgutachterliche Gefährlichkeitsprognose, die es erlauben soll, diejenigen inhaftierten Täter zum Schutze der Allgemeinheit herauszufiltern, die tatsächlich ein hohes Gefährlichkeitspotential bergen.³¹⁰ Die „sichere Prognostik“ verschaffte dem Rechtsinstitut in den Augen seiner Befürworter eine wissenschaftliche Fundierung, um sie unter Rekurs auf das Gemeinwohl rechtfertigen zu können

4.1.2 Die EGMR-Urteile und ihre Folgen Nachdem ihre Verfassungsklagen vom BVerfG abgeschmettert worden waren, wandte sich eine Reihe von Inhaftierten an den EGMR, Klagegrund war die mutmaßliche Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die rückwirkend verlängerte und die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung. Der EGMR bearbeitete zunächst die Klagen zur rückwirkend verlängerten Verwahrung. Diskussionsrelevant ist in diesem Kontext das Kammerurteil vom 17.12. 2009 (‚M. gegen Deutschland’), insofern es sich bei den weiteren Urteilen (z. B. ‚K. gegen Deutschland’ und ‚S. gegen Deutschland’) nur um Nachfolgeurteile handelt.³¹¹ Das EGMR gelangte hierbei zur Einschätzung, dass die rückwirkend verlängerte Verwahrung des Klägers, die 2001 vom Landgericht Marburg angeordnet worden war, gegen Art. 5 EMRK (‚Recht auf Freiheit und Sicherheit’) verstoße und daher einen Konventionsbruch Deutschlands darstelle.³¹²  So sprachen sich z. B. bei einer repräsentativen EMNID-Umfrage im Auftrag von Bild am Sonntag 85 % der Befragten für eine Beibehaltung der nachträglichen Sicherungsverwahrung aus, Bild am Sonntag vom 8. 8. 2010.  Kinzig (1996: S. 79).  Vgl. EGMR vom 17.12. 2009, 19359/04, anonymisierte nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen. Für eine eingehende Diskussion siehe Laue (2010).  Die rückwirkend verlängerte Sicherungsverwahrung des Klägers verstieß nach Einschätzung des EGMR zudem gegen Art. 7 EMRK (‚Keine Strafe ohne Gesetz’) und stellte damit auch eine Verletzung des Justizgrundrechts ‚nulla poena sine lege’ dar. Dieser Punkt ist für die Erörterung der nachträglichen Sicherungsverwahrung jedoch irrelevant, da er ein Spezifikum der rückwirkend verlängerten Verwahrung darstellt. Zur Vertiefung siehe Alex (2010: S. 139 f.).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

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Art. 5, Abs. 1(a) EMRK legt fest, dass einer Person nur rechtmäßigerweise die Freiheit nach einer Verurteilung durch ein Strafgericht entzogen werden kann, wobei nach Einschätzung des EGMR nur das Urteil eines erkennenden Gerichts, mit dem eine Person für schuldig befunden wird, diese Anforderung auch erfüllt.³¹³ Im Gegensatz dazu genügt jedoch die Entscheidung eines Gerichts, die Freiheitsentziehung einer Person fortdauern zu lassen, dieser Anforderung nicht, weil sie keine neue Feststellung, dass diese Person einer Tat schuldig ist, enthält; sie verfolgt nur den Zweck, eine Mehrzahl noch nicht hinreichend konkretisierter Straftaten zu verhindern. Kurz gesagt: Ohne Bezug auf ein Urteil, in dem die Schuld eines Beklagten festgestellt wurde, darf niemandem die Freiheit entzogen werden.³¹⁴ Eine Ausnahme bildet, wie der EGMR hervorhob, Art. 5, Abs. 1(e) EMRK (‚Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken’).³¹⁵ Dieser kommt zur Anwendung, wenn die Person an einer psychischen Krankheit leidet und infolge dieser eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Nur in diesem Falle kann eine Inhaftierung auch ohne Bezug auf ein Schuldfeststellungsurteil angeordnet werden. Allerdings, so der EGMR weiter, wäre auch dann nicht die Sicherungsverwahrung des Delinquenten in einer Justizvollzugsanstalt indiziert gewesen, sondern die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Nach Auffassung des EGMR hat dieses Urteil Präzedenzcharakter für alle anderen Fälle, in denen bei Inhaftierten eine rückwirkende Verlängerung der Verwahrung verhängt worden war. Entsprechend müssten die entsprechenden Personen frühestmöglich aus der Verwahrung entlassen werden.³¹⁶ Des Weiteren – und dieser Punkt ist hier von großer Bedeutung – ließ die Argumentation des Gerichts keinerlei Zweifel daran, dass es die noch ausstehenden Klagen gegen die nachträgliche Verwahrung strukturanalog bewerten würde und auch hier eine konventionswidrige, da nicht nur ein Schuldfeststellungsurteil gedeckte, Form der Inhaftierung feststellen würde; mit der Folge, dass das Rechtsinstitut abgeschafft und die nachträglich Verwahrten freigelassen werden müssten.³¹⁷ Angesichts dieser Situation sah sich die Bundesregierung zu einer Reform des Rechts der

 Vgl. EGMR vom 17.12. 2009, 19359/04, Abs. 95.  Eine ähnlich gelagerte Argumentation bezüglich der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung findet sich bereits bei Kinzig (2008: S. 299).  Vgl. EGMR vom 12. 22. 2009, 19359/04, Abs. 103.  Vgl. Laue (2010: S. 202).  Vgl. hierzu unter anderem Kinzig (2010b, 2011) sowie Alex (2013: S. 61 ff.). Diese Einschätzung findet sich auch im Gesetzesentwurf vom 26.10. 2010 der Bundesregierung, in dem diese angesichts der sich abzeichnenden Verurteilung durch den EGMR eine Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung beschloss; vgl. BT-Drucks. 17/3403, S. 13.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Sicherungsverwahrung genötigt, um deren Konventionskonformität sicherzustellen. Allerdings waren die Klagen der Inhaftierten vor dem EGMR und die Gerichtsverhandlungen auf eine einhellig negative Resonanz in Deutschland gestoßen: Neben Boulevard-Zeitungen warnten auch seriöse Nachrichtenmagazine wie Der Spiegel angesichts einer drohenden Entlassungswelle von gutachterlich als gefährlich eingeschätzten Straftätern vor einer „Rückkehr des Bösen“.³¹⁸ Im Vorfeld der Urteilsentscheidungen konstatierte der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU), dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung „zum Schutz der Allgemeinheit“ beibehalten werden müsse und bezog sich dabei auch auf den Volkswillen: „die Bürger wollen, dass Leute, die nach gutachterlicher Klärung als rückfallgefährdet gelten, eingesperrt bleiben. In welcher Form auch immer.“³¹⁹ Dieser Einschätzung schloss sich Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in einem Deutschlandfunk-Interview unter Bezug auf die ursprüngliche Argumentation für die Straftäter-Unterbringungsgesetze an: Mit dem Wegfall der nachträglichen Verwahrung entstünde eine Sicherheitslücke, die um der „Allgemeinwohlinteressen“ willen geschlossen bleiben müsste; die nachträgliche Verwahrung sei alternativlos.³²⁰ Angesichts dieser Stimmungslage einerseits und der sich abzeichnenden Verurteilung durch den EGMR andererseits, beschloss die Regierung nach heftigen internen Diskussionen Ende Dezember 2010 eine Reform der Sicherungsverwahrung, die als Versuch eines Mittelwegs zwischen öffentlicher Meinung und erwartetem Gerichtsbeschluss eingestuft werden kann – das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen.³²¹ Ein Kernbestandteil des Reformpakets, das weniger als zwei Wochen vor dem Urteil in Kraft trat, in dem der EGMR schließlich in der Tat die nachträgliche Sicherungsverwahrung für menschenrechtswidrig erklärte,³²² war die weitgehende Abschaffung der nachträglichen Verwahrung für sogenannte „Neufälle“, d. h. für Straftaten ab dem 1.1. 2011.³²³ Zugleich beschloss die Regierung jedoch die Fort So der Titel einer Spiegel-Reportage vom 20.9. 2010.  Interview mit der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 7. 8. 2010.  Deutschlandfunk-Interview vom 10.6. 2010. Für einen eindringlichen Überblick der öffentlichen Debatte in Deutschland im Vorfeld der EGMR-Entscheidungen siehe Alex (2013: S. 66 – 69).  BT-Drucks. 17/3403. Für eine eingehende Diskussion siehe Kreuzer (2011) sowie Drenkhahn & Morgenstern (2012: S. 180 – 187) und Alex (2013: S. 60 f.).  Vgl. EGMR vom 13.1. 2011, 6587/04, anonymisierte nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen.  BT-Drucks. 17/3403, S. 14. Eine Ausnahme bildet die Erledigung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus: Wenn diese Form der Unterbringung seitens eines Gerichts für erledigt erklärt wird (etwa weil der Patient therapieunfähig ist oder weil eine Fehleinweisung

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

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geltung des alten Rechts für Personen, die einschlägige Delikte vor diesem Stichtag verübt hatten – eine Gruppe, die nach der Einschätzung Arthur Kreuzers zwischen 7.000 und 10.000 Personen umfasst.³²⁴ Gerechtfertigt wurde diese Übergangsregelung recht lapidar mit dem „gesetzgeberischen Anliegen[] für das Gemeinwohl“.³²⁵ Kritiker geißelten die Entscheidung jedoch als inkonsistent und merkten überdies an, diese führe zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung verschiedener Häftlingskohorten; hinzu käme, dass die Übergangsregelungen auf kurz oder lang neue Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR nach sich ziehen würde.³²⁶ Eine weitere aufsehenerregende Komponente war das sogenannte Therapieunterbringungsgesetz. Bei diesem handelte es sich um eine maßgeschneiderte Rechtsnorm, mit der diejenigen Personen, die auf Grundlage der EGMR-Urteile entlassen worden waren oder deren Entlassung bevorstand, „wieder eingefangen werden“ sollten.³²⁷ Das Gesetz sah vor, dass diese dauerhaft in geschlossenen psychiatrischen Anstalten untergebracht werden können, wenn sie an einer die Schuldfähigkeit nicht beeinträchtigenden psychischen Störung leiden, die nach gutachterlicher Einschätzung die künftige Begehung schwerster Gewalt- und Sexualdelikte hochwahrscheinlich macht. Das Kriterium der psychischen Störung erfüllte die Funktion, einen Festnahmegrund gemäß Art. 5, Abs. 1(e) EMRK zu normieren und damit eine Möglichkeit zu schaffen, die Rechtsadressaten ohne Bezug auf ein Schuldfeststellungsurteil und dennoch konventionskonform zu verwahren. Auch in diesem Falle rekurrierte die Regierung auf „überragend wichtige[] Gemeinwohlinteressen“,³²⁸ denen durch die (Wieder)-Verwahrung der Delinquenten gedient sei. Strafrechtler und Forensiker kritisierten gleichermaßen, das Gesetz führe zur willkürlichen „Umetikettierung“ eines ganzen Personenkreises, der bislang nie als Adressat psychiatrischer Fürsorge gegolten hatte, in psychisch kranke Gefährder und missbrauche daher die „Psychiatrie als Ersatzreserve für das Strafrecht“.³²⁹ Hochproblematisch sei zudem, dass der Gesetzgeber die Rechtsadressaten sowohl als psychisch gestört als auch als voll schuldfähig verstanden wissen wolle; dies konfligiere indes mit dem im Strafrecht und in der

vorlag), besteht die Möglichkeit, die betreffende Person im Anschluss nachträglich in Verwahrung zu nehmen, wenn sie ein erhebliches Gefährdungspotential für die Allgemeinheit birgt.Vgl. hierzu Nedopil & Müller (2012: S. 52– 58).  Siehe Kreuzer (2011: S. 124).  BT-Drucks. 17/3403, S. 60.  Kinzig (2010c). Zu dieser Kritik siehe auch Kreuzer (2011: S. 128).  So Kinzig in einer Stellungnahme im Jahre 2012 vor dem Bundestag.  BT-Drucks. 17/3403, S. 61.  Alex (2013: S. 60). Ähnlich z. B. auch Merkel (2011: S. 203).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Psychiatrie einschlägigen Verständnis, wonach eine psychische Störung die Schuldfähigkeit der Person zumindest einschränke.³³⁰ Das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung sollte sich als kurzlebig erweisen. Am 4. 5. 2011, nicht einmal ein halbes Jahr nach seinem Inkrafttreten, erklärte das BVerfG das gesamte Recht der Sicherungsverwahrung für grundgesetzwidrig.³³¹ Im Zentrum der Kritik stand indes nicht das viel gerügte Therapieunterbringungsgesetz, das vom Gericht nicht beanstandet wurde. Auch in Bezug auf die Übergangsregelungen zur nachträglichen Verwahrung forderte das BVerfG lediglich, die Anordnungsbedingungen anzuheben und um die Voraussetzung zu ergänzen, dass der Delinquent an einer psychischen Störung leiden müsse, um für diese Form der Verwahrung infrage zu kommen. Letzteres sollte,wie bereits im Falle des Therapieunterbringungsgesetzes, einen Inhaftierungsgrund gemäß Art. 5, Abs. 1(e) EMRK schaffen.³³² Bemängelt wurden indes vor allem Ausgestaltung und Vollzug der Sicherungsverwahrung insgesamt. Analog zu einer Einschätzung, die auch der EGMR bereits in vielen Urteilen bekräftigt hatte, kritisierte das BVerfG, dass der präventive Maßregelvollzug keinen qualitativen Unterschied zur Freiheitsstrafe aufweise und daher eine unzulässige Belastung der Verwahrten darstelle. Um diesem Umstand abzuhelfen, sei die Maßregel „in deutlichem Abstand zum Strafvollzug […] so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt“.³³³ Zur Gewährleistung dieses Abstands forderte das BVerfG neben einer getrennten Unterbringung von Verwahrten und sonstigen Gefangenen unter anderem eine individuelle und auf Resozialisierung ausgerichtete Betreuung, eine jährliche gutachterliche Überprüfung der Verwahrungsnotwendigkeit sowie die

 Für eine Übersicht der Diskussion siehe Morgenstern (2011) sowie Zimmermann (2013: S. 173 ff.).  BVerfG, 2 BvR 2365/09 vom 5.9. 2011. Zur Vertiefung siehe Mosbacher (2011). Für eine Übersicht der Fachdiskussion zum Urteil des BVerfG siehe Alex (2013: S. 64 f.).  Erstaunlich ist, dass auf diese Weise zwei Personenkreise entstehen, die hinsichtlich ihres mutmaßlichen Störungsbildes und Gefährdungspotentials identisch sind, aber dennoch unterschiedlich untergebracht werden: Gestörte und gefährliche, aber schuldfähige Personen, die nach dem EGMR-Urteil entlassen werden mussten, werden auf Grundlage des Therapieunterbringungsgesetzes in psychiatrischen Anstalten verwahrt; gestörte und gefährliche, aber schuldfähige Personen, die auf Basis der Übergangsregelungen zu nachträglicher Verwahrung verurteilt sind, werden getrennt von den übrigen Gefangenen in Justizvollzugsanstalten untergebracht. Diese rational schwer nachvollziehbare Konstellation beschreibt Alex als „kaum auflösbare[s] Konkurrenzverhältnis“, Alex (2013: S. 77).  BVerfG, 2 BvR 2365/09, Abs. 101.

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

167

Möglichkeit von Vollzugslockerungen, wie z. B. beaufsichtigten Freigang oder einen weniger restringierten Aufenthalt im Anstaltsaußenbereich.³³⁴ Auf Grundlage dieser Formulierungshilfe verabschiedete der Bundestag Ende 2012 das bis heute geltende Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung.³³⁵ Kernelement ist die vom BVerfG angemahnte Reformierung der Vollzugsbedingungen der Maßregel. Abgesehen davon wurde jedoch der Rechtsstand von 2011 weitgehend restituiert – ein Sachverhalt, der auf allgemeine Kritik stieß. Während Strafrechtsexperten bemängelten, es handele sich nicht „[u]m eine Reform, die diesen Namen verdient“, da trotz erheblicher rechtlicher Bedenken weder die Therapieunterbringung noch die Übergangsregelungen abgeschafft worden seien,³³⁶ argumentierte der von der Opposition dominierte Bundesrat in einer Stellungnahme vom 11. 5. 2012 aus der genau entgegengesetzten Richtung.³³⁷ Die 2004 von der rot-grünen Koalition eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung sei in hohem Maße gemeinwohldienlich gewesen, weil sie eine bedeutende Schutzlücke im Strafrecht geschlossen habe. Der Umstand, dass die schwarz-gelbe Regierung diese Maßregel nur noch auf Fälle vor dem Stichtag des 1.1. 2011 anwenden wolle, werde in absehbarer Zeit dazu führen, dass bestimmte Täter „[t]rotz erkannter erheblicher Gefährlichkeit […] nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe in die Freiheit entlassen werden“ müssen.³³⁸ Der Schutz vor diesen Tätern stehe jedoch „im überragenden Interesse des Gemeinwohls“; entsprechend müsse die nachträgliche Sicherungsverwahrung grundsätzlich wieder eingeführt werden.³³⁹ Diese Argumentation wirft – jenseits der rechtstheoretischen Beurteilung des neuen Rechts der Sicherungsverwahrung – die Frage auf, ob die nachträgliche Verwahrung in der Tat ein gemeinwohldienliches kriminalpolitisches Präventionsinstrument darstellte. Wäre dem so, dann ließe sich deren Abschaffung für „Neufälle“ ein gewichtiger Rechtfertigungsgrund entgegen halten. Dieser würde offenkundig auch ein Argument für die Beibehaltung der Therapieunterbringung darstellen, insofern deren Funktion ja darin besteht, ehemals nachträglich Verwahrte – und somit von gutachterlicher Seite für gefährlich befundene Personen –  Bei genauerer Betrachtung lesen sich viele Forderungen des BVerfG, die einen qualitativen Abstand zwischen Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe gewährleisten sollen, allerdings eher „wie allgemeine Vorgaben für einen humanen Strafvollzug, die von Rechts wegen gefordert seien, deren Realisierung aber immer noch auf sich warten lasse“, Alex (2013: 63). Zur selben Kritik vgl. Drenkhahn & Morgenstern (2012: S. 195) und Zimmermann (2013: S. 63).  Vgl. BT-Drucks. 17/9874.  So etwa Renzikowski (2013: S. 1638). Ähnlich auch Kinzig (2012) und Alex (2013: S. 77).  BT-Drucks. 17/9874, S. 39.  Ebd.  Ebd.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

weiterhin sicher unterzubringen. Wäre dem nicht so, dann wären nicht nur die Forderungen nach einer Wiedereinführung der Maßregel für „Neufälle“ substanzlos, sondern auch die Übergangsregelungen zur nachträglichen Verwahrung sowie die Therapieunterbringung. Diese Problemstellung führt indes zum „neuralgischen Punkt“ der nachträglichen Verwahrung – der prognostischen Zuverlässigkeit bei der Identifizierung hochgefährlicher Straftäter durch psychiatrische und psychologische Gutachten. Sie lässt sich zu folgender Frage zusammenfassen: Sind die für die Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung zentralen Gefährlichkeitsprognosen geeignet, um aus der Zahl bereits inhaftierter Straftäter diejenigen effizient herauszufiltern, die tatsächlich hochgefährlich sind, um so eine Verbesserung der inneren Sicherheitslage zu gewährleisten?

4.1.3 Die Probleme der Risikoprognostik Entgegen der von Befürwortern der nachträglichen Sicherungsverwahrung und der seitens des BVerfG in seinem Urteil von 2004 bekräftigten Auffassung (siehe Kap. 4.1.1) wird die Möglichkeit einer effizienten gutachterlichen Erfassung von hochgefährlichen Straftätern im Strafvollzug von kriminalwissenschaftlicher Seite stark bezweifelt. Hierfür lassen sich zwei komplementäre Gründe anführen: die Unsicherheiten bei einer (klinischen) Prognose künftiger Rückfalltaten bei inhaftierten Straftätern und die insgesamt niedrige Basisrate von schweren Rückfalltaten. Ein allgemeines Problem für die gutachterliche Erfassung von inhaftierten Personen, die nach ihrer Entlassung ein hohes Gefährdungsrisiko für die Allgemeinheit bergen, besteht darin, dass fraglich ist, ob Verhalten während der Haft überhaupt als zuverlässiger Risikoindikator Bestand haben kann:³⁴⁰ [W]ährend ihnen [den Häftlingen] zunächst noch das normale menschliche Zusammenleben in der ‚Außenwelt’ als Maßstab gilt, arrangieren sie sich später mit den härteren Gegebenheiten in der totalen Institution“ der Justizvollzugsanstalt.³⁴¹

Folglich lassen sich Verhaltensweisen, die in der normalen sozialen Interaktion außerhalb des Gefängnisses – etwa vulgäre Beschimpfungen oder Gewaltandrohungen gegen andere Personen – in der Tat als Indizien für eine hohe Bereitschaft

 Dieses Problem betrifft also keinesfalls nur die etablierte Praxis der klinischen Rückfallprognostik, sondern auch alternative – etwa kriminalwissenschaftliche – Gefährlichkeitseinschätzungen; vgl. Flaig (2009: S. 41).  Jansing (2004: S. 194).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

169

zur Begehung von Gewalttaten gewertet werden könnten, als übliche Anpassungsmechanismen an die repressive Umgebung des Strafvollzugs erklären.³⁴² Darüber hinaus gilt als sicher, dass die beständige Supervision durch Justizvollzugsangestellte auf Anzeichen von Gewaltbereitschaft hin bei vielen potentiellen ‚Kandidaten’ für die Sicherungsverwahrung zu erheblicher Frustration und Verunsicherung führt, die sich wiederum in Aggressivität und der Weigerung, mit der Vollzugsbehörde (etwa durch Teilnahme an Therapien) zu kooperieren, entlädt.³⁴³ Jenseits dieser generellen Probleme der Identifizierung von Risikoindikatoren fragt sich, ob Psychiater oder Psychologen, die in der Regel als Gutachter für Risikoprognosen fungieren, hierfür das geeignete Expertenwissen mitbringen. Bei der Frage nach der Schuldfähigkeit eines Delinquenten vor Gericht erscheinen psychiatrische oder psychologische Diagnosen durchaus indiziert; für die Voraussage künftiger Straftaten, so die Kritik, verfügen diese Disziplinen, anders als beispielsweise die Kriminologie, nicht über das erforderliche Instrumentarium.³⁴⁴ Während Letztere in der Risikoforschung statistische Erhebungen zu Rückfallraten bei erheblicher Delinquenz, soziale Empfangsräume der Delinquenten und die (erhebliche) Auswirkung des Alterungsprozesses auf die Gewaltbereitschaft berücksichtigt,³⁴⁵ fehlen derartige Erwägungen in der klinischen Prognose. Sie tendiert, nach Einschätzung Michael Alex’, vielmehr zu einer unangemessenen „Pathologisierung des Probanden“.³⁴⁶ Bereits im Jahre 1974 stellte aus diesen Gründen die American Psychiatric Association in einer Erklärung fest, dass die Fähigkeit von Psychiatern, Gewalttaten vorherzusagen, unbewiesen sei; im Jahre 1978 zog die American Psychological Association mit einer weitgehend gleichlautenden Erklärung nach.³⁴⁷ Selbst eine im Vergleich hierzu geradezu optimistische Untersuchung von Nedopil & Stadtland von der Abteilung für forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums München aus dem Jahre 2005 kam zu dem Ergebnis, dass mindestens 60 % der forensischen Gefährlichkeitsprognosen mit erheblichen Unsicherheiten belastet seien.³⁴⁸ Eine Studie zur Qualität von Sachverständigengutachten im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung von  Vgl. auch Callies (2004: S. 137) und Kinzig (1996: S. 90).  Vgl. Flaig (2009: S. 136).  Vgl. Alex (2013: S. 79) und Kinzig (1996: S. 92).  Zum Alterungseffekt als risikosenkendem Faktor bei schwerer Delinquenz vgl. die Studien von Jehle, Heinz & Sutterer (2003) sowie Heinz (2007).  Alex (2013: S. 78). Vgl. zur selben Einschätzung auch Flaig (2009: S. 150).  Vgl. Kinzig (1996: S. 92). Hinsichtlich der Frage, ob seit den 1970ern eine signifikante Verbesserung der Prognoseleistung erzielt wurde oder ob eine solche Verbesserung überhaupt grundsätzlich möglich ist, sind viele Autoren extrem skeptisch; vgl. unter anderem Pollähne (2011: S. 112) und Alex (2013: S. 87).  Vgl. Nedopil & Stadtland (2005).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Habermeyer et al. aus dem Jahre 2007 erbrachte anhand von 100 untersuchten Gutachten das Resultat, dass in den meisten Einschätzungen keine adäquate Klassifikation schuldfähigkeitsrelevanter psychischer Störungen vorgenommen wurde.³⁴⁹ Ein weiterer Faktor, der die Zuverlässigkeit des Filterungsinstruments der Gefährlichkeitsprognose in Zweifel zieht, ergibt sich aus den Gegebenheiten der konkreten Umsetzung der Gutachterpraxis in Deutschland. So gab es bis ins Jahr 2001 keine wissenschaftliche Standardisierung der Risikoprognostik, bis ins Jahr 2008 waren keine Gutachterlehrgänge vorgesehen;³⁵⁰ darüber hinaus erfolgte nur in knapp 20 % aller Fälle eine Kontrolle der Gutachter durch weitere Sachverständige.³⁵¹ Des Weiteren steht in vielen Fällen die Neutralität von Prognosen insofern in Frage, als es üblich ist, dass Psychiater oder Psychologen für Gefangene der Justizvollzugsanstalt, an der sie selbst beschäftigt sind, Gutachten erstellen. Dies führt zu quasi-inquisitorischen Konstellationen, „in denen Betroffene im Anordnungsverfahren von dem begutachtenden Anstaltspsychologen als gefährlich eingestuft werden, der wegen seiner Skepsis gegenüber den Resozialisierungsbemühungen des Gefangenen das Verfahren überhaupt erst angestoßen hat.“³⁵² Auf diese Weise wird „der anstaltsinterne Psychologe ‚Ankläger’ und Sachverständiger in einer Person“.³⁵³ Zuletzt sollte nicht vernachlässigt werden, dass sich Gutachter gerade im Zusammenhang mit Risikoprognosen zu schweren Gewaltverbrechen einem erheblichen Druck seitens Medien und politischer Entscheidungsträger ausgesetzt sehen, der sich negativ auf die Zuverlässigkeit ihrer Einschätzungen auswirken dürfte. So forderte z. B. im Jahre 2006 der damalige CSU-Fraktionschef Joachim Herrman in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Einführung einer „roten Liste“ für Gutachter, die sich einmal geirrt haben und einen Delinquenten als ungefährlich beurteilt hatten, der nach seiner Haftentlassung ein schweres Verbrechen beging.³⁵⁴ Wenn man nun aber einmal die vergleichsweise optimistische Einschätzung Nedopils und Stadtlands zugrunde legt und eine ‚Trefferwahrscheinlichkeit’ bzw. Validität der Risikoprognostik von 40 % veranschlagt, dann könnte man prima facie folgern, dass immerhin 40 % der Verwahrten tatsächlich hochgradig ge-

 Vgl. Habermeyer et al. (2007: S. 326).  Vgl. Kinzig (2008: S. 153).  Vgl. Jansing (2004: S. 202).  Ebd.: S. 205.  Ebd.: S. 203.  Süddeutsche Zeitung vom 10.10. 2006. Zur Problematik des öffentlichen Drucks auf Gutachter im Rahmen der Gefährlichkeitsprognostik siehe auch Höffler & Kaspar (2012: S. 112).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

171

fährlich sind, was immer noch für eine hohe Schutzfunktion durch die nachträgliche Sicherungsverwahrung und für eine hohe Gefährdung durch die Freilassung der Verwahrten spräche. Dass diese, übrigens weithin geteilte, Folgerung auf einem Irrtum beruht, liegt am Problem der sogenannten Basisratenvernachlässigung und lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren:³⁵⁵ Nehmen wir an, ein Taxifahrer begeht nach einem nächtlichen Unfall Fahrerflucht. Folgende Informationen sind bekannt: In der Stadt gibt es 100 Taxis, 85 davon (also 85 %) gehören zur Green Cab Company und sind grün, 15 Taxis (also 15 %) gehören zur Blue Cab Company und sind blau. Ein Zeuge behauptet nun, dass unfallverursachende Taxi sei blau gewesen. Das Gericht bittet ihn daraufhin, unter ähnlichen Sichtverhältnissen die Farbe von Taxis zu bestimmen; dabei liegt der Zeuge in 80 % der Fälle richtig. Nun würde man wohl ohne groß nachzudenken, die Wahrscheinlichkeit, dass das unfallverursachende Auto tatsächlich blau war, die Zeugenaussage also wahr ist, auf 80 % beziffern – tatsächlich liegt sie nur bei 41 %! Wie es zu diesem vergleichsweise schlechten Ergebnis kommt, lässt sich durch eine Darstellung im Häufigkeitsformat nachvollziehen: So wurden durch den Zeugen 80 % der grünen Taxis (68) zutreffend als grün wahrgenommen, aber fälschlicherweise 20 % der grünen Taxis als blau (17). Von den blauen Taxis wurden ebenfalls 80 % (12) richtig als blau wahrgenommen, 20 % (3) hingegen fälschlich als grün. Insgesamt wurden also 29 Taxis (davon 17 falsch und 12 richtig) als blau eingeschätzt – die Wahrscheinlichkeit richtig zu liegen, beträgt somit 12/29 bzw. 41 %. Der Grund, aus dem das Prognoseergebnis im Taxi-Beispiel so unerwartet schlecht ist und eine so hohe Gesamtanzahl fälschlich als blau eingeschätzter Taxis zu verzeichnen ist, besteht darin, dass das zu prognostizierende Ereignis (hier: das Taxi ist blau) relativ selten auftritt, die sogenannte Basisrate dieses Ereignisses also relativ niedrig ist. In der Kriminalwissenschaft wird die Basisrate definiert als das „Vorkommen von Tätern eines Delikts in einer bestimmten nach allgemeinen Kriterien definierten Menge“.³⁵⁶ Bezogen auf die Sicherungsverwahrung bezeichnet sie den  Das folgende Beispiel übernehme ich von Tversky & Kahneman (1982) mit einigen Präzisierungen von Kinzig (1996). Die Basisratenvernachlässigung ist ein Lamento, das sich durch die gesamte kriminalwissenschaftliche Literatur der vergangenen Jahre, die sich mit der Sicherungsverwahrung befasst, zieht; vgl. unter anderem Kinzig (1996: S. 85 f.), Gross (2004: S. 13), Harrendorf (2008: S. 15), Flaig (2009: S. 157 f.) sowie Alex (2010: S. 59 f.). Bereits 2001 hatte Kinzig im Baden-Württembergischen Landtag bei einer Anhörung zur Verabschiedung der StraftäterUnterbringungsgesetze auf dieses Problem hingewiesen – seine Ausführungen wurden von allen Fraktionen aber als Zahlenspielerei abgetan, vgl. BW LT/Drs. 12/6019: S. 8.  Diese Definition entstammt Bernd Volckarts viel zitiertem und überaus lesenswertem Essay aus dem Jahre 2002 „Zur Bedeutung der Basisrate in der Kriminalprognose.Was zum Teufel ist eine Basisrate?“: S. 106.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

theoretischen Anteil der Personen, die im Geltungszeitraum einer Prognose trotz negativer Rückfälligkeitseinschätzung und darauf folgender Entlassung erhebliche Gewalttaten begehen (sogenannte falsche Negative), und derer, die aufgrund positiver Rückfälligkeitseinschätzung nicht entlassen wurden und nach ihrer Entlassung rückfällig geworden wären (sogenannte wahre Positive), an der Gesamtzahl von Personen, für die Risikoprognosen erstellt wurden. Korrespondierend dazu bezeichnet man diejenigen, die infolge negativer Rückfälligkeitseinschätzung freikommen und nicht rückfällig werden, als wahre Negative; diejenigen, die aufgrund positiver Rückfälligkeitseinschätzung inhaftiert bleiben, aber nicht rückfällig geworden wären, bezeichnet man als falsche Positive. Die aus dieser Unterteilung entstehenden Mengen lassen sich anhand einer Bayes’schen Matrix wie folgt darstellen: Tabelle 3: Bayes’sche Matrix zur Kriminalprognostik Prognose

Wahrheit

„positiv“

„negativ“

Tat, „wenn“

wahre Positive = WP

falsche Negative = FN

WP + FN = alle „Täter“ (Basisrate)

keine Tat

falsche Positive = FP

wahre Negative = WN

FP + WN = alle Nichttäter

Quelle: Volckart 2002.

Die Herausforderung an die Risikoprognostik besteht offensichtlich darin, den Anteil falscher Negativer und falscher Positiver so gering wie möglich zu halten – andernfalls bliebe eine hohe Anzahl ungefährlicher Personen grundlos inhaftiert und/oder eine hohe Anzahl gefährlicher Personen käme frei. Mit anderen Worten: Es gelänge nicht, effizient diejenigen Personen herauszufiltern, die ein Sicherheitsrisiko für die Allgemeinheit darstellen und daher verwahrt werden müssen. In diesem Kontext wirkt sich die Basisrate auf das Prognoseergebnis einer (falliblen) Risikoeinschätzung folgendermaßen aus: Je höher die Basisrate, desto höher die Zahl der falschen Negativen; je niedriger die Basisrate, desto höher die Zahl der falschen Positiven.³⁵⁷ In beiden Fällen steigt der entsprechende Anteil falscher Negativer bzw. falscher Positiver zusätzlich mit der sinkenden Validität der prognostischen Methode. Genau das Problem einer sehr niedrigen Basisrate scheint jedoch die Risikoprognostik bei der nachträglichen Verhängung der Sicherungsverwahrung zu befallen, und zwar jenseits aller sonstigen Unsicherheiten bei (klinischen) Gut-

 Vgl. Volckart (2002: S. 108).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

173

achten. Denn selbst unter stark rückfallgefährdeten Tätern stellt die Begehung schwerer Delikte eher die Ausnahme als die Regel dar.³⁵⁸ So käme man sogar bei der großzügigen Schätzung eines 500mal höheren Werts als bei der Gesamtbevölkerung gerade einmal auf eine Basisrate von 5 % – mit einer entsprechend hohen Zahl fälschlich als gefährlich eingestufter Personen.³⁵⁹ Allerdings ist hier einschränkend zu bemerken, dass aus nahe liegenden Gründen die Gesamtanzahl falsch positiv eingeschätzter Personen und damit auch die tatsächliche Basisrate unbekannt bleiben muss; eben weil sich diejenigen Personen mit positiver Rückfalleinschätzung in der Regel in Verwahrung befinden.³⁶⁰ Dieses epistemische Problem hat denn auch eine Reihe von Kritikern dazu bewogen, das Problem der Basisratenvernachlässigung als eine bloße mathematische Denkübung mit willkürlich gesetzten Parametern abzutun, die keine praktische Relevanz für die Einschätzung der Prognosesicherheit hat.³⁶¹ Hier schlägt indes die Stunde der „Realexperimente“, wie es im kriminalwissenschaftlichen Jargon etwas zynisch heißt.³⁶² Unter Realexperimenten versteht man Fälle, in denen Personengruppen trotz ungünstiger Gefährlichkeitsprognosen aus verfahrensrechtlichen Gründen entlassen werden müssen, was in der Folge eine Überprüfung ihrer tatsächlichen Legalbewährung und damit einhergehend eine Bestimmung der falschen Positiven erlaubt. Der erste wissenschaftlich untersuchte Fall dieser Art ist der sogenannte ‚Baxstrom Case’, benannt nach dem Kläger, dessen Erfolg vor Gericht die entsprechenden Entlassungen zufolge hatte: Hierbei wurden 1966 in New York 967 als hochgefährlich eingeschätzte Patienten aus formalrechtlichen Gründen aus hochgesicherten Anstalten für psychisch kranke Rechtsbrecher freigelassen. Nach viereinhalb Jahren waren lediglich 21 Entlassene (2,17 %) mit schweren Gewaltdelikten aufgefallen, die Übrigen waren entweder mit Bagatelldelikten oder überhaupt nicht rückfällig geworden.³⁶³ Ein ähnlich gelagerter Fall ereignete sich 1971 in Pennsylvania, wo auf richterlichen Erlass 586 Patienten aus einer Hochsicherheitsanstalt entlassen werden mussten – mit vergleichbaren Rückfallraten.³⁶⁴ Allerdings wurden in Bezug auf diese Fälle vor allem aus der deutschen Psychiatrie Zweifel an der

 Vgl. Jansing (2004: S. 213).  Vgl. Volckart (2002: S. 106).  Die falschen Negativen lassen sich, so die entsprechenden Rückfalltaten aufgeklärt werden, im Vergleich hierzu sehr leicht bestimmen und werden entsprechend im Bundeszentralregister erfasst, vgl. Harrendorf (2008: S. 6).  Für eine genauere Darstellung dieser Einwände vgl. Jansing (2004: S. 213 ff.).  Kinzig (2010: S. 56).  Vgl. Morris (1974: S. 1169 ff.).  Vgl. Kinzig (1996: S. 87 f.).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Vergleichbarkeit der Zahlen der falschen Positiven in Bezug auf Sicherungsverwahrte laut: Es handele sich hierbei eben um psychisch Kranke und nicht um als gefährlich eingeschätzte gesunde Personen. Zudem spiegelte sich in diesen Ergebnissen „mehr die seinerzeit auch in den USA desolate Situation in den forensisch-psychiatrischen Kliniken und der Gutachterpraxis wider“;³⁶⁵ die Gutachterpraxis habe sich seit den 1970ern erheblich verbessert, die Anzahl fälschlich als gefährlich eingeschätzter Sicherungsverwahrter könne nicht annähernd so hoch sein.³⁶⁶ Dieser Einschätzung lassen sich allerdings zwei Rückfallstudien jüngeren Datums, die sich dezidiert mit der Prognosesicherheit im Rahmen der Sicherungsverwahrung befassen, entgegenhalten: In seiner Studie Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter von 2008 untersuchte Kinzig unter anderem die Rückfallrate einer Gruppe von 22 Personen, die zwischen 1975 und 1998 – also während des Zeitraums, in dem die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre begrenzt war – zwangsweise und trotz ungünstiger Risikoprognosen freigelassen werden mussten.³⁶⁷ Aus dieser Gruppe wurden lediglich zwei Personen (9,09 %) mit erheblichen Delikten (schwerer Raub, schwere Brandstiftung) rückfällig. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass eine Kontrollgruppe von 162 Personen, die dieselbe Ausgangsdelinquenz aufwies (also Mord, Vergewaltigung, schwerer Raub, Kindesmissbrauch etc.), aber regulär und ohne positive Gefährlichkeitseinschätzung aus dem Strafvollzug entlassen worden war, mit der gleichen Rückfallrate in Bezug auf schwere Verbrechen delinquent wurde. Das Ergebnis dieses Kontrollgruppenvergleichs – nämlich, dass die Rückfallhäufigkeit der vermeintlich hochgefährlichen Verwahrten nicht über der der regulär Entlassenen liegt – lässt sich überdies mit der allgemeinen Rückfalluntersuchung in Bezug auf schwere Gewalttäter von Stefan Harrendorf stützen.³⁶⁸ Die Studie von Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel aus dem Jahre 2013 befasst sich demgegenüber mit der Legalbewährung von 126 Personen, für die von der Staatsanwaltschaft auf Grundlage ungünstiger Risikoprognosen nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt worden war, die aber aus formalen Gründen (unter anderem, weil die zuständigen Gerichte die angeführten „nova“ nicht als verfahrensrelevant anerkannten) nicht angeordnet wurde.³⁶⁹ Aus dieser Gruppe

    

So etwa Leygraf (2009: S. 484). Siehe hierzu jedoch bereits Fn. 347. Vgl. Kinzig (2008: S. 307). Vgl. Harrendorf (2008: S. 15 f.). Vgl. Alex (2013: S: 102– 173).

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

175

wurden in einem Überprüfungszeitraum von mindestens zwei Jahren nur zwölf Personen (9,52 %) mit schweren Gewalttaten rückfällig.³⁷⁰ Die Ergebnisse dieser Rückfalluntersuchungen erbringen – flankiert durch die Argumente, die sich im Ausgang vom Problem der Basisratenvernachlässigung sowie den allgemeinen Mängeln und Schwierigkeiten der Risikoprognostik führen lassen – das Resultat, dass die auf Gutachten basierte nachträgliche verhängte Sicherungsverwahrung kein geeignetes Instrument ist, um effizient diejenigen Gefangenen herauszufiltern, die tatsächlich ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die Allgemeinheit bergen. Die große Zahl der durch Falschgutachten verursachten falschen Positiven hat zur Folge, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit der Gruppe der entsprechend Verwahrten nicht über der der regulär Entlassenen liegt; man könnte, etwas flapsig gesagt, genauso gut ein Zufalls-Sample nehmen und hätte dasselbe Ergebnis.³⁷¹ Dass sich in der Tat keine Verbesserung der Sicherheitslage durch die Verschärfungen der Sicherungsverwahrung verzeichnen lässt, kann im Übrigen auch durch die Kriminalstatistik belegt werden: So beläuft sich z. B. die Zahl der Sexualmorde an Kindern, von denen immerhin einige spektakuläre Fälle die Verschärfung der Maßregeln allererst ausgelöst hatten, seit knapp 25 Jahren auf durchschnittlich acht Fälle im Jahr, wobei nach Einführung der rückwirkend verlängerten und der nachträglichen Sicherungsverwahrung weder eine Veränderung zum Besseren noch zum Schlechteren eingetreten ist.³⁷² In diesem Kontext merkt Harrendorf jedoch an, dass es sich hierbei möglicherweise von vornherein nicht um den primären Zweck der Maßnahme gehandelt habe – „die Erweiterung des Sicherungsverwahrungsrechts der vergangenen Jahre zielt wohl ohnehin mehr auf das Sicherheitsempfinden der Allgemeinheit und ist in diesem Sinne vor allem symbolisches Strafrecht.“³⁷³

 Vgl. Alex (2013: S. 182).  Vgl. zu dieser Einschätzung etwa Annika Flaig: „Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass es künftig gelingt, gerade die tatsächlich gefährlichen Verurteilten aus der Masse der Inhaftierten herauszufiltern, wird sich ein messbarer Effekt durch die […] Maßregel […] aller Voraussicht nach nicht einstellen“, Flaik (2009: S. 217). Zur selben Kritik siehe unter anderem auch Kinzig (2010: S. 58), Kreuzer (2011: S. 123) und Alex (2013: S. 183).  Vgl. Alex (2013: S. 181).  Harrendorf (2008: S. 16).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

4.1.4 Beurteilung der nachträglichen Sicherungsverwahrung anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie Zwar scheint die Beurteilung der Plausibilität des Gemeinwohlrekurses zur Kritik an der Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für „Neufälle“ angesichts der Ergebnisse aus Kap. 4.1.3 schon vorweggenommen; allerdings ist es der Fragestellung dieser Arbeit angemessen, den Rekurs anhand der in Kap. 3.2 erarbeiteten Checkliste zu analysieren und zu überprüfen, ob sich dieser anhand einer der angeführten substantiellen Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung zurückweisen lässt.³⁷⁴ Erst durch die Analyse der bisherigen Ergebnisse auf der Grundlage meiner Kriteriologie lässt sich klären, ob Letztere überhaupt geeignet ist, um eine plausible Klassifikation und Bewertung von Gemeinwohlrekursen vorzunehmen. Hierbei erweist sich, dass die von der rot-grünen Regierung 2004 eingeführte Maßregel der nachträglichen Sicherungsverwahrung drei der vier Rahmenbedingungen erfüllt: Sie bezieht sich auf einen idealtypischen Sachbereich; sie war das Ergebnis sachbereichsadäquater Entscheidungsverfahren; und sie ist nicht gemeinwohlschädlich, insofern sie keinen SachbereichsGrenzwert verletzt. Allerdings lässt sich zeigen, dass sie gemeinwohlinsignifikant (also nicht maßgeblich gemeinwohldienlich) ist, weil sie keine Verbesserung der Sicherheitslage erzielt.³⁷⁵ Somit muss die Rechtfertigungsstrategie der Befürworter der Wiedereinführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für „Neufälle“ zurückgewiesen werden; Gleiches gilt entsprechend auch für die Übergangsregelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung für Taten vor dem 1.1. 2011 sowie für das Therapieunterbringungsgesetz. Zuallererst ist festzuhalten, dass die von der deutschen Legislative im Jahre 2004 vorgenommene Verschärfung des rechtlichen Sanktionsinstruments der Sicherungsverwahrung mit dem Politikfeld der präventiven Kriminalitätsbekämpfung einen Gemeinwohl-Sachbereich par excellence tangiert – der Ge-

 Zumal der Zweck von Kap. 4.1.4 nicht (primär) darin besteht, die Unzulässigkeit des Gemeinwohlrekurses bei der Rechtfertigung der nachträglichen Sicherungsverwahrung aufzuweisen, sondern exemplarisch die Annahme von substantiellen Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung plausibel zu machen.  Hiervon unabhängig ist natürlich die Frage, inwiefern die entsprechenden Rechtsinstitute zu einer Steigerung der „gefühlten Sicherheit“, also zu einer Verbesserung des kollektiven Sicherheitsempfindens beitragen (vgl. hierzu Jasch 2007). Meines Erachtens ist dieser Aspekt bei der Beurteilung der Plausibilität des Gemeinwohlrekurses jedoch insofern irrelevant, als die Maßregel zur nachträglichen Sicherungsverwahrung von ihren Befürwortern ja damit gerechtfertigt wird, dass sie de facto die innere Sicherheit verbessert und nicht nur den Mitgliedern des Gemeinwesens den – überdies unzutreffenden – Eindruck vermittelt, im höheren Maße vor gravierenden Gewaltdelikten geschützt zu sein.

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

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meinwohlrekurs in dieser Hinsicht also keinesfalls sinnlos ist.³⁷⁶ Der präventive Schutz vor Verbrechen, in diesem Falle vor erheblichen Rückfalltaten, stellt ein idealtypisches Kollektivgut dar, insofern hier weder Konsumptions-Rivalität noch Exklusivität vorliegen. So ist unmittelbar einsichtig, dass die Inanspruchnahme des durch Verwahrung gefährlicher Personen gewährleisteten Schutzes vor Gewaltverbrechen seitens eines Mitglieds nicht zur Folge hat, dass alle übrigen Mitglieder nicht mehr im selben Umfange eines solchen Schutzes teilhaftig werden können. Gleichfalls ist es unmöglich, irgendein Mitglied des Gemeinwesens oder eine Gruppe von der Konsumption dieses Gutes auszuschließen: Die etwaige Verbesserung der Sicherheitslage durch kriminalpräventive Maßnahmen wirkt sich ausnahmslos auf alle Mitglieder aus.³⁷⁷ Was die Frage der Verfahrensangemessenheit anbelangt, war der aggregative Modus der Gemeinwohlbestimmung bzgl. des Sachbereichs der präventiven Kriminalpolitik durchaus adäquat. Die für das aggregative Modell grundlegende Arbeitsteilung zwischen Wählern und Repräsentanten ist dem deliberativen Modell aus drei Gründen überlegen: Erstens betrifft die Frage, ob durch die nachträgliche Sicherungsverwahrung eine Verbesserung der Sicherheitslage zu erzielen ist, alle Mitglieder gleichermaßen; es handelt sich nicht etwa um einen lokalen Konflikt mit einer überschaubaren Anzahl an Kommunikatoren.³⁷⁸ Die sich aus deliberativer Sicht ergebende Anforderung einer gesellschaftsweiten kommunikativen Auseinandersetzung über diese Frage erscheint schon aus logistischen Gründen schwer umsetzbar. In jedem Falle wäre der Prozess eines gleichberechtigten Austauschs von Gründen bezüglich des Sinns einer solchen Reform (unter Absehung von dem Problem, ob sich zu diesem Thema überhaupt ein Konsens erzielen lässt) so langwierig, dass eine zeitnahe Entscheidung nicht zu erwarten sein dürfte. Dieser Umstand erscheint angesichts des drängenden und schwerwiegenden Charakters der Streitfrage – es handelt sich immerhin um die potentielle Gefährdung der Allgemeinheit

 Siehe auch Glaeßner (2001: S. 351).  Allerdings lässt sich dieser Befund nicht für alle sicherheitspolitischen Maßnahmen generalisieren: Zwar ist richtig, dass die Gewährleistung von Sicherheit generell ein nicht-rivalisierendes Gut darstellt, also ein Gut, das durch seine Inanspruchnahme nicht verbraucht wird; in Bezug auf Non-Exklusivität stellt die Kriminalprävention jedoch einen Sonderfall dar. So ist es nämlich z. B. weder physisch unmöglich noch vollkommen unwirtschaftlich, eine Gruppe von Gemeinschaftsmitgliedern vom polizeilichen Schutz vor Gewalttätern auszuschließen – die Novemberpogrome von 1938 im nationalsozialistischen Deutschland, bei denen die Staatspolizei explizite Anweisung der Reichsregierung erhielt, die Zerstörung jüdischer Geschäfte durch SAOrtsgruppen nicht zu unterbinden, liefern hierfür einen eindringlichen Beleg.  Anders liegen die Dinge z. B. bei Fragen der Städteplanung oder des Denkmalschutzes, wie sich in Kap. 4.2 zeigen wird.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

durch schwere Rückfalltäter – hochproblematisch. Demgegenüber ist das von der aggregativen Theorie vorgesehene Verfahren der konkreten Gemeinwohlbestimmung durch die majoritäre Abstimmung einer im Vergleich zur Gesamtbevölkerung kleinen Gruppe gewählter Repräsentanten wesentlich weniger zeitintensiv und erlaubt so eine effizientere Bearbeitung des kriminalpolitischen Problems. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass einem endgültigen Gesetzesbeschluss eine längere Zeit der Beratung und Verhandlung in Ausschüssen mit anschließenden Parlamentsdebatten vorangehen dürfte, ist es plausibel, anzunehmen, dass der zeitliche Aufwand weit unter dem von umfassenden zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen unter Millionen von Bürgern liegen dürfte. Zweitens ist fraglich, ob bei einem Thema wie der Prävention schwerer Gewaltdelikte, insbesondere in Hinblick auf Sexualverbrechen an Kindern, die von der deliberativen Theorie geforderte reflektierte Interessenkonvergenz aller Mitglieder selbst nach einem allseitigen Austausch von Gründen überhaupt erreichbar ist. Der Grund, aus dem die deliberative Entscheidungsregel hier impraktikabel ist, besteht darin, dass diese Streitfrage wie kaum eine andere fundamentale Interessen und Ängste von Gemeinschaftsmitgliedern tangiert, die entsprechend schwer oder gar nicht modifizierbar sein dürften. So ist z. B. kaum denkbar, dass es im Zuge kommunikativer Auseinandersetzungen zwischen Elternvereinigungen und Häftlingsvertretungen zu einem Einvernehmen über die Verwahrpraxis von Sexualstraftätern käme. Die deliberative Entscheidungsregel weist, was diesen Sachbereich anbetrifft, klarerweise zu anspruchsvolle Adäquatheitsbedingungen auf, als dass sie die Entscheidungsfähigkeit des Gemeinwesens und somit die Ausübung der Deutungshoheit über das Gemeinwohl gewährleisten könnte. Im Vergleich hierzu ist die Entscheidungsregel des aggregativen Modells also nicht nur weniger zeitintensiv – sie ermöglicht, eben weil sie nicht auf die (im Zweifelsfalle unmögliche) Überwindung von Dissensen durch Kommunikation abhebt, sondern einfache parlamentarische Mehrheitsentscheide als autoritativ anerkennt, überhaupt erst das Fällen einer Entscheidung.³⁷⁹ Drittens stellt das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung eine juristisch und kriminalwissenschaftlich komplexe Materie dar, deren Verständnis sowohl einen großen informationalen Aufwand als auch eine bestimmte Vorbildung erfordert.³⁸⁰ Es scheint weder rechtfertigbar noch umsetzbar, allen Mitgliedern des

 In diesem Zusammenhang ist insbesondere der bei Parlamentsentscheidungen üblicherweise bestehende Fraktionszwang von besonderer Bedeutung, insofern dieser zur Folge hat, dass einzelne Parlamentarier ihre möglicherweise abweichende Einzelmeinung bei Abstimmungen der Auffassung der Fraktionsführung unterordnen.  Dieser Umstand hat inzwischen selbst unter Experten zu einer gewissen sardonischen Resignation geführt. In einem Interview mit Legal Tribune Online vom 9. 8. 2013 konstatierte etwa

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

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Gemeinwesens eine entsprechende Selbstinformationspflicht aufzubürden, um sich – auch unter Zurückstellung ihrer eigenen Lebensprojekte – kompetent an kommunikativen Auseinandersetzungen zu dieser Frage zu beteiligen. Der deliberative Modus der Gemeinwohlbestimmung hätte in dieser Hinsicht eine unangemessene Belastung der Mitglieder zur Folge. Das aggregative Modell vermeidet dieses Überlastungsproblem, indem es allein den Repräsentanten qua politischen Experten die zeitintensive Pflicht zur Befassung mit den Detailfragen der Sicherungsverwahrung auferlegt und die Beteiligung der Mitglieder am Prozess der Gemeinwohlbestimmung auf die Auswahl allgemeiner politischer Zielbündel durch die Wahl einer entsprechenden Partei reduziert. Nachdem die Plausibilität der Gemeinwohlrechtfertigung in Bezug auf die Rahmenbedingung der Sachbereichs- und Verfahrensadäquatheit bestätigt ist, muss nunmehr geklärt werden, ob sich die entsprechende politische Maßnahme als ungerechtfertigt zurückweisen lässt, weil sie gemeinwohlschädlich ist. Gemeinwohlschädlich kann sie nur dann sein, wenn sie den Grenzwert des entsprechenden Gemeinwohl-Sachbereichs verletzt. Ein solcher Grenzwert lässt sich meines Erachtens in Bezug auf den Bereich der Kriminalprävention einzig über eine maßgebliche Verschlechterung der inneren Sicherheitslage bestimmen. Eine Grenzwertverletzung läge somit vor, wenn die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung das Risiko für Mitglieder des Gemeinwesens, Opfer eines schweren Gewaltdelikts zu werden, erhöht hätte bzw. mit aller Wahrscheinlichkeit in Zukunft erhöhen würde. Die genaue quantitative Bestimmung dieses Grenzwerts (z. B. im Sinne einer exakten prozentualen Wahrscheinlichkeit, mit der ein Gemeinschaftsmitglied Opfer eines Gewaltverbrechens wird), erscheint – zumal von Seiten einer philosophischen Gemeinwohltheorie – indes problematisch bzw. willkürlich. Ob etwa bereits eine 0,0001 % höhere Wahrscheinlichkeit als maßgebliche Verschlechterung der Sicherheitslage zu bewerten ist oder erst eine 0,0005 % höhere Wahrscheinlichkeit, ist eine Frage, die meiner Ansicht nach nur über demokratische Willensbildungsverfahren in Abstimmung mit kriminalwissenschaftlichen Experten zu beantworten ist (siehe hierzu Kap. 3.2.5). Sie muss jedoch an dieser Stelle auch gar nicht beantwortet werden, weil – offenkundig – nichts für die Annahme einer Beeinträchtigung der Sicherheitslage durch die nachträgliche Verwahrungspraxis von als gefährlich eingeschätzten Straftätern spricht.

Kinzig: „Sämtliche Vorschriften im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung sind inzwischen derart komplex, dass sie nur noch für Eingeweihte in glücklichen Stunden verständlich sind.“

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Die genannte Maßregel konfligiert gerade nicht, so lässt sich ergänzend anmerkend, mit dem Wohl des Gemeinwesens als Ganzem, sondern – wie der EGMR herausgestellt hat – mit den legitimen Partikularinteressen einer spezifischen Personengruppe, die sich zusammensetzt aus den Inhaftierten, über die bereits eine nachträgliche Verwahrung verhängt wurde, und den potentiellen Kandidaten, die für eine zukünftige nachträgliche Verwahrung in Frage kommen.³⁸¹ All diesen Personen, denen zur (vermeintlichen) Sicherung der Allgemeinheit das „Sonderopfer“ einer Inhaftierung über die Verbüßung ihrer Schuld hinaus abverlangt wird, kann auf Grundlage des vom EGMR angemahnten Justizgrundrechts ein berechtigtes Interesse an der Wiedererlangung ihrer Freiheit zugesprochen werden bzw. – was die potentiellen Kandidaten für zukünftige nachträgliche Verwahrung anbelangt – ein Interesse daran, nach Verbüßung ihrer Strafe auch mit Gewissheit entlassen zu werden. Die Frage ist nur, ob sich diesem legitimen Partikularinteresse mit dem Argument der Gemeinwohlsicherung ein gewichtiger Gegengrund entgegenhalten lässt. Um diese Frage abschließend zu beantworten, muss geklärt werden, ob sich für die Wiedereinführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für „Neufälle“ (bzw. für die Beibehaltung des Therapieunterbringungsgesetzes und für die entsprechenden Übergangsregelungen) auch unter Bezug auf das letzte substantielle Rahmenkriterium der Signifikanzschwelle argumentieren lässt. In Hinsicht auf diesen letzten Punkt lässt sich zeigen, dass die Gemeinwohlrechtfertigung begründet zurückgewiesen werden kann: Das Rechtsinstitut der nachträglichen Sicherungsverwahrung unterbietet klarerweise die sachbereichsspezifische Signifikanzschwelle der Verbesserung der Sicherheitslage. Das Gesetz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung war 2004 von der Bundesregierung mit der Funktionsbestimmung verabschiedet worden, aus der Gesamtmenge schwerstdelinquenter, aber nicht zur Sicherungsverwahrung verurteilter Strafgefangener diejenigen, die auch nach ihrer Haftverbüßung eine erhebliche Gefahr für andere Personen darstellen, vermittels risikoprognostischer Fachgutachten herauszufiltern und zum Schutz der Allgemeinheit auf unbestimmte Zeit zu inhaftieren. Die Ergebnisse der Untersuchung aus Kap. 4.1.3 haben, insbesondere unter Berücksichtigung der Rückfallstudien von Kinzig und Alex, gezeigt, dass die für die Verwahrpraxis grundlegenden Gutachten eine derart hohe Anzahl falscher Positiver produzieren, dass selbst im besten Falle davon ausgegangen werden kann, dass von 100 als stark rückfallgefährdet eingeschätzten und entsprechend

 Zur Erinnerung: Unter legitimen Partikularinteressen verstehe ich solche Partikularinteressen, die einen Prima-Facie-Rechtfertigungsgrund politischen Handelns (hier: der Freilassung der Inhaftierten) darstellen, vgl. Kap. 1.2.

4.1 Die Kontroverse um die nachträgliche Sicherungsverwahrung

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verwahrten Personen mindestens 90 falsch eingeschätzt sind. Damit liegt – und dieser Punkt ist entscheidend – die Rückfallrate dieser Gruppe jedoch nicht über der Rückfallrate schwerstdelinquenter Gewalttäter insgesamt. Die Zielsetzung des Rechtsinstituts, zur Verbesserung der Sicherheit aus der Gesamtmenge der infrage kommenden Strafgefangenen diejenigen, die weiterhin hochgefährlich sind, herauszufiltern, wird somit nicht erfüllt. Nun ist es jedoch, so die Folgerung, unplausibel, sich zur Rechtfertigung einer kriminalpolitischen Maßnahme auf deren Gemeinwohldienlichkeit zu beziehen, wenn sich überzeugend nachweisen lässt, dass diese Maßnahme ihre kriminalpolitische Funktion überhaupt nicht erfüllt. Wer diese, meiner Ansicht nach intuitiv einleuchtende, Konklusion akzeptiert, muss indes zur Beurteilung der Gemeinwohlrechtfertigung eine entsprechende Signifikanzschwelle bereits vorausgesetzt haben – andernfalls, d. h. wenn man auf die Annahme einer Signifikanzschwelle im Kontext der nachträglichen Sicherungsverwahrung verzichtete, ließe sich eine solche Schlussfolgerung überhaupt nicht ziehen. Anders gesagt: Wenn man zu der Einschätzung gelangt, dass das Rechtsinstitut der nachträglichen Verwahrung aufgrund seiner mangelnden Filterungsfunktion nicht gemeinwohldienlich ist, muss man bereits einen Schwellenwert als Prämisse vorausgesetzt haben, an dem das Rechtsinstitut durch Unterschreitung ebendieser Schwelle scheitern kann. Durch diese Argumentation ist nicht nur die Rechtfertigungsstrategie in Bezug auf das Gemeinwohl zurückgewiesen; es ist gleichsam aufgezeigt worden, dass die Annahme einer Signifikanzschwelle als kritischer Maßstab der Gemeinwohlbestimmung plausibel ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass meine Untersuchung zur Gemeinwohlrechtfertigung der nachträglichen Sicherungsverwahrung drei zentrale Ergebnisse erbracht hat: Erstens lässt sich, was den konkreten Fall anbetrifft, zeigen, dass das Rechtsinstitut nicht als gemeinwohldienlich gerechtfertigt werden kann: Es scheitert an der Signifikanzschwelle der Gemeinwohlbestimmung im Sachbereich der Kriminalprävention. Zweitens kann in Bezug auf die Frage nach der Plausibilität der von mir angeführten Rahmenbedingungen der Gemeinwohlbestimmung festgehalten werden, dass diese eine angemessene Klassifikation und Rekonstruktion der Rechtfertigungspraxis in Bezug auf die Gemeinwohldienlichkeit einer konkreten politischen Handlung erlauben. Anhand der angeführten Kriterien der Sachbereichs- und Verfahrensadäquatheit sowie des Grenzwerts hat sich gezeigt, dass diese eine positive Bestätigung des Rechtfertigungsstatus des entsprechenden Gemeinwohlrekurses aus substantieller Sicht ermöglichen. Drittens hat sich erwiesen, dass die Annahme einer Signifikanzschwelle im Bereich der Kriminalprävention plausibel ist, weil sich andernfalls keine argumentative Grundlage für die These geben ließe, dass die nachträgliche Sicherungsverwah-

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

rung nicht gemeinwohldienlich ist. Dieses Resultat belegt auch die kritische Funktion der von mir vorgeschlagenen substantiellen Rahmenbedingungen.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit Kein Bauprojekt hat, neben dem Bahnhof Stuttgart 21, in den letzten Jahre eine so erbitterte Kontroverse in Deutschland entfacht wie die Errichtung der Waldschlösschenbrücke im Dresdner Elbtal. Anders als der geplante Bahnhof erregte das Projekt jedoch auch internationale Aufmerksamkeit, weil seine Durchführung die UNESCO im Jahre 2009 zu einem in Europa bislang einmaligen Schritt veranlasste – der Aberkennung des Weltkulturerbetitels für die Dresdner Elblandschaft. Dieser Entscheidung war eine langjährige kommunale Auseinandersetzung zwischen Brückengegnern und -befürwortern vorangegangen, in der sich beide Seiten zur Rechtfertigung ihrer Haltung auf das Gemeinwohl beriefen: Während Erstere das Vorhaben unter Landschaftsschutz-Gesichtspunkten als gemeinwohlwidrig kritisierten und seinen Befürwortern eine Politik der Desinformation über den Planungsprozess vorwarfen, betonten Letztere die Verbesserung der Verkehrssituation als entscheidendes Kriterium für die Gemeinwohldienlichkeit des Brückenbaus und beriefen sich auf seine Autorisierung durch die hohe Abstimmungsmehrheit bei einem Bürgerentscheid. Der Dresdner Brückenstreit eignet sich in Hinblick auf die Plausibilisierung meiner Gemeinwohlkriteriologie als Ergänzung zum ersten Fallbeispiel, weil das Gemeinwohl hier nicht herangezogen wurde, um einen anderen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns zu übertrumpfen; die Auseinandersetzung war vielmehr durch einen Widerstreit zweier Ansprüche der Gemeinwohlbestimmung geprägt. Meine Analyse besagt in diesem Kontext erstens, dass diese Konstellation einen Sachbereichskonflikt darstellte, insofern das Bauprojekt zwei gemeinwohlrelevante Politikfelder tangierte und die Verbesserung des Verkehrsnetzes durch eine Grenzwertverletzung auf dem Sektor des Landschaftsschutzes erkauft wurde. Zweitens lässt sich feststellen, dass die hohe Abstimmungsmehrheit für den Brückenbau nicht als Abwägungsgrund gegen diese Grenzwertverletzung angeführt werden kann, weil den Bürgern aufgrund der gravierenden Sachbereichsinadäquatheit der Verfahren, die in das Plebiszit einmündeten, zum Abstimmungszeitpunkt wichtige Kenntnisse über die Auswirkungen des Baus sowie über eventuelle Alternativen fehlten und ihnen im Anschluss eine mögliche Entscheidungsrevision verwehrt blieb. Aufgrund dieser Faktoren lässt sich das Bauprojekt in der Gesamtbetrachtung als gemeinwohlschädlich kritisieren. Im Folgenden werde ich zunächst die Planungsgeschichte der Waldschlösschenbrücke bis zum entscheidenden Referendum im Jahr 2005 skizzieren und im

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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Anschluss die parallel verlaufende, aber fatalerweise nicht mit dem Planungsprozess abgestimmte Dresdner Bewerbung um den Welterbetitel rekonstruieren. Den Abschluss bildet eine Erörterung des Dresdner Brückenstreits angesichts der von der UNESCO im Jahr 2006 konstatierten Unvereinbarkeit von Brückenbau und Welterbe-Status und der sich hieraus ergebenden Problematik der Gemeinwohlbestimmung.³⁸²

4.2.1 Die Planungsgeschichte der Dresdner Waldschlösschenbrücke Bestrebungen, den südelbischen Dresdner Stadtteil Johannstadt mit der nordelbischen Radeberger Vorstadt durch eine Brücke zu verbinden, reichen bis in die Gründerzeit zurück: Im Jahr 1900 beantragte der Johannstädter Bezirksverein den Bau einer Brücke am „Waldschlösschen“, einem zweieinhalb Kilometer flussaufwärts vom Stadtzentrum gelegenen neugotischen Jagdhaus, um eine bessere Verbindung zur Dresdner Heide zu erlangen.³⁸³ Aufgrund „ästhetischer Bedenken“ lehnte der Stadtrat das Ersuchen ab und erwarb das Areal, wie es in der Begründung heißt, zur Bewahrung des „einzigartigen Aussichtspunkts auf die Stadt und ihre Umgebung“.³⁸⁴ In der Folge wurde ein seit 1781 gültiges Bauverbot „für alle Zeit“ verlängert.³⁸⁵ Dieser Beschluss bedeutete allerdings nicht das Ende der Brückenplanung: Bereits in den 1930ern wurden unter NS-Herrschaft Baugrunduntersuchungen an selber Stelle angestellt, das Vorhaben jedoch aufgrund des Kriegsbeginns wieder aufgegeben;³⁸⁶ eine Wiederaufnahme dieser Planungen erfolgte in den 1980ern in der DDR – dieses Mal kamen indes die politischen Umwälzungen der Wiedervereinigung dazwischen.³⁸⁷

 Für ihre Unterstützung bei meiner Recherche danke ich Peter Neumann vom ‚Deutschen Institut für sachunmittelbare Demokratie‘ an der Technischen Universität Dresden und Ralf Weber vom Verein ‚Bürgerbegehren Tunnelalternative am Waldschlößchen‘, die mir bei einem Ortsbesuch im Juli 2011 ihre Perspektiven auf den Brückenstreit darlegten. Eine Begehung der Baustelle der nunmehr vollendeten Waldschlösschenbrücke gab mir darüber hinaus die Gelegenheit zum Gespräch mit zahlreichen Dresdner Bürgerinnen und Bürgern.  Vgl. Lehrstuhl und Institut für Städtebau, RWTH Aachen (2006: S. 59) sowie Zylla (2010: S. 38).  Zitiert nach Zylla (2010: S. 38). Für eine eingehende Diskussion der besonderen Blickbeziehungen zwischen Stadtraum und Elbauen und ihrer Bedeutung für die Kulturlandschaft des Elbtals vgl. Kap. 4.2.2.  Vgl. Lehrstuhl und Institut für Städtebau, RWTH Aachen (2006: S. 13).  Vgl. Dresdner Geschichtsverein e.V. (2008: S. 70).  Diese von Beginn an durch Planungsabbrüche und neuerliche Baubestrebungen geprägte Ereigniskette, die sich bis in die 2000er-Jahre fortsetzen sollte, veranlasste denn auch den

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Die Planung für die Waldschlösschenbrücke, wie sie in ihrer heutigen Form die Elbe überspannt, nahm ihren Ausgang 1994: Anders als die übrigen ostdeutschen Städte verzeichnete Dresden in den Nachwendejahren keinen Einwohnerrückgang, sondern einen steten Anstieg, zugleich nahm die Motorisierung zu, und die Siedlungsstätigkeit begann ins Umland zu expandieren.³⁸⁸ Die hieraus erwachsende Belastung des Verkehrsnetzes, die durch die Sanierungsbedürftigkeit (und der damit langfristig zu erwartenden Sperrung) der zentralen Elbbrücken noch verschärft wurde, bewog die Stadtverwaltung dazu, das Vorhaben einer Elbquerung am Waldschlösschen erneut zu thematisieren. Bestärkt wurde sie dabei maßgeblich von der sächsischen Regierung, die den Bau als Prestigeprojekt ansah. Die geteilte Auffassung der politischen Entscheidungsebenen war, wie Peter Neumann in seiner Analyse des Brückenstreits konstatiert, dass „das Projekt Waldschlösschenbrücke […] für das Gemeinwohl höchst förderlich bzw. geradezu unerlässlich“ sei.³⁸⁹ Entsprechend wurde ein Verkehrskonzept veröffentlicht, in dem die Brücke als alternativlos eingestuft wurde. Um die Mechanismen der nun folgenden Planungsprozesse und vor allem die sich in deren Verlauf ergebenden Konflikte einschätzen zu können, ist ein kurzer Exkurs zur sächsischen Gemeindeordnung und zur Parteienkonstellation auf Landes- und Kommunalebene erforderlich. Im Zuge der Wiedervereinigung hatte das Bundesland Sachsen von Baden-Württemberg die süddeutsche Bürgermeisterverfassung übernommen, welche aufgrund der umfassenden Kompetenzen, die sie dem volksgewählten Leiter der Stadtverwaltung zubilligt, auch als „präsidentielle Kommunalverfassung“ bezeichnet wird:³⁹⁰ Ähnlich wie ein direkt gewählter Präsident auf nationaler Ebene verfügt der Oberbürgermeister nach diesem Modell auf lokaler Ebene über umfassende Exekutivbefugnisse und Widerspruchsrechte gegen den Stadtrat; Letzterer wiederum fungiert als lokale Volksvertretung und höchstes beschließendes Gremium. Diese institutionelle Struktur, die nach ihren Befürwortern den Vorzug hat, den Verwaltungsleiter aus Effizienz- und Kostengründen nicht dem Vertrauen parlamentarischer Mehrheiten aussetzen zu müssen, birgt jedoch nach Einschätzung Wolfgang Rudzios die Gefahr eines „divided government“, bei der „sich eine parteipolitisch veränderte

Dresdner CDU-Kreisvorsitzenden Lars Rohwer 2008 dazu, den Brückenbau enerviert als SisyphusArbeit zu charakterisieren, vgl. http://www.elbtunnel-dresden.de/category/hintergrundinformati on/page/13/.  Vgl. Neumann (2009: S. 381).  Neumann (2009: S. 389). Die Entlastungsfunktion belegte auch ein später vom Dresdner Straßen- und Tiefbauamt in Auftrag gegebenes Gutachten der verkehrswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dresden, vgl. Schnabel (2004).  Vgl. Holtkamp (2008: S. 21).

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

185

Ratsmehrheit über Jahre hinweg einer Verwaltungsspitze anderer Couleur gegenüber sieht“;³⁹¹ „[j]e nach lokaler Konstellation sind dann […] widersprüchliche Entscheidungen, Blockierungen und Überspielen einer Seite denkbar“.³⁹² Verkompliziert wird diese Konstellation noch durch die Möglichkeit kommunaler Initiativreferenden, deren Ergebnisse nach der sächsischen Gemeindeordnung einem Beschluss des Stadtrats gleichstehen und eine Bindungsfrist von drei Jahren haben. Die Einleitungsquoren für diesen Entscheidungstyp wurden 2006 von 15 % auf 5 % gesenkt.³⁹³ Diese institutionellen Konfliktmöglichkeiten spielten zu Beginn der Brückenplanung zunächst noch kaum eine Rolle – einerseits, weil die Potentiale von Plebisziten von Parteien und zivilgesellschaftlichen Netzwerken in den 1990ern erst nach und nach entdeckt wurden, andererseits weil die Machtkonstellationen in der sächsischen Parteienlandschaft auf allen politischen Entscheidungsebenen weitgehend die gleichen waren: Auf Landesebene hatte die CDU unter Kurt Biedenkopf, welcher qua Ministerpräsident auch den Leiter des Dresdner Regierungspräsidiums ernannte, die alleinige Regierungsgewalt inne; den Dresdner Oberbürgermeister stellte ebenfalls die CDU; und im Stadtrat regierte eine – in Belangen der Verkehrsplanung einige – Koalition aus CDU und FDP. Ein Faktor, der jedoch in der Tat starke Auswirkungen auf den Planungsverlauf hatte, war die finanzielle Abhängigkeit Dresdens vom Freistaat Sachsen.³⁹⁴ Letzteres zeigte sich, als kurz nach Veröffentlichung des Verkehrskonzepts der neu ernannte Baubürgermeister Dresdens entgegen der Parteilinie die Lage der Elbquerung wieder zur Debatte stellte:³⁹⁵ Auch an anderen, weniger breiten Stellen der Elbe seien Querungen möglich. Das Wirtschaftsministerium Sachsens beendete die Diskussion jedoch mit dem Verweis darauf, dass eine Förderung exklusiv für die Waldschlösschenbrücke gewehrt würde.³⁹⁶ Ein in diesem Kontext ebenfalls in Auftrag

 Rudzio (2011: S. 354).  Ebd.: S. 365.  Für eine kurze, aber gleichwohl detaillierte Analyse und Diskussion direktdemokratischer Entscheidungsinstrumente in Sachsen siehe Zylla (2010: S. 16 ff.).  Ein Umstand, der nach Rudzios Auffassung übrigens charakteristisch für die faktische Beschränktheit kommunaler Politikgestaltungsautonomie in allen deutschen Städten (und nicht nur in Dresden) ist: Dadurch, dass Bund und Länder bestimmte Projekte bezuschussen, andere hingegen nicht, ergebe sich die Problematik, „dass mit goldenen Zügeln die Prioritätensetzung innerhalb der Gemeinde verzerrt [werde] und kommunalpolitischer Erfolg auch davon abhängig wird, inwieweit man über einen guten Draht nach oben verfügt.“ Rudzio (2011: S. 374).  Vgl. Berthod (2009: S. 14 f.).  Vgl. Zylla (2010: S. 40). Mit welcher Entschlossenheit vor allem die sächsische Landesregierung das Prestigeprojekt Waldschlösschenbrücke gegen alle möglichen Alternativen durchsetzen wollte, zeigt sich nach Olivier Berthods Einschätzung auch daran, dass der dissentierende

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

gegebenes Baugutachten, das anstelle einer Brücke die Machbarkeit einer Untertunnelung der zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht UNESCO-geschützten, aber dennoch unter Naturschutz stehenden Elbwiesen belegte, wurde weder der Öffentlichkeit noch den Stadträten vorgelegt; seine Existenz wurde erst Jahre später zufällig bei einer Bauunterlagen-Anfrage durch eine lokale Bürgerbewegung bekannt.³⁹⁷ Im Jahr 1996 wurde der Standort schließlich vom Stadtrat gegen die Stimmen von PDS, SPD und Grünen, die das Projekt hauptsächlich aus haushaltspolitischen Gründen ablehnten, festgelegt und nach einer einstufigen Ausschreibung das Baukonzept fixiert: eine vierspurige, 636 Meter lange, knapp über 26 Meter hohe Bogenbrücke, die am nördlichen Ufer in einen Tunnel einmünden sollte.³⁹⁸ Da Verkehrsplanung und bautechnische Schwierigkeiten (die vor allem das Problem des passiven Lärmschutzes betrafen) jedoch immer neue Änderungen erforderlich machten, verzögerte sich der Baubeginn wiederholt.³⁹⁹ Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet die zu diesem Zeitpunkt bereits vorangeschrittene Bewerbung um den Weltkulturerbe-Titel des Dresdner Elbtals (Näheres hierzu siehe Kap. 4.2.2) bei den Umplanungen keinerlei Rolle spielte und die UNESCO während des Prozesses nicht konsultiert wurde.⁴⁰⁰ Acht Jahre waren verstrichen, bis das Regierungspräsidium der Stadt 2004 Baurecht erteilte. Im selben Jahr sah sich jedoch nicht nur die CDU auf Landesebene gezwungen, nach den Landtagswahlen erstmals eine große Koalition einzugehen (was der SPD unter anderem die Leitung des Wirtschaftsministeriums einbrachte), auch die Stadtratswahl hatte entscheidende Verluste für CDU und FDP bzw. eine Regierungsmehrheit für eine Koalition aus PDS, SPD und Grünen zur Folge; lediglich das Amt des Oberbürgermeisters wurde auch in den kommenden Jahren stets von Vertretern aus den Reihen von CDU und FDP – und damit von strikten Befürwortern des Waldschlösschen-Brückenbaus – besetzt. Die nunmehr regierende ‚linke‘ Ratskoalition beschloss im Folgenden, das Bauprojekt zu stoppen und die entsprechenden Gelder für die Sanierung von Kindertagesstätten umzuwidmen. Da CDU und FDP ihre gestaltende Mehrheit verloren hatten, Baubürgermeister unmittelbar nach dieser Auseinandersetzung entlassen wurde, vgl. Berthod (2009: S. 15).  Vgl. Dresdner Geschichtsverein e.V. (2008: S. 72).  Eine ingenieurswissenschaftliche Erörterung des Waldschlösschenbrücken-Baus findet sich in Stritzke sowie Stritzke (2009).  Insgesamt 15 größere Umplanungen verzeichnete die Stadtverwaltung in diesem Zeitraum, so dass sich am Ende allein die Planungskosten auf 20 Millionen Euro beliefen (vgl. Berthod 2009: S. 15), ein Umstand, der den ‚Bund deutscher Steuerzahler‘ veranlasste, dem Projekt den ‚Preis‘ für die „Schleuderachse des Jahres 2004“ zu verleihen, siehe Sächsische Zeitung vom 27.9. 2005.  Vgl. von Schorlemer (2006).

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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gründeten sie (zusammen mit dem ADAC und unterstützt von der sächsischen Ingenieurskammer) den Verein ‚Bürgerbegehren Waldschlößchenbrücke‘, um nunmehr auf dem Weg eines Initiativreferendums das Projekt gegen den Ratsbeschluss durchzusetzen. Anfängliche Erwägungen in der Ratskoalition, Widerspruch gegen das Begehren einzulegen – eine Option, die durchaus bestanden hätte –, wurden nicht weiterverfolgt.⁴⁰¹ Die den Unterschriftenlisten für die Initiierung des Referendums beigelegte Frage lautete: „Sind Sie für oder gegen den Bau der Waldschlößchenbrücke? – einschließlich des Verkehrszugs entsprechend der abgebildeten Darstellung.“⁴⁰² Die zweidimensionale Illustration zeigte die Waldschlösschenbrücke aus der Vogelperspektive als eine den schematisch dargestellten Elbfluss vertikal durchschneidende Linie und verzeichnete die umliegenden Verkehrsachsen; auf weitere Hinweise zur Architektonik des Bauwerks wurde völlig verzichtet.⁴⁰³ Nachdem der Verein die erforderlichen Unterschriften beigebracht hatte, wurde der Abstimmungstermin auf den 27. 2. 2005 terminiert. In der folgenden öffentlichen Debatte argumentierten die Brückenbefürworter (neben der bereits angesprochenen Verkehrsentlastung durch den Brückenneubau) vor allem unter Rekurs darauf, dass die vom Land zugesagte Förderung ausschließlich für die Waldschlösschenbrücke zur Verfügung stünde. Dies habe zur Folge, dass sich die Bewohner Dresdens entweder für diese Brücke entscheiden müssten oder langfristig gar keine neue Elbquerung gebaut würde.⁴⁰⁴ Hierbei handelte sich allerdings, wie sich später herausstellen sollte, um eine Falschinformation, weil diese Fördermittel-Beschränkung unter dem inzwischen von der SPD geleiteten Wirtschaftsministerium gar nicht mehr bestand.⁴⁰⁵ Die Brückengegner verwiesen ihrerseits hauptsächlich auf die immensen Baukosten des Projekts und auf die angespannte Haushaltslage Dresdens.

 Vgl. Zylla (2010: S. 50 f.). Die Frage, warum der Rat das Bürgerbegehren (übrigens durchaus deutlich mit 54 Ja-Stimmen, zwei Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen) zuließ und nicht blockierte, ist nicht wirklich geklärt. Ein möglicher Grund, der mir bei Gesprächen im Rahmen meines Dresden-Besuchs im Juli 2011 von verschiedenen Seiten genannt wurde, könnte jedoch gewesen sein, dass darauf vertraut wurde, dass die Bürgerinitiative nicht genügend Unterschriften zur Erreichung des Einleitungsquorums würde sammeln können.  Zitiert nach Zylla (2010: S. 49).  Für eine Abbildung der Originalillustration siehe Berthod (2009: S. 16).  Vgl. die an alle Dresdner Haushalte verteilte Abstimmungsbroschüre ‚Bürgerentscheid Waldschlößchenbrücke 27. 2. 2005‘, (http://www.dresden.de/media/pdf/infoblaetter/waldschloes schen_abstimmungsbroschuere_k.pdf).  Vgl. http://www.waldschloesschenbruecke.de/aktuell/presse5.htm; siehe auch Zylla (2010: S. 52).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Die visuellen Auswirkungen der vierspurigen Bogenbrücke auf den Landschaftsraum des Elbtals, der unterdessen von der UNESCO mit dem Titel eines Weltkulturerbes ausgezeichnet worden war, spielten hingegen in den Auseinandersetzungen bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Den maßgeblichen Grund hierfür sah der Bund Deutscher Architekten (BDA) in einer retrospektiven Stellungnahme im Jahr 2007 darin, dass „die bisher veröffentlichten Ansichten des auffallend plumpen Brückenkörpers das gesamte Ausmaß des zerstörenden Eingriffs nur ansatzweise [hätten] erkennen lassen“ und dass die „Auf- und Abfahrten sowie die drei erforderlichen Tunneleinfahrten das UNESCO-Welterbe in einem weit stärkeren Maße überformen als dies bisher öffentlich dargelegt wurde.“⁴⁰⁶ Dieser Einschätzung schloss sich der Dresdner Architekturpsychologe Peter G. Richter mit dem Hinweis an, dass in den zahlreichen, zunächst von der Stadtverwaltung publizierten Informationen und später von der Bürgerinitiative verteilten Broschüren ein entscheidender Hinweis fehlte: „Nämlich eine Darstellung dazu, wie denn die Brücke aussehen und wie sie sich – aus menschlicher Perspektive betrachtet – in die Elblandschaft einfügen würde“.⁴⁰⁷ Der Bürgerentscheid im Februar 2005 erbrachte schließlich, bei einer Abstimmungsbeteiligung von 50,8 %, eine beeindruckende Mehrheit von 67,92 % (was 34,44 % der Abstimmungsberechtigten entsprach) für den Bau der Waldschlösschenbrücke.⁴⁰⁸ Damit war indes nur die erste Etappe des Brückenstreits abgeschlossen.

4.2.2 Die Bewerbung um den Weltkulturerbe-Titel des Dresdner Elbtals Die Bewerbung der Stadt Dresden um den Status des Elbtals als Weltkulturerbestätte, einem von der UNESCO verliehenen Titel, der einer Landschaft „aus geschichtlichen, ästhetischen, ethnologischen oder anthropologischen Gründen […] außergewöhnliche[n] universelle[n] Wert“⁴⁰⁹ zuspricht und dem verantwortlichen Staat besondere Schutzpflichten auferlegt, begann im Jahr 2000 – also vier Jahre nach dem Start der Waldschlösschenbrücken-Planung. Bereits ein Jahr später war der Antrag, der von den Ämtern für Stadtplanung, Denkmalschutz, Umweltschutz und Wirtschaftsförderung gemeinsam erarbeitet wurde, zwar abgeschlossen; es dauerte aber noch zwei weitere Jahre bis die sächsische Regierung, die der Be-

 Zitiert nach Reichelt (2008: S. 41 f.).  Vgl. Richter (2009).  Vgl. Zylla (2010: S. 53).  So die Begriffsbestimmung der Kategorie der Weltkulturerbestätte in Art. 1 der 1972 von Deutschland ratifizierten Welterbekonvention, http://www.unesco.de/welterbekonvention.html.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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werbung aus Sorge vor wirtschaftspolitischen Restriktionen durch die UNESCO ablehnend gegenüberstand, nach massiven Bürgerprotesten ihren Widerstand aufgab und den Antrag zuließ.⁴¹⁰ Das Antragsgebiet, das sich zwischen Schloss Übigau im Nordwesten und Schloss Pillnitz im Südosten erstreckte, umfasste mit einer Länge von 19,5 Kilometern und einer Fläche von 19,3 Quadratkilometern neben dem historischen Kern Dresdens unter anderem die auf den Flusshängen angelegten, traditionellen Weingärten, eine Reihe von elbnah angesiedelten und im Neo-Renaissance-Stil errichteten Dörfern sowie die unbebauten, nur von Leinpfaden durchzogenen Elbauen.⁴¹¹ Ein Spezifikum des Antrags bestand darin, dass dieser das Elbtal als „Kulturlandschaft“ („cultural landscape“) klassifizierte, um dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, dass das Areal seit Jahrhunderten immer wieder Gegenstand bewusster landschaftsgestalterischer Inszenierungen gewesen war: angefangen von den Bestrebungen Augusts des Starken, die Elbufer durch Errichtung flusszugewandter Prachtbauten zu einem sächsischen ‚canale grande‘ venezianischen Vorbilds zu machen, bis hin zu dem Projekt des Stadtbaurats Paul Wolf im 20. Jahrhundert, das Elbtal durch Einrichtung von Aussichtspavillons und Wanderpfaden zu einem begehbaren „Gesamtkunstwerk“ zu entwickeln.⁴¹² Wesentliches Merkmal der Kategorie der Kulturlandschaft ist nach den Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention, dem klassifikatorischen Leitfaden der UNESCO, dass die entsprechenden Landschaften „illustrative of the evolution of human society and settlement over time“⁴¹³ sind und eine einzigartige, sich in der Gegenwart fortentwickelnde Interaktionsbeziehung zwischen Mensch und Natur repräsentieren.⁴¹⁴ Der Umstand, dass die kontinuierliche Um- und Neugestaltung des Landschaftsraumes durch den

 Vgl. von Schorlemer (2009: S. 340).  Vgl. State Party of Germany (2003: S. 3); für eine Übersichtskarte des Antragsgebiets siehe ebd., S. 121 ff.  Vgl. Lehrstuhl und Institut für Städtebau, RWTH Aachen (2006: S. 13).  Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention, UN Doc. WHC.08/01, January (2008: S. 1).  Ob die von der UNESCO in diesem Kontext vertretene Auffassung, wonach eine klare Trennung zwischen Kulturlandschaften, die durch Interaktionsbeziehungen mit dem Menschen geprägt sind, und Naturlandschaften, die von menschlicher Beeinflussung ‚unberührt‘ geblieben sind, plausibel ist, ist allerdings umstritten: Befunde der Ur- und Frühgeschichte und der Ethnologie legen nahe, dass die Beschaffenheit nahezu aller bestehenden Landschaftsformen bis zu einem gewissen Grade Ergebnis menschlicher Intervention (sei es durch Rodung, Beweidung oder Landwirtschaft) ist. Auf diesen Punkt werde ich hier allerdings nicht weiter eingehen, vgl. zu dem Thema jedoch Philips (1995).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Menschen per definitionem ein essentielles Charakteristikum der Kulturlandschaft ist, stellt die UNESCO in ihrer Schutzfunktion jedoch vor eine besondere Herausforderung: Sie darf einerseits in Bezug auf das Areal keine, wie Harald Plachter und Mechthild Rössler pointiert schreiben, „museum-like attitude“ einnehmen und kategorisch jede Form baulicher Neuerung unterbinden; andererseits muss sie intervenieren, wenn der einzigartige Wert der Landschaft durch Veränderung bedroht wird.⁴¹⁵ Der einzigartige Wert des Elbtals bestand nach Auffassung der Antragsteller – der sich später auch die Gutachter der UNESCO anschlossen – in einer Kombination aus der historischen Bebauung des Areals (die von der Renaissance bis zur späten Gründerzeit eine Reihe bedeutender Epochen abdeckt), dem Bestand an geschützten Biotopen (wie der Pillnitzer Elbinsel) und den besonderen Landschaftspanoramen und Blickbeziehungen zwischen dem Dresdner Stadtraum und den umliegenden Auen.⁴¹⁶ Die kulturhistorische Bedeutung des letztgenannten Kriteriums, das in der Eskalation des Brückenstreits nach dem Referendum von 2005 die entscheidende Rolle spielen sollte, betonten die Antragsteller – neben dem Hinweis auf die erwähnte landschaftsgestalterische Inszenierung – mit Rekurs auf die jahrhundertelange Sicherung der Elbpanoramen durch restriktive Bauvorschriften: „The preservation of the vistas to and from the city and the fact that the Elbe river meadows were kept free and not built upon werde due to far-sighted rules of town planning.“⁴¹⁷ Darüber hinaus argumentierte der Antrag mit der kunstgeschichtlichen Relevanz der Blickbeziehungen zwischen Stadtraum und Elbauen: So hatten seit dem 16. Jahrhundert bedeutende Künstler, etwa der venezianische Maler Bernado Bellotto, aber auch zeitgenössische Landschaftsfotografen, die Elbpanoramen immer wieder auf Bildern verewigt und dadurch über die Staatsgrenzen hinaus bekannt gemacht.⁴¹⁸ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Welterbe-Bewerbung die Einschätzung zugrunde lag, dass die Nutzung und Bewahrung spezifischer Ausblicksmöglichkeiten innerhalb des Elbtals eine be-

 Vgl. Plachter & Rössler (1995: S. 16).  Vgl. State Party of Germany (2003: S. 4) sowie ICOMOS (2004: S. 85).  State Party of Germany (2003: S. 3). Zu diesen Vorschriften zählte neben dem Bebauungsverbot der Elbwiesen (siehe Kap. 4.2.1) auch ein seit dem 19. Jahrhundert geltendes Verbot der Ansiedelung von Unternehmen mit Dampfkesselanlagen und hohen Schornsteinen im Elbbereich (vgl. ebd.: S. 16).  Vgl. ebd.: S. 110.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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währte und bis in die Gegenwart fortgeführte kulturelle Praxis darstellten, die durch künstlerische Rezeption internationale Beachtung erfahren hatte.⁴¹⁹ Ungeachtet der detaillierten Argumentation für die Titel-Würdigkeit des Dresdner Elbtals, die die 150 Seiten umfassende Bewerbung enthielt, fehlte eine entscheidende Information: der Hinweis auf die fortgeschrittene Planung einer vierspurigen Brücke am Waldschlösschen mitten im Antragsgebiet. Im Antragsdokument war vielmehr zu lesen, dass „no traffic arteries are planned in this area“,⁴²⁰ eine Feststellung, die wenige Seiten später noch einmal wiederholt wurde.⁴²¹ Wie es zu dieser schwerwiegenden Fehlinformation kam, ist umstritten. Fest steht jedoch, dass diese auch im Verlauf der Evaluierung durch eine im September 2003 im UNESCO-Auftrag entsandten Expertenkommission, die neben einer Ortsbegehung Konsultationen mit Regierungsverantwortlichen durchführte und hierbei die Titel-Würdigkeit des Elbtals bestätigte, nicht behoben wurde: Zwar konstatierte der Evaluierungsbericht des beauftragten ‚International Council on Monuments and Sites‘ (ICOMOS), dass im Dresdner Elbtal eine weitere Brücke geplant sei; deren Standort wurde jedoch fälschlicherweise nicht zweieinhalb Kilometer flussaufwärts vom Stadtzentrum (also am Waldschlösschen), sondern fünf Kilometer flussabwärts außerhalb der Schutzzone angegeben.⁴²² Überdies wurde der Entwurf als urbaner Brückenbau, der sich behutsam und zurückhaltend in die Landschaft einfüge, beschrieben – eine Charakterisierung, wie sie für die über 26 Meter hohe und damit alle zentralen Elbbrücken überragende Waldschlösschenbrücke nicht unzutreffender hätte sein können.⁴²³ Unbesehen der bis heute nicht geklärten Streitfrage, wer letzten Endes für diese Ortsangabe die Hauptverantwortung trug,⁴²⁴ ließ die Stadt Dresden in der Folge eine letzte offizielle Gelegenheit verstreichen, den Fehler zu korrigieren – und zwar, als ihr nach Beendigung der ICOMOS-Mission die Evaluierung zur Einsichtnahme vorgelegt

 Für einen Überblick zur kunsthistorischen Rezeptionsgeschichte des Elbtals vgl. Lehrstuhl und Institut für Städtebau, RWTH Aachen (2006: S. 45 – 54).  State Party of Germany (2003: S. 86).  Vgl. ebd.: S. 96.  Vgl. ICOMOS (2004, S. 87).  Vgl. Zylla (2010: S. 54).  Im Jahr 2007 bezog der damalige Leiter der Expertenkommission Jukka Jokilehto zu der unterdessen bekannt gewordenen falschen Verortung der Waldschlösschenbrücke Stellung und gab an, dass er zwar über das Projekt unterrichtet worden sei, ihm „[d]etaillierte Planungsunterlagen aus dem Planfeststellungsverfahren […] damals jedoch nicht vorgelegt“ wurden; Jokilehto (2007: S. 169). Dieser Darstellung widersprachen in der Folge wiederholt Vertreter des Dresdner Regierungspräsidiums: Man habe die ICOMOS-Vertreter durchaus und umfassend über die Baupläne unterrichtet, vgl. von Schorlemer (2009: S. 373).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

wurde. Da keine Beanstandung erfolgte, war die Nominierung damit auf den Weg gebracht. Die gravierende Folge dieser Fehlinformation war offenkundig, dass die UNESCO keine Möglichkeit hatte, zu beurteilen, ob der Brückenbau einen Eingriff in die Landschaftsstruktur darstellte, der deren einzigartigen Wert schädigen und damit außerhalb des für eine Kulturlandschaft zulässigen Umgestaltungsspielraums liegen würde. Entsprechend war es ihr auch unmöglich, Anforderungen an eine Korrektur des Bauvorhabens zu stellen oder gar dessen Abbruch einzufordern. In Unkenntnis dieser Probleme verlieh die UNESCO dem Elbtal den Titel eines Weltkulturerbes und vereinbarte mit der Stadt Dresden und der Staatsregierung ein System von Supervisionsvereinbarungen zum Schutz des Landschaftsraums. Letztere umfassten neben der Anforderung an die Stadtverwaltung, Berichte über geplante Baumaßnahmen im Areal durchzuführen, auch das sogenannte „Preventive Monitoring“, das die UNESCO autorisierte, den Erhaltungszustand der Welterbestätte turnusmäßig durch Entsendung von Experten zu überwachen.⁴²⁵ Die Urkunde wurde im Juni 2004 vom Direktor des Welterbezentrums in Dresden überreicht – wenige Monate, nachdem das Regierungspräsidium der Stadt Baurecht für die Brücke erteilt hatte, und wenige Monate, bevor das Referendum den Bau gegen den Beschluss des Stadtrats erzwang.

4.2.3 Die Eskalation des Dresdner Brückenstreits Ihre erste Kritik am geplanten Brückenbau äußerte die UNESCO im November 2005: Sie sei von einer dritten Partei darauf aufmerksam gemacht worden, dass innerhalb des Welterbegebiets ein Verkehrszug geplant sei; dieser sei jedoch weder in den Antrags- oder Evaluierungsunterlagen verzeichnet noch habe die Stadt ihren Verpflichtungen entsprochen, diese Information nach der Titelverleihung mitzuteilen.⁴²⁶ Entscheidend ist, dass die UNESCO zu diesem Zeitpunkt

 Für einen Überblick vgl. Ringbeck (2009).  Bei dem Informanten handelte es sich um den Medizin-Nobelpreisträger Günter Blobel, der bei einem Treffen mit dem Direktor der Welterbekommission Bedenken wegen des Brückenbaus angemeldet hatte, vgl. Zylla (2010: S. 54). Eine Einschätzung, die mir bei Gesprächen mit Dresdner Bürgern am Rande einer Ortsbegehung im Juli 2011 immer wieder mitgeteilt wurde, besagt, dass es niemals zum Konflikt zwischen der Stadt Dresden und der UNESCO über die Waldschlösschenbrücke gekommen wäre, wenn Blobel nur nicht bei der UNESCO „gepetzt“ hätte. Diese Auffassung ist natürlich insofern unhaltbar, als die Vereinbarungen zwischen der UNESCO und Dresden eine regelmäßige Kontrolle der Welterbestätte durch Experten vorsieht (siehe Kap. 4.2.2). Salopp gesagt: Auch ohne die Intervention Blobels wäre der UNESCO irgendwann im Rahmen einer Routine-

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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noch keine Unvereinbarkeit des Brückenbaus mit dem Welterbetitel des Elbtals konstatierte, sondern lediglich einen vorläufigen Baustopp und die Erstellung eines unabhängigen Gutachtens forderte, um zu klären, ob das Projekt den Wert des Elbtals beeinträchtigen würde. Diese Mitteilung setzte eine Kette wechselseitiger Schuldzuweisungen in Gang,⁴²⁷ an deren Ende jedoch ein Einlenken auf Dresdner Seite stand: Stadtverwaltung und Stadtrat verständigten sich auf eine Aufschiebung des Baubeginns und gaben der UNESCO das Einverständnis, das Institut für Städtebau der Technischen Universität Aachen mit einer Untersuchung zu beauftragen. Da die Errichtung der Brücke weder den Abriss historischer Monumente noch einen baulichen Eingriff in ein geschütztes Biotop wie die Elbinsel vorsah, konzentrierten sich die Gutachter in ihrer dreimonatigen Studie ausschließlich auf das dritte Qualitätsmerkmal der Kulturlandschaft – die spezifischen Blickbeziehungen zwischen Elbauen und historischem Stadtkern bzw. die sich hierbei ergebenden Panoramen. Entsprechend war die Zielsetzung des Gutachtens formuliert, nämlich zu klären, „ob und in welchem Ausmaß der ‚Verkehrszug Waldschlösschenbrücke‘ die visuelle Integrität des Schutzgutes ‚Dresdner Elbtal‘ beeinträchtigt“.⁴²⁸ Zu diesem Zweck stellten die Gutachter eine sogenannte „Sichtfelduntersuchung“ an, der die Entwicklung eines digitalen, dreidimensionalen Modells der gegenwärtigen Topographie des Elbbogens zwischen Johannstadt und Radeberger Vorstadt sowie eine Projektion der geplanten Brücke zugrunde lagen. Die Überlagerung beider Komponenten erlaubte, so die Gutachter, exakt zu bestimmen, ob der Brückenkörper bislang bestehende Blickbeziehungen innerhalb des Elbtals stören oder gar vollständig blockieren würde.⁴²⁹ Das Urteil der Aachener Experten fiel verheerend aus: Nicht nur verstelle der projektierte Bau zahlreiche Panoramablicke von eigens angelegten und historisch bedeutsamen Aussichtspunkten innerhalb des Elbtals und entwerte diese damit; dadurch, dass die Brücke genau im Scheitelpunkt des Elbbogens situiert sei,

Kontrolle aufgefallen, dass mitten im Welterbe-Gebiet und entgegen den vorliegenden Informationen eine Brücke gebaut wird.  Siehe Fn. 424.  Lehrstuhl und Institut für Städtebau, RWTH Aachen (2006: S. 5).  Auf eine weitere Darlegung der komplexen technischen Details der Sichtfelduntersuchung verzichte ich an dieser Stelle, vgl. jedoch ebd.: S. 85 – 96. Bemerkenswert ist, dass in der Modellierung auf eine Rekonstruktion der Materialität der Brücke verzichtet wurde, „da ausdrücklich nicht die gestalterischen Eigenschaften des Bauwerks, sondern vielmehr die geplanten Bauvolumina im Landschaftsraum bewertet werden sollen.“ (Ebd.: S. 89). Es war den Gutachtern also in der Tat nicht um eine ästhetische Bewertung der Waldschlösschenbrücke selbst zu tun, sondern ausschließlich um deren mögliche Beeinträchtigung bestehender Panoramablicke durch deren Blockierung.

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zerschneide sie überdies „den zusammenhängenden Landschaftsraum […] an der empfindlichsten Stelle […] irreduzibel in zwei Hälften“.⁴³⁰ Das Ergebnis wäre „eine Separierung in zwei annähernd gleichgroße Landschaftsräume, deren visuelle Addition nicht mehr möglich wäre.“⁴³¹ Die Kontinuität der visuellen Wahrnehmung der Landschaft – etwa bei einem Spaziergang entlang der Leinpfade durch die Elbauen oder bei einer Dampferfahrt über den Fluss – ginge dergestalt verloren, was wiederum eine gravierende Schädigung der einzigartigen Qualität der Welterbestätte bedeuten würde. Erwartungsgemäß reagierte die UNESCO auf das Gutachten, indem sie das Elbtal im Juli 2006 auf die sogenannte ‚Rote Liste‘ bedrohter Welterbestätten setzte und eine Alternativlösung zu dem Verkehrszug einforderte, die mit der Bewahrung der Integrität des Landschaftsraumes vereinbar sei. In seinem Kommuniqué machte das Welterbekomitee unmissverständlich klar, dass eine Fortführung des Bauvorhabens in jedem Falle einen Entzug des Welterbetitels nach sich ziehen würde.⁴³² Diese Entscheidung führte zu einer Revitalisierung des Brückenstreits: Brückengegner aus den Reihen der sächsischen Naturschutzverbände, lokale Bürgerbewegungen und Mitglieder der SPD, PDS und der Grünen organisierten in den folgenden Monaten gemeinsame Proteste am Waldschlösschen und in der Dresdner Innenstadt. Geteilte Auffassung der Demonstranten war, wie eine Sprecherin der Bürgerinitiative ‚Welterbebewegung‘ konstatierte, dass verkehrsplanerische Erwägungen nicht „die Oberhand […] über Gemeinwohl und Umweltschutz“ gewinnen dürften und dass den Anforderungen der UNESCO entsprochen werden müsse.⁴³³ Darüber hinaus seien die Dresdner durch bewusste Fehlinformation und Vorenthaltung von Informationen über die visuellen Auswirkungen der Brücke auf das Elbtal manipuliert worden, weswegen das Referendum von 2005 illegitim sei. Eine ähnlich gelagerte Argumentation über die Gemeinwohlwidrigkeit des Brückenbaus vertrat auf landespolitischer Ebene die Grünen-Abgeordnete Antje Hermenau, die das Elbtal als ein herausragendes „öffentliches Gut“, welches „Träger von Werten und Bedeutungen“ sei, bezeichnete und daraus seine besondere Schutzwürdigkeit gegenüber verkehrspolitischen Entscheidungen ableitete.⁴³⁴ Dem hielten Mitglieder des Vereins ‚Bürger-

 Ebd.: S. 111.  Ebd.: S. 112.  Vgl. UNESCO, World Heritage Committee, Thirtieth session, Vilnius, Lithuania, 8 – 16 July 2006, World Heritage 30 COM, WHC-06/30.COM/19, Paris, 23 August 2006, Decision 30 COM 7B.77, § 3 – 5.  Vgl. Sächsische Zeitung vom 19. 3. 2007.  Vgl. Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 4/55, 19. Juli 2006, S. 4420.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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begehren Waldschlößchenbrücke‘ und Repräsentanten von CDU und FDP entgegen, dass der Bau aufgrund seiner Entlastungsfunktion für das Verkehrsnetz durchaus gemeinwohldienlich und durch einen Volksentscheid, der den Willen der Allgemeinheit repräsentiere, autorisiert sei; überdies sei die UNESCO keine demokratisch legitimierte Institution und interveniere willkürlich in die Planungshoheit der Stadt Dresden.⁴³⁵ Rückendeckung erhielten die Befürworter vom Regierungspräsidium, das den Bau auch unter Inkaufnahme des Titel-Verlusts umzusetzen gewillt war.⁴³⁶ Obgleich einig in ihrer Ablehnung des Bauprojekts, war die Gruppe der Brückengegner zunächst gespalten in der Frage, welche politischen und rechtlichen Konsequenzen aus der UNESCO-Entscheidung zu ziehen seien: Vertreter von PDS und SPD optierten dafür, den Volksentscheid von 2005 mit gleicher Fragestellung zu wiederholen, um den Bürgern die Gelegenheit zu geben, in voller Kenntnis aller entscheidungsrelevanten Informationen über den Bau abzustimmen und eine Abwägung zwischen dem Kulturgut der Elblandschaft und der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur zu treffen.⁴³⁷ Zivilgesellschaftliche Netzwerke wie die ‚Welterbebewegung‘ und die Bürgerinitiative ‚VerkehrsFluss‘ hingegen standen jeder Entscheidungsoption, die einen Verlust des Welterbestatus nach sich ziehen konnte, ablehnend gegenüber. Sie vertraten – ausgehend von der unterdessen bekannt gewordenen, aber seinerzeit nicht öffentlich gemachten Option einer Elb-Untertunnelung (siehe Kap. 4.2.1) – die Position, statt einer Brücke eine unterirdische Querung am Waldschlösschen zu bauen, um so Verkehrsinfrastruktur- und Landschaftsschutzbelange zu integrieren; eine Position, die sie auch an die UNESCO kommunizierten.⁴³⁸ Umweltverbände wie der ‚Bund für Umwelt und Naturschutz Sachsen‘ (BUND) und der ‚Naturschutzbund Sachsen‘ (NABU), denen auch Abgeordnete der Grünen nahestanden, lehnten aus Landschaftsschutzgründen jede Elbquerung, also sowohl Brücke als auch Tunnel, ab. Eine politische Umsetzung irgendeiner dieser Optionen erwies sich – auch unter Absehung von der Uneinigkeit der Brückengegner – angesichts der Rechtslage der Gemeindeordnung jedoch als unmöglich: Da der Bürgerentscheid von 2005 einem Stadtratsbeschluss gleichstand (siehe Kap. 4.2.1) und innerhalb der dreijährigen Bindungsfrist weder durch ein neues Initiativreferendum seitens einer Bürgerbewegung noch durch einen Ratsbeschluss (für den die Brückengegner ja durchaus eine einfache Mehrheit besessen hätten) aufgehoben werden konnte, verblieb als einzige Möglichkeit zur Herbeiführung einer erneuten Ent   

Vgl. von Schorlemer (2009: S. 327). Vgl. ebd.: S. 344. Vgl. Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 4/55: S. 4425; S. 4434. Vgl. Zylla (2010: S. 62).

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scheidung über den Brückenbau ein Ratsbegehren, d. h. ein vom Stadtrat angesetztes Referendum.⁴³⁹ Da für ein solches Verfahren jedoch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich war, konnte die CDU/FDP-Fraktion derartige Bestrebungen blockieren. Entsprechende Versuche, wie etwa die von PDS und SPD, mit Unterstützung der ‚Wählervereinigung freie Bürger Dresden‘ gleichwohl eine Wiederholung des ursprünglichen Referendums zu initiieren, scheiterten somit nicht nur an der Uneinigkeit der Brückengegner – sondern auch und maßgeblich an der Sperrminorität der Brückenbefürworter, die die Auffassung vertraten, dass man nicht so oft abstimmen könne, „bis einem das Ergebnis passe“.⁴⁴⁰ Da alle Wege zu einer politischen Neuentscheidung zumindest innerhalb der Bindungsfrist des Referendums verbaut waren, verhängte die Linksfraktion von SPD und Grünen mit ihrer Ratsmehrheit zunächst ein Moratorium über den Baubeginn. Der folgende Widerspruch seitens des Oberbürgermeisters und des Regierungspräsidiums setzte eine Kette von Gerichtsprozessen in Gang, die insofern erörternswert sind, als sich in deren Verlauf – dieses Mal von gerichtlicher Seite angeregt – neue Möglichkeiten zur Beilegung des Brückenstreits ergaben.⁴⁴¹ Während die Gegner der Brücke vor Gericht argumentierten, dass das Referendum von 2005 de facto völkerrechtswidrig gewesen sei, weil es in Widerspruch zur von Deutschland ratifizierten Welterbekonvention gestanden habe, beharrten deren Befürworter darauf, dass die Konvention seinerzeit nicht durch ein Vertragsgesetz in nationales Recht überführt worden sei und der Bürgerentscheid entsprechend Vorrang habe.⁴⁴² Nachdem das Dresdner Verwaltungsgericht dem Stadtrat in erster Instanz Recht gegeben hatte, traf das Sächsische Oberverwaltungsgericht, bei dem das Regierungspräsidium Berufung eingelegt hatte, eine aus juristischer Sicht ungewöhnliche Entscheidung:⁴⁴³ Da eine rechtlich befriedigende Lösung des Konflikts unmöglich sei, ordnete das Gericht ein außergerichtliches und zeitlich unbefristetes Mediationsverfahren an, an dem sich Vertreter des Rats, der Stadt-

 Vgl. Neumann (2009: S. 385).  Vgl. Zylla (2010: S. 55).  Parallel dazu reichten sächsischen Naturschutzverbände unter Berufung auf den Artenschutz elbnah lebender Tierarten ebenfalls Klagen gegen die Errichtung der Waldschlösschenbrücke ein. Diese führten im Folgenden zwar zu einer Reihe kleinerer, gerichtlich angeordneter Modifikationen am Baukonzept und damit einhergehender Verzögerungen; da sie darüber hinaus jedoch keine weiteren Auswirkungen auf das Projekt hatten, werde ich auf diesen Aspekt des Brückenstreits nicht weiter eingehen, vgl. jedoch Zylla (2010: S. 59 ff.) und Neumann (2009: S. 386 f.).  Die entsprechende Rechtslage ist bis heute auch unter juristischen Experten stark umstritten und überdies so hochkomplex, dass ich sie hier nicht weiter vertiefen werde. Für einen guten Überblick siehe Reichelt (2008) sowie Kotzur (2011).  Vgl. Zylla (2010: S. 58) sowie von Schorlemer (2006: S. 114 f., 2009: S. 351 ff.).

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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verwaltung, des Regierungspräsidiums und der UNESCO zur Findung einer einvernehmlichen Lösung beteiligen sollten; als Moderatoren war ein Experten-Komitee von Stadtplanern, Urbanistik-Forschern und Architekten unter Leitung der Vorsitzenden der deutschen Kultusministerkonferenz, Brigitta Ringbeck, die zugleich Deutschlands Vertreterin bei der UNESCO war, vorgesehen. Dass das Verfahren zumindest in seiner Funktionsbestimmung große Ähnlichkeit zu einem deliberativen Forum (siehe Kap. 3.2.4) aufwies, zeigt die Anordnung des Oberverwaltungsgerichts: [V]on diesem Verfahren [müsse] das deutliche Signal ausgehen […], dass die Landeshauptstadt Sachsen, der Freistaat Sachsen und die UNESCO willens und in der Lage seien, diesen Konflikt unter Berücksichtigung der jeweiligen Belange und Interessen des Anderen einvernehmlich zu lösen.⁴⁴⁴

Ziel der Mediation sei es, „die unterschiedlichen und bislang gegenläufigen Interessen der Beteiligten in Einklang zu bringen.“⁴⁴⁵ Die zunächst für Dezember 2006 und Januar 2007 terminierten Vermittlungssitzungen wurden jedoch von mehreren Seiten boykottiert und unterminiert: Während das Regierungspräsidium lediglich einen ‚stillen Beobachter‘ ohne Verhandlungsmandat entsandte und damit nach Sabine von Schorlemers Einschätzung, „its intention to only accept planning modifications on the basis of the pre-existent planning decision“ Ausdruck gab,⁴⁴⁶ negierte das Experten-Komitee explizit seinen Moderationsauftrag. Wie aus ihrer abschließenden Stellungnahme hervorgeht, verstanden sich seine Mitglieder als Sachverständigengruppe, der nicht die Aufgabe zukomme, eine Einigung zwischen den Konfliktparteien herbeizuführen, sondern ausschließlich eine eigenständige Beurteilung der Argumente für und wider den Bau eines Verkehrszuges am Waldschlösschen vorzunehmen.⁴⁴⁷ Diese lief auf die Einschätzung hinaus, dass eine Elbquerung gleich welcher Art – also sowohl eine Brücke als auch ein Tunnel – „in Hinblick auf die Nichtwiederherstellbarkeit freiräumlicher und stadtinszenatorischer Qualitäten“ dort unvertretbar sei.⁴⁴⁸

 Sächsisches OVG, Nichtöffentlicher Erörterungstermin des 4. Senats, Verwaltungsrechtssache Landeshauptstadt Dresden gegen Freistaat Sachsen, Az: 4 BS 216/06, S. 2 (http://archiv.welter be-erhalten.de/pdf/061– 110_ovg.pdf).  Ebd.  Von Schorlemer (2009: S. 351).  Entsprechend besagt die Stellungnahme des Komitees, das von ihm gewählte Verfahren entspreche „nicht einer Mediation im engeren Sinne, d. h. einer Zusammenführung und eines Austauschs der verschiedenen Verfahrensbeteiligten.“ Mediationsverfahren Dresdner Waldschlößchenbrücke. Ergebnis Sachverständigengruppe 24.1. 2007, S. 6.  Ebd.: S. 5.

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Nachdem eine Einigung unter diesen Bedingungen erwartungsgemäß nicht erreicht worden war, beantragte das Regierungspräsidium die Wiederaufnahme des Verfahrens. Die nun folgenden rechtlichen Auseinandersetzungen führten die Konfliktparteien durch mehrere Instanzen bis vor das Bundesverfassungsgericht, das schließlich die Rechtmäßigkeit des Bürgerentscheids bestätigte und damit den Weg für Stadtverwaltung und Regierungspräsidium freimachte, Ende 2007 und entgegen dem Willen der Ratsmehrheit den Brückenbau durchzuführen.⁴⁴⁹ Die nun beginnenden Bauarbeiten wurden – im Zuge einer zunehmenden Eskalation des Brückenstreits – von vehementen, teils gewalttätigen Protestaktionen begleitet, die von Besetzungen des Waldschlösschen-Areals über Drohbriefe an CDUund FDP-Politiker bis hin zu einem Säureanschlag auf die Baustelle reichten.⁴⁵⁰ Obwohl die Bestrebungen, den Brückenbau auf dem Rechtsweg zu verhindern, gescheitert waren, war über die Prozessdauer jedoch auch die Bindungsfrist des ursprünglichen Referendums fast ausgelaufen. Im Lichte dieser Tatsache entschlossen sich die verschiedenen Fraktionen der Brückengegner ihre Differenzen beizulegen und ein neues Initiativreferendum zu initiieren, um darüber abstimmen zu lassen, ob anstelle der Waldschlösschenbrücke ein Tunnel an derselben Stelle gebaut werden solle. Zu diesem Zweck wurde der Verein „Bürgerbegehren Tunnelalternative am Waldschlößchen“ gegründet.⁴⁵¹ Für das Einschwenken der verschiedenen Fraktionen auf die Linie der ‚Welterbebewegung‘ und der Bürgerinitiative ‚VerkehrsFluss‘ dürften zwei Gründe ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen belegten Umfragen, wie etwa durch das Marktforschungsinstitut Leipzig, dass eine Tunnellösung unter den Dresdner Bürgern durchaus Zustimmungspotential besaß, aber nur eine geringe Minderheit bereit war, gänzlich auf eine neue Elbquerung zu verzichten.⁴⁵² Entsprechend hätten die Naturschutzverbände, wenn sie weiterhin dafür eingetreten wären, weder eine Brücke noch einen Tunnel zu bauen, politisch ‚auf verlorenem Posten‘ gestanden; sie wählten die Tunnelalternative aufgrund ihrer geringeren Beeinträchtigung des Landschaftsraums also als das kleinere Übel. Zum anderen signalisierte die UNESCO, dass sie bereit sei, eine Elb-Untertunnelung als Kompromisslösung zu akzeptieren und in diesem Falle auf die Aberkennung des

 Vgl. Zylla (2010: S. 58 f.).  Vgl. Sächsische Zeitung vom 8. 2. 2008.  Vgl. Zylla (2010: S. 63).  Vgl. MDR-„artour“ vom 31. August 2006. Diese Ergebnisse wurden im August 2008 durch eine repräsentative Telefonumfrage seitens des Instituts für Soziologie der Technischen Universität Dresden weitgehend bestätigt, vgl. Technische Universität Dresden, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie: Neue Telefonumfrage zur Elbquerung vom 21. August 2008.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

199

Welterbe-Titels zu verzichten.⁴⁵³ Abgesehen von den Einfahrtsrampen habe der Tunnel almost no visual impact on the Elbe Valley cultural landscape […], and would also eliminate noise pollution, while providing the citizens of Dresden with the transport infrastructure they need.⁴⁵⁴

Kritiker aus den Reihen der Brückenbefürworter zogen vor allem die bauliche Umsetzbarkeit einer Elb-Untertunnelung in Frage;⁴⁵⁵ selbst wenn jedoch ein Tunnel am Waldschlösschen ingenieurstechnisch nicht unmöglich sei – wurde weiter argumentiert – ,würde er in jedem Falle um ein Vielfaches teurer als die geplante Brücke und sei daher schlicht unwirtschaftlich.⁴⁵⁶ Zuletzt wurde darauf verwiesen, dass die Bauarbeiten für die Brücke bereits im Gange seien und dass die entsprechenden Investitionen im Falle eines Tunnelbaus vergeudet würden. Diesen Einwänden begegnete der Verein ‚Bürgerbegehren Tunnelalternative am Waldschlößchen‘ mit Verweis auf eine Reihe von Baugutachten neueren Datums, die neben dem ursprünglichen 1996er-Gutachten ebenfalls die technische Machbarkeit eines Waldschlösschen-Tunnels belegten,⁴⁵⁷ überdies seien die bisherigen Aushebungen am Baugrund problemlos auch für die Errichtung einer Tunneleinfahrt nutzbar. Eine Fachtagung der Fakultäten für Architektur und Bauingenieurswesen der Technischen Universität Dresden kam des Weiteren zu dem Ergebnis, dass sowohl Bau- als auch Betriebskosten eines Tunnels in derselben Größenordnung wie die der Waldschlösschenbrücke lägen.⁴⁵⁸ Begleitet von Großdemonstrationen mit teilweise über zehntausend Teilnehmern wurden in den folgenden Wochen die für ein Bürgerbegehren erforderlichen Unterschriften zusammengetragen – ein Unterfangen, das aufgrund des inzwischen auf 5 % gesenkten Einleitungsquorums (siehe Kap. 4.2.1) bereits Mitte März 2008 abgeschlossen war.⁴⁵⁹ Nachdem der Stadtrat das Begehren für zulässig erklärte hatte, machte jedoch der Oberbürgermeister – in Übereinstimmung mit der bislang von der Stadtverwaltung vertretenen Haltung, die auf eine Realisierung des Brückenbaus abzielte, – von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch und hob die Ratsentscheidung auf. Auch ein nochmaliger Antrag wurde auf diese  Vgl. Boccardi & Kilian (2008: S. 16 f.).  Ebd.: S. 20.  Für eine Übersicht der ingenieurstechnischen Gegenargumente siehe Stritzke (2007, 2009).  Vgl. Zylla (2010: S. 61 f.).  Vgl. ebd.  Vgl. Technische Universität Dresden, Fakultät Architektur und Fakultät Bauingenieurswesen, Fachklausur Elbtunnel Dresden am 6. 3. 2008, S. 4.  Vgl. Zylla (2010: S. 65).

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Weise abschlägig beschieden. Nach dem zweiten Widerspruch des Oberbürgermeisters lag die Entscheidungsbefugnis nunmehr beim Regierungspräsidium. Dieses ließ sich auch durch Vermittlungsbemühungen seitens der UNESCO, auf die die Anhänger der Tunnel-Alternative ihre Hoffnungen gesetzt hatten, nicht von seiner bisherigen Linie abbringen und legte ihrerseits ein Veto gegen das Referendum ein. Versuche der Initianten, nunmehr per Eilantrag vor Gericht einen Bürgerentscheid zu erzwingen, scheiterten ebenfalls.⁴⁶⁰ Nachdem die Gegner der Waldschlösschenbrücke alle politischen und rechtlichen Mittel ausgeschöpft hatten und die Bauarbeiten – obwohl behindert durch anhaltende Proteste – fortgesetzt wurden, zog die UNESCO am 23.6. 2009 die lange angedrohte Konsequenz: die Aberkennung des Weltkulturerbe-Titels für das Dresdner Elbtal.⁴⁶¹ Während der damalige Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee einen „schwarzen Tag für Dresden und die Kulturnation Deutschland“ beklagte,⁴⁶² zumal das Elbtal nach einem Antilopen-Schutzgebiet in Oman erst die zweite Welterbestätte überhaupt war, deren Titel wieder entzogen wurde,⁴⁶³ gab sich die nun amtierende CDU-Oberbürgermeisterin Helma Orosz zuversichtlich: Man könne sich ja einfach noch einmal bei der UNESCO um den Titel bewerben – diesmal mit Brücke.⁴⁶⁴

4.2.4 Beurteilung des Dresdner Brückenstreits anhand der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie Der Brückenstreit ist, wie eingangs erwähnt, als Fallbeispiel für die Plausibilisierung der integrativen Gemeinwohltheorie insofern relevant, als hier – anders als in der Sicherungsverwahrungs-Debatte – das Gemeinwohl nicht herangezogen wurde, um einen anderen Rechtfertigungsgrund politischen Handelns zu übertrumpfen; er zeichnete sich vielmehr durch einen Widerstreit zweier Gemeinwohlrekurse aus, die sich auf unterschiedliche Politikfelder bezogen: Das Lager der Brückenbefürworter, dessen Hauptprotagonisten die jeweils amtierenden Oberbürgermeister, das von der Staatsregierung kontrollierte Regierungspräsidium und der Verein ‚Bürgerbegehren Waldschlößchenbrücke‘ waren, rechtfertigte

 Vgl. Zylla (2010: S. 68).  UNESCO, World Heritage Committee, Thirty-third session, Seville, Spain, 8 – 16 July 2006, World Heritage 33 COM, WHC-09/33.COM/20, S. 43.  Der Spiegel vom 25.6. 2009.  Vgl. Reichelt (2008: S. 40).  Dieser Option werden – wenig überraschend – aus UNESCO-Kreisen jedoch nur geringe Erfolgsaussichten zugebilligt, vgl. Die Welt vom 26.6. 2009.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

201

den Bau mit dessen Gemeinwohldienlichkeit auf dem Sektor der Verkehrsinfrastruktur. Die Brückengegner, die sich aus Naturschutzverbänden, Bürgerinitiativen sowie der ‚linken‘ Ratsfraktion zusammensetzten, kritisierten den Bau wiederum als gemeinwohlwidrig – allerdings mit Bezug auf den Bereich des Landschaftsschutzes.⁴⁶⁵ Zur Begründung der zu Anfang des Kapitels aufgestellten These, wonach sich der Anspruch der Brückenbefürworter auf die Gemeinwohldienlichkeit des Projekts zurückweisen lässt und der Bau als gemeinwohlschädlich eingestuft werden muss, werde ich die Konfliktkonstellation anhand der in Kap. 3.2 erarbeiteten Checkliste analysieren. Um beurteilen zu können, ob die konkurrierenden Gemeinwohlrekurse zumindest eine Grundplausibilität besitzen, muss zuallererst erörtert werden, ob die Politikfelder, auf die sich die Konfliktparteien bezogen, Gemeinwohl-Sachbereiche darstellen. Diese Frage lässt sich leicht klären: Zwar handelt es sich weder bei städtischer Verkehrsinfrastruktur noch bei Landschaftsräumen um non-exklusive Güter, insofern es prinzipiell möglich ist, Gemeinschaftsmitglieder von deren Inanspruchnahme auszuschließen – im ersteren Falle z. B. durch Errichtung von Mautstellen, im letzteren etwa durch Einzäunung des Areals. Allerdings sind beide Güterklassen offenkundig non-rivalisierend: Weder beeinträchtigt die Nutzung eines Verkehrsteilnehmers die darauffolgende Inanspruchnahme der Infrastruktur durch andere Personen; noch ließe sich begründet behaupten, dass der Genuss, den ein Gemeinschaftsmitglied aus der Betrachtung oder Durchwanderung einer Landschaft zieht, deren Genuss seitens anderer Mitglieder schmälert. Entsprechend handelt es sich sowohl bei der Verkehrs- als auch bei der Landschaftsschutzpolitik um Sektoren, bei denen die Bereitstellung oder Sicherung von öffentlichen Gütern thematisch ist, d. h. um Gemeinwohl-Sachbereiche. Zweitens ist offenkundig, dass das umstrittene Brückenbau in seinen Auswirkungen beide Sachbereiche tangiert: Einerseits ermöglicht die Waldschlösschenbrücke eine Querung der Elbe zwischen den Stadtteilen Johannstadt und Radeberger Vorstadt und entlastet darüber hinaus die übrigen sanierungsbedürftigen Elbbrücken; andererseits blockiert das vollendete Bauwerk eine Reihe historisch etablierter Sichtbeziehungen zwischen dem Dresdner Stadtraum und den umliegenden Auen und beeinträchtigt auf diese Weise den Genuss von Panoramablicken innerhalb des Elbtals. Ob diese Konstellation jedoch auch einen Sachbereichskonflikt im Sinne von Kap. 3.2.5 darstellt, ist damit noch nicht gesagt.

 Zwar zählte auch die UNESCO, insofern sie unter Berufung auf das Aachener Gutachten das Bauvorhaben als schädigenden Eingriff in die Landschaft des Elbtals ablehnte und eine Alternativlösung forderte, zur Fraktion der Brückengegner. Sie rechtfertigte ihre Forderung jedoch nicht unter Rekurs auf das Wohl des deutschen Gemeinwesens, sondern mit dessen völkerrechtlichen Verpflichtungen.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Zur Erinnerung: Unter einem Sachbereichskonflikt verstehe ich eine Konstellation, bei der die Gemeinschaftsmitglieder oder deren Repräsentanten ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl dergestalt ausüben, dass sie eine politische Handlung autorisieren, die in Bezug auf (mindestens) einen Sachbereich A weder dessen Grenzwert verletzt noch dessen Signifikanzschwelle unterschreitet – also gemäß der integrativen Gemeinwohltheorie gemeinwohldienlich ist –, die aber als Nebeneffekt in Bezug auf (mindestens) einen anderen Sachbereich B grenzwertverletzende Konsequenzen hat. Um zu klären, ob eine solche Konstellation vorliegt, müssen also die Folgen des Baus für beide Politikfelder thematisiert werden. Zuerst zum einfacheren Fall: Grenzwerte und Signifikanzschwellen lassen sich für den Sektor der Verkehrsinfrastrukturpolitik meines Erachtens plausiblerweise auf Grundlage der Planungskriteriologie der Verkehrswissenschaften bestimmen; die entscheidenden Kriterien sind hier: Wartezeiten, Reisegeschwindigkeiten sowie der Kraftstoffverbrauch (bzw. die CO2-Emission) durch Kraftfahrzeuge innerhalb des Areals, in dem die Verkehrsplanungsmaßnahme durchgeführt wird.⁴⁶⁶ Eine gemeinwohlschädliche Handlung ist somit dadurch charakterisiert, dass sie insgesamt zu einer maßgeblichen Verschlechterung der bestehenden Verkehrssituation gemäß einer Abwägung dieser Kriterien führt. Gemeinwohlinsignifikant ist eine Handlung wiederum, wenn sie nach deren Abwägung keinen maßgeblichen Effekt erzielt. Wie diese Kriterienabwägung im Einzelfalle vorzunehmen ist und wie die entsprechenden Rahmenbedingungen spezifiziert werden sollen, ist fraglos eine wichtige und mitunter diffizile Frage, die hier jedoch nicht vertieft werden muss. Der Grund ist, dass das seinerzeit von der Stadtverwaltung in Auftrag gegebene Planungsgutachten der Universität Dresden für den Fall des Brückenbaus eine Verringerung innerstädtischer Wartezeiten um 30 % und einen Reisezeitgewinn von 16 % (wenn auch nur eine geringe Verminderung des Kraftstoffverbrauchs um 3 %) prognostizierte.⁴⁶⁷ Ausgehend von dieser sehr bedeutenden Verbesserung der Verkehrssituation lässt sich meiner Ansicht nach der Brückenbau in Bezug auf den Sektor der Verkehrsinfrastrukturpolitik nicht rationalerweise als gemeinwohlschädlich oder -insignifikant kritisieren. Die Erörterung der Folgen des Brückenbaus für den Sachbereich des Landschaftsschutzes gestaltet sich demgegenüber schwieriger. Wie Signifikanzschwellen für diesen Sektor, d. h. Schwellenwerte dafür, welche Effekte politische Handlungen mindestens haben müssen, um für die Beförderung des Gemeinwohls

 Vgl. Schnabel (2004: S. 18).  Vgl. ebd.: S. 19.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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auf dem Sachbereich des Landschaftsschutzes nicht irrelevant zu sein, bestimmt werden müssen, ist eine schwierige Frage. Ich werde dieses Problem aus zwei Gründen, die mit meinem Untersuchungsinteresse zusammenhängen, im Folgenden jedoch nicht weiter diskutieren: Erstens bezog sich die Kritik der Brückengegner nicht darauf, dass das Bauvorhaben für den Landschaftsschutz insignifikant sei (was bei einem Projekt, das auf die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur abzielte, auch eine absurde Kritik gewesen wäre); sie bemängelten vielmehr, dass der Bau gemeinwohlschädlich sei. Zweitens spielt die Frage der Gemeinwohlinsignifikanz hier für die mögliche Diagnose eines Sachbereichskonflikts auch keine Rolle: Ein solcher kann, insofern erwiesen ist, dass der Brückenbau in Bezug auf den Sektor der Infrastrukturpolitik weder gemeinwohlinsignifikant noch -schädlich ist, nur dann vorliegen, wenn dieser in dem anderen Sachbereich (also dem des Landschaftsschutzes) grenzwertverletzende Folgen hat. Die entscheidende Frage ist also, ob die von den Aachener Gutachtern konstatierte (und von der UNESCO bestätigte) Beeinträchtigung der Elbpanoramen durch die Brücke den Wert der Kulturlandschaft des Dresdner Elbtals in einer Weise mindert, dass diese eine Grenzwertverletzung und also – zunächst nur auf das Politikfeld des Landschaftsschutzes bezogen und nicht im Sinne einer finalen Abwägung zwischen den konkurrierenden Politikfeldern – einen gemeinwohlschädlichen Effekt darstellt. Prima facie sprechen gewichtige, der integrativen Gemeinwohltheorie immanente Gründe dagegen: In Kap. 3.2.5 habe ich dafür argumentiert, dass Maßstäbe der Gemeinwohlschädlichkeit selbst Gegenstand von Wertungen sind und deren Spezifikation den Gemeinschaftsmitgliedern – wiewohl innerhalb eines rationalen Spielraums und in Koordination mit Sachbereichsexperten – überlassen werden muss. Hier scheint das Argument der Brückenbefürworter zu greifen, wonach die UNESCO als supranationale, nicht von den Mitgliedern autorisierte Institution einfach Experten beauftragte, die im Folgenden konstatierten, dass der Bau verheerende Auswirkungen auf den einzigartigen Wert der Kulturlandschaft habe (siehe Kap. 4.2.3). Die Dresdner selbst waren nach dieser Lesart indes an der Spezifikation des Grenzwerts, der festlegt, ob der Bau gemeinwohlschädlich ist oder nicht, gar nicht beteiligt. De facto beruht diese Lesart jedoch auf einer verkürzten Einschätzung des Ereignisverlaufs, insofern sie den Prozess der Bewerbung um den Welterbetitel außen vor lässt. Im Rahmen der Bewerbung hatten nämlich die Antragssteller selbst, autorisiert durch die Stadt Dresden und die Staatsregierung – also durch die gewählten Repräsentanten der Mitglieder –, die besondere Werthaltigkeit (und Schutzwürdigkeit) der Elbpanoramen als Kriterium für die Titelvergabe an das Elbtal hervorgehoben. Die herausragende Bedeutung der Blickbeziehungen zwischen Stadtraum und Elbauen war demnach kein Beurteilungsmaßstab für die

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Schädlichkeit des Brückenbaus, den die Aachener Gutachter und die UNESCO willkürlich ‚aus dem Hut gezaubert‘ hätten; dieser lag vielmehr bereits dem Antrag zugrunde und war überdies durch eine kulturhistorische und kunstgeschichtliche Argumentation, der sich die UNESCO lediglich anschloss, begründet. Angesichts der Tatsache, dass die Ausblicksmöglichkeiten innerhalb des Elbareals nach geteilter Überzeugung der Antragssteller und der UNESCO mit konstitutiv für den einzigartigen Wert der Landschaft waren und daher jenseits des für eine Kulturlandschaft zulässigen baulichen Umgestaltungsspielraums lagen, lässt sich die Anforderung an deren Bewahrung als plausible Spezifikation eines GemeinwohlGrenzwerts begreifen. Und an dieser waren die Dresdner Bürger durchaus – wenn auch nur mittelbar durch ihre politischen Vertreter – beteiligt. Ausgehend von dieser Prämisse muss, so meine Schlussfolgerung, das Urteil der Aachener Gutachter, wonach der Brückenbau zahlreiche der bedeutenden Blickbeziehungen innerhalb des Elbareals blockieren würde (bzw. die schlussendliche Aberkennung des Welterbetitels durch die UNESCO) als Diagnose einer Grenzwertverletzung, d. h. einer signifikanten Schädigung eines gemeinwohlrelevanten Guts, begriffen werden. Auf Grundlage dieser Argumentation lässt sich der Dresdner Brückenstreit nun als Sachbereichskonflikt klassifizieren. Wenn man die betroffenen Sachbereiche rein isoliert betrachtet, ist zunächst beiden Streitparteien Recht zu geben: Insofern der durch einen Volksentscheid autorisierte Bau in seinen Auswirkungen auf das Feld der Verkehrspolitik weder Grenzwerte verletzt noch Signifikanzschwellen unterschreitet, ist er in dieser Hinsicht gemeinwohldienlich; insofern er auf dem Sektor der Landschaftsschutzpolitik grenzwertverletzende Folgen hat, ist er gemeinwohlschädlich. Da das Projekt in seinen Auswirkungen jedoch de facto beide Politikfelder tangiert, liegt ein Konflikt zwischen diesen Sachbereichen vor. Durch die bloße Diagnose eines Sachbereichskonflikts ergibt sich allerdings noch keine Antwort auf die Frage, ob der Brückenbau nun gemeinwohldienlich oder -schädlich ist. In Kap. 3.2.5 hatte ich dafür argumentiert, dass ein pauschales Beurteilungskriterium für alle möglichen Sachbereichskonflikte nur in Form einer allgemeinen Prioritätsregel (die entweder dem substantiellen Grenzwert oder der prozedural umgesetzten Deutungshoheit der Mitglieder kategorischen Vorrang einräumt) zu haben ist; da eine solche Regel jedoch unplausibel ist, scheidet diese Option aus. Stattdessen ist für die finale Einschätzung von Sachbereichskonflikten eine Einzelfallbeurteilung nötig, bei der der Zustimmungsgrad zu der politischen Handlung und die Schwere der Grenzwertverletzung gegeneinander abgewogen werden müssen. Hier scheint nun wiederum ein Argument der Brückenbefürworter zu greifen: Diese hatten sich nach dem Referendum von 2005 zur Rechtfertigung ihrer Haltung nämlich darauf berufen, dass der Bau von über zwei Dritteln der Abstim-

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

205

menden autorisiert worden war. Dieser hohe Zustimmungsgrad stellt auf den ersten Blick einen gewichtigen Abwägungsgrund gegen die Grenzwertverletzung bzw. ein starkes Argument für eine finale Beurteilung des Projekts als gemeinwohldienlich dar. Nun könnten die Brückengegner damit argumentieren, dass auch die Grenzwertverletzung in diesem Falle besonders schwer wiegt und daher einen ebenso gewichtigen Gegengrund darstellt, weil es sich bei dem Elbtal um einen kulturhistorisch einzigartigen Landschaftsraum handelt – eine Tatsache, die durch die Verleihung des Welterbetitels bestätigt wurde. Meines Erachtens muss dieser Weg jedoch nicht beschritten werden, weil das Argument der Befürworter nur dann verfängt, wenn das Verfahren der Gemeinwohlbestimmung in diesem Kontext auch die letzte, bislang nicht angesprochene Rahmenbedingung nicht verletzt: Wenn sich nämlich die partizipativen Willensbildungsverfahren, die den Brückenbau autorisierten, als sachbereichsadäquat ausweisen lassen. Genau dies lässt sich in Ansehung des gesamten Planungs- und Entscheidungsprozesses jedoch klar bestreiten. Zur besseren Übersicht unterteile ich diesen Prozess in meiner folgenden Analyse in zwei Phasen: Die erste Phase bezeichnet hierbei den Planungs- und Entscheidungsverlauf bis einschließlich des ausschlaggebenden Referendums von 2005; die zweite Phase umfasst den Ereignisverlauf, der sich nach dem Plebiszit ereignete und durch die vergeblichen Versuche der Brückengegner, eine Neuentscheidung oder eine Einigung herbeizuführen, charakterisiert war. Der zentrale Einwand in der (zugegebenermaßen spärlichen) wissenschaftlichen Literatur, die sich mit der Verfahrenslegitimität im Brückenstreit auseinandersetzt, lautet wie folgt: Das Referendum von 2005, das den Bau der Waldschlösschenbrücke autorisierte, wies insofern ein Legitimationsdefizit auf, als die Bürger zu diesem Zeitpunkt nicht wussten – aber auch gar nicht wissen konnten –, dass die UNESCO später auf Grundlage des Aachener Gutachtens das Bauvorhaben als einen schädlichen Eingriff in die Kulturlandschaft bewerten würde.⁴⁶⁸ Da sich „[d]ie tatsächlichen Bedingungen […] nach dem Bürgerentscheid wesentlich verändert“ hatten,⁴⁶⁹ insofern nunmehr neue Informationen über die visuellen Auswirkungen des Baus und über das Verdikt der UNESCO verfügbar waren, wäre es erforderlich gewesen, den Bürgern die Möglichkeit zu geben, ihre ursprüngliche Entscheidung zu revidieren. Diese Option sei ihnen jedoch im Nachgang „geradezu verweigert“ worden.⁴⁷⁰ Diese Kritik greift meines Erachtens entschieden zu kurz: Sie konstatiert nämlich nur, dass die Prozedur in der Ex-Post-

 Vgl. von Schorlemer (2006: S. 1313 f., 2009: S. 372) sowie Neumann (2009: S. 389 f.).  Neumann (2009: S. 389); meine Hervorhebung.  Ebd.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Bewertung illegitim war, weil den Dresdnern zum Abstimmungszeitpunkt entscheidungsrelevante Informationen fehlten. Die Gründe für dieses Defizit erblickt sie indes bloß in der zeitlichen Folge der Ereignisse, also darin, dass die Intervention der UNESCO erst nach dem Volksentscheid erfolgte – und somit in Faktoren, die dem eigentlichen Entscheidungsverfahren äußerlich waren. Dergestalt bleiben jedoch die immanenten Defizite des zuvor abgelaufenen Verfahrens, die allererst ursächlich für die informationalen Defizite waren, ausgeblendet. De facto liest sich der Planungs- und Entscheidungsverlauf im Dresdner Brückenstreit jedoch wie ein Paradebeispiel für die von Demokratietheoretikern immer wieder bemängelten Defizite und Risiken, die mit der Ergänzung repräsentativer politischer Systeme durch direktdemokratische Entscheidungsinstrumente einhergehen. Diese bestehen darin, dass einflussreiche und politisch gut vernetzte Interessenformationen die Möglichkeit erhalten, die politische Agenda im Vorfeld durch Unterdrückung von Informationen, Streuung von Falschinformationen und Ausschluss gegenläufiger Interessen bei der Generierung der Entscheidungsoptionen zu manipulieren und so eine Abstimmungssituation schaffen, bei der die meisten Gemeinschaftsmitglieder keine wohlinformierte Entscheidung fällen können (siehe Kap. 3.2.4). Genau dieser Fall lag im Brückenstreit vor: Vom Planungsbeginn an verfolgte die Fraktion der Befürworter der Waldschlösschenbrücke das Ziel, an genau einer Stelle eine bestimmte Form der Elbquerung zu bauen – Alternativoptionen, wie etwa ein Brückenbau an anderer Stelle oder eine Untertunnelung, wurden entweder durch Exklusion ihrer Vertreter oder durch Unterdrückung entsprechender Gutachten neutralisiert. Während des Prozesses wurden weder UNESCO-Vertreter noch Mitglieder von Umwelt- und Landschaftsschutzgruppen, die auf eine mögliche Schädigung des Elbareals durch den Brückenbau hätten hinweisen können, beteiligt. Als die Fraktion der Brückenbefürworter ihre gestaltende Mehrheit im Rat verloren hatte, stellte sie nun vermittels eines Initiativreferendums ebendiese erarbeitete Option zur Abstimmung. Hierbei wurde vermittels einer Falschinformation über die Finanzierung des Projekts der Eindruck erweckt, dass entweder die vorgeschlagene Brücke oder langfristig gar keine neue Elbquerung gebaut werden könne; dergestalt wurde der Raum politischer Entscheidungsmöglichkeiten auf eine binäre Wahl reduziert. Da den Abstimmungsunterlagen nur eine zweidimensionale, schematische Illustration beigelegt wurde, hatten die Dresdner überdies keine Möglichkeit, sich wenigstens selbst ein Bild von der Gestalt der Brücke zu machen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gemeinschaftsmitglieder zum Abstimmungszeitpunkt über Alternativoptionen, visuelle Auswirkungen und die Finanzierung der Waldschlösschenbrücke entweder nicht informiert oder fehlinformiert waren; und dass sich dieser Umstand den Spezifika des Planungs- und Entscheidungsverfahrens in seiner Gesamtheit verdankte.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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Diese Defizite, so meine These, wären nicht aufgetreten, wenn die bestehenden Planungs- und Entscheidungsverfahren durch deliberative Prozeduren ergänzt oder ganz ersetzt worden wären. Die Vermeidung der angesprochenen Defekte ist indes nur eines von drei Argumenten, die für die Sachbereichsadäquatheit deliberativer Prozeduren im Dresdner Brückenstreit sprechen; das zweite Argument verweist darauf, dass die Verwendung dieses Modus der Gemeinwohlbestimmung es den Mitgliedern erlaubt hätte, ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl unmittelbar auszuüben, anstatt nur zwischen präfigurierten Abstimmungsoptionen zu wählen; das dritte Argument beruht schließlich darauf, dass alle in Kap. 3.2.3 angesprochenen Faktoren der Sachbereichsadäquatheit die Verwendung dieses Verfahrenstyps indizierten. Im Folgenden werde ich diese drei Argumente der Reihe nach durchgehen und erläutern. Die Behebung informationaler Defizite und die Vermeidung der AgendaManipulation durch eine einzelne, einflussreiche Interessenformation im politischen Entscheidungsprozess ergibt sich bereits aus der Funktionsbestimmung deliberativer Prozeduren:⁴⁷¹ Diese sind als Verfahren des gleichberechtigten interpersonalen Austauschs von Informationen und Rechtfertigungsgründen politischen Handelns zwischen allen Mitgliedern des Gemeinwesens darauf ausgerichtet, informiertere und reflektiertere Interessen zu generieren und, in der Diktion von Dryzek und List, Negativanreize für die Angabe von Falschinformationen zu setzen. Die Umsetzung dieser Prozeduren wäre im Brückenstreit etwa durch die Einrichtung deliberativer Foren zu Beginn des Planungsprozesses möglich gewesen; an diesen hätten sich nicht nur soziale Netzwerke und UNESCOVertreter (welche qua Sachbereichsexperten ihre Kenntnisse in die Diskussion hätten einbringen können), sondern auch organisatorisch ungebundene Bürger beteiligen können. Es scheint schwer denkbar, dass es in diesem Rahmen möglich gewesen wäre – so wie es im faktischen, klandestinen Planungsverlauf, in dem auch dem Stadtrat entscheidungsrelevante Informationen vorenthalten wurden, geschah – Alternativoptionen wie eine Elb-Untertunnelung oder einen Brückenbau an anderer Stelle zu unterdrücken. Ein solches Verfahren hätte nun entweder in die Formulierung einer kollektiv akzeptablen Lösung (die optimistische Zielsetzung) oder in die Festlegung von verschiedenen, aber jeweils wohlbegründeten Entscheidungsoptionen, die man

 Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Verwendung deliberativer Verfahren ein Garant dafür ist, dass alle Gemeinschaftsmitglieder in deren Verlauf wohlinformierte Interessen ausbilden, Irrtümer beseitigen und Falschinformationen aufdecken (siehe hierzu auch meinen Irrtumseinwand in Kap. 2.5.1). Es ist aber meines Erachtens unstreitig, dass Deliberation diese Effekte stark begünstigt, insofern sie – anders als alternative Verfahrensweisen – dezidiert hierauf ausgerichtet ist.

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dann zur Abstimmung hätte stellen können (die gemäßigtere Zielsetzung), einmünden können. In diesem Kontext ist das Ziel einer einvernehmlichen Lösung meines Erachtens nicht so utopisch wie Kritiker einwenden könnten: Das Einschwenken der verschiedenen Fraktionen der Brückengegner auf die Tunnellösung als Alternative zum Bau der Waldschlösschenbrücke zeigt, dass (zumindest) auf Seiten der unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen durchaus die Bereitschaft zur Revision der eigenen Interessen und zur Findung kollektiv akzeptabler Lösungen bestand. Im Lichte dieser Erörterungen dürfte deutlich geworden sein, warum der referierte Einwand aus der Literatur zum Brückenstreit den entscheidenden Punkt verfehlt: Es ist zwar richtig, dass die Dresdner angesichts der faktischen Prozesse, die in den Bürgerentscheid von 2005 einmündeten, nicht wissen konnten, welche Folgen der Bau für die visuelle Integrität des Elbtals haben würde und welche Entscheidung die UNESCO in diesem Kontext fällen würde. Sie hätten es aber wissen können, wenn das Planungs- und Entscheidungsverfahren durch deliberative Kommunikationsstrukturen geprägt oder komplementiert worden wäre. Das zweite Argument, das meines Erachtens die Vorzugswürdigkeit deliberativer Verfahren der Gemeinwohlbestimmung indiziert, ist, dass diese den Mitgliedern die unmittelbare Ausübung ihrer Deutungshoheit über das Gemeinwohl zugestehen. Dergestalt tragen sie in größerem Maße dem Souveränitätsprinzip Rechnung als rein direktdemokratische Entscheidungsinstrumente, die die Deutungshoheit der Mitglieder lediglich über die Wahlmöglichkeit zwischen präfigurierten Zielbündeln – d. h. die von den Initianten des Referendums entwickelten Abstimmungsmöglichkeiten – operationalisieren. Indem deliberative Prozeduren den Mitgliedern die Möglichkeit geben, ihre Interessen direkt in die kommunikativen Auseinandersetzungen über die Festlegung von Politikzielen einzubringen und ihre Beteiligung an der Gemeinwohlbestimmung nicht darauf reduzieren, sich zwischen bereits festgelegten Politikzielen zu entscheiden, erlauben sie ihnen, das Wohl ihres Gemeinwesens selbst zu gestalten.⁴⁷² Das dritte Argument für die Angemessenheit deliberativer Prozeduren (bzw. gegen die Adäquatheit der faktisch angewandten Verfahren) beruht schließlich darauf, dass auch alle von mir in Kap. 3.2.4 diskutierten Faktoren sachbereichsspezifischer Verfahrensadäquatheit im Falle des Brückenstreits klarerweise die

 Diese Kritik an der Verwendung direktdemokratischer Verfahren klingt auch bei Berthod an: „Both, the question of the referendum and the depiction [der Waldschlösschenbrücke, die den Abstimmungsunterlagen beigelegt war], constitute a choice already made. No room was left for the development of alternative options.“ Berthod (2009: S 16). Allerdings folgert Berthod hieraus nicht die Vorzugswürdigkeit deliberativer Verfahren; er belässt es lediglich bei dieser kritischen Anmerkung.

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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Verwendung deliberativer Verfahren indizieren. Zunächst lässt sich sagen, dass der Bau einer neuen Elbquerung im innerstädtischen Bereich kein dringliches Anliegen darstellte. Während der gesamten Dauer des Brückenstreits stand die Stadt zu keinem Zeitpunkt vor einem Verkehrsinfarkt. Im Gegenteil: Verkehrswissenschaftliche Studien belegen, dass Dresden seit den Nachwendejahren im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten eine überdurchschnittliche hohe Reisegeschwindigkeit aufweist;⁴⁷³ entsprechend wird die Stadt häufig zu den autofreundlichsten Städten Deutschlands gezählt. Da keine praktische Notwendigkeit für eine schnelle Entscheidungsfindung vorlag, hätte die Möglichkeit bestanden, eine große Anzahl zivilgesellschaftlicher Akteure in einen kommunikativen Prozess der Gemeinwohlbestimmung einzubinden. Zweitens dürfte unstreitig sein, dass der Brückenstreit – anders als etwa die Sicherungsverwahrungs-Debatte – einen lokalen Konflikt mit einer überschaubaren Anzahl von Kommunikatoren darstellte, deren Beteiligung an einer deliberativen Willensbildung weit weniger zeit- und ressourcenintensiv gewesen wäre als im Falle einer bundesweiten Auseinandersetzung. Überdies belegt die umfassende Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Netzwerke, die sich im Verlauf des Konflikts nicht auf eine reine Ablehnungshaltung gegenüber dem Projekt beschränkten, sondern eigene, wohlbegründete Lösungsvorschläge erarbeiteten, den hohen zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad der Dresdner Bevölkerung. Kritiker deliberativer Verfahren können in diesem Kontext also nicht damit argumentieren, dass diese Prozeduren an mangelndem Partizipationswillen und an fehlender Bereitschaft, sich mit komplexen Themenfeldern (wie z. B. bautechnischen Alternativen zum Brückenmodell oder der Welterbe-Kriteriologie der UNESCO) auseinanderzusetzen, gescheitert wären.⁴⁷⁴ Zumindest das erhebliche Konfliktpotential der Entscheidungssituation, das sich – insbesondere in der Endphase der Ereignisse – in Form gewalttätiger Protestaktionen entlud, scheint indes prima facie dagegen zu sprechen, dass es sinnvoll gewesen wäre, die Planung einer neuen Elbquerung zum Gegenstand gesellschaftsweiter kommunikativer Auseinandersetzungen zu machen. Hätte, so ließe sich kritisch fragen, die Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Akteure zu

 Vgl. Schüller (2010: S. 157). Vgl. zu diesem Thema auch Becker & Arlt (2008).  Für den hohen zivilgesellschaftlichen Organisationsgrad spricht meines Erachtens auch, dass zahlreiche Bürgerbewegungen im Verlaufe des Konflikts Websites erstellten, die neben rege frequentierten Diskussionsforen auch umfassende digitale Archive verzeichnen, in denen Originaldokumente, die für die Auseinandersetzung relevant waren (z. B. Baugutachten, UNESCOProtokolle und Links zu Zeitungsartikeln), gespeichert sind. Vgl. hierzu unter anderem: http:// www.neue-waldschloesschen-bruecke.de, http://www.archiv.welterbe-erhalten.de/, http://www. elbtunnel-dresden.de/, http://quo-vadis-dresden.de/.

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4 Analyse zweier Fallbeispiele anhand der Kriteriologie

Beginn des Planungsverlaufs angesichts der später von einigen Personen zum Ausdruck gebrachten Gewaltbereitschaft, nicht bloß zu einer noch größeren Eskalation des Konflikts geführt? Hiergegen lässt sich meines Erachtens Folgendes anführen: Wenn man die Stellungnahmen der Brückengegner nach dem Bekanntwerden des Aachener Gutachtens und der UNESCO-Entscheidung in Betracht zieht (siehe Kap. 4.2.3), ist augenfällig, dass sich deren Frustration vor allem auch aus dem Eindruck ergab, von den Initianten des Referendums hintergangen worden zu sein. Zumindest diese Frustrationserfahrung wäre nicht aufgetreten, wenn die Akteure der Zivilgesellschaft gleich zu Beginn im Rahmen deliberativer Foren an der Planung beteiligt worden wären. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass die Verwendung deliberativer Prozeduren ein Garant für eine friedliche Lösung des Konflikts gewesen wäre; im Gegenzug muss man jedoch ebenfalls konstatieren, dass der Brückenstreit auch unter Verzicht auf solche Beteiligungsverfahren in streckenweise gewaltsame Konfrontationen einmündete. Nachdem dargelegt worden ist, dass die erste Phase des Dresdner Brückenstreits durch das gravierende Defizit sachbereichsinadäquater Verfahren charakterisiert war, stellt sich im Folgenden die Frage, wie die zweite Phase des Konflikts zu beurteilen ist. In diesem Kontext ist nun der Einwand, dass den Bürgern die Möglichkeit einer Revision des Referendums ungerechtfertigterweise „verweigert“ wurde, durchaus zutreffend. Aufgrund der Defizite der vorangegangenen Planungs- und Entscheidungsprozeduren wäre eine Neuentscheidung zum Zwecke einer adäquaten Gemeinwohlbestimmung erforderlich gewesen – zumal den Dresdnern inzwischen in der Tat die wesentlichen entscheidungsrelevanten Informationen bekannt waren. Hierfür gab es drei Gelegenheiten: die erste Initiative für ein Ratsbegehren zur Wiederholung des ursprünglichen Referendums, das vom sächsischen Oberverwaltungsgericht angesetzte Mediationsverfahren und schließlich die zweite Initiative für die Durchführung eines Plebiszits über den Bau der Tunnelalternative. Ausgehend von meiner bisherigen Kritik an rein direktdemokratischen Entscheidungsinstrumenten – insbesondere in Hinblick darauf, dass diese den Mitgliedern keine unmittelbare Ausübung ihrer Deutungshoheit, sondern nur die Wahlmöglichkeit zwischen präfigurierten Politikzielen erlauben – wäre die Mediation meines Erachtens das angemessenste Verfahren der Gemeinwohlbestimmung gewesen. Letzteres scheiterte jedoch nicht nur am Unwillen des Experten-Komitees, seine Mediationsrolle auszuüben, sondern auch am Boykott durch die Fraktion der Brückenbefürworter. Dessen ungeachtet wurden auch die beiden anderen Optionen für eine Neuentscheidung von den Anhängern der Waldschlösschenbrücke erfolgreich blockiert, so dass der ursprüngliche, defizitäre Verfahrensoutput – die Autorisierung des Bauprojekts – wirksam blieb. Im Lichte dieser Ergebnisse lässt sich nun eine abschließende Einschätzung in Hinblick auf die Frage der Gemeinwohlbestimmung geben: Erstens muss kon-

4.2 Der Dresdner Brückenstreit

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statiert werden, dass der Dresdner Brückenstreit in der Tat einen Sachbereichskonflikt darstellte, insofern in diesem Falle die Verbesserung städtischer Verkehrsinfrastruktur durch die Schädigung eines gemeinwohlrelevanten Landschaftsareals ‚erkauft‘ wurde. Dieser Umstand ist allein jedoch noch nicht ausschlaggebend für den Befund, dass das Bauprojekt in der Tat gemeinwohlschädlich war. Letzterer ergibt sich, so lässt sich zweitens sagen, erst daraus, dass diejenigen Planungs- und Entscheidungsverfahren, die schließlich in den Bau der Brücke einmündeten, in einer derart gravierenden Weise sachbereichsinadäquat waren, dass die dergestalt generierte hohe Abstimmungsmehrheit nicht als Abwägungsgrund gegen die entsprechende Grenzwertverletzung angeführt werden kann. Einfach gesagt: Weil die Dresdner zum Zeitpunkt des Referendums schlechterdings nicht wussten, worüber sie da eigentlich abstimmten, kann ihre Abstimmung auch nicht als angemessener Ausdruck ihrer Deutungshoheit über das Gemeinwohl begriffen werden, der in irgendeinem Sinne die Schwere der Grenzwertverletzung hätte aufwiegen können. Drittens lässt sich hinzufügen, dass im Nachgang jeder Versuch, eine Neuentscheidung über die Streitfrage zu initiieren, von den Brückenbefürworten blockiert wurde, weswegen das gemeinwohlschädliche Resultat des Referendums nicht mehr revidiert werden konnte. Jenseits der Bewertung des konkreten Streitfalls belegt diese Untersuchung meines Erachtens die klassifikatorische Leistungsfähigkeit des Konzepts des Sachbereichskonflikts, insofern dieses erlaubt, die konkurrierenden Gemeinwohlrekurse der Streitparteien einzuordnen und zu erklären, warum beide trotz ihrer Inkompatibilität zumindest eine Prima-Facie-Plausibilität besitzen. Des Weiteren hat sich erwiesen, dass auch die substantielle Rahmenbedingung der sachbereichsspezifischen Verfahrensadäquatheit als Maßstab der Gemeinwohlbestimmung plausibel ist, weil sie eine theoretische Fundierung der intuitiv einsichtigen Kritik an den Planungs- und Entscheidungsverfahren erlaubt, die für den Verlauf des Brückenstreits zentral waren.

5 Konklusion 5.1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung – und ihre Antwort Jetzt, da sowohl die Spezifizierung der integrativen Gemeinwohltheorie und ihrer beiden Komponenten – der subjektiv-prozeduralen und der objektiv-prozedurtranszendenten – als auch deren Plausibilisierung als Anwendungstheorie durch die Diskussion der Fallbeispiele abgeschlossen ist, ist es an der Zeit, die Ergebnisse im Kontext der Gesamtuntersuchung und ihrer Kernfrage nach der Gemeinwohlbestimmung zu bewerten. Hierfür ist es meines Erachtens jedoch sinnvoll, zunächst die bisherige Argumentation in aller Kürze zu rekapitulieren. Ausgehend von dem weithin geteilten Befund einer „Renaissance“ des Gemeinwohlbegriffs in der politischen Debatte, habe ich in Kap. 1 dafür argumentiert, dass das Gemeinwohl als ein bedeutender Rechtfertigungsgrund politischen Handelns in den öffentlichen Auseinandersetzungen moderner demokratischer Gemeinwesen fungiert. In diesem Kontext drängte sich die Frage nach einem Beurteilungskriterium für Gemeinwohlrekurse auf bzw. danach, wie wir erkennen können, ob eine politische Handlung gemeinwohldienlich ist oder nicht. Die Dringlichkeit dieser Frage verschärfte sich dadurch, dass in der politischen Theorie schwerwiegende Einwände gegen die Plausibilität des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund einschlägig sind – weder lasse sich überhaupt eine kohärente Bestimmung des Begriffs geben noch sei das Gemeinwohl als politischer Rechtfertigungsgrund mit einer demokratischen Ordnung vereinbar. Hieraus ergab sich die Anforderung, dass eine Analyse des Gemeinwohlbegriffs, wenn sie nicht in dessen Quittierung einmünden soll, die entsprechenden Einwände entkräften muss. Zudem hatten wir festgehalten, dass eine philosophische Bestimmung des Gemeinwohls sowohl an unser vortheoretisches Begriffsverständnis anschlussfähig sein muss als auch eine Lösung strittiger Fälle ermöglichen muss, in denen unser Zutrauen in die Richtigkeit unserer Intuitionen schwindet oder gravierende interpersonale Dissense auftreten. In Kap. 2 habe ich die einflussreichste Theorierichtung in der aktuellen politisch-philosophischen Debatte um die Gemeinwohlbestimmung diskutiert – den Prozeduralismus. Diese Theorierichtung, die das Gemeinwohl ausschließlich über die Befolgung formal spezifizierter Verfahrensnormen eines demokratischen Systems bestimmt, schien prima facie zwar gute Aussichten zu haben, sowohl den Gemeinwohlbegriff als kohärentes, einheitsstiftendes Prinzip zu etablieren und zudem seine Kompatibilität mit einer demokratischen Ordnung zu gewährleisten; gleichwohl scheiterte sie an verheerenden Einwänden. Allerdings war dieses Scheitern insofern instruktiv, als die Argumente, die die Überzeugungskraft einer

5.1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung – und ihre Antwort

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der beiden Varianten des Prozeduralismus – seiner objektivistischen bzw. seiner subjektivistischen Variante – unterminierten, der jeweils anderen allererst ihre Grundplausibilität verliehen: Der subjektivistisch fundierte Prozeduralismus bezog seine Grundplausibilität zwar daraus, dass er den Bürgern qua souveränen Mitgliedern eines Gemeinwesens die Deutungshoheit über das Gemeinwohl einräumte, indem er Letzteres über deren aktuale, vermittels demokratischer Prozeduren geltend gemachte Interessen definierte. Er scheiterte jedoch maßgeblich daran, dass es die Annahme eines reinen ethischen Subjektivismus unmöglich machte, Irrtümer der Gemeinschaftsmitglieder über die Gemeinwohldienlichkeit politischer Handlungen zu explizieren. Der objektivistisch fundierte Prozeduralismus erhielt hingegen seine Grundplausibilität dadurch, dass er solche Irrtümer erklären konnte, indem er objektive, d. h. interessenunabhängige Gemeinwohlkriterien veranschlagte, welche – so seine Kernthese – durch die Verfahren des politischen Systems zuverlässig identifiziert werden könnten. Diese Lesart scheiterte neben der epistemischen Überlastung, die sie dem System aufbürdete, jedoch daran, dass sie den demokratischen Akt kollektiver Willensbildung zu einem bloß epistemischen Verfahren depotenzierte und so den Mitgliederinteressen jeden gemeinwohlkonstitutiven Charakter aberkannte. In diesem Zusammenhang ergab sich nun das Problem, dass sich ein Integrationsversuch beider Varianten zur Inkorporation ihrer jeweiligen Vorteile und zur Vermeidung ihrer jeweiligen Nachteile zumindest innerhalb des rein prozeduralistischen Paradigmas als unmöglich erwies, und zwar aufgrund der einander ausschließenden Funktionsbestimmungen politischer Prozeduren in beiden Modellen: Entweder, so hatte ich argumentiert, man begreift das Gemeinwohl als Output formal spezifizierter Verfahren, weil man annimmt, dass diese den Mitgliedern dazu dienen, auf Grundlage ihrer Interessen das Gemeinwohl selbst zu bestimmen; oder man begreift das Gemeinwohl als Output solcher Verfahren, weil man annimmt, dass diese zur Identifikation objektiv gemeinwohlkonstitutiver Güter dienen. Beides zusammen ist jedoch nicht möglich. Dieses instruktive Scheitern einer rein prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption legte nun die Frage nahe, ob es stattdessen nicht möglich sein könnte, die Vorzüge der subjektivistischen und der objektivistischen Variante ohne Inkaufnahme ihrer Nachteile in eine Theorie zu integrieren, die über das prozeduralistische Paradigma dergestalt hinausgeht, dass sie neben prozeduralen Kriterien der Gemeinwohlbestimmung auch eine inhaltliche bzw. prozedurtranszendente Bestimmung des Gemeinwohls vornimmt. Einen solchen Theorieentwurf habe ich in Kap. 3 mit der integrativen Gemeinwohltheorie vorgelegt. Diese Theorie ist im doppelten Sinne integrativ: Sie integriert erstens prozedurale und prozedurtranszendente Kriterien der Gemeinwohlbestimmung; und sie integriert zweitens die Vorgabe, wonach den Mitgliedern die Deutungshoheit über das Gemeinwohl zu-

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5 Konklusion

kommt, und die Vorgabe, wonach diese sich gleichwohl darüber irren können müssen, was dem Wohle ihres Gemeinwesens dient. Die integrative Gemeinwohltheorie leistet dies, indem sie a) den demokratischen Verfahren des politischen Systems die Funktion zuweist, die Deutungshoheit der Mitglieder umzusetzen und dergestalt auf der Grundlage ihrer Interessen konkrete Güter als gemeinwohlrelevant zu bestimmen; und indem sie b) objektive und prozedurtranszendente Kriterien veranschlagt, die als limitierende Rahmenbedingungen dieser Verfahren fungieren und festlegen, welche Outputs der respektiven Verfahren entgegen dem Für-gut-Halten der Mitglieder entweder gemeinwohlschädlich oder gemeinwohlirrelevant sind bzw. welche Mindeststandards diese Outputs erfüllen müssen, wenn sie diese Defizite nicht aufweisen sollen. Entsprechend ergibt sich die Gemeinwohldienlichkeit einer politischen Handlung daraus, dass diese sowohl demokratisch autorisiert ist als auch die prozedurtranszendenten Rahmenbedingungen nicht verletzt. Dieser Ansatz trägt der subjektivistisch fundierten Deutungshoheit der Mitglieder insofern Rechnung, als er die politische Willensbildung der Mitglieder zur unverzichtbaren Vorbedingung der Bestimmung gemeinwohldienlichen Handelns macht; und er trägt der Möglichkeit von Gemeinwohl-Irrtümern Rechnung, insofern er diese in objektiven Standards fundiert, an denen diese Willensbildung in Hinblick auf das Gemeinwohl scheitern kann. Gemäß seiner integrativen Ausrichtung hat dieser Theorieentwurf zwei komplementäre Komponenten: eine subjektiv-prozedurale und eine objektivprozedurtranszendente. Erstere besteht in den sogenannten qualifizierten Souveränitäts- und Verfahrensprinzipien, denen zufolge die Mitglieder mittels partizipativer Verfahren, die allen Personen weitestgehend gleiche Einflusschancen auf den politischen Prozess und eine weitestgehend effiziente und effektive Umsetzung ihrer partizipatorisch eingebrachten Interessen gewähren, festlegen, worin das Wohl ihres Gemeinwesens dem Inhalt nach besteht – es sei denn, sie verstoßen damit gegen die oben genannten Rahmenbedingungen. In diesem Falle ist das Output der respektiven Verfahren nicht gemeinwohldienlich, sondern gemeinwohlschädlich oder gemeinwohlirrelevant. Die objektiv-prozedurtranszendente Komponente besteht aus einem Katalog sogenannter substantieller Rahmenbedingungen, die festlegen, welche Anforderungen politische Handlungen erfüllen müssen, wenn sie nicht gemeinwohlschädlich oder für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant sein sollen. Bei diesen Bedingungen, die sich meiner Argumentation zufolge aus unserer vortheoretischen Beurteilungspraxis von Gemeinwohlrekursen ableiten lassen, handelt es sich um: Kriterien zur Identifikation von Politikfeldern, in denen der Rekurs auf das Gemeinwohl überhaupt grundsätzlich sinnvoll ist (GemeinwohlSachbereiche); sachbereichsspezifische Kriterien dafür, welche Verfahren zur

5.1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung – und ihre Antwort

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Umsetzung der Deutungshoheit der Mitglieder welchen Politikfeldern angemessen sind (Verfahrensadäquatheitskriterien); sachbereichsspezifische Kriterien dafür, welche konkreten Folgen eine Handlung mindestens haben muss, um für die Beförderung des Gemeinwohls nicht irrelevant zu sein (Signifikanzschwellen); und sachbereichsspezifische Kriterien dafür, welche konkreten Folgen eine Handlung mindestens nicht haben darf, um nicht gemeinwohlschädlich zu sein (Grenzwerte). In Kap. 3.2.6 habe ich die These vertreten, dass sich die Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie als ‚Checkliste‘ nutzen lässt, anhand derer sich konkrete Gemeinwohlrekurse politischer Akteure auf ihre Plausibilität hin überprüfen lassen. Zur Untermauerung dieser These war es jedoch angezeigt, die Leistungsfähigkeit der ‚Checkliste‘ durch eine Analyse politischer Streitfälle, in denen Gemeinwohlrekurse thematisch sind, zu demonstrieren. Bei der Untersuchung der exemplarisch ausgewählten Auseinandersetzungen um die Maßregel der nachträglichen Sicherungsverwahrung und um den Bau der Waldschlösschenbrücke im Dresdner Elbtal zeigte sich, dass die integrative Gemeinwohltheorie in der Tat ein überzeugendes konzeptionelles Instrumentarium bietet, um konkrete Gemeinwohlrekurse zu klassifizieren und zu kritisieren. Dieses Ergebnis, so mein Fazit, belegte die Leistungsfähigkeit der integrativen Gemeinwohltheorie als Anwendungstheorie. Des Weiteren entspricht dieser Ansatz den in Kap. 1 aufgestellten Vorgaben einer plausiblen Gemeinwohltheorie: So konnte erstens gezeigt werden, dass die Annahme des Gemeinwohls als Rechtfertigungsgrund politischen Handelns entgegen der Auffassung einiger Kritiker durchaus mit einer demokratischen Ordnung vereinbar ist. Die integrative Gemeinwohltheorie weist demokratischen Verfahren, insofern diese dazu dienen, die Deutungshoheit der Mitglieder zu operationalisieren, eine unverzichtbare Funktion bei der Bestimmung und Verwirklichung des allgemeinen Wohles zu. In diesem Kontext kann die Theorie meines Erachtens auch als Beitrag zu einer philosophisch informierten Demokratietheorie verstanden werden, da sie dazu beiträgt, die Legitimationsbedingungen demokratischer Systeme aufzuklären: Wenn wir, so lässt sich argumentieren, davon ausgehen, dass die Gemeinwohlrealisierung in der Tat eine bedeutende Funktion politischer Systeme darstellt, dann müssen wir auch veranschlagen, dass diese durch solche Verfahren charakterisiert sein sollen, die ihren Mitgliedern die gleichberechtigte Geltendmachung ihrer Interessen erlauben. Zweitens etabliert die integrative Gemeinwohltheorie den Gemeinwohlbegriff als ein kohärentes, einheitsstiftendes Prinzip, unter das sich verschiedenste Handlungen, die sich auf unterschiedliche Politikfelder beziehen, als gemeinwohldienlich subsumieren lassen. Die differentia specifica gemeinwohldienlicher

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5 Konklusion

Handlungen ist ihr zufolge, dass diese a) durch hinlängliche demokratische Verfahren autorisiert sind und sich b) auf gemeinwohlrelevante Sachbereiche beziehen sowie weiteren sachbereichsspezifischen Mindeststandards genügen. Diese Kriteriologie erlaubt es, die prima facie verwirrende Vielfalt von Gemeinwohlrekursen in modernen Gemeinwesen zu systematisieren und – um die diskutierten Beispiele heranzuziehen – begründet dafür zu argumentieren, dass sowohl die Rechtslage zur Sicherungsverwahrung als auch die Kontroverse um den Bau der Waldschlösschenbrücke in einem spezifischen Sinne für das Wohl des Gemeinwesens relevant sind; und zwar trotz der gravierenden Unterschiede zwischen beiden Fällen und den ihnen korrespondierenden Politikfeldern. Drittens ist dieser Ansatz anschlussfähig an unser intuitives Vorverständnis von der Bedeutung des Gemeinwohlbegriffs, insofern er den entsprechenden vortheoretischen Kernüberzeugungen Rechnung trägt: So inkorporiert die subjektiv-prozedurale Komponente unser staatsbürgerliches Selbstverständnis als Akteure, die das Wohl ihres Gemeinwesens autonom gestalten und nicht einfach nur ‚finden‘, indem sie darauf abstellt, dass die Mitgliederinteressen bei der Gemeinwohlbestimmung als um ihrer selbst willen gerechtfertigt anerkannt werden müssen – und nicht im Sinne lediglich instrumentell gerechtfertigter Indikatoren eines unabhängig bestehenden Gemeinwohls. Die objektiv-prozedurtranszendente Komponente fundiert hingegen die basale Intuition, dass sich die Mitglieder eines Gemeinwesens gleichwohl darüber irren können, was ihrem gemeinsamen Wohl dient: Indem sie die Bedingung der Möglichkeit substantieller Gemeinwohlirrtümer etabliert, erlaubt sie es, sinnhaft davon zu sprechen, dass bestimmte politische Entscheidungen zwar demokratisch gefällt wurden, aber nichtsdestotrotz in verheerender Unkenntnis oder Missachtung entscheidungsrelevanter Tatsachen erfolgten und daher nicht gemeinwohldienlich waren. Diese Beurteilungspraxis, die meines Erachtens einen wesentlichen Bestandteil öffentlicher Auseinandersetzung über die Rechtfertigungsgründe politischen Handelns darstellt, lässt sich unter Bezugnahme auf die objektiv-prozedurtranszendente Komponente der Gemeinwohlbestimmung plausibel rekonstruieren. Viertens ist die integrative Gemeinwohltheorie, wie die Diskussion der Fallbeispiele gezeigt hat, nicht nur dazu geeignet, unser vortheoretisches Begriffsverständnis zu fundieren, sondern auch – wenn sie durch spezialwissenschaftliche Kenntnisse komplementiert wird – kontroverse und komplexe Streitfälle, in denen die Gemeinwohldienlichkeit, -schädlichkeit oder -irrelevanz einer politischen Handlung alles andere als augenfällig ist, zu analysieren. Sie taugt in diesem Sinne als Anwendungstheorie, die von den Gemeinschaftsmitgliedern selbst genutzt werden kann, um entsprechende Rechtfertigungsstrategien zu bewerten, sich selbst ein wohlbegründetes Urteil zu bilden und entsprechend zu

5.1 Die Frage der Gemeinwohlbestimmung – und ihre Antwort

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handeln. Somit kann sie als Beitrag zur Stärkung der kritischen Kapazitäten der politischen Öffentlichkeit verstanden werden. Trotz dieser Vorzüge scheint ein Wermutstropfen zu bleiben: Der Prozeduralismus war mit der These einer rein formalistischen Gemeinwohldefinition angetreten, der zufolge sich das Gemeinwohl als Output eines politischen Systems begreifen lässt, dessen Verfahren bestimmten Adäquatheitsbedingungen genügen. Die bis heute ungebrochene Attraktionskraft dieses Ansatzes verdankt sich meiner Einschätzung nach vor allem auch der praktischen Verheißung, es genüge, in einem Gemeinwesen einmal die richtigen Institutionen zu etablieren – und in der Folge sei man jeder Sorge enthoben, das respektive System könne in Hinblick auf das Gemeinwohl irgendwelche Fehlleistungen erbringen. Dieses Versprechen haben Gutman und Thompson treffend mit dem Satz „[o]nce the right procedures are in place, whatever emerges from them is right“ auf den Punkt gebracht haben.⁴⁷⁵ Metaphorisch gesprochen, liegt dieser Theorierichtung die Einschätzung zugrunde, ein System könne wie eine Art ‚Gemeinwohlmaschine‘ funktionieren, die zur zuverlässigen Erfüllung ihrer Funktion lediglich von politischen Experten richtig eingestellt und gelegentlich gewartet werden müsse. Der Prozeduralismus ist jedoch, wie ich gezeigt habe, unplausibel; an seiner statt habe ich einen Ansatz vorgeschlagen, welcher prozedurale Adäquatheitsbedingungen mit prozedurtranszendenten Kriterien kombiniert. Um zu ermitteln, ob eine Handlung gemeinwohldienlich ist oder nicht, genügt es folglich nicht, bloß zu überprüfen, ob sie das Ergebnis von Verfahren ist, die hinlänglicherweise bestimmten prozedurimmanenten Normen genügen – es müssen auch die konkreten Effekte dieser Handlung geprüft werden; es muss (jenseits der Frage der Normerfüllung) durch eine Analyse politikfeldspezifischer Faktoren untersucht werden, ob überhaupt die respektiven Verfahren selbst den materialen Bedingungen der Sachbereiche, in denen sie Anwendung finden, Rechnung tragen etc. Da die integrative Gemeinwohltheorie die hinlängliche Adäquatheit des politischen Systems jedoch nur als notwendige, nicht aber als notwendige und hinreichende Bedingung der Gemeinwohlbestimmung begreift und also zulässt, dass auch solche Systeme, die weitgehende partizipative Gleichheit und weitgehende Effektivität und Effizienz gewährleisten, das Gemeinwohl verfehlen können, kann auch sie die Verheißung des Prozeduralismus, man könne durch die Entwicklung und Implementierung eines bestimmten institutionellen Designs die Realisierung des Gemeinwohls garantieren, nicht einlösen. Wer also von einer Gemeinwohltheorie nicht nur ein plausibles Beurteilungskriterium für Gemeinwohlrekurse erwartet – denn ein solches bietet die integrative Gemeinwohltheorie meines

 Gutman & Thompson (2004: S. 24).

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5 Konklusion

Erachtens durchaus –, sondern auch eine praktische Anleitung im oben genannten Sinne, für den wird auch dieser Ansatz eine große Enttäuschung sein. Hierzu ist zweierlei zu sagen: Erstens bin ich selbst nur mit dem Anspruch angetreten, ein Beurteilungskriterium für Gemeinwohlrekurse zu entwickeln, um die Rechtfertigungsstrategien politischer Akteure analysieren und bewerten zu können; nicht jedoch ein institutionelles Design zu entwickeln, das die Verwirklichung des Gemeinwohls auch garantiert. Somit scheitert mein Ansatz nicht an selbstgesetzten Ansprüchen. Zweitens ist diese Forderung meines Erachtens utopisch: Angesichts der Vielfalt und Komplexität der Politikfelder, die ich als Gemeinwohl-Sachbereiche identifiziert habe und die von verschiedensten Spezialwissenschaften im Rahmen eines fortschreitenden, aber falliblen Erkenntnisprozesses bearbeitet werden, wäre es vermessen, von einer politischen Theorie die Entwicklung eines solchen Designs zu fordern.Wir sollten, denke ich, vielmehr zutiefst skeptisch gegenüber Ansätzen sein, die mit einer derartigen praktischen Verheißung antreten – und eben hier weisen rein prozeduralistische Theorien eine beunruhigende Nähe zu jenen in Kap. 3.1 diskutierten totalitären Ansätzen eines starken Substantialismus auf, die das Gemeinwohl über eine konkrete Liste gemeinwohlkonstitutiver Güter definieren und stipulieren, dass diese von einer kompetenten Elite vollkommen zuverlässig erkannt und umgesetzt werden kann.

5.2 Ausblick Eine entscheidende Frage, um die keine philosophische (und im Übrigen generell keine wissenschaftliche) Untersuchung herumkommt, ist die nach der Relevanz ihrer Ergebnisse. In Hinblick auf den Entwurf einer integrativen Gemeinwohltheorie hat diese Relevanz-Frage zwei Aspekte: einen wissenschaftlich-theoretischen und einen politisch-praktischen. Im Folgenden werde ich zunächst kurz darlegen, warum die besondere wissenschaftliche Relevanz meiner Untersuchungsergebnisse in dem interdisziplinären Forschungspotential liegt, das die Kriteriologie meiner Gemeinwohltheorie bietet. Im Anschluss werde ich dafür argumentieren, dass die Erörterung der politisch-praktischen Relevanz dieser Kriteriologie in eine wichtige Folgefrage, die Gegenstand weiterer philosophischer Untersuchungen sein sollte, einmündet – die Frage nach einer ausgearbeiteten Theorie gerechtfertigten politischen Handelns. Eine zentrale Pointe meiner Untersuchung besteht darin, dass es – entgegen der von den Vertretern des Prozeduralismus aufgestellten These – zur Bestimmung des Gemeinwohls nicht genügt, ein Set formaler Verfahrenskriterien, das von Experten der politischen Philosophie spezifiziert werden kann, aufzustellen. Vielmehr müssen, um zu klären, ob eine konkrete politische Handlung durch

5.2 Ausblick

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deren Gemeinwohldienlichkeit gerechtfertigt ist oder nicht, darüber hinaus prozedurtranszendente Gemeinwohl-Kriterien veranschlagt werden, die die entsprechenden Verfahrensnormen komplementieren. Nun kann die politische Philosophie meiner Argumentation zufolge zwar erstens begründet darlegen, dass diese Kriterien angenommen werden müssen, und sie kann zweitens auch darlegen, wie diese Kriterien in abstracto verfasst sein müssen (nämlich in Form der in Kap. 3 skizzierten Rahmenbedingungen prozeduraler Gemeinwohlbestimmung). Was sie jedoch nicht leisten kann, ist anzugeben, wie diese Kriterien in concreto spezifiziert werden müssen; diese Aufgabe obliegt den speziellen empirischen Wissenschaften im Verbund mit den Gemeinschaftsmitgliedern. Nun könnte man, etwa wenn man der Ansicht wäre, dass eine philosophische Theorie eine in sich abgeschlossene und nicht weiter ergänzungsbedürftige Kriteriologie des Gemeinwohls bieten muss, dieses Resultat als ein gravierendes Theoriedefizit betrachten. Aber meines Erachtens ist diese Einschätzung unplausibel, weil sie der Philosophie eine gänzlich unrealistische Erkenntnislast aufbürdet – ein Problem, für das das Scheitern des Prozeduralismus, der als ein entsprechender Versuch angesehen werden kann, exemplarisch ist. Wir sollten, denke ich, die Komplementierungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie vielmehr als Ausgangspunkt einer Reihe interdisziplinärer Forschungsfragen verstehen, die von der politischen Philosophie im Verbund mit empirischen Disziplinen bearbeitet werden kann. Hier einige Beispiele: Ein in Hinblick auf die Frage der Gemeinwohlbestimmung zentrales prozedurtranszendentes Kriterium zu Bewertung des Outputs politischer Systeme ist der Schwellenwert der Hinlänglichkeit (zur Diskussion dieses Kriteriums siehe Kap. 2.5.2 und Kap. 3.2.1), der festlegt, welche Abweichung vom normativen und funktionalen Adäquatheitsideal der Demokratietheorie in aktualen Systemen zulässig ist, wenn diese die Realisierung der subjektiv-prozeduralen Gemeinwohl-Komponente sicherstellen sollen. Bei der Erörterung dieses Kriteriums habe ich dafür argumentiert, dass die konkrete Spezifizierung dieses Schwellenwerts nicht von der Philosophie selbst vorgenommen werden kann, weil hierfür eine Reihe empirischer Fragen geklärt werden muss: Unter anderem muss geklärt werden, zu welchem Grad unter realen Bedingungen überhaupt eine Annäherung an das Adäquatheitsideal möglich ist; zu welchen Kosten in Bezug auf andere wichtige Systemfunktionen eine Annäherung erzielbar ist; und welche Abwägungen zwischen normativer und funktionaler Adäquatheit unter realen Bedingungen im Konfliktfall vorgenommen werden können und müssen. Dieser Themenkomplex bietet meines Erachtens ein interessantes interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich für eine enge Kooperation zwischen vergleichender empirischer Politikwissenschaft und politischer Philosophie eignet: So sollte die Klärung der oben genannten Fragen als Forschungsauftrag an die

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5 Konklusion

empirische Politikwissenschaft begriffen werden; und deren Untersuchungsergebnisse sollten wiederum von der politischen Philosophie herangezogen werden, um ihre Konzeption gemeinwohlproduzierender politischer Systeme zu präzisieren. Einen weiteren Aspekt der im Rahmen meiner Untersuchung entwickelten Gemeinwohl-Kriteriologie, der interdisziplinäres Forschungspotential birgt, stellen die in Kap. 3.2.4 diskutierten Faktoren sachbereichsspezifischer Verfahrensadäquatheit dar. So habe ich dafür argumentiert, dass die Frage, welche Prozeduren zur Operationalisierung der Deutungshoheit der Mitglieder über das Gemeinwohl angemessen sind, von einer Reihe von Faktoren abhängt, die, je nachdem welcher Gemeinwohl-Sachbereich bei der infrage stehenden Entscheidung thematisch ist, stark variieren können. Hierbei lassen sich vier grundlegende Faktoren angeben, an denen sich bemisst, ob zur Gemeinwohlbestimmung aggregative, deliberative oder Mischverfahren herangezogen werden müssen: die Dringlichkeit der politischen Entscheidung, der Organisationsgrad der Zivilgesellschaft bezüglich des respektiven Sachbereichs, die Komplexität der infrage stehenden Materie sowie deren Konfliktivität. Da es sich bei diesen Kriterien erstens um Ceteris-Paribus-Bedingungen handelt, d. h. um Kriterien, von denen jedes einzelne nur dann notwendig die Vorzugswürdigkeit einer bestimmten Prozedur indiziert,wenn keines der anderen Kriterien ausschlaggebend ist, und da diese zweitens gradualisierbar sind, wird eine Faktorengewichtung und -abwägung je nach Einzelfall möglich und nötig. Nun ist es aber offenkundig, dass die Messung dieser Faktoren und ihres relativen Gewichts keine Aufgabe der politischen Philosophie darstellt, sondern in den Zuständigkeitsbereich sozialwissenschaftlicher Disziplinen wie der Soziologie oder der Ethnologie fällt. Hier bietet sich eine weitere Anknüpfungsstelle für interdisziplinäre Untersuchungen, wobei die Faktoren sachbereichsspezifischer Verfahrensadäquatheit, wie ich sie skizziert habe, meines Erachtens durchaus als Analyse-Raster für empirische Erhebungen fungieren könnten. Ein letzter Punkt, auf den ich nur kurz eingehen will (für eine vertiefende Diskussion siehe Kap. 3.2.5), besteht darin, dass die Kriterien sachbereichsspezifischer Gemeinwohlgrenzwerte und -signifikanzschwellen, die festlegen, welche Effekte politische Handlungen mindestens nicht haben dürfen, um nicht gemeinwohlschädlich zu sein, bzw. welche Effekte sie mindestens haben müssen, um nicht gemeinwohlirrelevant zu sein, meiner Argumentation zufolge ebenfalls einer spezialwissenschaftlichen Konkretisierung bedürfen. Da unter die Kategorie der Gemeinwohl-Sachbereiche so unterschiedliche Politikfelder wie die Sektoren der Umweltschutz-, Energie- und Wirtschaftspolitik fallen, ergibt sich die Möglichkeit, auch natur- und wirtschaftswissenschaftliche Disziplinen in das Projekt der Gemeinwohlbestimmung einzubinden.

5.2 Ausblick

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Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Projekt der Gemeinwohlbestimmung nicht nur ein demokratisches Projekt ist, insofern den Mitgliedern des Gemeinwesens selbst die Aufgabe zukommt, über partizipative Prozeduren ihre Deutungshoheit über das Gemeinwohl auszuüben, sondern auch ein wissenschaftlich-interdisziplinäres: Ohne die Expertise der verschiedensten empirischen Spezialwissenschaften bleibt es unmöglich, die objektiven Rahmenbedingungen der prozeduralen Gemeinwohlbestimmung in einer Weise zu konkretisieren, die eine wohlbegründete und informierte Analyse und Kritik von Gemeinwohlrekursen erlaubt. Dieser Umstand sollte die Theoretiker der politischen Philosophie, so sie an der Frage der Gemeinwohlbestimmung interessiert sind, veranlassen, verstärkt den Austausch mit diesen Disziplinen zu suchen. Und er sollte die Vertreter dieser Disziplinen motivieren, zur Beförderung dieses Projekts, das – wie der weithin geteilte Befund einer „Renaissance“ des Gemeinwohlbegriffs zeigt – von der politischen Öffentlichkeit als ein höchst bedeutsames eingeschätzt wird, ihre Expertise in die Debatte mit einzubringen. Zur Erörterung der praktisch-politischen Relevanz meiner Untersuchungsergebnisse ist es meines Erachtens sinnvoll, auf die in Kap 1.2 formulierte Feststellung zurückzukommen, wonach das Gemeinwohl als ein bedeutender Rechtfertigungsgrund politischen Handelns in den öffentlichen Auseinandersetzungen modernder demokratischer Gemeinwesen fungiert. Bedeutend ist das Gemeinwohlkonzept einerseits, weil es von verschiedensten politischen Akteuren zur Handlungsrechtfertigung herangezogen wird, und zwar in Bezug auf höchst unterschiedliche Politikfelder; und andererseits, weil Gemeinwohlrekurse unter anderem die Funktion haben, die Zurückstellung anderer, gewichtiger Rechtfertigungsgründe (wie z. B. die legitimen Partikularinteressen bestimmter Gemeinschaftsmitglieder) zu rationalisieren. Wenn es die Kriteriologie der integrativen Gemeinwohltheorie nun, wie ich in Kap. 4 argumentiert habe, ermöglicht, solche konkreten Gemeinwohlrekurse zu analysieren, dann versetzt diese erstens die Gemeinschaftsmitglieder selbst in die Lage, eine kritische und reflektierte Haltung zu den entsprechenden Rechtfertigungsstrategien einzunehmen: Es wird dann – dies ist zumindest meine Hoffnung – für Demagogen, Spin-Doctors und andere politische Manipulatoren weit schwieriger, die Öffentlichkeit mit bloßer Gemeinwohl-Rhetorik hinters Licht zu führen und Handlungen durchzusetzen, die in Wahrheit gar nicht dem Wohle der Allgemeinheit (sondern z. B. nur den Interessen bestimmter Gesellschaftsgruppen) dienen. Zweitens versetzt diese Kriteriologie aber auch politische Entscheidungsträger selbst in die Lage, ihre eigenen Handlungen in Hinblick auf deren Gemeinwohldienlichkeit kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren. Die Stärkung dieser kritischen Kapazitäten ist deshalb so wichtig, weil das Gemeinwohl eben kein randständiger Begriff der politischen Rechtfertigungs-

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5 Konklusion

praxis (mehr) ist, sondern in diesem Kontext eine bedeutende Funktion innehat. Gerade weil der Rekurs auf das Gemeinwohl in öffentlichen Auseinandersetzungen ubiquitär geworden zu sein scheint und weil er zur Legitimation von Entscheidungen dient, die unser Leben in gravierender Weise tangieren, ist es von erheblicher Bedeutung, eine plausible Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs zu gewährleisten – und diese Aufgabe leistet die integrative Gemeinwohltheorie meines Erachtens in der Tat. Gleichwohl bietet uns diese Theorie, weil sie sich darauf beschränkt, Beurteilungskriterien dafür anzugeben, ob eine Handlung gemeinwohldienlich, -schädlich oder für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant ist, keine Antwort auf eine Reihe praktischer Anschlussfragen, wie etwa: Sollen wir eine politische Handlung, die als gemeinwohldienlich ausgewiesen ist, unterstützen (oder zumindest nicht behindern), und zwar auch dann, wenn sie mit den legitimen Partikularinteressen bestimmter Gemeinschaftsmitglieder konfligiert? Sollten wir gemeinwohlschädliche Handlungen aufhalten (oder behindern, oder deren Folgen rückgängig machen), und zwar auch dann, wenn diese Vorgehensweise Konsequenzen hätte, die sozial ungerecht wären? Ergeben sich aus der Tatsache, dass bestimmte Handlungen als gemeinwohldienlich (oder -schädlich, oder für die Beförderung des Gemeinwohls irrelevant) ausgewiesen sind, unterschiedliche Verpflichtungen für unterschiedliche Mitglieder – je nachdem, welche politische und soziale Funktion (z. B. politischer Repräsentant, Medienvertreter, zivilgesellschaftlicher Aktivist) sie innerhalb des Gemeinwesens ausüben? Diese Fragen, die ich hier nur anreißen, aber nicht beantworten werde, sind genuin normative Fragen, und entsprechend fallen sie in den Zuständigkeitsbereich der politischen Philosophie. Sie können jedoch nur im Rahmen einer Theorie beantwortet werden, die erstens neben dem Gemeinwohl auch eine Bestimmung der anderen Rechtfertigungsgründe politischen Handelns und ihres relativen Gewichts vornimmt: Da das Gemeinwohl nur als ein Prima-Facie-Rechtfertigungsgrund politischen Handelns unter einer Pluralität irreduzibler, nicht strikt lexikalisch geordneter und potentiell konfligierender Rechtfertigungsgründe fungiert (siehe Kap. 1.2), ist es erforderlich, diese insgesamt zu systematisieren, wenn man eine wohlbegründete Antwort auf diese praktischen Anschlussfragen geben will. Zweitens muss dargelegt werden, ob sich für verschiedene Mitglieder aus diesen Rechtfertigungsgründen unterschiedliche Verpflichtungen ergeben, je nachdem, welche soziale und politische Funktion sie ausüben, und wenn ja, worin diese Pflichten bestehen. Ich möchte keinesfalls ausschließen, dass eine Theorie zur Beantwortung dieser und ähnlicher praktischer Anschlussfragen noch weitere zentrale Vorgaben erfüllen müsste, aber es ist meines Erachtens offenkundig, dass es sich bei dieser um eine umfassende normative Theorie gerechtfertigten politischen Handelns handeln müsste. Die integrative Gemeinwohltheorie kann beim

5.2 Ausblick

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bestem Willen nur als ein Mosaikstein einer solchen Theorie begriffen werden – allerdings, wie ich denke, als ein nicht unbedeutender.

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6.3 Urteile, Protokolle und Drucksachen Abstimmungsbroschüre ‚Bürgerentscheid Waldschlößchenbrücke 27. 2. 2005‘. (http://www.dresden.de/media/pdf/infoblaetter/waldschloesschen_abstimmungs broschuere_k.pdf) Baden-Württembergischer Landtag, Drucksache 12/6019 vom 17. 1. 2001 Bundestag, Drucksache, 15/2887 vom 2. 4. 2004. Bundestag, Drucksache, 17/9874 vom 6. 6. 2012. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 834/02 vom 10. 2. 2004. Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 375/05 vom 15.2. 2006. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2098/08 vom 5. 8. 2009. Bundesverfassungsgericht, 2BvR 2365/09 vom 5. 9. 2011.

6.5 Online-Ressourcen

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6.4 Presse Bild am Sonntag vom 8. 8. 2010. Der Spiegel vom 25. 6. 2009. Der Spiegel vom 20. 9. 2010. Deutschlandfunk vom 10. 6. 2010. Die Welt vom 26. 6. 2009. Die Zeit vom 7. 8. 2010. Greenpeace Magazin 1998 (6). MDR-„artour“ vom 31. 8. 2006. Neue Rheinische Zeitung vom 28. 8. 2011. Sächsische Zeitung vom 27. 9. 2005 Sächsische Zeitung vom 19. 7. 2007. Sächsische Zeitung vom 8. 2. 2008. Süddeutsche Zeitung vom 10. 10. 2006. Tagesspiegel vom 20. 11. 2010.

6.5 Online-Ressourcen http://www.buergerforum-a52.de. http://www.archiv.welterbe-erhalten.de. http://www.elbtunnel-dresden.de. http://www.unesco.de/welterbekonvention.html. http://www.waldschloessenbruecke.de.

Personenregister Ackerman, Bruce 35 Alex, Michael 158 f., 161–167, 169, 171, 174 f., 180 Anderheiden, Michael 18, 37, 122, 125 Aristoteles 41 Baier, Kurt 11 f. Barry, Brian 9, 25 Berthod, Olivier 185–187, 208 Biedenkopf, Kurt 185 Blobel, Günter 192 Condorcet, Marie Jean

42

Dancy, Jonathan 113 Dölle, Hans 1 Dryzek, John 35, 69 f., 72–84, 94, 142, 207 Estlund, David

27, 36, 39–42, 50, 56 f.

Fetscher, Iring 45 Fijalkowski, Jürgen 24, 86, 107 Fishkin, James 35 Foucault, Michel 74, 111 Fraenkel, Ernst 3, 34, 36, 101–103 Ganghof, Steffen 61–64, 66–68, 72 Gert, Bernard 43 Griffin, James 89, 92 Gutman, Amy 35 f., 70, 101, 140, 146, 217 Habermas, Jürgen 10, 78 Habermeyer, Elmar 170 Harrendorf, Stefan 171, 173–175 Hegel, Georg Wilhelm 70, 111 Herb, Karlfriedrich 14, 45–47, 51 Herrman, Joachim 170 Hooker, Brad 13 Hume, David 48 Jokilehto, Jukka

191

Kinzig, Jörg 160, 162 f., 165, 167, 169–171, 173–175, 179 f.

Kißler, Leo 71 f. Klemperer, Vivtor 1 Kreuzer, Arthur 164 f., 175 Leutheusser-Schnarrenberg, Sabine List, Christian 79 f., 207

164

MacIntyre, Alasdair 108 f. Mackie, Gerry 47, 60, 140 Madison, James 47 Messner, Johannes 15 Mill, John Stuart 10, 56 f. Milo, Ronald 44 Morlok, Martin 23, 34, 36, 101 Nedopil, Norbert 165, 169 Neidhardt, Friedhelm 9, 14, 25, 118, 144 Nelson, Wiliam 40, 48 Neumann, Peter 183 f., 196, 205 Nino, Carlos 40, 48 Nowak, Werner 25 Offe, Claus 2, 7–9, 34, 93 Orosz, Helma 200 Ossenbühl, Fritz 7 f. Parkinson, John 140–143 Peter, Fabienne 60 f., 183 f., 188 Pettit, Philip 54 Plachter, Harald 190 Powell, G. Bingham 60, 65 f. Putnam, Robert 34, 76 f., 134 Rawls, John 15, 32, 44 Richter, Peter 188 Rohwer, Lars 184 Ross, William D. 10, 12 f. Rössler, Mechtild 190 Rousseau, Jean-Jacques 14, 39 f., 42, 45–47, 50 f. Rudzio, Wolfgang 185 Saward, Michael 139 f., 142 Schrag, Francis 95–97

Personenregister

Schröder, Gerhard 7 Schumpeter, Joseph 37, 89 Shafer-Landau, Russ 43 f., 49, 53 Shapiro, Ian 37, 60, 76, 85, 87, 105, 131 Sinnott-Armstrong, Walter 12 f., 113 f. Stadtland, Cornelis 169 Stolleis, Michael 1, 103 Sumner, Leonard 31, 52, 119 Sunstein, Cass 86 f. Talmon, Jacob

2, 27

Tversky, Amos

171

Volckart, Bernd 172 f. Von Schorlemer, Sabine Waldron, Jeremy 10 Wheatly, Steven 84 Young, Iris

75

197

239

Sachregister Adäquatheitsbedingungen 34–36, 40, 50, 55, 59 f., 68, 83, 93–98, 115, 118 – funktionale 34 f., 58, 64 f., 68 f., 81, 83, 219 – normative 34 f., 56–58, 68 f., 75, 77, 219 aliénation totale 45 f. Allgemeine Prioritätsregel 151–153, 204 Almende-Güter (siehe auch Common Pool Resources) 126 Anwendungstheorie 35, 38 f., 69, 83, 93, 154–156 Basisrate 171–173 begründete Einzelfallabwägung 152 f., 204 Bikameralismus 64 bilaterales Investitionsabkommen 149 f. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 20–23, 64, 160 f., 166 Common Pool Resources (siehe auch Almende-Güter) 126 Cornell Realism 44 Default Reasons 113 Defeater 113 f. Delegationskette 67, 79 Delegationsverluste 67, 93 f., 116 Demokratie 25, 27–29, 36, 41, 102, 105, 110, 215 f., 221 – Direkte (siehe auch Referendum, Volksentscheid) 61, 140–143, 185, 206, 210 – repräsentative 60–62, 68 f., 72, 74, 206 Demokratietheorie – aggregative 60 f., 69 f., 74, 76, 79 f., 87, 91, 93 f., 96–98, 128–132, 177–179 – deliberative 70 f., 83 f., 91, 93 f., 96–98, 128–132, 197, 207–210 – Mischformen 139 f. demokratische Willensbildung 25, 34, 39, 46, 51 f., 105 deskriptive Adäquatheit 31 Deutungshoheit 54 f., 89, 92, 94, 99, 112–116, 151 – mittelbare 61, 65, 70, 210

– unmittelbare 79, 207 Dilemma 12 f., 73, 97 Diskurs 73–75, 80, 86 f., 133 f., Dringlichkeit einer politischen Entscheidung (siehe auch Gemeinwohl, Verfahrenskriterien) 132 f., 177, 209 elektorales Mehrheitsprinzip 62 f., 68 elektorales Proporzprinzip 62 f., 65 f. Energiepolitik 144–147 epistemische Legitimitätstheorie 39 f. epistemische Überlastung 50, 213 ethischer Konstruktivismus 44 ethischer Objektivismus 42 f. ethischer Realismus 44 f. ethischer Subjektivismus 52–54, 88 f., Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 162 f. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 157, 162 f. Europäische Union (EU) 63, 144 Exklusionseinwand 95–98 Experte – Expertokratie 56 f. – Gemeinwohlexperte 27 f., 36, 56, 103 – spezialwissenschaftlicher Experte 90 f., 142 f., 145 f., 148, 221 Föderalismus 64 Für-gut-Halten 39, 55, 114, 145, 214 Gefährlichkeitsprognose bei Straftätern 161, 168 geistig behinderte Personen 96 f. Gemeinwesen (als Ganzes) 9, 108 f., 120–122 Gemeinwille (siehe auch volonté générale) 45 f. Gemeinwohl – als Rechtfertigungsgrund 9, 15 f., 23 f., 25, 119 f., 167, 200 f. – Checkliste 155, 176, 201, 215 – Definition durch integrative Gemeinwohltheorie 154

Sachregister

– Definition durch Prozeduralismus 34 – Gemeinwohldienlichkeit 33, 48, 50, 76, 104, 114, 218 f. – Gemeinwohlirrelevanz 120, 144, 180 f., 214–216 – Gemeinwohlrekurs, sinnvoller, sinnloser 8 f., 23 f., 25 f., 29, 119–122, 176 f., – Gemeinwohlschädlichkeit 24, 35, 50, 90 f., 104, 119, 144 f., 150–153, 179, 211 – Grenzwerte 119, 143–145, 147 f., 150–153, 179, 202–204, 220 – Irrtum 39 f., 88–91, 99, 105, 118–120, 214 – negative und abstrakte Rahmenbedingungen 104 f., 109 f., 112–114, 118–120 – objektiv-prozedurtranszendente Komponente (siehe auch Komponenten der integrative Gemeinwohltheorie) 113, 151, 154, 214, 216 – Renaissance des 9, 23, 29 f., 32, 212, 221 – Sachbereiche 119–122, 149 f., 176 f., 201 – Signifikanzschwellen 120, 145, 147 f., 180 f., 202–204, 220 – subjektiv-prozedurale Komponente (siehe auch Komponenten der integrative Gemeinwohltheorie) 111, 114, 116, 151, 154, 216 – Verfahrenskriterien (siehe auch Dringlichkeit, Komplexität, Konfliktivität, zivilgesellschaftlicher Organisationsgrad) 119, 127 f., 132 Gentechnik 90, 135 Gerechtigkeit 14–16, 18 f., 32, 121 Gesetzgebung 35, 45, 61, 63–65 Gleichheit – gleiche Interessenberücksichtigung 56 f., 64, 93, 95, 142 – gleicher moralischer Wert (der Person) 56 – kommunikative Gleichheit (siehe auch Kommunikation) 75–78, 83, 95, 116,142 – numerische Ressourcengleichheit 61 f., 68, 71 f., 129 – partizipative Gleichheit 34, 55–58, 61–64, 69, 74 f., 95–97 Group Polarization 86 f. Grundrecht 17 f., 22, 180 – Güterliste (siehe auch starker Substantialismus) 102–105, 109 f., 112

Hinlänglichkeitsklausel

241

94 f., 116–118, 219

Idealisierungsstrategie 92, 94 Ideal Observer Theory 43 Inadäquatheitseinwand 93–95, 114–116 Innere Sicherheit 26, 124, 148, 179–182 Integrative Gemeinwohltheorie 101 f., 111, 154, 213–215 – Definition des Gemeinwohls (siehe auch Gemeinwohl, Definition durch die integrative Gemeinwohltheorie) 154 – Grundentwurf 111 – Komponenten (siehe auch Gemeinwohl, subjektiv-prozedurale Komponente, objektiv-prozedurtranszendente Komponente) 114–120 – kritische Funktion 155, 182 – positiv-rekonstruktive Funktion 155, 181 Interdisziplinarität 218–220 Interesse 34 f., 51–54 – aktual 92, 145 – egoistisch 52, 69, 128 f., – fundamental 86 f., 129, 131, 136, 138, 178 – hypothetisch 92 – informiert 69, 74, 79 – Merkmale 52–54 – uninformiert 89 f., 131 – vorurteilsbehaftet 69, 128 f., 133 – wirtschaftliche 74 f., 129, 131 International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) 191 f., interpersonale Akzeptabilität 76, 91, 133 Intuition (siehe auch vortheoretische Überzeugung) 13, 16, 31, 39, 89, 93, 105, 115 f., 216 Irrtumseinwand 88–93, 145, 153 Jakobinismus

28

Kinder 96 f. Kognitivismus 42 f. Kohärenz 25, 32, 215 kollektive Identität 106 f., 108–110 Kollektivgut (siehe auch öffentliches Gut) 122, 177, 194, 201 Kommunalpolitik 14, 19, 182

242

Sachregister

Kommunikation – alternative Kommunikationsformen 80 f, 97 – kommunikative Auseinandersetzungen 73 f., 83 f., 179, 208 – kommunikative Gleichheit (siehe auch Gleichheit) 75–78, 83, 95, 142 – Standards kommunikativer Rationalität 78 f., 96–98, 141 Kommunismus 28, 103 Komplexität einer politischen Entscheidung (siehe auch Gemeinwohl, Verfahrenskriterien) 135 f., 178 f., 209, 220 Konfliktivität einer politischen Entscheidung (siehe auch Gemeinwohl, Verfahrenskriterien) 136–138, 209, 220 Konsens (siehe auch Reasoned Agreement) 46 f., 142, 79 f. – Binnenkonsens 46 – gesamtgesellschaftlich 130, 137 – paragouvernemental 75, 83, 129 f., 134, 139, 143 Kontraktualismus (siehe auch Vertragstheorie) 43 f., 45 f. Krieg 13, 20, 87, 90 f., 144, 147 Kriminalpolitik 157, 167, 177, 179, 181 Kulturlandschaft 189, 192 f., 203 Kulturpolitik 14 f., 107 f. Legislatives Mehrheitsprinzip 62, 72 f. Legislatives Proporzprinzip (siehe auch supermajoritäre Abstimmung) 72 f. Lobby-Gruppen 71, 74, 82, 141 Luftsicherheitsgesetz 16 f., 20 f. Lügen 80 Maßregel 21, 158 f. Metaethik 37–39, 49, 59, 92, 113 Mitglied (des Gemeinwesens) 10, 23, 27 f., 31, 34 f., 39, 42, 51 f., 56–59, 61 f., 74–76 Motivation 48 f., 59 Nationalsozialismus 1 f., 28, 103, 159 Neutralität von Abstimmungsverfahren 63 f., 71

öffentliche Rechtfertigungspraxis 9–11, 23 f., 25, 29 f., 221 f. öffentliches Gut (siehe auch Kollektivgut) 14, 122, 177, 194, 201 – Definition 122 – non-exklusiv 122 f., 124 – non-rivalisierend 123, 125 f. Parlament 60, 63–65, 67 f., 71, 138, 184 Parteiensystem – Mehrparteiensystem 62 f. – Zweiparteiensystem (siehe auch Westminster-Demokratie) 62 f., 68 Partikularinteresse 14, 121, 180, 222 Paternalismus 25, 27 f., 36, 100, 102 f. Pluralismus – ethischer 10–12 – gesellschaftlicher 36, 55, 57, 100, 106–109 Pluralismus-These 106–108, 111 Policy 35, 58, 68, 77, 81 f. Politikwissenschaft 3, 69, 98, 117, 219 f. politische Arbeitsteilung (siehe auch politische Repräsentation) 61, 63, 66–68, 70 f., 79, 81, 74 f., 127 f., 140, 177–179 politische Handlung 7, 9–13, 24 f., 26 f., 32 f., 39, 48, 59, 89–90 f., 104, 109, 111–120, 214 politische Repräsentation (siehe auch politische Arbeitsteilung) 61, 63, 66–68, 70 f., 79, 81, 74 f., 127 f., 140, 177–179 politische Ressourcen 28 – kommunikative 75 f., 78 – numerische 61, 68, 71 f., 76, 129 politisches System 34 f., 39 f., 50, 53, 58, 60, 93, 102 f., 115–118, 154, 212–215 – Input 34 f., 53, 89, 92 – Output 34 f., 40, 58, 89, 93–95, 99, 102 f., 115 f., 118, 146, 154 politisches Zielbündel 61 f., 67, 70, 79, 179, 208 Prinzipal-Agenten-Beziehung 66–69, 81 Prozeduralismus 34–36, 38 f., 98–100, 212 f., 217 f. – Basismodell 34 f., 40, 58, 89, 94 – Generaleinwände 47–51, 88, 112, 144, 146

Sachregister

– objektivistischer 38–42, 47–51, 54, 58 f., 98 f., 213 – subjektivistischer 38 f., 51–58, 88, 107, 111 f., 115, 213 prozedurtranszendent (siehe auch substantiell) 37, 95, 100–105, 115–120, 213 f., 216 Prozenthürde (siehe auch Sperrklausel) 65 Psychologische, psychiatrische Begutachtung 159, 161 f., 168, 175 Rechtfertigungsgründe 11–13, 23 f., 25, 29 f., 221 f. – Konflikt 11 f., 19–22 – prima facie 11 f., 18, 21 f., 222 – sans phrase 12, 21, 24 Rechtfertigungspflicht 75 f., 81, 83 f., 91, 129 Reduzibilität, Irreduzibilität 11, 15–19, 44 f., 49, 59, 222 Referendum (siehe auch Volksabstimmung) 140–143, 185–188, 205–207, 210 f. Sachbereichskonflikt 148–154, 182, 201–204, 211 Sexualstraftat 159 f., 175, 178 Sicherungsverwahrung 21 f., 158–162, – nachträgliche 21 f., 104, 160 f., 163 f., 167 f., 175–181 – rückwirkend verlängerte 159 f., 162 f. Solidarität 13, 20 Souveränitätsprinzip 50 f., 54, 58, 66, 92, 94, 98 f., 111–114 – qualifiziertes 112, 114 Sozialkapital 76 f. Sperrklausel (siehe auch Prozenthürde) 65 strukturelle Minderheit 64, 68, 72, 80 Substantialismus 37, 100–102 – moderater (siehe auch Gemeinwohl, negative und abstrakte Rahmenbedingungen) 104 f., 109 – starker (siehe auch Güterliste) 102–105, 109 f., 112 substantiell (siehe auch prozedurtranszendent) 37, 95, 100–105, 115–120, 213 f., 216

243

Supermajoritäre Abstimmung (siehe auch legislatives Proporzprinzip) 72 f. Supervenienz 44 f., 59 Terrorismus 14, 17, 90, 144, 146 f. Tertium-Non-Datur-These (TND-These) 101–106 Totalitarismus 3, 7, 28, 103, 218

37,

Umwelt- und Landschaftsschutzpolitik 8, 18 f., 26, 75, 87, 104, 123 f., 150, 182, 188–194, 202–204 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) 8, 26, 31, 104, 182, 188–192, 194 f., 200 Unmündigkeit 96 f. Verfahrensprinzip 55–58, 95 f., 98, 111 f., 114–118 – qualifiziertes 117 f. Verkehrspolitik 124, 182, 184–188, 195, 201 f., 2004, 2009 Vertragstheorie (siehe auch Kontraktualismus) 43 f., 45 f. Vetomacht 64, 72–74, 80, 93, 129, 138 Volksabstimmung (siehe auch Referendum) ) 140–143, 185–188, 205–207, 210 f. volonté générale (siehe auch Gemeinwille) 45 f., 50 Vortheoretische Überzeugung (siehe auch Intuition) 11, 31, 119, 127 – Kernbereich 31 – Peripherie 31 Wahlen 10, 60–69, 71, 73 f., 96–98, 139 f. Wähleranonymität 62 f., 66, 71 Waldschlösschenbrücke 182–188, 191, 193 f. Weisheit der Massen 41 f. Westminster-Demokratie (siehe auch Parteiensystem, Zweiparteiensystem) 62, 66 Wirtschaftspolitik 7 f., 120 Zivilgesellschaft 7, 9, 73–77, 79, 81–85 – zivilgesellschaftlicher Organisationsgrad (siehe auch Gemeinwohl, Verfahrenskriterien) 132–135, 208 f., 220

244

Sachregister

– zivilgesellschaftliches Netzwerk 7, 75–79, 81–83, 85 f., 133 f., 209

Zugangshürde zu politischen Systemen 96–98 Zustimmungsgrad zu Policies 152–154, 204