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German Pages 377 [379] Year 2015
Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth
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Markus Rothhaar
Die Menschenwürde als Prinzip des Rechts Ein rechtsphilosophische Rekonstruktion
Mohr Siebeck
Markus Rothhaar, geboren 1968; 1987–95 Studium der Philosophie, Geschichte und Biologie; 1999 Promotion; 2013 Verleihung der venia legendi im Fach Philosophie durch die Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der Fernuniversität in Hagen; seit März 2014 Inhaber der Stiftungsprofessur für Bioethik an der KU-Eichstätt-Ingolstadt.
e-ISBN PDF 978-3-16-153826-1 ISBN 978-3-16-153558-1 ISSN 2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Garamond gesetzt, auf alterungs beständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Meiner Mutter zugeeignet, nachdem sie von schwerer Krankheit genesen ist
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im September 2013 von der Fakultät für Kulturund Sozialwissenschaften der Fernuniversität in Hagen als Habilitationsschrift angenommen. Gegenüber der ursprünglichen Fassung wurden für die Druckfassung lediglich kleinere Änderungen und Ergänzungen vorgenommen. Der Philosoph, der sich heute in Deutschland mit dem Begriff der Menschenwürde befasst, beteiligt sich, ob er will oder nicht, immer zugleich an einem fortdauernden politischen und gesellschaftlichen Diskurs über die Grundlagen unseres Gemeinwesens. Das belegt nicht zuletzt die Geschichte dieser Arbeit selbst, deren Ursprünge in die Jahre 2002 bis 2005 zurückreichen, in denen der Verfasser als Referent der SPD-Bundestagsfraktion für die Enquete-Kommis sionen Recht und Ethik bzw. Ethik und Recht der modernen Medizin tätig war. In den Debatten innerhalb der Kommission bot sich dem frisch von der Universität kommenden und nun in seinem eigenen kleinen Syrakus an Land gegangenen Verfasser das erstaunliche Bild, dass die dort versammelten Politiker, Philosophen, Juristen, Theologen, Sozial- und Naturwissenschaftler sich zwar schnell auf den Menschenwürdebegriff als Grundlage ihrer Arbeit geeinigt hatten, darunter aber offenkundig Dinge verstanden, die unterschiedlicher kaum sein konnten – das jedoch vielfach, ohne dass die Diskutanten selbst es bemerkten. Diese Erfahrung blieb auch nach der Rückkehr an die Universität ein Stachel im Fleisch des Philosophen, der schließlich zur Abfassung dieser Studie führte. Dank gebührt in diesem Zusammenhang Prof. Thomas Sören Hoffmann, der es dem Rückkehrer aus Politikberatung und Medizinethik ermöglicht hat, wieder einen Platz in der akademischen Philosophie zu finden. Ebenso gebührt Dank dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld unter Leitung von Dr. Britta Padberg, an dessen Forschungsgruppe „Herausforderungen für Menschenbild und Menschenwürde durch neuere Entwicklungen der Medizintechnik“ ich 2009/10 als Fellow teilnehmen konnte. Den angeregten und oft kontroversen Diskussionen mit den anderen Mitgliedern der Forschungsgruppe, namentlich mit Jan Joerden, Eric Hilgendorf, Ralf Stoecker, Daniel Henrich, Frank Dietrich, Stefan Seiterle, Peter Schaber, Marcus Düwell, Georg Lohmann und Gesa Lindemann, verdankt diese Studie mehr, als sich in einer Vorbemerkung ausdrücken lässt. Vielmehr zeugt, wie der Leser feststellen wird, die gesamte Arbeit davon. Zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin auch
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Vorwort
Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth, die diese Schrift in die von Ihnen herausgegebene Reihe „Perspektiven der Ethik“ aufgenommen haben. Danken möchte ich schließlich meinen Eltern, die es mir ermöglicht haben, trotz aller Widrigkeiten eine akademische Laufbahn in der Philosophie einzuschlagen, und ohne die diese Schrift mithin nie entstanden wäre. Eichstätt, im Herbst 2014
Markus Rothhaar
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Kapitel
Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze 1
I.
Menschenwürde als Verfassungsgrundsatz? . . . . . . . . . . . 1
II.
Der Menschenwürdebegriff in der Krise . . . . . . . . . . . . . 4 1. Beliebigkeit und Redundanz: zwei Einwände gegen den Menschenwürdebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2. Menschenwürde und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . 11 3. Die normative Struktur des Würdebegriffs als philosophisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
III. Methodische Fragen einer Philosophie der Menschenwürde . 18 1. Die Vielfalt der Menschenwürdebegriffe als methodisches Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Der rekonstruktive Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Der konstruktive Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Der Menschenwürdebegriff des Rechts . . . . . . . . . . . . . 25 2. Kapitel
Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs 29
I.
Der Menschenwürdediskurs zwischen Philosophie und Recht 29
II.
Prinzip der Menschenrechte oder spezifisches Grundrecht? . 32 1. Die prinzipialistische Lesart der Menschenwürdegarantie . . 33
X
Inhaltsverzeichnis
2. Die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie . 37 3. Die objektiv-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie . . 41
III. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . 43 1. Verletzbarkeit der Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Unantastbarkeit als Unabwägbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Unantastbarkeit als Nichtrechtfertigbarkeit . . . . . . . . . . . 51 4. Unantastbarkeit und das Problem unbedingt geltender Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie . . . . . . 57 1. Der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ . . . . . . . . . . . . . 57 2. Die Menschenwürdegarantie als Instrumentalisierungsverbot 61 3. Weitere Bestimmungsversuche: Erniedrigungsverbot und Ensembletheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
V.
Kritik der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1. Begründungsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Menschenwürde gegen Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . 72 3. Menschenwürde gegen Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Die Entkopplung von Menschenwürdegarantie und Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5. Leben als „Voraussetzung“ der Menschenwürde . . . . . . . . 88
VI. Spezifisch-rechtliche und prinzipialistische Lesart: ein Fazit . 93 3. Kapitel
Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance 101
I.
Der Würdebegriff der philosophischen Tradition . . . . . . . . 101
II.
Menschenwürde in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Dignitas in der altrömischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 104 2. Die Würdigkeit der menschlichen Natur bei Cicero . . . . . . 110 3. Menschenwürde in der christlichen Spätantike . . . . . . . . . 115
Inhaltsverzeichnis
XI
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik . . . . . . . . . . . 119 1. Würde und Person bei Alexander von Hales . . . . . . . . . . 119 2. Menschenwürde bei Bonaventura und Thomas von Aquin . . 124
IV. Menschenwürde in der Philosophie der Renaissance . . . . . . 137 V.
Ein Zwischenfazit: Menschenwürde vor Kant . . . . . . . . . 141 4. Kapitel
Der Begriff der Menschenwürde bei Kant 145
I.
Warum Kant? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
II.
Hypothetische Imperative und Kategorischer Imperativ . . . 147
III. Die „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs . . . 152 1. Der Begriff des „Zwecks an sich“: Systematische Stellung und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Subjektivität und Selbstzwecklichkeit in der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs . . . . . . 155 3. Selbstzwecklichkeit und Pflichten gegen andere . . . . . . . . 160
IV. Freiheit, Autonomie und Verallgemeinerbarkeit . . . . . . . . 162 1. Die systematische Stellung des Autonomiebegriffs . . . . . . . 162 2. Wert und Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
V.
Würde, Autonomie und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Autonomie und Selbstzwecklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Autonomie und Verallgemeinerbarkeit . . . . . . . . . . . . . 174 3. Der systematische Ort der Menschenwürde in Kants Praktischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
VI. Die Träger der Würde bei Kant – Wem kommt Würde zu? . . 182 VII. Menschenwürde zwischen Moral und Recht . . . . . . . . . . . 187 1. Die Rechtsidee als Veräußerlichung des Kategorischen Imperativs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Menschenwürde, Autonomie und Rechtsidee . . . . . . . . . . 194
XII
Inhaltsverzeichnis
VIII. Ein Zwischenfazit: Kant und die Frage nach der Anerkennung als Rechtssubjekt . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Menschenwürde und Rechtspflichten . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Der Kategorische Imperativ und Dürigs „Objektformel“ . . . 202 5. Kapitel
Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts 207
I.
Der Begriff der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
II.
Fichtes Grundlegung der Intersubjektivität . . . . . . . . . . . 213 1. Die Pluralität endlicher Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Der Zirkel des Selbstbewusstseins und der Begriff der „Aufforderung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
III. Anerkennung als Rechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 1. Fichtes Theorie des Rechtsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . 226 2. Symmetrie und Asymmetrie des Rechtsverhältnisses . . . . . 230
IV. Anerkennung und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Exkurs
Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik 241
6. Kapitel
Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte 251
I.
Das Problem unbedingter Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 251
II.
Akteursrelativität als Wesensmerkmal unbedingter Pflichten 257 1. Die Entdeckung der Akteursrelativität . . . . . . . . . . . . . 257 2. Akteursrelativität in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . 260
Inhaltsverzeichnis
XIII
3. Zur Kritik des „Consequentializing“ . . . . . . . . . . . . . . 265 4. Anerkennung als Grund der Akteursrelativität . . . . . . . . . 267
III. Akteursrelative Normativität und der Staat . . . . . . . . . . 272 IV. Antastbare und unantastbare Rechte . . . . . . . . . . . . . . . 278 1. Notwehr und Nothilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Das „Urrecht“ und die abgeleiteten Rechte . . . . . . . . . . . 286 3. Unantastbare und abwägbare Rechte – eine Kriteriologie nach Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Exkurs
Die Würde des Menschen und das Verbot der Sklaverei – ein Fallbeispiel 309
7. Kapitel
Menschenwürde als Rechtsprinzip 313
I.
Die Würde des Menschen zwischen Pflichten gegen sich selbst und intersubjektiver Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . 313
II.
Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Das „Recht auf Rechte“ und das „Urrecht“ . . . . . . . . . . . 316 2. Der Geltungsbereich der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . 318
III. Menschenwürde als Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
1. Kapitel
Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze „Facilius enim crescit dignitas quam incipit.“ (Seneca: Epistolae ad Lucilium)
I. Menschenwürde als Verfassungsgrundsatz? Es gehört zu den im wahrsten Sinn des Wortes denkwürdigen Wendungen der abendländischen Begriffs- und Geistesgeschichte, dass der ursprünglich alltagssprachliche Begriff der „Würde“ es im Laufe von über zwei Jahrtausenden dahin gebracht hat, sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht den Status eines obersten, unhintergehbaren Prinzips einzunehmen. „Würde“ oder „Rang“: nichts anderes nämlich ist die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes ἀξίωμα, auf das der bis heute gebräuchliche Begriff des „Axioms“ zurückgeht, der bekanntlich den obersten, nicht mehr selbst hergeleiteten und auch der Herleitung nicht bedürfenden Grundsatz einer Theorie bezeichnet. Vermittelt durch Boethius war der mittelalterlichen Scholastik dieser Zusammenhang noch sehr geläufig, benutzen die Scholastiker doch da, wo es etwa um mathematische „Axiome“ im heutigen Sinn geht, oft noch ganz selbstverständlich das lateinische Wort „dignitas“. Während ἀξίωμα in theoretischer Hinsicht allerdings bereits sehr früh, bei Euklid und Aristoteles, die Bedeutung eines nicht deduzierten, unmittelbar evidenten Grundsatzes gewonnen hatte, war der Weg, auf dem der Begriff der „Menschenwürde“ eine vergleichbare Stellung für den Bereich normativen Denkens erlangte – und zwar zunächst in der Rechtsund Moralphilosophie und dann schließlich im 20. Jahrhundert auch im Völkerrecht und im Verfassungsrecht zahlreicher westlicher Staaten –, lang und verschlungen. Zwar ist der Begriff „Menschenwürde“ in der Philosophie, und seit der Spätantike auch in der Theologie, seit Cicero geläufig, gleichwohl spielte er dort bis ins späte 18. Jahrhundert hinein eine eher randständige Rolle. Konzepte der praktischen Philosophie, in denen die Menschenwürde einen systematisch zentralen oder gar prinzipienhaften Charakter hätte, wie er heute vielfach beansprucht wird, fehlen praktisch vollständig. Wo Erwähnungen des Begriffs erfolgen, haben sie oft beiläufigen und meist eher rhetorischen bzw. veranschaulichenden Charakter. Hinzu kommt, dass der Begriff der Menschenwürde oder
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
dignitas da, wo er überhaupt eine annäherungsweise begründende Rolle spielte, in der Regel auf Pflichten gegen sich selbst abzielte, die als solche gerade nicht in den Bereich des Rechts fallen.1 Noch bei Kant kommt der Begriff der „Würde“ zwar in der Tugendlehre ungezählte Male vor, in der Rechtslehre taucht er dagegen bloß ein einziges Mal auf, und dann zudem im spezifischen Sinn der Staatsbürgerwürde, d. h. in dem Sinn, den Rang eines Staatsbürgers zu bezeichnen.2 Sich mit der Menschenwürde als einem Rechtsbegriff oder politischen Begriff zu befassen, ist in einer philosophiegeschichtlichen Perspektive mithin alles andere als selbstverständlich und könnte wohl den Anschein erwecken, eine bloß äußerliche Reaktion auf einen kontingenten historischen Umstand zu sein: auf den Umstand nämlich, dass die Menschenwürde seit Beginn des 20. Jahrhunderts und dann verstärkt nach dem 2. Weltkrieg in zunehmendem Maß Eingang in nationale und internationale Rechtstexte gefunden hat. Unter diesen sind in erster Linie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte des Jahres 1948, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 1949, das 1999 in Kraft getretene Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats (oft auch „Bioethikkonvention“ genannt) und die Grundrechtecharta der Europäischen Union des Jahres 2000 zu nennen. Der Menschenwürdebegriff scheint der Philosophie, aus der er doch ursprünglich stammt, mithin heute aus kontingenten historischen Gründen gleichsam von außen – genauer: aus dem Verfassungs- und Völkerrecht – entgegenzutreten, ohne dass die Verknüpfung von Menschenwürde und Recht vom Menschenwürdebegriff der philosophischen Tradition her wirklich systematisch plausibel wäre. Wenn das freilich der Fall wäre, könnte die Philosophie im Hinblick auf den Menschenwürdebegriff allenfalls als eine Art „historische Hilfswissenschaft“ der Rechtswissenschaften fungieren, die diesen bei der Klärung eines ihnen im Grunde fachfremden Begriffs helfen würde. Aus der Perspektive der Philosophie selbst wäre die Beschäftigung mit der Menschenwürde als einem Rechtsbegriff dagegen zur Klärung systematischer Fragen der Rechtsphilosophie nicht angezeigt. Der Eindruck, dass die Menschenwürde für die Rechtsphilosophie kein relevantes Thema darstellen mag, wird dadurch noch verstärkt, dass sie in den Kontexten, in denen sie in den besagten Rechtstexten auftaucht, einen eher deklaratorischen Charakter zu haben scheint. Zweifelsohne stellen sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wie das Bonner Grundgesetz und die EU-Grundrechtecharta in unterschiedlicher Weise einen Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschen- bzw. Grundrechten her. So führt etwa Vgl. Kapitel 3 der vorliegenden Untersuchung. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre. In: Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe), Band VI. Berlin 1900 ff., S. 329. Kants Schriften werden im Folgenden mit Bandangabe und Seitenzahlen der Akademieausgabe zitiert. 1 2
I. Menschenwürde als Verfassungsgrundsatz?
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die EU-Grundrechtecharta unter dem Titel „Würde des Menschen“3 die Menschenwürde selbst, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Verbot von Folter und erniedrigenden Strafen sowie das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit auf, wodurch jedenfalls suggeriert wird, dass die damit aufgezählten Rechte in einem engeren Zusammenhang mit der Menschenwürde stehen als die weiteren, unter den Titeln „Freiheiten“, „Gleichheit“, „Solidarität“ und „Justizielle Rechte“ aufgeführten Grundrechte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen hingegen parallelisiert Menschenwürde und Menschenrechte in einer Weise, die den Schluss nahelegt, „Menschenwürde“ und „Menschenrechte“ seien so etwas wie unterschiedliche Aspekte derselben Sache, oder zumindest Begriffe, die zwar unterschieden sein mögen, zugleich aber nicht voneinander trennbar sind.4 Die ausdrücklichste Verknüpfung zwischen Menschenwürde und Menschenrechten wird schließlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hergestellt, wo der Menschenwürde explizit eine begründende Funktion für die Menschenrechte zugesprochen wird, wenn es in Art. 1 GG heißt: „Art. 1, (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“5
Ungeachtet dieser, in allen erwähnten Rechtstexten faktisch auffindbaren Verknüpfung zwischen Menschenwürde und Menschen- oder Grundrechten ist freilich nicht prima facie einsichtig, dass diese Rechte überhaupt eines Bezugs auf die Menschenwürde bedürfen. Die Verfassungen und klassischen Menschenrechtserklärungen westlicher Staaten vor dem 20. Jahrhundert – es ist hier vor allem an die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und an die französische „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 zu denken – kommen vollständig ohne Bezug auf die Menschenwürde aus6 , die ihren ersten Auftritt in einem Verfassungstext
Charta der Grundrechte der Europäischen Union: Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. März 2010, C 83, Titel 1 „Würde des Menschen“, Art. 1–5. 4 Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ (Resolu tion 217 A [III] der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte). 5 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 (BGBl. I S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.07.2012 (BGBl. I S. 1478). 6 Vgl. zu dieser Thematik ausführlich Stepanians, Markus: Gleiche Würde, gleiche Rechte. In: Stoecker, Ralf (Hg.): Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff. Wien 2003, S. 81– 101. 3
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
erst im Jahre 1919 in der Weimarer Reichsverfassung hatte (Art. 151) 7, dort allerdings lediglich in einer adjektivischen Form und im Zusammenhang des Sozialstaatsgedankens, jedoch gerade nicht als Begründungsfigur für die Menschenrechte. Es scheint demnach so, als ob die Menschenwürde den Grund- bzw. Menschenrechten in systematischer Hinsicht nichts hinzufügte, was nicht in diesen bereits enthalten wäre, so dass sie letztlich rechtsphilosophisch wie rechtspraktisch eine redundante Größe wäre, die als solche allenfalls als rhetorische Formel für Sonntagsreden taugen würde.
II. Der Menschenwürdebegriff in der Krise 1. Beliebigkeit und Redundanz: zwei Einwände gegen den Menschenwürdebegriff Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Verwendung der Menschenwürde als Rechtsbegriff inzwischen unbestreitbar in eine Krise geraten ist. Das zeigt sich nicht zuletzt im bioethischen und in dem auf diesen bezogenen verfassungsrechtlichen Diskurs. Während dort lange die Frage im Mittelpunkt stand, wem eigentlich Menschenwürde zukommt, ist in den letzten Jahren zunehmend ein Bewusstsein dafür entstanden, wie wenig Klarheit und Einigkeit eigentlich darüber besteht, was in normativer Hinsicht überhaupt daraus folgt, wenn einem Wesen Menschenwürde zukommt. Während meist ein breiter Konsens darüber besteht, dass „die Menschenwürde unantastbar“ ist und das oberste Prinzip der Ethik und des Rechts bildet, besteht offenbar nicht mehr die geringste Einigkeit darüber, was mit „Menschenwürde“ gemeint ist und welche normativen Konsequenzen sie hat. Ja, gelegentlich hat man geradezu den Eindruck, dass die Betonung der Unantastbarkeit und Vorrangigkeit der Menschenwürde in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Klarheit über ihren normativen Gehalt, ihre Rechtsfolgen und ihre Stellung innerhalb des Rechtsgefüges steht. Was verbietet also der Grundsatz der Menschenwürde und was erlaubt er? Welchen Status hat die Menschenwürde innerhalb der Ethik und innerhalb des Rechts? In welchem Verhältnis stehen Menschenwürde und Menschenrechte? Was bedeutet es, dass die Menschenwürde „unantastbar“ ist und welche Folgen hat dies? Auf alle diese Fragen gibt es zunehmend vielfältigere und immer weiter auseinandergehende Antworten, die nicht zuletzt den Juristen, der im Rahmen des deutschen Verfassungsrechts den Menschenwürdebegriff zur Anwendung bringen muss, häufig ratlos zurücklassen. Es liegt dement7 Eine anregende Darstellung der Geschichte des Menschenwürdebegriffs in den Rechtsdokumenten des 20. Jahrhunderts findet sich bei Tiedemann, Paul: Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung (Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam, Bd. 29). Berlin, 2. Aufl. 2010, S. 9 –64.
II. Der Menschenwürdebegriff in der Krise
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sprechend der Verdacht nahe, bei der Menschenwürde handele es sich um eine „Leerformel“, die bloß deklaratorischen Charakter habe und Konsense suggeriere, wo sie faktisch nicht bestünden. Armin Wildfeuer bemerkt dazu treffend: „Beigetragen dazu, dass dieser Verdacht aufgekommen ist, haben nicht zuletzt der tatsächlich feststellbare inflationäre Gebrauch und die Allgegenwart des Menschenwürdebegriffs im öffentlichen Diskurs. Denn wenn Begriffe für alles und jedes herhalten müssen, dann verlieren sie ihre Kontur, mithin ihre begriffliche Schärfe, die wesentlich von ihrer Abgrenzbarkeit gegen andere Begriffe bedingt ist […] Können Begriffe diese Abgrenzungsbedingungen nicht erfüllen, dann können sie zu Recht als Leerformeln gelten. Sie sind – wenn man so will – eine Art ‚Dekoration‘ und nur nützlich insofern, als sie zum einen eine lediglich emotionale, mithin auch argumentativ-diskursiv nicht einholbare Übereinstimmung zwischen Sprecher und Hörer erzeugen und dadurch eine konsensfähige Lösung suggerieren, die rational nicht gegeben ist […]“. 8
Die von Wildfeuer beschriebene Situation kann kaum anders denn als eine fundamentale Krise des Menschenwürdebegriffs charakterisiert werden. Analysiert man sie genauer, so stellt man fest, dass diese Krise sich in zwei miteinander verknüpften, aber doch deutlich voneinander unterscheidbaren skeptischen Einwänden gegen die Menschenwürde als Rechtsbegriff artikuliert. Der erste dieser Einwände betrifft die vermeintliche normative Beliebigkeit des Begriffs, der zweite ihre vermeintliche Redundanz. Was den ersten Einwand angeht, so zeigt ein Blick in die einschlägige Literatur in der Tat, dass gerade bei umstrittenen Fragen wie Todesstrafe, sogenannter „Rettungsfolter“, Abtreibung, embryonaler Stammzellforschung oder Sterbehilfe die Menschenwürde jeweils sowohl für die befürwortende wie für die ablehnende Position in Anspruch genommen wurde und wird. So wird etwa in der Diskussion um die aktive Sterbehilfe von der einen Seite die Vorstellung eines „Sterbens in Würde“ häufig als Argument für die Zulassung der aktiven Sterbehilfe herangezogen. Ein Sterben in Schmerzen und Leid, ein „Dahinvegetieren“ unter weitgehendem Verlust der Selbstkontrolle, so diese Auffassung, widerspreche der menschlichen Würde. Der letzte Triumph der Freiheit und Würde des Menschen über die widrigen Umstände seiner Existenz bestehe darin, auch und gerade in einer solchen Situation frei über seinen eigenen Tod entscheiden zu können, selbst wenn dazu die Hilfe eines Dritten benötigt werde. Geht man demgegenüber von einer Position aus, wonach die Würde des Menschen den uneingeschränkten, auch vom Betroffenen selbst geforderten Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen und daraus folgend der Unantastbarkeit seines Lebens impliziert, so wird man wohl zum genau entgegengesetzten Resultat kommen. Eine vergleichbare Situation zeigt sich auch in der Debatte um die Abtreibung. Insbesondere in den deutschen Diskursen hierüber wird die Menschen8 Wildfeuer, Armin G.: Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke? In: Nicht, Manfred/Wildfeuer, Armin G. (Hg.): Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput. Münster 2002, S. 19–116; hier: S. 22 f.
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
würde ebenso sehr als Argument gegen eine Legalisierung bzw. De-factoLegalisierung der Abtreibung in Form der Straffreiheit herangezogen wie als Argument für eine Legalisierung bzw. De-facto-Legalisierung. Unter der Voraussetzung, dass es sich bei einem menschlichen Embryo bzw. Fötus um einen Träger von Menschenwürde und Menschenrechten handele, argumentieren die Vertreter der Contra-Position zum einen damit, dass eine Abtreibung gegen das Lebensrecht als unmittelbarstem Ausfluss der Würdegarantie verstoße. Zum Zweiten können sie unter der genannten Voraussetzung vorbringen, dass bei einer Abtreibung ein Mensch insofern als „bloßes Mittel zum Zweck“ behandelt werde, als er – von den wenigen Fällen wirklich medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche abgesehen – ja einzig und alleine zu dem Zweck getötet werde, die Lebensplanung der werdenden Mutter nicht zu stören. Vertreter der Pro-Abtreibungs-Position, die die Voraussetzung einer Menschenwürdeträgerschaft menschlicher Embryonen bzw. Föten teilen, halten dem entgegen, dass der Schwangerschaftsabbruch gleichwohl zugelassen oder zumindest straffrei gestellt werden müsse, da ein Verbot das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren verletze und sie vom Staat zum „bloßen Mittel zum Zweck“ der Geburt eines Kindes gemacht werden würde. Die Tötung menschlicher Embryonen bzw. Föten müsse daher ausgehend von Kants praktischer Philosophie erlaubt werden, auch wenn es sich bei diesen um Menschen im vollen rechtlichen und moralischen Sinn handele, da ein Verbot der Tötung die Menschenwürde desjenigen verletze, der die Tötung beabsichtige.9 Eine vergleichbare Situation findet sich, um abschließend noch ein Beispiel aus einem Bereich jenseits der Medizinethik zu nennen, bei der Frage nach der sogenannten „lebenslangen Freiheitsstrafe“, die in der Bundesrepublik Deutsch9 So schreibt die Politikwissenschaftlerin Kathrin Braun in Bezug auf Versuche von Mary Anne Warren und Catherine McKinnon, eine Legalisierung der Abtreibung dadurch zu rechtfertigen, dass ungeborenen menschlichen Lebewesen der Status von Menschenrechtssubjekten abgesprochen werde: „Das Problem ist, dass sowohl Warren als auch MacKinnon davon ausgehen, dass in einem solchen Konfliktfall das Selbstbestimmungsrecht der Frau hinter dem Leben und der Gesundheit des Fötus zurückstehen müsste, weshalb ihre argumentative Strategie darauf abzielt, den Konflikt als solchen zu bestreiten. Zu der Einschätzung, dass das Leben des Fötus unweigerlich Vorrang hätte vor dem Recht der Frau, kann sie jedoch nur kommen, weil sie nicht von dem von Kant formulierten Gedanken ausgehen, dass die Würde des Menschen ein Zweck an sich ist und daher nicht gegen andere Güter aufgewogen werden kann. Würde sie dagegen vom Begriff der Menschenwürde als Zweck an sich ausgehen, so ergäbe sich, dass auch die Sicherung des Lebens des Fötus keine Instrumentalisierung des weiblichen Körpers rechtfertigt.“ (Braun, Kathrin: Menschenwürde und Biomedizin. Zum philosophischen Diskurs der Bioethik. Frankfurt am Main 2000, S. 80) Man mag zwar kaum glauben, dass derartige Sophismen allen Ernstes vertreten werden; sie werden allerdings nicht nur in der Literatur vertreten, sondern finden auch im politischen Bereich durchaus Anklang bei Politikern und Politikerinnen, die eine Befürwortung des Schwangerschaftsabbruchs mit einer kategorischen Ablehnung der verbrauchenden Embryonenforschung zu vereinbaren suchen. Eine Widerlegung wird sich en passant aus den Erörterungen des Kapitels 2, V und des Kapitels 6, III der vorliegenden Schrift ergeben.
II. Der Menschenwürdebegriff in der Krise
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land 1977 per Verfassungsgerichtsbeschluss de facto aufgehoben wurde. Das Bundesverfassungsgericht berief sich für dieses Urteil auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1, Abs. 1 GG in Verbindung mit dem – man höre und staune – Sozialstaatsprinzip. Ohne eine weitere Begründung stellte das Gericht dabei die Behauptung auf, aus Art. 1, Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folge eine Verpflichtung des Staates auf die Sicherung des Existenzminimums (sic!), mit der es nicht vereinbar sei, „wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können. Bei alldem darf nicht aus dem Auge verloren werden: Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares.“10
Diesem Musterbeispiel für einen „non sequitur“-Fehlschluß steht Kants, gerade von seiner Menschenwürdekonzeption inspirierte Vergeltungstheorie der Strafe gegenüber, die nicht alleine präventionstheoretische Straftheorien als unvereinbar mit der Selbstzwecklichkeit des Menschen kennzeichnet, sondern auch die Adäquanz der Strafe zum Verbrechen als alleiniges Kriterium der Strafzumessung ausweist: „Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum Prinzip und Richtmaße macht? Kein anderes, als das Prinzip der Gleichheit (im Stande des Züngleins an der Waage der Gerechtigkeit), sich nicht mehr auf die eine, als auf die andere Seite hinzuneigen. Also: was für unverschuldetes Übel du einem anderen im Volk zufügst, das tust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tötest du ihn, so tötest du dich selbst. Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis), aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend, und können, anderer sich einmischenden Rücksichten wegen, keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten.“11
Wenn diese Überlegungen Kants richtig sind, so kann freilich eine lebenslange Freiheitsstrafe, wenn sie denn dem bestraften Verbrechen angemessen ist, auf keinen Fall einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellen, wohl aber umgekehrt der Verzicht auf eine dem Verbrechen angemessene Freiheitsstrafe. Wo einem bestimmten Verbrechen nur eine lebenslange Freiheitsstrafe angemessen wäre, dürfte diese also gemäß dem kantischen Menschenwürdeverständnis gerade wegen der Geltung der Menschenwürde unter keinen Umständen auf eine nicht lebenslängliche Freiheitsstrafe umgestaltet werden. In allen diskutierten Beispielen zeigt sich mithin eine chronische Unklarheit und Vieldeutigkeit hinsichtlich der Verwendung des Menschenwürdebegriffs in 10 Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung (BVerfGE) 45,187 vom 21.06.1977 (Lebenslange Freiheitsstrafe), Abs. 145 f. 11 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 332.
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
konkreten Diskursen und der normativen Folgerungen, die aus ihm gezogen werden. Verstärkt wird diese Problematik noch durch den schon von Wildfeuer konstatierten inflationären Gebrauch der Menschenwürde, wieder insbesondere im juristischen Kontext. So stellt etwa Volker Neumann in seiner Analyse der sozialrechtlichen Verwendung des Menschenwürdebegriffs sarkastisch fest, dass entsprechend höchstrichterlicher Rechtsprechung und gängiger Sozialrechtsdogmatik in Deutschland zwar jeder Bürger ein aus der Menschenwürde folgendes Recht auf den Besitz einer Bratpfanne, nicht aber auf den Besitz einer Kaffeemaschine habe: „Die Würde muß für die Gewährung oder Versagung aller möglichen Bedarfsgegenstände herhalten. Die Bratpfanne gehört zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens, die Kaffeemaschine nicht.“12
Ähnlich kurios, wenngleich in einem ernsteren Kontext sich bewegend, ist der Versuch verschiedener Oberlandesgerichte, den Art. 1, Abs. 1 GG heranzuziehen, um die Mindestgröße von Zellen im Strafvollzug zu bestimmen. So führt das OLG Hamm in einer Entscheidung vom 13.06.2008 aus: „Ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist z. B. dann naheliegend, wenn die Grundfläche der Zellengröße 5 qm pro Gefangenen unterschreitet“13 , während das OLG Frankfurt dieses Maß mit 3,86 qm um einiges unterbietet, wenn es urteilt: „Die Mehrfachbelegung eines Haftraums verletzt jedenfalls dann die Menschenwürde, wenn sich – unbeschadet des vorhandenen Luftraumvolumens – drei Gefangene eine Zelle von 11,54 qm […] teilen müssen.“14 Unabhängig davon, dass die Frage danach, welche Formen des Strafvollzugs ethisch vertretbar sind, eine durchaus ernsthafte Frage ist, muss hier doch auch die Frage gestellt werden, warum die Gerichte zu deren Beantwortung – ohne eine Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers abzuwarten – unmittelbar auf die Menschenwürde glaubten zurückgreifen zu müssen, so als ob diese in Quadratzentimetern quantifizierbar wäre15 und als ob 3,86 qm den Rang eines obersten Rechtsprinzips hätten. Irgendein rechtsphilosophisch nachvollziehbarer, terminologisch bestimmter rechtlicher Menschenwürdebegriff liegt derartigen Entscheidungen offenkundig nicht zugrunde. Vielmehr gehen die Gerichte hier offenbar von vagen alltagssprachlichen Auffassungen aus, die bei der adjektivischen Verwendung des Menschenwürdebegriffs in Topoi wie „menschenwürdige Lebensverhältnisse“ zum Ausdruck kommen, ohne dass auch nur im Mindesten geklärt wäre, in welchem Verhältnis diese zu einem philosophisch gehaltvollen Men Neumann, Volker: Menschenwürde und Existenzminimum. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (1995), S. 426–432; hier S. 429. 13 Beschluss des OLG Hamm vom 13.06.2008, Az. 11 W 86/07. 14 Beschluss des OLG Frankfurt vom 21.02.2005, Az. 3 Ws 1342/04. 15 Immerhin lässt es den Rechtsphilosophen im wahrsten Sinn des Wortes aufatmen, dass die Menschenwürde nach der Auffassung deutscher Gerichte wenigstens nicht auch noch in Kubikzentimetern Luftraumvolumen bezifferbar ist. 12
II. Der Menschenwürdebegriff in der Krise
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schenwürdebegriff stünden, der als oberstes Prinzip von Recht und Moral fungieren könnte. Legt man dem dann die in Deutschland gängige Verfassungsrechtsdogmatik zugrunde, wonach es sich bei der Menschenwürdegarantie des Art. 1, Abs. 1 GG um das einzige unantastbare Grundrecht handelt, das als solches über allen „weiteren“ Grund- und Menschenrechten – einschließlich z. B. des Lebensrechts – steht, so kommt man zu nichts weniger als der interessanten Schlussfolgerung, dass in Deutschland nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zwar jeder Bürger offenbar ein unantastbares und unabwägbares Recht auf den Besitz einer Bratpfanne (nota bene aber nicht einer Kaffeemaschine!) habe, keineswegs aber ein unantastbares und unabwägbares Recht auf Leben. Während man eine solche unfreiwillige Juristen-Komik unter normalen Umständen allenfalls mit einem Schmunzeln quittieren könnte, ist das Phänomen derartiger Skurrilitäten für die Frage nach der Notwendigkeit und Tauglichkeit des Menschenwürdebegriffs in Fragen der Ethik und des Rechts doch von nicht geringer Bedeutung. Gelingt es nämlich nicht, der sich augenscheinlich breit machenden Beliebigkeit und normativen Unklarheit des Menschenwürdebegriffs etwas entgegenzusetzen, so schwindet zusehends auch jede Möglichkeit, in rechtlichen und ethischen Kontroversen durch einen Rekurs auf den Menschenwürdegedanken irgendetwas entscheiden oder klären zu können. Denn was, so könnte man fragen, hilft einem in umstrittenen normativen Fragen ein Begriff, mit dem man ein Verbot der Abtreibung ebenso begründen kann wie ihre Zulassung, ein Verbot der aktiven Sterbehilfe ebenso wie ihre Legalisierung, ein Verbot der sogenannten „Rettungsfolter“ ebenso wie ihre Erlaubnis – und aus dem sich schließlich sogar ein unantastbares Recht auf den Besitz einer Bratpfanne deduzieren lässt? Damit aber nicht genug: Zusätzlich zur Gefahr einer „Unbrauchbarkeit“ in ethischen und rechtlichen Diskursen führt die Unklarheit über Status, normativen Gehalt und normative Konsequenzen des Menschenwürdebegriffs auch eine nicht zu unterschätzende rechtsstaatliche und demokratietheoretische Problematik mit sich. Denn ein opaker Menschenwürdebegriff, der inhaltlich beliebig gefüllt werden könnte, wäre in höchstem Maß ideologieanfällig und stünde dem Missbrauch in jeder Hinsicht offen. Das gilt zumal in Staaten und supranationalen Institutionen, in denen die Menschenwürde Verfassungsrang hat und in denen sie daher auch tatsächlich in der Rechtsprechung Anwendung findet. Wenn der Menschenwürde dann auch noch – wie meist in der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik vertreten – der Charakter eines spezifischen „Quasirechts“ mit eigenen Verletzungstatbeständen zugesprochen wird und dieses Recht als „unabwägbares“ Recht über die vermeintlich durchweg abwägbaren „sonstigen“ Grund- bzw. Menschenrechte gestellt wird, ergibt sich eine äußerst bedenkliche Konstellation: bedenklich insofern, als sie theoretisch Richterinnen und Richtern die Möglichkeit an die Hand gibt, sich in Berufung auf einen inhaltlich vagen und damit beinahe beliebig füllbaren Begriff über jedes kon-
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
krete Grund- oder Menschenrecht hinwegzusetzen. Zudem erlaubte ein solcher beliebig füllbarer Begriff von Menschenwürde es den Gerichten, wie sich an den zitierten Entscheidungen über die Mindestzellengröße und über die „lebenslängliche“ Freiheitsstrafe zeigt, in Berufung auf die Menschenwürde praktisch jede ethische und rechtliche Frage der Entscheidung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber ein für allemal zu entziehen, ohne dass dies, wie im Fall der Grundrechte, durch eine hinreichend präzise Bestimmung von deren Gehalt limitiert wäre. Dementsprechend wird die Menschenwürde nicht zuletzt auch zum potentiellen Einfallstor für willkürliche Moralisierungen des Rechts, da die urteilenden Richterinnen und Richter auf diese Weise fast jedes private moralische Urteil auf dem Umweg über den Menschenwürdebegriff in das Recht einfließen lassen können.16 An der Frage, ob und inwieweit es möglich ist, für den Menschenwürdebegriff einen nachvollziehbaren, nichtbeliebigen normativen Gehalt herauszuarbeiten, hängt damit nicht alleine die bloß pragmatische Frage nach der „Brauchbarkeit“ des Menschenwürdebegriffs, sondern auch die normative Frage, ob der innerjuristische Rekurs auf den Menschenwürdebegriff eigentlich in demokratietheoretischer und rechtsstaatlicher Hinsicht vertretbar ist. Die Frage nach einem nichtbeliebigen normativen Gehalt des Menschenwürdebegriffs aber wird sich wiederum nicht beantworten lassen, ohne dass man sich des Menschenwürdebegriffs zunächst einmal philosophisch vergewissert. Eine „Rettung“ des Menschenwürdebegriffs für Ethik und Rechtsphilosophie erfordert mithin nichts Geringeres als eine argumentativ abgesicherte theoretische Bestimmung seines normativen Gehalts. Zweitens erfordert sie aber auch den Nachweis, dass auf den Menschenwürdebegriff nicht verzichtet werden kann, ohne erhebliche Lücken in Begründung und Anwendung des Rechts zu reißen. Die letzgenannte Forderung verweist zugleich auch schon auf den Redundanz-Einwand, der neben dem der normativen Beliebigkeit nicht selten eben16 Auf das damit angesprochene Problem weist in allgemeinerer Form ganz zu Recht Norbert Hoerster hin, wenn er eine bestimmte Art des Umgangs mit dem rechtlichen Menschenwürdebegriff folgendermaßen beschreibt: „Man weiß oder spürt, dass die ausdrückliche Berufung auf ein religiöses oder weltanschauliches Menschenbild dort, wo es um staatliche Zwangsmaßnahmen geht, keine hinreichende Überzeugungskraft besitzt. Unter diesen Umständen findet man im Menschenwürdebegriff eine geradezu ideale argumentative Waffe: Da dieser Begriff, wie wir sahen, ein normativ besetztes Schlagwort ohne jeden deskriptiven Gehalt ist, legt man das jeweilige Menschenbild einfach in den Begriff hinein und erweckt so den Anschein, eine aus diesen Postulaten ableitbare negative Bewertung über ein bestimmtes Verhalten mit dem Satz ‚Dieses Verhalten verletzt die Menschenwürde‘ begründet zu haben. In Wirklichkeit hat man jedoch nichts begründet, sondern seiner Bewertung lediglich auf besonders suggestive Weise Ausdruck gegeben.“ (Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart 2002, S. 24. Dasselbe Argument findet sich, zugespitzt auf die Rechtsprechung, auch bei Hoerster, Norbert: Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, In: Juristische Schulung 1983, Heft 1, S. 93–96).
II. Der Menschenwürdebegriff in der Krise
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falls gegen den Menschenwürdebegriff erhoben wird. Dieser Einwand besagt, der Begriff der Menschenwürde sei im Grunde genommen überflüssig und könne ebenso gut durch Konzepte wie „Autonomie“, „Selbstbestimmung“ oder auch „Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben“ ersetzt werden, die zudem den Vorteil größerer begrifflicher Klarheit und Trennschärfe hätten. Eine der vielleicht schärfsten Kritiken in diesem Sinn hat vor einigen Jahren Ruth Macklin vorgetragen, die in einer Analyse des Gebrauchs des Begriffs „human dignity“ in englischsprachigen Medizinethikdebatten zu dem Schluss kommt, dass dieser Begriff entweder völlig unklar sei oder aber da, wo er mit hinreichender Klarheit gebraucht werde, nichts anderes meine als die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen. Dementsprechend gelte, so Macklin: „Although the aetiology may remain a mystery, the diagnosis is clear. Dignity is a useless concept in medical ethics and can be eliminated without any loss of content.”17
Diesem Befund Macklins kann man in der Tat insoweit zustimmen, als mit „Menschenwürde“ in faktisch geführten Diskursen oftmals wirklich nichts anderes als „Selbstbestimmungsrecht“ – kantisch gesprochen: das Recht auf „Willkürfreiheit“ – gemeint ist. Für den rechtsphilosophischen und rechtshistorischen Kontext wiederum ließe sich Macklins Einwand durch den schon erwähnten Umstand untermauern, dass in den Verfassungen klassischer demokratischer Rechtsstaaten wie der USA und Frankreichs der Menschenwürdebegriff scheinbar an keiner Stelle auftaucht, während die Verfassungstexte sehr wohl alle klassischen Menschenrechte aufzählen. Im folgenden Unterkapitel soll nun zunächst gezeigt werden, dass der Redundanz-Vorwurf nicht greift. Den Vorwurf der inhaltlichen Unbestimmtheit und Beliebigkeit wird dagegen nur der Durchgang durch das Ganze der vorliegenden Arbeit entkräften können.
2. Menschenwürde und Menschenrechte Dass der Menschenwürdebegriff so redundant nicht ist, wie Ruth Macklin meint, wird gerade im Hinblick auf die Menschenrechte greifbar – und zwar genau dann, wenn man die theoretischen Implikationen des Menschenrechtsbegriffs betrachtet. Greift man den Menschen- oder Grundrechtsbegriff in der heute üblichen Verwendung aus der politischen und rechtlichen Sprache auf, so zeigt sich eine Reihe von offenen Fragen, die über die Menschenrechte hinaus auf den Begriff der Menschenwürde verweisen. Der Begriff der Menschenrechte nämlich wird heute üblicherweise dahingehend konzeptualisiert, dass es sich bei den Menschenrechten um eine Reihe grundlegender Rechte handelt, Macklin, Ruth: Dignity is a Useless Concept. In: British Medical Journal (BMJ) Vol. 327, (Dezember 2003), S. 1420 f. 17
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
– die jedem Menschen unabhängig von spezifischen Eigenschaften wie Hautfarbe, Nationalität oder Klassenzugehörigkeit, Zuständen wie der körper lichen Verfasstheit oder Entwicklungsstufen zukommen18 , – die auch vor und jenseits einer positivrechtlichen Garantie gelten und daher auch Staaten, Institutionen und Individuen überpositiv zu ihrer Achtung und Durchsetzung verpflichten und – die in ihrer Geltung nicht von einem willkürlichen Akt der Zuschreibung durch andere abhängig sind. Diese Charakterisierung weist zumindest zwei wesentliche Implikate auf: zum einen die Universalität und Gleichheit der Menschenrechte – sie kommen jedem Menschen in gleicher Weise zu – und zum anderen die Verknüpfung ihrer Geltung mit dem Menschsein als solchem. So nämlich, wie die Menschenrechte konzipiert werden, ist ihr Zukommen an nichts anderes gebunden als daran, dass es sich bei einem Lebewesen um einen Menschen in einem normativ relevanten Sinn handelt. Damit stellt sich bereits im Menschenrechtsgedanken die Frage danach, was den spezifischen Status des Menschseins dergestalt ausmacht, dass jeder einzelne Mensch genötigt wäre, jedem anderen Menschen jene grundlegenden Rechte zuzugestehen. Genau diese Frage verweist aber auf nichts anderes als die Menschenwürde, deren ursprünglicher Sinn genau dieser ist, einen speziellen normativen Status des Menschseins aufzuzeigen, aus dem bestimmte Pflichten folgen. Alleine in dieser Hinsicht macht der Menschenwürdebegriff also etwas explizit, was im Menschenrechtsbegriff immer schon impliziert ist und dementsprechend auch in denjenigen Verfassungen präsent ist, die den Menschenwürdebegriff nicht ausdrücklich enthalten. Zwar ließe sich an dieser Stelle einwenden, dass der auf diese Weise aus dem öffentlichen Diskurs aufgegriffene Menschenrechtsbegriff seinerseits zu kritisieren wäre, etwa als Ausdruck eines willkürlichen und damit ungerechten „Speziesismus“, der nichtmenschliche Lebewesen alleine aufgrund einer Art „Voreingenommenheit für die eigene Spezies“ aus der Rechtsgemeinschaft ausschließen würde. Außerdem ließe sich beispielsweise geltend machen, die Zuerkennung des Status eines Menschenrechtssubjekts hänge eben doch an bestimmten empirisch feststellbaren Eigenschaften wie derjenigen, actualiter bestimmte Interessen zu haben19, oder derjenigen, de facto sprachlich kommunizieren zu 18 Die Frage, was „zukommen“ in diesem Zusammenhang bedeutet, welchen Status in überpositivrechtlicher Hinsicht überhaupt die Rede von „Rechten“ haben kann und in welchem Verhältnis die Menschenrechte zu konkreten Rechtssystemen und faktischer Staatlichkeit stehen, sind wesentlich komplexer, als es der übliche naive Gebrauch des Menschenrechtsbegriffs meist zur Kenntnis nimmt. Über diese Fragen wird daher noch des Näheren zu reden sein (vgl. Kapitel 6, III und Kapitel 7, II der vorliegenden Arbeit). Einstweilen soll der Begriff unter Ausklammerung dieser Fragen so aufgegriffen werden, wie er sich im öffentlichen Diskurs zeigt. Ob dieser Begriff dann auch in rechtsphilosophischer Hinsicht einholbar ist, kann erst der Verlauf der Untersuchung selbst zeigen. 19 So der Präferenzutilitarismus in den verschiedenen Varianten Peter Singers (vgl. Singer,
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können.20 Wirklich widerlegt können diese Einwände in der Tat nur werden, indem eine überzeugende und gut begründete Theorie der Menschenwürde vorgelegt wird, also nur im Laufe dieser Untersuchung selbst. Einstweilen geht es lediglich darum, anhand der heute geläufigen Konzeption der Menschenrechte aufzuzeigen, dass diese über sich hinausweist auf etwas, was mit „Menschenwürde“ immer noch am angemessensten bezeichnet ist: auf einen spezifischen normativen Status von Menschen, an den wiederum bestimmte universell geltende normative Forderungen geknüpft sind, die den Charakter von Rechten haben. Es ist dabei unschwer zu erkennen, dass die universale Gültigkeit der Menschenrechte und der Umstand, dass ihr Zukommen üblicherweise als etwas verstanden wird, das durch nichts anderes bedingt ist als das Menschsein selbst, zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn die Menschenrechte zur einzigen Geltungsbedingung das Menschsein haben, dann können sie auch nicht anders gedacht werden denn als solche, die jedem Menschen in gleichem Maß zukommen. Umgekehrt bedeutet dies, dass jegliche Theorie der Menschenrechte, die deren Zukommen in etwas anderem als dem Menschsein verortet, die Universalität und Gleichheit der Menschenrechte nicht oder doch nur unter erheblichen theoretischen Schwierigkeiten wird einholen können. Gleichwohl darf die Rückbindung der Menschenrechte an einen spezifischen normativen Status, der dem Menschsein eignet, nicht bereits so verstanden werden, als ob so gleichsam mit einem Gewaltstreich die – vor allem in der Bioethik – brisante Frage nach dem ethischen und rechtlichen Status von menschlichen Lebewesen an den Grenzen der menschlichen Lebensspanne entschieden wäre. Das wäre nur dann der Fall, wenn man den für die Menschenrechte einschlägigen normativen Begriff des „Menschen“ ohne weitere Begründungsarbeit auf den biologisch verstandenen Begriff eines Lebewesens der Spezies „Mensch“ abbilden könnte, so dass die Zugehörigkeit zur biologischen Spezies zugleich das Geltungskriterium für die Zuerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten wäre. Zwar wird sich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung Peter: Praktische Ethik. Stuttgart, 2. Aufl. 1993), Norbert Hoersters (vgl. Hoerster, Norbert: Ethik und Interesse. Stuttgart 2003) oder Ronald Dworkins (vgl. Dworkin, Ronald: Die Grenzen des Lebens. Hamburg 1994). 20 So etwa Habermas, der seltsamerweise in der Debatte um die „verbrauchende Embryonenforschung“ häufig als Verfechter einer Anerkennung von ungeborenen menschlichen Lebewesen als Menschenrechtssubjekten gesehen wurde, tatsächlich aber genau das Gegenteil vertritt. Habermas macht den Status eines Trägers von Menschenrechten unmissverständlich von der empirischen Fähigkeit zur Kommunikation abhängig – mit der Konsequenz, nicht zur Kommunikation fähige menschliche Lebewesen aus der Rechtsgemeinschaft auszuschließen: „Erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten Person […] Vor dem Eintritt in öffentliche Interaktionszusammenhänge genießt das menschliche Leben als Bezugspunkt unserer Pflichten Rechtsschutz, ohne selbst Subjekt von Pflichten und Träger von Rechten zu sein.“ (Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M. 2001, S. 65 f.).
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
ergeben, dass einige gewichtige Argumente für dieses Geltungskriterium sprechen. Allerdings ist eine solche Engführung keineswegs selbstverständlich, sondern bedarf ihrerseits einer Begründung, die imstande ist, sich gegen alternative Konzeptionen durchzusetzen, die das „Menschsein“ im normativ relevanten Sinn an andere Kriterien wie z. B. die erfolgte Nidation, messbare Hirntätigkeit, empirisches Selbstbewusstsein, die Fähigkeit zur Selbstachtung oder faktisch gegebene Kommunikationsfähigkeit knüpfen. Wenn also an dieser Stelle von „Menschsein“ die Rede ist, so darf dies nicht dahingehend verstanden werden, dass damit bereits eine Vorentscheidung über die bioethische Kernfrage nach dem Status menschlicher Lebewesen an den Grenzen menschlicher Existenz getroffen wäre. Vielmehr muss diese Frage so lange noch offengehalten werden, wie noch keine schlüssige Argumentation für die eine oder andere Position entwickelt ist. Auch wenn es einer Tautologie nahekommen mag, soll daher, einfach um jede Vorfestlegung zu vermeiden, der Begriff des „Menschseins“ einstweilen im bloß formalen Sinn eines „Menschseins in normativ relevanter Hinsicht“ verstanden werden. Ungeachtet dessen wird man festhalten können, dass jede Theorie der Menschenrechte die Frage nach dem Geltungsbereich und dem Geltungskriterium dieser Rechte implizit enthält und damit auf die Menschenwürde rückverwiesen bleibt. Die zweite Ebene, auf der der Menschenrechtsbegriff unweigerlich auf den Menschenwürdebegriff rückverweist, ist sodann die Frage nach dem Geltungsgrund der Grund- oder Menschenrechte. Eine Begründungsfigur, die auf die Menschenwürde als einen mit dem Menschsein in irgendeiner Weise enggeführten spezifischen normativen Status rekurriert, stellt hier sicherlich nur ein mögliches, wenngleich ein durchaus prominentes Begründungsmodell dar. Alternative Begründungsmodelle sind denkbar, so allen voran kontraktualistische Modelle. Das Begründungsmodell der Menschenwürde kann mithin nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern muss sich, wenn es denn dasjenige Modell sein sollte, das theoretischen Vorrang soll beanspruchen können, gegen die anderen denkbaren Modelle allererst noch ausweisen. Gleichwohl dürfte das Menschenwürde-Modell einer Begründung der Menschenrechte, wie die Analyse einschlägiger nationaler und internationaler Rechtsdokumente gezeigt hat, im derzeit gängigen Menschenrechtsverständnis vorherrschend sein. Eine dritte Ebene, auf der die heute geläufigen Auffassungen von Menschenoder Grundrechten über sich hinaus auf die Menschenwürde verweisen, betrifft das normative Verhältnis der inhaltlich verschiedenen Rechte zueinander. Insbesondere im Fall vermeintlicher „Kollisionen“ zwischen Menschen- bzw. Grundrechten stellt sich die Frage, welche dieser Rechte aus welchem Grund und gemäß welcher Kriterien in welchen Hinsichten Vorrang gegenüber anderen Rechten genießen. Auch diese Frage lässt sich auf der Ebene der Rechte selbst offenkundig nicht mehr beantworten, sondern bedarf eines Rückgangs auf das Prinzip dieser Rechte, um in einer Reflexion auf deren Grund und Ur-
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sprung zu bestimmen, welches Recht in einem tatsächlichen oder vermeintlichen Konfliktfall Vorrang beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang taucht dann sogleich auch die Frage nach der Möglichkeit und dem Zuschnitt unbedingt, d. h. situations- und folgenunabhängig geltender Rechtspflichten auf, die zumindest im deutschen verfassungsrechtlichen Diskurs unter dem Stichwort der „Unabwägbarkeit der Menschenwürde“ diskutiert wird. Man mag dies zwar für eine deutsche Besonderheit halten, die ihren kontingenten Grund in dem Umstand hat, dass die deutschen Verfassungsrechtler sich nach der Verabschiedung des Grundgesetzes genötigt sahen, aus Art. 1 GG, in dem von der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde die Rede ist, juristisch „irgendetwas zu machen“. Gleichwohl lässt sich auch hier wieder feststellen, dass das eigentliche Problem, die Frage nämlich, ob es bestimmte Rechte und Rechtspflichten gibt, die so grundlegend sind, dass sie nicht in Abwägungskalküle, Folgenkalküle und kasuistische Kalküle einbezogen werden können, ein grundsätzliches Problem aller rechtsphilosophischen und ethischen Theoriebildung ist. Lediglich mag man daran zweifeln, dass die Behandlung dieses Problems einen Rekurs auf das Menschenwürdeprinzip erfordert – wird doch die betreffende Debatte in der zeitgenössischen anglo-amerikanischen Philosophie, in der sie eine durchaus gewichtige Rolle spielt, weitgehend ohne expliziten Bezug auf den Menschenwürdebegriff diskutiert.21 Die einschlägigen Kategorien, mit denen das Problem dort behandelt wird, sind vielmehr Kategorien wie „Konsequentialismus“ und „Deontologie“ und insbesondere „Akteursrelativität“ und „Akteursneutralität“. Charakteristisch ist gleichwohl, dass selbst im angelsächsischen Sprachraum da, wo die Existenz derart unbedingter Pflichten behauptet wird, häufig auf im weitesten Sinn kantische Ansätze rekurriert wird. So hat beispielsweise Robert Nozick die Gegebenheit von „side constraints“, die eine konsequentialistische Nutzenoptimierung grundlegend beschränken sollen, durch einen expliziten Rückgriff auf die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs begründet.22 Nozick zieht damit genau den Gedanken aus der praktischen Philosophie Kants heran, den auch Günter Dürig als Grundlage seiner kanonisch gewordenen Auslegung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG herangezogen hat. Vergleichbare Rekurse auf Kant oder gar Fichte finden sich
21 Vgl. stellvertretend für viele dazu die Diskussionsbeiträge von Nagel (Nagel, Thomas: The View from Nowhere. New York 1986, S. 164–185), Kamm (Kamm, Francis M.: Intricate Ethics: Rights, Responsibilities, and Permissible Harm. New York 2007), Scheffler (Scheffler, Samuel: The Rejection of Consequentialism. Oxford 1994), Dancy (Dancy, Jonathan: Moral Reasons. Oxford 1993) und Kagan (Kagan, Shelly: The Limits of Morality. Oxford 1989). 22 Vgl. dazu Nozick, Robert: Anarchy, the State and Utopia. New York 1974, S. 26–53 (Part I, Chapter 3: „Moral Constraints and the State“). Eine Auseinandersetzung mit der Position Nozicks findet sich in Kapitel 6, II der vorliegenden Untersuchung.
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
beispielhaft auch bei Warren S. Quinn 23 oder Stephen Darwall.24 Nozicks Überlegungen, die zugleich eine wichtige Inspiration für die Präzisierung der Debatte um konsequentialistische und deontologische Ethikmodelle waren, stellen damit in gewisser Weise das Bindeglied zwischen der deutschen, noch vorwiegend im Rahmen der Rechtswissenschaften geführten Debatte um die „Unabwägbarkeit der Menschenwürde“ und dem englischsprachigen Diskurs um die Möglichkeit unbedingt geltender (Rechts)pflichten dar. Es scheint mithin, dass die Verknüpfung von Menschenwürdeprinzip und unbedingt geltenden (Rechts-)Pflichten nicht einfach nur ein historisch kontingentes, auf den deutschen Sprachraum beschränktes Phänomen ist, das an die spezifische Formulierung des Art. 1 GG gebunden wäre. Vielmehr liegt der Rekurs zumindest auf den kantischen Menschenwürdebegriff offenbar immer dann nahe, wenn die Frage unbedingt geltender Pflichten bzw. unabwägbarer Rechte aufgeworfen wird. Auch hier gilt allerdings wieder, dass ein entsprechender Zusammenhang zwischen dem, was in der philosophischen Tradition seit Kant unter dem Begriff „Menschenwürde“ verhandelt wird, und dem Problem unbedingt geltender Pflichten nicht einfachhin behauptet oder aus faktisch geführten Diskursen bloß aufgegriffen werden kann, sondern sich im Gang der Untersuchung selbst als innerlicher, logisch notwendiger Zusammenhang erweisen muss. Dass ein solcher Zusammenhang vorliegt und dass dieser Zusammenhang eine Lösung für zahlreiche Aporien bietet, die ansonsten mit der Behauptung der Möglichkeit unbedingt geltender (Rechts-)Pflichten einhergehen, ist eine der zentralen Thesen der vorliegenden Studie, der insbesondere das 6. Kapitel gewidmet sein wird.
3. Die normative Struktur des Würdebegriffs als philosophisches Problem Die skizzierte Analyse der Implikationen des Menschenrechtsbegriffs erlaubt es nun auch besser zu verstehen, wie und warum der Menschenwürdebegriff, der über lange Jahrhunderte gerade kein auf Intersubjektivität abzielender Begriff und schon gar kein Rechtsbegriff war, sondern ein Begriff, der im Wesentlichen Ansprüche an die Träger dieser Würde selbst stellte – im Kern den Anspruch nämlich, durch ein „würdevolles Verhalten“ dem eigenen Menschsein gerecht zu werden –, in der Moderne zu einem Begriff transformiert werden konnte, der in einer begründenden und prinzipiierenden Funktion für die Menschenrechte gesehen wird. Betrachtet man den Begriff zunächst in seiner ursprünglichen 23 So bei Quinn, Warren S.: Actions, Intentions, and Consequences: The Doctrine of Double Effect. In: Philosophy and Public Affairs, 18(4): S. 334–351. Wiederabdruck in Woodward, Paul A. (Hg.): The Doctrine of Double Effect. Philosophers Debate a Controversial Moral Principle. Notre Dame (IN) 2001, S. 23–40. 24 Vgl. Darwall, Stephen L.: The Second-Person Standpoint. Morality, Respect and Accountability. Cambridge (MA) 2006, S. 213–242 (zu Kant) und S. 243–276 (zu Fichte).
II. Der Menschenwürdebegriff in der Krise
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und alltagssprachlichen Bedeutung, wie wir sie etwa im altrömischen dignitas-Begriff oder dem noch heute gebräuchlichen Begriff einer „Amtswürde“ fassen können, so kann man feststellen, dass er eine normative Tiefenstruktur aufweist, die ihn für eine solche Funktion geradezu prädestiniert: „Würde“ in diesem ursprünglichen Sinn kennzeichnet einen bestimmten Rang oder Status innerhalb einer sozialen Ordnung, für den es charakteristisch ist, dass einerseits derjenige, dem dieser Rang zukommt, bestimmte Pflichten hat, sich seinem Rang gemäß zu verhalten, dass man andererseits aber auch ihm gegenüber bestimmte Pflichten hat. Insofern überbrückt der Würdebegriff bereits in seiner ursprünglichen Bedeutung eines „sozialen Status“ „Sein“ und „Sollen“, indem aus einem bestimmten Seinsstatus bestimmte Sollenspflichten – des Würdeträgers gegen sich selbst und anderer gegenüber dem Würdeträger – gefolgert werden. „Menschenwürde“ scheint dementsprechend prima facie nichts anderes zu sein als eine Verallgemeinerung dieser Struktur im Hinblick auf grundlegende Rechte, die dem Menschen als Menschen zukommen. In philosophischer Perspektive wäre eine solche bloß begriffsgeschichtliche Herleitung aber mehr als unbefriedigend, bliebe man dabei denn stehen. Denn zum einen ist nicht wirklich klar, wie man sich die Operation einer Universalisierung des Konzepts eines ja gerade distinkten sozialen Status eigentlich sollte denken können. Zum anderen mag die skizzierte Überbrückung von „Sein“ und „Sollen“ zwar plausibel sein, wenn es um kontingente und partikulare soziale Institutionen und Konventionen wie eine bestimmte Form des Verhaltens seitens eines „Würdenträgers“ der Römischen Republik geht. Geht es aber um grundlegende Rechte und Pflichten, die als solche der bloß konventionalen Setzung entzogen sein und vielmehr universal gelten sollen, stellt sich die Frage nach einer Überbrückung der Kluft zwischen „Sein“ und „Sollen“ auf grundlegend neue Weise – ist doch keineswegs klar, warum aus dem bloßen Umstand, dass es sich bei einer Entität um ein Lebewesen mit einem bestimmten Status handelt, überhaupt folgen sollte, dass dieses Wesen bestimmte grundlegende Rechte hat und dass ihm gegenüber grundlegende Pflichten gelten sollten. Um diesen Übergang zu explizieren, ist ein nicht unerheblicher Begründungs- und Argumentationsaufwand erforderlich, dem sich erst und in exemplarischer Weise Kant gestellt hat. Kant kommt darum auch eine Schlüsselrolle hinsichtlich der spezifisch modernen Konzeption der Menschenwürde zu, auf deren Basis die Menschenwürde überhaupt erst als rechtsphilosophischer Begriff denkbar wird. Soweit eine solche Begründung nicht geleistet würde oder sich als nicht plausibel erwiese, verfiele auch das rechtliche Menschenwürdekonzept ganz zu Recht dem Vorwurf, schlechte Metaphysik und möglicherweise ein verschleierter Restbestand religiösen Denkens zu sein, das eine säkulare Gesellschaft nicht zur Basis ihres Rechtssystems machen könne. Kants Rezeption des Menschenwürdebegriffs in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und der „Metaphysik der Sitten“ greift dabei zwar wichtige
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
Charakteristika des Menschenwürdebegriffs aus der Tradition auf. Zugleich transformiert Kant den Begriff aber auf fundamentale Weise und gibt ihm nicht nur eine neue, transzendentalphilosophische Grundlegung, sondern auch eine neue Stoßrichtung. Kants Moralphilosophie enthält mithin nicht einfach eine Abhandlung über einen bereits existierenden Begriff von Menschenwürde, sondern konstituiert diesen überhaupt erst in seiner modernen Bedeutung. Wesentlich dafür sind drei Elemente: zum Ersten, dass Kant den Menschenwürdebegriff mit einem emphatischen Begriff von personaler Autonomie, im Sinn der Fähigkeit, nach von der Vernunft selbst gegebenen moralischen Gesetzen zu handeln, verbindet; zum Zweiten, dass der Begriff in einer gegenüber der philosophischen Tradition neuen Weise auf die Konzeption des Menschen als eines „Zwecks an sich“ bezogen wird und dann dessen grundsätzliche Unverrechenbarkeit mit subjektiven Zwecksetzungen zum Ausdruck bringt; und drittens schließlich, dass der Menschenwürdebegriff, sofern er den unbedingten Achtungsanspruch zum Ausdruck bringt, der autonomen Vernunftwesen zusteht, zugleich zum Geltungsgrund der Pflichten wird, die ein autonomes Vernunftwesen sich selbst und anderen autonomen Vernunftwesen gegenüber hat. Trotz dieser von Kant vorgenommenen Neubestimmung und Zuspitzung des Menschenwürdebegriffs ist der Begriff als solcher in der Folgezeit im innerphilosophischen Diskurs bemerkenswerterweise zunächst kaum rezipiert worden. Dass der Begriff dem Namen nach im Deutschen Idealismus nicht oder jedenfalls nur am Rande auftaucht, bedeutet allerdings nicht, dass er der Sache nach in der Rechtsphilosophie Fichtes und Hegels nicht präsent wäre. Im Gegenteil: in Form des Anerkennungsbegriffs ist er durchaus präsent und – wie näher zu zeigen sein wird – von grundlegender Bedeutung. Indem insbesondere Fichte den kantischen Ansatz bei der Autonomie zu einer Theorie ausbaut, die auf dem Konzept der wechselseitigen Anerkennung moralfähiger, vernünftiger Wesen als freier Rechtssubjekte beruht, liefert er letztlich den Theorieansatz, der es erlaubt, genau diejenigen Elemente und Funktionen philosophisch zu rekonstruieren und zu begründen, die den Menschenwürdebegriff als fundamentalen Begriff des Rechts ausmachen.
III. Methodische Fragen einer Philosophie der Menschenwürde 1. Die Vielfalt der Menschenwürdebegriffe als methodische Herausforderung Mit den oben skizzierten Überlegungen wird eine grundlegende methodische Reflexion zur Vorgehensweise der vorliegenden Studie erforderlich. Als Rechtsbegriff ist der Menschenwürdebegriff – auch und gerade innerhalb der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik – immer vielfältigeren und häufig einander
III. Methodische Fragen einer Philosophie der Menschenwürde
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widersprechenden Auslegungen seiner Funktion, seines Status und seines normativen Gehalts ausgesetzt. Dementsprechend existiert neben der gleichsam „klassischen“ Bestimmung der Menschenwürde als Grund und Prinzip der Menschenrechte mittlerweile eine Vielzahl weiterer Auslegungsangebote. So etwa – um nur die wichtigsten zu nennen – der Vorschlag, Menschenwürde als spezielles Recht zu verstehen, nicht gedemütigt bzw.nicht in der eigenen Selbstachtung verletzt zu werden (Avishai Margalit 25 , Ralf Stoecker26 , Peter Schaber27, Christian Neuhäuser28 , Arnd Pollmann 29); der Vorschlag, Menschenwürde als spezielles „Recht auf Nichtinstrumentalisierung“ zu begreifen, das neben und über den übrigen Menschenrechten existiere (die „herrschende Meinung“ unter den deutschen Verfassungsrechtlern); der Vorschlag, Menschenwürde als Sammelbegriff für ein Ensemble besonders fundamentaler Menschenrechte zu explizieren (Dieter Birnbacher30 , Eric Hilgendorf31), oder schließlich der Vorschlag, Menschenwürde als politischen Anspruch auf die Bereitstellung derjenigen Güter zu verstehen, die für ein der menschlichen Natur angemessenes Leben notwendig sind (Martha Nussbaum 32). Dabei greifen die unterschiedlichen Autoren wiederum auf die unterschiedlichsten philosophischen oder rechtlichen Traditionen zurück – oft auch solche, in denen der Ausdruck „Menschenwürde“ selbst gar nicht vorkommt – und verknüpfen sie mit dem rechtlichen Menschenwürdebegriff. Vor diesem Hintergrund wirft eine reflektierte Befassung mit dem Menschenwürdebegriff für den Philosophen eine Reihe 25 Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt a.M. 1996 (dt.). 26 So etwa in Stoecker, Ralf: Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung. In: Stoecker, Ralf (Hg.): Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff. Wien 2003, S. 133–151. 27 Vgl. beispielsweise Schaber, Peter: Menschenwürde und Selbstachtung: Ein Vorschlag zum Verständnis der Menschenwürde. In: Studia Philosophica 65/2004, S. 93–106 und Schaber, Peter: Der Anspruch auf Selbstachtung. In: Härle,Winfried/Vogel, Bernhard (Hg.): Die Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten. Freiburg i.Br. 2008, S. 188–201. In jüngeren Publikationen ist Schaber von dieser These wieder abgerückt und vertritt wieder eine an Kant angelehnte Auffassung, nach der die Menschenwürde in erster Linie die Achtung vor Selbstbestimmung und Selbstzwecklichkeit fordere (vgl. Schaber, Peter: Instrumentalisierung und Würde. Paderborn 2010). 28 Vgl. etwa Neuhäuser, Christian: Humiliation: The Collective Dimension. In: Kaufmann, Paulus/Kuch, Hannes/Neuhäuser, Christian/Webster, Elaine (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated. Dordrecht 2010, S. 21–36. 29 Vgl. Pollmann, Arnd: Würde nach Maß. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/2005, S. 611–619. 30 So z. B. in Birnbacher, Dieter: Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar? In: Kettner, Matthias (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt a.M. 2004, S. 249–271. 31 Vgl. etwa Hilgendorf, Eric: Die mißbrauchte Menschenwürde – Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion. In: Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 7 (1999), S. 137–158. 32 So in Nussbaum, Martha: Human Dignity and Political Entitlements. In: Schulman, Adam (Hg.): Human Dignity and Bioethics: Essays Commissioned by the President’s Council on Bioethics. Washington 2008, S. 351–380.
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1. Kapitel: Menschenwürde als Begriff des Rechts – eine Problemskizze
durchaus gravierender methodischer Probleme auf. Es bieten sich angesichts der skizzierten Situation für die philosophische Reflexion des Menschenwürdebegriffs zwei grundlegende methodische Möglichkeiten an: ein rekonstruktiver Ansatz, der wiederum in einen rein philosophiegeschichtlich-rekonstruktiven und einen breiten rekonstruktiven Ansatz unterteilt werden kann, sowie ein konstruktiver Ansatz.
2. Der rekonstruktive Ansatz Die Methode des philosophiegeschichtlich-rekonstruktiven Ansatzes bestünde darin, die philosophischen Theorien, in denen der Begriff der Menschenwürde oder der „Würde des Menschen“ explizit auftaucht, angemessen zu rekonstruieren, zu begründen und gegebenenfalls in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen. Von einer derartigen Rekonstruktion her könnte der Gebrauch des Menschenwürdebegriffs im Recht sowie in politischen und gesellschaftlichen Diskursen dann einer kritischen Prüfung und Bewertung unterzogen werden. Eine solche Vorgehensweise findet sich z. B. häufig bei Autoren, die vom kantischen Menschenwürdekonzept, wie es in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ umrissen ist, ausgehen. Eine Schwierigkeit dieser Vorgehensweise liegt allerdings darin, dass sie durch ihre Ausrichtung auf eine spezifische Theorie der Menschenwürde für eventuell wichtige Anregungen aus den rechtlichen, alltagssprachlichen und politisch-gesellschaftlichen Verwendungsweisen methodisch blind wäre. Sie hätte gewissermaßen allein aufgrund der gewählten Methode die Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen, in der alltagssprachlichen, politisch-gesellschaftlichen und juristischen Verwendung des Menschenwürdebegriffs Aspekte dieses Begriffs aufzudecken, die für ihn wichtig sind, bislang aber in der philosophischen Theoriebildung keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Während dies zwar mißlich wäre, aber eine entsprechende Theorie nicht unbedingt grundlegend in Frage zu stellen geeignet wäre, ist ein anderes Problem des philosophiegeschichtlich-rekonstruktiven Ansatzes deutlich gravierender. Die Rechtswissenschaften oder andere Disziplinen, die ebenfalls mit dem Menschenwürdebegriff umgehen, könnten nämlich eine auf der Basis dieses methodischen Ansatzes formulierte Kritik an ihrem fachspezifischen Menschenwürdeverständnis jederzeit problemlos mit dem Argument zurückweisen, dass die Kritik auf einem ihm äußerlichen Maßstab beruhen würde. So könnte beispielsweise ein Jurist, dessen rechtsdogmatische Überlegungen zum Menschenwürdebegriff auf der Basis eines kantischen Theorieansatzes kritisiert würde, sich jederzeit darauf zurückziehen, sein Menschenwürdebegriff sei nun einmal nicht der kantische, ja sei überhaupt kein philosophischer Begriff, sondern ein rein rechtspositivistischer, der sich um philosophische Erwägungen nicht weiter kümmern müsse. Diese Strategie wäre im Kontext der deutschen Verfassungs-
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rechtsdogmatik zwar insofern schwierig durchzuhalten, als die wichtigste juristische Interpretation des Menschenwürdebegriffs des Art. 1, Abs. 1 GG, die Dürig’sche „Objektformel“33 , selbst nichts anderes als eine Paraphrase der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs darstellt und der Maßstab der Kritik hier dementsprechend gerade kein äußerlicher wäre. Gleichwohl bleibt zumindest jenseits einer auf die Dürig’sche „Objektformel“ gestützten Auslegung die skizzierte Antwortmöglichkeit des Juristen erhalten. Und selbst bei einer an die „Objektformel“ anknüpfenden Auslegung könnte immer darauf hingewiesen werden, dass mit dieser ein anderer als der kantische Sinn verbunden werde34. Alternativ zum philosophiegeschichtlich-rekonstruktiven Ansatz wäre auch ein breiter gefasster rekonstruktiver Ansatz denkbar, der sich nicht alleine auf philosophische Quellen stützte, sondern das gesamte Spektrum der Diskurse und Disziplinen in den Blick nähme, in denen der Begriff „Menschenwürde“ auftaucht. Auf dieser Grundlage könnte dann versucht werden, eine Menschenwürdekonzeption zu entwickeln, die die verschiedenen Gebrauchsweisen des Begriffs in eine konsistente Theorie überführte. Ein solcher Ansatz hätte freilich zum einen kaum kritisches Potential, da er lediglich Vorgefundenes organisieren, harmonisieren und allenfalls noch auf seine Voraussetzungen hin analysieren, es aber nicht in Frage stellen könnte. Zum anderen ist es angesichts der enormen Heterogenität der Verwendung des Begriffs kaum zu vermuten, dass die verschiedenen Verständnisse von Menschenwürde, die in philosophischen, alltagssprachlichen, politisch-gesellschaftlichen, juristischen und anderen Diskursen existieren, überhaupt in einer konsistenten Weise zusammengeführt werden können. Gelänge dies nicht - wie realistischerweise zu erwarten ist -, so blieben dem breiteren rekonstruktiven Ansatz lediglich die gleichermaßen unbefriedigenden Optionen übrig, entweder explizit verschiedene „Menschenwürde“-Begriffe zu rekonstruieren, die nur – fälschlich und kontingenterweise – mit demselben Wort bezeichnet würden, oder aber eines der rekonstruierten Verständnisse als „das richtige“ auszuzeichnen. Beide Wege sind in philosophischer Hinsicht problematisch. Der erste Weg würde gänzlich auf die Möglichkeit der kritischen Reflexion verzichten und an die Stelle philosophisch-normativen Nachdenkens eine bloße deskriptive Bestandsaufnahme des faktischen Umgangs mit dem Begriff setzen. Wo kein kritisch-normativer Anspruch besteht, mag das zwar ein mögliches Vorgehen sein, allerdings ließen sich aus einer solchen Bestandsaufnahme auch in der Tat keinerlei normative Folgerungen, weder ethischer noch rechtlicher Art, herleiten. Der zweite Weg dagegen würde 33 Vgl. Dürig, Günter: Kommentar zu Art. 1 GG. In: Maunz, Theodor/Dürig, Günter u. a.: Grundgesetz. Kommentar (Stand 1958). München 1958, Art. 1 I, Rn. 28, S. 14 f. 34 Damit hätte eine solche Position sich dann freilich eine nicht unerhebliche Begründungslast aufgebürdet, müsste sie doch einen Vorschlag entwickeln, wie eine Formel, die eine offensichtliche Kant-Paraphrase darstellt, anders als kantianisch verstanden werden könnte.
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voraussetzen, dass noch einmal unabhängig von der Begriffsrekonstruktion selbst Maßstäbe und mithin ein bestimmtes Menschenwürdekonzept entwickelt würden, die es erlaubten, „richtige“ von „falschen“ oder jedenfalls angemessene von unangemessenen Menschenwürdeverständnissen zu unterscheiden. Damit wäre der Rahmen einer rekonstruktiven Methodik aber bereits überschritten und die eigentliche argumentative Arbeit läge in der Entwicklung eines solchen Konzepts bzw. solcher Maßstäbe. Diese könnten dann aber, wie bereits für die engere philosophiegeschichtlich-rekonstruktive Methodik aufgezeigt, von Vertretern anderer Menschenwürdekonzepte wiederum zu Recht als ihren Konzepten äußerlich zurückgewiesen werden.
3. Der konstruktive Ansatz Eine von beiden Ansätzen unterschiedene Herangehensweise würde statt in einem rekonstruktiven in einem konstruktiven Ansatz liegen. Bei einem solchen Ansatz würde gerade nicht versucht, eine Rekonstruktion von philosophischen Theorien, in denen der Begriff der Menschenwürde explizit auftaucht, oder von außerphilosophischen Verwendungen des Begriffs zu liefern. Vielmehr würde versucht, eine eigenständige philosophische Theorie der Menschenwürde zu entwickeln. Dabei könnte dann nicht zuletzt auch auf philosophische Ansätze zurückgegriffen werden, die das Konzept der Menschenwürde zwar nicht dem Wortlaut nach enthalten, für die aber mit welchen Argumenten auch immer beansprucht wird, dass sie es der Sache nach enthalten.35 Für ein solches Vorgehen spricht auf den ersten Blick nicht allein, dass es das der genuin philosophischen Aufgabenstellung angemessenste Vorgehen sein dürfte, sondern auch, dass es die methodischen Probleme der beiden ersten möglichen Wege vermeidet. Insbesondere würde es erlauben, Kriterien für eine kritische Prüfung des Umgangs mit dem Menschenwürdebegriff in den verschiedenen Disziplinen – einschließlich der Philosophie und der Rechtswissenschaften – zu entwickeln, die nicht ohne weiteres als äußerlich und unverbindlich zurückgewiesen werden können. Gleichwohl tauchen bei diesem methodischen Ansatz nicht weniger gravierende methodische Schwierigkeiten auf. Sie werden zunächst am handgreiflichsten in der Frage, woher man denn weiß, dass ein philosophischer Ansatz, in dem der Begriff „Menschenwürde“ nicht auftaucht, diese doch „der Sache nach“ enthalte. Jede Antwort auf diese Frage setzt nämlich unvermeidlich voraus, dass bereits ein Vorverständnis darüber existiert, was „Menschenwürde“ denn der Sache nach überhaupt ausmache. Nur wo ein solches inhaltliches Vor35 Dabei kämen beispielsweise anerkennungs- und diskurstheoretische Ansätze, Ansätze aus der phänomenologischen Ethik von Husserl über Lévinas bis Ricoeur, Ansätze einer handlungsreflexiven Moralbegründung, wie sie bei Alan Gewirth zu finden sind, oder selbst tugendethische Ansätze bzw. Theorien des „guten Lebens“, wie sie sich z. B. bei Martha Nussbaum finden lassen, in Frage.
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verständnis existiert, hat man überhaupt die Möglichkeit, von einem philosophischen Theorem auszusagen, dass es der Sache nach einen Bezug zur Menschenwürde aufweist. Das Erfordernis eines Vorverständnisses bestünde im Übrigen nicht erst, wenn auf existierende Theorien der praktischen Philosophie rekurriert würde, sondern selbst dann, wenn ohne einen solchen Rekurs ein gänzlich eigenständiges philosophisches Konzept der Menschenwürde entwickelt würde. Denn ein solches Konzept müsste immer auch in der Lage sein zu zeigen, dass es überhaupt ein Konzept der Menschenwürde ist. Das wiederum erscheint nur möglich, wenn es mit einem unabhängig von ihm bereits gegebenen Verständnis von Menschenwürde in eine vergleichende Beziehung gesetzt werden kann. Damit scheint sich ein hermeneutischer Zirkel zu ergeben, der – anders als manch anderer hermeneutischer Zirkel, und besonders im Hinblick auf das Verhältnis der Philosophie zu den Rechtswissenschaften – für das Projekt einer philosophischen Entwicklung des Menschenwürdebegriffs fatale Konsequenzen haben könnte. Das Vorverständnis der Menschenwürde nämlich müsste selbst zunächst in irgendeiner Weise als angemessenes Vorverständnis der Menschenwürde ausgewiesen werden, um dazu dienen zu können, eine philosophische Theorie auch als Theorie der Menschenwürde zu identifizieren. Ein Ausweisen des Vorverständnisses scheint aber wiederum nur mittels des entwickelten philosophischen Konzepts der Menschenwürde möglich. Ein solches jedoch kann ohne den inhaltlichen Vergleich mit dem Vorverständnis überhaupt nicht als Konzept der Menschenwürde identifiziert werden. Es scheinen mithin nur zwei Wege aus dem Zirkel heauszuführen: Entweder wird ein bestimmtes Vorverständnis gar nicht erst philosophisch ausgewiesen, sondern einfach dezisionistisch-arbiträr gesetzt. Oder das Vorverständnis wird so breit gefasst, dass es alle Elemente und Aspekte des wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Gebrauchs des Menschenwürdebegriffs enthält, damit keines dieser Elemente ausgeschlossen oder bevorzugt wird. Im Fall der willkürlichen Setzung bestünde für einen Vertreter eines anderen Vorverständnisses freilich wieder die Möglichkeit, eben mit Hinweis auf die Willkür und Partikularität des Vorverständnisses, zu bestreiten, dass es sich bei der vorgeschlagenen Theorie überhaupt um eine Theorie der Menschenwürde handelt; oder jedenfalls, dass es sich nicht um eine Theorie handelt, die den Kern der Menschenwürdeproblematik trifft. Auf diese Weise ergäbe sich also allenfalls eine Vielzahl nebeneinander stehender und sich möglicherweise auch widersprechender Menschenwürdekonzeptionen, je nachdem welches Vorverständnis als Maßstab zur Bestimmung einer Theorie als Menschenwürde-Theorie angelegt wird. Ein solches Resultat wäre zwar unbefriedigend und müsste weitere philosophische und juristische Skepsis am Menschenwürdebegriff nähren. Solange man in der Sphäre des philosophischen Diskurses verbliebe, wäre das vielleicht nicht einmal problematisch. Im Hinblick darauf, dass der Menschenwürdebegriff aber auch ein Rechtsbegriff ist, der – mit teilweise erheblichen Folgen für den
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Einzelnen – in der Rechtspraxis angewandt wird, scheint es nicht einfach nur unbefriedigend, sondern geradezu ethisch inakzeptabel, den Menschenwürdebegriff in dieser Weise der Partikularität, der Willkür und dem Dezisionismus zu überlassen. Der zweite Weg – das Vorverständnis so breit zu fassen, dass es möglichst alle existierenden Momente und Aspekte des vorphilosophischen Menschenwürdeverständnisses umfasst – erscheint daher auf den ersten Blick weit attraktiver. So könnte diese Vorgehensweise im Rahmen des Vorverständnisses die in den verschiedenen Diskursen auftauchenden Bestimmungen, Aspekte und Sinndimensionen des Menschenwürdebegriffs im ersten Schritt aufgreifen, um dann im zweiten Schritt zu prüfen, auf welche Weise und mit welchen Theoremen diese eventuell begründbar sind und in welchen philosophischen Konzeptionen sich Anknüpfungspunkte für sie finden. Sollte sich dann gar zeigen lassen, dass es eine philosophische Theorie gibt, die es ermöglicht, die auf den ersten Blick heterogenen Aspekte und Sinndimensionen des Menschenwürdebegriff, wie sie aus den verschiedenen Diskursen aufgegriffen werden, in konsistenter Weise aufeinander zu beziehen und auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen, so könnte das ein valides Kriterium für die Verbindlichkeit einer solchen Theorie sein. Obgleich dieser Methodik also der Vorzug zu geben wäre, weist sie doch immer noch erhebliche Probleme auf. Das wichtigste Problem bestünde wieder darin, dass sie Gefahr liefe, ihr kritisches Potential gegenüber einzelnen Momenten des Vorverständnisses der Menschenwürde zu verlieren. Wenn sich nämlich eine Theorie dadurch als verbindliche Theorie der Menschenwürde auszeichnen ließe, dass sie möglichst alle Aspekte und Sinndimensionen des Vorverständnisses zusammen- und auf ein gemeinsames Prinzip zurückführt, so scheint auf den ersten Blick die Möglichkeit verloren zu gehen, diese Elemente und Sinndimensionen ihrerseits kritisch auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Wenn dagegen umgekehrt eine konstruktive philosophische Theorie der Menschenwürde nicht alle Elemente und Aspekte eines derart breit gefassten Vorverständnisses einholt, sondern einzelne davon gerade kritisiert, ergeben sich wieder zwei gleichberechtigte, aber einander ausschließende Möglichkeiten der Bezugnahme der Theorie auf das Vorverständnis: Entweder könnte vom Standpunkt der entwickelten Theorie A aus das Vorverständnis als falsch oder unzureichend kritisiert werden. Oder es könnte – vom Standpunkt einer Theorie B, die eben das kritisierte Element in den Mittelpunkt ihrer Konzeption stellt – die Auffassung vertreten werden, dass Theorie A unzureichend sei, oder sogar, dass sie überhaupt keine Theorie der Menschenwürde sei. Diese Schwierigkeit lässt sich an einem Beispiel kurz illustrieren. Ein möglichst breites und offenes Vorverständnis der Menschenwürde müsste unter anderem die aktuell vieldiskutierte36 Bestim Vgl. dazu die Fußnoten S. 19, 25 bis 29.
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mung enthalten, dass Menschenwürde in irgendeinem Sinn einen Gegenbegriff zu Demütigung und Erniedrigung bildet, da dies doch sicherlich einen relevanten Gesichtspunkt des alltagssprachlichen Umgangs mit dem Begriff „Würde“ ausmacht. Wird nun eine Theorie der Menschenwürde entwickelt, die den Menschenwürdebegriff ohne einen Bezug auf das Problem der „Demütigung“ als Prinzip der Menschenrechte konstruiert, so kann das einmal als Kritik an einer „Nichterniedrigungs-Theorie“ der Menschenwürde konzipiert werden. Umgekehrt könnte der Verfechter einer „Nichterniedrigungs-Theorie“ aber dem Verfechter einer Rechtsprinzip-Theorie entgegenhalten, dessen Theorie sei gar keine Theorie der Menschenwürde oder jedenfalls keine Theorie, die den semantischen Kern des Menschenwürdebegriffs treffe. Zwar könnten die Verfechter der beiden unterschiedlichen Theorien sich dann vermutlich darauf einigen, dass sie einfach verschiedene Theorien der Menschenwürde vertreten, die beide legitim seien, und dass der Begriff der Menschenwürde selbst mithin kein einheitlicher Begriff sei. In dem Moment aber, in dem der Menschenwürdebegriff in der Angewandten Ethik und der Rechtspraxis verwandt werden muss, funktioniert eine solche pluralistische Lösung nicht mehr, da sich im Ausgang von unterschiedlichen Menschenwürdebegriffen unterschiedliche, gegebenenfalls einander widersprechende praktische Schlussfolgerungen oder sogar Rechtsfolgen ergeben. Das lässt sich leicht anhand bioethischer Fragestellungen illustrieren. So kommt etwa Ralf Stoecker aufgrund seiner Bestimmung der Menschenwürde als eines speziellen „Demütigungsverbots“, d. h. eines Verbots der Beschädigung der empirischen Selbstachtung und Selbstwertschätzung, zu dem Schluss, dass ungeborenen menschlichen Lebewesen keine Menschenwürde zukomme, da sie ja schließlich gar nicht gedemütigt werden könnten.37 Für einen Vertreter der Rechtsprinzip-Theorie der Menschenwürde ist die Frage, ob menschliche Embryonen Träger der Menschenwürde sind, demgegenüber zumindest offen. Alle Schwierigkeiten des rekonstruktiven Ansatzes tauchen also, so muss man festhalten, in analoger Form beim konstruktiven Ansatz wieder auf – was insofern auch nicht verwunderlich ist, als das Vorverständnis, das zur Identifizierung einer Theorie als Theorie der Menschenwürde herangezogen werden muss, das unvermeidbare rekonstruktive Moment der konstruktiven Methodik bildet.
4. Der Menschenwürdebegriff des Rechts Für eine Studie, die sich explizit darauf beschränkt, eine Theorie der Menschenwürde als Rechtsbegriff zu formulieren, eröffnet sich gleichwohl ein Ausweg aus den skizzierten Schwierigkeiten, gerade weil eine solche Beschränkung zu Vgl. Stoecker, Ralf: Die Würde des Embryos. In: Groß, Dominik (Hg.): Zwischen Theorie und Praxis: Ethik in der Medizin in Lehre und Klinik. Würzburg 2002, S. 53–71. 37
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gleich einen methodisch kontrollierten Zugriff auf die verschiedenen Vorverständnisse von „Menschenwürde“ gestattet. Dieser bestünde darin, das Vorverständnis aus den Rechtswissenschaften selbst aufzugreifen, d. h. ausschließlich auf diejenigen Funktionen und Kernelementen des Menschenwürdebegriffs abzuheben, die ihn innerhalb des zeitgenössischen Rechtsdenkens gerade als Rechtsbegriff charakterisieren. Ausgehend davon müsste dann eine philosophische Theorie erarbeitet werden, die es ermöglicht, jene Kernelemente in einem konsistenten Zusammenhang zu entwickeln und zu begründen. Dabei kann dann ohne weiteres, wie es im Rahmen des konstruktiven Ansatzes erläutert wurde, auch auf philosophische Ansätze zurückgegriffen werden, die zwar den Ausdruck „Menschenwürde“ nicht aufweisen, der Sache nach aber geeignet sind, diejenigen Funktionen und Elemente zusammenzudenken und philosophisch zu fundieren, die „Menschenwürde“ als Begriff des Rechts auszeichnen. Die vorgeschlagene Herangehensweise hat den Vorteil, dass sie es ermöglicht, das auch für einen konstruktiven Ansatz notwendige Vorverständnis in einer methodisch kontrollierten, willkürfreien und voraussichtlich konsensfähigen Weise zu bestimmen, ohne sich in der Beliebigkeit eines zu breit formulierten Vorverständnisses zu verlieren, das noch jede überhaupt faktisch existierende Auffassung der Menschenwürde irgendwie verarbeiten müsste. Die daran anknüpfende, eigentlich philosophische Aufgabe wäre dann eine doppelte: Zum einen müsste herausgearbeitet werden, ob und inwieweit die so identifizierten Kernelemente überhaupt in einen konsistenten Zusammenhang gebracht und rechtsphilosophisch aus einem Prinzip heraus begründet werden können. Zum anderen müsste das dergestalt herausgearbeitete Prinzip selbst wiederum bestimmt, philosophisch entwickelt und begründet werden. Ein vermeintlicher Nachteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass sie an eine bestimmte, der Philosophie äußerliche und historisch kontingente Voraussetzung zurückgebunden zu bleiben scheint: nämlich eben darauf, welche Kern elemente der Menschenwürdebegriff im zeitgenössischen, insbesondere deutschen Recht aufweist und welche Funktionen ihm darin zukommen. Darin könnte dann zugleich tendenziell eine Abkopplung der Untersuchung vom Nachdenken der philosophischen Tradition über den Menschenwürdebegriff gesehen werden, die umso problematischer wäre, als diese Tradition den Begriff der Menschenwürde als philosophischen terminus technicus überhaupt erst geschaffen hat. Sieht man jedoch genauer hin, so wird deutlich, dass es vom Verlauf der Untersuchung selbst abhängt, ob beide Befürchtungen sich als begründet herausstellen oder nicht. Als unbegründet würden sie sich genau dann erweisen, wenn es gelänge, die vermeintlich äußerliche und kontingente Voraussetzung, die Kernelemente des Menschenwürdebegriffs des Rechts zum Ausgangspunkt zu machen, tatsächlich rechtsphilosophisch einzuholen. Das wie derum wäre genau dann der Fall, wenn gezeigt werden könnte, dass die im zeitgenössischen Recht identifizierten Kernelemente und Funktionen des Men-
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schenwürdebegriffs zum einen in einem nichtkontingenten wechselseitigen Implikationsverhältnis stehen und sich zum anderen aus den das Recht und die Ethik grundlegenden Begriffen selbst entwickeln lassen. So müsste etwa gezeigt werden, dass das Moment der „Unantastbarkeit“ von bestimmten Rechten und Rechtspflichten, das im zeitgenössischen deutschen Recht mit dem Menschenwürdebegriff verknüpft ist, in der Konzeption der Trägerschaft von Rechten selbst, die im zeitgenössischen Rechtsdenken ebenfalls mit dem Menschenwürdebegriff verknüpft ist, bereits impliziert ist. Es müsste sich mithin zeigen lassen, dass die Konzeption der „Rechtssubjektivität“ gar nicht sinnvoll gedacht werden kann, wenn nicht zugleich die Unantastbarkeit und Unabwägbarkeit zumindest einiger Rechte mitgedacht wird. Gelingt dies, so wäre damit die scheinbar äußerliche und kontingente Voraussetzung einer im zeitgenössischen Rechtsdenken einfach vorfindbaren Verknüpfung beider Elemente theoretisch eingeholt und verlöre so ihren äußerlich-kontingenten Charakter. All das bedeutet dann natürlich, dass erst und nur eine gelungene Durchführung des Programms selbst erweisen kann, dass der gewählte methodische Ansatz einer rechtsphilosophischen Einholung der im Recht vorgefundenen Elemente und Funktionen des Würdebegriffs sachlich gerechtfertigt war. Die vorgeschlagene Methodik vermag ihre Tragfähigkeit mithin nur im gesamten Durchgang durch die vorliegende Untersuchung zu erweisen. Der Vorteil, der mit einem Gelingen dieses Ansatzes verbunden wäre, bestünde darin, dass auf diese Weise eine Grundlage gewonnen werden könnte, von der aus der positivrechtliche Umgang mit dem Menschenwürdebegriff in Rechtssetzung und Rechtsprechung einer angemessenen, nichtäußerlichen Kritik unterzogen werden könnte, die dann als solche von den Rechtswissenschaften nicht einfachhin mit dem Argument zurückgewiesen werden könnte, sie werde von außen an sie herangetragen und sei daher für sie irrelevant. Zugleich eröffnet sich mit ihm auch wieder eine Möglichkeit der Rückbindung des Untersuchungsgangs und damit auch des zeitgenössischen Menschenwürdebegriffs an die philosophische Tradition, in der der Menschenwürdebegriff reflektiert wird. Eine solche Rückbindung ergäbe sich nämlich genau dann, wenn gezeigt werden könnte, dass in der philosophischen Tradition des Menschenwürdebegriffs eben jene einander implizierenden Elemente aufweisbar sind, die die Menschenwürde als Rechtsbegriff kennzeichnen bzw. dass umgekehrt Theorieansätze, die jene Elemente und ihren Zusammenhang entwickeln – wie etwa die Hegel’sche oder die Fichte’sche Rechtsphilosophie –, als philosophische Theorien (und nicht zuletzt Quellen) des Menschenwürdebegriffs des zeitgenössischen Rechts expliziert werden können.
2. Kapitel
Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs „Nie hat ein Dichter die Natur so frei ausgelegt wie ein Jurist die Wirklichkeit.“ (Jean Giraudoux: Der trojanische Krieg findet nicht statt)
I. Der Menschenwürdediskurs zwischen Philosophie und Recht Wer sich heute in Deutschland philosophisch mit dem Begriff der Menschenwürde befasst, befindet sich, ob er es will oder nicht, unvermeidlicherweise immer zugleich inmitten verfassungsrechtlicher und politischer Debatten. Dieser Umstand ist einfach auf die Tatsache zurückzuführen, dass der zwar innerhalb der Philosophie entwickelte und wesentlich geprägte, dort aber meist eher randständige Begriff der Menschenwürde im Verlauf des 20. Jahrhunderts vielfach in einen rechtlichen Begriff transformiert wurde. Bedeutsam für die philosophische Einschätzung dieser Transformation ist dabei, dass der Menschenwürdebegriff nicht in irgendeinen beliebigen rechtlichen Begriff überführt wurde, sondern in vielen Verfassungen und internationalen Rechtstexten den Rang eines zentralen und grundlegenden Begriffs erhalten hat. So setzt das deutsche Grundgesetz das Konzept der Menschenwürde in Gestalt des Art. 1 GG als oberstes Prinzip der gesamten Rechts- und Verfassungsordnung. Mit einem solchen Schritt steht das Grundgesetz freilich nicht alleine da, nimmt der Begriff doch seit der Nachkriegszeit in zahlreichen Verfassungen und internationalen Rechtstexten eine vergleichbare Position ein. Zu nennen wären hier neben dem Grundgesetz insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1945 und die Grundrechte-Charta der Europäischen Union aus dem Jahr 2000. In allen drei Dokumenten spielt der Begriff insofern eine hervorgehobene Rolle, als er jeweils deren ersten Artikel trägt und als Prinzip, Inbegriff oder Geltungsgrund der folgenden, konkreteren Grund- bzw. Menschenrechte fungiert. Jedes der Dokumente stellt mithin eine enge Verknüpfung zwischen Menschenwürde und Menschen- bzw. Grundrechten her, die näher zu bestimmen sicher als eine der wichtigsten Herausforderungen für die rechtsphilosophische und rechtsdogmatische Befassung mit dem Menschenwürdebegriff in unserer Zeit gelten kann.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
So tritt der Menschenwürdebegriff der Philosophie heute nicht mehr nur aus der eigenen Tradition, sondern zugleich immer auch von „außen“, d. h. aus dem Verfassungs- und Völkerrecht, entgegen. Überhaupt wird man feststellen müssen, dass die vertiefte philosophische Beschäftigung mit dem Menschenwürdebegriff, die aktuell zu beobachten ist, ganz wesentlich auf Anstöße zurückzuführen ist, die die Philosophie in den vergangenen Jahrzehnten vom positiven Recht her erhalten hat. Nachdem der Begriff innerhalb der Philosophie vor Kant nur eine marginale und nach dem Ausklang des Deutschen Idealismus kaum mehr eine Rolle gespielt hat, war dies in den deutschen Verfassungsrechtsdiskursen der Nachkriegszeit einfach aufgrund des Umstandes anders, dass die Menschenwürde an zentraler Stelle im Grundgesetz verankert ist. Dementsprechend hat sich seit Gründung der Bundesrepublik eine umfangreiche verfassungsrechtliche Dogmatik des Menschenwürdebegriffs entwickelt, die die Philosophie nicht unbeachtet lassen kann, wenn sie sich heute erneut dem Menschenwürdebegriff zuwendet. Der Diskurs über die Menschenwürde kann dementsprechend heute nur ein interdisziplinärer Diskurs sein, in dem die Philosophie die verfassungsrechtliche Debatte ebenso rezipiert und kritisch verarbeitet, wie umgekehrt die Rechtswissenschaften das philosophische Nachdenken über die Menschenwürde. Jeder ernsthafte philosophische Diskurs über die Menschenwürde wird aus diesem Grund auch das Verhältnis von Ethik und Recht am Menschenwürdebegriff kritisch (mit-)reflektieren und bestimmen müssen. Betrachtet man näher, welches die Anlässe waren, die die Philosophie dazu gebracht haben, sich wieder mit dem Menschenwürdebegriff zu befassen, so wird man wenigstens auf zwei wichtige Faktoren stoßen. Den ersten Faktor bilden zweifelsohne die medizin- und bioethischen Debatten der letzten Jahrzehnte, in denen Fragen wie die nach dem rechtlichen und moralischen Status ungeborener menschlicher Lebewesen, der moralischen und rechtlichen Relevanz der Speziesgrenze etc. zunächst innerhalb des Rechts immer wieder im Rückgriff auf die Menschenwürde diskutiert wurden – und werden mussten, da die zu findenden rechtlichen Regelungen ja verfassungsgemäß zu sein hatten. Soweit sie sich mit jenen bioethischen Fragen befasste, wurde die Philosophie so zumindest in Deutschland, vermittelt über das Verfassungsrecht, wieder mit dem ursprünglich einmal der Philosophie entstammenden Menschenwürdebegriff konfrontiert. Während im Mittelpunkt der betreffenden Bioethik-Debatten noch vielfach die Frage stand und steht, welchen Wesen eigentlich „Menschenwürde zukomme“, ist – wie bereits im einleitenden Kapitel bemerkt – gerade innerhalb der Rechtswissenschaften in den letzten Jahren ein immer stärkeres Bewusstsein dafür entstanden, wie wenig Klarheit und Einigkeit eigentlich darüber besteht, was in normativer Hinsicht überhaupt folgt, wenn einem Wesen Menschenwürde zukommt. Diese Schwierigkeit hat die Rechtswissenschaften veranlasst, auf die philosophischen Ursprünge des Menschen-
I. Der Menschenwürdediskurs zwischen Philosophie und Recht
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würdebegriffs zurückzugehen, um von dort her Klarheit über einen der Grundbegriffe des neueren Rechts zu gewinnen.1 Das hat wiederum die Philosophie ihrerseits dazu gebracht, sich verstärkt mit dem rechtlichen Menschenwürdebegriff zu beschäftigen. Einen zweiten, eher für den angelsächsischen denn den deutschen Sprachraum bedeutenden Faktor bildet die Wiederentdeckung von „Würde“, Selbstachtung und Selbstwertschätzung als genuin sozialethischen Kategorien in Avishai Margalits Buch „The Decent Society“2 Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese Konzeption wurde von den deutschsprachigen Rezipienten Margalits3 dann allerdings meist unmittelbar und ohne weitere Reflexion auf die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes bezogen. Im Hinblick auf die Frage nach der Menschenwürde als rechtlichem Begriff ist Margalits Ansatz bei der Selbstachtung bzw. einer universalisierten „sozialen Würde“ jedoch mit großer Vorsicht zu betrachten. Zwar ist unbestreitbar, dass Margalit ein Thema wiederentdeckt hat, das Sozialphilosophie und Ethik lange vernachlässigt hatten; es muss aber zugleich stark bezweifelt werden, dass eine Konzeption, die „Würde“ in einem psychologischen Sinn als moralischen Anspruch auf Wahrung und Beförderung der empirischen Selbstachtung und Selbstwertschätzung auslegt, überhaupt sinnvoll auf das genuin rechtliche Verständnis der Menschenwürde als eines Begriffs bezogen werden kann, der den Status eines Trägers von Menschenrechten und Rechtspflichten anzeigt und begründet. Vielmehr scheint es eher so zu sein, als liege hier eine Homonymie vor, bei der zwei unterschiedliche, nur vage über den Achtungsbegriff miteinander verknüpfte Konzeptionen zufällig mit demselben Begriff bezeichnet werden.4 Margalit und seine deutschsprachigen Rezipienten greifen jedenfalls mit ihrem Begriff sozialer Würde noch hinter die gesamte philosophische Begriffsgeschichte seit Cicero auf ein alltagssprachliches Verständnis von Würde und Ehre zurück, von dem der Menschenwürdebegriff sich als ein in der Alltagssprache gar nicht vorkommender, philosophischer terminus technicus über die Jahrhunderte hin gerade abgelöst hatte. Margalits Überlegungen können daher für eine Auslegung des rechtlichen Menschenwürdebegriffs überhaupt nur dann fruchtbar gemacht Ein Beispiel hierfür ist etwa die große Monographie „Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung“ des Verfassungsrechtlers Christoph Enders aus dem Jahr 1997, die ihre Argumente wesentlich aus der philosophischen Tradition bezieht (vgl. Enders, Christoph: Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung. Freiburg 1997). 2 Das Werk erschien auf Deutsch unter dem bezeichnenden Titel „Politik der Würde“ (Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt a.M. 1996 [dt.]). 3 Zu nennen wären hier insbesondere Ralf Stoecker (vgl. S. 19, Fn. 26), Peter Schaber (vgl. S. 19, Fn. 27) und Christian Neuhäuser (vgl. S. 19, Fn. 28) und Arnd Pollmann (vgl. S. 19, Fn. 29). 4 Zur näheren Auseinandersetzung mit dieser Problematik vgl. S. 241–250 (1. Exkurs) der vorliegenden Untersuchung. 1
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werden, wenn dies auf der Grundlage einer sorgfältigen inhaltlichen, methodischen und begriffsgeschichtlichen Reflexion erfolgt, die die Differenzen zwischen seinem Konzept sozialer Würde auf der einen Seite und dem Menschenwürdekonzept des Rechts und der philosophischen Tradition auf der anderen Seite festzuhalten erlaubt. Alles andere würde begriffliche Klärungen und Fortschreibungen, die für das Verständnis der Menschenwürde als Rechtsbegriff wesentlich sind, mit teilweise äußerst problematischen Konsequenzen wieder aus dem Blickfeld bringen.
II. Prinzip der Menschenrechte oder spezifisches Grundrecht? Das zentrale Charakteristikum des modernen Menschenwürdebegriffs ist zweifellos die enge Verknüpfung zwischen Menschenwürde und Menschenrechten, die sich nicht zuletzt in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im deutschen Grundgesetz5 und in der Grundrechte-Charta der Europäischen Union niedergeschlagen hat, aber auch schon in den Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie noch näher zu zeigen sein wird, präsent war. Die Frage, wie diese Verknüpfung näher zu explizieren ist, stellt die wohl grundlegendste Frage einer philosophischen Befassung mit dem Menschenwürdebegriff heute dar. Denn von ihrer Beantwortung hängt zum einen die Antwort auf die Frage nach dem Status des Menschenwürdebegriffs und zum anderen die Antwort auf die Frage nach dem normativen Gehalt des Menschenwürdebegriffs ab.
5 Es ist dabei natürlich zu beachten, dass nicht alle Menschenrechte zugleich Grundrechte im Sinn des deutschen Grundgesetzes sind. Der Grundrechtekatalog des GG enthält zahlreiche Rechte, die nicht zwangsläufig nur Menschen, d. h. natürlichen Personen, zukommen können, sondern auch juristischen Personen, wie z. B. das Eigentumsrecht. Außerdem enthält er neben den Rechten, die man normalerweise als Menschenrechte identifizieren würde, auch klassische Bürgerrechte, wie z. B. das Wahlrecht, die üblicherweise und mit guten Gründen auf die Staatsbürger eines Gemeinwesens beschränkt sind. Konrad Hesse unterscheidet beide plausibel wie folgt: „Menschenrechte sind diejenigen Grundrechte, die nicht nur einem bestimmten Personenkreis zukommen. ‚Bürgerrechte‘ sind die Grundrechte, die allen Deutschen gewährleistet werden.“ (Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, ND der 20. Aufl. 1999, S. 121, Rn. 284) Zudem enthält der Grundrechtekatalog des GG einige Rechte, die unter den Begriff „Menschenrecht“ zu subsumieren zumindest merkwürdig erschiene, wie z. B. das Recht auf Gründung von Privatschulen in Art. 7 GG. Zugleich mag es Menschenrechte geben, die im Grundrechtekatalog des GG nicht erfasst sind. Des Weiteren stellt sich natürlich die große Frage nach der Positivierung von Menschenrechten in Form von Grundrechten. Alle diese Fragen sollen uns an dieser Stelle zunächst nicht beschäftigen. Wann immer im Rahmen der vorliegenden Studie im Zusammenhang des GG von „Grund- bzw. Menschenrechten“ die Rede ist, sind daher diejenigen Grundrechte des GG gemeint, die plausiblerweise als Positivierungen von grundlegenden Menschenrechten verstanden werden können.
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Betrachtet man die verfassungsrechtliche Literatur zur Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes, so fällt auf, dass der Frage nach dem rechtlichen Status der Menschenwürdegarantie und insbesondere nach dem Verhältnis zwischen Menschenwürde und Grund- bzw. Menschenrechten auch für die Verfassungsrechtsdogmatik und -praxis in Deutschland eine entscheidende, wenngleich nicht immer gesehene Bedeutung zukommt. In der juristischen und mittlerweile teilweise auch der philosophischen Literatur wird diese Frage meist als die Frage expliziert, ob der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG der Charakter eines Grundrechts oder der Charakter eines Rechtsprinzips zukomme. 6 Obgleich diese Unterscheidung für sich genommen klar erscheint, wird sie vor allem in der einschlägigen juristischen Literatur oft nicht in hinreichender Klarheit angewandt. Der Hintergrund derartiger Unklarheiten ist der Umstand, dass der Prinzipiencharakter der Menschenwürde für die Grund- bzw. Menschenrechte in der Regel auch von denjenigen Rechtswissenschaftlern nicht bestritten wird, die im Übrigen der Auffassung sind, es handele es sich bei der Menschenwürdegarantie um ein eigenständiges Grundrecht mit speziellen, von den Verletzungstatbeständen der nachfolgenden Grundrechte unterschiedenen Verletzungstatbeständen. Über den Prinzipiencharakter der Menschenwürde besteht insofern innerhalb der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik ein weitreichender Konsens. Der eigentliche Dissens betrifft also weniger die Frage, ob der Menschenwürdegarantie der Charakter eines Prinzips oder der eines speziellen Grundrechts neben den anderen zukommt, als vielmehr diejenige, ob und gegebenenfalls in welcher Weise der Letztere ihr zusätzlich zum Prinzipiencharakter noch zukommt und was dies bedeutet.
1. Die prinzipialistische Lesart der Menschenwürdegarantie Es bietet sich daher an, zunächst unabhängig von der häufig unklaren verfassungsrechtlichen Literatur eine grundlegende begriffliche Klärung vorzunehmen, mit deren Hilfe die unterschiedlichen denkmöglichen Positionen zum Verhältnis von Menschenwürde und Menschen- bzw. Grundrechten bestimmt werden können. Unter einer prinzipialistischen Position sollen dementsprechend im Folgenden alle diejenigen Positionen verstanden werden, nach denen die Menschenwürde a.) den Geltungsgrund, das Prinzip und/oder den Inbegriff der Menschenrechte bildet und 6 Vgl. etwa Dreier, Horst: Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz. In: Seelmann, Kurt: Menschenwürde als Rechtsbegriff (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft Nr. 101). Stuttgart 2004, S. 33–48; hier: S. 33 f. und Höfling, Wolfram: Kommentar zu Art. 1 GG. In: Sachs, Michael (Hg.): Grundgesetz. Kommentar. München, 5. Aufl. 2008, Rn. 1–66, S. 75–102.
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b.) auf der rechtspraktischen Ebene dadurch geschützt wird, dass die einzelnen Grund- bzw. Menschenrechte in ihrer Gesamtheit geschützt werden. Der Grundgedanke einer solchen prinzipialistischen Position wird von Christoph Enders, dem derzeit unter den deutschen Verfassungsrechtlern vermutlich wichtigsten Vertreter dieser Auffassung, folgendermaßen formuliert: „Der Schutz der Menschenwürde wird subjektiv-rechtlich durch die Grundrechte gewährleistet.“7 Und Christian Starck, der die prinzipialistische These dezidiert ablehnt, sieht sie dadurch charakterisiert, „dass der gesamte subjektiv-rechtliche Gehalt der Menschenwürde in den einzelnen Grundrechten eingefangen sei und zudem durch die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19, Abs. 2 geschützt werde“. 8 Insgesamt lässt sich übrigens feststellen, dass die prinzipialistische Konzeption von philosophischen Autoren wesentlich häufiger vertreten wird als von Rechtswissenschaftlern9. Die prinzipialistische Konzeption der Menschenwürde kann auch eine reduktionistische Konzeption genannt werden, sofern hier die Rechtsfolgen und damit der rechtspraktische Gehalt der Menschenwürdegarantie strikt äquivalent mit der Gesamtheit derjenigen Rechtsfolgen ist, die sich aus den Grundbzw. Menschenrechten ergeben. Die Menschenwürdegarantie geht hier also in praktischer Hinsicht nicht über die Garantien hinaus, die durch die Menschenrechte gegeben sind. Es existiert nach dieser Lesart mithin kein spezielles „Menschenwürderecht“ mit einem vom Schutzbereich der Gesamtheit der Menschenrechte unterschiedenen, eigenständigen Schutzbereich, wie es die im Folgenden noch zu behandelnde spezifisch-rechtliche Gegenthese behauptet. Daher wäre nach der prinzipialistischen These jegliche Menschenrechtsverletzung zugleich eine Verletzung der Menschwürde und umgekehrt gäbe es keinen spezifischen Tatbestand einer „Würdeverletzung“, der von den Tatbeständen der einzelnen Menschenrechtsverletzungen unterscheidbar wäre. Es wäre also jegliche Verletzung, z. B. des Lebensrechts oder des Eigentumsrechts, eine Menschenwürdeverletzung, und nicht erst solche Verletzungen von Lebens- oder Eigentums Enders a.a.O. S. 503 f. Starck, Christian: Kommentar zu Art. 1, Abs. 1 GG, Rn. 28, S. 42. In: von Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian: Das Bonner Grundgesetz. Kommentar. München, 6. Aufl. 2010, Rn. 1–123, S. 25–81. 9 So findet sie sich etwa bei Düwell (Düwell, Marcus: Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte. In: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg. 4 (2010), Nr. 1, S. 6 4–79, und Düwell, Marcus: Human Dignity and Human Rights. In: Kaufmann, Paulus/Kuch, Hannes/Neuhäuser, Christian/Webster, Elaine (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated. Dordrecht 2010, S. 215–230), Stepanians (Stepanians a.a.O.), Kettner (Kettner, Matthias: Über die Grenzen der Menschenwürde. In: Kettner, Matthias (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt a.M. 2004, S. 292–324), Gewirth (Gewirth, Alan: Human Dignity as the Basis of Rights. In: Meyer, Michael J./ Parent, William A. (Hg.): The Constitution of Rights. Human Dignity and American Values. Ithaca (N.Y.) 1992, S. 10–28) und nicht zuletzt, wie noch näher zu zeigen sein wird, bei Kant selbst. 7 8
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recht, die eine bestimmte Qualität oder einen bestimmten Charakter aufweisen, oder gar überhaupt Handlungen, die ein vermeintlich neben und über den anderen Menschenrechten bestehendes „Würderecht“ verletzen würden. Die skizzierte Position eine „reduktionistische“ zu nennen, darf gleichwohl nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Menschenwürde in jeder Hinsicht mit der Summe der Menschenrechte äquivalent wäre. Eine Äquivalenz zwischen Menschenwürde und Menschenrechten besteht nach der reduktionistisch-prinzipialistischen Position lediglich hinsichtlich der praktisch-rechtlichen Folgen beider. In anderen, allerdings eher philosophisch bedeutsamen Hinsichten besteht auch und gerade nach der reduktionistisch-prinzipialistischen These gerade keine solche Äquivalenz. Das zeigt sich deutlich bereits, wenn man die wichtigsten Varianten der reduktionistisch-prinzipialistischen These kursorisch durchgeht. So könnte der Menschenwürdebegriff nach der reduktionistisch-prinzipialistischen These einmal als bloßer „statusanzeigender Begriff“ verstanden werden, d. h. als Begriff, der den Status eines Trägers von Menschenrechten anzeigte.10 Selbst in diesem Extremfall einer reduktionistischen Position bestünde gleichwohl noch ein signifikanter Unterschied zwischen dem Menschenwürde- und dem Menschenrechtsbegriff insofern als der Begriff der Menschenwürde auf den Status eines Trägers von Menschenrechten im Allgemeinen und nicht auf die Gehalte der jeweiligen Menschenrechte im Einzelnen abheben würde. Noch augenfälliger werden die nichtreduktionistischen Dimensionen der prinzipialistischen Lesart, wenn das Verhältnis zwischen Menschenwürde und Menschenrechten als Begründungsverhältnis verstanden wird. Diese Variante lässt sich in Bezug auf einen Menschenwürdeträger M in dem Satz ausdrücken: „M kommen Menschenrechte deshalb zu, weil ihm Menschenwürde zukommt“. Menschenwürde wäre nach dieser Position der Geltungsgrund der Zuerkennung von Menschenrechten, gerade als solcher aber von den Menschenrechten kategorial unterschieden. Diese Konzeption, die vermutlich die verbreiteteste Variante der prinzipialistisch-reduktionistischen These bildet, eröffnet zudem eine weitere rechtsphilosophische Dimension der Menschenwürdeproblematik, insofern als mit ihr die Frage im Raum steht, aufgrund wovon einem bestimmten Lebewesen Menschenrechte zuerkannt werden, d. h. was eigentlich jener Grund der Zuerkennung der Menschenrechte ist, der mit dem Begriff der „Menschenwürde“ bezeichnet wird. Diese Frage wiederum ist untrennbar mit der Frage verknüpft, welche Lebewesen in den Kreis der Menschenwürde- und damit der Menschenrechtssubjekte gehören.
10 So etwa bei Wetz, Franz Josef: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts. Stuttgart 2005, und neuerdings bei Wittwer, Héctor: Ein Vorschlag zur Deutung von Artikel 1 des Grundgesetzes aus rechtsphilosophischer Sicht. In: Joerden, Jan C./Hilgendorf, Eric/Petrillo, Natalia/Thiele, Felix (Hg.): Menschenwürde und moderne Medizintechnik. Baden-Baden 2011, S. 161–196.
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Eine weitere Variante der prinzipialistisch-reduktionistischen These wird schließlich prominent von Christoph Enders11 und Georg Lohmann12 vertreten, die in Anlehnung an Hannah Arendt13 in der Menschenwürdegarantie ein „Recht auf Rechte“ sehen, d. h. ein Recht jedes Menschen, grundsätzlich als Träger von Menschenrechten anerkannt zu werden. Arendt entwickelt ihre Konzeption dabei explizit als eine Auslegung des Menschenwürdebegriffs der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, in der sie eine Antwort auf das Problem sieht, dass Menschenrechte üblicherweise nur in Form staatlich garantierter Rechte existierten und Staatenlosen daher die Anerkennung als Menschenrechtssubjekte eigentlich versagt bliebe. Durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) werde nun aber allen Menschen das Recht zugesprochen, Träger von Menschenrechten zu sein, wofür auf die Menschenwürde zurückgegriffen werde. Diese sei daher als ein „Recht auf Rechte“14 zu verstehen. Die Schwierigkeit dieser Auslegung Arendts besteht allerdings darin, dass bereits ihre rechtsgeschichtlichen Prämissen offenkundig falsch sind. Denn auch vor der AEMR war es nicht der Fall, dass Angehörigen anderer Staaten oder Staatenlosen, die im Geltungsbereich eines Rechtssystems lebten, prinzipiell den Status von Rechtlosen gehabt hätten. Die grundlegendsten Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Leben oder das Recht auf Eigentum, waren – erst recht seit der Abschaffung der Sklaverei – in praktisch jedem Rechtsstaat, der den Namen verdient, in Form des jeweiligen Straf- und Zivilrechts immer allen Menschen im Geltungsbereich des betreffenden Rechtsstaats zuerkannt, und nicht bloß den eigenen Staatsangehörigen. Das Problem, dessen politische (nicht philosophische) Lösung Arendt in der AEMR sieht, existierte also im Jahre 1948 im Grunde schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Unbeschadet dessen kann die Konzeption der Menschenwürde als eines „Rechts auf Rechte“ insofern unter die reduktionistisch-prinzipialistische Lesart der Menschenwürdegarantie subsumiert werden, als auch hier die Rechtsfolgen der Zuerkennung der Menschenwürde mit den Rechtsfolgen der Summe der Menschenrechte strikt äquivalent sind. Zugleich postuliert die These aber auch ein auf die Menschenrechte wiederum bezogenes Meta-Recht, das in diesen Rechten selbst nicht aufgeht und in Extremfällen tatsächlich auch verletzbar wäre: genau dann nämlich, wenn einem Menschen die Anerkennung als Rechtssub-
Enders a.a.O. S. 501–509. Vgl. Lohmann, Georg: Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Zum menschenrechtlichen Würdeverständnis nach 1945. In: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg.4 (2010), Nr. 1, S. 46–63, sowie Lohmann, Georg: „Menschenwürde“ – formale und inhaltliche Bestimmungen. In: Joerden, Jan C./Hilgendorf, Eric/Petrillo, Natalia/Thiele, Felix (Hg.): Menschenwürde und moderne Medizintechnik. Baden-Baden 2011, S. 151–160 13 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Bd. 2 Imperialismus. Berlin, 2. Aufl. 1966, S. 260–264. 14 Arendt a.a.O. S. 260. 11
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jekt grundsätzlich und in jeder Hinsicht verweigert würde, er also jeglichen Rechtsstatus verlieren würde. Zumindest die beiden zuletzt diskutierten Varianten der reduktionistisch-prinzipialistischen Lesart zeigen mithin, dass die Menschenwürdegarantie auch dann, wenn die Zuerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten auf der rechtspraktischen Ebene, d. h. hinsichtlich der Rechtsfolgen, äquivalent ist, doch in anderen Hinsichten keineswegs redundant sein muss. Vielmehr kann sie sogar, wie Markus Stepanians richtig bemerkt, Dimensionen der Menschenrechte explizit machen, die in diesen so lange implizit und unausgesprochen bleiben müssen, wie die Menschenwürde nicht thematisiert wird.15 Eine prinzipialistische Lesart der Menschenwürde zu vertreten, bedeutet mithin keineswegs, den Begriff für überflüssig zu halten bzw. dasjenige, worum es bei diesem Begriff geht, für gänzlich durch den Begriff des Menschenrechts abgedeckt zu halten. Vielmehr kann der Begriff der Menschenwürde auch und gerade dann eine systematische Relevanz entfalten, die im Begriff des Menschenrechts nicht aufgeht, wenn er für die rechtspraktische Ebene mit der Gesamtheit der Rechtsansprüche äquivalent ist, die durch die Menschenrechte gewährleistet werden.
2. Die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie Der prinzipialistisch-reduktionistischen Position in ihren verschiedenen Varianten steht diejenige Position gegenüber, die von einem speziellen Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie ausgeht und die daher die „spezifischgrundrechtliche“ Position genannt werden soll. Eine solche spezifisch-grundrechtliche Konzeption der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes entspricht sowohl der „herrschenden Meinung“ der Kommentarliteratur zum Grundgesetz, als auch der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, wie sie in der Mehrzahl der Urteile, in denen dieses Art. 1 GG zur Anwendung bringt, zum Ausdruck kommt.16 Die oben gegebenen Bestimmungen der prinzipialistischen Positionen erlauben es, diese Auslegung der Menschenwürde als Negation der prinzipialistischen zu bestimmen. Unter spezifisch-grundrechtlichen Positionen sind also alle diejenigen Position zu verstehen, in denen davon ausgegangen wird, dass die Menschenwürdegarantie
Vgl. Stepanians a.a.O. S. 98 ff. Zahlreiche Nachweise dafür, dass das Bundesverfassungsgericht und die nachgeordnete Gerichtsbarkeit die Menschenwürdegarantie als spezifisches Grundrecht mit eigenem Schutzbereich neben und über den sonstigen Grundrechten begreift, finden sich bei Geddert-Steinacher, Tatjana: Menschenwürde als Verfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz. Berlin 1990, S. 167 ff., bei Starck a.a.O Rn. 28 (Fußnoten 115 und 117), S. 43, und bei Höfling a.a.O. Rn. 5 (Fußnoten 15 und 16), S. 79. 15 16
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a) einen subjektiv-rechtlichen Anspruch begründet, der einen eigenen Schutzbereich aufweist, welcher von dem Schutzbereich unterscheidbar ist, der durch die Gesamtheit der Grund- bzw. Menschenrechte gewährleistet wird, und b) nicht ein auf die sonstigen Grundrechte bezogenes Meta-Recht bildet, sondern mit diesen auf derselben logisch-normativen Ebene steht. Der erste der beiden Punkte lässt sich auch anders und mithilfe des juristischen Begriffs des „Tatbestands“ ausdrücken; danach wären spezifisch-grundrechtliche Theorien der Menschenwürde alle diejenigen, die davon ausgehen, dass es spezielle Tatbestände für die Verletzung der Menschenwürdegarantie gibt, die nicht in den Tatbeständen der Verletzung der jeweiligen Grundrechte aufgehen. Der zweite Punkt muss hinzugefügt werden, damit nicht Positionen, denen die Menschwürde als ein formales Meta-Recht auf die Anerkennung als Träger von Menschenrechten gilt, unter die spezifisch-grundrechtliche Position subsumiert werden.17 Die Differenz zwischen beiden Positionen in dieser Weise zu bestimmen, hat dann den großen Vorteil, dass dies es ermöglicht, die von einem rechtsphilosophisch-systematischen Standpunkt her grundsätzlich möglichen Auslegungen der Menschenwürdegarantie herauszuarbeiten und der Reflexion zu unterziehen. Insbesondere erlaubt die vorgeschlagene Kategorisierung es, Unklarheiten zu vermeiden, die oft daraus resultieren, dass die spezifisch-rechtliche Position wiederum in verschiedenen Varianten denkbar ist. So wird etwa die klassische Auslegung der Menschenwürdegarantie in Form der von Günter Dürig vorgeschlagenen Objektformel häufig als prinzipialistische Position verstanden, weil Dürig nicht ein völlig eigenständiges, mit den übrigen Grundrechten unverbundenes „Recht auf Menschenwürde“ postuliert, sondern eine Menschenwürdeverletzung genau dann als gegeben sieht, wenn eine Grundrechtsverletzung eine bestimmte Qualität – nämlich die der Instrumentalisierung oder Vergegenständlichung18 des Betroffenen – aufweist. Nach der hier vorgeschlagenen Einteilung würde es sich bei der Objektformel und vergleichbaren Ansätzen gleichwohl um eine spezifisch-rechtliche Lesart handeln, weil und insofern die Menschenwürdegarantie hier erst dann als „verletzt“ gilt, wenn zur Verletzung eines Grundrechts noch ein Tatbestandsmerkmal hinzutritt, das im Tatbestand der Verletzung des Grundrechts selbst nicht enthalten ist. Diesem zusätzlichen Tatbestandsmerkmal nämlich entspräche dann ein spezielles, im Gegensatz zu den weiteren Grundrechten aber „unabwägbares“ subjektives Recht: das Recht, von Handlungen verschont zu bleiben, die jenes Merkmal aufweisen. Auch und gerade die Objektformel impliziert mithin einen zu den Grundrechten hinzutre17 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Starck und Höfling in Kapitel 2, V der vorliegenden Untersuchung. 18 Vgl. Dürig a.a.O. Rn. 28, S. 15.
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tenden und inhaltlich nicht in ihnen aufgehenden, spezifischen subjektiven Rechtsanspruch und dementsprechende spezifische Verletzungstatbestände, die dieser Anspruch zu unterlassen fordert. Umgekehrt wird die skizzierte prinzipialistische Position gelegentlich einfach schon deshalb mit einer spezifisch-rechtlichen Position gleichgesetzt, weil sich gemäß der prinzipialistischen Position aus der Menschenwürdegarantie ein Rechtsanspruch des einzelnen Rechtssubjekts ergibt, in seinen Grund- und Menschenrechten nicht verletzt zu werden. Auch dieser sozusagen aus der anderen Richtung herkommenden Konfusion kann mit der vorgeschlagenen Unterscheidung begegnet werden. Denn zwar resultiert aus der Menschenwürdegarantie ein subjektiver Rechtsanspruch auf Wahrung der Grund- bzw. Menschenrechte, dieser Anspruch geht aber inhaltlich nicht über die Ansprüche hinaus, die durch die einzelnen Grund- und Menschenrechte selbst schon garantiert werden. Nimmt man etwa das Beispiel einer Verletzung des Rechts auf Leben und körperlich-seelische Unversehrtheit, so wäre eine prinzipialistische Konzeption dadurch gekennzeichnet, dass gegen die Menschenwürdegarantie immer dann verstoßen wird, wenn das Recht auf Leben und körperlich-seelische Unversehrtheit verletzt wird. Nach einer spezifisch-rechtlichen Konzeption würde eine Verletzung des Lebensrechts demgegenüber entweder gar keine Verletzung der Menschenwürde darstellen oder – wie bei Dürig – erst dann, wenn die Verletzung des Lebensrechts in bestimmter Weise durch ein weiteres Tatbestandsmerkmal qualifiziert wäre, das zur Verletzung des Lebensrechts selbst noch hinzutreten müsste. Exemplifizieren lässt sich dieser Unterschied sehr gut anhand der Folterproblematik. Sowohl nach der prinzipialistischen wie nach der spezifisch-rechtlichen Lesart stellt die Folter einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie dar. Für die prinzipialistische Lesart ist das aber einfach deshalb der Fall, weil die Folter den Tatbestand einer Verletzung des Menschenrechts auf körperliche-seelische Unversehrtheit erfüllt. Für die spezifisch-rechtliche Lesart gilt genau das dagegen nicht: Hier gilt die Folter gerade nicht deshalb als Verletzung der Menschenwürde, weil sie den Tatbestand einer Verletzung des Menschenrechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit erfüllt, sondern weil sie den Tatbestand der Folter erfüllt, der als solcher von den Juristen in der Regel unter die von den Tatbeständen der „sonstigen“ Grund- bzw. Menschenrechtsverletzungen distinkten Tatbestände der Verletzung eines spezifischen „Menschenwürderechts“ gezählt wird. Prinzipialistische und spezifisch-rechtliche Lesart unterscheiden sich also gerade nicht darin, dass sie zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, was die Einschätzung der Folter als Menschenwürdeverletzung beträfe. Sie unterscheiden sich aber sowohl hinsichtlich der Begründung dieser Subsumtion, wie auch hinsichtlich der rechtlichen Einschätzung derjenigen Verletzungen des Rechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit, die nicht die Charakteristika der Folter erfüllen. Diese müssen nämlich von der prinzipi-
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alistischen Lesart ebenfalls als Verstöße gegen die Menschenwürdegarantie bewertet werden, während nach der spezifisch-rechtlichen Lesart andere Verletzungen des Rechts auf körperliche und seelische Unversehrtheit in der Regel nicht als Menschenwürdeverletzungen eingeordnet und behandelt werden. Genau diese Differenz bildet aber einen rechtsphilosophisch wie rechtspraktisch entscheidenden, systematischen Unterschied: den Unterschied zwischen zwei grundsätzlich denkmöglichen rechtsphilosophischen Auslegungen des Verhältnisses von Menschenwürde und Menschen- bzw. Grundrechten. Zu welchen Widersprüchen und Verwirrungen es führt, wenn man diesen Unterschied unbeachtet lässt, zeigt sich an den Ausführungen Horst Dreiers in seinem ansonsten sehr gelungenen Aufsatz über die „Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz.“ Dreier vertritt dort einerseits in dezidierter und klarer Weise die prinzipialistische Auffassung, wenn er schreibt: „Der Menschenwürdesatz steht nicht im rechtstechnischen Verhältnis der Subsidiarität, sondern im rechtsgrundsätzlichen der Fundamentalität zu den einzelnen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Er ist dirigierendes Prinzip, Auslegungsmaxime, verständnisleitender Grundsatz für die Grundrechte, nicht subjektives Recht vor oder neben ihnen.“19
An anderer Stelle des Aufsatzes führt er dann aber aus: „Danach schützt die Menschenwürde einmal gegen massive Verletzungen der Gleichheit: das richtet sich gegen Sklaverei, Leibeigenschaft, systematische Diskriminierungen, also gegen die Herabstufung zu Menschen zweiter Klasse. Insofern erweist sich Art. 1 Abs. 1 GG als ein egalitäres Prinzip. Sie soll zweitens bewahren vor massiven Verletzungen der körperlichen und seelischen Integrität: also vor Folter, Gehirnwäsche, schweren Demütigungen.“20
Stellt man beide Aussagen nebeneinander, so stellt sich unmittelbar die Frage, wie es logisch miteinander zu vereinbaren sein soll, den Menschenwürdegrundsatz einmal als den „Grundsatz für die Grundrechte“ überhaupt und nicht ein „subjektives Recht vor oder neben ihnen“ zu betrachten, ihn zugleich aber als etwas zu bestimmen, das nicht durch jede Grundrechtsverletzung verletzt wird, sondern nur durch bestimmte Tatbestände wie z. B. Sklaverei, Folter und schwere Demütigung. Sobald nämlich für die Menschenwürde beansprucht wird, dass sie nicht durch jede Menschenrechtsverletzung verletzt wird, sondern nur durch ganz bestimmte Tatbestände, wird der Menschenwürdegrundsatz zumindest unter der Hand als ein spezifisches subjektives Recht bestimmt, das sich gegen die Verwirklichung auch nur dieser Tatbestände richtet, offenbar aber nicht gegen die Realisierung anderer Tatbestände von Menschenrechtsverletzungen. Indem die genannten Tatbestände nur eine kleine Teilmenge der Tatbestände aller Menschenrechtsverletzungen bilden, beide Mengen von Verlet Dreier a.a.O. S.36. Dreier a.a.O. S. 34.
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zungstatbeständen mithin nicht extensional identisch sind, wird der Menschenwürdegrundsatz genau als ein „subjektives Recht“ gesetzt, das nur vor bestimmten Tatbeständen von Menschenrechtsverletzungen schützt. Er wird also zu einem spezifischen Grundrecht mit distinkten Verletzungstatbeständen „vor oder neben“ den „weiteren Grundrechten“, die dann eben nur noch diejenigen Menschenrechtsverletzungen abdecken, welche durch die Menschenwürdegarantie nicht abgedeckt sind. Damit bestreitet Dreier aber implizit die prinzipialistische These, die er im selben Text explizit vertritt. Will man die Frage nach dem Status der Menschenwürdegarantie angemessen und widerspruchsfrei behandeln, führt dementsprechend kein Weg daran vorbei, prinzipialistische und spezifisch-rechtliche Lesart – anders als dies in den Rechtswissenschaften meist geschieht – präzise zu differenzieren.
3. Die objektiv-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie Eine weitere Schwierigkeit im Verständnis des Status der Menschenwürdegarantie ergibt sich dadurch, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes innerhalb der deutschen Verfassungsrechtswissenschaften häufig auch „objektiv-rechtlich“ begriffen wird. Mit dieser Charakterisierung ist gemeint, dass Art. 1 GG das Kernelement einer „objektiven Wertordnung“ des Grundgesetzes zum Ausdruck bringe, das als solches selbst unter rechtlichen Schutz gestellt sei. Dies beschreibt Tatjana Geddert-Steinacher in expliziter Hinsichtnahme auf die von ihr als ein Grundrecht verstandene Menschenwürdegarantie mit den Worten: „Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte des einzelnen, sondern zugleich Elemente objektiver Ordnung.“21 Im Sinn der „objektiv-rechtlichen“ Lesart hat der BGH beispielsweise bereits 1954 den Einsatz von Lügendetektoren – auch und gerade auf ausdrücklichen Wunsch eines Angeklagten, für den der Lügendetektortest die einzige Möglichkeit einer Entlastung darstellen würde – für mit Art. 1 GG unvereinbar und daher ausnahmslos für unzulässig erklärt.22 Eine gewisse Bekanntheit auch über die Fachliteratur hinaus hat in diesem Zusammengang – aus naheliegenden Gründen – das sogenannte „peep-show“-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1981 erhalten, in dem in Berufung auf die Menschenwürde die Sittenwidrigkeit von sogenannten „peep-shows“ festgestellt wurde. Das Gericht hob dabei in erster Linie auf die „objektiv-rechtliche“ Lesart der Menschenwürde ab und führte dazu aus:
Geddert-Steinacher a.a.O. S. 87. Vgl. dazu die Darstellung bei Seiterle, Stefan: Hirnbild und „Lügendetektion“. Zur Zulässigkeit der Glaubwürdigkeitsbegutachtung im Strafverfahren mittels hirnbildgebender Verfahren. Berlin 2010. 21
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
„Diese Verletzung der Menschenwürde wird nicht dadurch ausgeräumt oder gerechtfertigt, daß die in einer Peep-Show auftretende Frau freiwillig handelt. Die Würde des Menschen ist ein objektiver, unverfügbarer Wert (BVerfGE 45, 187 [229]), auf dessen Beachtung der einzelne nicht wirksam verzichten kann (vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 1 Rdnr. 22 und 74; von Münch, GG, 2. Aufl., Art. 1 Rdnr. 39; BGHZ 67, 119 [125]).“23
Häufig wird eine „objektiv-rechtliche“ Konzeption nun von den Verfechtern einer spezifisch-grundrechtlichen Konzeption umstandslos und ohne weitere Begründung mit der prinzipialistisch-reduktionistischen Konzeption gleichgesetzt.24 Eine derartige Gleichsetzung ist aber weder zwingend noch naheliegend. Tatsächlich kann die objektiv-rechtliche Konzeption der Menschenwürde selbst wiederum entweder prinzipialistisch oder spezifisch-rechtlich expliziert werden. In einer prinzipialistischen Lesart wäre mit der Charakterisierung der Menschenwürde als Kernelement der „objektiven Wertordnung“ der Verfassung nichts anderes und nicht mehr gemeint, als dass die Verfassung sich zum Prinzip unveräußerlicher Menschenrechte bekennen und dieses Prinzip zur Grundlage der gesamten Rechtsordnung machen würde. Eine rechtliche Anwendung der Menschenwürdegarantie im Sinne eines gegen den Würdeträger gerichteten rechtlichen „Wertordnungs-Schutzes“ könnte damit nicht begründet werden. Erstaunlicherweise wird aber in der juristischen Literatur die Möglichkeit eines solchen rein prinzipialistischen Verständnisses der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 1 GG in der Regel nicht einmal in Erwägung gezogen. Wenn von Menschenwürde als objektiv-rechtlichem Grundsatz die Rede ist, so ist damit vielmehr üblicherweise gemeint, dass der Menschenwürdegarantie zumindest auch ein „objektiver“, auf die Rechtsordnung und nicht die Rechtssubjekte bezogener „Wert“ entspreche, der unabhängig von den Rechtssubjekten existiere und unter Umständen auch gegen sie gewahrt werden könne und müsse. Das erklärt dann auch die bei vielen Autoren zu verzeichnende Verwechslung der objektiv-rechtlichen mit der prinzipialistischen Lesart. In der Tat ist ihnen gemeinsam, dass der Menschenwürdegarantie bei beiden Lesarten kein spezifisches subjektives Recht entspricht. Diese Gemeinsamkeit vermag aber keine Gleichsetzung zu legitimieren, da beide sich gerade in der wesentlichen Hinsicht unterscheiden, dass bei der prinzipialistischen Lesart auch keine spezifischen Verletzungstatbestände neben oder über den Verletzungstatbeständen der verschiedenen Menschen- bzw. Grundrechte bestehen. Die Existenz solcher Tatbestände muss aber gerade vorausgesetzt werden, wenn eine objektiv-rechtlich verstandene Menschenwürdegarantie in der Weise zur rechtlichen Anwendung gebracht wird, wie es in den zitierten Gerichtsurteilen geschieht. 23 Bundesverwaltungsgerichts-Entscheidung (BVerwGE) 64, 274 vom 15.12.1981 (Sittenwidrigkeit von peep-shows), Abs. 12. 24 So von Starck a.a.O. Rn. 30–32, S. 43 ff., und von Höfling a.a.O. Rn. 6 , S. 79.
III. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
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Es liegt daher nahe, auch hinsichtlich der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 1 GG noch einmal zwischen einer prinzipialistischen Lesart und dem Analogon einer spezifisch-rechtlichen Lesart zu unterscheiden. Die Rede von einem „Analogon der spezifisch-rechtlichen Lesart“ ergibt sich hier dadurch, dass es eben nicht um subjektive Rechte individueller Rechtsträger geht, sondern um „Werte“. Gleichwohl ist dasjenige Verständnis der Menschenwürdegarantie, das in den zitierten Urteilen und einem nicht unbeträchtlichen Teil der juristischen Literatur zum Ausdruck kommt, dadurch bestimmt, dass die als „objektiver Wert“ verstandene Menschenwürde durch spezifische Handlungen und/oder Regelungen verletzt werden könne. Mithin wäre die Einordnung dieses Verständnisses unter die spezifisch-rechtliche These in einem weiteren Sinn dadurch legitimiert, dass auch hier eigenständige Verletzungstatbestände einer Menschenwürdeverletzung neben oder über den Verletzungstatbeständen der einzelnen Grund- bzw. Menschenrechte angenommen würden. Ein solches spezifisch-rechtliches Verständnis der objektiv-rechtlichen Dimension der Menschenwürde läuft dann allerdings tatsächlich Gefahr, zum Einfallstor einer paternalistischen Moralisierung des Rechts zu werden. Dass die objektiv-rechtli1 GG häufig einen paternalistischen Charakter che Anwendung des Art. annimmt, ist auch nicht verwunderlich. Sobald nämlich die Menschenwürde weder strikt prinzipialistisch, noch als ein spezifischer subjektiver Rechtsanspruch – der als solcher vom Einzelnen wahrgenommen werden kann, aber nicht wahrgenommen werden muss – interpretiert wird, ergibt sich unweigerlich die Möglichkeit, staatlich erzwingbare Rechtspflichten der Menschenwürdeträger gegen sich selbst zu postulieren.25 Wenn dementsprechend heute – nicht immer ganz zu Unrecht – oft der paternalistische Charakter „des“ Menschenwürdegrundsatzes kritisiert wird, so sollte nicht vergessen werden, dass diese Kritik richtig verstanden nicht den Menschenwürdegrundsatz als solchen betrifft, sondern nur eine sehr spezielle Lesart dieses Grundsatzes.
III. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde 1. Verletzbarkeit der Menschenwürde? Die Differenz zwischen der prinzipialistischen und der spezifisch-grundrechtlichen Konzeption des rechtlichen Menschenwürdebegriffs gewinnt im Rahmen der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik eine enorme praktische Relevanz dadurch, dass Art. 1 GG die „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde kon25 Wenn dieser Befund hier in kritischer Absicht konstatiert wird, so bedeutet das keineswegs, dass die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst in Abrede gestellt wird. Problematisch ist allerdings die Annahme, dass solche Pflichten gegen sich selbst staatlich erzwingbare Rechtspflichten sein könnten.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
statiert. Bereits die apodiktische Formulierung des Art. 1, Abs. 1 GG „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ruft in der rechtswissenschaftlichen Literatur gelegentlich Irritationen hervor. So fragt etwa Geddert-Steinacher verwundert: „Der Satz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ erscheint als Verfassungsgebot zunächst paradox, denn warum sollte ein unantastbares Rechtsgut überhaupt des Schutzes der Rechtsordnung bedürfen?“26 Tatsächlich stellt die indikativische Formulierung des Art. 1 allerdings auch nur unter der stillschweigenden Voraussetzung der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürde ein Problem dar. Geht man davon aus, dass die Menschenwürdegarantie ein spezielles Grundrecht mit eigenem Verletzungstatbestand neben den sonstigen Grundrechten bezeichnet, so ergibt sich genau die von Geddert-Steinacher und zahlreichen weiteren Autoren bemerkte Auslegungsschwierigkeit. Wieso nämlich sollte die Menschenwürde, wenn sie ohnehin nicht angetastet werden kann, überhaupt durch ein spezielles Recht geschützt werden müssen? Für eine prinzipialistisch-reduktionistische Position stellt sich diese Frage demgegenüber nicht, denn etwas, das Prinzip oder der Geltungsgrund der Grund- bzw. Menschenrechte ist, kann seinerseits natürlich nicht in der Weise verletzt werden, in der ein einzelnes Grundrecht durch eine konkrete Handlung verletzt werden kann. Wenn überhaupt, so wird das, was Prinzip und Geltungsgrund der Rechte ist, nur verletzt werden, indem jeweils ein einzelnes dieser Rechte verletzt wird, es kann aber niemals unmittelbar und als solches verletzt oder „angetastet“ werden. Man kann bei einem Prinzip oder Geltungsgrund allenfalls in einer Weise handeln, die gegen Implikate des Prinzips bzw. Geltungsgrund verstößt, nicht aber im eigentlichen Sinn das Prinzip bzw. den Geltungsgrund selbst „verletzen“. Anders die spezifisch-grundrechtliche Lesart, die jenes Problem tatsächlich hat. Sie kann sich aus der von Geddert-Steinacher konstatierten „Paradoxie“ nur retten, indem sie die indikativische Konstatierung der Unantastbarkeit der Menschenwürde entgegen dem Textbefund in eine besonders starke Form eines Imperativs umdeutet. So interpretiert Christian Starck das „ist“ im Sinne eines „soll nicht“, wenn er schreibt: „Dass die Menschenwürde unantastbar ist, bedeutet nicht die Feststellung eines Faktums oder eine Beschreibung […] Vielmehr soll sie nicht angetastet werden.“27 Auch Werner Maihofer vertritt diese Ansicht, wenn er in einer sprachlich etwas verunglückten Passage ausführt: „Wenn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland angesichts dieser als ein historisches Faktum erfahrenen, wirklich geschehenen und möglich geschehenden Antastungen der Menschenwürde in seinem Artikel 1 schlicht feststellt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar’, dann spricht es mit dieser den Laien befremdenden Redeweise Geddert-Steinacher a.a.O. S. 79. Starck a.a.O. Rn. 33, S. 45 [Hervorhebung im Original].
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nicht eine Seinstatsache aus, wird damit die Tatsache doch gerade als eine nicht nur gestern, sondern ebenso heute und morgen objektiv-reale Möglichkeit vorausgesetzt, daß die Würde des Menschen wirklich angetastet ist und werden kann, sondern setzt damit nach dem üblichen Sprachgebrauch der Juristen eine Sollensnorm.“28
Ein zweiter möglicher Ausweg, der sich allerdings bereits wieder stark der prinzipialistischen Lesart annähert und daher von Verfechtern der spezifisch-grundrechtlichen Position nicht gerne gewählt wird, besteht darin, zwischen der wirklich unverletzbaren Würde des Menschen auf der einen Seite und einem aus ihr folgenden, aber verletzbaren Anspruch auf Achtung der Menschenwürde auf der anderen Seite zu unterscheiden. Eine solche Konzeption kann dann wiederum entweder prinzipialistisch begriffen werden – nämlich indem unter dem besagten Achtungsanspruch ein Anspruch auf Achtung der Menschen- bzw. Grundrechte verstanden wird – oder sie kann spezifisch-grundrechtlich begriffen werden, indem unter dem Achtungsanspruch ein Anspruch auf Achtung eines spezifischen subjektiven „Menschenwürderechts“ mit eigenem Schutzbereich verstanden wird. Im zweiten Fall wäre dann aber wiederum nicht klar, was die Unterscheidung, dass zwar der Anspruch auf Achtung der Menschenwürde, nicht aber die Menschenwürde selbst verletzt werden könne, eigentlich bedeuten solle. Der zweite Ausweg führt dementsprechend nur dann wirklich aus dem Problem heraus, wenn er in eine prinzipialistisch-reduktionistische Lesart einmündet. Der erste Weg ist demgegenüber mit einer anderen, nicht minder großen Problematik verbunden: Wird die Menschenwürde als etwas verstanden, das tatsächlich verletzt oder zerstört werden kann, so ergibt sich die Frage, welchen Rechtsstatus ein Mensch im Hinblick auf die übrigen Grundrechte noch hätte, wenn seine Menschenwürde erst einmal verletzt oder zerstört wurde. Da die Menschenwürde laut Textbefund des Grundgesetzes und „herrschender Meinung“ des deutschen Verfassungsrechtsdiskurses zumindest immer auch den Grund der Menschenrechte bildet, würde eine Verletzung der Menschenwürde mithin zur Folge haben, dass der so in seiner Würde Verletzte mit dem Akt der Würdeverletzung zugleich seinen Anspruch auf Achtung als Träger der Grund- bzw. Menschenrechte verlieren müsste. Eine zweifelsohne problematische und in höchstem Maß kontraintuitive Konsequenz, die freilich nur auf ein in der spezifisch-rechtlichen Grundkonzeption selbst liegendes Problem hinweist.
2. Unantastbarkeit als Unabwägbarkeit Von der „herrschenden Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde heute üblicherweise im Sinn der 28 Maihofer, Werner: Menschenwürde im Rechtsstaat. Schriftenreihe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover 1967, S. 25 [Hervorhebung im Original].
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
„Unabwägbarkeit“ eines spezifisch-rechtlich gefassten „Menschenwürderechts“ gegenüber den weiteren Grundrechten verstanden. Dieses Verständnis bringt etwa Höfling prägnant zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Mit der Unantastbarkeitskeitsformel entzieht die Verfassung die Menschenwürdegarantie dem grundrechtlichen Abwägungsprozess. […] Die Menschenwürde unterliegt also keinerlei Beschränkungsmöglichkeiten; die sachliche Reichweite des Tatbestandes markiert zugleich die Verletzungsgrenze.“29
Analysiert man diese Aussage näher, so wird man feststellen, dass in ihr zwei Aspekte kombiniert werden, die ihren Ursprung in unterschiedlichen rechtsdogmatischen Konstruktionen haben. Der erste und sicherlich am leichtesten zu identifizierende Aspekt ist derjenige der „Grundrechtsabwägung“, der einen festen Bestandteil der „herrschenden Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik der Nachkriegszeit bildet. Nach diesem Theorem können prinzipiell alle Grundrechte in bestimmten Fallkonstellationen miteinander „kollidieren“, so z. B. das Eigentumsrecht einer Person mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung einer anderen Person, oder das Recht auf Leben einer Person mit dem Selbstbestimmungsrecht einer anderen Person. Im Falle eines solchen Konflikts wäre der Staat, sei es in Form der Exekutive, der Legislative oder der Judikative, dann aufgefordert, die verschiedenen auf dem Spiel stehenden Rechte in der Form von Gütern gegeneinander „abzuwägen“ und im Ergebnis des Abwägungsprozesses entweder zu einem „schonenden Ausgleich“ der Grundrechte zu kommen oder die Priorität eines Grundrechts gegenüber dem anderen festzustellen. Noch unabhängig von der Frage der tatsächlichen oder vermeintlichen „Unabwägbarkeit“ der Menschenwürde ist allerdings bereits dieses Konzept der „Grundrechtsabwägung“ selbst mit kaum lösbaren theoretischen Schwierigkeiten und Widersprüchen belastet. Der noch vordergründigste Einwand gegen das Abwägungskonzept sieht in diesem ein dezisionistisches Moment am Werk, das den Rationalitätsansprüchen nicht genügt, die für eine gerechte und willkürfreie Rechtsordnung unabdingbar sind. So schreibt Habermas in „Faktizität und Geltung“ in einer Auseinandersetzung mit dem Abwägungsmodell der „herrschenden Meinung“ ganz richtig: „Weil dafür rationale Maßstäbe fehlen, vollzieht sich die Abwägung entweder willkürlich oder unreflektiert nach eingewöhnten Standards und Rangordnungen.“30 Die damit angesprochene Problematik ist allerdings nicht einmal die theoretisch schwerwiegendste, wenngleich sie eine Konsequenz des eigentlichen Problems ist. Worin dieses Problem liegt, zeigt sich besonders deutlich anhand des folgenden Zitats von Peter Hä-
Höfling a.a.O. Rn. 11, S. 81. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M. 1992, S. 315 f. 29
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berle, der die „herrschende Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik gut auf den Punkt bringt, wenn er schreibt: „Der Grundsatz, durch den die Grenzen und Inhalte der Grundrechte zu bestimmen und durch den die zwischen den nebeneinanderstehenden Verfassungsrechtsgütern auftretenden Konflikte gelöst werden, ist der Grundsatz der Güterabwägung. […] Man kann dieses Prinzip daher als ein verfassungsimmanentes bezeichnen.“31
Der theoretischen Ethik und der Rechtsphilosophie, die sich der Differenz zwischen deontologischen und konsequentialistischen Ethikmodellen bewusst sind, stellt sich freilich bereits die umstandslose und unreflektierte Gleichsetzung von „Rechten“ mit „Gütern“, wie sie der „herrschenden Meinung“ offenkundig zugrunde liegt, als unhaltbar dar. Zunächst einmal sind „Rechte“ schlicht und einfach keine „Güter“. Unter einem „Gut“ ist etwas zu verstehen, das von einem Individuum wertgeschätzt und daher von ihm angestrebt wird. Unter „Gütern“ in diesem Sinn können dementsprechend materielle Gegenstände, z. B. ein Auto einer bestimmten Marke, ebenso fallen wie immaterielle Güter wie etwa Schmerzfreiheit oder Lustempfindungen. Güter als Güter implizieren dementsprechend keine normativen Ansprüche. Ein „Recht“ im Sinn eines subjektiven Rechts hingegen bezeichnet genau das: einen normativen Anspruch des Rechtssubjekts, der der Verfügung durch andere prima facie entzogen ist. Damit ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass der Begriff des Gutes und der Begriff des (subjektiven) Rechts auf zwei normenlogisch vollständig verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Zwar kann die positivrechtliche Verankerung des Innehabens eines bestimmten Rechts von einem Individuum als Gut wertgeschätzt und angestrebt werden; das macht aber zum einen nicht dieses Recht selbst zu einem Gut und es ist zum anderen offenbar auch nicht das, was die „herrschende Meinung“ im Auge hat, wenn sie im Hinblick auf Rechte von einer „Güterabwägung“ spricht. Vielmehr scheinen, wenn „Rechte“ seitens der „herrschenden Meinung“ als gegeneinander abwägbare Güter verstanden werden, nicht die Rechte als Güter gemeint zu sein, sondern diejenigen Güter, die von subjektiven Rechten geschützt werden. Im Fall des Rechts auf körperliche Unversehrtheit etwa wäre nach dieser Lesart das von dem Recht geschützte Gut eben die körperliche Unversehrtheit. Genau dieses Beispiel zeigt aber auch schon den wesentlichen systematischen Unterschied zwischen Rechten und Gütern auf. Mit dem Recht kommt zum Gut, das seinen Status als Gut zunächst einfach der ganz individuellen Wertschätzung einer Person verdankt, etwas Entscheidendes hinzu: der normative Anspruch nämlich des Rechtssubjekts darauf, dass andere Rechtssubjekte über bestimmte Güter nicht verfügen. Dieser Anspruch aber ist im Begriff des „Gutes“ selbst nicht einmal annäherungsweise 31 Häberle, Peter: Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz – Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre des Gesetzesvorbehalts. Heidelberg 1983, S. 31.
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enthalten und kann aus ihm auch in keiner Weise hergeleitet werden. Er wird erst möglich, wenn man das Recht nicht auf der Basis von Gütern, sondern von subjektiven Rechten denkt. Wenn die „herrschende Meinung“ nun davon ausgeht, dass im Fall einer vermeintlichen Kollision 32 von Rechten eine „Abwägung“ vorgenommen werden müsse, so kann damit offensichtlich nur gemeint sein, dass diejenigen Güter gegeneinander abzuwägen sind, die von den betreffenden Rechten geschützt werden, und dass auf der Grundlage dieser Abwägung dann das eine Recht bestätigt wird, während das andere ganz oder teilweise aufgehoben wird. Solche prinzipielle Aufhebbarkeit widerspricht aber gerade dem Begriff eines subjektiven Rechts, denn bei einem solchen handelt es sich um einen universalen normativen Anspruch, den der Träger des Rechts allen anderen Rechtssubjekten und der Rechtsgemeinschaft als ganzer gegenüber hat. Subjektive Rechte können insofern streng genommen überhaupt nicht im Ergebnis einer Abwägung aufgehoben werden. Festzustellen, dass ein bestimmtes Recht eines Subjekts im Ergebnis einer „Abwägung“ hinter einem anderen Recht zurückstehen muss, bedeutet nichts anderes als festzustellen, dass dieses Recht dem betreffenden Subjekt in der in Frage stehenden Hinsicht gar nicht erst zukommt. Auch in der Rechtswirklichkeit läuft der Gedanke einer Abwägbarkeit der Grundrechte darauf hinaus, dass jedes einzelne der Grundrechte prinzipiell außer Kraft gesetzt werden kann, wenn es nur mit einem Grundrecht „kollidiert“, das in einer nirgends explizit gemachten und ausgewiesenen Rechte-Hierarchie „über“ ihm steht. Zwar bestimmt Art. 19, Abs. 2, dass der „Wesensgehalt“ der Grundrechte in keinem Fall angetastet werden dürfe.33 Da es aber gänzlich unbestimmt ist und somit wieder der richterlichen Willkür überlassen bleibt, worin dieser Wesensgehalt besteht, schreibt das Abwägungsmodell der Grundrechte de facto die Möglichkeit der prinzipiell uneingeschränkten und beliebigen Negierbarkeit jedes Grundrechts ins Zentrum des Rechtssystems ein. Das ist insofern auch nicht verwunderlich, als das Konzept der Güterabwägung in systematischer Hinsicht dem konsequentialistischen Normativitätsmodell zugeordnet werden muss. Nach dessen Paradigma entscheidet über die 32 Es stellt sich in diesem Zusammenhang zudem die Frage, ob es sinnvoll ist, Rechte als solche zu konzipieren, die äußerlich, gleichsam als wären sie Dinge im Raum, „gegeneinanderstoßen“ – denn genau das meint das Verb „kollidieren“ – können. Vielmehr weisen Rechte, wenn überhaupt, dann immanente Schranken auf. Das Lebensrecht von A steht nicht deshalb über dem Selbstbestimmungsrecht von B, weil das Leben ein höherwertiges Recht wäre, das im Fall einer äußerlichen Kollision das von ihm gänzlich getrennt existierende Selbstbestimmungsrecht übertrumpfen würde. Vielmehr ergibt sich der Vorrang des Lebensrechts daraus, dass das Selbstbestimmungsrecht von vornherein nur Selbstbestimmungsrecht ist und daher auch von vorneherein kein Recht auf die Verfügung über das Leben von B einschließt. Der Metapher von der (äußerlichen) Kollision liegt insofern bereits ein grundlegendes Missverständnis der Natur von Rechten zugrunde. 33 Der Absatz besagt: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ (Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 19, Abs. 2)
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Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung (oder eben einer rechtlichen Regelung) die Frage, welche Folgen diese für die Realisierung von Gütern wie z. B. Leben oder Lustgefühle bzw. von Übeln wie Schmerz oder Unlust haben. Überwiegen die in dieser Hinsicht positiven Folgen, so ist die Handlung bzw. Regelung als richtig und geboten zu bewerten; überwiegen die negativen Folgen, so ist sie als falsch und verboten zu bewerten. Da jede Handlung bzw. Regelung üblicherweise mehr als nur ein Gut und mehr als nur ein Individuum betrifft, muss zwischen den von den Folgen betroffenen Gütern „abgewogen“ werden. Um abgewogen werden zu können, müssen die in Frage stehenden Güter hinsichtlich ihres Wertes in eine Hierarchie gebracht werden. Das wiederum ist nur möglich, wenn alle Güter grundsätzlich miteinander verrechenbar und damit auch quantifizierbar sind. Diesem konsequentialistischen Normativitätsmodell widerspricht aber gerade die deontologische „Tiefenstruktur“, die das Recht, insbesondere bei den subjektiven Grund- und Menschenrechten, aufweist. Kein Rechtssystem der Welt gestattet es z. B., einen Menschen zu ermorden, um mit seinen Organen mehreren anderen Menschen das Leben zu retten. Vom konsequenialistischen Modell der folgenbasierten Güterabwägung her wäre aber gerade ein solcher Mord als die in dieser Situation gebotene und moralisch richtige Handlung zu bewerten. Das Recht überhaupt, vor allem aber die grundlegenden Menschenrechte, sind insofern gerade dasjenige, was die konsequentialistische Güterabwägung beschränkt, nicht aber etwas, das sich aus Güterabwägungen ergibt. Grundlegende Rechte lassen sich konsequentialistisch nicht begründen, ja nicht einmal denken. Wenn von der „herrschenden Meinung“ daher die Grundrechte selbst wiederum auf diejenigen Güter reduziert werden, die durch die Grundrechte geschützt werden, und die so verstandenen Rechte dann zugleich der Abwägung preisgegeben werden, dann wird das gesamte System der Grundrechte in einer Weise konsequentialistisch überformt, die dem Begriff des subjektiven Rechts gerade entgegensteht. Das System der Grundrechte wird auf diese Weise letztlich selbst infrage gestellt. Es ist wieder Habermas, der gegen die „herrschende Meinung“ richtig einwendet, Güter und politische Ziele seien zwar „Gesichtspunkte, unter denen Argumente im Fall von Normenkollisionen in einen juristischen Diskurs eingeführt werden können; aber diese Argumente ‚zählen‘ nur soviel wie die Rechtsprinzipien, in deren Licht sich solche Ziele und Güter ihrerseits rechtfertigen lassen. Letztlich sind es nur Rechte, die im Argumentationsspiel stechen dürfen. Diese Schwelle wird durch die kontraintuitive Gleichsetzung von Rechten mit Gütern, Zielen und Werten eingeebnet. […] Sobald hingegen Grundrechte in ihrem deontologischen Sinn ernstgenommen werden, bleiben sie einer solchen Kosten-Nutzen-Analyse entzogen.“34
Habermas a.a.O. S. 316.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
Den entstehenden Widerspruch zwischen der deontologischen Grundstruktur des Rechtsbegriffs und der konsequentialistisch-utilitaristischen Missdeutung des Systems der Grundrechte versucht die deutsche Verfassungsrechtsdogmatik offensichtlich mithilfe des Begriffs der Menschenwürde zu entschärfen. Mit dem Menschenwürdebegriff soll die konsequentialistische Grundrechts-Konzeption der „herrschenden Meinung“ offenbar wieder mit dem deontologischen Wesen des Rechts vermittelt werden. „Menschenwürde“ gilt dementsprechend als dasjenige, was der vermeintlichen „Abwägbarkeit“ und Einschränkbarkeit der Grundrechte eine Grenze setzt. In diesem Sinn ist in der verfassungsrechtlichen Literatur auch von der Menschenwürde als einer „Schranken-Schranke“ die Rede.35 Wer sich philosophisch mit dem Menschenwürde-Verständnis des deutschen Verfassungsrechts befasst, darf diesen Punkt keinesfalls übersehen: Die Theorie der prinzipiellen konsequentialistisch-utilitaristischen Abwägbarkeit aller Grund- bzw. Menschenrechte bildet den dunklen Hintergrund, von dem sich die offensichtlich als Gegengewicht dazu konzipierte Theorie der Unabwägbarkeit der Menschenwürde überhaupt erst abhebt. Ohne jenen ist diese überhaupt nicht verständlich. Denkt man nämlich das Recht, wie es in dem Zitat von Häberle der Fall ist, von Gütern und Güterabwägungen her, so hat man es bereits konsequentialistisch missdeutet und hat eigentlich systemimmanent keinen Anker mehr, der vor einer vollständigen utilitaristischen Unterminierung des Rechtsbegriffs retten könnte. Ein solcher „Anker“ muss dementsprechend erst wieder von außen eingeführt werden, und das geschieht innerhalb des deutschen Verfassungsrechtsdiskurses offenkundig in Gestalt der Menschenwürdegarantie. Eben daraus erklärt sich dann aber die Rolle, die die Menschenwürdegarantie innerhalb der „herrschenden Meinung“ seit den 50er Jahren zunehmend angenommen hat. Indem die Menschenwürdegarantie als ein „unabwägbares Spezialrecht“ verstanden wird, soll sie genau als jener Notanker fungieren, der ein bereits utilitaristisch missverstandenes Verfassungsrecht vor dem völligen Abgleiten in den Utilitarismus bewahren soll. Diese Funktion kommt ihr aber eben nur zu, weil die „herrschende Meinung“ das Verfassungsrecht insgesamt schon utilitaristisch missversteht. Die damit gegebene Konstellation hat zur Folge, dass das Verfassungsrecht gleichsam in zwei voneinander getrennte Sphären aufgespalten wird: in eine deontologische Sphäre auf der einen Seite, in der es aber nur noch die Menschenwürdegarantie und sonst nichts mehr gibt, und in eine konsequentialistisch-utilitaristische Sphäre, die von der beliebigen Abwägbarkeit und Einschränkbarkeit aller vermeintlich „weiteren“ Grundbzw. Menschenrechte – unter anderem selbst des so zentralen Lebensrechts – 35 So bei Wallau, Philipp: Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union (Bonner Rechtswissenschaftliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 4). Göttingen 2010, S. 66 f.
III. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
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gekennzeichnet ist. Neben das konsequentialistisch missverstandene System der Grund- bzw. Menschenrechte tritt so ein strikt deontologisch konzipiertes, spezifisch-rechtlich verstandenes „Menschenwürderecht“, dem dann aber nur ein minimales Anwendungsfeld zugestanden wird. Mit dieser dualistischen Aufspaltung des Rechts in einen großen konsequentialistischen und einen nur kleinen deontologischen Bereich wird es aber für die Verfassungsrechtsdogmatik praktisch unmöglich, überhaupt noch den Fundierungszusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten zu begreifen, der doch immerhin von Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes selbst explizit behauptet wird. Daraus ergeben sich dann letztlich auch all die Verwirrungen und Inkonsistenzen der Verfassungsrechtsdogmatik, die in diesem Kapitel beschrieben werden. Man darf sich dementsprechend fragen, ob nicht bereits das hierfür seitens der „herrschenden Meinung“ vorausgesetzte Verständnis der Grund- bzw. Menschenrechte als gegeneinander abwägbarer Güter den entscheidenden Fehler darstellt, da es in das System der Grundrechte ein Moment einführt, das mit dem Begriff eines subjektiven Rechts gerade unvereinbar ist. Das wichtigste der im Hinblick auf die Menschenwürde resultierenden Probleme ist, dass die vermeintlich „unabwägbare“ Menschenwürde den vermeintlich „abwägbaren“ Grundrechten nur einfach unverbunden entgegengesetzt wird, ohne dass eine wirkliche Vermittlung beider geleistet werden kann. Stattdessen soll der deontologische Charakter, der eigentlich das Recht überhaupt kennzeichnen müsste, alleine dem obersten Verfassungsgrundsatz vorbehalten bleiben, während das restliche Recht konsequentialistisch-utilitaristisch reinterpretiert und angewandt wird. Auf diese Weise kommt dann auch unvermeidlich die Funktion der Menschenwürde als reflexives Prinzip, Geltungsgrund und Horizont der Menschenrechte aus dem Blick; sie wird gleichsam zu einem Element innerhalb des Horizonts der Menschenrechte, anstatt als dieser Horizont selbst begriffen zu werden.
3. Unantastbarkeit als Nichtrechtfertigbarkeit Neben der Theorie der prinzipiellen Abwägbarkeit der Grund- bzw. Menschenrechte hat die „herrschende Meinung“, wie sie in der eingangs zitierten Passage von Höfling zum Ausdruck kommt, noch einen weiteren, diesmal aus der deutschen Strafrechtsdogmatik stammenden Theoriehintergrund, ohne den sie nicht verstehbar ist. Die deutsche Strafrechtsdogmatik nämlich geht von dem sogenannten „dreistufigen Verbrechensaufbau“ aus. Danach liegt ein strafwürdiges Verbrechen erst dann vor, wenn eine Handlung „tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft“ ist, wobei die drei Begriffe aufeinander aufbauen und einen jeweils kleineren Umfang besitzen.36 Zur Beantwortung der Frage, Auf die weiteren Differenzierungen dieses Schemas, wie etwa den Unterschied zwischen
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
ob eine Handlung als Verbrechen zu bewerten ist, sind mithin nacheinander drei Fragen zu prüfen, die alle mit einem „Ja“ zu beantworten sind, damit von einem strafwürdigen Verbrechen die Rede sein kann 37 : 1. Zunächst ist zu prüfen, ob die Handlung den Tatbestand einer strafrechtlich relevanten Handlung erfüllt. 2. Ist die Tatbestandsmäßigkeit gegeben, so ist zu prüfen, ob die Handlung rechtswidrig war. 3. Ist auch die Rechtswidrigkeit gegeben, so ist zu prüfen, ob die Handlung schuldhaft war. Im Fall beispielsweise einer Körperverletzung in Notwehr wäre nach diesem Prüfschema zwar der Tatbestand der Körperverletzung realisiert, es handelte sich aber nicht um ein Verbrechen, weil die Notwehr einen Rechtfertigungsgrund für die Körperverletzung darstellt und daher die zweite Frage, diejenige nach der Rechtswidrigkeit, mit einem „Nein“ zu beantworten wäre. Während dieses Prüfschema nun als ein rein heuristisches Prüfschema, das dem Strafrechtler die Rechtsanwendung erleichtern soll, sinnvoll ist, wird es teilweise bereits in der Strafrechtsdogmatik selbst, fast durchgängig dann aber in der Grundrechtsdogmatik gerade nicht mehr als ein bloß heuristisches Prüfschema verstanden, sondern substantialistisch missdeutet. Auch eine Körperverletzung oder Tötung, die in Notwehr erfolgt, gilt gemäß dieser substantialistischen Missdeutung einer bloßen Heuristik dann bereits als eine Verletzung der Rechte desjenigen, gegen den der Angegriffene sich zur Wehr setzt. Sie gilt lediglich als „nicht rechtswidrig“, da der Umstand des Angriffs als ein Rechtfertigungsgrund verstanden wird, der als solcher die vermeintlich vorliegende Verletzung der Rechte des Angreifers logisch nachträglich rechtfertigt. Während dieses substantialistische Missverständnis innerhalb der bloßen Strafrechtsdogmatik keine großen praktischen Auswirkungen hat, hat es bei der Übertragung auf die Verfassungsrechtsdogmatik, und hier insbesondere bei der Übertragung auf das Verhältnis von Menschenwürde und Grund- bzw. Menschenrechten, geradezu fatale theoretische Folgen. Das lässt sich am besten wieder am Beispiel der Notwehr verdeutlichen. In der Übertragung auf die Grundrechtsdogmatik nämlich wird das Prüfschema nun dahingehend ausgelegt, dass es sich auch bei einer Tötung in Notwehr um eine Verletzung des in Art. 2, Abs. 2 GG garantierten Lebensrechts des rechtswidrigen Angreifers handele; eine Verletzung allerdings, die nicht rechtswidrig sei, da sie durch den Umstand des rechtswidrigen Angriffs auf den in Notwehr Handelnden gerechtfertigt sei. Eine solche Dogmatik ist freilich in einer rechtsphilosophischen Perspektive abwegig, läuft objektiver und subjektiver Komponente der Tatbestandsmäßigkeit, muss hier nicht eingegangen werden, da dies für die diskutierte Frage nicht relevant ist. 37 Nach Wessels, Johannes/Beulke, Werner: Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Straftat und ihr Aufbau. Heidelberg, 41. Aufl. 2011, S. 329 f.
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sie doch auf die merkwürdige Konstruktion einer „rechtmäßigen Rechtsverletzung“ hinaus. Demgegenüber ist festzuhalten 38 , dass die Notwehr überhaupt keine Verletzung irgendeines Rechts darstellt, da sie sich aus der Zwangsbefugnis zur Erzwingung der Einhaltung negativer Rechtspflichten ergibt. Es ist aber logisch unmöglich, dass die Erzwingung der Einhaltung einer Rechtspflicht eine Verletzung eines Rechts darstellt, weil es schließlich von vorneherein kein Recht auf die Übertretung der Rechtspflicht gab. Welche Folgen das substantialistische Missverständnis des heuristischen strafrechtsdogmatischen Prüfschemas für die „herrschende Meinung“ betreffend das Verhältnis von Menschenwürde und Grund- bzw. Menschenrechten hat, lässt sich nun ebenfalls leicht sehen. Die gedankliche Verbindung zwischen der Auslegung der Unantastbarkeit der Menschenwürdegarantie als Unabwägbarkeit und der Auslegung als Nichtrechtfertigbarkeit der Verletzung gemäß dem zweiten Schritt des strafrechtlichen Prüfschemas stellt sich nämlich dadurch her, dass die Grundrechtsabwägung meist als ein möglicher Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung oder Aufhebung einzelner Grundrechte in das substantialistisch missverstandene Prüfschema integriert wird. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Art. 1 GG evoziert, wird vor diesem Hintergrund dann einfach als Nichtrechtfertigbarkeit im Sinn des zweiten Schritts des strafrechtlichen Prüfschemas (und im Weiteren dann auch Nichtentschuldbarkeit) ausgelegt. Die Feststellung des „Tatbestands“ einer – nota bene spezifisch-rechtlich verstandenen – Menschenwürdeverletzung fällt nach dieser Auffassung folglich mit der Feststellung seiner Rechtswidrigkeit zusammen. Wenn dann aber, in Anlehnung an die übliche Strafrechtsdogmatik, Notwehr- und Notwehrhilfehandlungen fälschlicherweise als tatbestandsmäßig beispielsweise für die Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gelten, hat das zwei problematische Implikationen. Zum einen kann die Menschenwürde nun gegen das Recht auf Notwehr bzw. Notwehrhilfe ins Feld geführt werden und dieses vollständig aushebeln 39. Zum anderen, und das hat für die gesamte Behandlung des Menschenwürdebegriffs im deutschen Recht fatale theoretische Konsequenzen, müssen nun das vermeintliche „Menschenwürderecht“ und die folgenden Grund- bzw. Menschenrechte vollständig voneinander dissoziiert werden, da Verletzungen der Letzteren ja als je nach Situation und Konsequenzen rechtfertigbar gelten, Verletzungen des spezifischen „Menschenwürderechts“ dagegen als niemals rechtfertigbar. Besonders augenfällig wird das wieder am Beispiel eines so grundlegenden Rechts wie des Lebensrechts: Da Verletzungen des Lebensrechts als – eben z. B. 38 Vgl. dazu ausführlich die Erörterung der Notwehrproblematik in Kapitel 6, IV (S. 280– 286) der vorliegenden Studie. 39 Diese Tendenz kritisiert überzeugend Erb, Volker: Notwehr als Menschenrecht. Zugleich eine Kritik an der Entscheidung des LG Frankfurt am Main im „Fall Daschner“. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, S. 593–602.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
durch den Umstand eines rechtswidrigen Angriffs – grundsätzlich rechtfertigbare Rechtsverletzungen gelten, Verletzungen des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ aber als prinzipiell nichtrechtfertigbar, müssen „Menschenwürderecht“ und Lebensrecht als gänzlich voneinander getrennte Momente des Rechts gesetzt werden. Das Lebensrecht kann daher auch nicht mehr als ein Recht verstanden werden, das sich aus der Menschenwürdegarantie ergibt und von ihr mit umfasst ist. Und dasselbe gilt dann für jedes Grund- bzw. Menschenrecht im Verhältnis zur Menschenwürde. Die substantialistische Übertragung des eigentlich bloß heuristischen Prüfschemas des Strafrechts auf die Grundrechtsdogmatik reißt mithin eine letzten Endes nicht mehr überbrückbare Kluft zwischen der Menschenwürde auf der einen und den Grund- bzw. Menschenrechten auf der anderen Seite auf und führt zur vollständigen Entkopplung beider. Dies wiederum dürfte der wichtigste systematische Hintergrund dafür sein, dass die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie innerhalb der Rechtswissenschaften die „herrschende Meinung“ bildet, da nur in deren Rahmen – d. h. nur wenn man die Menschenwürdegarantie als ein von den Menschenrechten unterschiedenes „Spezialrecht“ denkt – eine solche Entkopplung überhaupt logisch konsistent durchführbar ist. Lediglich für die spezifisch-rechtlich verstandene Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG soll es nach dieser Theorie dann die Rechtfertigbarkeit einer Einschränkung nicht geben. Das bedeutet wiederum, dass jenes ominöse „Menschenwürderecht“ im Fall einer vermeintlichen Kollision mit einem Grundbzw. Menschenrecht dieses aufhebt. Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes wird in dieser Auslegung mithin zu einem Hebel, der es theoretisch gestattet, jedes einzelne Grundrecht, einschließlich so zentraler Grundrechte wie des Rechts auf Leben, letztlich gänzlich auszuhebeln. Kombiniert mit der inhaltlichen Vagheit und Unbestimmtheit jenes vermeintlichen speziellen „Menschenwürdegrundrechts“ und der daraus folgenden fast beliebigen Auslegbarkeit durch die jeweiligen Richter, stellt das ein gravierendes Problem für die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit überhaupt dar.
4. Unantastbarkeit und das Problem unbedingt geltender Normen Die Auslegung der Unantastbarkeit der Menschenwürdegarantie als einer spezifischen Rechtspflicht, die unter keinen denkbaren Umständen verletzt werden darf und deren Verletzung keine mögliche Rechtfertigung kennt, konfrontiert die „herrschende Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik mit einer Fragestellung, die innerhalb der Ethik, und im geringeren Maß der Rechtsphilosophie, seit langem bekannt ist und immer wieder ausführlich diskutiert wurde: mit der Frage nämlich nach der Möglichkeit und Existenz von unbedingt geltenden Pflichten. Umso verblüffender ist es, dass die umfangreichen innerphilosophischen Debatten zu dieser Frage von den Rechtswissenschaften
III. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde
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praktisch nicht rezipiert wurden und werden. Zwar könnten die Rechtswissenschaften sich gegenüber jenen Debatten auf einen rein rechtspositivistischen Standpunkt zurückziehen. In diesem Sinn könnten sie dann darauf verweisen, dass im Grundgesetz als positivem Recht aus welchen Gründen auch immer jene unbedingte Rechtspflicht nun einmal gesetzt sei und sie insofern auch nicht hinterfragt werden könne und keiner weiteren Rechtfertigung bedürfe. Ein solcher Rückzug wäre allerdings wenig überzeugend. Wenn es nämlich aus prinzipiellen Gründen gar nicht möglich wäre, unbedingte Pflichten konsistent zu denken, zu begründen oder dem Begriff einer „unbedingten Pflicht“ einen plausiblen Sinn zu geben, dann würde auch der Hinweis, dass das positive Recht solche Pflichten enthalte, nicht weiterhelfen. Denn tatsächlich würde das positive Recht eine solche unbedingte Pflicht bzw. ein ihr korrespondierendes, unbedingt geltendes Recht dann überhaupt nicht enthalten, denn was nicht logisch konsistent gedacht werden kann, kann es auch nicht geben, so dass das positive Recht es auch nicht wirklich enthalten könnte. Es könnte vielmehr lediglich der Anschein erweckt werden, das positive Recht enthalte eine oder mehrere solcher unbedingt geltender Rechte bzw. Pflichten, während sie in der Rechtsanwendung de facto als nicht-unbedingt behandelt würden. Mehr als jede andere praktische Disziplin ist also eine Rechtsdogmatik, die die Existenz einer unbedingt geltenden Rechtspflicht behauptet, darauf verwiesen, sich philosophisch zunächst überhaupt der Möglichkeit derartiger unbedingter Rechtspflichten zu versichern. Die damit geforderte philosophische Grundlagenreflexion kann nun drei mögliche Ergebnisse haben. Im einfachsten Fall könnte sich zeigen, dass unbedingt geltende Rechte bzw. Pflichten denkmöglich sind und dass auch die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG tatsächlich in demjenigen Sinn als ein solches Recht gedacht werden kann, den die „herrschende Meinung“ dafür annimmt. Die spezifisch-rechtliche Lesart des Art. 1 GG als eines unbedingt geltenden Grundrechts neben und über den übrigen Grundrechten wäre damit zwar noch nicht bestätigt, sie wäre aber zumindest als denkbar erwiesen. Zweitens könnte die Untersuchung aber auch zeigen, dass eine unbedingte Rechtspflicht überhaupt nicht sinnvoll und konsistent gedacht werden kann. Für die Auslegung der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes blieben dann überhaupt nur noch die reduktionistischeren Varianten der prinzipialistischen Lesart, kombiniert mit dem Gedanken der prinzipiellen Abwägbarkeit aller Grundund Menschenrechte, übrig. Denn zugleich würde mit der Feststellung der prinzipiellen Unmöglichkeit unbedingt geltender Rechte und Pflichte auch die Möglichkeit negiert, irgendeines der Menschenrechte, und sei es ein so grundlegendes wie das Lebensrecht, als unbedingt geltendes Recht zu begreifen. Drittens könnte sich schließlich zeigen, dass unbedingt geltende Rechte bzw. Pflichten zwar konsistent und sinnvoll gedacht werden können und eventuell sogar gedacht werden müssen, dass dies aber nicht in der Weise geschehen kann, wie
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
es im Rahmen der „herrschenden Meinung“ geschieht. In diesem Fall wären die Rechtswissenschaften gezwungen, die „herrschende Meinung“ auf der Grundlage jener philosophischen Erkenntnisse zu modifizieren. Es ist also evident, dass und warum die Rechtswissenschaft hinsichtlich der Frage der Möglichkeit unbedingter Rechtspflichten an die entsprechenden philosophischen Diskurse verwiesen ist. Alles andere als klar ist aber, warum die Philosophie sich mit dieser Frage sollte beschäftigen müssen, wenn sie über das Thema „Menschenwürde“ nachdenkt. Denn natürlich ist die Frage nach der Möglichkeit unbedingt geltender Rechtspflichten eine für Ethik und Recht überaus relevante Frage und als solche wird sie, vielfach ganz unabhängig von der Menschenwürdeproblematik, auch innerphilosophisch behandelt. Eine Verknüpfung dieser Frage mit der Menschenwürdethematik scheint insofern auf den ersten Blick keineswegs systematisch zwingend zu sein und sich eher dem kontingenten Verlauf der knapp 60-jährigen Geschichte der deutschen Grundgesetz-Auslegung zu verdanken. Wenn das aber der Fall wäre, wenn also die Verknüpfung der Frage nach der Möglichkeit unbedingter Rechtspflichten mit der Frage nach der Menschenwürde sich nur dem historischen Zufall verdanken würde, dass die deutsche Verfassungsrechtsdogmatik die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes, vielleicht sogar noch fälschlicherweise, als ein spezielles, unbedingt geltendes Grundrecht neben und über den übrigen Grundrechten auslegt, so müsste sich die Philosophie über diese Verknüpfung von sich aus gar keine weiteren Gedanken machen – es sei denn, es ginge um nicht mehr als eine rechtsphilosophisch fundierte Kritik der „herrschenden Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik, was immerhin auch nicht wenig wäre. Anders verhielte es sich freilich, wenn zwischen dem Gedanken der Menschenwürde und dem Gedanken unbedingt geltender Rechte und Pflichten nicht nur ein historisch-kontingenter äußerlicher, sondern ein systematisch-immanenter Zusammenhang aufgewiesen werden könnte: wenn also beispielsweise gezeigt werden könnte, dass diejenige Struktur, auf die der rechtlich-rechtsphilosophische Menschenwürdebegriff abzielt, notwendigerweise den Gedanken impliziert, dass es zumindest einige unbedingt geltende Rechte bzw. Pflichten gibt, und umgekehrt, dass sich die Möglichkeit solcher Rechte bzw. Pflichten nur vor dem Hintergrund des Menschenwürdebegriffs überhaupt sinnvoll denken lässt. Dass beides der Fall ist, wird die vorliegende Untersuchung unter anderem zu zeigen versuchen.40 Über das Vorliegen eines derartigen inneren Zusammenhangs wird allerdings nur die konkrete Durchführung jenes Versuchs selbst entscheiden können.
Vgl. dazu Kapitel 6, II (S. 251–307) der vorliegenden Studie.
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IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie
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IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie Gerade für die juristische Praxis ist neben der in den vorigen Abschnitten behandelten Frage nach dem Status der Menschenwürdegarantie die Frage nach deren normativem Gehalt von entscheidender Bedeutung: die Frage also, was der Menschenwürdegrundsatz in normativer Hinsicht eigentlich fordert, d. h. was er untersagt, was er gestattet und was er verbietet. Für die prinzipialistisch-reduktionistische These ist diese Frage vergleichsweise einfach zu beantworten. Soweit die Menschenwürde in subjektiv-rechtlicher Hinsicht durch die Grund- bzw. Menschenrechte gewährleistet wird, fordert der Menschenwürdegrundsatz dann nämlich nichts anderes als die Beachtung dieser Rechte gegenüber jedem, der in rechtlich und moralisch relevanter Hinsicht „Mensch“ ist. Während über die Frage, wer „Mensch“ in diesem Sinn ist, ausgiebig gestritten werden kann, wäre die Frage, was gegenüber einem Wesen, dem Menschenwürde zukommt, im Rahmen des Rechts in normativer Hinsicht gilt, damit eindeutig entschieden. Der Menschenwürdegrundsatz forderte dann nämlich schlicht die Anerkennung dieses Wesens als eines Subjekts von Menschenrechten und in der Folge die Beachtung dieser Rechte durch den Staat, das Gesetz und nicht zuletzt durch alle anderen Menschen. Für die spezifisch-rechtliche These ist jene Frage dagegen keineswegs so einfach zu beantworten. Die beiden wichtigsten Antworten, die sich innerhalb der juristischen Theoriebildung auf jene Fragen finden lassen, sind die Dürig’sche „Objektformel“ und der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“, die im Folgenden näher unter die Lupe genommen werden sollen.
1. Der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ Der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ besagt, vereinfacht gesprochen, dass der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie sich überhaupt nicht bestimmen lasse; vielmehr lasse sich nur jeweils im Angesicht eines konkreten Einzelfalls sagen, ob eine Menschenwürdeverletzung vorliegt. Sofern diese Theorie, die es innerhalb der Rechtswissenschaften zu einiger Beliebtheit gebracht hat, nun lediglich meinen sollte, dass der Gehalt eines normativen Satzes vom Charakter eines Verbots in nichts anderem und nichts mehr bestehe als in dem Verbot, das er ausspricht, und dass es mithin für die Erfordernisse der juristischen Praxis einer metaphysischen oder theologischen Definition der Menschenwürde nicht bedürfe, wäre dieser Ansatz weitgehend unproblematisch. Er würde dann freilich einer allgemeinen intensionalen Bestimmung des normativen Gehalts des Menschenwürdegrundsatzes auch in keiner Weise entgegenstehen. In der Tat versteht Dürig, auf den der Ansatz beim Verletzungsvorgang teilweise zurückgeht, diesen Ansatz offensichtlich genau in diesem Sinn, schließt er doch an die Aussage: „Der Inhalt dessen, was den unbestimmten Rechtsbegriff der
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
Menschenwürde ausmacht, lässt sich für die Rechtspraxis am besten negativ vom Verletzungsvorgang her begreifen“41 unmittelbar seine intensionale Bestimmung des normativen Gehalts von Art. 1, Abs. 1 GG durch die Objektformel an, auf die ich gleich noch zu sprechen kommen werde. Allerdings hat es den Anschein, dass in der juristischen Theoriebildung häufig mehr gemeint ist, wenn auf den „Verletzungsvorgang“ rekurriert wird, nämlich dass prinzipiell auf eine intensionale Bestimmung der Menschenwürdegarantie verzichtet werden müsse und dass für die Rechtsanwendung darauf auch verzichtet werden könne. Die Frage, ob es sich bei einer Tat um eine Verletzung der Menschenwürde – im Sinn der Verletzung eines als unantastbar gedachten speziellen Menschenwürderechts neben und über den weiteren Menschenrechten – handele, könne, so diese Auffassung, gar nicht aufgrund einer Bestimmung des normativen Gehalts der Menschenwürdegarantie entschieden werden; vielmehr könne dies nur im jeweiligen konkreten Einzelfall und aufgrund des Einzelfalls beurteilt werden. Dementsprechend wird davon ausgegangen, dass der mit einem entsprechenden Fall betraute Richter jeweils eine nichtbegriffliche, intuitive, gleichsam „höhere“ Einsicht habe in das, was eine Menschenwürdeverletzung sei: eine Einsicht freilich, die sich seltsamerweise nicht in allgemeiner Weise aussagen lässt, sondern sich nur bezogen auf den Einzelfall soll einstellen können. Der Versuch, ein gemeinsames Prinzip aller als Menschenwürdeverletzungen beurteilter Einzelfälle zu finden, wird im Rahmen des „Ansatzes beim Verletzungsvorgang“ denn auch kaum einmal gemacht und ist in der Tat von den intuitionistischen Voraussetzungen dieses Ansatzes her auch nicht sinnvoll. Wo die verfassungsrechtliche Literatur den „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ aufgreift – und das tut praktisch jeder Grundgesetzkommentar –, tritt an die Stelle einer intensionalen Bestimmung des normativen Gehalts der Menschenwürde dementsprechend die sogenannte „Beispielstechnik“42 , d. h. die bloß additive Aufzählung eines bunten Straußes vermeintlicher Menschenwürdeverletzungen. Eine gute Zusammenstellung hierzu findet sich etwa bei Hinner Schütze, der der verfassungsrechtlichen Literatur die folgenden Handlungen bzw. ihnen gegebenenfalls korrespondierenden Regelungen als innerhalb der Rechtswissenschaften konsentierte Menschenwürdeverletzungen entnimmt: Entrechtung, Erniedrigung, Versklavung, grausame Behandlung, Genozid, Zwangssterilisierung, Sippenhaft, Unterstützungsverweigerung, Misshandlung, Verfolgung, Brandmarkung, Diskriminierung, Folter, Diffamierung, Vertreibung, grausame Bestrafung und Ächtung.43
Dürig a.a.O. Rn. 28, S. 14 f. Vgl. für den Begriff der „additiven Beispieltechnik“ Höfling a.a.O. Rn. 14, S. 82. 43 Schütze, Hinner: Embryonale Humanstammzellen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der deutschen, französischen, britischen und US-amerikanischen Rechtslage. Berlin/ Heidelberg/New York 2007, S. 224. 41
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IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie
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Weiter ausgewiesen wird die Einordnung einer Handlung als Menschenwürdeverletzung dabei in der Regel allenfalls dadurch, dass innerhalb der Rechtswissenschaften angeblich ein Konsens darüber bestehe, dass es sich bei einer Handlung bzw. Regelung um eine solche handele. Geddert-Steinacher bezeichnet den „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ dementsprechend auch richtigerweise als eine „Konsensdefinition der Menschenwürde“.44 Tatsächlich wird der „Konsens“ darüber, dass es sich bei jenen Handlungen bzw. Regelungen um Menschenwürdeverletzungen handele, aber erst durch die verfassungsrechtliche Literatur selbst produziert, genauer gesagt dadurch, dass bestimmte Handlungen in solche Aufzählungen aufgenommen werden und andere nicht. Der vermeintliche „Konsens“ besteht also eigentlich in nichts anderem als der Behauptung, dass ein Konsens bestehe und ebendiese Behauptung generiert ihn erst. Die Rückversicherung in einem solchen nicht weiter begründeten, vermeintlich gegebenen, tatsächlich aber nur und erst durch die Behauptung seiner Gegebenheit konstruierten Konsens hat freilich gravierende Konsequenzen für den gesamten Ansatz. Streng genommen dürfte nämlich in dem Augenblick, in dem auch nur ein Mitglied der Rechtsgemeinschaft bei einer der genannten Fallgruppen ihre Einordnung in die Reihe der Menschenwürdeverletzungen in Frage stellt, diese Einordnung im Recht auch nicht mehr legitimerweise zur Anwendung kommen. Dabei wäre nicht einmal erforderlich, dass der Betreffende gute Gründe für seinen Widerspruch vorbringen könnte; er müsste nur überhaupt den Akt des Widersprechens vollziehen, da dann eben kein Konsens mehr bestünde. Dieser Konsequenz kann der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ letztlich nur dadurch entgehen, dass er als für den Konsens relevant nur diejenigen erklärt, die ihn faktisch teilen, oder doch zumindest nur eine ausgewählte Gruppe von Verfassungsrechtlern und Verfassungsrichtern. Das wiederum wäre aber nur ein willkürliches Diskursausschlussverfahren, d. h. eine Immunisierungsstrategie, die auch noch jegliche Mindestansprüche an eine rationale Kommunikation unterbieten würde. Das gälte zumal, wenn der Widersprechende nicht bloß faktisch widersprechen würde, sondern auch gute Gründe für seinen Widerspruch anführen könnte. Denn dann stünde diesen guten Gründen nichts entgegen als die bloße Behauptung eines nicht mit Gründen ausgewiesenen Konsenses selbsterklärter „Experten“. Dieser Befund ist umso gravierender, als der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ und die an ihn anknüpfende „Konsensdefinition“ auch ganz offenkundig auf einer Selbsttäuschung beruhen. Denn um einen konkreten Fall oder eine bestimmte Fallgruppe als Fall einer Menschenwürdeverletzung überhaupt erkennen zu können, bedarf es irgendeiner Vorstellung davon, worin der normative Gehalt des Menschenwürdeprinzips besteht, sei sie noch so vage und implizit. Der „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ verzichtet also nicht etwa auf eine Vgl. die Ausführungen bei Geddert-Steinacher a.a.O. S. 27–31.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
intensionale Bestimmung des normativen Gehalts, sondern nur darauf, diese Bestimmung explizit zu machen und rational zu rechtfertigen. Er ist damit weder mit dem Anspruch auf Rechtssicherheit noch mit dem Erfordernis vereinbar, jede Freiheitseinschränkung intersubjektiv nachvollziehbar zu begründen. Zwar hat die Rückbindung an einen tatsächlichen oder vermeintlichen Expertenkonsens die durchaus positiv zu wertende Funktion, die Anwendung des spezifisch-rechtlich verstandenen Menschenwürdegrundsatzes zumindest nicht vollständig der Willkür des einzelnen Richters und dessen privaten moralischen Intuitionen auszuliefern. Diese Willkür wird allerdings einfach ersetzt durch die Willkür einer Gemeinschaft von Verfassungsrechtlern, die auf diese Weise offensichtlich versuchen, den Menschenwürdebegriff dem rationalen Diskurs zu entziehen, da dies ihnen die Macht verleiht, das System des Verfassungsrechts nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Wenn etwa Horst Dreier die „herrschende Meinung“ betreffend den „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ folgendermaßen wiedergibt: „Der wichtigste [Vorteil] besteht darin, dass man der äußerst schwierigen Aufgabe einer – vermutlich sofort hochkontroversen – positiven Inhalts- und Begriffsbestimmung von ‚Menschenwürde‘ enthoben ist. Vielmehr argumentiert man in auffälligem Unterschied zur grundrechtsdogmatischen Strukturierung bei den Freiheitsrechten nicht vom Schutzbereich, sondern vom Eingriff her. Man fixiert also nicht erst die inhaltliche thematische Reichweite der Menschenwürde, sondern stellt eine Verletzung der Menschenwürde bei Vorliegen bestimmter einschlägiger Tatbestände bzw. Handlungsweisen fest“45 ,
so ist unmittelbar einleuchtend, dass es sich dabei damit nichts anderes als eine vornehme Umschreibung für eine durch kein geschriebenes Recht mehr gebundene Richterwillkür handelt. Indem einerseits die Menschenwürdegarantie als spezifisches subjektives Recht neben den anderen und über den weiteren Grundrechten betrachtet wird, man sich gleichzeitig aber weigert, den Schutzbereich dieses Rechts intensional zu bestimmen, wird Richtern und Verfassungsrechtlern eine Blankovollmacht ausgestellt, sich mit Berufung auf „die Menschenwürde“ über jedes geschriebene Recht hinwegzusetzen; sie werden – und zwar von sich selbst – gleichsam zu absolutistischen Souveränen ernannt, die über dem gesetzten Recht stehen. Dementsprechend liegt hierin ein wesentliches Problem im Hinblick auf zwei der grundlegendsten Forderungen des Rechtsstaatsprinzips: Willkürfreiheit und Rechtssicherheit. Von diesem grundlegenden Problem abgesehen, versagt die Konsensdefinition der Menschenwürde zudem gerade da vollständig, wo neue Fragen auftauchen, wo sich also die Frage stellt, ob ein Handlungstypus wie etwa das Klonen von Menschen, der bislang gar nicht existierte, in die Reihe der Verletzungen des „Menschenwürderechts“ der spezifisch-rechtlichen Lesart gehört oder Dreier a.a.O. S. 35.
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nicht. Wohl mag ein solcher Konsens gegebenenfalls hergestellt werden; das wiederum kann aber rational ausgewiesen nur geschehen, wenn man von einer hinreichend klaren intensionalen Bestimmung des Menschenwürdebegriffs ausgeht.
2. Die Menschenwürdegarantie als Instrumentalisierungsverbot Anders stellt sich die Sachlage bei Günter Dürigs Versuch dar, den normativen Gehalt der Menschenwürdegarantie mittels der klassisch gewordenen „Objektformel“ zu bestimmen. Dürig vertritt zwar, wie bereits oben erläutert, eigentlich die Auffassung, bei der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG handele es sich nicht um ein subjektives Recht, sondern um das Konstitutionsprinzip der Verfassung und das Prinzip der Grundrechte. In diesen konkretisiere sich die Würde des Menschen und werde juristisch operabel. Er bleibt dabei aber nicht stehen, sondern versucht, die Menschenwürde gleichwohl analog zu einem subjektiven Recht für die juristische Praxis operabel zu machen. Der theoretische Schritt, mit dem er dies vollzieht, besteht darin, jedem einzelnen Menschenrecht einen „Menschenwürdekern“ zuzusprechen, bei dessen Verletzung die Verletzung des Menschenrechts zugleich eine Verletzung der Menschenwürde darstelle. Als Kriterium dafür, wann es der Fall sei, dass eine Menschenrechtsverletzung den Charakter einer Menschenwürdeverletzung annehme, führt er die stark an Kants zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs angelehnte Objektformel in die Rechtsdogmatik ein. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde liegt nach der Objektformel immer dann vor, wenn eine Menschenrechtsverletzung derart beschaffen sei, dass durch sie „der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.46 Ausgehend von dieser Definition, hat sich in der juristischen wie in der politisch-gesellschaftlichen Debatte – unter Absehung von der ironischerweise von Dürig selbst ausgesprochenen Warnung, die Objektformel sei viel zu simplifizierend47 – vielfach die Auffassung herausgebildet, bei Art. 1 Abs. 1 GG handele es sich um etwas wie ein spezifisches „Recht auf Nichtinstrumentalisierung“ oder ein „Recht, nicht als bloßes Objekt behandelt zu werden“. In der Tat nimmt praktisch jede richterliche Entscheidung, die Art. 1 Abs. 1 GG zur Anwendung bringt, auf eine „Mittel-zum-Zweck“-Formel Bezug, um zu begründen, dass eine Handlung oder ein Gesetz einen „Verstoß gegen die Menschenwürde“ darstelle und daher jenseits aller Abwägbarkeit unzulässig sei. Handlung X oder Gesetz Y, so heißt es dann oft in direkter Kant-Paraphrase, sei ein Verstoß gegen Art.1 Abs. 1 GG, weil durch sie der Mensch „als bloßes Mittel Dürig a.a.O. Rn. 28, S. 15. Dürig leitet die Aufstellung der „Objektformel“ mit den bemerkenswerten Worten ein: „Wenn man sich bewusst ist, dass hierbei jeder Definitionsversuch naturgemäß simplifizieren muss, kann man formulieren: […]“ (Dürig a.a.O. Rn 28, S. 14 f.). 46 47
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
zum Zweck missbraucht“ oder „zum bloßen Objekt staatlichen Handelns degradiert“ würde.48 Trotz der weitgehenden Akzeptanz, die diese Auslegung der Menschenwürdegarantie gefunden hat, bringt sie doch eine schon fast unübersehbare Reihe von Problemen, Irritationen und offenen Fragen mit sich, von denen hier nur einige kurz angerissen seien. Die erste Schwierigkeit betrifft die Frage, in welchem Verhältnis der als Instrumentalisierungsverbot ausgelegte Menschenwürdegrundsatz zu einem sozialen Verständnis der Menschenwürde steht. Zum Zweiten wird gelegentlich die Frage aufgeworfen, ob nicht die Unterworfenheit des Bürgers unter Gesetz und Recht bei einer wörtlichen und strengen Lesart der Objektformel bereits eine Menschenwürdeverletzung darstellen müsste, da der Einzelne doch da, wo er gezwungen wird, dem Gesetz gemäß zu handeln, ein „bloßes Objekt staatlichen Handelns“ sei.49 Zwar wird diese Frage natürlich üblicherweise nur aufgeworfen, um sie zu verneinen; eine Begründung für dieses „Nein“ wird jedoch in der Regel nicht gegeben. Eine dritte Irritation, die immer wieder entsteht, artikuliert sich in der Frage, ob denn im Ausgang von der Objektformel ein Verbrechen, das offensichtlich zweckfrei, um seiner selbst willen begangen wird, überhaupt als Menschenwürdeverletzung betrachtet werden könne, wenn Menschenwürde doch ein Verbot des Behandelns „als bloßes Mittel zum Zweck“ zum normativen Gehalt habe. Gerade in der Bioethik-Debatte bietet diese Problematik reichlich Stoff für Argumente, denen man einen sophistischen Charakter nicht absprechen kann, etwa wenn die vermeintlich „zweckfreie“ Vernichtung eines menschlichen Embryos im Zuge eines Schwangerschaftsabbruchs als „bloßer“ Verstoß gegen das abwägbare Tötungsverbot für gegebenenfalls zulässig, seine Vernichtung zu Forschungszwecken aber als vermeintlicher Verstoß gegen die Menschenwürde für absolut untersagt erklärt wird. Legt man schließlich viertens im Sinn der spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie die Objektformel im Sinn eines absoluten und unbedingten Instrumentalisierungsverbots aus, so ergibt sich eine ganze Reihe gravierender Probleme. Denn unter der Voraussetzung dieser Lesart stünde jenes vermeintliche „Recht auf Nichtinstrumentalisierung“ sogar über dem in der Rechtsordnung als – vermeintlich – abwägbar gesetzten Recht auf Leben in allen seinen Ausprägungen. Norbert Hoerster macht vor diesem Hintergrund gegenüber der Objektformel geltend, dass es Handlungen bzw. Handlungswei48 Umfangreiche Nachweise dazu bei Höfling a.a.O. Rn. 15, S. 82 f. und bei Herdegen, Matthias: Kommentar zu Art. 1 Abs. 1, Rn. 1–121, S. 1–74. In: Maunz, Theodor/Dürig, Günter/Herzog, Roman/Scholz, Rupert u. a. (Hg.): Grundgesetz. Kommentar (Loseblattsammlung – Stand 2009). München 2009, hier: Rn. 36 (Fußnote 7), S. 26. 49 Diese Überlegung taucht als zentrales Argument auch in der einzigen höchstrichterlichen Entscheidung der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte auf, in der die Objektformel explizit kritisiert wird, dem sogenannten „Abhörurteil“ von 1970 (Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung [BVerfGE] 30, 1 vom 15.12.1970, Abs. 25).
IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie
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sen gebe, die zwar den Charakter vollständiger „Instrumentalisierung“ aufwiesen, zugleich aber dennoch ethisch völlig legitim und durch die Rechtsordnung ohne jeden Zweifel gedeckt seien. Als ein Beispiel hierfür nennt Hoerster etwa die Situation, in der ein Bootsbesitzer, der dem Ertrinken eines Kindes tatenlos zusieht, von einem Dritten mit einer Waffe gezwungen wird, zur Rettung des ertrinkenden Kindes beizutragen.50 Des Weiteren lässt sich gegen die Auslegung der Menschenwürdegarantie als eines neben und über den anderen Menschen- bzw. Grundrechten existierenden „Rechts auf Nichtinstrumentalisierung“ konstatieren, dass es eine Vielzahl von Handlungen gibt, die zwar den Charakter der – auch vollständigen – „Instrumentalisierung“ aufweisen, die aber keinesfalls in die Sphäre des Rechts fallen. So ließe sich etwa der Fall konstruieren, dass eine Person, nennen wir sie Hinz, seiner Kollegin Kunz einen Blumenstrauß aus dem einzigen Grund schenkt, seinen Chef Meyer zu beeindrucken, um auf diese Weise seine Karriere zu befördern.51 Bei dieser Handlung würde es sich zweifelsohne um eine vollständige Instrumentalisierung von Frau Kunz handeln, da es Herrn Hinz bei dieser Handlung in keiner Weise um Frau Kunz geht. In einer rein moralischen Hinsicht dürfte dieser Vorgang dementsprechend auch in der Tat eine Verletzung der Menschenwürde von Frau Kunz darstellen. Gleichwohl geht jenes Blumenschenken das Recht nichts an. Und ganz sicher ist es auch keine Handlung, von der man plausiblerweise annehmen könnte, dass ihr Verbot im Rahmen einer sogenannten „Grundrechtsabwägung“ das Verbot der Verletzung grundlegendster Rechte wie des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ausstechen könnte. Gerade wenn also man davon ausgehen würde, dass die Auslegung der Menschenwürdegarantie als eines spezifischen „Rechts auf Nicht instrumentalisierung“ neben den weiteren Grundrechten einen wahren Kern hätte, wäre es dementsprechend umso dringlicher, die Sphären des Rechts und der Moral gerade im Hinblick auf das Instrumentalisierungsverbot sauber und begründet voneinander zu unterscheiden. Schließlich und endlich steht die Bestimmung des normativen Gehalts der Menschenwürdegarantie als eines neben und über den weiteren Grund- bzw. Menschenrechten existierenden unantast50 Norbert Hoerster: Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart 2002, S. 14 f. 51 Der Einwand stammt einschließlich des Beispiels von Eric Hilgendorf (vgl. Hilgendorf, Eric: Instrumentalisierungsverbot und Ensembletheorie der Menschenwürde. In: Päffgen, Hans-Ulrich u. a. (Hg.): Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag. Berlin 2011, S. 1653–1671; hier: S. 1661 f.) Während Hilgendorf das Beispiel allerdings als generelles Argument gegen eine Auslegung des Menschenwürdegrundsatzes mithilfe des Instrumentalisierungs-Gedankens heranzieht, scheint das Problem, auf das er hinweist, eher in einer mangelnden Differenzierung zwischen der rechtlichen und der rein moralischen Dimension des Menschenwürdegrundsatzes zu liegen. In der Tat ist das Feld der möglichen Menschenwürdeverletzungen, die jenseits der Sphäre des Rechts liegen und die das Recht buchstäblich nichts angehen, weit größer als das Feld der rechtlich relevanten Menschenwürdeverletzungen.
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baren „Rechts auf Nichtinstrumentalisierung“ vor dem Problem, gerade mit der „Konsensdefinition“ der Menschenwürde häufig in einer unaufhebbaren Spannung zu stehen. So erfüllen nicht wenige derjenigen Handlungstypen, die innerhalb der Rechtswissenschaften, aber auch darüber hinaus geradezu als Paradebeispiele für Menschenwürdeverletzungen gelten, gerade nicht das Kriterium der „Instrumentalisierung“ oder es wird zumindest das Moment der „Instrumentalisierung“ nicht als dasjenige betrachtet, welches der Handlung den Charakter der Menschenwürdeverletzung verleiht. So wird beispielsweise die systematische Entrechtung der Angehörigen einer bestimmten Religions- oder Volksgruppe sicherlich kaum deshalb als Menschenwürdeverletzung betrachtet werden, weil die Angehörigen dabei „instrumentalisiert“ würden, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil sie darin nicht als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden. Was folgt aus diesen vielfältigen und aus durchaus verschiedenen Richtungen kommenden Einwänden gegen die Bestimmung des normativen Gehalts der Menschenwürdegarantie als „Instrumentalisierungsverbot“ nun? Eine denkbar radikale Schlussfolgerung zieht der bereits zitierte Norbert Hoerster, der aus dem Befund, dass rechtlich legitime Instrumentalisierungen denkbar sind, folgert, Menschenwürde könne nicht in dem Sinn verstanden werden, dass sie jegliche Instrumentalisierung verbiete, sondern nur in dem Sinn, dass sie solche Instrumentalisierungen verbiete, die illegitim seien. Das bedeute dann aber: „Das Menschenwürdeprinzip bietet für sich genommen gar keinen Maßstab mehr für legitimes Verhalten, sondern setzt für seine Anwendung ein normatives Werturteil darüber, was legitim ist, bereits voraus.“52
Damit werde „Menschenwürde“ zu einer bedenklichen „Leerformel“, die nicht nur von Richtern willkürlich mit allen möglichen persönlichen Werturteilen gefüllt werden könne, sondern das dann auch noch hinter einem „pseudoobjektiven Begriff“ verstecke.53 Norbert Hoerster geht dementsprechend sogar so weit, für die Streichung des Menschenwürdebegriffs aus dem Recht zu plädieren. Gerade wenn man eine solche radikale Konsequenz vermeiden will, ist es dringend geboten, gleich eine ganze Reihe von Festlegungen zu hinterfragen, die die „herrschende Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik vornimmt: zum einen, hinsichtlich des Status der Menschenwürdegarantie, deren spezifisch-rechtliche Lesart die logische Voraussetzung der Dürig’schen Objektformel bildet; sodann die Bestimmung des normativen Gehalts dieser Garantie im Sinne der Objektformel selbst, und schließlich die verengende Auslegung der Objektformel im Sinn eines „Instrumentalisierungsverbots“ in weiten Teilen der Rechtsprechung. Um dieses Programm durchzuführen, wird es wie Hoerster a.a.O. S. 18. Vgl. dazu Norbert Hoerster: Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde. In: Juristische Schulung 1983, Heft 2, S. 93–96. 52 53
IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie
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derum erforderlich sein, die Objektformel auf ihren offenkundigen Ursprung zurückzuverfolgen, nämlich auf die „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs bei Kant. Das soll im 4. Kapitel geschehen. Zunächst sollen aber noch einige weitere Vorschläge zur Bestimmung des normativen Gehalts des Menschenwürdegrundsatzes beleuchtet werden.
3. Weitere Bestimmungsversuche: Erniedrigungsverbot und Ensembletheorie Neben den beiden skizzierten Vorschlägen der Bestimmung des normativen Gehalts einer subjektiv-rechtlich verstandenen Menschenwürdegarantie existiert auch innerhalb der Rechtswissenschaften noch eine Reihe anderer Ansätze, die an dieser Stelle nur angedeutungsweise behandelt werden können. So versucht etwa Tatjana Hörnle, den normativen Gehalt in Anlehnung an die bereits weiter oben erwähnten Menschenwürdetheorien Avishai Margalits, Ralf Stoeckers und Peter Schabers als ein Recht zu bestimmen, nicht gedemütigt zu werden.54 Da die „Nicht-Erniedrigungs-Theorie“ der Menschenwürde an späterer Stelle im philosophischen Kontext noch einmal ausführlich thematisiert werden soll, sei dieser Ansatz hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Einen weiteren Ansatz, der im juristischen Diskurs zu einer gewissen Bedeutung gelangt ist, bilden die sogenannten „Ensembletheorien“. Diese identifizieren den praktisch-normativen Gehalt der Menschenwürdegarantie mit dem normativen Gehalt einer Reihe - eines sogenannten „Ensembles“ - besonders zentraler Grund- bzw. Menschenrechte. Obgleich dieser Vorschlag einige durchaus plausible Aspekte aufweist, krankt er doch in der konkreten Durchführung meist an zwei Mängeln. Zum einen geben die Vertreter von Ensembletheorien in der Regel weder eine Begründung dafür an, warum nun ausgerechnet die von ihnen jeweils genannten Grund- bzw. Menschenrechte das Ensemble der menschenwürderelevanten Rechte bilden sollen, noch nennen sie ein Prinzip, das es erlauben würde, einen inneren Zusammenhang zwischen den aufgezählten Rechten auszumachen. Dementsprechend scheint die Auswahl oft willkürlich, nicht selten unplausibel und häufig eher von den persönlichen oder politischen Präferenzen des jeweiligen Autors als von sachlichen Gesichtspunkten getragen. Allenfalls wird die getroffene Auswahl noch mit der weiter oben bereits skizzierten und kritisierten „Konsenstheorie“ begründet. Um ein bestimmtes Recht unter die Schutzgarantie der Menschenwürde zu subsumieren, soll es dann bereits genügen, dass das betreffende Recht „im Allgemeinen“ oder in einer historischen Perspektive mit dem Begriff der Menschenwürde in Ver-
Hörnle, Tatjana: Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2008, S. 41–61. 54
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
bindung gebracht wird. Auf dieser Grundlage führt dann etwa Dieter Birnbacher an 55 , die Menschenwürdegarantie umfasse – das Verbot von Demütigungen, die „ein gewisses Maß überschreiten“56 , – das Recht auf ein Minimum an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, – das Recht auf Hilfe in unverschuldeten Notlagen, – das Recht auf Leidensminderung und Lebensqualität, – das Recht, nicht gegen seinen Willen instrumentalisiert zu werden, dies aber wiederum nur genau dann, wenn die Instrumentalisierung mit erheblichen Schädigungen für den Betroffenen oder weiteren menschenwürderelevanten Rechtsverletzungen verbunden ist. Andere Fälle von Instrumentalisierung gelten Birnbacher demgegenüber nicht als Menschenwürdeverletzungen. Bei den damit aufgezählten Rechten nun handele es sich, so Birnbacher im Rückgriff auf die Bestimmung der Menschenwürde als „unantastbar“, um Rechte, die im Gegensatz zu allen anderen Rechten „unabwägbar“ seien. Was hieran besonders auffällt, ist, dass Birnbacher für die von ihm getroffene Auswahl an „unabwägbaren“ Rechten nicht einmal den Ansatz einer Begründung gibt und auch keinerlei Verbindung zum Inhalt des Menschenwürdebegriffs selbst herstellt. „Menschenwürde“ scheint für Birnbacher dementsprechend lediglich ein Sammelbegriff für besonders wichtige Rechte zu sein, mit dem sich sonst weiter nichts Sinnvolles verbinden lässt. Ebenso seltsam scheint es, dass fundamentale Rechte wie etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz in Birnbachers Liste nicht auftauchen. So leuchtet es überhaupt nicht ein, dass ein Mensch zwar nach Birnbachers Auffassung ein unabwägbares Recht auf Lebensqualität, nicht aber ein unabwägbares Recht auf Leben selbst haben soll. Tatsächlich schließt Birnbacher das Recht auf Leben sogar ausdrücklich aus dem von ihm genannten Rechte-Kanon aus, und zwar mit der Begründung, die Legitimität der Tötung aus Notwehr zeige, dass das Lebensrecht selbst in seiner abwehrrechtlichen Hinsicht abwägbar sei57, so als ob das für ein „Recht auf Lebensqualität“ nicht erst recht gelten müsste, wenn man denn das Notwehrrecht auf ein Abwägungsparadigma gründen wollte. Auch hier zeigt sich mithin wieder die weiter oben bereits kritisierte Verwechslung der Befugnis zur Erzwingung der Einhaltung negativer Rechtspflichten mit der Verletzung eines Rechts desjenigen, von dem der rechtswidrige Angriff ausgeht.
55 Vgl. Birnbacher, Dieter: Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar? In: Kettner, Matthias (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde. Frankfurt a.M. 2004, S. 249–271; hier: S. 255 f. 56 Birnbacher a.a.O. S. 255. 57 Birnbacher a.a.O. S. 258 f.
IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie
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Für den innerjuristischen Bereich hat Eric Hilgendorf58 einen Ansatz vorgestellt, der mit demjenigen Birnbachers strukturell identisch ist, der allerdings Birnbachers Liste „unabwägbarer Rechte“ in einigen Hinsichten modifiziert. So zählt Hilgendorf zu denjenigen Rechten, die von der Menschenwürdegarantie gemeint und daher „unabwägbar“ seien: – das Recht auf das materielle Existenzminimum, – das Recht auf minimale Freiheitsrechte, – das Recht auf Freiheit von schweren und lang andauernden Schmerzen, – das Recht auf Wahrung der Privatsphäre, – das Recht auf geistig-seelische Integrität, – das Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit, – das Recht auf minimale Achtung. Obgleich Hilgendorfs Liste – wie sich aus den Ausführungen des 6. Kapitels ergeben wird – anders als diejenige Birnbachers tatsächlich eine hohe rechtsphilosophische Plausibilität beanspruchen kann, gibt auch Hilgendorf weder eine weitere Begründung für die Auswahl genau dieser Rechte an, noch versucht er sie in irgendeiner Weise aus dem Menschenwürdebegriff selbst zu entwickeln. Stattdessen führt er lediglich an, die genannten „Elemente dürften den Kern unserer Vorstellung von menschlicher Würde ausmachen“59, um wen immer es sich bei dem damit evozierten „uns“ handeln mag. Was das in Hilgendorfs Liste fehlende Lebensrecht in seiner abwehrrechtlichen Funktion als Tötungsverbot angeht, so schließt auch Hilgendorf dies aus dem Kanon der qua Menschenwürde unantastbaren Rechte mit derselben unzulänglichen Begründung aus, die auch bei Birnbacher zu finden ist. Dieser Ausschluß ist umso merkwürdiger, als umgekehrt das Lebensrecht in seiner positivrechtlichen Dimension in der Liste durchaus auftaucht, nämlich als Recht auf Bereitstellung des materiellen Existenzminimums. Das Lebensrecht in der positivrechtlichen Dimension einer Hilfspflicht zwar als unabwägbares Recht anzuerkennen, es zugleich aber in der abwehrrechtlichen Dimension explizit aus dem Kreis der unabwägbaren Rechte auszuschließen, lässt den Leser dann allerdings nur noch ratlos zurück. Sowohl bei Birnbacher wie bei Hilgendorf funktioniert die Subsumtion der genannten Rechte unter die qua Menschenwürde absolut unantastbaren Rechte im Übrigen nur dadurch, dass in diesen Rechten selbst bereits Abstufungen und Abwägungen eingebaut sind. So soll das Freiheitsrecht bei beiden Autoren gerade nicht – was auch unplausibel wäre – uneingeschränkt unter die absolut unabwägbaren Rechte fallen, sondern jeweils nur ein Recht auf „minimale Freiheit“ 58 Vgl. Hilgendorf, Eric: Die mißbrauchte Menschenwürde – Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion. In: Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 7 (1999), S. 137–158; hier: S. 148–153. 59 Hilgendorf a.a.O. S. 148.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
umfassen. Ähnliches gilt für die meisten anderen angeführten Punkte, wie das Recht, nicht gedemütigt zu werden, oder das Recht auf Schmerzfreiheit, die für beide Autoren jeweils erst dann eine Menschenwürdeverletzung darstellen, wenn ein gewisses, bei beiden Autoren aber unbestimmt bleibendes Maß überschritten wird. Wenn das richtig wäre, dann müsste die Aufgabe einer Theorie der Menschenwürde aber doch darin bestehen dies zu klären, also gerade anzugeben, warum erst bei Überschreitung eines gewissen Maßes an Schmerzen, Demütigung oder Instrumentalisierung von einer Menschenwürdeverletzung die Rede sein könne und wie dieses Maß zu bestimmen wäre. Geschieht vor allem das Letztere nicht, so ist die konkrete Anwendung wieder in einer mit rechtsstaatlichen Prinzipien kaum vereinbaren Weise der Willkür und den Privatmeinungen der Richterinnen und Richter überlassen. Gegenüber den sich auf vermeintlich existierende Konsense oder Intuitionen berufenden Ensembletheorien Birnbachers und Hilgendorfs ist diejenige Ensembletheorie, die der Verfassungsrechtler Adalbert Podlech vorgelegt60 hat, deutlich besser, um genauer zu sein, überhaupt einmal begründet. Podlechs Überlegungen sind dezidiert kontraktualistisch, wodurch es ihm gelingt, sowohl die Auswahl der von ihm angeführten Rechte und Rechtsprinzipien zu begründen, als auch diese aus einem gemeinsamen Prinzip herzuleiten. Im Sinne seines kontraktualistischen Ansatzes bestimmt Podlech nämlich die Menschenwürde als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Zustimmung von Menschen zu der ihre Gesellschaft regelnden Ordnung und insbesondere zur Ausübung staatlicher Gewalt allein gedacht werden kann“. 61 Zu diesen Bedingungen gehört dann nach Podlech, dass der Staat sich die folgenden Rechtsprinzipien zu Eigen mache62 : – das Prinzip der Sicherung der Bedingungen der physischen Existenz (Sozialstaatsprinzip), – den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, – die Wahrung menschlicher Identität und Integrität, einschließlich des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, – die Begrenzung staatlicher Gewaltanwendung (Rechtsstaatsprinzip), – die Achtung der körperlichen Kontingenz des Menschen, einschließlich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sowie des Rechts auf Selbsttötung und einen „würdigen Tod“. Aus diesen Prinzipien leitet Podlech dann wiederum eine lange Reihe spezieller Rechte her, darunter etwa das Recht, nicht gefoltert zu werden, oder ein Recht, 60 Podlech, Adalbert: Kommentar zu Art. 1 Abs. In: Azzola, Axel/Bäumlin, Richard (Hg.): Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland [AKGG]. Neuwied, 2. Aufl. 1989, Rn. 1–82, S. 199–225. 61 Podlech a.a.O. Rn. 15, S. 206 f. 62 Siehe Podlech a.a.O. Rn. 17–59, S. 207–220.
IV. Der normative Gehalt der Menschenwürdegarantie
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nicht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft zu werden. Wenn nun auch Podlechs konkrete Herleitungen teilweise lückenhaft oder willkürlich anmuten und oft eher von dem Gedanken getragen zu sein scheinen, seine Theorie mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Übereinstimmung zu bringen, so weist sein Ansatz insgesamt doch in die richtige Richtung. Wie später zu zeigen sein wird, greift allerdings die kontraktualistische Auslegung und Begründung der genannten Prinzipien noch zu kurz und bedarf einer noch grundlegenderen Verankerung in einer Theorie der wechselseitigen Anerkennung von Menschen als Rechtssubjekten. Auf dieser Grundlage wird es dann möglich sein, die bei Podlech noch klaffenden Begründungslücken zu schließen. Insbesondere wird es aber auch möglich, einen Maßstab für die eventuelle Kritik einzelner Gerichtsentscheidungen zu entwickeln. Abgesehen von den Begründungs- und Herleitungsdefiziten, die Podlechs Ansatz noch prägen, gelingt es ihm zudem nicht wirklich, das Verhältnis der Menschenwürde zu den einzelnen aus ihr sich ergebenden Rechten hinreichend klar zu bestimmen. So schreibt er zum einen, die Menschenwürde werde „in erster Linie durch die Gesamtheit der Rechtsordnung gewährleistet“63 , was einer prinzipialistisch-reduktionistischen Position entspräche. Zugleich geht er aber davon aus, dass jeder Verstoß gegen die von ihm aus den Prinzipien direkt hergeleiteten Rechte – wie etwa das Recht, nicht gefoltert zu werden – im Sinne der spezifisch-rechtlichen Lesart unmittelbar eine, als solche dann unbedingt verbotene Verletzung der unantastbaren Menschenwürde darstellt. Hier wechselt Podlech also, ohne dies aufzuweisen, wieder zur spezifisch-grundrecht lichen Lesart, indem er neben den Schutz der Menschenwürde durch die Gesamtheit der Rechtsordnung nun plötzlich wieder spezifische Rechte stellt, die, anders als die übrigen Rechte, die jene Rechtsordnung kennt, durch die Menschenwürde vermeintlich unmittelbar geschützt werden und die daher auch, anders als die übrigen Rechte, unantastbar sein sollen. Wenn das aber der Fall ist, müsste sich zumindest die Frage stellen, in welchem Verhältnis eigentlich diejenigen Rechte, die von der Menschenwürdegarantie nicht unmittelbar geschützt werden, aber gleichwohl einen Teil der Gesamtheit der Rechtsordnung bilden, zur Menschenwürdegarantie überhaupt stehen. Was hier also gefordert wäre, wäre eine Theorie, die plausibel machen könnte, dass und warum aus dem Menschenwürdeprinzip einige Rechtspflichten als unbedingte Rechtspflichten folgen, während andere Rechtspflichten nur abwägbar und bedingt gelten. Da Podlech eine solche Theorie nicht ausführt, werden prinzipialistische und spezifisch-rechtliche Lesart auch bei ihm letztlich nicht in einer plausiblen Weise miteinander vermittelt und existieren so auch in seinem Ansatz einfach nebeneinander.
Podlech a.a.O. Rn. 79, S. 224.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
V. Kritik der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie Betrachtet man den verfassungsrechtlichen Diskurs und die einschlägige Rechtsprechung in Deutschland, so stellt man fest, dass die spezifisch-grundrechtliche Lesart dort zwar fast uneingeschränkt vorherrschend ist, zugleich aber zu einer immer größer werdenden Reihe an Aporien, theoretischen Schwierigkeiten, Widersprüchen und Unplausibilitäten führt. Angesichts dessen ist es umso verwunderlicher, mit welcher Hartnäckigkeit insbesondere von den Rechtswissenschaften an ihr festgehalten wird. Ebenso auffällig ist es, dass für sie in der verfassungsrechtlichen Literatur, noch gar in der Rechtsprechung kaum auch nur der Versuch einer Begründung unternommen wird. Vielmehr wird sie in der verfassungsrechtlichen Literatur in der Regel – zuweilen explizit, noch öfter aber einfach stillschweigend – vorausgesetzt, oder es wird die Frage nach der Alternative von prinzipialistischer und spezifisch-rechtlicher Lesart sogar gleich für irrelevant erklärt. 64
1. Begründungsdefizite Rühmliche Ausnahmen davon bilden vor allem Wolfram Höfling, Josef Isensee und Christian Starck, die die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürde nicht einfach unreflektiert voraussetzen, sondern sie auch tatsächlich zu begründen versuchen. Allerdings sind deren Begründungen letztlich zirkulär. Höfling führt für die subjektiv-rechtliche Lesart in erster Linie den Textbestand des Art. 1 GG und eine „anspruchsfreundliche Tendenz des Grundgesetzes“ an, wenn er schreibt: „Für die Grundrechtsqualität sprechen überzeugende Argumente: Ergänzt man Art. 1 I 1, indem man ihn mit S. 2 verknüpft, gewinnt man einen aussagekräftigen Rechtssatz. Danach ist aller staatlichen Gewalt die Verpflichtung auferlegt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen […] Der insoweit mit normativer Eindeutigkeit verfassungstextlich zum Ausdruck gekommenen Verpflichtung der staatlichen Gewalt korrespondiert auch eine Berechtigung des einzelnen Menschen. […] Angesichts einer verfassungsimmanent-anspruchsfreundlichen Tendenz des GG wäre es geradezu systemwidrig, die strukturgebende Fundamentalnorm der Menschenwürde allein als objektiven Rechtssatz zu interpretieren.“65
Und Starck argumentiert ähnlich, indem er bemerkt:
64 So schreibt Dreier zu dieser Frage: „Nicht einig ist sich die Staatsrechtslehre, ob die Menschenwürde selbst ein Grundrecht oder nicht eher ein Grundprinzip ist. Sie hat aber kaum praktische Relevanz und kann daher an dieser Stelle auf sich beruhen.“ (Dreier a.a.O. S. 34). 65 Höfling a.a.O Rn. 6 , S. 79.
V. Kritik der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie
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„Weil der Mensch in der Würdegarantie gerade als Subjekt geschützt ist, läuft der Zweck der Norm folgerichtig auf eine subjektiv-rechtliche Gewährleistung hinaus.“66
Josef Isensee schließlich führt aus: „[…] wäre sie [die Gewähr der Menschenwürde – d. Verf.] kein Grundrecht für sich, sondern der Grund aller Grundrechte und die objektiv-rechtliche Idee, die sich in diesen jeweils sachspezifisch verkörpert („oberstes Konstitutionsprinzip“), so bezöge sich die Schutzpflicht auf eben diese Idee.“67
Während nun die Argumentationen Starcks, Isensees und Höflings für sich genommen nicht falsch sind, leisten sie doch nicht das, was die drei Verfassungsrechtler damit geleistet zu haben beanspruchen. Nämlich zum einen, die prinzipialistische Lesart widerlegt zu haben68 , zum anderen gezeigt zu haben, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie um ein spezielles, aber zugleich unantastbares Grundrecht handelt, dem spezifische Verletzungstatbestände wie Folter, Todesstrafe, die instrumentalisierende Forschung an und mit embryonalen Stammzellen, die Verweigerung des Existenzminimums etc. entsprechen. 69 Tatsächlich haben Starck, Höfling und Isensee vielmehr lediglich gezeigt, dass die Menschenwürdegarantie gemäß dem Textbestand des Art. 1 GG als etwas verstanden werden muss, das überhaupt subjektiv-rechtliche Ansprüche begründet. Das aber ist in der Kontroverse zwischen prinzipialistischer und spezifisch-grundrechtlicher Lesart, wie sie weiter oben skizziert wurde, gar nicht umstritten. Umstritten ist vielmehr, ob dieser subjektiv-rechtliche Anspruch mit der Gesamtheit derjenigen subjektiv-rechtlichen Ansprüche identisch ist, die durch die Grund- bzw. Menschenrechte gewährleistet werden (prinzipialistische These), oder ob er sich daneben und darüber hinaus noch auf bestimmte Tatbestände bezieht, die dann von der Menschenwürdegarantie selbst unmittelbar und unbedingt untersagt würden (spezifisch-rechtliche These). Letzteres aber haben die zitierten Verfassungsrechtler, entgegen ihrer eigenen Meinung, gerade noch nicht gezeigt, wenn sie gezeigt haben, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes überhaupt subjektive Rechte impliziert. Ihr Argumentationsergebnis beruht demnach alleine auf der petitio principii, dass die subjektiv-rechtlichen Implikationen der Menschenwürdegarantie im spezi Starck a.a.O. Rn. 30, S. 43. Isensee, Josef: Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht. In: Isensee, Josef/Kirchhoff, Paul: Handbuch des Staatsrechts Bd. IX: Allgemeine Grundrechtslehren. Heidelberg, 3. Aufl. 2011, S. 413–568; hier Rn. 172, S. 494. 68 So schreibt Höfling: „Der Menschenwürdegarantie […] wird [seitens der Gegner der subjektiv-rechtlichen Auffassung – Anm. d. Verf.] lediglich zugebilligt, wertausfüllender Interpretationsmaßstab und „Recht auf Rechte“ (Enders), ‚Grund der Grundrechte‘ (Isensee), objektives Grundprinzip (Dreier), oberstes Verfassungsprinzip (Brugger) oder Fundamentalsatz zu sein, nicht aber eine individuelle Rechtspositionen vermittelnde Grundrechtsbestimmung. Aus den vorstehend (Rn. 6) dargelegten Gründen ist indes an der Gegenauffassung festzuhalten.“ (Höfling a.a.O. Rn. 7, S. 79 f.). 69 Vgl. dazu Höfling a.a.O. Rn. 19 - 32, S. 84–88. 66 67
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
fisch-rechtlichen Sinn einer unantastbaren Rechtsgarantie mit speziellen Tatbeständen zu verstehen sei. Es wird also letztlich vorausgesetzt, was bewiesen werden soll. Dieser Befund erlaubt es zugleich, eine wichtige Klarstellung hinsichtlich dessen vorzunehmen, was die prinzipialistisch-reduktionistische Position eigentlich genau zurückweist. Eine prinzipialistische Lesart der Menschenwürde muss nämlich keineswegs bestreiten, dass sich aus der Menschenwürdegarantie bestimmte Rechte, eben die Gesamtheit der Grundrechte, herleiten lassen. Ganz im Gegenteil ist dies sogar in nahezu allen Varianten der prinzipialistischen Lesart impliziert, sieht man einmal von den ganz minimalistischen Varianten ab, die im Menschenwürdebegriff lediglich die Anzeige des Status eines Rechtssubjekts sehen. Sie bestreitet aber durchaus, dass die Menschenwürde spezielle Rechte – wie etwa ein spezielles Recht, nicht gefoltert zu werden, ein spezielles Recht, nicht gedemütigt zu werden, oder ein spezielles Recht auf eine Mindestgröße bei Gefängniszellen – neben den „sonstigen“ Grundrechten garantiere, das als „unantastbar“ zugleich über den vermeintlich „antastbaren“ weiteren Grund- bzw. Menschenrechten stünde. Was die die spezifisch-rechtliche Lesart ausmacht, ist die Tatsache, dass sie, um bei einem der genannten Beispiele zu bleiben, das Recht, nicht gefoltert zu werden, aus dem Geltungsbereich des – nach herrschender Meinung ja abwägbaren – Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gleichsam herausschneidet und in den Geltungsbereich eines vermeintlichen „Menschenwürderechts“ verschiebt, welches das Verbot der Folter dann unbedingt und zugleich unmittelbar garantieren soll. Das eigentliche Motiv dieser Operation besteht, wie schon gezeigt, darin, dass man vor dem Hintergrund der vermeintlichen Abwägbarkeit aller Grundrechte, und seien sie so fundamental wie das Lebensrecht, keine andere Möglichkeit zu sehen scheint, bestimmte negative Pflichten als unbedingt auszuzeichnen, als dadurch, dass man sie einem vermeintlich unabwägbaren „Menschenwürderecht“ zuordnet. Auch hieran zeigt sich wieder, dass die Menschenwürdegarantie innerhalb des Grundgesetzes im Wesentlichen die Funktion eines Korrektivs der vermeintlichen Abwägbarkeit und Aufhebbarkeit aller Grundrechte einnimmt und nur als Gegengewicht zu dieser konsequentialistisch-utilitaristischen Abwägungstheorie überhaupt verständlich zu machen ist.
2. Menschenwürde gegen Menschenwürde Ein zweites, vielleicht das gravierendste Problem der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie liegt darin, dass diese Lesart dem – von ihren Verfechtern in der Regel ebenfalls vertretenen – Theorem der Unantastbarkeit im weiter oben skizzierten Sinn unmittelbar logisch widerspricht. Geht man nämlich davon aus, es handele sich bei der Menschenwürdegarantie um ein spezielles subjektives Grundrecht, und legt man des Weiteren die von der „herr-
V. Kritik der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie
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schenden Meinung“ vertretene Konzeption der äußerlichen Grundrechtekollision zu Grunde, so sind unvermeidlich Konstellationen denkmöglich, in denen die Menschenwürde eines Subjekts mit der Menschenwürde eines anderen Subjekts „kollidiert“. In derartigen Konstellationen würden dann aber unter der Voraussetzung, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie um ein eigenständiges Grundrecht neben und über den „weiteren“ Grundrechten handelt, zwei absolut unabwägbare und unantastbare Rechte miteinander kollidieren. Die Voraussetzung des spezifisch-grundrechtlichen Charakters der Men schenwürde führt damit in ein Dilemma, aus dem es nur zwei mögliche Auswege gibt: entweder muss die Unabwägbarkeit und Unantastbarkeit des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ aufgegeben werden, oder es muss die Voraussetzung aufgegeben werden, auf der das Dilemma beruht, also die These vom subjektiv-grundrechtlichen Charakter der Menschenwürde. Genau die erste Konsequenz hat nun Winfried Brugger explizit in seiner Verteidigung der sogenannten „Rettungsfolter“ gezogen. Die Fallkonstellation ist dabei die folgende: Ein Verbrecher bedroht, während er sich schon in der Hand der Polizei befindet, durch sein Handeln immer noch das Leben eines oder mehrerer unschuldiger Menschen. Sei es etwa, dass er an einer belebten Stelle eine mit Zeitzünder versehene Bombe versteckt hat, deren Aufenthaltsort er nicht preisgeben will70 , sei es, dass er einen Menschen entführt hat und an einem Ort gefangen hält, an dem dieser innerhalb der kommenden Stunden oder Tage ersticken und/oder verdursten wird. Die Frage, die sich im Rahmen der spezifisch-rechtlichen Auslegung dann stellt ist, ob es in dieser Konstellation mit der Menschenwürdegarantie vereinbar ist, den mutmaßlichen Täter zu foltern bzw. ihm Folter anzudrohen, um von ihm das Versteck der Bombe oder des Entführten zu erfahren und auf diese Weise das Leben seiner Opfer vor seiner rechtswidrigen Handlung zu retten.71 Die damit aufgeworfene theoretische Frage wurde vor einigen Jahren unversehens zu einer ganz praktischen Frage, als der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner von Magnus Gäfgen, dem geständigen Entführer eines 11-jährigen Kindes, mittels einer Folterandrohung versuchte, eine nach damaligem Ermessen vermutlich lebensrettende Auskunft über den Verbleib seines Opfers zu erzwingen. Brugger nun schlägt vor, Menschenwürde in solchen Konflikten, in denen vermeintlich „Würderecht gegen Würderecht“ steht, durch zusätzliche Kriterien näher zu qualifizieren und damit im Sinn der verbreiteten Grundrechtsdogmatik „abwägbar“ zu machen. Einschlägig als ein 70 Das Gedankenexperiment formuliert Winfried Brugger in Brugger, Winfried: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? In: Juristenzeitung (JZ) 55 (2000), S. 165–173; hier: S. 165 f. 71 Für eine ausführliche Erörterung dieser Fallkonstellation aus der Perspektive des kantischen Menschenwürdebegriffs Rothhaar, Markus: Menschenwürde und Nothilfe. Eine Verteidigung der Rettungsfolter aus dem Geist des Menschenwürdeprinzips. In: Furtmayr, Holger/Krása, Kerstin/Frewer, Andreas (Hg.): Folter und ärztliche Verantwortung. Göttingen 2009, S. 181–202.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
solches zusätzliches Kriterium ist nach Bruggers Konzeption dann in erster Linie, wer in einer solchen Konstellation Täter und wer Opfer ist. Damit widerspricht er der gängigen rechtsdogmatischen Auflösung des Konflikts, die einen Vorrang der negativen Pflicht des Staates, die Menschenwürde des Täters nicht zu verletzen, vor der vermeintlich bloßen Hilfspflicht des Staates, die Menschenwürde des Opfers vor den Übergriffen durch den Täter zu schützen, behauptet. Die letztgenannte „gängige“ Auffassung, die mehr oder weniger der „herrschenden Meinung“ in den deutschen Rechtswissenschaften entspricht, bringt Jochen von Bernstorff in einer ausführlichen verfassungsrechtlichen Analyse der Problematik „Würderecht gegen Würderecht“ im Hinblick auf die „Rettungsfolter“-Konstellation präzise zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Ein unbedingter Vorrang der Achtungspflicht sollte – so die im Folgenden zu begründende These – dann angenommen werden, wenn die Verletzung der Achtungspflicht zugleich eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG darstellt. In diesen Fällen hat der Verfassungsgeber eine Vorentscheidung getroffen, die eine Abwägung zwischen der Achtungspflicht einerseits und der Schutzpflicht andererseits nicht mehr zulässt. Wenn die Verletzung der Achtungspflicht auch eine Verletzung der Menschenwürde des Grundrechtsträgers darstellt, gilt ein unbedingter Vorrang der Achtungspflicht vor der konkurrierenden grundrechtlichen Schutzpflicht.“72
An dieser Aussage fallen drei Punkte auf: Zum Ersten wird augenscheinlich die spezifisch-subjektivrechtliche Auslegung der Menschenwürdegarantie zugrunde gelegt. Zum Zweiten wird die Folterandrohung auch in der Fallkonstellation der sogenannten „Rettungsfolter“ ohne weitere Begründung als Menschenwürdeverletzung verstanden, obwohl dies keineswegs selbstverständlich ist. Drittens, und das ist für den gegenwärtigen Stand unserer Erörterung der eigentlich zentrale Punkt, wird ganz offenkundig die Menschenwürdegarantie in einer bestimmten Hinsicht hierarchisiert und in ihrer absoluten Geltung aufgehoben, indem die staatliche Pflicht, die Menschenwürde vor Übergriffen Dritter zu schützen, als prinzipiell nachrangig gegenüber der staatlichen Pflicht behauptet wird, die Menschenwürde zu achten. In diesem Zusammenhang unterstellt Bernstorff dem Verfassungsgeber zudem, er habe eine Vorentscheidung zugunsten der Achtungspflicht getroffen73. Dabei bleibt aber schon unklar, wo der 72 von Bernstorff, Jochen: Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie. Zum Vorrang staatlicher Achtungspflichten im Normbereich von Art. 1 GG. In: Der Staat 2008, S. 21–40. 73 Dieselbe apodiktische Behauptung findet sich auch bei Hans Jörg Sandkühler, der wie von Bernstorff gegen Brugger einwendet, dass in der Perspektive des Menschenwürdebegriffs „der Schutz vor dem Staat Vorrang vor dem Schutz durch den Staat hat […]“ (Sandkühler, Hans Jörg: Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz des Menschen. Freiburg/München 2014, S. 314). Statt einer Begründung verweist Sandkühler darauf, dass dies nun einmal durch das positive Verfassungsrecht so festgelegt worden sei und dass Ethik und Rechtsphilosophie das hinzunehmen und nicht zu kritisieren hätten (Sandkühler a.a.O. S. 314) - ohne freilich anzugeben, wo diese Festlegung im positiven Recht getrof-
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Verfassungsgeber dies vermeintlich getan haben soll, denn Art. 1 GG, der hierfür einschlägig wäre, enthält eine solche Vorentscheidung jedenfalls nicht, sondern führt vielmehr Achtungs- und Schutzpflicht gerade als gleichwertige Verpflichtungen des Staates auf. Zwar kann man zu Recht sagen, dass die Konstatierung einer grundsätzlichen Nachrangigkeit bestimmter Typen von Pflichten nicht das Resultat einer „Abwägung“ darstellt, sofern darunter eine Güterabwägung in dem bereits weiter oben kritisierten Sinn verstanden wird. In der Tat ist von Bernstorffs Argumentation insofern auch konsistent, als er an keiner Stelle die „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde behauptet, sondern lediglich ihre „Unabwägbarkeit“. Das ändert aber nichts an dem hier wesentlichen Punkt, dass die Menschenwürde ganz offensichtlich auch von Bernstorff in Fällen eines vermeintlichen Konflikts „Würderecht gegen Würderecht“ nicht als unantastbar gesetzt wird. Als wirklich unantastbar gilt sie Bernstorff – und ebenso der „herrschenden Meinung“, auch wenn dies meist nicht klar artikuliert wird – vielmehr nur, sofern sie sich als staatliche Achtungspflicht darstelle, nicht aber, sofern sie eine staatliche Schutzpflicht bilde. Eine prinzipielle Unantastbarkeit des spezifisch-rechtlich verstandenen „Menschenwürderechts“ wird damit aber natürlich ebenso verneint wie bei Brugger. Es ist vor diesem Hintergrund durchaus befremdlich, dass der Ansatz Bruggers die heftigste Kritik ausgelöst hat, während die von Bernstorff exemplarisch formulierte „gängige“ Auflösung des Dilemmas kaum je Empörung hervorruft. Befremdlich ist dieses „Empörungsungleichgewicht“ insofern, als die logisch-normative Struktur der Auflösung des Dilemmas in beiden Fällen exakt dieselbe ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde wird sowohl in Bruggers Lösung als auch in der Lösung, für die Bernstorffs Überlegungen stellvertretend stehen mögen, negiert, indem jeweils zusätzliche Bewertungs- und Gewichtungskriterien dafür eingeführt werden, wessen Menschenwürde notfalls zurückstehen müsse. Der Unterschied zwischen Bruggers Lösung und der Lösung der „herrschenden Meinung“ besteht lediglich darin, welche Zusatzk riterien eingeführt werden. Bei Brugger bestehen diese Zusatzkriterien in der aus der klassischen Notwehrtheorie stammenden Unterscheidung zwischen dem rechtswidrigen Angreifer und seinem Opfer; in der „herrschenden Meinung“ bestehen sie in der Unterscheidung zwischen staatlicher Achtungs- und staatlicher Schutzpflicht. Wenn das aber der Fall ist, kann – geht man von einer spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie aus – redlicherweise nicht das „Ob“ der „Antastbarkeit“ Gegenstand einer Kontroverse sein, sondern nur die Kriterien, nach denen diese durchgeführt wird. Anders als die prinzipialistische Lesart führt die spezifen worden sein soll und warum ethisches und rechtsphilosophisches Nachdenken überhaupt durch einen bloßen Verweis auf positives Recht sollten zum Schweigen gebracht werden können.
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
fisch-rechtliche Lesart also logisch unvermeidlich dazu, die Unantastbarkeit der Menschenwürdegarantie aufgeben zu müssen. Erschwert wird die Erörterung der Problematik freilich dadurch, dass in der Diskussion meist zwei gänzlich verschiedene Kategorien von Kriterien miteinander vermengt werden. So verweist die Unterscheidung von „Täter“ und „Opfer“, die Brugger vorschlägt, auf die Problematik von Notwehr bzw. Notwehrhilfe und damit letztlich auf die Frage nach der Befugnis zur Erzwingung der Einhaltung von Rechtspflichten.74 Die Unterscheidung von Abwehr- und Anspruchsrecht bzw. Achtungs- und Schutzpflicht verweist demgegenüber auf das Verhältnis positiver und negativer Pflichten, das zu dem Verhältnis von Rechten und staatlichen Zwangsbefugnissen zur Erzwingung der Beachtung von Rechten eigentlich quer liegt. Beide Axiologien müssen sich daher auch überhaupt nicht ausschließen. Vielmehr ist es durchaus widerspruchsfrei denkbar, beide gleichzeitig zu akzeptieren, d. h. sowohl den Vorrang von Abwehr- gegenüber Anspruchsrechten, als auch die normative Identität von Rechten und Befugnissen, die Beachtung von Rechten zu erzwingen. Die folgenden Überlegungen bedeuten dementsprechend auch keinesfalls, dass der Grundsatz des Vorrangs von Abwehr- vor Anspruchsrechten bestritten würde. Zum einen bedarf dieser Vorrang allerdings erst noch einer Begründung, und zum anderen muss sichergestellt werden, dass die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten bzw. Abwehr- und Anspruchsrechten auf der einen Seite nicht mit derjenigen zwischen negativen Pflichten und Zwangsbefugnissen zur Durchsetzung negativer Pflichten auf der anderen Seite verwechselt wird, wie es der „herrschenden Meinung“ im Hinblick auf die Menschenwürde fast durchgängig unterläuft. Ein augenfälliges Beispiel für eine solche Verwechslung findet sich außer beim Fall der sogenannten „Rettungsfolter“ gelegentlich auch bei einigen Versuchen einer verfassungsrechtsdogmatischen Auflösung der Abtreibungsproblematik. Eine solche Auflösung deutet beispielsweise Höfling in seinem Grundgesetz-Kommentar an. Höfling nämlich geht darin einerseits davon aus, dass ungeborene menschliche Lebewesen ab der Zeugung Träger von Menschenwürde und Menschenrechten sind.75 Ist das aber der Fall, dann muss jeder Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich eine Verletzung der Menschenwürde des Ungeborenen darstellen, gleichgültig ob man nun davon ausgeht, dass es 74 Dass Brugger seinen eigenen Vorschlag konsequentialistisch missversteht (vgl. Brugger, Winfried: Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006, S. 9 –15), obgleich jene Zwangsbefugnis sinnvoll nur im Rahmen einer deontologisch konzipierten Rechtsphilosophie gedacht werden kann und Brugger eigentlich auch genau in diesem Sinn argumentiert, ist bezeichnend für die gesamte konsequentialistische Fehldeutung fundamentaler Rechte durch die in Deutschland vorherrschende Verfassungsrechtsdogmatik, der auch Brugger an dieser Stelle letztlich verhaftet bleibt. 75 Höfling a.a.O. Rn. 52–63, S. 94–98. Auf die genaue Begründung dieser Position muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.
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sich bei der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes um das Prinzip der Menschenrechte einschließlich des Lebensrechts oder um ein spezifisches Grundrecht neben anderen handelt. Höfling zieht diese Konsequenz zwar nicht explizit, führt aber an, man könne hier „einen Konflikt ‚Würde gegen Würde‘ annehmen“.76 Während nun einigermaßen klar ist, dass und warum eine Abtreibung unter der Voraussetzung, dass dem menschlichen Embryo Menschen würde zukäme, einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie darstellen würde, bleibt zunächst völlig unklar, warum ein strafbewehrtes Verbot der Abtreibung ebenfalls eine Verletzung der Menschenwürde, in diesem Fall der Menschenwürde der Schwangeren, darstellen sollte. Höfling gibt hierfür nur die vage Andeutung, dass es sich um einen „Konflikt ‚im Körper der Frau‘, den der Staat nicht zwangsweise zu deren Lasten entscheiden darf“77 handele. Eine nähere Begründung für diese Aussage gibt Höfling freilich nicht. Er führt dann aber in der Fußnote aus: „Selbst wenn man insoweit einen Konflikt ‚Würde gegen Würde‘ annehmen wollte, verwehrt die Asymmetrie von abwehrrechtlichen Unterlassungspflichten und Schutzpflichten den staatlichen Eingriff [d. h. ein strafbewehrtes Verbot der Abtreibung – Anm. d. Verf.].“78 Höfling geht hier also offensichtlich davon aus, dass zum einen ein Verbot der Abtreibung auch dann eine Verletzung der Menschenwürde der Schwangeren darstelle, wenn es sich bei diesem Verbot um ein Verbot der vorsätzlichen Tötung eines Menschenwürde- und Menschenrechtssubjekts handelt. Zweitens geht er offensichtlich davon aus, dass die Pflicht des Staates, Menschenwürdeverletzungen zu verbieten, lediglich den normativen Rang einer Hilfspflicht habe. Hilfspflichten aber wären, jedenfalls im Rahmen eines deontologischen Normativitätsmodells, Unterlassenspflichten generell nachgeordnet. Höfling geht also wie Bernstorff davon aus, dass der Pflicht des Staates, Menschenwürdeverletzungen zu verbieten, eine negative Pflicht des Staates übergeordnet sei, die Menschenwürde seinerseits nicht durch das Verhindern von Menschenwürdeverletzungen zu verletzen. Das hätte freilich, denkt man es konsequent zu Ende, zur Folge, dass der Staat eigentlich gar keine Einhaltung von Rechtspflichten mehr erzwingen dürfte, da der potentielle Straftäter durch derartige Verbote vermeintlich immer „als bloßes Mittel zum Zweck“ der Beachtung der Rechte der anderen „benutzt“ würde. Während nun vermutlich jeder juristisch nicht Vorgebildete diese Überlegungen intuitiv als verfehlt einschätzen würde, ist es in rechtsphilosophischer Hinsicht nicht ganz einfach zu sagen, worin der Denkfehler eigentlich genau besteht. Tatsächlich ist der Schlüssel dafür in der zweiten Prämisse zu suchen: in der These nämlich, dass der Staat beim Verbot der Verletzung von negativen Höfling a.a.O. Rn. 26 (Fußnote 105), S. 86. Höfling a.a.O. Rn. 26, S. 86. 78 Höfling a.a.O. Rn 26 (Fußnote 105), S. 86. 76
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Rechtspflichten einer Pflicht nachkomme, die nur den Rang einer Hilfspflicht bzw. eines Anspruchsrechts habe. Richtigerweise stellt die staatliche Befugnis, die Verletzung von Abwehrrechten – wie sie z. B. mit der Tötung eines Unschuldigen realisiert wird – zu verbieten, aber gerade nicht eine Pflicht von der Art einer Hilfspflicht dar, sondern bildet die jedem Recht analytisch korrespondierende Befugnis, die Beachtung dieses Rechts zu erzwingen. Kant, der diesen Zusammenhang in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“ präzise entfaltet, führt dazu aus: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“79
Wenn das aber der Fall ist, und wenn es sich bei der Verletzung der Menschenwürde tatsächlich um die Verletzung eines spezifischen subjektiven Rechts handelt, so liegt Höflings verfassungsrechtsdogmatischer Auflösung der Abtreibungsproblematik, ebenso wie Bernstorffs Auflösung der „Rettungsfolter“-Problematik offenkundig das systematische Missverständnis zu Grunde, bei Zwangsbefugnissen zur Durchsetzung der Beachtung von Abwehrrechten handele es sich um Pflichten von der Art einer Hilfspflicht, also gewissermaßen um „staatliche Tugendpflichten“. Genau das sind die staatlichen Befugnisse zur Erzwingung der Einhaltung rechtlicher Unterlassenspflichten aber nicht. Vielmehr stehen sie, da sie sich ja analytisch aus den Abwehrrechten ergeben, in der Rangordnung der Pflichten auf exakt derselben Stufe wie die Abwehrrechte. Sie sind gleichsam nur der andere Aspekt der Abwehrrechte selbst und insofern mit diesen in normativer Hinsicht identisch. Im Gegensatz zu Hilfspflichten, die negativen Pflichten in der Tat nachgeordnet wären, sind die Zwangsbefugnisse also gerade nicht nachrangig gegenüber Abwehrrechten gegen den Staat. Vermeintliche Konflikte „Würderecht gegen Würderecht“ können dementsprechend rechtsdogmatisch auch gerade nicht dadurch aufgehoben werden, dass eine Nachrangigkeit einer vermeintlich bloßen „Hilfspflicht“, die Unterlassung von Menschenwürdeverletzungen strafrechtlich zu erzwingen, gegenüber der negativen Pflicht des Staates, selbst keine Menschenwürdeverletzungen vorzunehmen, behauptet wird. Beide Formen staatlicher Pflichten – die Pflicht, selbst keine Rechtsverletzungen zu begehen, und die Pflicht, Rechtsverletzungen durch Dritte zu unterbinden – sind vielmehr in normativer Hinsicht exakt Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 231.
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gleichrangig, da es sich in beiden Fällen um Pflichten vom normativen Status der Unterlassenspflichten handelt. Das bedeutet freilich – dies nur in Parenthese gesagt – für eine rechtsdogmatische Konstruktion der Abtreibungsproblematik, wie wir sie bei Höfling angedeutet finden, unter anderem, dass bereits die Einschätzung fragwürdig wird, wonach ein strafbewehrtes Abtreibungsverbot auch dann eine Menschenwürdeverletzung wäre, wenn es sich bei einem menschlichen Embryo oder Fötus um einen Träger von Menschenwürde und Menschenrechte handeln würde. Denn genau dann, wenn es sich bei ungeborenen menschlichen Lebewesen um Menschenwürdesubjekte handelt, ist das Verbot ihrer Tötung mit der abwehrrechtlichen Dimension ihres Lebensrechts und damit ihrer Menschenwürde in der skizzierten Weise normativ identisch. Da weiterhin die Freiheitsrechte eines Menschen von vornherein kein Recht implizieren, das Lebensrecht eines anderen Menschen zu verletzen80 , kann auch das Verbot einer solchen Verletzung des Lebensrechts prinzipiell keine Menschenwürdeverletzung sein: ganz einfach, weil ein Recht, das nicht existiert, auch nicht verletzt werden kann. Genau dann, wenn es sich bei ungeborenen menschlichen Lebewesen um Träger von Menschenwürde und Menschenrechten handelte, gäbe es also schon alleine deshalb keinen Konflikt „Würderecht gegen Würderecht“, weil ein – auch strafbewehrtes – Verbot des Schwangerschaftsabbruchs in diesem Fall a priori keine Verletzung von irgendjemandes Rechten darstellen könnte. Wenn dementsprechend Höfling schreibt: „Indem der schützende Staat im Interesse des Opfers den Störer in die Schranken weist, greift er zugleich in die Rechtssphäre des Störers ein“81, kann das eigentlich nur als komplett widersinnig bezeichnet werden. Denn einen Eingriff in die Rechte des „Störers“ könnte die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs nur dann darstellen, wenn der Angreifer ein Recht hätte, die Rechte seines Opfers zu verletzen. Damit würde aber der logische Widersinn eines „Rechts auf die Verletzung der Rechte anderer“ behauptet. Die voranstehenden Erörterungen anhand zweier paradigmatischer Fallkonstellationen eines vermeintlichen Konflikts „Würderecht gegen Würderecht“ zeigen mithin deutlich, dass die gängige Auflösung derartiger Konflikte auf der Basis eines Vorrangs von negativen vor positiven Pflichten des Staates schon deshalb nicht trägt, weil sie auf einer rechtsphilosophisch nicht haltbaren, systematischen Verwechslung von staatlichen Zwangsbefugnissen zur Erzwingung der Beachtung negativer Rechtspflichten mit Pflichten von der Art und Der Verzicht auf ein strafbewehrtes Abtreibungsverbot ist daher – das sei an dieser Stelle nur obiter dictum gesagt – prinzipiell mit der Auffassung unvereinbar, bei ungeborenen menschlichen Lebewesen handele es sich um Träger von Menschenwürde und Menschenrechten. 81 Höfling, Wolfram: Die Abtreibungsproblematik und das Grundrecht auf Leben. In: Thomas, Hans/Kluth, Winfried (Hg.): Das zumutbare Kind. Herford/Stuttgart/Hamburg 1993, S. 119–144. 80
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dem Rang von Hilfspflichten beruht. Und selbst wenn eine solche Verwechslung haltbar wäre, würde das nichts daran ändern, dass die Verfechter einer spezifisch-rechtlichen These offenkundig nicht zugleich die These der Unan tast barkeit dieser spezifisch-rechtlich verstandenen Menschenwürdegarantie aufrechterhalten können, da sie dann zumindest jene positive staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwürde als grundsätzlich „antastbar“ setzen müssten. Die spezifisch-rechtliche These und die These der Unantastbarkeit der Menschenwürde stehen damit unmittelbar im Widerspruch zueinander. Nur eine von beiden kann aufrechterhalten werden. Wenn von der „herrschenden Meinung“ das Gegenteil behauptet wird, so ist dies nur möglich, indem zwar de facto die Unantastbarkeit der Menschenwürde aufgehoben, diese Aufhebung aber zugleich mit rhetorischen Mitteln verschleiert wird.
3. Menschenwürde gegen Lebensrecht Neben dem Umstand, dass eine spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürde logisch unvermeidlich zur Möglichkeit einer Kollision „Menschenwürde gegen Menschenwürde“ führt, führt die spezifisch-rechtliche Lesart auch zu mehr als kontraintuitiven Konsequenzen, wenn das vermeintlich spezifische „Recht auf Menschenwürde“ vermeintlich mit anderen höchstrangigen Rechten, allen voran dem Lebensrecht, „kollidiert“. Es ist an dieser Stelle noch einmal sinnvoll, sich vor Augen zu führen, dass bereits die Vorstellung einer solchen Kollision tatsächlich nur unter der Voraussetzung einer irgendwie gearteten spezifisch-rechtlichen Lesart einen Sinn ergibt. Geht man demgegenüber von einer prinzipialistischen Lesart aus, so entsteht das Problem überhaupt nicht, da die Menschenwürde dann ebenso das Prinzip und den Geltungsgrund des Lebensrechts, wie auch der übrigen Grund- bzw. Menschenrechte bildet. Als Prinzip der Rechte hätte sie dann aber selbst nicht den Charakter eines spezifischen Rechts und könnte daher auch mit anderen Rechten nicht „kollidieren“. Geht man allerdings von einer spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie aus, so verbirgt sich unter der Voraussetzung der absoluten Unantastbarkeit des so vermeinten „Menschenwürderechts“ hier in der Tat ein brisantes Problem, da die inhaltlich weitgehend unbestimmte Menschenwürde dann herangezogen werden kann, um jedes beliebige andere Grundrecht – und handele es sich um ein so fundamentales Recht wie das Lebensrecht – auszuhebeln. Obgleich die skizzierte Problematik mithin für alle Grund- bzw. Menschenrechte gilt, sei zur Erörterung der Problematik im Rahmen der vorliegenden Untersuchung das Lebensrecht herausgegriffen. Zum einen, weil die Konsequenzen der spezifisch-rechtlichen Theorie hier als besonders kontraintuitiv ins Auge fallen, jedenfalls soweit es um die abwehrrechtliche Kernausprägung des Lebensrechts als Verbot der vorsätzlichen Tötung Unschuldiger außerhalb
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von Notwehr- und Nothilfesituationen geht. 82 Sodann, weil die Problematik in den faktisch geführten Diskursen zumeist eben anhand des Lebensrechts erörtert wird, so dass hier auf den größten Bestand an Literatur zurückgegriffen werden kann. Und drittens schließlich, weil sich im Zusammenhang des Lebensrechts die zusätzliche Schwierigkeit ergibt, dass das Leben offenkundig die Voraussetzung jeglicher Menschenwürde darstellt und daher eigentlich doch in jeder denkbaren Hierarchie von Rechten über dieser stehen müsste, wenn es sich denn bei der Menschenwürdegarantie um ein spezifisches Recht handeln würde. Den ersten der genannten Aspekte hat vor allem Norbert Hoerster in seiner bereits weiter oben dargelegten Kritik der Menschenwürdegarantie betont. Zwar wendete diese Kritik sich insbesondere gegen die Auslegung dieser Garantie als spezifisch-rechtliches „Intrumentalisierungsverbot“, doch gleichwohl gilt sie mutatis mutandis für alle spezifisch-rechtlichen Lesarten der Menschenwürdegarantie, die dem vermeintlichen speziellen Menschenwürderecht zugleich den Status eines unantastbaren, d. h. im Konfliktfall alle anderen Grundbzw. Menschenrechte übertrumpfenden „Super“-Rechts zusprechen. 83 Legte man beispielsweise mit Peter Schaber, Ralf Stoecker, Tatjana Hörnle und anderen84 die Menschenwürdegarantie als ein Verbot der Demütigung oder Erniedrigung aus, so würde dies unter den Voraussetzungen der „herrschenden Meinung“ der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik nichts weniger bedeuten, als dass es ein „unantastbares“ Recht auf Nichtdemütigung gäbe, das im Konfliktfall sogar das Lebensrecht in seiner abwehrrechtlichen Kernausprägung als Verbot der Tötung Unschuldiger übertrumpfen würde. Was das bedeutet, lässt sich leicht verdeutlichen, wenn man sich eine Situation vorstellt, in der sich eine Person A aus einer gegenwärtig andauernden Demütigung durch B nur durch die Ermordung eines unbeteiligten Dritten C befreien könnte. Fasst man nun die Menschenwürdegarantie als ein unantastbares subjektives Recht auf Nichtdemütigung auf und stellt man dieses Recht als unantastbares über das vermeintlich antastbare Lebensrecht, so kommt man nicht umhin den Schluss zu ziehen, dass diese Verletzung des Lebensrechts – nichts weniger als ein Mord – 82 Bei Matthias Herdegen führt vor dem Hintergrund seiner spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie unter anderem diese Problematik zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Unabwägbarkeit dieses vermeintlichen „Rechts auf Menschenwürde“. Statt den naheliegenden Ausweg zu wählen, die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürde aufzugeben, wählt Herdegen aber den viel unplausibleren, ihre Unantastbarkeit aufzugeben. Vgl. hierzu Herdegen a.a.O. Rn. 46–50, S. 30–36. 83 Die Problematik tritt beispielsweise im Rahmen der Schweizer Verfassung und ihrer Rechtsdogmatik nicht auf, weil dort die Menschenwürdegarantie aus § 7 der Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft zwar ebenfalls meist spezifisch-rechtlich als ein besonderes Recht neben den weiteren Grundrechten aufgefasst wird, aber eben nicht als unantastbares Recht über ihnen. Es ist darum auch kaum verwunderlich, dass sich die Verfechter einer Auslegung des Menschenwürdegrundsatzes als eines spezifisch-rechtlichen Demütigungsverbots gerne auf die Schweizer Verfassung berufen. 84 Vgl. S. 31, Fn. 3 und Fn. 4.
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legitim wäre und vom Staat aufgrund von Art. 1, Abs. 1 GG notwendigerweise toleriert werden müsste. Ja mehr noch: selbst wenn man die besagte Tötung des Unschuldigen C aus irgendwelchen Gründen nicht nur für eine Verletzung des Lebensrechts, sondern zugleich ebenfalls für eine Verletzung der subjektivrechtlich verstandenen Menschenwürde hielte, müsste sie unter den Prämissen der „herrschenden Meinung“ immer noch zugelassen werden, da diese ja, wie im vorigen Unterkapitel gesehen, auch einen Vorrang der staatlichen Achtungspflicht vor der Schutzpflicht gegenüber Menschenwürdeverletzungen durch Dritte vorsieht. Diese problematischen Konsequenzen ergeben sich freilich nicht alleine für den Fall einer Auslegung der Menschenwürdegarantie als Demütigungsverbot, sondern auch für alle anderen denkbaren Auslegungen der Menschenwürdegarantie als eines spezifischen subjektiven Rechts neben und über den weiteren Grund- bzw. Menschenrechten, so natürlich auch für die Auslegung als Instrumentalisierungsverbot. Gleich welche Bestimmung des normativen Gehalts der Menschenwürdegarantie man des Näheren vornimmt, ergibt sich mithin unter der Voraussetzung der spezifisch-subjektivrechtlichen Lesart, kombiniert mit dem Theorem der „Unantastbarkeit“ im Vergleich zu anderen Rechten, das Problem eines über dem Lebensrecht selbst in seiner abwehrrechtlichen Kernausprägung stehenden „Superrechts“, das den Staat entgegen jeder plausiblen moralischen Intuition und entgegen allen ernstzunehmenden rechts- und moralphilosophischen Theorien geradezu dazu verpflichten müsste, genau für alle Fälle einer Kollision von „Menschenwürderecht“ und Lebensrecht die vorsätzliche Tötung Unschuldiger zu gestatten. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als gerade diese Handlung in der gesamten abendländischen Tradition ethischen Nachdenkens da, wo sie die Möglichkeit unbedingter negativer Pflichten anerkennt, als das Paradigma schlechthin einer Handlung gilt, die immer und unter allen Umständen verboten ist. Ruft man sich etwa in Erinnerung, dass deutsche Gerichte die Frage nach der Mindestgröße einer Gefängniszelle regelmäßig in Berufung auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1, Abs. 1 GG entschieden haben85 , so ergibt sich konsequent zu Ende gedacht das Ergebnis, dass es im deutschen Rechtssystem nach ständiger Rechtsprechung zwar ein unantastbares, alle anderen Rechte übertrumpfendes Recht auf eine genau quantifizierbare Mindestquadratmeterzahl bei der Größe einer Gefängniszelle gibt, aber kein unantastbares Recht, nicht ermordet zu werden. Ähnliches findet sich auch in der Sozialrechtsprechung, die den Menschenwürdegrundsatz immer wieder zur Entscheidung von Anspruchsrechte betreffenden Fragen heranzieht (man erinnere sich an die von der Menschenwürde gewährleistete Bratpfanne), bei denen es doch nach jeder auch nur minimal rationalen ethischen oder rechtsphilosophischen Theorie eigent Vgl. S. 8 f. der vorliegenden Untersuchung.
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lich einen wesentlich größeren Abwägungsspielraum geben müsste als bei der Frage nach dem Lebensrecht in seiner abwehrrechtlichen Kernausprägung. Das heißt nicht, dass es nicht z. B. eine bestimmte Mindestgröße von Gefängniszellen geben sollte oder die besagten sozialrechtlichen Fragen in ethischer und rechtsphilosophischer Hinsicht unbedeutend wären; sie aber in Berufung auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1, Abs. 1 GG zu entscheiden, führt vor dem Hintergrund der gängigen Auslegung dieser Garantie durch die „herrschende Meinung“ zu bemerkenswerten Missverhältnissen innerhalb des dogmatischen Grundgefüges der Rechtsordnung. Dieser Befund bedeutet nun zwar nicht, dass zu erwarten wäre, dass in der konkreten Rechtsprechung jemals ein Gericht tatsächlich einen Mörder in Berufung auf die Menschenwürde freisprechen oder das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber fordern würde, die Ermordung Unschuldiger im Rekurs auf die Menschenwürde zu gestatten. Läge einem Gericht ein Fall vor, der den oben skizzierten Gedankenexperimenten entspräche, so würde es sicherlich einen Weg finden, mit Hilfe zusätzlicher rechtsdogmatischer Erwägungen bzw. mithilfe von Ad-hoc-Hypothesen die dargelegten Schlussfolgerungen am Ende doch zu vermeiden. Aus rechtsphilosophischer Perspektive kann und muss allerdings aufgezeigt werden, was sich unter den Bedingungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde aus der spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürde als eines speziellen Rechts neben und über den weiteren Grundrechten ergibt, wenn sie denn nicht durch Ad-hoc-Konstruktionen nachträglich wieder eingehegt, sondern konsequent zu Ende gedacht wird.
4. Die Entkopplung von Menschenwürdegarantie und Lebensrecht Ungeachtet der mit ihr verbundenen konzeptionellen Schwierigkeiten gilt im juristischen Schrifttum die Entkopplung von Menschenwürde und Lebensrecht weitgehend als selbstverständlich. 86 Insbesondere in bioethischen Debatten gehen die meisten der juristischen Beiträge davon aus, dass es sich um verschiedene Rechtsgarantien handele, die letztlich beziehungslos nebeneinander stünden. So schreibt etwa Werner Heun: „Die beiden auch in unterschiedlichen Normen verankerten Grundrechte müssen entkoppelt werden. Schon die systematische Überlegung, dass Art. 2, Abs. 2, Satz 1 GG unter einfachem Gesetzesvorbehalt steht, beweist, dass zwischen unantastbarer Menschenwürde und einschränkbarem Lebensrecht ein gravierender Unterschied besteht, der eine untrennbare Verknüpfung geradezu verbietet. Beides sind selbständige, unabhängig voneinander bestehende Grundrechte.“87 86 Vgl. zu dieser Problematik insgesamt: Picker, Eduard: Menschenwürde und Menschenleben. Das Auseinanderdriften zweier fundamentaler Werte als Ausdruck der wachsenden Relativierung des Menschen. Stuttgart 2002. 87 Heun, Werner: Humangenetik und Menschenwürde. Beginn und Absolutheit des Men-
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Und Höfling führt aus: „Die Menschenwürde ist unantastbar, in das Schutzgut ‚Leben‘ kann aufgrund des Gesetzesvorbehalts des Art. 2 II 3 GG durchaus eingegriffen werden. […] Ein Eingriff in das Schutzgut ‚Leben‘ indiziert deshalb keineswegs zugleich eine Menschenwürdeverletzung.“88
Diese Ausführungen Höflings und Heuns bringen das bereits bekannte zentrale Argument der juristischen „herrschenden Meinung“ für eine Entkoppelung von Menschenwürdegarantie und Lebensrecht, und damit überhaupt für die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie, noch einmal prägnant auf den Punkt. Nach diesem Argument gilt für das Lebensrecht, dass es unter einem Gesetzesvorbehalt stehe und damit „abwägbar“ bzw. „antastbar“ sei, während das vermeintliche „Menschenwürde-Grundrecht“ unabwägbar und unantastbar sei. Da von derselben Sache nicht zwei einander widersprechende Prädikate ausgesagt werden können, so nun die Überlegungen von Heun, Höfling und anderen, müssen Menschenwürdegarantie und Lebensrecht auch verschiedene Rechte bezeichnen. An diesem Argument ist allerdings wieder unschwer zu erkennen, dass seine Vertreter von dem ausgehen, was sie eigentlich zeigen wollen: nämlich von der unreflektierten petitio principii, dass die Menschenwürdegarantie ein spezielles Grundrecht mit spezifischen Verletzungstatbeständen neben den „weiteren“ Grundrechten, einschließlich des Lebensrechts, bildet. Geht man von dieser Voraussetzung nicht aus und vertritt dagegen eine prinzipialistische Auffassung der Menschenwürdegarantie, so ist es selbstverständlich keineswegs unmöglich, zwischen Menschenwürdegarantie und Lebensrecht auch dann eine enge Verknüpfung zu sehen, wenn von beiden verschiedene Prädikate ausgesagt werden. Ja, dass vom Prinzip einer Sache und der prinzipiierten Sache unterschiedliche Prädikate ausgesagt werden, ist geradezu der logische Normalfall. Die Frage, die dann allerdings zu stellen ist und auch die weiteren Kapitel der vorliegenden Untersuchung beschäftigen wird, ist diejenige, wie und in welcher Weise die Unantastbarkeit der die Grund- bzw. Menschenrechte prinzipiierenden Menschenwürde sich genau zur Einschränkbarkeit einzelner unter diesen Rechten verhält. Wird diese Frage nicht geklärt, so ergibt sich die ausgesprochen problematische Möglichkeit, mithilfe von Unterschiebungen und Verschiebungen in den logischen Zusammenhängen in vielen Anwendungsfragen Schein-Konklusionen zu erreichen. Ein fast schon typisch zu nennendes Beispiel dafür bietet etwa Heiner Bielefeldts Behandlung der „Rettungsfolter“-Problematik. 89 Bielefeldt schenwürdeschutzes. In: Bahr, Petra/Heinig, Hans Michael: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Tübingen 2003, S. 197 - 21; hier: S. 199. 88 Höfling a.a.O. S. 126. 89 Vgl. Bielefeldt, Heiner: Menschenwürde und Folterverbot. Eine Auseinandersetzung
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greift darin90 explizit einen unter anderem von Rainer Trapp91 und Peter Nitschke92 erhobenen Einwand gegen die spezifisch-subjektivrechtliche Lesart der Menschenwürde als eines Grundrechts über oder neben den weiteren Grundrechten auf. Nach diesem Einwand würde mit der spezifisch-subjektivrechtlichen Lesart in das Gefüge der Grundrechtsdogmatik die Möglichkeit eingefügt, alle weiteren Grundrechte, einschließlich so fundamentaler Rechte wie des Lebensrechts, in Berufung auf das unantastbare vermeintliche „Menschenwürderecht“ de facto aufzuheben, da dieses „Menschenwürderecht“ im Konfliktfall jene dann vermeintlich „antastbaren“ Rechte übertrumpfen würde. Das sei aber unplausibel. Bielefeldt kontert diesen Einwand mit einer prinzipialistischen Lesart der Menschenwürde. Er merkt dazu richtig an: „In den zitierten Positionierungen werden Menschenwürde und Lebensrecht kategorial auf derselben Ebene verortet, weshalb sie potenziell in Konkurrenz zueinander zu stehen scheinen. Das Postulat der Unantastbarkeit – und von dorther auch der Unabwägbarkeit – der Menschenwürde wirkt sich unter dieser impliziten Prämisse dahingehend aus, dass im Fall einer Kollision von Menschenwürde und Lebensschutz letzterem von vorneherein kein normativer Stellenwert zukommt. Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde hätte, sofern man sie eben als ein Rechtsgut unter Rechtsgütern versteht, in der Tat zur Folge, dass dadurch der Wert aller anderen Rechtsgüter – ergo auch des Lebensrechts – vernichtet würde. […] Die Prämisse, auf der die vorgetragene Kritik beruht, nämlich dass die Menschenwürde ein Rechtsgut darstellt und von dorther in Kollision mit anderen Rechtsgütern geraten kann, ist jedoch problematisch. Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde, wie er durch den Begriff der Unantastbarkeit markiert wird, ergibt erst dann Sinn, wenn man die Achtung der Menschenwürde kategorial auf einer anderen Ebene festmacht. Sie ist kein Rechtsgut, sondern hat den Status einer unhintergehbaren Prämisse rechtlichen Denkens und Argumentierens überhaupt.“93
Bielefeldt führt weiter aus, dass die einzelnen Menschenrechte sich dementsprechend aus der Menschenwürde als dem „Apriori der Rechtsgemeinschaft“94 ergäben und es daher verfehlt sei, „das Recht auf Leben durch die Unabwägbarkeit der Menschenwürde relativiert oder gefährdet zu sehen: […] Es gibt keinen potenziellen Antagonismus zwischen Menschenwürde und Lebensrecht.“95 Während Bielefeldt also auf der Theorieebene eine dezidiert „prinzipialistische“ Konzeption vertritt, nach der die Menschenwürde das „Apriori der mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots. In: Furtmayr, Holger/Krása, Kerstin/Frewer, Andreas (Hg.): Folter und ärztliche Verantwortung. Göttingen 2009, S. 203–226. 90 Bielefeldt a.a.O. S. 206 f. 91 Vgl. Trapp, Rainer: Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung. Paderborn 2006, S. 217. 92 Vgl. Nitschke, Peter: Die Debatte über Folter und die Würde des Menschen – eine Problemskizze. In: Nitschke, Peter: Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat. Eine Verortung. Bochum 2005, S. 7–34;h ier: S. 11. 93 Bielefeldt a.a.O. S. 207 f. 94 Bielefeldt a.a.O. S. 208. 95 Bielefeldt a.a.O. S. 208 f.
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Rechtsgemeinschaft“, mithin das Prinzip der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit überhaupt darstellt, wechselt er auf der Anwendungsebene sofort nach den zitierten Passagen stillschweigend wieder zu genau der spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürde, die er eben noch zurückgewiesen hatte. Das geschieht, indem er die Folter in jedem Fall, mithin auch und gerade im Fall der sogenannten „Rettungsfolter“, als einen Fall der unmittelbaren „Verletzung der Menschenwürde“ kennzeichnet: „Die Folter bedeutet deshalb eine unmittelbare und vollständige Negierung der Achtung der Menschenwürde.“96 Eine solche Aussage ist nun freilich mit der von Bielefeldt kurz zuvor getätigten Aussage logisch unvereinbar, bei der Menschenwürde handele es sich nicht um ein Rechtsgut bzw. ein spezifisches Recht, das als solches in Konflikt mit anderen Rechtsgütern bzw. Rechten wie dem Lebensrecht treten könne, sondern um die Prämisse oder „das Apriori“ der Rechtlichkeit überhaupt. Wenn nämlich die Folter, nicht aber der Mord, als Handlungstypus einen Verletzungstatbestand der Menschenwürdegarantie darstellt und die Menschenwürdegarantie vor solchen Verletzungen subjektiv-rechtlich schützen soll, dann wird die Menschenwürdegarantie hier offenkundig im Gegensatz zu dem zuvor Behaupteten doch als ein Rechtsgut bzw. ein spezifisches subjektives Recht behandelt. Bielefeldt gewinnt mithin die „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde aus der prinzipialistischen Lesart, schiebt die prinzipialistisch zu denkende „Unantastbarkeit“ dann aber einer spezifisch-rechtlichen Lesart unter. Allein indem ein Verletzungstatbestand – hier die Folter – für das „unantastbare Menschenwürderecht“ angegeben wird, der nicht in den Verletzungstatbeständen der weiteren Grund- und Menschenrechte aufgeht und der qua Unantastbarkeit unbedingt unzulässig ist, wird die Menschenwürde offenkundig nicht mehr als Prinzip oder „Apriori“ der Rechtlichkeit im eigentlichen Sinn verstanden. Vielmehr wird sie als ein spezifisches Recht über den weiteren Rechten verstanden, das ganz bestimmte, konkret angebbare Handlungstypen – wie etwa die Folter – zu seinen Verletzungstatbeständen zählt. Wenn das aber der Fall ist, wird die Menschenwürde eben doch als ein – in Bielefeldts Worten – „Rechtsgut unter Rechtsgütern“ behandelt, das „kategorial auf derselben Ebene verortet ist“ und daher auch mit diesen in Konflikt treten kann. Bielefeldt behauptet wenige Seiten später dementsprechend auch explizit genau das, was er gerade eben noch mit äußerster Vehemenz bestritten hatte, nämlich dass es einen normativen Antagonismus zwischen Menschenwürdegarantie und Lebensrecht geben könne; schreibt er doch plötzlich, dass es selbstverständlich möglich sei, dass in Konstellationen wie dem Fall Daschner/Gäfgen „zwischen der Verpflichtung zum staatlichen Lebensschutz und dem Verbot der Folter eine normative Konkurrenz besteht“.97 Wo nun eine solche Konkurrenz bestehe, da müsse der Konflikt Bielefeldt a.a.O. S. 212. Bielefeldt a.a.O. S. 216.
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zu Ungunsten des Lebensrechts entschieden werden, da „der innere Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Folterverbot so unauflöslich ist, dass das Folterverbot keine Ausnahmen und keine Abwägungen zulässt“.98 Diese Aussage bedeutet freilich im Umkehrschluss, dass zwischen dem Lebensrecht, das hier ja zurückstehen soll, und der Menschenwürde nach Bielefeldts Auffassung offenbar kein unauflöslicher Zusammenhang besteht. Das wiederum bedeutet weiterhin, dass das Lebensrecht, selbst in seiner Kernausprägung als Verbot der Tötung Unschuldiger, durchaus Ausnahmen und Abwägungen zulasse und dass dies auch völlig im Einklang mit dem Menschenwürdeprinzip stehe. Genau gegen diese beiden Thesen ist die gesamte vorliegende Studie ausdrücklich geschrieben. Bei Bielefeldt selbst findet sich nun auch keine wirklich überzeugende Antwort darauf, warum zwar das Folterverbot, nicht aber das Lebensrecht in einem „unauflöslichen Zusammenhang“ mit der Menschenwürde stehen solle. Er führt zwar in vager Weise an, die Folter sei auch in Fällen der „Rettungsfolter“, in denen die Folter im Rahmen der Notwehrhilfe eingesetzt werde, deshalb unmittelbar zugleich eine Verletzung der Menschenwürde, weil sie eine „direkte Negation der Subjektstellung des Menschen“99 darstelle. Eine Antwort auf die naheliegende Frage, warum ausgerechnet die Tötung eines Menschen, die dessen Subjekt-Sein immerhin ganz handfest „negiert“, eigentlich irgendetwas anderes sein sollte als eben dies: die „direkte Negation der Subjektstellung des Menschen“, nämlich durch die vollständige Vernichtung des getöteten Menschen, bleibt Bielefeldt im gesamten Aufsatz schuldig. Die bisher am Beispiel des Lebensrechts aufgezeigten Schwierigkeiten der spezifisch-rechtlichen Auffassung sind nun im Grunde allgemeiner Natur, betreffen also nicht allein das Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht, sondern das Verhältnis der Menschenwürde zu allen Grund- und Menschenrechten. Sie werden beim Lebensrecht lediglich in besonderer Weise augenfällig, da traditionellerweise weder ein als einfaches Recht (statt als Rechtsprinzip) gedachtes Instrumentalisierungsverbot – man erinnere sich an das Gedankenexperiment des rein eigennützigen Blumenschenkens – , noch das Demütigungsverbot oder eine ähnliche inhaltliche Festlegung des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ als Paradigmen einer unbedingten Rechtspflicht gelten, sondern eben das Verbot der Tötung Unschuldiger. Zwar ließe sich von Seiten der „herrschenden Meinung“ dagegen einwenden, dies sei in der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz eben anders geregelt, das Grundgesetz setze eben das „Menschenwürderecht“, nicht aber das Lebensrecht als höchstes, alle anderen Rechte im Konfliktfall aufhebendes Recht. Dieser Einwand beruhte aber zum einen nicht auf dem Text des Art. 1 GG selbst, sondern Bielefeldt a.a.O. S. 216. Bielefeldt a.a.O. S. 211.
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auf einer bestimmten, nämlich der spezifisch-rechtlichen Lesart dieses Artikels – einer Lesart, die von dessen Wortlaut nicht gedeckt ist. Zum anderen wäre eine solche Abweichung des in Deutschland geltenden positiven Rechts von einem beträchtlichen Teil der rechtsphilosophischen und ethischen Tradition in hohem Maße begründungsbedürftig. Innerhalb der juristischen Literatur finden sich aber nicht einmal Ansätze zu einer solchen Begründung.
5. Leben als „Voraussetzung“ der Menschenwürde Neben der allgemeinen Problematik des Verhältnisses von Menschenwürde und Grund- bzw. Menschenrechten weist das Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht insofern auch eine spezielle Problematik auf, als das Leben, selbst wenn man von einer spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie ausginge, doch immerhin die unhintergehbare Voraussetzung der so verstandenen Menschenwürde wäre. Diese Überlegung findet sich an prominenter Stelle im ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1975. Dort wird zwischen Menschenwürdegarantie und Lebensrecht einerseits unterschieden, andererseits werden beide aber auch wieder miteinander enggeführt, indem der Voraussetzungscharakter des Lebens für die Menschenwürde herausgestellt wird. In diesem Sinn führt das Gericht aus: „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“100
Wenn diese Auffassung richtig ist, hat das allerdings erhebliche Auswirkungen auf das gesamte Gefüge der Grundrechtsdogmatik. Es kann in diesem Fall nämlich keinen rechtlichen Schutz einer spezifisch-subjektivrechtlichen „Menschenwürde“ geben, der nicht zugleich und im selben Maße rechtlicher Schutz des Lebens wäre. Menschenwürdegarantie und Lebensrecht könnten dann gerade nicht in der Weise hierarchisiert werden, dass das Lebensrecht als „antastbar“, die Menschenwürdegarantie aber als „unantastbar“ gesetzt würde. Wenn nämlich die Garantie eines Rechts A – hier des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ – zwingend die Garantie eines Rechts B – hier des Lebensrechts – voraussetzt, dann ist es widersprüchlich, die Garantie von Recht B als nicht unantastbar zu setzen, die Garantie von Recht A aber als unantastbar. Denn jede Einschränkung des Rechtes B impliziert dann ja auf der Ebene der Rechtsanwendung zugleich eine Einschränkung des Rechtes A. Die Unantastbarkeit des Rechtes A kann also nur garantiert werden, wenn und indem auch Recht B als unantastbar und nicht-einschränkbar gesetzt wird. Die Unantastbarkeit des BVerfGEntscheidung 39, 1 vom 25.2.1975 (Schwangerschaftsabbruch I), Abs. 149.
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V. Kritik der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie
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vermeintlichen Menschenwürderechts müsste sich dementsprechend entweder auf das Lebensrecht vollständig übertragen oder sie wäre schlicht nicht gegeben. Formuliert man die Problematik in dieser Weise, dann wird zugleich auch deutlich, dass ein von Dieter Birnbacher vorgetragener Einwand gegen die These von der Verknüpfung von Lebensrecht und Menschenwürde qua Voraussetzungscharakter des Lebens nicht schlüssig ist. Birnbacher wendet gegen diese These nämlich ein, ein Gut könne zwar sehr wohl die Voraussetzung eines anderen Gutes sein, ohne dass man darum demjenigen Gut, das Voraussetzung sei, selbst einen höheren oder gleichen Wert gegenüber demjenigen Gut zusprechen müsse, dessen Voraussetzung es ist: „Menschenwürde ist ein höheres Gut als das Leben und der Schutz der Menschenwürde gegenüber dem Lebensschutz die vorrangige Verpflichtung. Die unbestreitbare Tatsache, dass das Leben eine Voraussetzung des Besitzes von Menschenwürde ist, ändert daran nichts. Denn es gilt nicht allgemein, dass, wenn A ein Gut ist und B eine Voraussetzung für A ist, B ein höheres Gut ist als A oder auch nur ein gleich wertvolles Gut. Die Körperfunktionen, die Voraussetzungen für das Leben sind, sind nicht bereits deshalb ein höheres Gut als dieses.“101
Die auf den ersten Blick vielleicht gegebene Überzeugungskraft von Birnbachers Argumentation beruht hier allerdings darauf, dass Birnbacher statt mit den Begrifflichkeiten des Rechts mit dem Begriff des „Gutes“ arbeitet. Selbstverständlich kann ein Gut die Voraussetzung eines anderen Gutes sein, ohne dass man darum demjenigen Gut, das Voraussetzung ist, einen höheren Stellenwert in einer Güterhierarchie zuspricht als dem Gut, dessen Voraussetzung es ist. Es geht aber beim Verhältnis von Menschenwürdegarantie und Lebensrecht – gerade unter der Voraussetzung der von Birnbacher vertretenen Ensemble theorie der Menschenwürde – nicht um ein Verhältnis von Gütern, sondern um ein Verhältnis von Rechten. Wenn aber zwischen einem Recht A und einem Recht B ein Implikationsverhältnis derart besteht, dass die Unantastbarkeit des Rechtes A nur gewährleistet werden kann, indem die Unantastbarkeit eines Rechtes B gewährleistet wird, so folgt daraus, dass die Setzung einer Unantastbarkeit von Recht A logisch zwingend nach sich zieht, auch Recht B als unantastbar zu setzen. Ob und in welcher Güterhierarchie diejenigen Güter stehen, die durch die betreffenden Rechte geschützt werden, ist demgegenüber dann völlig irrelevant. Zudem wird man, selbst wenn man mit dem Begriff des „Gutes“ arbeitet, Birnbachers Analogie zu den Körperfunktionen nicht plausibel finden. Zum einen sind die von ihm herbeizitierten „Körperfunktionen“ nicht eine „Voraussetzung“ des Lebens, sondern des Lebens selbst unter einem bestimmten Aspekt: unter dem Aspekt nämlich der sich selbst regulierenden physischen Pro Birnbacher, Dieter: Ethisch ja, rechtlich nein – ein fauler Kompromiss. In: Lenzen, Wolfgang (Hg.): Ist Folter erlaubt? Paderborn 2006, S. 135–148; hier: S. 143. 101
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
zesse eines Organismus. Das Verhältnis von Leben und Körperfunktionen ist also gerade kein Voraussetzungsverhältnis, sondern ein Verhältnis des Ganzen zu seinen Momenten. Wenn das aber der Fall ist, wenn also die Körperfunktionen nicht Voraussetzung, sondern Momente eines Ganzen namens „Leben“ sind, so muss es freilich unplausibel erscheinen, den Körperfunktionen einen gleichen oder höheren Stellenwert als dem Leben zuzusprechen: dies dann aber nicht aus dem von Birnbacher insinuierten Grund, sondern nur deshalb, weil es unplausibel wäre, einer bestimmten Hinsicht eines Ganzen einen höheren Wert zuzusprechen als dem Ganzen selbst. Aber selbst wenn man das anders sehen würde, man die Körperfunktionen mithin tatsächlich nur als eine „Voraussetzung“ des Lebens betrachten würde, ergäbe sich schließlich immer noch nicht Birnbachers Schlussfolgerung. Ist ein „Gut“ nämlich etwas, das von einem Subjekt aus welchen Gründen auch immer angestrebt wird, so wird man zweifellos sagen müssen, dass für jemanden, für den Weiterleben ein Gut ist, auch die Körperfunktionen, die ihm dieses Weiterleben garantieren, ein Gut sind – und zwar ein Gut, das einen ebenso hohen Wert hat wie das Weiterleben selbst, eben weil es unabdingbar für dieses Weiterleben ist. Ihr Wert wäre, und das hat Birnbacher vermutlich im Auge, selbstverständlich aber nicht ein Wert an sich selbst, sondern ein funktionaler Wert, der sich aus ihrer Funktion für das Weiterleben ergäbe. Gleichwohl wäre der Wert des Gutes der Körperfunktionen jedenfalls nicht geringer als der Wert des Weiterlebens selbst, und zwar eben aufgrund ihres notwendigen Voraussetzungscharakters für das eigentlich angestrebte Gut des Weiterlebens. Oder anders und einfacher gesagt: wer es anstrebt, weiterzuleben, strebt es im gleichen, keinesfalls aber geringeren Maß an, dass sein Körper in einem Zustand ist, der ihm dieses Weiterleben ermöglicht. Birnbachers Einwand ist mithin in keiner denkbaren Hinsicht und unter keiner sinnvollen Voraussetzung plausibel. Wenn es allerdings richtig ist, dass das vermeintliche spezifische „Menschenwürderecht“ nur geschützt werden kann, wenn das Lebensrecht in genau gleichem Maß geschützt wird und es durch genau dieselbe „Unantastbarkeit“ charakterisiert ist wie die Menschenwürdegarantie, dann lassen sich wesentliche Momente der „herrschenden Meinung“ in der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik selbst unter Anlegung der Prämisse der spezifisch-rechtlichen Lesart nicht mehr halten. Zum einen nämlich können Konfliktfälle, wie sie in der Konstellation der Rettungsfolter oder des Schwangerschaftsabbruchs gegeben sind, dann nicht mehr durch einen Verweis auf eine angebliche Überordnung eines unantastbaren „Menschenwürderechts“ über ein vermeintlich „antastbares“ Lebensrecht aufgelöst werden. Menschenwürde und Lebensrecht hätten dann vielmehr denselben normativen Status der „Unantastbarkeit“ im heute gebräuchlichen verfassungsrechtlichen Sinn. Noch viel wichtiger aber ist, dass dann die bereits weiter oben kritisch dargestellte gängige rechtsdogmatische Konstruktion von Notwehr und Notwehr-
V. Kritik der spezifisch-grundrechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie
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hilfe als gerechtfertigten Verletzungen von Rechten, zumindest da, wo es um das Lebensrecht geht, schon theorieimmanent nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Wie wir gesehen haben, geht diese gängige Konstruktion davon aus, dass in Notwehr und Notwehrhilfe zwar die Rechte des Angreifers auf körperliche Unversehrtheit und gegebenenfalls auf Leben verletzt werden, dass diese Verletzung aber logisch nachträglich durch die Situation der Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs gerechtfertigt werde. Eine solche Rechtfertigbarkeit sei aber nur gegeben, weil das Lebensrecht im Gegensatz zur unantastbaren Menschenwürde ein prinzipiell „antastbares“ Recht sei. Dieser Befund galt der „herrschenden Meinung“ sodann wiederum als zentraler Beleg für die Entkopplung von Menschenwürde und Lebensrecht im Speziellen und Menschenwürde und Menschenrechten im Allgemeinen und mithin auch als das zentrale Argument für die spezifisch-rechtliche Lesart. Es hat sich nun aber gezeigt, dass, wenn man die spezifisch-rechtliche Lesart konsequent zu Ende denkt, mit dem Lebensrecht zumindest ein Menschenbzw. Grundrecht als ebenso „unantastbar“ gesetzt werden muss wie das vermeintliche spezifische „Menschenwürderecht“. Auf diese Weise bricht aber die rechtsdogmatische Konstruktion, ein spezifisches, unantastbares „Menschenwürderecht“ von den weiteren „antastbaren“ Grund- bzw. Menschenrechten zu unterscheiden, jedenfalls anhand des Lebensrechts logisch in sich zusammen. Denn es bleiben, will man die spezifisch-rechtliche Lesart beibehalten, jetzt nur noch genau zwei Möglichkeiten, die für diese Lesart beide aporetisch sind: Entweder es wird die Unantastbarkeit von Lebensrecht und Menschenwürde gleichermaßen aufgegeben. Das vermeintliche spezifische „Menschenwürderecht“ könnte also nur aufrechterhalten werden um den Preis einer Aufgabe seiner Unantastbarkeit. In diesem Fall fiele aber das einzige Argument für die spezifisch-rechtliche Lesart, das ja eben auf der Unterscheidung zwischen einem „unantastbaren“ Menschenwürderecht und „antastbaren“ weiteren Grundoder Menschenrechten beruht, unmittelbar weg. Oder aber das Verhältnis von Notwehr bzw. Notwehrhilfe und Lebensrecht wird anders gefasst, nämlich nicht mehr als Verhältnis von Regel und Ausnahme, von Rechtsverletzung und Rechtfertigung der Rechtsverletzung, sondern dergestalt, dass Notwehr bzw. Notwehrhilfe von vornherein nicht als Rechtsverletzungen betrachtet werden. Wird aber dieser zweite Weg beschritten, so ergibt sich eine rechtsdogmatische Konstruktion, in der die Zulässigkeit von Notwehr bzw. Notwehrhilfe der Unantastbarkeit irgendeines Rechts gar nicht widersprechen kann, eben weil in der Notwehr und der Notwehrhilfe keinerlei Rechte des rechtswidrigen Angreifers verletzt werden.102 Wenn sie aber zutreffend ist, dann fällt damit ebenfalls das zentrale Argument für die Entkoppelung von Menschenwürde und Menschen Es wird in Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit noch gezeigt werden, dass diese Annahme zutreffend ist. 102
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
rechten weg, das auf einen vermeintlichen Gegensatz zwischen der „Antastbarkeit“ der „weiteren“ Grund- und Menschenrechte gegenüber einem unantastbaren „Menschenwürderecht“ abhebt. Denn wenn die Ausübung des Notwehrrechts die Menschenwürde gar nicht verletzen kann – einfach weil die Ausübung des Notwehrrechts überhaupt nie ein Recht verletzt –, dann bedeutet das, dass die Ausübung von Notwehr und Notwehrhilfe in Form von Maßnahmen, die jenseits der Notwehrsituation als Menschenwürdeverletzungen zu verstehen wären, mit der Menschenwürdegarantie durchaus vereinbar ist. Dann aber gibt es zumindest zwischen dem „Menschenwürderecht“ und dem Lebensrecht, das mit der Ausübung von gegebenenfalls tödlicher Notwehr bzw. Notwehrhilfe ja ebenfalls vereinbar ist, keinen grundsätzlichen Unterschied hinsichtlich ihrer rechtsdogmatischen Verortung mehr: für beide gilt dann, dass die Zulässigkeit einer „Verletzung“ in Notwehr- und Nothilfesituationen mit ihrer Unantastbarkeit bzw. Unabwägbarkeit vereinbar ist. Entweder wird die Unantastbarkeit der Menschenwürdegarantie also entsprechend dem ersten Weg ganz zurückgenommen oder sie wird entsprechend dem zweiten Weg rechtsdogmatisch so bestimmt, dass die Ausübung von Notwehr bzw. Notwehrhilfe die Menschenwürde prinzipiell nicht verletzen kann. In beiden Fällen unterscheidet sich das „Menschenwürderecht“ dann jedoch hinsichtlich der vermeintlichen „Einschränkbarkeit“ in Notwehrsituationen nicht mehr von den „weiteren“ Grundbzw. Menschenrechten wie etwa dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Da nun aber, wie wir oben gesehen haben, der behauptete Gegensatz hinsichtlich der „Rechtfertigbarkeit“ vermeintlicher „Rechtsverletzungen“ das einzige wirkliche Argument der Verfechter der spezifisch-rechtlichen These für eine inhaltliche Abkopplung der Menschenwürde von den „übrigen“ Grundbzw. Menschenrechten ist – und in der Folge für ein Verständnis der Menschenwürdegarantie als eines spezifischen Rechts neben „weiteren“ Rechten –, führt die skizzierte Problematik zu einer strikten logischen Selbstaufhebung der spezifisch-rechtlichen Lesart, ganz gleich welcher der beiden Wege beschritten wird. Zwar ließe sich nun einwenden, dass diese Selbstaufhebung nur im Hinblick auf das Lebensrecht gelte und das Problem auch gelöst werden könne, indem das Lebensrecht 1:1 in die Menschenwürdegarantie aufgenommen würde. Eine solche Lösung wäre dann aber über die spezifisch-rechtliche Lesart zumindest an einer Stelle und hinsichtlich eines Grund- oder Menschenrechts doch hinausgegangen, so dass jedenfalls das Grundprinzip der spezifisch-rechtlichen Lesart schon aufgehoben wäre. Zudem müsste eine solche Lösung klären, in welchem Verhältnis dann die inhaltliche Bestimmung der Menschenwürdegarantie als Lebensrecht zu den üblicherweise von der spezifisch-rechtlichen Lesart vertretenen inhaltlichen Bestimmungen der Menschenwürdegarantie als eines speziellen Rechts z. B. auf Nichtinstrumentalisierung oder Nichtdemütigung, stünde.
VI. Spezifisch-rechtliche und prinzipialistische Lesart: ein Fazit
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VI. Spezifisch-rechtliche und prinzipialistische Lesart: ein Fazit In den vorangehenden Überlegungen wurde die verfassungsrechtsdogmatische Auslegung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes einer kritischen rechtsphilosophischen Analyse unterzogen. Das Herausgreifen gerade der deutschen Rechtsdogmatik rechtfertigt sich vor dem Hintergrund einer philosophischen Erörterung der Menschenwürde als Rechtsbegriff dadurch, dass das deutsche Verfassungsrecht und damit auch die darauf bezogene Rechtsdogmatik das derzeit sicherlich weitgehendste Modell einer Verankerung der Menschenwürde in einem konkreten Rechtssystem bietet. Zwar ist „Menschenwürde“ auch in anderen Verfassungen oder supranationalen Rechtstexten verankert; entweder kommt ihr dort aber, wie etwa in den Verfassungen der Schweiz oder Irlands, keine zentrale, rechtsbegründende Rolle zu, oder es existiert, wie im Fall der EU-Grundrechtecharta, noch keine umfangreiche Anwendungspraxis, geschweige denn eine ausgearbeitete Rechtsdogmatik. Daneben rechtfertigt sich die Analyse der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik nicht zuletzt dadurch, dass in Deutschland eine ganze Reihe von auch für die Praktische Philosophie relevanten öffentlichen Diskursen, darunter nicht zuletzt der bioethische Diskurs, einen starken Bezug auf den verfassungsrechtlichen Menschenwürdediskurs aufweisen. Die Philosophie kann dementsprechend, will sie an diesen eigentlich genuin philosophischen Debatten teilnehmen, kaum umhin, sich zu jenen verfassungsrechtlichen Diskursen in irgendeiner Weise, sei es affirmativ oder kritisch, zu verhalten. Die Sichtung des deutschen verfassungsrechtlichen Diskurses zur Menschenwürde hat allerdings ein insgesamt zwiespältiges Bild ergeben. Gleichwohl erlaubt es die Analyse zunächst einmal, die wesentlichen Funktionen und Elemente festzuhalten, die „Menschenwürde“ als Rechtsbegriff kennzeichnen. Auf diese Weise wird ein inhaltliches Vorverständnis des rechtlichen Menschenwürdebegriffs gewonnen, das es gestattet, dessen Strukturmerkmale gegebenenfalls auch in philosophischen Ansätzen zu identifizieren, in denen die Menschenwürde nicht explizit genannt ist, und diese Ansätze dann zu seiner rechtsphilosophischen Rekonstruktion heranzuziehen. Menschenwürde als Rechtsbegriff kann genau dann als rechtsphilosophisch rekonstruiert gelten, wenn es gelingt, die auf diese Weise identifizierten Strukturmerkmale in einer konsistenten und auch unabhängig vom geltenden positiven Recht wohlbegründeten Weise theoretisch einzuholen. Dabei wäre dann einer Theorie, die es erlaubt, möglichst alle oder zumindest die wichtigsten Aspekte des rechtlichen Menschenwürdebegriffs philosophisch zu rekonstruieren, der Vorrang vor einer Theorie zu geben, die nur einige dieser Aspekte zu explizieren vermag. Durch diese Vorgehensweise bleibt zugleich auch das Eigenrecht der Philosophie gegenüber dem positiven Verfassungsrecht und den Rechtswissenschaften insofern erhalten, als die eigentliche Begründungsleistung im Hinblick auf die Menschenwürde als
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
Rechtsbegriff ausschließlich innerphilosophisch und nach philosophischen Maßstäben erfolgen kann und muss, soll sie auch über die konkreten Verfassungs- und Deklarationstexte einzelner Staaten bzw. Organisationen hinaus Geltung beanspruchen können. Es geht mithin in der vorliegenden Untersuchung darum, die Frage zu beantworten, ob es überhaupt ein rechtsphilosophisches Theorem gibt, das diejenigen Funktionen ausfüllen kann, die der Menschenwürde in jenen Rechtstexten zugesprochen werden, und, wenn ja, wie dieses Theorem aussähe. Gelingt dies, so ist damit auch ein Standpunkt erreicht, von dem aus sich eine wohlbegründete rechtsphilosophische Kritik an der gängigen juristischen Menschenwürde-Dogmatik formulieren lässt, die sich nicht vorwerfen lassen muss, dieser bloß äußerlich zu sein, so dass sie von der Rechts praxis ignoriert werden könnte. Fasst man in Vorbereitung eines solchen Unterfangens die Resultate der vorangegangenen kritischen Analyse zusammen, so wird man folgende Punkte festhalten können: 1.) Prinzipien- und Fundierungscharakter: Erstens kommt der Menschenwürde in praktisch allen Rechtstexten, in denen auf sie Bezug genommen wird, die Funktion eines Geltungsgrundes und/oder Prinzips der Grund- bzw. der Menschenrechte zu. 2.) Statusanzeige: Damit geht zweitens notwendigerweise einher, dass der Menschenwürde die Funktion eines statusanzeigenden Begriffs im Hinblick auf die Menschenrechte zukommt: Wer immer Träger der Menschenwürde ist, dem kommen auch diejenigen grundlegenden Rechte zu, die man gemeinhin „Menschenrechte“ nennt. 3.) Grund im Menschsein: Drittens zeigt der Begriff der „Menschenwürde“ an, dass diese Rechte an das „Menschsein“ geknüpft werden, und zwar dergestalt, dass der Begriff der „Menschenwürde“ zum Ausdruck bringt, dass einem Menschen jene Rechte aufgrund seines Menschseins zukommen. Offen muss an dieser Stelle allerdings noch bleiben, ob „Menschsein“ dabei im Sinn einer Zugehörigkeit zur biologischen Spezies „Mensch“ zu verstehen ist, oder ob die Zuerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten an spezifische Eigenschaften geknüpft ist, die Menschen zwar üblicherweise zumindest zeitweise zukommen, die aber nicht notwendig mit der Spezieszugehörigkeit verbunden sind, wie etwa empirisch feststellbares Selbstbewusstsein, Leidensfähigkeit oder Kommunikationsfähigkeit. Wäre die zweite Alternative der Fall, so würde sich nicht nur die Perspektive eröffnen, auch andere Lebewesen in den Kreis der Menschenwürde- und Menschenrechtsträger einzubeziehen, sondern es könnten auch menschliche Lebewesen, die diese Eigenschaften nicht, noch nicht oder nicht mehr aufweisen, aus diesem Kreis ausgeschlossen werden – es
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sei denn, man würde diesen Ausschluss mit Zusatzargumenten wie dem Potentialitäts- oder dem Identitätsargument wieder auffangen. 4.) Universalität: Unabhängig davon, welche Alternative befürwortet wird, führt die Bindung der Trägerschaft von Würde und Rechten an ein wie immer näher gefasstes „Menschsein“ zu dem bereits in der Einleitung explizierten Charakteristikum der Menschenwürde, nämlich ihrer Universalität. Gleich wie man das „Menschsein im moralisch und rechtlich relevanten Sinn“ nämlich näher bestimmt, ist die Menschenwürde doch so gedacht, dass sie – und damit auch die grundlegendsten Menschenrechte – jedem Menschen epochen-, staatsund kulturunabhängig zukommt, eben weil sie ihm aufgrund von etwas zukommen soll, das allen Menschen intrinsisch eignet. Eine Theorie, die eine solche Universalität nicht kennt, kann alleine darum schon keine Theorie der Menschenwürde sein. Wenn die Menschenwürde ihren Trägern aufgrund von etwas zukommt, das ihnen allen gemeinsam ist, so bedeutet das weiterhin, dass normative Forderungen, die an den Begriff der Menschenwürde geknüpft sind, für alle Träger der Menschenwürde gleichermaßen gelten. Daher schließt die Menschenwürde hinsichtlich der aus ihr folgenden Normen eine Ungleichbehandlung aufgrund spezifischerer Charakteristika wie Rasse, Religionszugehörigkeit, Geschlecht etc. aus. Es kann daher nur eine solche normative Theorie, in der allen Menschenwürdeträgern dieselben Rechte zukommen bzw. in der gegenüber allen Menschenwürdeträgern dieselben Pflichten gelten, überhaupt eine Theorie der Menschenwürde sein. 5.) Individuen als Träger: Die Menschenwürde stellt das menschliche Individuum in den Mittelpunkt der normativen Theoriebildung und bezieht diejenigen Rechte oder Pflichten, die mit dem Menschenwürdetheorem verknüpft sind, auf dieses. Andere Entitäten als menschliche Individuen, also beispielsweise religiös oder ethnisch bestimmte Gruppen, kommen damit nicht als Träger der Menschenwürde in Frage. Diese zentrale Stellung des Individuums ist aufs engste mit Punkt 4.) verknüpft, wonach hinsichtlich aller Träger der Menschenwürde dieselben normativen Maßstäbe gelten. Während die genannten Punkte auch und gerade innerhalb des verfassungsrechtlichen Diskurses weitgehend unumstritten sind, gibt es, wie die Analyse gezeigt hat, eine große Kontroverse um die Frage, ob der Menschenwürdegarantie über ihren Prinzipiencharakter hinaus außerdem und zusätzlich noch der Charakter eines spezifischen subjektiven Rechts mit spezifischen Verletzungstatbeständen und spezifischem normativem Gehalt neben und über den sonstigen Grund- bzw. Menschenrechten zukommt. Wie wir gesehen haben, führt eine solche Auffassung, die innerhalb des juristischen Diskurses in Deutschland durchaus als die derzeit „herrschende Meinung“ gelten kann, in Aporien, die von der Rechtsdogmatik nur mit immer neuen Hilfskonstruktionen mühsam
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2. Kapitel: Menschenwürde im verfassungsrechtlichen Diskurs
überdeckt werden können. Die eine zentrale Aporie besteht dabei in dem Umstand, dass die „herrschende Meinung“ einerseits an der „Unantastbarkeit“ des von ihr angenommenen spezifischen „Menschenwürderechts“ festhalten möchte, dass andererseits aber von den rechtsdogmatischen Prämissen der „herrschenden Meinung“ her Kollisionen der Menschenwürde eines Rechtssubjekts mit der eines anderen Subjekts logisch nicht ausgeschlossen werden können. Wie wir gesehen haben, begegnet die „herrschende Meinung“ dieser Aporie, indem sie die Unantastbarkeit der Menschenwürdegarantie durch implizite Zusatzannahmen wie die eines vermeintlichen Vorrangs der staatlichen Achtungsvor der staatlichen Schutzpflicht unter der Hand eben doch negiert, dies aber mit erheblichem rhetorischen Aufwand verschleiert. Dieser Taktik rhetorischer Verschleierung entspricht wiederum, dass jedem Vorschlag eines alternativen Abwägungskriteriums, wie anhand der Diskussion um den Ansatz Winfried Bruggers deutlich wird, nicht mehr argumentativ, sondern durch Empörungs rhetorik begegnet wird. Zugleich funktioniert, wie wir ebenfalls gesehen haben, die vermeintliche Auflösung der Aporie durch die Annahme eines Vorrangs der Achtungs- vor der Schutzpflicht nur auf der Basis einer systematischen Konfundierung der für jeden Rechtsstaat konstitutiven Befugnis zur Erzwingung der Einhaltung negativer Rechtspflichten mit einer positiven Pflicht – einer Konfundierung, die im Übrigen wesentlich bedenklicher ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag: würde sie konsequent angewandt doch die Grundlage des Rechts überhaupt aufheben, nämlich die Befugnis, die Einhaltung von Rechtspflichten zu erzwingen. Die zweite wesentliche Aporie der spezifisch-subjektivrechtlichen Lesart ist unmittelbarer Ausfluss der ersten Aporie und betrifft das Verhältnis der als spezifisches Recht gedachten Menschenwürde zu den übrigen Menschen- bzw. Grundrechten. Zum einen ist hierbei nicht klar, wie das Verhältnis zwischen der Garantie der Menschenwürde, die entsprechend der prinzipialistischen Lesart dadurch erfolgt, dass die einzelnen Grund- bzw. Menschenrechten garantiert werden, und dem Schutz der Menschenwürde als eines vermeintlichen spezifischen Rechts über diesen Rechten überhaupt sinnvoll sollte gedacht werden können. Das gilt insbesondere dann, wenn zwischen der Garantie des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ und der Garantie eines beliebigen anderen Grundrechts ein Widerspruch entsteht, wie es etwa in dem zitierten „peepshow“-Beispiel, in der Frage der Rettungsfolter, bei der die gängige Rechtsdogmatik oft von einer Abwägung zwischen „Menschenwürderecht“ und Lebensrecht ausgeht, oder manchen Versuchen einer rechtsdogmatischen Auflösung der Abtreibungsproblematik der Fall ist. In einem solchen Widerspruchsfall kommt die „herrschende Meinung“, soweit sie prinzipialistische und spezifisch-rechtliche Lesart zugleich vertritt, zwangsläufig zu der inkonsistenten Schlussfolgerung, dass es Handlungen oder rechtliche Regelungen gibt, die die Menschenwürde zugleich garantieren, nämlich qua spezifisches „Menschen-
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würderecht“, und verletzen, nämlich qua Verletzung eines bestimmten Grundrechts. Zusätzliche Brisanz gewinnt diese Problemkonstellation besonders dann, wenn es sich, wie im Fall des Lebensrechts, gegen das die Menschenwürde aktuell häufig in der skizzierten Weise ausgespielt wird, um ein Recht handelt, das die unabdingbare Voraussetzung der Menschenwürde garantiert. Da die Garantie der Menschenwürde, wie gezeigt wurde, diejenige des Lebensrechts notwendig impliziert, geht die zweite Aporie an dieser Stelle in eine Variante der ersten Aporie über. Eine dritte Schwierigkeit besteht in diesem Zusammenhang schließlich darin, dass es der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik bisher nicht gelungen ist, den normativen Gehalt jenes vermeintlich über allen anderen Menschenrechten stehenden „Menschenwürderechts“ in einer plausiblen Weise zu explizieren. Lösbar wären die genannten Aporien ohne jeden Zweifel dadurch, dass die spezifisch-subjektivrechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie zugunsten einer rein prinzipialistischen Lesart aufgegeben würde. So reizvoll diese Lösung prima facie wäre, scheint sie doch rein systemimmanent aus Gründen problematisch, die sofort deutlich werden, wenn man sich noch einmal die doppelte Funktion der Menschenwürde innerhalb der Rechtsdogmatik vor Augen führt. Einerseits fungiert die Menschenwürde darin als Prinzip oder zumindest als Geltungsgrund der Grund- bzw. Menschenrechte und als Begriff, der den Status eines Trägers subjektiver Rechte überhaupt anzeigt. Zugleich besitzt sie aber zumindest innerhalb der Rechtsdogmatik des deutschen Grundgesetzes offenkundig die Funktion einer deontologischen Schranke, die der ansonsten angenommenen Abwägbarkeit von Grundrechten gegeneinander, sowie ihrer Einschränkung im Hinblick auf Folgenkalküle und situative Gegebenheiten eine absolute, unüberwindbare Grenze zu setzen beansprucht. Der Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes verweist damit in philosophischer Perspektive auf die seit Jahrzehnten anhaltende Kontroverse zwischen deontologischen Normativitätsmodellen auf der einen und konsequentialistischen wie kasuistischen Ethikmodellen auf der anderen Seite. Dabei fügt der verfassungsrechtliche Diskurs über die Menschenwürde dem philosophischen Diskurs um Deontologie, Konsequentialismus und Kasuistik allerdings insofern noch eine entscheidende Dimension hinzu, als der philosophische Diskurs die einschlägigen Fragen zumeist in einem individualethischen Rahmen behandelt, die rechtsphilosophischen Aspekte der Problematik aber oftmals unthematisiert lässt. Das philosophische Nachdenken über die Menschenwürde als Rechtsbegriff wird dementsprechend nicht umhinkommen, sich sowohl mit der Kontroverse zwischen Deontologen und Konsequentialisten, als auch mit den rechtsphilosophischen Implikationen dieser Kontroverse auseinanderzusetzen. Der Menschenwürdediskurs verweist mithin auf nichts weniger als die Frage, ob und inwie-
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weit das Recht selbst eine konsequentialistische oder eine deontologische Tiefenstruktur besitzt. Zunächst gilt es allerdings festzuhalten, dass die zweifache Funktion der Menschenwürde in der Rechtsdogmatik des Grundgesetzes auch ein zweifaches rechtsphilosophisches Problem mit sich bringt. Wie wir gesehen haben, erfüllt die Menschenwürde innerhalb der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik die beiden scheinbar heterogenen Funktionen, zugleich das Prinzip der Menschenrechte und eine absolute deontologische Grenze im Anwendungsgefüge dieser Rechte zu bilden. Dass ein einziges Theorem aber zwei derart heterogene Funktionen sollte ausfüllen können, scheint aus rechtsphilosophischer Sicht auf den ersten Blick mehr als unplausibel. Des Weiteren tritt jene deontologische Grenze der Abwägbarkeit innerhalb des vergegenständlichenden Denkens der zeitgenössischen deutschen Rechtsdogmatik eben in der Form eines spezifischen subjektiven „Rechts auf Menschenwürde“ auf: eines Rechts, das über und neben den weiteren Grund- bzw. Menschenrechten stehen soll und dem spezifische Verletzungstatbestände entsprechen sollen, die nicht mit der Gesamtheit der Verletzungstatbestände dieser Rechte identisch sind. Verwirft man vor diesem Hintergrund nun die spezifisch-subjektivrechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie völlig zugunsten der prinzipialistischen Lesart, so würde das unter der Voraussetzung der „herrschenden Meinung“ nichts weniger bedeuten, als dass jegliche Einschränkung der Abwägbarkeit der Grundrechte im Hinblick auf Folgenkalküle und situative Gegebenheiten überhaupt wegfiele. Das positive Recht und die Rechtsanwendung würden so zu einem Spielball utilitaristischer und konsequentialistischer Güterabwägungskalküle, die die Idee des Rechts überhaupt in Frage zu stellen geeignet wären. Wir scheinen an dieser Stelle also unversehens in ein rechtsphilosophisches Dilemma zu geraten, dessen beide Hörner gleichermaßen problematisch wären: Akzeptieren wir ein Nebeneinander von prinzipialistischer und spezifisch-subjektivrechtlicher Lesart, so handeln wir uns damit auch alle bereits aufgezeigten Schwierigkeiten und Aporien sowohl dieses Nebeneinanders wie auch der spezifisch-rechtlichen Lesart selbst ein. Das entspricht dem ersten Horn des Dilemmas. Oder wir geben die spezifisch-rechtliche Lesart auf, verlieren damit zugleich aber die deontologische Schranke, die einer de facto dann beliebigen Aufhebung der Grundbzw. Menschenrechte im Namen von Folgen- und Situationskalkülen eine unbedingte Grenze setzt. Dies wäre das zweite Horn des Dilemmas. Betrachtet man das Dilemma freilich näher, so stellt man fest, dass es nur unter einer bestimmten, von der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik allerdings gemachten Voraussetzung überhaupt existiert: nämlich unter der Voraussetzung, dass alle Grund- bzw. Menschenrechte in der Art von Gütern grundsätzlich gegeneinander abwägbar seien und mithin kein einziges Grund- bzw. Menschenrecht außer eben dem vermeintlichen „Menschenwürderecht“ unbedingte, d. h. folgen- und situationsunabhängige Geltung beanspruchen könne.
VI. Spezifisch-rechtliche und prinzipialistische Lesart: ein Fazit
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Das zentrale Argument für diese Voraussetzung ist wiederum, wie wir ebenfalls bereits gesehen haben, die vermeintliche Aufhebbarkeit selbst höchster Rechte wie des Lebensrechts für den Fall der Notwehr bzw. Notwehrhilfe. Eine Theorie der Menschenwürde, die eine rechtsphilosophisch begründete Alternative zu den Dilemmata der herrschenden Verfassungsrechtsdogmatik aufzeigen möchte, wird dementsprechend nicht umhin kommen, das Dogma der prinzipiellen Abwägbarkeit der Grund- bzw. Menschenrechte gegeneinander in Frage zu stellen. Das macht es sowohl erforderlich, sich mit der Frage nach der Möglichkeit situations- und folgenunabhängig geltender Rechtspflichten zu befassen, wie auch, eine Alternative zur gängigen rechtsdogmatischen Auflösung der Notwehrproblematik zu entfalten. Mit diesen Überlegungen ist nun endgültig formuliert, welchen Kriterien eine Theorie der Menschenwürde genügen müsste, die als philosophische Rekonstruktion desjenigen Menschenwürdebegriffs gelten dürfte, der in nationalen wie internationalen Rechtstexten seinen Niederschlag gefunden hat. Als philosophische Rekonstruktion des rechtlichen Menschenwürdebegriffs kann demnach eine Theorie gelten, die es erlaubt, die Charakteristika – der Prinzipiierung und überpositiven Verankerung der Menschenrechte, – der Anzeige des Status eines Menschenrechtssubjekts, – der Rückführung der Menschenrechtsträgerschaft „alleine auf das Menschsein“, – der Universalität und Egalität, sowie – der alleinigen Trägerschaft durch menschliche Individuen auf ein gemeinsames Prinzip bzw. ein gemeinsames Theorem zurückzuführen und sie aus diesem heraus zu begründen. Eine kritische philosophische Rekonstruktion der Verwendung des Menschenwürdebegriffs im Rahmen der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik müsste, wie zuletzt gezeigt wurde, zudem in der Lage sein, aus ebendiesem Prinzip auch die Funktion einer „Abwägungsschranke“ und mithin eines Moments „absoluter Deontologie“ innerhalb des Rechts zu explizieren. Wie bereits im Rahmen der methodischen Vorüberlegungen erläutert wurde, bedeutet dieser Ansatz beim positiven Recht keineswegs einen Verzicht auf eine genuin philosophische Erörterung des Menschenwürdebegriffs. Die Theorie der Menschenwürde, die vor jenem Hintergrund entwickelt wird, muss, wenn es denn gelingt, sie zu entwickeln, als rechtsphilosophische Theorie für sich selbst stehen und kann dementsprechend auf das positive Recht nicht ihrerseits als Begründungsressource zurückgreifen. Vielmehr muss sie selbst als Grundlegung desjenigen verstanden werden, was im positiven Recht unter dem Begriff der Menschenwürde derzeit noch weitgehend ungeklärt und ohne weitere Grundlegung auftaucht. Der wesentliche Vorteil einer solchen Herangehensweise liegt aus philosophischer Perspektive darin, dass eine Theorie, die mit
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Recht den Anspruch erheben kann, eine kritische philosophische Rekonstruktion und Grundlegung derjenigen Rolle zu bieten, die die Menschenwürde in existierenden Rechtssystematiken hat, von den Rechtswissenschaften und der Rechtspraxis nicht mit dem Argument zurückgewiesen werden kann, die Rechtswissenschaften hätten eben einen anderen Begriff der Menschenwürde als die philosophische Tradition. Zugleich bedeutet die skizzierte Vorgehensweise auch nicht, dass die philosophische Tradition des Menschenwürdebegriffs zugunsten einer Grundlegung des Menschenwürdebegriffs existierender Rechtssysteme über Bord geworfen würde. Vielmehr wird sich zeigen, dass zwischen einer solchen Grundlegung und der klassischen philosophischen Theoriebildung zum Menschenwürdebegriff eine Konvergenz besteht, die in Fichtes anerkennungstheoretischer Transformation der praktischen Philosophie Kants ihren Kulminationspunkt hat und die es erlaubt, die Thematik gleichursprünglich auch von der philosophischen Tradition her anzugehen. Nachdem bislang also eine kritische Analyse der Rolle und Funktion des Menschenwürdebegriffs in existierenden Rechtssystematiken geleistet wurde, wird das folgende Kapitel – unter stetem Rückbezug auf diese Analyse – zunächst die Herausbildung des Menschenwürdebegriffs in Antike und Mittelalter untersuchen. Das darauf folgende Kapitel wird dann die systematische Rolle des Menschenwürdebegriffs bei Kant und dessen anerkennungstheoretische Transformation durch Fichte in den Blick nehmen.
3. Kapitel
Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance „Etiam si in caelo Capitolium statueretur, ubi imber esse non posset, nullam sine fastigio dignitatem habititurum fuisse videatur.“ (Marcus Tullius Cicero: De oratore)
I. Der Würdebegriff der philosophischen Tradition Im Rahmen einer Untersuchung zur Menschenwürde als eines möglichen Rechtsbegriffs ist es nicht von vornherein selbstverständlich, die Analyse des verfassungsrechtlichen Umgangs mit dem Begriff um eine Studie zur Geschichte und Entwicklung des Menschenwürdegedankens vor Kant zu ergänzen. Nicht selbstverständlich deshalb, weil es den Anschein haben kann, als sei es da, wo vor Kant überhaupt von „Menschenwürde“ die Rede war, immer „bloß“ um Pflichten gegen sich selbst gegangen sei, nicht aber um Pflichten gegen andere, geschweige denn um Rechtspflichten oder Rechte. Nicht selbstverständlich auch deshalb, weil auch der verfassungsrechtliche Menschenwürdebegriff von den meisten Autoren auf Kant und die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs zurückgeführt wird, so dass für die Untersuchung der Menschenwürde als Rechtsbegriff der Rückgang hinter Kant allenfalls geistesgeschichtlich interessant, nicht aber systematisch erforderlich zu sein scheint. Dass dies nicht der Fall ist, hat im Wesentlichen drei Gründe. Der erste und evidenteste ist, dass Kants Reflexion über den Menschenwürdebegriff natürlich ihrerseits auf einer langen, mindestens bis auf Cicero zurückgehenden Tradition aufbaut, diese aufgreift, transformiert und neu begründet. Wer Rolle und Funktion des Menschenwürdebegriffs sowohl bei Kant wie im modernen Verfassungsrecht angemessen verstehen will, wird dementsprechend nicht umhinkommen, sich mit dieser Tradition zu befassen. Dabei wird sich nicht zuletzt zeigen, dass sowohl wichtige Grundpfeiler der kantischen Moralphilosophie, einschließlich der Menschheitsformel des Kategorischen Imperatives, als auch diejenige Wendung, die es möglich macht, den Menschenwürdebegriff als genuinen Rechtsbegriff zu denken, auf Thomas von Aquin zurückgehen. Der zweite Grund liegt in dem Umstand, dass das Verhältnis der Begriffe der „Würde“ als eines durchaus vielschichtigen alltagssprachli-
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
chen Ausdrucks und der „Menschenwürde“ als eines Fachterminus, der erst innerhalb philosophischer und theologischer Diskurse geprägt und geformt wurde, vielfach ungeklärt ist. Die Unklarheiten wiederum führen nicht selten zu erheblichen systematischen Verwirrungen, im Bereich des Rechts ebenso wie in philosophischen Diskursen und öffentlichen Debatten über den Menschenwürdebegriff. Dass es zur Klärung dieses Verhältnisses notwendig ist, geschichtlich nachzuzeichnen, aus welchen Aspekten eines alltagssprachlichen Verständnisses von „Würde“ sich auf welche Weise der genuin philosophische Menschenwürdebegriff entwickelt hat, liegt auf der Hand. Dies führt schließlich zu einem dritten Grund, der die Befassung mit der Begriffsgeschichte motiviert. Dieser Grund hängt zusammen mit einigen neueren Versuchen, dem rechtlichen Menschenwürdebegriff in Abgrenzung zu der von Cicero bis Kant und darüber hinaus reichenden Tradition eine neue Deutung zu geben, die ausgeht von einem alltagssprachlichen, am Begriff der persönlichen Ehre angelehnten Verständnis von „Würde“. Für solche Versuche stehen im deutschen Sprachraum unter anderem Ralf Stoecker, Peter Schaber, Christian Neuhäuser und Arnd Pollmann.1 Stoecker und Schaber verstehen „Menschenwürde“ dabei in Berufung auf Avishai Margalit als ein spezifisches Recht oder zumindest einen spezifischen moralischen Anspruch, nicht in einer extremen Weise gedemütigt zu werden. Dabei wird unter einer extremen Demütigung wiederum eine solche Demütigung verstanden, bei der die Fähigkeit des Betroffenen zur Selbstachtung in nachhaltiger Weise beeinträchtigt wird. „Menschenwürde“ wird also wie in der „spezifisch-rechtlichen“ Lesart der Verfassungsrechtsdogmatik als ein spezielles Recht neben anderen Rechten betrachtet, allerdings nicht wie in dieser als „Recht auf Nichtinstrumentalisierung“, sondern letztlich als ein Recht auf Achtung der Fähigkeit zur Selbstachtung. Während die systematische Erörterung der Einwände gegen das Verständnis der Menschenwürde als eines spezifischen Demütigungsverbots einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben muss2 , kann in deren Vorbereitung bereits die begriffsgeschichtliche Untersuchung zeigen, dass dieses Verständnis an bestimmte Aspekte des Begriffs der „Würde“ im Sinn der Amts- oder Rollenwürde zwar durchaus ansetzen kann. Allerdings zeigt sich auch, dass der philosophische Begriff der Menschenwürde, wie er letztlich auch dem modernen Rechtsdenken noch zugrunde liegt, sich schon sehr früh von genau diesem alltagssprachlichen Würdeverständnis abgesetzt und in eine bestimmte Richtung entwickelt hat: nämlich in die Richtung, auf der Grundlage des Selbstverständnisses vernunftbegabter Wesen als vernunftbegabter Wesen, einen in evaluativer Hinsicht herausgehobenen Status zu bezeichnen und mit diesem bestimmte Pflichten zu verknüpfen. Das bedeutet dann zwar nicht, dass es un Vgl. S. 24, Fn. 3. Vgl. 1. Exkurs , S. 241–250.
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I. Der Würdebegriff der philosophischen Tradition
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sinnig wäre, wie Stoecker, Schaber, Pollmann usw. es tun, Begriffe wie Ehre, Selbstachtung, Selbstdarstellung und Demütigung zum Thema der praktischen Philosophie zu machen. Ganz im Gegenteil ist es durchaus verdienstvoll, dies zu tun, da gerade Phänomene der Demütigung und Erniedrigung von der praktischen Philosophie bislang in der Tat lange zu wenig beachtet wurden. Dass es etwa einen moralischen Anspruch, wenn nicht ein Recht gibt, nicht in gravierender Weise gedemütigt und in der Selbstachtung beeinträchtigt zu werden, dürfte außer Frage stehen. Diesen moralischen Anspruch auf Achtung der empirisch-psychologischen Selbstachtung aber mit dem Begriff der „Men schenwürde“ zu bezeichnen, ist unplausibel. „Menschenwürde“ ist ein Begriff, der – wie alleine schon die begriffsgeschichtliche Analyse zeigt – auf einer fundamentaleren Ebene angesiedelt ist als auf der Ebene einer empirischen Sozialpsychologie des Selbstwertgefühls, auf der ihn Pollmann, Stoecker und andere verorten wollen. Das gilt zumal, da die genannten Autoren gerade den Universalitätsanspruch, und auch größtenteils die Begründungsressourcen ihres Würdekonzepts, aus jenem fundamentaleren Verständnis der Menschenwürde beziehen, während sie diesem doch gleichzeitig auf der inhaltlichen Ebene ein davon verschiedenes Verständnis unterschieben. Bevor nun vor diesem Hintergrund zunächst der altrömische dignitas-Begriff in den Blick genommen wird, sei noch als letzte Bemerkung vorausgeschickt, dass im Rahmen der vorliegenden Untersuchung keineswegs der Anspruch erhoben wird, eine vollständige Begriffs- und Ideengeschichte der Menschenwürde zu liefern, zumal dies bereits von anderen Autoren geleistet wurde.3 Wie im Einleitungskapitel erläutert, geht es der vorliegenden Arbeit darum, einen systematischen Entwurf zum Verständnis der Menschenwürde als eines Rechtsbegriffs vorzulegen. Die Begriffsgeschichte des Menschenwürdebegriffs wird darum hier nur insoweit in den Blick genommen werden, wie es zu jenem Verständnis erforderlich ist. Fluchtpunkt der hier vorgelegten ideengeschichtlichen Analyse sind dementsprechend auch die kantische Rechts- und Moralphilosophie, ihre Transformation durch Fichte, sowie die Rezeption des Menschenwürdebegriffs in nationalen und internationalen Rechtstexten. Diese Fokussie So etwa von Panajotis Kondylis und Viktor Pöschl (Kondylis, Panajotis/Pöschl, Viktor: Artikel „Würde“ in Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1972–1997, S. 637–677), Viktor Pöschl (Pöschl, Viktor: Würde im antiken Rom und später. Heidelberg 1989), Armin Wildfeuer (Wildfeuer, Armin G.: Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke? In: Nicht, Manfred/Wildfeuer, Armin G. (Hg.): Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput. Münster 2002), Paul Tiedemann (Tiedemann, Paul: Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung. Berlin 20102 S. 109–172), Mette Lebech (Lebech, Mette: On the Problem of Human Dignity: A Hermeneutical and Phenomenological Investigation. Würzburg 2009) und neuerdings von Hans Jörg Sandkühler (Sandkühler, Hans Jörg: Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz des Menschen. Freiburg/München 2014, insbesondere S. 53–144). 3
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
rung der Fragestellung bedeutet zweifelsohne nichts weniger als die Verengung einer reichen philosophischen und theologischen Tradition. Zugleich erlaubt sie es – wie jede Fokussierung – jedoch auch, bekannte Theoreme auf neue Weise in den Blick zu nehmen.
II. Menschenwürde in der Antike 1. Dignitas in der altrömischen Gesellschaft Wer sich begriffsgeschichtlich mit der Menschenwürde befasst, kommt nicht umhin, zunächst den altrömischen Begriff der „dignitas“ in den Blick zu nehmen. Dieser Rückgang hat seinen augenscheinlichen Grund in der Tatsache, dass die Konzeption einer spezifischen dignitas der menschlichen Vernunftnatur historisch zum ersten Mal bei Cicero mit Sicherheit belegt ist. Zwar dürfte Ciceros Konzeption auf Panaitios von Rhodos zurückgehen; da Panaitios’ Werk „περὶ τοῦ καθήκοντος“ aber verloren ist, lässt sich allenfalls darüber spekulieren4 , ob den beiden loci classici der ciceronianischen Konzeption menschlicher Würde im ersten Buch von „De officiis“ entsprechende Passagen bei Panaitios von Rhodos korrespondiert haben mögen und welche Begrifflichkeiten Panaitios dafür verwendet haben mag. Sofern der dignitas-Begriff in der altrömischen Gesellschaft auch unabhängig von und lange vor seinem Gebrauch im Sinn menschlicher Würde eine zentrale Bedeutung hatte, ist des Weiteren davon auszugehen, dass sich wesentliche Bedeutungsmomente des altrömischen dignitas-Begriffs auf den der Menschenwürde übertragen haben. Für die Frage nach dem Gehalt des Menschenwürdebegriffs ist dieser Umstand umso wichtiger, als gerade der altrömische dignitas-Begriff als paradigmatischer und zugespitzter Fall einer Konzeption von sozialer und politischer „Würde“ gelten kann, wie er in der einen oder anderen Weise vermutlich in allen menschlichen Gemeinschaften bekannt ist. Etymologisch geht das Wort „dignitas“ höchstwahrscheinlich 5 auf das Substantiv decus, -oris zurück, das ursprünglich „Schmuck“, „Glanz“ oder „Zierde“ bedeutet, im übertragenen Sinn aber auch „Auszeichnung“ und „Ehre“ bedeuten kann und noch in der Spätantike nicht selten einfach synonym mit „dig4 Entsprechende Spekulationen finden sich bei Pöschl, der annimmt: „In der hellenistischen Philosophie, und zwar, wie zu vermuten ist, vor allem in der Mittleren Stoa, muss ἀξίωμα bereits aufgetreten sein, um die Stellung des Menschen im Kosmos und den Rang des Geistes oder der Seele im Menschen zu bezeichnen. Das scheint sich aus den Reflexen bei Philon von Alexandrien und den antiken Kirchenvätern zu ergeben.“ (Pöschl a.a.O. S. 10 f.), bei Tiedemann a.a.O. S. 113 und bei Lebech a.a.O. S. 36 f. 5 Vgl. dazu Drexler, Hans: Dignitas. Rektoratsrede, gehalten in der Aula der Georg-August-Universität zu Göttingen am 18. November 1943. Wiederabdruck in: Klein, Richard (Hg.): Das Staatsdenken der Römer. Darmstadt, 3. Aufl. 1980, S. 231–254; hier: S. 233.
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nitas“ verwendet wird. In dieser Etymologie kommt bereits ein zentrales Bedeutungsmoment des Würdebegriffs zum Ausdruck: der Gedanke nämlich, dass die dignitas gleichsam die äußerlich sichtbare – genauer gesagt: sich selbst nach außen darstellende, aber auch von anderen in dieser Außendarstellung anerkannte – Seite einer bestimmten Vorzüglichkeit ist. Ausgesagt wird dignitas in diesem Sinn in der Regel von Menschen, zumeist von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Von daher ist es dann auch kein weiter Schritt mehr, unter dignitas diejenige Vorzüglichkeit selbst zu verstehen, die sich in Verhalten, Äußerungen etc. nach außen zum Ausdruck bringt: ein Umstand, der letztlich in so etwas wie einer Dialektik des „Sich-Ausdrückens“ begründet liegt, in der Ausgedrücktes und Ausdruck als nur durch die Bewegung des Ausdrückens voneinander verschieden, letztlich miteinander identisch gedacht werden müssen. Die damit bezeichnete Grundstruktur liegt auch dem von der römischen Antike bis weit in die frühe Neuzeit vorherrschenden und noch heute durchaus bekannten Gebrauch des Würdebegriffs im Sinn der Amts- oder Rollenwürde zugrunde. Nimmt man etwa den auch im Deutschen bis heute geläufigen Begriff der „Amtswürde“, so gilt, dass derjenige, der eine spezielle Amtswürde innehat – z. B. die eines Richters oder eines Senators –, angehalten ist, sich seiner herausgehobenen Rolle gemäß zu verhalten und dementsprechend das Amt auch in seinem Verhalten gleichsam zur äußeren Darstellung zu bringen. Ebenso sind andere angehalten, dem Träger jener „Würde“ mit dem ihm gebührenden Respekt zu begegnen, wobei dieser Respekt sich wiederum in bestimmten, oft ritualisierten Verhaltensweisen dem Würdenträger gegenüber darzustellen hat. 6 Von Bedeutung ist dabei, dass es sich bei den Ämtern und Rollen, um die es im Begriff der dignitas oder der „Würde“ geht, stets um herausgehobene, sozial besonders angesehene und evaluativ wie normativ positiv bewertete Ämter bzw. Rollen handelt. In Bezug auf die Rolle eines Diebes oder eines Mörders würde üblicherweise niemand von einer spezifischen „Würde“ oder „dignitas“ reden, wohl aber beispielsweise in Bezug auf die Rolle eines Richters, eines Familienvaters oder eines Bischofs. Rolf Rilinger beschreibt die komplexe Bedeutung des römischen dignitas-Begriffs denn auch prägnant mit den Worten: „Der Begriff dignitas, dessen diffizile Wortgeschichte nicht völlig rekonstruierbar ist, findet in der späten Republik und in der Kaiserzeit einerseits unspezifisch auf alles Anwendung, was Achtung und Bewunderung verdient, gewinnt aber andererseits zur Bezeichnung der äußeren Würde, des sozialen und politischen Rangs fast technische Bedeutung.“7
6 Armin Wildfeuer identifiziert dies als die „expressive“ Bedeutungsschicht des Würdebegriffs (vgl. Wildfeuer a.a.O S. 32 ff.). 7 Rilinger, Rolf: Ordo und dignitas. Beiträge zur römischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, hg. von Tassilo Schmitt und Aloys Winterling. Stuttgart 2007, S. 96.
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Schon beim altrömischen dignitas-Begriff fällt mithin eine gewisse Mehrdeutigkeit insofern auf, als der Begriff sich ausgehend von der skizzierten Grundstruktur sowohl auf das Amt bzw. die Rolle oder den sozialen Status beziehen kann, die zur Darstellung gebracht werden, als auch auf die charakterliche Eignung zu diesem Amt bzw. dieser Rolle, als auch drittens auf die Art und Weise der Darstellung. Die erste Bedeutung wird greifbar, wo dignitas – wie dann meist in mittelalterlichen Texten – einfach im Sinne eines bestimmten, meist politischen Amtes oder sozialen Rangs gemeint ist; die zweite, wo die Rede ist von der innerlichen dignitas des Amts- oder Rollenträgers selbst, der aufgrund dieser dignitas eines Amtes oder einer Rolle „würdig“ ist, und die dritte, wo es um die „Würdigkeit“ des Verhaltens des Amts- oder Rollenträgers geht. Insbesondere im zweiten Sinn nähert sich der Würdebegriff dem aus der praktischen Philosophie des Platon und des Aristoteles bekannten Begriff des „Verdienstes“ oder der „Würdigkeit“, also der ἀξία, an. Es lässt sich dann sagen, dass ein Mensch sich z. B. einer bestimmten Güterzuteilung oder Ehrbezeugung durch seine Tugendhaftigkeit als „würdig“ oder „wert“ erwiesen hat. In der adjektivischen Verwendung als „würdig“ bzw. „unwürdig“ bringt der Würdebegriff mithin in der Regel eine „Angemessenheit“ von etwas Äußerlichem – meist Verhaltensweisen oder Umständen – zu dem, was eine Entität in einer bestimmten Hinsicht ist, zum Ausdruck. Wenn etwa heute oft davon die Rede ist, dass bestimmte Verhältnisse, Verhaltensweisen oder sprachliche Äußerungen „menschenunwürdig“ seien, so ist damit offenbar nichts anderes gemeint, als dass diese Verhältnisse, Verhaltensweisen oder sprachlichen Äußerungen demjenigen nicht angemessen sind, was einen Menschen seinem Sein als Mensch nach ausmacht. Ähnliches lässt sich auch da beobachten, wo nicht von der Menschenwürde, sondern etwa von der Würde einer sozialen Rolle oder eines Amtes die Rede ist. Auch hier ist dann oft die Rede davon, dass eine Person sich ihres Amtes oder ihrer Rolle, z. B. als Richter, Präsident, Vater oder Römer, nicht als „würdig“ erweise, eben weil ihr Verhalten jener Rolle oder jenem Amt unangemessen sei. So führt Caesar etwa in „De bello Gallico“ aus, es sei nicht nur zu unsicher, einen Fluss per Schiff zu überqueren, sondern es sei auch seiner und des römischen Volkes unwürdig, dies zu tun: „Sed navibus transire neque satis tutum esse arbitrabatur neque suae neque populi Romani dignitatis esse statuebat.“8 Der Begriff der „Würde“ ist insofern zumindest in seinem im weitesten Sinn adjektivischen Gebrauch ein Begriff, der grundsätzlich auf die Angemessenheit abzielt zwischen dem, was eine Person ihrem Rang nach ist – sei es ein innerlicher Rang der Tugendhaftigkeit oder aber ein politisch-sozialer Rang –, und der praktischen Darstellung ihres Rangs nach außen hin. Der Begriff der „Würde“ Caius Julius Caesar: Bellum Gallicum, hg. von Georg Dorminger. München, 7. Aufl. 1981, Buch IV, 17, S. 160. 8
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verknüpft dementsprechend immer einen bestimmten Status oder eine bestimmte Wertigkeit mit bestimmten Verhaltensnormen; und es ist nicht zuletzt dieser Umstand, der ihn für normative Ethik und normative Rechtsphilosophie so attraktiv macht. Bedeutsam ist nun weiterhin, dass es sich bei den Entitäten, von denen „Würdigkeit“ oder „Unwürdigkeit“ ausgesagt wird, in aller Regel um Subjekte – wie Caesar – oder um Gruppen von Subjekten – wie etwa „das römische Volk“ – handelt. Das gilt auch und gerade dann, wenn von einer Amts- oder Rollenwürde die Rede ist, denn hier ist es immer ein bestimmter Mensch oder eine bestimmte Gruppe von Menschen, die ihrer Rolle oder ihrem Amt gemäß bzw. nicht gemäß handeln. Der Würdebegriff ist dahingehend zu präzisieren, dass er nicht nur einfach eine Angemessenheit zwischen dem, was eine beliebige Entität ist, und der äußerlichen Darstellung dieses Seins beschreibt. Vielmehr geht es beim Würdebegriff gerade darum, als was ein Subjekt oder eine Gruppe von Subjekten sich selbst versteht und als was sie von anderen Subjekten verstanden werden. „Würde“ ist damit, noch bevor speziell von der Menschenwürde die Rede ist, ein Begriff, der immer auch auf das sozial vermittelte und inhaltlich gefüllte Selbstverhältnis eines Subjekts oder einer Gruppe von Subjekten abzielt. Wenn also etwa das Überqueren eines Flusses zu Schiff von dem Römer Caesar als eines Römers unwürdig betrachtet wird, so steht damit nicht alleine die Angemessenheit zwischen dem Römer-Sein und der Handlungsweise des Überquerens eines Flusses zu Schiff auf dem Spiel, sondern es handelt sich um eine von dem Träger einer solchen Rollenwürde selbst reflektierte Angemessenheit, in der sich ein bestimmtes, aus der eigenen Sicht als positiv geltendes Verständnis seiner selbst und damit ein positives Verhältnis zu sich selbst ausdrückt. In der Allgemeinheit dieser formalen Grundbedeutung lässt der Würdebegriff dann allerdings Explikationen und Fortschreibungen in die verschiedensten Richtungen zu: ein Umstand, der nicht unerheblich zur teilweise verwirrenden Vielfalt im Gebrauch des Würdebegriffs über die Jahrhunderte beigetragen hat. Für eine philosophische Untersuchung der Menschenwürde, zumal der Menschenwürde als eines Rechtsbegriffs, sind nun viele dieser Verästelungen nicht von unmittelbarer Bedeutung. Wo es um die Menschenwürde geht, ist hinsichtlich der herausgestellten Grundbedeutung des Begriffs eine wichtige, wenngleich eigentlich selbstverständliche Präzisierung vorzunehmen: die Präzisierung nämlich, dass dann, wenn von „Menschenwürde“ die Rede ist, dasjenige Sein, um welches es bei der Angemessenheit zwischen Sein und äußerer Darstellung geht, das Sein als Mensch ist. Der Begriff der Menschenwürde zielt mithin ab auf eine Angemessenheit zwischen dem Sein als Mensch und den äußeren Verhältnissen und/oder Verhaltensweisen, in denen dieses Menschsein sich vollzieht. Wird die Menschenwürde-Problematik in dieser Weise formuliert, so wird klar, dass es sich bei „Menschenwürde“ nicht um einen ursprünglich alltagssprachlichen Begriff handelt, der von der Philosophie aufgegriffen
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und dann philosophisch reflektiert worden wäre, wie es etwa bei Begriffen wie „Schönheit“, „Freiheit“ oder „Sein“ der Fall ist, sondern vielmehr um eine überhaupt erst im Raum der Philosophie entstandene Konzeption – die als solche allerdings einen Versuch bildet, ein bestimmtes Grundproblem in der Begründung von Normativität überhaupt auf den Begriff zu bringen. Bevor allerdings darauf im weiteren Verlauf dieser Untersuchung näher eingegangen werden kann, ist es notwendig, noch an zwei spezifische Bedeutungsdimensionen des altrömischen dignitas-Begriffs zu erinnern, die für die Herausbildung des Menschenwürdebegriffs bedeutsam geworden sind. Zum einen handelt es sich dabei um eine genuin politisch-partizipatorische Dimension des Begriffs, wie sie exemplarisch in Ciceros „De re publica“ zum Ausdruck kommt. Zum anderen ist von Bedeutung, dass, wie eine Vielzahl von Autoren bemerkt hat, im altrömischen dignitas-Begriff die Figuren der Mäßigung und der Großzügigkeit und vor allem der Kontrolle über die eigenen Triebe und eigenen negativen Emotionen eine wichtige Rolle spielen. Pöschl führt dazu aus: „Die dignitas ist nicht nur Privileg, sondern verpflichtende Norm, und damit kommen wir zu ihrer moralischen Seite. Wer auf dignitas Anspruch erhebt, muß Selbstdisziplin üben. Er muß das Animalische und Emotionale in sich selbst bezwingen. Dies vor allem macht den Begriff ‚Würde‘ zu einem Element des römischen Selbstbewußtseins und des römischen Überlegenheitsgefühls, einem Wesensmerkmal römischer Haltung und römischen Stils.“ 9
Ausgangspunkt für die politisch-partizipatorische Dimension ist allerdings nicht in erster Linie dieser Aspekt, als vielmehr das Verständnis von dignitas als eines Rangs innerhalb der römischen Ämterlaufbahn. Cicero kritisiert vor dem Hintergrund dieses Verständnisses in einer aufschlussreichen Stelle Königsund Optimatenherrschaften dafür, dass sie denjenigen, die nicht Könige bzw. Optimaten sind, keine angemessene Beteiligung an der Herrschaft gewährleisteten, zugleich aber auch die Volksherrschaft dafür, dass sie gar keine Abstufung der Ränge bzw. Würden im Staat kenne: „Sed et in regnis nimis expertes sunt ceteri communis iuris et consilii, et in optimatium dominatu vix particeps libertatis potest esse multitudo, cum omni consilio communi ac potestate careat, et cum omnia per populum geruntur quamvis iustum atque moderatum, tamen ipsa aequabilitas est iniqua, cum habet nullos gradus dignitatis.10 (De Re Publica, S. 130 f.) 9 Pöschl, Viktor: ‚Würde‘ im antiken Rom. In: Panajotis/Pöschl a.a.O. S. 637–677; hier S. 639. 10 „Aber in Königreichen sind die übrigen allzu sehr ohne Teil an dem gemeinsamen Recht und Planen, und unter der Herrschaft der Optimaten kann die Menge kaum Anteil an der Freiheit haben, da sie jeglichen gemeinsamen Planens und jeglicher Macht entbehrt, und wenn alles von einem noch so gerechten und maßvollen Volk geleitet wird, so ist doch eben die Gleichmäßigkeit unbillig, dadurch dass sie kein Stufen der Würde kennt.“ (Marcus Tullius Cicero: De re publica, hg. und übers. von Karl Büchner. München/Zürich, 4. Aufl. 1987; Buch I, 43, S. 56 [lat.]/S. 57 [dt.]).
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Beides hängt für Cicero offenbar insofern zusammen, als die gradus dignitatis, die Abstufungen der Würden, für ihn die Voraussetzung einer abgestuften politischen Partizipation sind. Die gradus dignitatis sind mithin für Cicero der Garant für die Möglichkeit echter politischer Partizipation und damit für Freiheit im Sinn politischer Autonomie. Wo sie fehlen, da herrschen, – selbst da, wo mit höchster Gerechtigkeit regiert wird –, für Cicero Unfreiheit und geradezu Sklaverei: „Itaque si Cyrus ille Perses iustissimus fuit sapientissimusque rex, tamen mihi populi res – ea enim est, ut dixi antae publica – non maxime expetenda fuisse illa videtur, cum regeretur unius nutu ac modo; si Massiliensis nostri clientes per delectos et principes cives summa iustitia regunter, inest tamen in ea conditione populi similitudo quaedam servitutis.“11
Derartige Stellen dürfen freilich nicht in dem modernen Sinn missverstanden werden, Cicero plädiere hier im Rückgriff auf den dignitas-Begriff für die allgemeine politische Partizipation aller Bürger. Zwar plädiert er gegen die alleinige Herrschaft eines Einzigen oder eines kleinen Zirkels von Mächtigen und für die Möglichkeit nach Würden abgestufter Partizipation. Allerdings plädiert er eben für die abgestufte und nicht für die gleiche Partizipation, die er vielmehr – wie das folgende Beispiel der attischen Demokratie zeigt – sogar als ebenso unwürdig erachtet wie das Fehlen von Partizipation: „Si Atheniensis quibusdam temporibus sublato Areopago nihil nisi populi scitis ac decretis agebant, quoniam distinctos dignitatis gradus non habebant, non tenebat ornatum suum civitas.“12
Cicero kann mithin kaum als Verfechter gleicher demokratischer Partizipation in einem Gemeinwesen in Anspruch genommen werden. Dennoch verweist der politische Gebrauch des dignitas-Begriffs, wie er hier zu finden ist, auf einen wesentlichen Aspekt, den der Würdebegriff durch vielfältige Modifikationen hindurch bis in die Gegenwart hinein behalten hat: nämlich auf den Aspekt von Freiheit durch Selbstregierung bzw. Autonomie, sei es in politischer Hinsicht, sei es in individualethischer Hinsicht. Die erste Hinsicht bedeutet nichts weniger, als dass die gleichsam „politische“ Würde des Mitglieds eines Gemeinwe11 „Wenn deshalb der berühmte Perser Kyros der gerechteste und weiseste König war, so scheint mir doch jene ‚Sache des Volkes‘ – das ist nämlich, wie anfangs gesagt, das Gemeinwesen – nicht besonders erstrebenswert gewesen zu sein, da sie durch eines Mannes Wink und Maß gelenkt wurde. Wenn die Massilier, unsere Schützlinge, von auserwählten und fürstlichen Männern mit höchster Gerechtigkeit regiert werden, liegt doch in dieser Lage des Volkes eine gewisse Ähnlichkeit mit der Dienstbarkeit.“ (Cicero a.a.O. Buch I, 43, S. 56 f. [lat.]/S. 57 f. [dt.]). 12 „Wenn die Athener zu bestimmten Zeiten nach Aufhebung des Areopags alles durch Volksbeschlüsse und Volksentscheide betrieben, hielt der Staat, da sie ja keine unterschiedenen Stufen der Würde kannten, seine ihm eigene Zier nicht fest.“ (Cicero: a.a.O. Buch I, 43, S. 58[lat]/S. 59 [dt.]).
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sens sich in seiner Beteiligung an den politischen Entscheidungen dieses Gemeinwesens verwirklicht und er dadurch an der Würde eines Herrschers teilhat. In der innerphilosophischen Debatte um den sich entwickelnden Menschenwürdebegriff wird bis hin zu Kant allerdings primär der zweite Aspekt bedeutsam werden. Auch dieser Aspekt hat schließlich aber einen legitimen Ansatzpunkt im altrömischen dignitas-Begriff. Wie bereits erwähnt, beinhaltet dieser durchaus den Gedanken der Mäßigung und Selbstdisziplin, des Zügelns der eigenen Begierden. Dieser Aspekt lässt sich insofern wiederum zwanglos mit dem politischen Aspekt des dignitas-Begriffs verknüpfen, als derartige Selbstdisziplin im Rahmen der platonisch-aristotelischen Tradition politischer Philosophie gemeinhin als die unerläßliche persönliche Voraussetzung dafür gesehen wird, sich in seiner politischen Tätigkeit am Wohl des Gemeinwesens statt am eigenen Wohl zu orientieren. Greifbar wird eine solche Verbindung etwa bei Scipio Aemilianus, wenn dieser sagt: „Ex innocentia nascitur dignitas, ex dignitate honor, ex honore imperium, ex imperio libertas“.13
2. Die Würdigkeit der menschlichen Natur bei Cicero Während die ursprünglichen Bedeutungsdimensionen der altrömischen dignitas also eher auf soziale und politische Rollen sowie die persönliche Eignung für diese und ihre Darstellung nach außen abheben, findet sich gerade bei Cicero auch erstmals eine Übertragung des dignitas-Begriffs auf den Status des Menschseins überhaupt. Diese Übertragung, die für römische Ohren wohl einigermaßen befremdlich geklungen haben dürfte, bildet zugleich die für die Herausbildung eines genuinen Menschenwürdebegriffs entscheidende Universalisierung des Würdebegriffs. Der immer wieder zitierte locus classicus lautet in diesem Zusammenhang: „Sed pertinet ad omnem officii quaestionem semper in promptu habere, quantum natura hominis pecudibus reliquisque beluis antecedat; illae nihil sentiunt nisi voluptatem ad eamque feruntur omni impetu, hominis autem mens discendo alitur et cogitando, semper aliquid aut anquirit aut agit videndique et audiendi delectatione ducitur. Quin etiam, si quis est paulo ad voluptates propensior, modo ne sit ex pecudum genere (sunt enim quidam homines non re, sed nomine) sed si quis est paulo erectior, quamvis voluptate capiatur, occultat et dissimulat appetitum voluptatis propter verecundiam. Ex quo intellegitur corporis voluptatem non satis esse dignam hominem praestantia […]. Atque etiam si considerare volumus, quae sit in natura excellentia et dignitas, intellegemus, quam sit turpe diffluere luxuria et delicate ac molliter vivere, quamque honestum parce, continenter, severe, sobrie.“14 13 „Aus der Unschuld erwächst die Würde, aus der Würde die Ehre, aus der Ehre die Befehlsgewalt und aus der Befehlsgewalt die Freiheit“ (Scipio Aemilianus zitiert nach Pöschl, Viktor: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später. Heidelberg 1989, S. 23). 14 „Aber es geht die gesamte Frage nach dem rechten Handeln an, immer vor Augen zu haben, wie sehr die Natur des Menschen über dem Vieh und den übrigen Tieren steht. Jene
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Auffällig an dieser Passage, die oft als erster Beleg für den Begriff der „Menschenwürde“ bzw. der „menschlichen Würde“ herangezogen wird, ist, dass ein Ausdruck wie „dignitas hominis“ darin gerade nicht zu finden ist. Vielmehr ist zum einen davon die Rede, dass ein von körperlichem Begehren (corporis voluptas) gesteuertes Verhalten der menschlichen Vorzüglichkeit (praestantia) nicht würdig sei. Der Würdebegriff wird hier also in der bereits erwähnten adjektivischen Form verwendet, in der er eine Angemessenheit zwischen der Natur einer Entität – hier eben eines Menschen – und einem bestimmten Verhalten bezeichnet oder aber verneint. Zum anderen taucht er in der Weise auf, dass die dignitas als etwas charakterisiert wird, das in der Natur bestimmter Entitäten – gemeint sind wiederum Menschen – liegt und das als solches einen Maßstab ihres Verhaltens abzugeben vermag. Auf welches Charakteristikum der menschlichen Natur sich diese Aussagen beziehen, wird dann auch schon in dem zitierten Text deutlich, wenn Lernen und Denken als typische Betätigungen von Menschen gegenüber dem von sinnlichen Gelüsten gesteuerten Verhalten der Tiere abgesetzt werden. Jenes Charakteristikum ist also offensichtlich die Vernunft, die es dem einzelnen Menschen erlaubt, sich noch einmal reflektierend in ein Verhältnis zu den eigenen Trieben und Neigungen zu setzen, und es ihm so ermöglicht, sich von ihnen nicht beherrschen zu lassen. Besonders deutlich wird das in einer Parallelstelle aus „De officiis“, die in der Menschenwürde-Debatte ebenfalls immer wieder angeführt wird und in der es heißt: „Nec vero illa parva vis naturae est rationisque, quod unum hoc animal sentit, quid sit ordo, quid sit quod deceat, in factis dictisque qui modus. Itaque eorum ipsorum, quae aspectu sentiuntur, nullum aliud animal pulchritudinem, venustatem, convenientiam partium sentit; quam similitudinem natura ratioque ab oculis ad animum transferens multo etiam magis pulchritudinem, constantiam, ordinem in consiliis factisque conservandam putat cavetque ne quid indecore effeminateve faciat, tum in omnibus et opinionibus et factis ne quid libidinose aut faciat aut cogitet. Quibus ex rebus conflatur et efficitur id, quod quaerimus, honestum, quod etiamsi nobilitatum non sit, tamen honestum sit, quodque vere dicimus, etiamsi a nullo laudetur, natura esse laudabile.“15 empfinden nichts außer der Lust und stürzen zu ihr mit aller Leidenschaft, der Geist des Menschen aber nährt sich durch Lernen und Denken, erforscht oder treibt immer irgend etwas und läßt sich durch die Freude am Sehen und Hören leiten. Ja, wenn einer den Vergnügungen ein wenig zugeneigt ist, wenn er nur nicht zur Gattung des Viehs gehört – manche sind nämlich Menschen nicht der Sache, sondern nur dem Namen nach –, aber wenn einer auch nur ein wenig höher steht, verbirgt er sogar, auch wenn er von der Lust erfaßt wird, es doch und verheimlicht den Trieb zur Lust aus Scheu. Daran erkennt man, daß körperliche Lust nicht recht des Vorranges des Menschen würdig ist und daß man sie geringschätzen und zurückweisen muß […] Und wenn wir bedenken wollen, welche Würde in [unserer] Natur liegt, werden wir auch einsehen, wie häßlich es ist, in Ausschweifungen sich gehen zu lassen und üppig und weichlich zu leben, und wie ehrenvoll, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern.“ (Marcus Tullius Cicero: De officiis, hg. und übers. von Karl Büchner. München/Zürich, 3. Aufl. 1987, Buch I, 105–106, S. 9 0 [lat.]/S. 91 [dt.]). 15 „Erst recht nicht gering ist jene Kraft seiner Natur und Vernunft, daß dieses Lebewesen allein empfindet, was Ordnung ist, was es ist, was sich ziemt, was das Maß in Taten und Wor-
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Cicero stellt hier heraus, dass „allein dieses Lebewesen“, der Mensch nämlich, vor allen anderen dadurch ausgezeichnet ist, dass es einen Sinn für Ordnung und dafür, was sich geziemt, aber auch einen Sinn für Schönheit, Anmut und Ebenmaß hat. Wie schon in der zuvor zitierten Passage wird beides „unziemlichem“, „weibischem“, von Begierden und Gelüsten gesteuertem Verhalten entgegengesetzt, wobei gerade in der Verwendung des Adverbs „indecore“ der Bezug zu „decus“ und damit auch zu „dignitas“ überdeutlich wird. Wie bereits erwähnt, sind die Aspekte der Selbstdisziplin und der Selbstkontrolle schon Bestandteile des politisch-sozialen dignitas-Begriffs der altrömischen Gesellschaft. Dieser dignitas-Begriff zielte aber auf ständische und politische Abstufungen und damit gerade auf das Gegenteil einer egalitären Gleichstellung aller Menschen aufgrund einer ihnen allen gemeinsamen Vernunft ab. Indem der altrömische dignitas-Begriff allerdings nicht alleine den Status oder Rang innerhalb einer sozialen oder politischen Hierarchie meint, sondern auch die innere Eignung des Trägers eines solchen Ranges oder Status zu diesem, ist bereits darin zumindest der Keim eines universelleren dignitas-Verständnisses angelegt, das die dignitas nicht am äußeren Status, sondern der persönlichen Tugendhaftigkeit festmacht, wie sie zumindest prinzipiell von allen Menschen entwickelt werden könnte. Unter dem Einfluss des Denkens der mittleren Stoa mit ihrer Betonung der menschlichen Vernunftnatur gelangen derartige Keime einer Universalisierung dann spätestens bei Cicero, vielleicht aber auch schon bei Panaitios, zu einem vorsichtigen Durchbruch. Wenn hier von einem „vorsichtigen Durchbruch“ geredet wird, so hat dies seine Gründe. Einerseits finden wir bei Cicero, wie in der mittleren Stoa überhaupt, den Gedanken, dass alle Menschen gleichermaßen durch ihre – theoretische, insbesondere aber praktische – Vernunft charakterisiert sind. Aufgrund dieser Vernunftnatur sind sodann auch alle Menschen prinzipiell in der Lage, sich in ein kritisches Verhältnis zu den eigenen Trieben bzw. Neigungen zu setzen und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Daraus wiederum ergibt sich Ciceros Aussage, es sei eines Menschen „unwürdig“, eine solche Distanzierung von den eigenen Trieben und Neigungen nicht zu verwirklichen. Ebenso wie sich ein römischer Zensor dadurch seines Zensoren-Amtes als „unwürdig“ erweisen kann, dass er sich, statt sich am Gemeinwohl zu orientieren, von Zorn und Ressentiments leiten lässt, kann sich jeder Mensch seines Mensch-Seins als ten. Daher empfindet schon bei dem, was durch den Anblick wahrgenommen wird, kein anderes Lebwesen Schönheit, Anmut und Harmonie der Teile. Die Ähnlichkeit hierin überträgt seine Natur und Vernunft von den Augen auf den Geist, glaubt, daß noch viel mehr Schönheit, Beständigkeit, Ordnung in Entschlüssen und Taten gewahrt werden müsse, und hütet sich, etwas unschön, oder weibisch auszuführen, dann überhaupt in allen Vorstellungen und Taten etwas zügellos zu tun oder zu denken. Hieraus bildet sich und entwickelt sich das, was wir suchen, das Ehrenhafte, das, auch wenn es nicht ausgezeichnet wird, doch ehrenhaft ist und von dem wir in Wahrheit, auch wenn es von keinem gelobt wird, behaupten können, daß es von Natur lobenswert ist.“ (Cicero a.a.O, Buch I, 14, S. 14 [lat.]/S.15 [dt.]).
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„unwürdig“ erweisen, indem er sich von seinen eigenen Neigungen und Begierden kontrollieren lässt. In vermutlich durchaus bewusster Analogie zu den abgestuften Amts- und Rollenwürden der altrömischen Gesellschaft, den gradus dignitatis, konzipiert Cicero hier also nichts weniger als eine Art allgemeine „Menschen-Rolle“, die in der jedem Menschen eignenden Vernunft gründet und daher durchaus universellen Charakter hat. Der Gedanke einer solchen allgemeinen, jedem Menschen qua Menschsein eignenden „Menschen-Rolle“ – einer „Menschen-Rolle“, die allen bestimmten, voneinander verschiedenen und dann wiederum auch mit verschiedenen „Würden“ ausgestatteten sonstigen Rollen (personae) noch vorausgeht – wird denn auch bei Cicero unmittelbar im Anschluss an den eingangs dieses Unterkapitels zitierten locus classicus explizit ausgesprochen: „Intellegendum etiam est duabus quasi nos a naturae indutos esse personis; quarum una communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis praestantiaeque eius, qua antecellimus bestiis, a qua omne honstum decorumque trahitur et ex qua ratio inveniendi oficii exquiritur, altera autem, quae proprie singulis est tributa.“16
So wie dann jede der spezifischen sozialen und politischen Rollen ihrem Träger ein bestimmtes Verhalten abverlangt, verlangt dann auch die universale „Menschen-Rolle“ ihren Trägern ein bestimmtes Verhalten ab, bei dessen Verfehlung sie sich ihrer Rolle als „unwürdig“ erweisen. Dabei sind allerdings folgende Punkte zu beachten: Zum einen spricht Cicero an keiner Stelle von einer „dignitas hominis“, die allen Menschen gleichsam substantiell inhärieren würde, so dass davon die Rede sein könnte, dass Menschen „Träger von Menschenwürde“ seien, wie es dem modernen Sprachgebrauch geläufig ist. Vielmehr gebraucht er den dignitas-Begriff in Bezug auf Menschen ausschließlich in der adjektivischen Form „dignus, -a, -um“, die auf nichts anderes abzielt als die Angemessenheit zwischen dem Verhalten eines Menschen und der praktischen Vernunftnatur, die allen Menschen eigen ist. Entsprechend gibt es in diesem „Sich-würdig-Erweisen“ denn auch ein breites Spektrum von Abstufungen; jeder Einzelne kann sich seiner Vernunftnatur durch sein Verhalten als mehr oder weniger „würdig“ oder „unwürdig“ erweisen. Anders als im modernen Sprachgebrauch ist diese Form des „Würdig-Seins“, auch wenn sie sich auf eine bei allen Menschen unverlierbare Vernunftnatur bezieht, also vermöge ihrer Relationalität auf das eigene Verhalten, durchaus quantifizierbar und graduierbar. Zum Zweiten besitzt dasjenige „Würdig-Sein“, das Cicero im Hinblick auf den Menschen aussagt, anders als die mit der Ämterlaufbahn assoziierten politisch-sozialen gradus dig16 „Man muß auch erkennen, dass wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen betraut worden sind. Die eine von ihnen ist gemeinsam, daher, daß wir alle teilhaben an der Vernunft und dem Vorrang, durch den wir vor den Tieren herausragen, von dem sich alles Ehrenvolle und Schickliche leitet und aus dem die Methode, das rechte Handeln zu finden, entwickelt wird. Die andere aber ist die, die einem jeden eigentümlich zugewiesen ist.“ (Cicero a.a.O., Buch I, 107, S. 9 0–92 [lat.]/S. 91–93 [dt.]).
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nitatis gerade keinerlei politisch-rechtlichen Implikationen. In diesem Zusammenhang sollte man freilich nicht meinen, dass die politische Dimension trotz der Universalisierung, die in Bezug auf die allen Menschen gemeinsame Vernunftnatur zum Ausdruck kommt, nicht präsent ist. Vielmehr ist sie in gewisser Weise gerade wegen dieser Universalisierung nicht präsent; und zwar eben, weil die Universalisierung vermittelt ist über eine – geistesgeschichtlich offenbar notwendige – Rückwendung des Blicks weg von der politisch-rechtlich-sozialen Sphäre auf das innerliche Verhältnis des Menschen zu sich selbst bzw. seiner Vernunftnatur. Das „Würdig-Sein“ des Menschen impliziert daher auch in der Form, in der es historisch erstmals bei Cicero und der mittleren Stoa greifbar wird, ausschließlich Pflichten gegen sich selbst, aber keine Pflichten anderer gegenüber demjenigen, der Träger solcher Würde ist. Das ist anders bei denjenigen Amtsund Rollenwürden, die im Rahmen der abgestuften Würden-Ordnung der altrömischen Gesellschaft gemeint sind. Dort ist zumindest der Gedanke noch präsent, dass die Würde eines bestimmten Amtes oder einer bestimmten Rolle auch ein bestimmtes ehrerbietiges Verhalten gegenüber dem Würdenträger erfordert. Der Schritt, beide Ausformungen der dignitas noch einmal in einem weiteren Universalisierungsschritt höherer Stufe zusammenzudenken und so die Universalisierung der Würde auch auf das Verhalten gegenüber dem Träger allgemeiner Menschenwürde durchschlagen zu lassen, ist offenkundig im Rahmen des altrömischen Denkens noch nicht möglich. Er setzt weitere Entwicklungsschritte in der Reflexion auf das eigene Selbst- und Fremdverhältnis voraus, wie sie letzten Endes freilich erst in der Philosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus zum Durchbruch kommen. Die Diskurse der Spätantike und des Mittelalters wird jedoch die bei Cicero angelegte Doppeldeutigkeit des dignitas-Begriffs – als universelle Menschenwürde einerseits und partikulare politisch-soziale Amts- oder Rangwürde andererseits – über weite Strecken beherrschen. Diese Doppeldeutigkeit geht so weit, dass Kondylis in seinem Artikel zum Thema „Würde“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ im Hinblick auf das Mittelalter sogar geradezu von einer Äquivokation spricht: „[…] zwischen dem (theologisch- oder philosophisch-) anthropologischen und dem sozialpolitischen Gebrauch des dignitas- bzw. Würdebegriffs gibt es keine Beziehungen oder Übergänge. Beide Begriffe werden so verwendet, als ob von zwei ganz verschiedenen Dingen die Rede wäre, obwohl es sich hier um dasselbe Wort handelt.“17
Kondylis, Panajotis: Der sozialpolitische Gebrauch von ‚dignitas‘ und ‚Würde‘ bis zur Auflösung der societas civilis. In: Kondylis/Pöschl a.a.O. S. 637–677; hier S. 651. 17
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3. Menschenwürde in der christlichen Spätantike Trotz des von Kondylis konstatierten nahezu äquivoken Gebrauchs von dignitas bleibt jene Doppeldeutigkeit für die Philosophen und Theologen der Spätantike und des Mittelalters auch immer eine Herausforderung und ein Umstand, der eine Vermittlung geradezu herausfordert. Während der politisch-soziale dignitas-Begriff trotz des Untergangs der Römischen Republik die Grundbedeutung von Amts- oder Rollenwürde weitgehend behält, erfährt der philosophisch-anthropologische dignitas- bzw. ἀξίωμα-Begriff unter dem Einfluss des Christentums eine Klärung, Zuspitzung und philosophisch-theologische Vertiefung, wie sie Cicero und der Stoa noch nicht in den Blick kommen konnten. Wie bereits erwähnt wurde, kennt Cicero wohl den Gedanken einer sozusagen „adjektivischen“ Würdigkeit, die auf die Angemessenheit zwischen dem Verhalten eines Menschen und seiner Vernunftnatur abzielt, das Konzept einer bereits mit dem Existieren als Mensch intrinsisch verknüpften „dignitas hominis“ ist ihm aber fremd. In einer substantivischen Verwendung wird der Begriff vielmehr historisch erstmals in der frühen Apologetik, genauer in Theophilus von Antiochias Schrift „Ad Autolycum“, greifbar. Charakteristischerweise ist es dort das Kapitel über die Erschaffung des Menschen durch Gott, in dem um 180 n. Chr. zum ersten Mal in der Geschichte des abendländischen Denkens der substantivische Begriff der „Würde des Menschen“ – ἀξίωμα τοῦ ἀνθρώπου – belegbar auftaucht. Die entsprechende Stelle sei hier in der Übersetzung von Josef Leitl vollständig zitiert: „Was aber die Erschaffung des Menschen betrifft, so übersteigt sie ihre Schilderung seitens der Menschen, wenngleich die Heilige Schrift eine kurze Erzählung derselben darbietet. Denn erstens zeigt Gott dadurch, daß er sagt: ‚Laßt uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis!‘, die Würde des Menschen. Denn nachdem Gott durch sein Wort alles erschaffen hatte, erachtete er alles als geringfügig, nur die Schöpfung des Menschen aber als ein ewiges, seiner Hände würdiges Werk. Ferner sieht man Gott hierbei gleichsam Beihilfe fordern, indem er sagt: ‚Laßt uns den Menschen machen nach unserm Bilde und Gleichnissen!‘ Zu niemandem andern aber sagt er dies, als zu seinem Worte und zu seiner Weisheit. Nachdem er ihn nun geschaffen und gesegnet hatte, auf daß er wachse und die Erde erfülle, ordnete er ihm alle Wesen als unterwürfig und dienstbar unter und wies ihn an, sich seine Nahrung vom Anfang an von den Früchten der Erde, den Samen und Kräutern und Baumfrüchten zu nehmen; zugleich sollten auch die Tiere nach Gottes Anordnung wie der Mensch von allen den Samen der Erde sich nähren.“18
Überdeutlich ist in dieser Passage der Bezug auf die biblische Schöpfungsgeschichte, die vor allem in zweien ihrer Aspekte mit der begrifflichen Schöpfung 18 Theophilus von Antiochien: Apologie Ad Autolycum II. Buch, 18. Deutsche Übersetzung von Josef Leitl in: Bibliothek der Kirchenväter, 1. Serie, Band 14: Frühchristliche Apologeten II. München 1913, S. 12–103; hier: S. 48. Im Internet zugänglich unter http://www. unifr.ch/bkv/kapitel294-17.htm (zuletzt abgerufen am 19. Februar 2013).
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ἀξίωμα τοῦ ἀνθρώπου19 verknüpft wird: einmal über die Gottesebenbildlichkeit nach Gen. 1,26; Gen. 5,1 und Gen. 9,6; zum anderen über den Gedanken des dominium terrae nach Gen. 1,28 f. Bemerkenswert ist dabei freilich, dass Theophilus – anders als heute hinsichtlich des Zusammenhangs von Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde meist kolportiert – die Würde des Menschen nicht aus der Gottesebenbildlichkeit resultieren lässt, sondern vielmehr genau umgekehrt, Gottes Wahl, den Menschen nach seinem Bild zu formen, darin begründet sieht, dass Gott nur den Menschen für würdig erachtet, nach seinem Bild geformt zu werden. Ungeachtet dieser für moderne theologische Diskurse vielleicht nicht unwichtigen Pointe begründet Theophilus mit seiner Verknüpfung von Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit eine Tradition, die bis weit in die Gegenwart reicht und die dem Würdebegriff eine gegenüber der Stoa neue Dimension hinzufügt: die Dimension einer spezifischen Hinwendung Gottes zum Menschen. Auch der zweite der genannten Aspekte, das dominium terrae und die ihm korrespondierende Hinordnung aller anderen Kreaturen auf eine Dienstbarkeit für den Menschen, wird in der weiteren Entwicklung deshalb noch eine zentrale Rolle spielen, weil er den Gedanken der Selbstzwecklichkeit des Menschen vorbereitet. Des Weiteren ist er auch insofern bedeutsam, als mit dem Gedanken des dominium terrae – wenn auch in theologisch-kosmologisch transformierter Form – auch ein politisch-sozialer Begriff von Herrscherwürde noch nachklingt. In ähnlicher Weise, wie Theophilus den Begriff der „Würde des Menschen“ verwendet, taucht dieser auch bei zahlreichen anderen christlichen Autoren der Spätantike und des frühen Mittelalters auf.20 Im Verlauf dieses Gebrauchs ergeben sich allerdings auch noch einmal zwei Wendungen, von denen die eine eher theologisch, die andere eher philosophisch bedeutsam wird. Die theologische Wendung betont dabei den Umstand, dass die Würde, die Gott ursprünglich Adam und damit allen Menschen verliehen habe, durch den Sündenfall verloren gegangen und erst durch die erneute Hinwendung Gottes zum Menschen in Christus erneuert worden sei.21 Für die genuin philosophische Reflexion des Würdebegriffs bedeutsamer ist eine andere Wendung geworden: die Wendung nämlich, die christlich-jüdische Konzeption einer Menschenwürde qua Gottes 19 Zur Frage der Entsprechung und Übersetzbarkeit der Begriffe „ἀξίωμα“ und „dignitas“ ineinander vgl. Pöschl, Viktor: Der Begriff der Würde im antiken Rom und später. Heidelberg 1989, S. 4 4 ff. 20 Vgl. die Belege bei Kondylis/Pöschl a.a.O. und bei Schaede, Stephan: Würde – Eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive. In: Bahr, Petra/Heinig, Hans Michael: Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Tübingen 2003, S. 7–72. 21 In diesem Sinn predigt Papst Leo der Große: „Expergiscere, o homo, et dignitatem tuae cognosce naturae. Recordare te factum ad imaginem Dei; quae, etsi in Adam corrupta, in Christo tamen est reformata“ (Leo der Große: Sermo XXVII (In Nativitate Domini VII), cap 6. In: Migne, Jean Paul (Hg.): Patrologia Latina, Band 54. Paris 1881, Sp. 216–221; hier: Sp. 220).
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ebenbildlichkeit und Herrschaft über die Erde wieder rückzubinden an eine Konzeption von Würde qua Vernunftbegabung, innerer Freiheit und Selbstregierung. Eine über den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit vermittelte Engführung von Freiheit und Würde bringt etwa Gregor von Nyssa zum Ausdruck. In einer Passage seiner Schrift Περὶ κατασκευής ανθρώπου (lat.: De hominis opificio), in der auch wieder der Gedanke der Würde als Herrscherwürde deutlich hervortritt, heißt es in diesem Sinn: „Die Seele zeigt ihr von der gemeinen Niedrigkeit geschiedenes königliches und erhabenes Wesen schon darin, daß sie unabhängig und selbständig ist, nach eigenen Entschlüssen frei waltend. Wem sonst ist dies eigen, wenn nicht einem König […] So ward auch die menschliche Natur, als sie zur Herrschaft über alles andere ausgestattet wurde, durch ihre Ähnlichkeit mit dem König des Alls als lebendiges Abbild aufgestellt, das mit dem Urbild sowohl die Würde wie den Namen gemeinsam hat.“22
Eine vergleichbare Überlegung findet sich schließlich auch in Boethius’ „De consolatione philosophiae“, wenn Boethius die personifizierte Philosophie die Inkommensurabilität der menschlichen Würde mit dem Wert dinglicher Gegenstände betonen lässt: „[…] vos autem deo mente consimiles ab rebus infimis excellentis naturae ornamenta captatis nec intellegitis quantam conditori uestro faciatis iniuriam. Ille genus humanum terrenis omnibus praestare voluit, vos dignitatem vestram infra infima quaeque detruditis. Nam si omne cuiusque bonum eo cuius est constat esse pretiosius, cum uilissima rerum vestra bona esse iudicatis eisdem vosmet ipsos vestra existimatione summittitis. Quod quidem haud immerito cadit. Humanae quippe naturae ista condicio est ut tum tantum ceteris rebus cum se cognoscit excellat, eadem tamen infra bestias redigatur si se nosse desierit; nam ceteris animantibus sese ignorare naturae est, hominibus vitio venit.”23
Bemerkenswert an dieser Passage, die geradezu Kants Differenzierung zwischen hypothetischen Imperativen und kategorischem Imperativ vorwegnimmt, ist nicht alleine die Verknüpfung des Gedankens der Gottesebenbildlichkeit und der gottgewollten Auszeichnung des Menschen in der Seinsordnung mit einer offenkundig stoisch inspirierten Kritik am Streben nach äußeren, dingli Gregor von Nyssa: De hominis opificio 7; zitiert nach Kondylis/Pöschl a.a.O. S. 6 44. „ […] ihr aber, die ihr an Geist Gott ähnlich seid, sucht bei den niedrigsten Dingen Zierden für eure ausgezeichnete Natur und seht nicht ein, wie sehr ihr damit eurem Schöpfer Unrecht tut! Jener wollte, dass das Menschengeschlecht über alles Irdische rage, ihr stoßt eure Würde unter das Unterste herab! Denn wenn es feststeht, dass jedes Gut eines jeden kostbarer ist als der, dem es zukommt: wenn ihr die wertlosesten Dinge für eure Güter haltet, dann ordnet ihr euch nach eurer eigenen Schätzung eben diesen selbst unter, was euch allerdings nicht unverdient trifft. Das ist ja die Grundlage der Menschennatur: so hoch sie über alle Dinge emporragt, wenn sie sich erkennt, so tief sinkt sie noch unter die Tiere, wenn sie aufhört, sich zu erkennen. Denn anderen Lebewesen ist, sich nicht zu kennen, Natur; den Menschen ist es als Verdorbenheit anzurechnen. (Boethius: De consolatione philosophiae, hg. und übers. von Ernst Gegenschatz und Olof Gigon. Düsseldorf/Zürich, 6. Aufl. 2002, Buch II, Prosa 5, S. 68–70[lat.]/S. 69–71[dt.]). 22 23
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chen Gütern. Vielmehr weist diese Verknüpfung insofern noch eine zusätzliche Pointe auf, als die besondere Auszeichnung des Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung in der Selbsterkenntnis verortet wird. Dies aber nicht einfach in einer Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, die selbst dann gegeben wäre, wenn sie nicht realisiert würde, sondern nur in einer tatsächlich vollzogenen und in ihren praktischen Folgerungen realisierten Selbsterkenntnis. Indem die Selbsterkenntnis, von der Boethius redet, nun von ihm offenbar als der Gegenentwurf zum Streben nach und der Wertschätzung von äußeren Gütern konzipiert ist, ist damit augenscheinlich nicht einfach theoretische Selbsterkenntnis oder Einsicht in eigene Charakterzüge etc. gemeint, sondern das anspruchsvolle Konzept einer auch praktischen Rückwendung weg von bloß äußerlichen Dingen zurück auf sich selbst und letztlich das eigene Seelenheil. Diese durchaus anspruchsvolle „Selbsterkenntnis in praktischer Hinsicht“ zu vollziehen ist zugleich eine moralische Forderung, bei deren Verfehlung der Mensch auch seine mit dem Begriff der dignitas benannte Auszeichnung innerhalb der Seinsordnung verliert. „Menschenwürde“ in Boethius’ Sinn ist also keine selbstverständliche Gegebenheit, sondern Anspruch und Aufgabe für den Menschen. Für die christliche Spätantike und auch das frühe Mittelalter24 insgesamt wird man vor dem Hintergrund derartiger Belege konstatieren können, dass der Gedanke einer herausragenden Stellung des Menschen in der Seinsordnung, der mit dem dignitas- oder ἀξίωμα-Begriff zum Ausdruck gebracht werden soll, vielfältige Aspekte und Dimensionen mit durchaus verschiedenen Akzentsetzungen aufweist. So steht manchmal eher die Gottesebenbildlichkeit im Mittelpunkt, manchmal eher das dominium terrae, manchmal die innere Freiheit und Selbstregierung, manchmal die praktische Selbsterkenntnis und nicht zuletzt immer auch der Gedanke einer durch den Sündenfall verlorenen, aber durch Gottes Hinwendung zum Menschen in Christus wiederhergestellten Auszeichnung und Bevorzugung des Menschengeschlechts. Wie immer die Akzentsetzung genau erfolgt, ist allen Dimensionen des christlich beeinflussten Würdebegriffs der Spätantike und des frühen Mittelalters gemeinsam, dass die dignitas hominis bzw. das ἀξίωμα τοῦ ἀνθρώπου nun als eine inhärente Auszeichnung des Menschen innerhalb der göttlichen Seinsordnung gedacht wird. Würde kommt hier also nicht mehr primär in ihrem – noch bei Cicero vorherrschenden – adjektivischen Gebrauch im Sinn von „würdig“ oder „unwürdig“ in den Blick, sondern gleichsam „substantivisch“ als evaluatives Charakteristikum des Menschseins überhaupt. Vereinzelt gilt diese dignitas hominis zwar wie bei Boethius noch als eine seitens des einzelnen Menschen zu erbringende Leistung, die auch verfehlt werden kann; das ändert aber nichts daran, dass die Würde des Menschen nun grundsätzlich universal, egalitär und inhärent gedacht wird. Zugleich bleibt aber auch der abstufende Charakter des altrömischen dignitas-Be Vgl. dazu Wildfeuer a.a.O. S. 37 ff. und insbesondere Pöschl a.a.O. S. 4 4–49.
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III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
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griffs erhalten; er überträgt sich jetzt aber auf das Verhältnis zwischen der durch ihre besondere dignitas gekennzeichneten menschlichen Spezies auf der einen Seite und allen anderen Entitäten, seien es Tiere, Pflanzen oder unbelebte Gegenstände25 , auf der anderen Seite. Wie schon der ciceronianische Würdebegriff hat allerdings auch der spätantik-christliche Würdebegriff letztlich keine Implikationen rechtlicher oder politischer Art und betrifft gerade nicht das Verhältnis zwischen verschiedenen Subjekten. Wenn überhaupt Normen aus dem Menschenwürdebegriff folgen, dann handelt es sich wie bei Cicero um Pflichten gegen sich selbst.
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik 1. Würde und Person bei Alexander von Hales Der entscheidende Beitrag der hochmittelalterlichen Scholastik zur Entwicklung des Würdebegriffs besteht zum einen in dem Versuch, die vielfältigen Aspekte und Dimensionen des antiken und spätantiken Menschenwürdebegriffs aufzugreifen und zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden. Von zentraler Bedeutung dafür ist eine reflektierte und theoretisch vertiefte Rückbindung der Gedanken der Gottesebenbildlichkeit und des dominium terrae an praktische Rationalität und innere Freiheit – eine Rückbindung, die etwa bei Boethius und Gregor von Nyssa schon vorgezeichnet, aber noch nicht wirklich zum Durchbruch gekommen ist. Der zweite wesentliche Beitrag der scholastischen Befassung mit dem dignitas-Begriff besteht darin, ihn mit dem Personenbegriff zu verknüpfen, wie er sich in den trinitätstheologischen und christologischen Debatten der ersten nachchristlichen Jahrhunderte ausgebildet hatte. Da die Nachzeichnung dieses zweiten Punkts nichts weniger als eine eigene umfangreiche Untersuchung erfordern würde, sei er hier nur in aller naturgemäß vereinfachenden Kürze skizziert und es sei ansonsten auf die einschlägigen Studien zur historischen Entfaltung des Personenbegriffs verwiesen.26 Die grundlegende theologische Schwierigkeit, welche den Ausgangspunkt bildet, besteht in diesem Zusammenhang darin, die zentralen ontologische Begriffe der griechischen Philosophie dergestalt umzudeuten, dass sie geeignet sind, zwei theologische Problem zugleich zu lösen: nämlich das trinitätstheologische Problem, wie die Dreifaltigkeit Gottes so gedacht werden kann, dass sie 25 Vgl. zu dieser Problematik insgesamt Baranzke, Heike: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie Bd. 328). Würzburg 2002. 26 Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Kobusch (Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Darmstadt 2. Aufl. 1997) und Teichert (Teichert, Dieter: Personen und Identitäten. Berlin/New York 1999).
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
dessen Einheit nicht zuwiderläuft und das christologische Problem, wie die Einheit von Gott und Mensch in Christus als wirkliche Einheit gedacht werden kann, ohne den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Natur zu verwischen.27 Wie man unschwer erkennen kann, sind beide Fragen logisch so eng miteinander verknüpft, dass jeweils die Lösung des einen Problems unmittelbare Folgen für das andere hat und umgekehrt. Die Aufgabe, vor die sich die Theologen der Spätantike und des Mittelalters gestellt sahen, war also die, eine Konzeption zu entwickeln, bei der die Lösung des jeweils einen Problems nicht die dogmenkonforme Lösung des anderen bedrohte. Die Antwort der frühen Konzilien auf die trinitätstheologische Frage besteht nun bekanntlich darin, οὐσία und ὑπόστᾰσις dergestalt voneinander zu unterscheiden, dass Gott eine οὐσία aufweist, die in drei Hypostasen – Gottvater, Gottsohn und Heiliger Geist – existiert, wobei ὑπόστᾰσις ins Lateinische dann in der Regel mit „persona“ übersetzt wird. Demgegenüber läuft die Lösung der christologischen Problematik auf die mit dem Konzil von Chalkedon dogmatisch werdende Konzeption der sogenannten „hypostatischen Union“ hinaus28 , nach der die göttliche und die menschliche Natur Christi zwar getrennt bleiben, aber in einer Hypostase, also Person, vereint sind. Kombiniert man beide Lösungen, so resultiert daraus unvermeidlich eine Bedeutungsverschiebung des Begriff der ὑπόστᾰσις, der in der hellenistischen Philosophie meist noch einfach synonym mit οὐσία verwendet werden konnte, dahingehend, dass „ὑπόστᾰσις“ nun zunehmend die einzigartige und für sich bestehende Existenz eines Wesen bezeichnet. Diese Bedeutungsverschiebung macht das lateinischen Äquivalent „persona“ mit, so dass Boethius schließlich seine bekannte Personendefinition formulieren kann: „est enim persona ut dictum est naturae rationabilis individua substantia“.29 Von wesentlicher Bedeutung für diese Definition ist dabei das Adjektiv „individuum, -a“, das zwar noch nicht „individuell“ im modernen Sinn besagt, wohl aber „unteilbar“ in dem Sinn, dass „Person“ nichts ist, was als ein Gattungs- oder Artbegriff (wie z. B. „Mensch“) von einer Vielzahl von Entitäten ausgesagt werden könnte. So bezeichnet „Person“ qua Individualität immer ein bestimmtes, einzelnes Vernunftwesen wie etwa Sokrates oder den Erzengel Gabriel. Worauf der Personenbegriff damit abzielt, ist also das Sokrates-Sein des Sokrates, das nur und ausschließlich von ihm ausgesagt werden Vgl. dazu und zum folgenden Teichert a.a.O. S. 99–116. Vgl. dazu und zum Folgenden die Einträge „Hypostasis“ im Reallexikon für Antike und Christentum (Hammerstaedt, Jürgen: Artikel „Hypostasis“. In: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 16. Stuttgart 1994, Sp. 986–1035) und „Enhypostasie/Anhypostasie“ im RGG (Markschies, Christoph: Artikel „Enhypostasie/Anhypostasie“. In: Betz, Hans D./ Browning, Don S./Janowski, Bernd/Jüngel, Eberhard: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 2. Tübingen, 4. Aufl. 1998–2007, S. 1315f.) 29 Anicius Manlius Severinus Boethius: Contra Eutychen et Nestorium. In: Ders.: Die theologischen Traktate, hg. und übers. von Michael Elsässer. Hamburg 1988, S. 6 4–115; hier: S. 82. 27
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III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
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kann und nicht z. B. sein Mensch-Sein, das auch von Platon, Aristoteles etc. ausgesagt werden könnte und das sich somit auf verschiedene Seiende „aufteilen“ läßt.30 Obgleich mit Boethius’ Definition nun ein erster Abschluss der theologisch-philosophischen Debatte um den Personenbegriff erreicht ist, wird diese Definition in der Scholastik des 12. Jahrhunderts zunehmend als unbefriedigend empfunden und die Diskussion daher neu eröffnet. Der Grund dafür ist vor allem, dass die Personendefinition des Boethius streng verstanden auch auf Entitäten angewandt werden könnte, die als „Personen“ zu bezeichnen problematisch wäre, so auf die menschliche Seele, nicht zuletzt aber auch auf Gott als Einheit der drei Personen selbst, da Gott zweifellos auch als Einheit von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist „individuum“ und vernünftig ist. Wenn das aber der Fall wäre, würde auch die Lösung „eine Substanz, aber drei Personen“ nichts mehr wirklich lösen, da sie dann umformuliert werden könnte in das widersprüchliche „eine Person, aber drei Personen“. In entgegengesetzter Stoßrichtung wiederum könnte Boethius’ Definition dahingehend ausgelegt werden, dass die drei Personen der Trinität ebenso auch drei für sich seiende „Individuen“ wären, was wiederum die Einheit der Trinität gefährden würde. Mindestens ebenso problematisch könnte die Lösung der christologischen Frage werden, da ausgehend von Boethius’ Personendefinition nicht letztlich sichergestellt werden kann, dass der menschlichen Natur in Christus nicht ebenso eine Person entspricht wie der göttlichen Natur, was aber wiederum die Einheit von Gottsein und Menschsein in Christus bedrohen würde. Ebendiese wollte Boethius aber gerade gegen Nestorius verteidigen. Hintergrund der damit skizzierten Problematik ist die vom Konzil von Chalkedon gegebene Lösung des christologischen Problems. Diese Lösung bestand in der Annahme, dass 1.) die menschliche Natur Jesu keine eigenständige ὑπόστᾰσις, also keine Personalität, habe (ἀνυπόστᾰσις), sondern vielmehr 2.) die menschliche Natur Jesu ihre Personalität „in“ der göttlichen Person – genauer: in der Zweiten Person der Trinität, nämlich der Gottessohnschaft – habe (ἐνυπόστᾰσις), deren οὐσία wiederum göttlich sei. Dieses komplexe Verhältnis von Identität und Differenz angemessen zu explizieren, erscheint der Frühscholastik nun mit den Mitteln der boethianischen Personendefinition nicht in einer befriedigenden Weise möglich zu sein. Gilbert von Poitiers, Richard von St. Viktor, Wilhelm von Auxerre, Alexander von Hales und andere diskutieren daher in Abgrenzung von Boethius zunehmend andere Personendefinitionen. Diejenige alternative Definition, die für den Würdebegriff bedeutsam wird, wird von Alexander von Hales in seiner Glossa im di Vgl. dazu Teichert a.a.O. S. 117 ff.
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
rekten Anschluss an die Wiedergabe der Definitionen von Boethius und Richard von St. Viktor angeführt, jedoch keinem bestimmten Autor zugeschrieben.31 In ihr wird der dignitas-Begriff in die Definition des Personseins selbst mit aufgenommen: „Potest autem et sic definiri: persona est hypostasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente.“32 Wie auf den ersten Blick ersichtlich wird, versucht Alexander, so ihm diese Definition denn als seine Position zuschreibbar ist, die mit der boethianischen Personendefinition aufgegebenen Schwierigkeiten dadurch zu lösen, dass er – entgegen der Tradition, die persona einfach als Übersetzung von ὑπόστᾰσις versteht – noch einmal Person und Hypostase voneinander unterscheidet. „Person“ wäre demnach nur eine solche Hypostase, die sich durch eine Eigenschaft auszeichnet, welche ihre dignitas – d. h. ihre Stellung in einer Rangordnung – betrifft. In dieser Definition klingt nun wieder ein politisch-sozialer Personenbegriff durch, der sich trotz der theologischen Transformation des Personenbegriffs bis ins Mittelalter, ja im Grunde bis heute gehalten hat. Diesem Verständnis nach werden als „Person“ oder „Persönlichkeit“ nämlich solche Menschen bezeichnet, die ein besonderes Amt oder einen besonderen sozialen Rang einnehmen – und damit eben Träger einer dignitas sind. Belege für einen solchen politisch-sozialen Gebrauch des Personenbegriffs finden sich bei mittelalterlichen Autoren vielfach, so etwa bei Alanus ab Insulis, bei dem es heißt: „persona dicitur aliquis aliqua dignitate praeditus.“33 Im heutigen Sprachgebrauch ist er beispielsweise noch präsent in Ausdrücken wie „Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“ oder der ein wenig veralteten „Amtsperson“. Alexander von Hales’ folgenreiche gedankliche Wendung besteht mithin darin, diesen politisch-sozialen Personenbegriff, der mit einem ebenso politisch-sozialen dignitas-Begriff verknüpft ist, mit dem metaphysisch-ontologischen Personenbegriff der Trinitäts- und Christologiedebatte zusammenzuführen. Auf diese Weise meint Alexander offenbar, das Dogma der „hypostatischen Union“ angemessen explizieren zu können, ohne dabei die Einheit der Trinität zu gefährden. „Person“ wäre damit nicht einfach jede „individuelle Substanz von rationaler Natur“, sondern nur solche „individuellen Substanzen rationaler Natur“, die durch eine spezifische Würde, d. h. einen spezifisch angebbaren Rang innerhalb einer Ordnung ausgezeichnet sind. Auf dieser Grundlage lässt sich nun ohne größere Schwierigkeiten die durch den chalkedonischen 31 Walter H. Principe vermutet, dass Alexander selbst der Urheber dieser Definition sei (Principe, Walter H.: Alexander of Hales’ Theology of the Hypostatic Union. Toronto 1967). 32 „Man kann aber auch folgendermaßen definieren: Person ist eine Hypostase, die durch eine die Würde betreffende Eigenschaft unterschieden ist.“ (Alexander von Hales: Glossa in Libri IV Sententiarum Petri Lombardi 1, 23, 9b–c. Hg. von den PP. Collegii S. Bonaventurae. Quaracchi 1951–1957, Band I (1951), S. 226). 33 „Person heißt, wer eine gehobene Stellung innehat.“ (Alanus ab Insulis: Distinctiones dictorum theologicarum, Migne Patrologia Latina 210, 899a; zitiert nach Fuhrmann, Manfred: Artikel „Person“ (I), in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band VII. Basel 1989, Sp. 269–338).
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
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Begriff der ἐνυπόστᾰσις vorgegebene Konstellation denken, dass der unbestreitbar individuellen menschlichen Natur Christi kein eigenes Person-Sein entspricht, sondern Christus sein ihm spezifisches Person-Sein in der Zweiten Person der Trinität hat. Das gelingt nämlich genau dann, wenn man davon ausgeht, dass die eine Person Christi, die zwei Naturen in sich vereinigt, eben diejenige des Gottessohns ist, und dass diese sich wiederum genau durch ihren Rang in der Seinsordnung von den anderen Personen (Menschen und Engeln) abhebt. Das bedeutet für Alexander freilich, dass der Personenbegriff grundsätzlich erst dann vollständig definiert ist, wenn in der Definition der Person nicht nur wie bei Boethius Rationalität und Individualität genannt sind, sondern auch die Stellung, die eine individuelle Vernunftnatur innerhalb einer durch Regeln und Gesetze bestimmten Ordnung einnimmt. Man wird vor diesem Hintergrund in Alexanders alternativer Personen-Definition nun einerseits durchaus mit Recht eine problematische Ontologisierung des politisch-sozialen dignitas-Begriffs sehen können. Andererseits eröffnet Alexanders Definition aber ungeachtet ihrer theologischen Bedingtheit auch die Perspektive, den intersubjektiven Charakter von Personsein und Würde in den Blick zu bekommen. Denn wenn dignitas ein für das Personsein definierendes Moment ist, dann gehört „Person“, wie Alexander bemerkt, in den Bereich der sittlichen Welt und mithin der interpersonalen Verhältnisse. Personal von Christus reden bedeutet daher, so Alexander, moraliter von ihm zu reden: „persona res moris est, quia dicit proprietatem dignitatis; personaliter loqui de ipso est loqui moraliter.“34 Die vermeintliche „Ontologisierung“ der sozialen Würde hätte mithin gerade die paradoxe Folge, in noch ontologischer Sprache eine jenseits bloß ontischer Verhältnisse gelegene Dimension von Würde und Personalität in den Blick zu bekommen, die doch nicht in die „kontingenten“ Würden abgestufter politisch-sozialer Rangbestimmungen zurückfällt.35 34 Alexander von Hales: Glossa in Libri IV Sententiarum Petri Lombardi 3, 6, 38. Hg. von den PP. Collegii S. Bonaventurae. Quaracchi 1951–1957, Band III (1954), S. 87. 35 Vgl. dazu vor allem Kobusch a.a.O., der in Alexanders Personentheorie den Ursprung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Lehre des „esse morale“ sieht und eine direkte Linie zu Kant meint ziehen zu können. Kobusch schreibt: „Dadurch ist die Person als das Individuum im Bereich des esse morale von allen Dingen dieser Welt unterschieden. Kant wird später an die hier begonnene Tradition der Ontologie des esse morale anknüpfen […] Man muß sich die Tragweite und Bedeutung des Beginns dieser Lehre von der Person im 13. Jh. klarmachen. Hier wird zum ersten Mal der Mensch als Person, d. h. insofern ihm die Seinsweise des esse morale zukommt, mithin der Mensch als Wesen der Freiheit, das als solches Würde besitzt, für die Metaphysik thematisch.“ (Kobusch a.a.O S. 26). Kobusch irrt allerdings insofern, als der Begriff der mores in dem Zusammenhang, in dem Alexander von Hales ihn benutzt, wohl nicht „Moral“ im heutigen Sinn meint und dementsprechend auch gerade keinen spezifischen Bezug auf den Menschen als Freiheitswesen besitzt. Aus dem gesamten geistesgeschichtlichen Hintergrund, ebenso wie dem Kontext der Verwendung des Adverbs „moraliter“ in der zitierten Passage wird deutlich, dass Alexander sich mit diesem Adverb vielmehr nur ganz allgemein auf eine (soziale) Ordnung bezieht. Eine Übersetzung, die den Sinn von Alexanders Aussage treffen würde, müsste also am ehesten lauten: „Person ist ein sozialer Begriff, da sie
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
2. Menschenwürde bei Bonaventura und Thomas von Aquin Die hochscholastische Befassung mit dem Konzept der dignitas steht einerseits auf dem Boden der bei Alexander von Hales zu findenden, wenn nicht gar von ihm entwickelten Engführung von Personen- und Würdebegriff. Die Engführung mit dem Personenbegriff, genauer der Gebrauch als definiens von Person, ist aber bei weitem nicht die einzige Weise, wie der dignitas-Begriff in der Hochscholastik verwendet wird. Zum einen bleibt unabhängig von der theologischen Debatte um den Personenbegriff auch im 12. und 13. Jahrhundert offenbar der stoische Gedanke durchgängig präsent, dass die dignitas hominis einen besonderen Status von Menschen überhaupt bezeichnet, der in deren Vernunftnatur begründet liegt. Gleichzeitig und ganz selbstverständlich existiert auch die politisch-soziale Verwendung des Begriffs weiter, in der er die Amtswürde, z. B. eines Königs oder eines Bischofs, bezeichnet. Diese bereits von Kondylis angesprochene Spannung kann dann durchaus mit einer geradezu politischen Stoßrichtung thematisiert werden, indem der Gedanke der dignitas hominis bzw. der immer wieder synonym gebrauchten nobilitas hominis gegen den abgestuften ordo dignitatis der feudalen Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist ein wohl im späten 12. Jahrhundert entstandenes Gedicht aus den „Carmina burana“, in dem gegen den bloß „äußerlichen“ ererbten Adel der „wahre Adel“ des Menschen betont wird, der in moralischem und vernunftgemäßem Handeln liege: I. II. III. IV.
Postquam nobilitas servilia coepit amare, Coepit nobilitas cum servis degenerare Nobilitas, quam non probitas regit atque tuetur, Lapsa iacet nullique placet, quia nulla videtur. Nobilitas hominis mens est, deitatis imago. Nobilitas hominis virtutum clara propago. Nobilitas hominis mentem frenare furentem. Nobilitas hominis humilem relevare iacentem. Nobilitas hominis naturae iura tenere. Nobilitas hominis nisi turpia nulla timere. Nobilis est ille, quem virtus nobilitavit; Degener est ille, quem virtus nulla beavit.36
sich auf die Eigenschaft eines hervorgehobenen Status innerhalb einer Gemeinschaft bezieht; personal von ihm zu reden bedeutet also, in sozialer Hinsicht von ihm zu reden.“ Recht hat Kobusch allerdings, wenn er den Beginn einer bei Kant kulminierenden Tradition im 13. Jahrhundert ansetzt. Wie im folgenden Unterkapitel zu zeigen sein wird, ist dieser Beginn aber nicht bei Alexander von Hales, sondern bei Thomas von Aquin zu verorten. 36 Nachdem der Adel begann, die Knechtschaft zu lieben, begann er mit den Knechten zu entarten. Der Adel, den die Tüchtigkeit nicht schützt und leitet, Liegt am Boden und missfällt, weil er sein Ansehn verlor. Des Menschen Adel ist der Geist, das Abbild Gottes. Des Menschen Adel ist der Tugenden herrlicher Spross.
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
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Während sich in derartigen Texten ein fast revolutionäres Potential der dignitas hominis-Konzeption zeigt, bleibt der Rückbezug der dignitas auf die Vernunft auch in der innertheologischen und innerphilosophischen Debatte präsent. Das Verdienst, den dignitas-Begriff der Personendefinition des Alexander von Hales und seiner Nachfolger wieder systematisch an den Vernunftbegriff rückgekoppelt zu haben, kommt in erster Linie Bonaventura zu. Bonaventura nämlich sieht wiederum genau diejenige dignitas, die Alexander von Hales als „ultima ratio personae“ herangezogen hatte, als in der Vernunftnatur von Menschen – oder auch Engeln – begründet. So greift Bonaventura zunächst „Einzelheit“ und „Würde“ als die unterscheidenden Bestimmungsmerkmale der Person auf, wenn er ausführt: „Individuatio igitur in creaturis consurgit ex duplici principio, personalis autem discretio dicit singularitatem et dignitatem.“37
Der hier mit der Personalität verknüpfte dignitas-Begriff wird dann an anderer Stelle sogleich auf die Vernunft bezogen: „Similiter proprietas personalis non dicit ultra hoc nisi dignitatem sive nobilitatem naturae rationalis, quae nobilitas non est ei accidentalis, immo simpliciter et omnino essentialis.“38
Der Grund der Würde von Personen – „Würde“ wird hier immer noch einfach verstanden im Sinn eines herausgehobenen Ranges, wie auch die Verwendung von „nobilitas“ als Synonym für „dignitas“ zeigt – ist demnach ihre Vernunftnatur. Bemerkenswert an Bonaventuras Engführung von Personen- und Würdebegriff ist, dass hier der Begriff der dignitas, der bei Alexander von Hales – in Übertragung des Gedankens sozialer Rollenwürden innerhalb der Gesellschaft – einfach einen herausgehobenen, aber je unterschiedlichen Status innerhalb der Seinsordnung bezeichnete, wieder auf die Rationalität derjenigen Wesen rück Des Menschen Adel ist, den wilden Sinn zu zügeln. Des Menschen Adel ist, dem Schwachen, der darniederliegt, zu helfen. Des Menschen Adel ist, sich zu halten an das von Natur aus Rechte. Des Menschen Adel ist, nichts zu fürchten denn das Schändliche. Von Adel ist jener, den die Tugend adelt. Gemein ist jener, den die Tugend nicht gesegnet. [Übersetzung des Verfassers] (Carmina burana, hg. und übers. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a.M. 1987, S. 26) 37 „Die Individuierung ergibt sich bei den Geschöpfen also gemeinsam aus einem doppelten Prinzip; das Unterscheidende der Person aber wird durch Einzelheit und Würde bezeichnet.“ (Bonaventura: Commentaria in IV Libros Sententiarum Magistri Petri Lombardi Episcopi Parisiensis, Secundi libri, distinctio 3, pars 1, articulus 2, q. 2. In: Doctoris Seraphici S. Bonaventurae Opera omnia, Band II. Quaracchi 1885, S. 110 [Übersetzung des Verfassers]). 38 „Ebenso wird die Personeneigenschaft von nichts ausgesagt als der Würde oder dem Adel der Vernunftnatur, welcher dieser Adel nicht akzidentell ist, sondern vielmehr in einfacher und allgemeiner Weise wesenhaft.“ (Bonaventura a.a.O. Secundi libri, distinctio 3, pars 1, articulus 2, q. 2, conclusio, S. 107 [Übersetzung des Verfassers]).
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
geführt wird, die Träger dieses Status sind. Personenbegriff, Würdebegriff und Vernunftbegriff werden so auf eine Weise verschränkt, die für die abendländische Debatte um den Würdebegriff bis in unsere Zeit hinein prägend bleibt. Unabhängig von dieser sozusagen „fachspezifischen“ dignitas-Debatte der Theologie existiert im Hochmittelalter daneben auch weiterhin eine Verwendung des Begriffs, in der „dignitas“ ganz im Sinn des Theophilus und seiner Nachfolger auch ganz ohne speziellen Bezug auf den Personenbegriff eine Vorrangstellung innerhalb der Seinsordnung bezeichnet, wobei dann selbstverständlich Gott die höchste dignitas, die dignitas im eigentlichen Sinn zukommt. Wie Stephan Schaede dazu ausführt39, ist die letztere Verwendung des dignitas-Begriffs nicht zuletzt durch die verstärkte Rezeption der aristotelischen Naturphilosophie seit dem frühen 13. Jahrhundert inspiriert. Schaede stellt für die Theologie und Philosophie des 13. Jahrhunderts vor diesem Hintergrund geradezu eine Ubiquität des dignitas-Begriffs fest: „Allenthalben ist von einem ordo dignitatis die Rede, sei es im Hinblick auf Ämterstrukturen, sei es im Hinblick auf den Status der Geschöpfe innerhalb der Schöpfung.“40
Wenn dementsprechend etwa Thomas von Aquin das Wort „dignitas“ benutzt, so meint er zumeist gerade nicht eine dignitas hominis oder eine das Personsein als solches definierende dignitas, sondern in aller Regel entweder die Würde Gottes innerhalb der Seinsordnung oder aber eine bestimmte Amtswürde bzw. einen politisch-sozialen Rang innerhalb der Gesellschaftsordnung. Im Bezug auf das Mensch-Sein als solches wird der dignitas-Begriff dagegen nur äußerst selten verwendet. So ergibt eine Begriffs-Recherche im „Index Thomisticus“ insgesamt 2256 Belegstellen für die Verwendung des Begriffs „dignitas“ in seinen verschiedenen Deklinationsformen im Werk des Thomas. Nur bei 30 (!) von diesen 2256 Belegstellen wird der Ausdruck aber in den Verbindungen „dignitas hominis“, „dignitas humana“ oder „dignitas humanae naturae“ in ihren verschiedenen Deklinationsformen verwendet. Und selbst für diese Verwendungen gilt dann, dass Thomas an keiner Stelle so etwas wie eine zusammenhängende Theorie von dignitas hominis entwickelt. Dennoch scheint hinter den verstreuten Äußerungen zur dignitas hominis durchaus eine bestimmte grundlegende Konzeption zu stehen, die man freilich aus diesen Äußerungen zunächst rekonstruieren muss. Wesentlich dafür ist offenbar der Gedanke, dass die Auszeichnung des Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung darin besteht, dass alleine Menschen die praktische Vernunft besitzen, das Gute zu erkennen, vor allem aber auch die Willensfreiheit, sich aus sich selbst heraus, als Autoren der eigenen Handlungen, zum Guten zu entschließen. So erläutert Thomas in der Schrift über den Römerbrief: „Et iste est supremus gradus dignitatis in hominibus, ut scilicet non ab aliis, sed a seipsis inducantur ad bonum. Secundus vero gradus Schaede a.a.O S. 39–45. Schaede a.a.O. S. 40.
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est eorum qui inducuntur ab alio, sed sine coactione.”41 Und in der „Summa theologica“ heißt es – bezeichnenderweise im Zusammenhang der Erörterung der Frage, ob Engel einen freien Willen haben – sogar unmissverständlich: „[…] libertas arbitrii ad dignitatem hominis pertinet.“42 In „De veritate“ schließlich führt Thomas aus, dass ein nicht vernunftgemäßes Handeln genau deshalb schändlich und erniedrigend für einen Menschen sei, weil seine ganze Würde als Mensch in nichts anderem als eben der Vernunft bestehe: „Recessus autem a ratione, in qua tota dignitas humana consistit, ad turpitudinem pertinet.“43 Thomas von Aquins Abheben auf Willensfreiheit und praktische Vernunft hat bei ihm nun freilich systematische Implikationen, die über die bis dahin in Spätantike und Mittelalter entwickelten und zuweilen doch recht naiven Vorstellungen einer menschlichen Vorrangstellung im Kosmos hinausweisen. Einmal zeigt sich dies daran, dass er in der Nachfolge Bonaventuras seine Konzeption der dignitas hominis qua Vernunft und Willensfreiheit mit der Personendefinition des Alexander von Hales auf geradezu elegante Weise verknüpft. Dazu heißt es in der „Summa theologica“: „Quia enim in comoediis et tragoediis repraesentabantur aliqui homines famosi, impositum est hoc nomen persona ad significandum aliquos dignitatem habentes. Unde consueverunt dici personae in Ecclesiis, quae habent aliquam dignitatem. Propter quod quidam definiunt personam, dicentes quod persona est hypostasis proprietate distincta ad dignitatem pertinente. Et quia magnae dignitatis est in rationali natura subsistere, ideo omne individuum rationalis naturae dicitur persona, ut dictum est. Sed dignitas divinae naturae excedit omnem dignitatem, et secundum hoc maxime competit Deo nomen personae”.44
41 „Und dies macht den höchsten Grad an Würde bei den Menschen aus, nämlich dass sie nicht durch anderes, sondern durch sich selbst zum Guten veranlasst werden. Der zweite Grad an Würde kommt denen zu, die durch anderes, aber ohne Zwang zum Guten veranlasst werden.“ (Thomas von Aquin: Super epistolam S. Pauli ad Romanos, cap. 2 l. 3 [Übersetzung des Verfassers]). 42 „Die Freiheit des Willens verweist auf die Würde des Menschen.“ (Thomas von Aquin: Summa theologica Iª q. 59 a. 3 s. c. [Übersetzung des Verfassers]). 43 „Das Abgehen aber von der Vernunft, in der die gesamte menschliche Würde besteht, fällt in den Bereich des Schändlichen.“ (Thomas von Aquin: Questiones disputatae de veritate, q. 25 a. 6 ad 2 [Übersetzung des Verfassers]). 44 „Sofern nämlich in Komödien und Tragödien berühmte Menschen dargestellt werden, wird der Ausdruck ‚Person‘ gebraucht, um solche zu kennzeichnen, die eine Würde innehaben. Von daher ergibt sich auch, dass diejenigen innerhalb der Kirche ‚Personen‘ genannt werden, die eine Würde innehaben. Darum definieren einige ‚Person‘, indem sie sagen, dass Person eine ‚hypostasis‘ ist, die hinsichtlich einer die Würde betreffende Eigenschaft ausgezeichnet ist. Und weil nun eine große Würde darin besteht, als eine vernünftige Natur zu existieren, werden alle vernunftbegabten Wesen ‚Person‘ genannt. Doch die Würde der göttlichen Natur übersteigt alle sonstige Würde und dementsprechend kommt Gott der Ausdruck ‚Person‘ im allerhöchsten Maß zu.“ (Thomas von Aquin: Summa theologica Iª q. 29 a. 3 ad 2 [Übersetzung des Verfassers]).
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In dieser Passage greift Thomas die von Alexander wiedergegebene Definition der Person als „Würdenträger“ also zwar auf, führt diese aber wiederum auf die menschliche Vernunftnatur zurück. Er stimmt Alexander und seinen Nachfolgern mithin darin zu, dass Person-Sein durch das Innehaben einer Würde gekennzeichnet ist. Zugleich besteht er aber darauf, dass diese „Würde“ nicht einfach eine willkürlich gesetzte und insofern geradezu kontingente Vorrangstellung innerhalb der Seinsordnung bezeichnet. Vielmehr hat die dignitas des Menschen ihrerseits einen präzise angebbaren, nichtarbiträren Grund, nämlich eben die Vernunftnatur des Menschen. Damit erschöpfen sich die Dimensionen der thomistischen Konzeption einer dignitas hominis allerdings bei weitem noch nicht. Für das weitere Schicksal des Menschenwürdebegriffs wird eine weitere Engführung bedeutsam, die Thomas vornimmt. Diese verknüpft den Begriff der dignitas mit dem Gedanken des „Seins um seiner selbst willen“ bzw. der Selbszwecklichkeit, die sich wiederum aus der nur vernünftigen Wesen eignenden Willensfreiheit und der darin implizierten Autorschaft der eigenen Handlungen ergibt. Die hierfür einschlägigen Überlegungen finden sich in Kapitel 112 des III. Buchs der „Summa contra Gentiles“. Thomas trifft dort im Hinblick auf die göttliche Vorsehung eine Unterscheidung zwischen vernunftbegabten Kreaturen und nichtvernunftbegabten Kreaturen. Die sich in der göttlichen Vorsehung ausdrückende Sorge Gottes um seine Geschöpfe gelte, so Thomas, alleine den vernunftbegabten Wesen um ihrer selbst willen (propter seipsas), den nichtvernunftbegabten Wesen aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um der vernunftbegabten Geschöpfe willen. Der wesentliche Grund dafür wiederum ist, dass die vernunftbegabten Wesen durch ihre eigene Tätigkeit und aus eigenem Antrieb das „letzte Ziel des Universums“, Gott zu erkennen und zu lieben, erreichen können. Dementsprechend sind sie auf eine andere und eigentlichere Weise auf Gott bezogen als alle anderen Kreaturen: „In dignitate autem finis, quia sola creatura intellectualis ad usum finem ultimum universi sua operatione pertingit, scilicet cognoscendo et amando Deum: aliae vero creaturae ad finem ultimum pertingere non possunt nisi per aliqualem similitudines ipsius participationem.“45
Bemerkenswert an dieser Aussage des Thomas ist dabei nicht zuletzt, dass er hinsichtlich der vernunftbegabten Wesen gerade nicht auf den – in der christlichen Spätantike ebenso wie heute gängigen – Topos der Gottesebenbildlichkeit abhebt, sondern auf die Fähigkeit, Gott aus eigenem, freiem Antrieb „zu erken45 „In der Würde ihres Ziels aber überragen die vernünftigen Geschöpfe die anderen, weil allein das geistige Geschöpf durch seine Tätigkeit zu jenem letzten Ziel des Universums gelangt, nämlich Gott zu erkennen und zu lieben: dagegen können die anderen Geschöpfe zum letzten Ziel nur durch eine gewisse Teilhabe an der Ähnlichkeit mit ihm gelangen.“ (Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles, Dritter Band, Teil 2, Buch III, hg. und übers. von Karl Allgaier. Darmstadt 1996, S. 154 [lat.]/S. 155 [dt.]).
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nen und zu lieben“. Die „Ähnlichkeit mit Gott“ ist demgegenüber sogar gerade eine defizitäre, weil eben passive und unfreie Form der Ausrichtung auf Gott, die für die nichtvernunftbegabten Kreaturen gleichsam „übrigbleibt“. Aus dieser Konstellation folgert Thomas nun, dass Gott sich allein denjenigen Kreaturen, die aufgrund ihrer Vernunftbegabung als die Autoren ihres Handelns angesprochen werden können, um ihrer selbst willen zuwendet, den anderen Kreaturen aber bloß um der vernunftbegabten Kreaturen willen: „Primum igitur, ipsa conditio intellectualis naturae, secundum quam est domina sui actus, providentiae curam requirit qua sibi propter se provideatur: aliorum vero conditio, quae non habent dominium sui actus, hoc indicat, quod eis non propter ipsa cura impendatur, sed velut ad alia ordinatis.“46
Während diese Aussage nun auf den ersten Blick wie eine willkürliche und rein theologisch motivierte Setzung erscheinen mag, wird sie von Thomas durchaus auch philosophisch untermauert. Thomas führt dazu insgesamt sieben verschiedene, zum Teil parallel laufende Argumentationsgänge an. Unter diesen stechen die beiden ersten Argumente insofern hervor, als sie zum einen deutlich auf die aristotelische Naturphilosophie rekurrieren, diese aber in entscheidenden Punkten verändern, und zum anderen, als sie eine Konzeption der zugleich ontologischen wie normativen Auszeichnung von Vernunftwesen entwerfen, die mutatis mutandis bis in in den Kernbestand der kantischen Moralphilosophie hineinwirkt. Nach dem ersten Argument sind alle Wesen, die nicht vernunftbegabt sind, nicht die Autoren ihrer Handlungen und mithin in einer aristotelischen Terminologie nicht „selbstbewegt“. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass für Thomas offenbar nur solche Wesen Autoren ihrer eigenen Handlungen sind, die sich aus Vernunftgründen für oder gegen eine bestimmte Handlung entscheiden können. Wo das nicht der Fall ist, ist ein Wesen nicht durch sich selbst, sondern durch anderes bewegt, d. h., seine Handlungen sind nicht im eigentlichen Sinn „seine“ Handlungen, sondern entweder Handlungen eines anderen Wesens oder bloße Ereignisse. Thomas folgert daraus dann, dass nichtvernunftbegabte Wesen grundsätzlich den Charakter von „Instrumenten“ bzw. „Werkzeugen“ oder „Mitteln zum Zweck“ haben: „Quod enim ab alterum tantum agitur, rationem instrumenti habet: quod vero per se agit, habet rationem principalis agentis.“47 „Instrument-Sein“ wird hier also zunächst offensichtlich negativ darüber bestimmt, nicht durch sich selbst, sondern durch anderes bewegt zu werden, „Als erstes erfordert also die Lage des geistigen Wesens, derzufolge es Herr seines Tuns ist, die Sorge der Vorsehung, mit der sie um seiner selbst willen für es vorsorgt: die Lage der anderen Geschöpfe dagegen, die nicht die Herrschaft über ihr Tun haben, besagt, daß für sie nicht um ihrer selbst willen gesorgt wird, sondern wie für solche, die auf anderes hingeordnet sind“ (Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles a.a.O. S. 154 [lat.]/S. 155 [dt.]). 47 „Denn was nur von einem anderen betätigt wird, ist im Grunde ein Werkzeug“ (Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles a.a.O. S. 154 [lat.]/S. 155 [dt.]). 46
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und bildet in diesem Sinn zunächst eine ontologische Charakterisierung: zum „Instrument“ wird etwas nicht, indem es als Instrument gebraucht oder behandelt wird, sondern das, was „Instrument“ ist, ist es eben deshalb, weil es seiner Seinsweise nach „Instrument“, d. h. nach Thomas‘ Bestimmung: nicht Autor seines Handelns ist. Ein solcher ontologischer Gebrauch des Ausdrucks „Instrument“ hätte nun allerdings noch keine normativen Konsequenzen, würde die Brücke zur normativen Dimension des „Instrument“-Seins nicht durch ein teleologisches Argument geschlagen. Um dasjenige, was „Instrument“ ist, so Thomas nämlich weiter, bemühe man sich nicht um seiner selbst willen; vielmehr sei es da, damit eine „Hauptursache“ sich seiner bediene: „Instrumentum autem non quaeritur propter seispum, sed ut eo principale agens utatur.“48 Diese Entgegensetzung ist nun allerdings in mancher Hinsicht überraschend. Zum einen hätte man erwartet, dass dem „non quaeritur propter seipsum“ entgegengesetzt würde, dass man sich um Instrumente um des Ziels willen bemühe, das mittels des Instruments realisiert werden soll. Eine solche Entgegensetzung wäre in der Tat unproblematisch, da sie lediglich die alltägliche Auffassung dessen, was „Werkzeuge“ ausmacht, wiedergeben würde. Thomas jedoch zieht aus der ontologischen Charakterisierung als „Instrument“ unmittelbar eine teleologische Konsequenz, nämlich die, dass das, was ontologisch gesehen „Instrument“ ist, überhaupt nur existiere, um von „Nichtinstrumenten“ benutzt zu werden. Aus der ontologischen Bestimmung des „Instrument-Seins“ als der Seinsweise, bei der etwas nicht Autor seines Handelns ist, folgt die teleologische Bestimmung als „Dasein um des Gebrauchs durch andere willen“ aber eigentlich noch nicht. Vielmehr überlagert Thomas hier offensichtlich die von ihm zunächst entwickelte ontologische Bestimmung von „Instrument-Sein“ mit einer alltagssprachlich-pragmatischen Bedeutung von „Instrument“, nach der Instrumente dafür gemacht sind, zur Realisierung eines Ziels benutzt zu werden. Wirklich schlüssig wird Thomas’ Argument mithin nur dann, wenn man es durch eine zusätzliche Prämisse ergänzt, die Thomas im hier diskutierten Text zwar nicht ausspricht, aber offenbar stets mitdenkt: die schöpfungstheologische Prämisse nämlich, dass Gott den nichtvernünftigen Wesen es bereits bei der Schöpfung als Zweckbestimmung beigegeben hat, vernünftigen Wesen als Instrument zur Verfügung zu stehen – so wie ein Handwerker einem Hammer, den er angefertigt hat, bereits bei der Anfertigung den Zweck zugedacht hat, irgendjemandem als Werkzeug zum Einschlagen von Nägeln zu dienen. Wenn das aber der Fall ist, kann es auf den ersten Blick überflüssig erscheinen, dass Thomas seinen Argumentationsweg überhaupt über die skizzierte ontologische Bestimmung von „Instrument-Sein“ nimmt, könnte er doch auch 48 „Ein Werkzeug aber wird nicht um seiner selbst willen gesucht, sondern damit eine Hauptursache sich seiner bedient.“ (Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles a.a.O. S. 154 f. [lat.]/S. 155 f. [dt.]).
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
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direkt aus dem Willen Gottes bei der Schöpfung seine Schlussfolgerungen herleiten. Dass Thomas die ontologische Unterscheidung zwischen Vernunftwesen und nichtvernünftigen Wesen an dieser Stelle dennoch wichtig ist, deutet darauf hin, dass er offensichtlich der unausgesprochenen Auffassung ist, dass einem Wesen, das Autor seiner eigenen Handlungen ist, in irgendeiner Weise Unrecht geschähe, wenn es wie ein Instrument benutzt würde, während einem Wesen, das seiner Seinsweise nach nicht Autor seiner Handlungen ist, kein Unrecht geschieht, wenn es als Mittel benutzt wird. Warum das wiederum der Fall ist, spricht Thomas an keiner Stelle explizit aus. Der auf das Instrument-Argument folgende zweite Argumentationsgang, der auf die Freiheit von Vernunftwesen rekurriert, kann hierfür allerdings zumindest einen Hinweis geben. Obwohl dieses Argument als vom ersten unabhängiges Parallelargument eingeführt wird, müssten beide Argumente insofern wohl zusammen gesehen werden. Während Thomas im ersten Argument mit einer ontologischen Bestimmung des Instrument-Seins arbeitet, rekurriert er im zweiten Argument in ganz ähnlicher Weise auf Freiheit. Da Vernunftwesen die Autoren ihres eigenen Handelns seien, so Thomas, seien sie und nur sie im eigentlichen Sinn in ihren Handlungen frei: „Quod dominium sui actus habet, liberum est in agendo, liber enim est qui causa sui est (Metaph., 1,2).“49 Alle Wesen, die nicht durch sich selbst bewegt seien, seien demgegenüber unfrei und mithin „in Knechtschaft“, eben weil sie durch anderes bewegt würden. Wie zuvor bereits die Bestimmung des Instrument-Seins ist hier auch die Bestimmung des „In-KnechtschaftSeins“ eine zunächst ontologische Bestimmung: „in Knechtschaft“ ist etwas nicht dadurch, dass es als Knecht oder Sklave behandelt wird, sondern dadurch, dass es in seinem Handeln nicht durch sich selbst, sondern durch etwas anderes als es selbst determiniert wird. „Knechtschaft“ ist also ein ontologisches Charakteristikum nichtvernunftbegabter Wesen. Bis hierhin laufen die beiden Argumente Thomas’ mithin parallel. Während aber der Übergang von der ontologischen zur teleologischen oder sogar normativen Ebene im ersten Argument ohne theologische Zusatzannahmen nicht recht schlüssig ist, deutet sich nun ein zumindest denkbares nicht-theologisches Argument an. Wenn ein Wesen nämlich, so ließe sich argumentieren, ohnehin und auch ohne Zutun eines Vernunftwesens nicht frei ist, dann wird ihm auch kein Unrecht getan, wenn es in das Zweckkalkül eines Vernunftwesens eingebunden und in diesem Rahmen auch als unfrei behandelt wird. Thomas selbst spricht diese Überlegung zwar nicht aus, scheint sie aber unterschwellig doch mitzudenken, da sonst nicht erklärbar wäre, warum der ontologische Unterschied zwischen den Seinsweisen von Vernunftwesen und nichtvernünftigen 49 „Was die Herrschaft über seine Tätigkeit hat, ist frei in seinem Tun, denn ‚frei ist, wer Ursache seiner selbst ist‘ [Metaph., 1,2]“ (Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles a.a.O. S. 156 [lat.], S. 157 [dt.]).
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
Wesen überhaupt von Bedeutung wäre, wenn man doch direkt mit dem Willen Gottes argumentieren könnte. Würde man allerdings nur mit dem Schöpfungswillen Gottes argumentieren, so würde es sich bei der Bevorzugung vernunftbegabter Wesen um bloße Willkür und Kontingenz handeln. Um genau dies auszuschließen, muss sichergestellt werden, dass der Umstand, dass Gott für Vernunftwesen um ihrer selbst willen, für nichtvernünftige Wesen aber nicht um ihrer selbst willen sorgt, im Einklang mit den ontologischen Bestimmungen der jeweiligen Geschöpfe selbst steht. Ist das der Fall, so widerfährt ihnen durch die unterschiedliche Zielrichtung der göttlichen Sorge nur das, was ihrem Wesen entspricht und angemessen ist. Obgleich in den hier wiedergegebenen Erörterungen aus der „Summa contra Gentiles“ der Begriff der menschlichen Würde selbst nicht auftaucht, spielen diese Erörterungen doch für die Entwicklung des abendländischen Menschenwürdebegriffs eine wesentliche Rolle, insofern hier die Wurzeln des ebenso bei Kant wie in der Grundgesetz-Auslegung Günter Dürigs zentralen Konzepts der „Selbstzwecklichkeit“ liegen. Auch die Verknüpfung der Konzeption der Selbstzwecklichkeit mit dem Begriff der Würde, die wir bei Kant und Dürig finden, wird von Thomas selbst vorgenommen, allerdings an einer anderen Stelle und in einem anderen Zusammenhang. Im „Scriptum super libros Sententiarum“ nämlich definiert Thomas dignitas als ein „Gutsein um seiner selbst willen“ bzw. im Hinblick auf sich selbst und grenzt sie von der „utilitas“ als einem „Gutsein für andere“ ab. Bezeichnenderweise tauchen diese Definitionen von utilitas und dignitas bei Thomas im Rahmen der Erörterung der Frage auf, ob die vita contemplativa oder die vita activa „würdiger“ sei. Zur deren Beantwortung führt Thomas zunächst – darin durchaus im Einklang mit Aristoteles – aus, dass die vita contemplativa nicht auf etwas ihr Äußerliches, sondern auf sich selbst hingeordnet sei, während die vita activa auf das Wohl anderer Menschen hingeordnet sei. Damit sei aber die vita contemplativa würdiger (dignior) als die vita activa, die vita activa aber wiederum nützlicher (utilior) als die vita contemplativa. Denn „dignitas“, so Thomas, bezeichne das Gutsein in Bezug auf sich selbst, „utilitas“ aber das Gutsein für andere: „Unde activa quantum ad hanc partem quae saluti proximorum studet, est utilior quam contemplativa; sed contemplativa est dignior: quia dignitas significat bonitatem alicuius propter seipsum, utilitas vero propter aliud.“50
Diese Art einer Differenzierung zwischen „dignitas“ und „utilitas“ hat ihre Wurzeln, auch das ist bemerkenswert, ursprünglich in der antiken Ästhetik und 50 „Von daher ist das tätige Leben, sofern es um denjenigen Teil geht, der sich um das Wohl der Nächsten bemüht, nützlicher als das kontemplative; das kontemplative ist aber würdiger: denn ‚Würde‘ bezeichnet ein Gutsein von etwas um seiner selbst willen, ‚Nützlichkeit‘ dagegen ein Gutsein um eines anderen willen.“ (Thomas von Aquin: Scriptum super libros Sententiarum lib. 3 distinctio 35 q. 1 a. 4 qc. 1 co [Übersetzung des Verfassers]).
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
133
Rhetorik, genauer gesagt der Ästhetik und Rhetorik der späten römischen Republik und der Kaiserzeit. Sie wird dort im Hinblick auf Werke verwendet, die einerseits ästhetisch ansprechend sein sollen, andererseits aber auch eine praktische Funktion erfüllen sollen. Das gilt einmal für Reden, die als solche einen bestimmten politischen oder juristischen Zweck verfolgen, zugleich aber auch ästhetischen Ansprüchen genügen sollen. Dabei wird die Seite der Tauglichkeit zur Erreichung eines Zwecks dann in der Regel mit utilitas bezeichnet, während die Seite der für sich selbst stehenden, gewissermaßen zweckfreien Schönheit der Rede mit dignitas bezeichnet wird.51 Ein weiteres Anwendungsfeld bildet die Architektur, hinsichtlich derer Cicero die Unterscheidung zwischen dignitas und utilitas am Beispiel eines Tempelgiebels erläutert: „Capitoli fastigium illiud et ceterarum aedium non venustas, sed necessitas ipsa fabricata est; nam cum esset habita ratio, quem ad modum ex utraque tectii parte aqua delaberetur, utilitatem templi fastigi dignitas consecuta est; ut, etiam si in caelo Capitolium statueretur, ubi imber esse non posset, nullam sine fastigio dignitatem habititurum fuisse videatur.“52
In dieser Begriffsverwendung ist offenbar der alte etymologische Zusammenhang zwischen dignitas und decus, d. h. zwischen Würde und Schmuck bzw. Zierde, noch durchaus präsent. Wenn Thomas die ursprünglich ästhetische Differenzierung zwischen utilitas und dignitas nun aber heranzieht, um die Differenz zwischen vita activa und vita contemplativa zu explizieren, so greift er sie offenkundig nicht einfach nur auf, sondern verallgemeinert sie in einer Weise, die ihre Übertragung auf den Bereich der Moralphilosophie und der Rechtsphilosophie möglich macht und die schließlich bei Kant ihre volle Wirkung entfaltet. Führt man die Aussagen zur dignitas aus der „Summa contra Gentiles“, der „Summa theologica“, der Schrift „De veritate“ und dem „Scriptum super libros Sententiarum“ nun zusammen, so ergibt sich, eigentlich erstmals in der Geschichte des Würdebegriffs, eine Theorie der dignitas hominis, in der diese nicht alleine Pflichten gegen sich selbst impliziert, sondern auch Pflichten gegen andere Menschen. Ja, wie Thomas dann selbst vorführt, wird es erstmals überhaupt denkmöglich, den Begriff der Menschenwürde in einem rechtsphilosophischen Sinn und Kontext zu vewenden. Die Passage, die hier gemeint ist, findet sich ebenfalls wieder in der „Summa theologica“, genauer bei der Erörterung Vgl. Pöschl a.a.O. S. 37 f. „Nicht Schönheit, sondern Notwendigkeit schuf den Giebel des Kapitols und anderer Tempelbauten. Freilich als man der Erwägung, wie das Wasser von beiden Seiten des Dachs abfließen könnte, Rechnung getragen hatte, da folgte der Nützlichkeit des Giebels die Würde, so dass, selbst wenn man im Himmel ein Kapitol errichten würde, wo es gar nicht regnet, der Tempel ohne Giebel als der Würde entbehrend erschiene.“ (Marcus Tullius Cicero: De oratore, hg. und übers. von Harald Merklin. Stuttgart 1976, Buch III, 180, S. 558 [Übersetzung des Verfassers nach Merklin]). 51
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
der Frage, ob die Todesstrafe dem 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ widerspreche. Thomas verneint dies mit einer ganzen Reihe von Argumenten, von denen eines explizit auf die Menschenwürde abhebt. Dieses Argument lautet: „Ad tertium dicendum quod homo peccando ab ordine rationis recedit, et ideo decidit a dignitate humana, prout scilicet homo est naturaliter liber et propter seipsum existens, et incidit quodammodo in servitutem bestiarum, ut scilicet de ipso ordinetur secundum quod est utile aliis.“53
Vor der Negativfolie eines seiner Würde verlustig gehenden Menschen finden sich in dieser Überlegung praktisch alle Elemente, die den Menschenwürdebegriff bis hinein in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und Günter Dürigs Auslegung des Art. 1, Abs. 1 GG bestimmen.54 Demnach gründet erstens die Menschenwürde in Freiheit und Rationalität, wobei diese im Sinn praktischer Rationalität als die Fähigkeit in den Blick kommt, sich in seinem Handeln an vernunftgemäßen Normen zu orientieren. Zweitens impliziert die Menschwürde, dass ihre Träger durch andere Wesen als frei und bloß um ihrer selbst willen existierend behandelt werden sollen. Dabei ist „um ihrer selbst willen existierend“ als kontradiktorisches Gegenteil zum „Existieren um anderer willen“ bzw. „Existieren für die Zwecke anderer“ konzipiert, das Thomas mit dem Begriff der „utilitas“ bezeichnet. Für Wesen, die nicht durch die dignitas hominis ausgezeichnet sind, gilt dementsprechend, dass sie nicht als frei und um ihrer selbst willen existierend behandelt werden müssen, sondern vielmehr unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit für andere behandelt werden dürfen. Schwerverbrecher dürften daher, so Thomas in seinen Ausführungen weiter55 , auch wenn sie der biologischen Spezies nach Menschen sind, getötet werden, da es für die Gesellschaft insgesamt nützlicher sei, dass Schwerverbrecher nicht existieren, als dass sie existieren. Die im 5. Gebot ausgesprochene Pflicht, nicht zu töten, gilt nach dieser Konzeption dem Schwerverbrecher gegenüber mithin genau deshalb nicht, weil er anders als ein mit Menschenwürde ausgestattetes Wesen alleine nach den Kriterien der utilitas behandelt werden darf. Das heißt: für die Frage, wie ihm gegenüber zu handeln ist, ist alleine das Kriterium seines Nutzens für andere relevant; er geht mit dem Verlust seiner dignitas humana
53 „Drittens ist zu sagen, dass ein Mensch, der sündigt, sich von der Vernunftordnung abwendet und damit von der menschlichen Würde abfällt, gemäß der nämlich der Mensch von Natur aus frei ist und um seiner selbst Willen existiert, dass er also gewissermaßen in die Knechtschaft der Tiere zurückfällt, so dass dann über ihn verfügt werden darf entsprechend dem, was den anderen nützt. (Thomas von Aquin: Summa theologica IIª-IIae q. 64 a. 2 ad 3 [Übersetzung des Verfassers]). 54 Dieser Umstand zeigt, dass Kants Moral- und Rechtsphilosophie, so sehr sie auf der Begründungsebene einen Neuansatz markiert, doch auf anderen Ebenen eher den Abschluss einer vom frühen 13. bis ins späte 18. Jahrhundert reichenden Denktradition darstellt als einen Neubeginn. 55 Vgl. die zitierte Stelle aus Summa theologica IIª-IIae q. 64 a. 2 ad 3.
III. Der dignitas-Begriff in der Hochscholastik
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sozusagen ganz in seinem Sein-für-andere auf und verliert den Anspruch, als Gegenüber von Pflichten betrachtet und behandelt werden zu müssen. Möglich ist diese Schlussfolgerung aber in Thomas’ Konzeption nur, weil Verbrecher durch ihr verbrecherisches Handeln ihre eigene Menschenwürde, also ihren moralischen Rang als Menschen, verloren haben, und zwar indem sie als Verbrecher offensichtlich nicht als Vernunftwesen gehandelt haben. Genau in diesem Punkt besteht dann allerdings auch ein entscheidender Unterschied jedenfalls zum zeitgenössischen rechtsphilosophischen Verständnis der Menschenwürde, wonach ein Träger der Menschenwürde weder durch eigenes Handeln, noch durch das Handeln anderer seine Menschenwürde und die damit verbundenen normativen Ansprüche verlieren kann. Vor dem Hintergrund von Thomas’ Aussagen in der „Summa contra Gentiles“ ist der Gedanke einer Verlierbarkeit der dignitas hominis allerdings zumindest problematisch, da Thomas dort ja, wie gesehen, auf die Freiheit abstellt, die darin besteht, Autor des eigenen Handelns und damit selbstbewegt zu sein. Autor des eigenen Handelns scheint aber zumindest prima facie auch derjenige zu sein, der sich in Freiheit entschließt ein Verbrechen zu begehen. Um die Aussagen der „Summa contra Gentiles“ mit den Aussagen der „Summa theologica“ zur Todesstrafe in Einklang zu bringen, müsste man mithin die – wieder sehr nah an Kant herankommende – These vertreten, dass derjenige, der sich entschließt, ein Verbrechen zu begehen, und es auch tatsächlich begeht, nicht in Freiheit handelt. Selbst wenn das richtig ist, stellt sich aber wiederum die Frage, ob und warum durch unfreies Handeln in einem bestimmten Fall die Menschenwürde grundsätzlich sollte verloren gehen können. Will man diese Konsequenz nicht ziehen, bleibt im Grunde nur der später dann auch in der Tat eingeschlagene Weg, den Gedanken der Verlierbarkeit der Menschenwürde aufzugeben und deren Trägerschaft statt an einzelnen Handlungen an der prinzipiellen Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln festzumachen. Bemerkenswert – und noch einmal die Bedeutung56 Thomas’ für Kants Moral- und Rechtsphilosophie bestätigend57 – ist in diesem Zusammenhang, dass es 56 Da nicht anzunehmen ist, dass Kant Thomas von Aquin selbst gelesen hat, liegt die Vermutung nahe, dass die Wirkung Thomas’ auf Kant über die Rezeption der spanischen Spätscholastik seitens der deutschen Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts vermittelt ist. Eine genaue Rekonstruktion dieser Wirkungsgeschichte wäre ein wichtiges Forschungsdesiderat, das zu erfüllen den Rahmen der vorliegenden Arbeit allerdings sprengen würde. 57 Ein weiterer auffälliger Beleg für diese Wirkung ist etwa der Umstand, dass das üblicherweise Kant zugeschriebene und in diesem Zusammenhang ausgiebig zitierte tierethische Argument, wonach sich Grausamkeiten gegenüber Tieren nicht um der Tiere willen selbst verbieten, sondern weil sie darin einüben könnten, Grausamkeiten auch gegenüber Menschen zu begehen (vgl. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, Akademieausgabe Band VI, S. 443), tatsächlich überhaupt nicht von Kant, sondern von Thomas von Aquin stammt. Entwickelt wird es von Thomas eben in dem hier ausgiebig zitierten Kapitel 112 der „Summa contra Gentiles“ (vgl. Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles, S. 160 [[at.]/S. 161 [dt.]).
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
zu der soeben zitierten Aussage Thomas’ zum Verlust der Menschenwürde durch das Begehen eines Verbrechens eine sogar bis in den Satzbau hinein parallele Stelle in Kants Rechtslehre gibt, wenn dieser dort ausführt: „Ohne Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staatsbürgers; außer wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeug der Willkür eines anderen (entweder des Staates oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht wird.“58
Zwar bezieht sich Kant in dieser Passage – die im Übrigen den einzigen Beleg einer Verwendung des Ausdrucks „Würde“ in der gesamten „Rechtslehre“ bildet – nicht auf die Menschenwürde, sondern auf die Würde eines Staatsbürgers, und ebenso bezieht sich Kant hier offensichtlich gerade nicht auf die ansonsten von ihm bekanntlich befürwortete Todesstrafe. Gleichwohl hat das Argument Kants nicht alleine dieselbe logische Struktur wie Thomas’ Argument zur Todesstrafe, sondern es findet auch eine aufschlussreiche und für die Frage nach dem Verhältnis von Moral- und Rechtsphilosophie bedeutsame Überblendung der Staatsbürger-Würde mit der Selbstzwecklichkeit des Menschen, die in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ ja gerade mit der Menschenwürde enggeführt ist. Demnach ist es im spezifisch strafrechtlichen Kontext nach Kant eben nicht durch den Kategorischen Imperativ verboten, Menschen als „bloßes Werkzeug“ oder eben „bloßes Mittel zum Zweck“ zu gebrauchen. Einem Verbrecher gegenüber ist dies Kants Auffassung nach vielmehr offenbar durchaus zulässig. Ungeachtet dieser speziellen Problematik zeigt sich die Wirkmächtigkeit von Thomas’ Überlegungen zur dignitas immer wieder durch das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch, und zwar auch und gerade in ethischen, rechtlichen und politischen Kontexten. Einer von vielen Belegen dafür ist etwa die Bulle Veritas ipsa, in der Papst Paul III. 1537 die Versklavung der Ureinwohner Lateinamerikas und den Diebstahl ihres Eigentums durch spanische Konquistadoren buchstäblich als Teufelswerk verdammte. Der Text wird für unseren Zusammenhang nicht zuletzt deshalb aus der Vielzahl der möglichen Belege herangezogen, weil die Menschenwürde da, wo sie im 18. und frühen 19. Jahrhundert als rechtlich-politischer Kampfbegriff gebraucht wird, vorwiegend gegen die Sklaverei ins Feld geführt wird: „Der erhabene Gott neigte sich unserem Geschlecht mit solcher Liebe zu und schuf den Menschen dergestalt, dass dieser nicht bloß wie die anderen Geschöpfe am Guten teilnehmen, sondern das unzugängliche und unsichtbare höchste Gut selbst verkosten und von Angesicht zu Angesicht schauen darf. Da nun, nach dem Zeugnis der Hl. Schrift, der Mensch für das ewige Leben und die Glückseligkeit bestimmt ist, dieses ewige Leben und die Seligkeit aber nur durch den Glauben an unsern Herrn Jesus Christus erlangt werden können, muss man dem Menschen eine derartige Beschaffenheit und Natur zu Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 329.
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IV. Menschenwürde in der Philosophie der Renaissance
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erkennen, dass er diesen Glauben an Christus zu empfangen imstande sei und dass, wer immer die menschliche Natur sich zu eigen nennt, auch die Fähigkeit zu glauben besitze. […] Scheelen Blickes sah dies der Feind des Menschengeschlechtes, der stets allem Guten entgegenwirkt und es zu vernichten trachtet. […] Er veranlasste nämlich einige seiner Helfershelfer, die nichts anderes begehrten, als ihre Habsucht zu befriedigen, dass sie unablässig darauf hinarbeiteten, die Bewohner West- und Südindiens und anderer Nationen, von denen wir Kunde erhalten haben, wie Tiere zum Sklavendienst einzuspannen. […] Aus dem Verlangen, in diese Angelegenheit Ordnung zu bringen, bestimmen und erklären wir mit diesem Schreiben und kraft unserer apostolischen Autorität, ungeachtet all dessen, was früher in Geltung stand und etwa noch entgegensteht, dass die Indianer und alle andern Völker, die künftig mit den Christen bekannt werden, auch wenn sie den Glauben noch nicht angenommen haben, ihrer Freiheit und ihres Besitzes nicht beraubt werden dürfen; vielmehr sollen sie ungehindert und erlaubterweise das Recht auf Besitz und Freiheit ausüben und sich dessen erfreuen können. Auch ist es nicht erlaubt, sie in den Sklavenstand zu versetzen. Alles, was diesen Bestimmungen zuwiderläuft, ist null und nichtig.“59
Auch wenn der Begriff „dignitas“ nicht explizit genannt wird, ist unschwer zu erkennen, dass für diesen für die Entwicklung des neuzeitlichen Naturrechts durchaus bedeutsamen Text die zentralen Motive der Menschenwürdekonzeption des Thomas von Aquin grundlegend sind. Einmal, indem die besondere Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfungsordnung aus der spezifischen Hinwendung Gottes zum Menschen, die sich wiederum in dessen aktiver Ausrichtung auf Gott spiegelt, begründet wird. Zum anderen, indem aus eben dieser besonderen Stellung des Menschen gefolgert wird, dass es unzulässig ist, einen Menschen zu versklaven, d. h. ihn nach den Kategorien der utilitas statt nach den Kategorien der dignitas zu behandeln. Das Letztere gilt dabei wiederum unabhängig davon, ob er (schon) zum Christentum bekehrt ist oder nicht. Zuletzt folgt aus jener spezifischen Stellung für Paul III. sogar die Forderung nach einer praktischen Anerkennung jedes Menschen als eines Rechtssubjekts, nämlich wenn es in der Bulle heißt, die Ureinwohner Lateinamerikas müssten ihr Recht auf Freiheit und Eigentum ungehindert ausüben können.
IV. Menschenwürde in der Philosophie der Renaissance Es mag den Leser verwundern, dass in der vorliegenden Studie dem Menschenwürdebegriff von Renaissance-Autoren wie Giannozzo Manetti60 , Bartolomeo Paul III.: Bulle „Veritas ipsa“. In: Metzler, Josef (Hg.): America Pontificia primi saeculi evangelizationis (1493–1592). Documenta pontificia ex registris et minutis praesertim in Archivo Secreto Vaticano existentibus. Vatikanstadt 1991. Bd. I: 1493–1562: Veritas ipsa (Sublimis deus; Excelsus deus) Nr. 84, S. 364–366 [Übersetzung des Verfassers]. 60 Manetti, Giannozzo: De dignitate et excellentia hominis/Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, übers. von Hartmut Leppin, hg. und eingel. von August Buck. Hamburg 1990. 59
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
Facio61 oder Giovanni Pico della Mirandola 62 kein großer Raum gegeben wird, obgleich jene Autoren in den gängigen historischen Übersichten häufig als bedeutsam für die Entwicklung des Begriffs angesehen werden. Betrachtet man die einschlägigen Quellen aber genauer, so wird man schnell festellen, dass sie dem antiken und mittelalterlichen Menschenwürdeverständnis auf der systematischen Ebene nur wenig hinzufügen und jedenfalls für die Entwicklung der Menschenwürde als eines Rechtsbegriffs, die im Mittelpunkt dieser Studie steht, keine Rolle spielen. In den im Zusammenhang des Menschenwürdebegriffs meist angeführten Texten von Facio, Manetti und Pico della Mirandola geht es im wesentlichen darum, eine Sonderstellung des Menschen im Kosmos zu betonen und genauer zu bestimmen. Im Rahmen dieser Bestimmung werden dann zwar durchaus auch immer wieder Akzente gesetzt, die neuartig sind und die für diejenigen Autoren, die bis dahin den Menschenwürdebegriff thematisiert hatten, keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatten. So ist ein beträchtlicher Teil von Manettis Traktat „De dignitate et excellentia hominis“ der seiner Auffassung nach bewundernswerten Zweckdienlichkeit und Schönheit des menschlichen Körpers gewidmet, die in dieser Form in der Tat für die Autoren der Antike und des Mittelalters nicht von großer Bedeutung war. Die Einbeziehung des menschlichen Körpers in diejenigen Aspekte, in denen eine herausgehobene Stellung des Menschen im Kosmos zum Ausdruck kommt, ist dementsprechend in der Tat ein Novum, das ganz unabhängig vom Menschenwürdebegriff von einem neuen, positiveren Verhältnis des Menschen zu seiner Leiblichkeit zeugt63. Allerdings ist Manettis Durchführung dieses Programms kaum wirklich überzeugend, lassen sich doch fast alle der seiner Meinung nach wundersam gelungenen Funktionalitäten , die er schildert – wie etwa die Rolle der Lungen für den Atemmechanismus64 –, in der einen oder anderen Weise auch bei Tieren finden. Wo Manetti hingegen die herausgehobene Stellung des Menschen als eines vernunftbegabten Wesens preist, da verlässt er an keiner Stelle die Bahnen, die von Cicero, den frühchristlichen und mittelalterlichen Autoren vorgezeichnet sind. Anders ist das in der Tat im Fall des Manuskripts der Rede, mit der der junge Giovanni Pico, Graf von Mirandola einen großen Philosophenkongreß eröffnen wollte, zu dem er die Gelehrten Europas mit der Absicht eingeladen hatte, mit ihnen jene 900 Thesen über Metaphysik und Theologie zu diskutieren, die er im Dezember 1486 veröffentlicht hatte65 . Diese Rede, die von ihm selbst mit Facio, Bartolomeo: De excellentia ac preastantia hominis liber. Hanau 1611. Pico della Mirandola, Giovanni: Oratio de hominis dignitate, hg. und übers. von Gerd von der Gönna. Stuttgart 2012. 63 Manetti wäre dementsprechend für eine Geschichte des Leiblichkeitsverständnisses vermutlich deutlich interessanter als er es für die Geschichte des Menschenwürdebegriffs ist. 64 Manetti a.a.O. S. 10 f. 65 Vgl. zu dieser bemerkenswerten Entstehungsgeschichte der „Oratio“, sowie zur philosophischen Einordnung Picos in den Renaissance-Neuplatonismus im allgemeinen Hoff61
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IV. Menschenwürde in der Philosophie der Renaissance
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keinem Titel versehen wurde, wurde erst in späteren Editionen seiner Werke als „Oratio de hominis dignitate“ geführt, obgleich der Begriff der dignitas hominis in dieser Rede selbst an keiner einzigen Stelle auftaucht und die Würde des Menschen auch an keiner Stelle explizit behandelt wird. Allein aus diesem Grund scheint es nicht ganz unproblematisch, Picos Rede überhaupt als einen Beitrag zur philosophischen Reflexion über die Menschenwürde einzuordnen, auch wenn der Graf von Mirandola seine Rede mit einer Reihe von Anmerkungen zur Stellung des Menschen im Kosmos anheben lässt. Diese umfassen allerdings je nach Edition auch kaum mehr als ein bis zwei Seiten, während der weitaus größte Teil der Rede in gelehrter Weise das theologisch-metaphysische Programm einer Synthese von christlicher Theologie, (Neu)platonismus, Gnosis, Hermetismus und Kabbala entwirft. Wer dementsprechend die Oratio als Beitrag zur Menschenwürdethematik auffasst, der müsste im Grunde jede Schrift, in der die Stellung des Menschen in der Schöpfungsordnung angesprochen wird, ebenso als einen Beitrag zu unserem Thema betrachten. Ungeachtet dieser Vorbehalte ist die Begründung, die Pico della Mirandola für die Sonderstellung des Menschen gibt, insofern durchaus interessant, als in dieser Begründung ein Freiheitsbegriff aufscheint, der sich von demjenigen der Hochscholastik deutlich unterscheidet. Wesentlich dafür ist die Überlegung, dass der Mensch durch Gott im Gegensatz zu allen anderen Geschöpfen in keinerlei Weise auf irgendwelche vorgegebenen Bestimmungen, auf irgendeine „Natur“, an der er sein Handeln zwangsläufig orientieren müsste, festgelegt worden sei. Vielmehr komme es dem Menschen zu, seine Natur in absoluter, unbeschränkter Freiheit selbst zu erschaffen und festzulegen. So lässt Pico Gott an Adam sich mit den Worten richten: „Definita ceteris natur intra praescriptas a nobis leges coercetur. Tu nullis angustiis coercitus pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies […] Nec te caelestem neque terrenum neque mortalem, neque immortalem fecimus, ut tui ipsiu quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tu te formam effingas.“66
Diese Passage ist insofern bemerkenswert, als der Mensch hier gewissermaßen von jeder Vorgabe durch ein platonisches „Urbild“, eine aristotelische Wesensmann, Thomas Sören: Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts. Frankfurt a.M. 2007, S. 107–133. 66 „Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen […] Weder als einen himmlischen, noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich, noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“ (Pico della Mirandola a.a.O. S. 8 [lat.]/S. 9 [dt.]). Die auf den ersten Blick befremdliche, geradezu als Ausdruck von Hybris erscheinende Aufassung, es liege sogar in der freien Entscheidung des Menschen, wahlweise sterblich oder unsterblich zu sein, ist vermutlich auf Picos starke Beeinflussung durch gnostisches Gedankengut zurückzuführen.
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
bzw. Formbestimmung oder ein immanentes telos freigestellt und stattdessen zum Schöpfer und Gestalter seiner eigenen Wesensbestimmung erklärt wird. Ungeachtet der rhetorischen Brillianz und der Gelehrtheit, mit der Pico della Mirandola diesen neuen, genuin modernen Freiheitsbegriff entfaltet, stellt dieser allerdings keine Innovation Picos oder der Renaissance überhaupt dar. Vielmehr handelt es sich bei der „Entteleologisierung“ der Freiheit und der menschlichen Natur, die hier zur Sprache kommt, um eine komplexe Entwicklung des spätscholastischen Nominalismus und Voluntarismus, der grob gesagt jede Beschränkung der Freiheit Gottes durch Wesensbestimmungen, Gesetze, Formalursachen oder immanente Zwecke als unvereinbar mit dessen Allmacht zurückweist. 67 Auch die Übertragung dieser Denkfigur auf den Freiheitsbegriff im Allgemeinen, mithin auch und gerade auf die menschliche Freiheit, ist bereits in der Spätscholastik zu finden und insofern keineswegs dem Grafen von Mirandola zuzuschreiben68 , der sie vielmehr lediglich rezipiert und wohl auch popularisiert. Des Weiteren ist zu beachten, dass Pico an jenen neuen Freiheitsbegriff, der auch das kantische Freiheitsverständnis maßgeblich prägen wird, keine eigenständigen, strukturell oder inhaltlich neuen normativen Forderungen knüpft; allenfalls geht er mit dem – fast selbstverständlichen – Appell einher, sich zu einem höheren Wesen zu entwickeln, das nach der Erkenntnis von Gott und der Einheit mit Gott strebt anstatt zu einem niederen Wesen, das nur seinen animalischen Trieben folgt. Dieser Gedanke ist freilich mit dem Menschenwürdebegriff schon seit seiner Herausbildung in der Antike verknüpft. Eine Verbindung des dignitas-Begriffs mit Pflichten gegen andere, wie sie für einen rechtlichen Menschenwürdebegriff wesentlich wäre und wie sie sich bei Thomas von Aquin in der Tat auch schon machtvoll andeutet, findet sich bei Pico della Mirandola dagegen überhaupt nicht. Für die Entwicklung der Menschenwürde als Rechtsbegriff69 stellen die Beiträge der Renaissance zur dignitas hominis mithin eher ein totes Gleis dar, zumal die Entwicklung des voluntaristischen neuzeitlichen Freiheitsbegriff nicht auf die Renaissance, sondern auf die ihr vorangehende spätmittelalterliche Scholastik zurückzuführen ist.
67 Vgl. zu dieser gesamten Entwicklung Krings, Hermann: Woher kommt die Moderne? Zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Freiheitsidee bei Wilhelm von Ockham. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), S. 1–13, sowie Honnefelder, Ludger: Duns Scotus. München 2005, S. 113–132. 68 Für die Verortung Picos im Gefüge des spätscholastischen Denkens vgl. Blum, Paul Richard: Pico, Theology and the Church. In: Dougherty, Michael V. (Hg.): Pico della Mirandola. New Essays. New York 2008, S. 37–60. 69 Das ist sicherlich anders, wo es nicht um die Menschenwürde als Rechtsbegriff geht, sondern um den Würdebegriff als einen Begriff, mittels dessen das menschliche Selbstverständnis verhandelt wird.
V. Ein Zwischenfazit: Menschenwürde vor Kant
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V. Ein Zwischenfazit: Menschenwürde vor Kant Jeder Versuch, die Geschichte des Begriffs der dignitas im Allgemeinen und der dignitas hominis von der Zeit der späten Römischen Republik bis ins Hoch- und Spätmittelalter auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist angesichts des Reichtums und der Vielschichtigkeit dieser Geschichte eigentlich zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Da es in der vorliegenden Untersuchung primär um die Frage geht, welche Rolle, Funktion und Bedeutung der Menschenwürdebegriff in rechtsphilosophischer Hinsicht hat oder haben kann, lassen sich, wie vergröbert auch immer, doch einige grundlegende Tendenzen diese Hinsicht betreffend aufzeigen. Analysiert man den Würdebegriff nach seiner prinzipiellen semantischen Struktur, so lassen sich folgende Merkmale herausarbeiten: „Würde“ bezeichnet zunächst eine bestimmte, herausgehobene Stellung innerhalb einer Rangordnung. Über die rein äußerliche Zuordnung einer solchen Stellung in einer Rangordnung hinaus weist der Würdebegriff dann aber drei Momente auf, die in komplexer Weise aufeinander bezogen sind: nämlich das Moment desjenigen, was jemand oder etwas seinem Rang in einer bestimmten Ordnung nach ist; ein Moment des Selbstverhältnisses, indem der Träger einer Würde nicht nur etwas ist, sondern sich jeweils auf eine bestimmte Art selbst versteht; und schließlich das Moment der Darstellung nach außen, in den Raum des Intersubjektiven hinein, sei es in Form eines dem eigenen Rang angemessenen Verhaltens des Würdenträgers selbst, sei es in Form angemessenen Verhaltens dem Träger der Würde gegenüber. Auf der Grundlage dieser prinzipiellen semantischen Struktur erlaubt der Würdebegriff dann Ausdifferenzierungen in die verschiedensten Richtungen. Das schlägt sich nicht zuletzt in der bereits von Kondylis konstatierten Spannung zwischen dem sozialen und politischen Gebrauch des allgemeinen dignitas-Begriffs und dem philosophischen und theologischen Gebrauch im Sinn der speziellen dignitas hominis nieder. Dabei ist der soziale und politische Gebrauch in der Regel anti-egalitär, indem er auf eine differenzierte Hierarchie von Ämtern und Würden abzielt, wohingegen der philosophisch-theologische Gebrauch gerade eine universalistische und egalitäre Tendenz aufweist, indem er eine spezifische, in der menschlichen Vernunftnatur verankerte, herausgehobene Stellung von Menschen überhaupt in der Welt bezeichnet. Dasjenige Selbstverständnis und Selbstverhältnis, um das es bei der spezifischen „Würde des Menschen“ geht, ist mithin das Selbstverständnis des Menschen als Vernunftwesen. Der letztere Gebrauch bildet sich, wie sich an Cicero belegen lässt, zunächst in der mittleren Stoa aus, wird dort aber um den Preis gewonnen, dass dem Menschenwürdebegriff zunächst die gesamte Seite des Sozialen, des Intersubjektiven und der Pflichten gegen andere verloren geht. Die spezifische dignitas hominis betrifft dann nur noch das Verhältnis des Menschen zu sich selbst als Vernunftwesen und fordert daher auch keine anderen Pflichten als Pflichten gegen sich selbst ein.
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3. Kapitel: Menschenwürde in Antike, Mittelalter und Renaissance
Von der Stoa aus findet der Gedanke einer spezifischen Würde des Menschen Eingang in das frühchristliche Denken, das ihn allerdings in entscheidenden Hinsichten theologisch überformt und transformiert. Von wesentlicher Bedeutung für diese Transformation ist der Umstand, dass die dignitas hominis bzw. das ἀξίωμα τοῦ ἀνθρώπου nun rückgebunden wird an ein als intersubjektiv und interpersonal gedachtes Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Obwohl sich damit dann zunächst die grundsätzliche Ausrichtung der Menschenwürde auf Pflichten gegen sich selbst, die auch noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschend bleibt, nicht ändert, eröffnet sich auf diesem Weg doch zumindest die Perspektive, Menschenwürde auch als Grundlage intersubjektiver, letztlich sogar rechtsrelevanter Pflichten und Rechte zu denken. Greifbar wird das in den verstreuten Äußerungen Thomas von Aquins zur dignitas hominis. In diesen wird das Verhältnis von Gott und Mensch als gleichsam asymmetrisches Anerkennungsverhältnis konzipiert und an die menschliche Vernunftnatur und die menschliche Willensfreiheit zurückgebunden: Der Mensch ist aufgrund seiner Vernunftnatur befähigt, sich aus eigenem Antrieb auf das Erkennen und Lieben Gottes als höchstes Gut auszurichten. Umgekehrt wendet Gott sich den Menschen in einer besonderen Weise, nämlich alleine um ihrer selbst willen zu. Es geht Gott mithin in seinem Verhältnis zu den Menschen um die Menschen selbst. Das wiederum geschieht aber nach Thomas’ Auffassung nicht willkürlich, sondern hat seinen rationalen, nicht-arbiträren Grund darin, dass den Menschen Vernunft und Willensfreiheit zukommen, dass sie mithin als die Autoren ihres eigenen Handelns angesprochen werden können. Die Unterscheidung zwischen derjenigen Sorge Gottes, die einem Geschöpf um seiner selbst willen gilt, und derjenigen Sorge Gottes, die einem nichtvernünftigen Geschöpf um anderer willen gilt, ist ideengeschichtlich folgenreich geworden. Folgenreich insofern, als damit die Gedanken des „Zwecks an sich“ und der Nichtinstrumentalisierung präfiguriert werden, die sowohl in der kantischen Moral- und Rechtsphilosophie als auch der aktuellen Verfassungsrechtsdogmatik zu Art. 1 Abs. 1 GG im Anschluss an Dürig eine zentrale Rolle spielen. Dementsprechend werden bei Thomas von Aquin erstmals die Konturen einer Theorie sichtbar, in der eine egalitär gedachte dignitas hominis eine wesentliche Rolle bei der Konzipierung von universal gedachten Pflichten gegen andere Menschen spielt. Dabei fungiert die dignitas hominis als derjenige Status innerhalb der Schöpfungsordnung, aus dem die normative Forderung folgt, einen Träger solcher Würde nicht nach den Kriterien der utilitas, d. h. des „Gutseins für anderes“ zu behandeln, sondern nach den Kriterien der dignitas, d. h. des „Gutseins um seiner selbst willen“. Zu beachten ist dabei allerdings, dass diese Theorie letztlich theologisch vermittelt bleibt, über Gott als einen Dritten, der die besondere, anti-utilitäre normative Struktur der Beziehungen zwischen den Menschen zugleich fordert und garantiert. Es ist die gleichsam „vertikale“ Anerkennungsrelation zwischen Gott und dem Menschen, bei der Gott für den
V. Ein Zwischenfazit: Menschenwürde vor Kant
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Menschen um des Menschen selbst willen sorgt, die auf der Ebene der „horizontalen“ Beziehung zwischen den Menschen in die normative Forderung mündet, sich nicht nur sich selbst gegenüber auf bestimmte Weise zu verhalten, sondern auch anderen Wesen gegenüber, denen die dignitas eines Vernunftwesens zukommt: nämlich so, dass es im Verhalten anderen Menschen gegenüber jeweils um diese selbst zu gehen habe. Wenn Thomas dann die Beachtung eines der Zehn Gebote, genauer des 5. Gebots, in einem Gegensatz zur Behandlung als „Instrument“ entsprechend den Kriterien der utilitas sieht, so impliziert dies, wie unausgesprochen auch immer, dass die Beachtung der anderen Menschen gegenüber geltenden Pflichten zumindest ein wesentlicher Bestandteil eines solchen Verhaltens anderen Menschen gegenüber ist, bei dem es um diese anderen selbst geht. Damit ist seiner grundsätzlichen Struktur nach bereits der rechtliche Menschenwürdebegriff moderner Verfassungstexte vorgezeichnet. Für unsere Untersuchung taucht vor diesem Hintergrund dann allerdings unvermeidlich die Frage auf, ob der Menschenwürdebegriff in einer Epoche, in der auf theologische Prämissen nicht mehr ohne weiteres zurückgegriffen werden kann, überhaupt noch eine Rolle als Prinzip der Ethik und des Rechts spielen kann. Ob das der Fall ist, hängt letztlich davon ab, ob es möglich ist, ihn auch ohne die „vertikale Anerkennungsrelation“ zwischen Gott und Mensch, allein aus dem Selbstverständnis des Menschen als eines freien Vernunftwesens in Gemeinschaft mit anderen freien Vernunftwesen zu denken. Den wichtigsten Ansatz in dieser Hinsicht bildet zweifelsohne Kants Aufnahme und Neubestimmung des Menschenwürdebegriffs in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, die darum auch Gegenstand des folgenden Kapitels sein wird.
4. Kapitel
Der Begriff der Menschenwürde bei Kant „Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben.“ (Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten)
I. Warum Kant? Obgleich die Befassung mit Kant im Rahmen einer systematischen Arbeit über den Menschenwürdebegriff prima facie keiner weiteren Rechtfertigung zu bedürfen scheint, ist es gerade angesichts solcher vermeintlicher Selbstverständlichkeiten sinnvoll, sich im Vorfeld einer derartigen Befassung noch einmal den Hintergrund zu verdeutlichen, vor dem diese erfolgt. Geht man von Kants philosophiegeschichtlichem Ort aus, so weist die Befassung mit seiner Konzeption der Menschenwürde sowohl in die Vergangenheit zurück, wie sie auch in die Zukunft vorausweist. In die Vergangenheit weist sie insofern zurück, als Kant beinahe alle bedeutsamen Elemente der aristotelischen, stoischen und christlichen Tradition des Nachdenkens über die menschliche Würde aufnimmt, namentlich den Gedanken der Auszeichnung des Menschen durch seine Vernunftbegabung und den Gedanken eines handlungsleitenden Endzwecks, der nicht der Realisierung eines weiteren Zwecks dient, sondern als „Zweck an sich“ um seiner selbst willen angestrebt wird und damit jedem bloß instrumentellen Handeln übergeordnet ist. Charakteristisch ist für Kant dann aber, dass er sowohl den Gedanken des „Endzwecks“ menschlichen Handelns gegenüber der eudämonistischen Tradition grundlegend umdeutet, wie auch, dass er eine neue Begründung der praktischen Philosophie entwirft, die schließlich bei Fichte und Hegel in den Gedanken der wechselseitigen Anerkennung vernünftiger Wesen als Subjekte von Rechten und Pflichten mündet. Mit diesem neuen Begründungsprinzip wirkt die von Kant angestoßene Transformation der praktischen Philosophie einerseits auf wichtige zeitgenössische Ansätze der Rechtsphilosophie, der Ethik und der Politischen Philosophie – hier seien nur der neokantianische Kontraktualismus eines John Rawls, die Habermas’sche Diskursethik und Axel Honneths entwicklungs- und sozialpsychologisch angereicherter Rekurs auf den Anerkennungsbegriff genannt. Andererseits schlägt Kants Neuansatz sich auch in zeitgenössischen Rechtssystemen und Rechtstexten nieder:
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
einmal in Form des kantischen Rechtsprinzips, dann aber auch in Form einer expliziten Erwähnung der Menschenwürde in so herausgehobenen Rechtsdokumenten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der EU-Grundrechte-Charta und nicht zuletzt des deutschen Grundgesetzes, das den Begriff zur Grundlage der deutschen Rechtsordnung erklärt. Was gerade das Letztere angeht, spielt Kant zudem insofern eine wichtige Rolle, als die gewissermaßen „kanonische“ Auslegung des Art. 1, Abs. 1 GG ausgehend von Günter Dürigs Kommentierung dieses Artikels unverkennbar an die Menschenwürde-Konzeption Kants anknüpft. Im Zusammenhang des Menschenwürdebegriffs kommt Kant mithin in doppelter Hinsicht eine Schlüsselstellung zu: einmal, indem Kant den traditionellen Menschenwürdebegriff aufgreift und ihn sowohl inhaltlich transformiert, als auch auf ein neues Fundament stellt. Zum anderen, indem Kants Praktische Philosophie den Ausgangspunkt eben jener anerkennungstheoretischen Begründung der Ethik und des Rechts bildet, die nach Überzeugung des Autors der vorliegenden Arbeit den philosophischen Kerngehalt moderner Rechtssysteme ausmacht. Die Erörterung des kantischen Menschenwürdebegriffs wird mithin einerseits die innere Logik der kantischen Anverwandlung des traditionellen Menschenwürdebegriffs transparent machen müssen. Andererseits muss gezeigt werden, dass und wie diese Anverwandlung dann spätestens bei Fichte zwangsläufig in eine Theorie der rechtlichen Anerkennung mündet. Auf dieser Grundlage soll dann schließlich im III. Teil der Arbeit gezeigt werden, dass der Menschenwürdebegriff zeitgenössischer Rechtssysteme sich als das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung vernünftiger und freier Subjekte als Rechtssubjekte sinnvoll rekonstruieren lässt. Damit ist dann zugleich eine Grundlage geschaffen, von der aus sich sowohl eine fundierte Kritik der im deutschen juristischen Diskurs vorherrschenden Rechtsdogmatik des Menschenwürdebegriffs vornehmen lässt, wie auch zugleich die Geltungsbereiche der Menschenwürde als eines Rechtsbegriffs und der Menschenwürde als eines Moralbegriffs begründet gegeneinander abgegrenzt werden können. Drittens wird die anerkennungstheoretische Rekonstruktion des Menschenwürdebegriffs es gestatten, auf die Frage nach der Möglichkeit unbedingt geltender Rechtspflichten eine Antwort zu geben, die zeigt, dass jene Frage in der Tat innerlich mit dem Menschenwürdebegriff verbunden ist. Schließlich erlaubt es das Nachzeichnen der bei Kant sich vollziehenden Transformation des primär auf eine Sonderstellung des Menschen im Kosmos abzielenden Menschenwürdebegriffs der Tradition – der von Cicero bis in die frühe Neuzeit einschlägig war – zum fundamentalen, rechtlich-ethischen Anerkennungsprinzip, nicht nur die Zusammenhänge, sondern auch die nicht unerheblichen Differenzen zwischen diesen beiden Dimensionen des Würdebegriffs zu verdeutlichen.
II. Hypothetische Imperative und Kategorischer Imperativ
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II. Hypothetische Imperative und Kategorischer Imperativ In der „Metaphysik der Sitten“ stellt Kant den Begriff der Menschenwürde in einer komprimierten Formulierung in seinem systematischen Zusammenhang dar: „Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; als solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“1
Um diese Aussage, die in nuce den kantischen Menschenwürdebegriff zum Ausdruck bringt, zu verstehen, ist es unerlässlich, sich zunächst die systematische Stellung des Würdebegriffs innerhalb der kantischen Moralphilosophie zu verdeutlichen; das wiederum bedeutet, den Gang der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in der der Begriff bei Kant zum ersten Mal in systematischer Funktion auftaucht, zumindest grob nachzuzeichnen. Dazu bedarf es wiederum einer Klärung der Frage, in welchem Verhältnis der kantische Begriff der „Würde“ innerhalb der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zur Konzeption eines kategorischen Imperativs einerseits und zum kantischen Autonomie-Verständnis andererseits steht. Der erste wichtige Anhaltspunkt für diese Klärung liegt in der Feststellung, dass Kant den Gedanken des „Kategorischen Imperativs“ zunächst einführt, um das Phänomen des „moralischen Sollens“ überhaupt theoretisch einzuholen. Ginge es im menschlichen Handeln immer nur darum, selbstgesetzte Zwecke (wie z. B. den Erwerb eines neuen Autos) zu realisieren, so gäbe es zugleich immer nur ein durch das Wollen des jeweiligen Zwecks und eine subjektiv-partikulare Wertsetzung bedingtes Sollen. Denn diese in Kants Terminologie „hypothetischen Imperative“ hätten immer die formale Struktur: „Wenn du A realisieren möchtest, musst du x tun“ und wären damit auch immer durch das partikular-subjektive Wollen von A bedingt. Nun ist es für das Phänomen des „Sollens“ überhaupt aber charakteristisch, dass die Normen, um die es dabei geht – auch und gerade im Alltagsverständnis von „Sollen“ –, als etwas gedacht werden, dessen Geltung nicht durch das subjektiv-partikulare Wollen des Normadressaten bedingt ist. Es macht gerade das „Sollen“ schlechterdings aus, dass es uns als ein Anspruch gegenübertritt, der unabhängig von unserem jeweiligen subjektiv-partikularen Wollen gilt und der insofern durch seine Unbedingtheit gekennzeichnet ist. „Sollen“ ist mithin immer wollensunabhängiges Sollen; es
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, Akademieausgabe Band VI, S. 434. 1
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
wird gar nicht als „Sollen“ gedacht, wenn es als durch das jeweilige Wollen bedingt gedacht wird. Die Allgemeingültigkeit dieser Überlegungen Kants zeigt sich alleine daran, dass sie nicht auf ein bestimmtes Ethikmodell begrenzt ist, sondern für so entgegengesetzte Modelle wie das utilitaristische und das deontologische Modell gleichermaßen wahr ist. Während das für ein deontologisches Ethikmodell unmittelbar einzusehen ist, lässt es sich ohne weiteres auch für das utilitaristisch-konsequentialistische Modell zeigen. Für diejenige Handlung nämlich, die sich in einer verrechnenden Abwägung der Handlungsfolgen als die „beste“ unter den zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen erwiesen hat, gilt im Hinblick auf den Akteur dasselbe, was für die „richtige“ Handlung in einem deontologischen Ethikmodell gilt: sie tritt ihm in der Form des unbedingten Sollens gegenüber, d. h. als etwas, das vom Akteur unabhängig davon zu realisieren ist, was der Akteur in der betreffenden Situation will. Die Unbedingtheit oder zumindest Nichtbedingtheit durch subjektiv-partikulares Wollen ist mithin eine formale Bestimmung von Normativität überhaupt. Normativität ist als solche definiert durch Unbedingtheit. Unbedingtes Sollen ist wiederum nur möglich, wenn es Imperative gibt, die nicht durch das jeweils partikulare Wollen eines selbstgesetzten Zwecks bedingt sind. Einen solchen „unbedingten“ Imperativ nennt Kant bekanntermaßen einen „kategorischen Imperativ“. Kant leitet nun aus dem Umstand, dass solche Imperative nur möglich sind, wenn sie nicht auf subjektiv-partikularen Zwecken 2 beruhen, unmittelbar die Grundformel des Kategorischen Imperativs, die Verallgemeinerbarkeitsformel, her; der Vollständigkeit halber sei sie an dieser Stelle noch einmal in ihrer bekanntesten Formulierung zitiert: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“3
Wie Kant dann allerdings selbst ausführlich anmerkt, ist die damit gegebene Herleitung des Kategorischen Imperativs noch unvollständig. Gezeigt ist nämlich bisher streng genommen nur, dass ein Kategorischer Imperativ, wenn es ihn denn gibt, d. h. wenn er denn für menschliche Wesen normative Geltung beanspruchen kann, nicht auf subjektiv-partikularem Wollen beruhen kann – eben weil seine Geltung dann keine kategorische wäre. Kant führt dazu aus: „Wir haben so viel also wenigstens dargetan, daß wenn Pflicht ein Begriff ist, der Bedeutung und wirkliche Gesetzgebung für unsere Handlungen enthalten soll, diese nur in kategorischen Imperativen, keineswegs aber in hypothetischen ausgedrückt werden 2 Kant selbst redet hier gerne von „relativen Zwecken“, um deren Bedingtheit durch das partikulare Wollen eines empirischen Subjekts zum Ausdruck zu bringen. 3 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Band IV, S. 421.
II. Hypothetische Imperative und Kategorischer Imperativ
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könne; imgleichen haben wir, welches schon viel ist, den Inhalt des kategorischen Imperativs, der das Prinzip aller Pflicht (wenn es überhaupt dergleichen gäbe) enthalten müßte, deutlich und zu jedem Gebrauche bestimmt dargestellt.“4
Während der erste Teil dieser Ausführungen sich in der Tat ohne weiteres aus den oben skizzierten Überlegungen ergibt, ist weit weniger deutlich, warum Kant der Auffassung ist, dass aus der bloßen Reflexion darauf, dass ein Sollen im eigentlichen Sinn – der „Begriff der Pflicht“ – nicht durch das subjektive Wollen eines partikularen Zwecks bedingt sein kann, in inhaltlicher Hinsicht das Kriterium der Verallgemeinerbarkeit folge. Gleichwohl lässt sich das Argument hinter Kants Aussage wohl in drei Schritten folgendermaßen rekonstruieren: Wie wir gesehen haben, kann dasjenige unbedingte Sollen, das für Normativität im eigentlichen Sinn charakteristisch ist, nicht durch partikulares Wollen bedingt sein. Wenn dementsprechend von einer Handlung nachgewiesen werden kann, dass die ihr zugrunde liegende Handlungsmaxime prinzipiell nicht für alle Akteure in allen Situationen gültig sein kann, so ist damit zugleich gezeigt, dass die betreffende Handlungsmaxime sich überhaupt nur als durch partikulares Wollen bedingt denken lässt. Das Verallgemeinerbarkeitskriterium erlaubt es also, zu prüfen, ob eine Handlung überhaupt als eine solche möglich ist, die nicht durch partikulares Wollen bedingt ist. Die Frage, ob die Handlungsmaxime auch als „allgemeines Gesetz“ – d. h. als ein Gesetz, das für jeden möglichen Akteur in jeder möglichen Situation gilt – denkbar ist, gibt also zumindest einen Prüfstein ab, anhand dessen sich beantworten lässt, ob die Handlung ungeachtet ihrer faktischen Motivation auch als eine solche denkbar wäre, die nicht durch partikulares Wollen bedingt ist. Nur eine Handlung, die diesen Test besteht, kann mithin eine Handlung sein, von der auch nur denkmöglich ist, dass sie dem Kriterium unbedingten Sollens genügt: demjenigen Kriterium also, ohne das wiederum Normativität nicht als Normativität denkbar ist. Oder anders gesagt: wenn eine Handlungsmaxime nicht verallgemeinerbar ist, so bedeutet das, dass nur ein subjektiv-partikulares Wollen ihr Bestimmungsgrund sein kann. Wenn ihr Bestimmungsgrund aber nur ein subjektiv-partikulares Wollen sein kann, so erfüllt sie nicht das Kriterium der Unbedingtheit, das, wie Kant richtig sieht, ein Definiens von Normativität überhaupt darstellt. Wenn dies nun aber eine angemessene Rekonstruktion von Kants Herleitung des Inhalts der Grundformel des Kategorischen Imperativs ist, wird auch sofort deutlich, in welcher Hinsicht diese Herleitung unvollständig ist. Denn zwar ist nun gezeigt, was der Inhalt des Kategorischen Imperativs wäre, wenn der Kategorische Imperativ gelten würde, d. h. wenn es also ein unbedingtes Sollen und damit Normativität überhaupt geben würde. Es ist aber noch keineswegs erwiesen, dass es überhaupt so etwas wie ein unbedingtes Sollen gibt – wurde doch bisher nur gezeigt, wie das Sollen beschaffen wäre, wenn es denn ein solches Kant a.a.O. Band IV, S. 425.
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
Sollen gäbe. Dass es ein solches Sollen gibt, wurde bislang aber noch nicht gezeigt, sondern lediglich vorausgesetzt bzw. der Analyse unseres Sprachgebrauchs und unseres Alltagsverständnisses von Normativität entnommen. Die Annahme, dass es überhaupt Normativität gibt, könnte aber immer noch auf Illusion und Selbsttäuschung beruhen. Friedrich Kaulbach ist dementsprechend zuzustimmen, wenn er die Differenz zwischen der Universalisierbarkeitsformel und der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs pointiert, aber doch treffend mithilfe der Modalkategorien von „Möglichkeit“ und Wirklichkeit“ besschreibt: „So entspricht die erste Formel des Imperativs seiner Möglichkeit, sofern sie die allgemeine Form der Gesetzlichkeit als maßgebend für jeden möglicherweise gewählten Zweck deklariert; die zweite Formel aber entspricht der Wirklichkeit des Imperativs, sofern sie die Würde der Person als Perspektive einsetzt und damit einen materialen Gesichtspunkt geltend macht.“5
Es muss mithin auch nach der Aufstellung der Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs erst noch gezeigt werden, dass und warum der Kategorische Imperativ seine möglichen Adressaten überhaupt verpflichtet. Wozu er sie verpflichtet, ist dabei wiederum nichts anderes als dies, solche Handlungen zu unterlassen, die – wiederum ungeachtet der faktischen Handlungsmotivation – nicht zumindest denkbar sind als durch partikulares Wollen unbedingt. Das bedeutet nicht, dass eine Handlung nicht de facto durch ein partikulares Wollen bedingt sein dürfte; im Gegenteil wird das sogar der Normalfall des Handelns sein. Es bedeutet aber, dass jede Handlung, um normativ zulässig zu sein, das Kriterium erfüllen muss, zumindest als unbedingte denkmöglich zu sein. Damit wird nun auch deutlich, warum Kant nicht müde wird zu betonen, dass die Verallgemeinerbarkeit eine rein formale Anforderung darstelle, die von der faktischen Handlungsmotivation und dem faktischen Handlungszweck als der „Materie“ einer Handlung unabhängig sei: Eine Handlung nämlich muss nicht faktisch durch etwas anderes als subjektiv-partikulares Wollen bedingt sein, um als erlaubt zu gelten, sie muss aber die Form aufweisen, als unbedingt denkmöglich zu sein. Eben an dieser Stelle wird sodann aber auch die bemerkenswerte und durchaus nicht in jeder Hinsicht unproblematische Reflexivität des Kategorischen Imperativs deutlich: Dasjenige Sollen, um das es beim Kategorischen Imperativ geht und dem der Kategorische Imperativ zu entsprechen fordert, ist kein anderes als das, alle Handlungen zu unterlassen, die nicht als im eigentlichen Sinn gesollte, d. h. durch unser jeweiliges subjektiv-partikulares Wollen unbedingte Handlungen denkbar sind. Führt man sich das allerdings vor Augen, so zeigt sich, dass an dieser Stelle von Kants Argumentationsgang nicht alleine der Aufweis fehlt, dass es über Kaulbach, Friedrich: Immanuel Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Darm stadt 1988, S. 81. 5
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haupt ein Sollen im eigentlichen Sinn gibt, d. h. dass die möglichen Adressaten von Normen mit Forderungen konfrontiert sind, die von ihrem partikularen Wollen unabhängig sind. Was ebenso noch fehlt, ist eine Begründung dafür, dass und warum gerade die „Allgemeinheit“ nicht nur ein Kriterium zur Ermittlung der Denkmöglichkeit einer Handlung als „gesollter“ Handlung ist, sondern auch der eigentliche Gegenstand und Zweck jedes Sollens. Es fehlt, anders gesagt, erstens noch ein Übergang von der Einsicht, dass „Sollen“ im eigentlichen Sinn nicht durch partikular-subjektives Wollen eines selbstgesetzten Zwecks bedingt sein kann, zu der Forderung, sich am Kriterium der Verallgemeinerbarkeit auch in der Weise zu orientieren, dass man Handlungen unterlässt, die diesem Kriterium nicht genügen. Zweitens fehlt die Herleitung der Behauptung, dass ebendiese Orientierung an Verallgemeinerbarkeit, d. h. an dem bloß formalen Charakteristikum von Normativität, zugleich auch den grundsätzlichen Inhalt jeglicher Normativität ausmacht, also diejenige Forderung ist, die eigentlich erhoben wird, wenn gefordert wird, moralisch zu handeln. Kant selbst fasst beide Punkte in einer sehr komprimierten Aussage zusammen, wenn er ausführt: „Noch sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei.“6
Wie die so identifizierte Lücke in der Beweisführung geschlossen werden könnte, ergibt sich nun Kants Auffassung nach direkt aus dem Gesagten. Wir hatten bislang gesehen, dass hypothetische Imperative durch das Wollen der von dem wollenden Subjekt selbst gesetzten Zwecke bedingt sind und eben darum keine Verbindlichkeit im eigentlichen Sinn – weder für den Wollenden selbst, noch für andere Subjekte – entfalten können. Denn Person P, die einen bestimmten Zweck x anstrebt, muss sich nur dafür entscheiden, diesen Zweck nicht mehr anzustreben, und sofort endet für sie die „Verbindlichkeit“ des entsprechenden hypothetischen Imperativs. Und für eine andere Person Q, die einen anderen Zweck y anstrebt, besitzt der hypothetische Imperativ, der zur Realisierung von Zweck x anleitet, ohnehin keine Verbindlichkeit. Ein „Sollen“ im eigentlichen Sinn kann es mithin nur geben, wenn sich auf der Seite der potentiellen Adressaten von Normen etwas aufweisen lässt, das notwendigerweise bei allen Norm-Adressaten in gleicher Weise gegeben ist und das sie notwendigerweise auch in einem Reflexionsprozess anerkennen müssen. Der Punkt der reflexiven Anerkennung ist dabei deshalb wichtig, da sich ohne eine solche notwendige Anerkennung noch keine Normativität ergeben würde. Denn aus der bloßen Tatsache, dass allen potentiellen Norm-Adressaten eine bestimmte Eigenschaft gemeinsam wäre, ließe sich eben gerade keine normative Forderung herleiten. Kant a.a.O. Band IV, S. 425.
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
Das sieht nur dann anders aus, wenn die Quelle der Verbindlichkeit von Normen ihrerseits keine bloß vorfindbare Eigenschaft ist, sondern etwas, das ein notwendiger Bestandteil der reflexiven Selbstkonstitution praktischer Subjektivität ist. Nur dann, wenn die Quelle verbindlicher Normativität ein notwendiger Bestandteil desjenigen Reflexionsprozesses ist, durch den ein praktisches Subjekt sich überhaupt erst als praktisches Subjekt konstituiert, kann jene Quelle – und damit letztlich auch verbindliche Normativität – nicht weggedacht werden, ohne dass man damit aufhören würde, sich überhaupt selbst als praktisches Subjekt zu denken. Kant führt dementsprechend aus: „Die Frage ist also diese: ist es ein notwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurteilen, von denen sie selbst wollen können, daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen? Wenn es ein solches ist, so muß es (völlig a priori) schon mit dem Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein.“7
III. Die „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs 1. Der Begriff des „Zwecks an sich“: Systematische Stellung und Probleme Die Antwort auf die damit gestellte Aufgabe, etwas zu finden, das mit dem „Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens“ a priori verbunden ist, gibt Kant nun bekanntermaßen mit dem Begriff des „Zwecks an sich“, den er zunächst aus der Abgrenzung gegenüber dem Begriff eines subjektiv-partikularen – in der kantischen Terminologie eines „relativen“ – Zwecks heraus entwickelt. Wenn, so Kants einfache Überlegung an dieser Stelle, die relativen Zwecke jeweils nur Verbindlichkeit für das sie wollende empirische Subjekt haben, dann hätten wir das gesuchte Prinzip genau dann gefunden, wenn wir einen Zweck gefunden hätten, der in dem Sinn nicht relativ ist, dass es für ein vernünftiges Subjekt gar nicht möglich ist, ihn nicht für sich als Zweck anzuerkennen. Da er mithin nicht „relativ“ auf das ihn setzende empirische Subjekt wäre, würde es sich um einen „Zweck an sich“ handeln. Kant führt dazu aus: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein unmittelbarer Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen.“8
Obwohl dieser Weg der Einführung des Begriffs „Zweck an sich“ nun zunächst plausibel erscheint, birgt er doch bei näherer Betrachtung nicht unerhebliche Kant a.a.O. Band IV, S. 426. Kant a.a.O. Band IV, S. 428.
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Schwierigkeiten, und zwar vor allem deshalb, weil Kant unmittelbar im Anschluss an die zitierte Stelle die These einführt, dass dasjenige, was als „Zweck an sich“ existiere, der Mensch sei: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“9
Die Rede von Menschen bzw. Vernunftwesen als „Zwecken an sich“ und die daran anknüpfende Forderung, sie immer auch als Zweck und nie bloß als Mittel zu behandeln, gehört nun zu denjenigen philosophischen Sätzen, die jedem unmittelbar etwas sagen oder gar jedem „irgendwie“ einleuchten, die bei näherer Betrachtung aber doch ausgesprochen dunkel sind. Der klassische Einwand, der gegenüber dem Begriff des „Zwecks an sich“ seit Schopenhauer immer wieder angeführt wurde, besteht darin, der Begriff sei eine contradictio in adiecto, da unter „Zweck“ prinzipiell nur etwas verstanden werden könne, das ein individuelles Subjekt sich für sich selbst setzt. Dieser Einwand geht allerdings offensichtlich ins Leere, da Schopenhauers Voraussetzung, dass ein Zweck immer von einem Subjekt selbst gesetzt sein muss, im Begriff des Zwecks keineswegs impliziert ist, sondern vielmehr eine unbewiesene petitio principii darstellt, die für Kant insofern auch kein Problem aufwirft. Die eigentliche Problematik, die Kants Sprachgebrauch mit sich bringt, ist eine ganz andere: nämlich die, inwiefern überhaupt sinnvollerweise von Personen bzw. Menschen als „Zwecken“ geredet werden kann, sei es im Sinne von Zwecken an sich oder von subjektiv gesetzten Zwecken. Geht man von dem gängigen Zweckbegriff aus, wie er sich in der philosophischen Tradition allenthalben findet, so bezeichnet „Zweck“ die vom Handelnden intendierte Wirkung eines Tuns bzw. Unterlassens. Diesem traditionellen Zweckbegriff schließt Kant sich etwa in der „Metaphysik der Sitten“ uneingeschränkt an, wenn er sagt: „Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird“10 und „Zweck“ dann weiterhin definiert als den „Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objektes enthält“.11 Fasst man den Zweckbegriff aber auf diese Weise, so ergibt es augenscheinlich keinen Sinn, ihn auf Entitäten wie Menschen oder Vernunftwesen anzuwenden: Menschen sind – außer vielleicht bei einer bewusst geplanten Zeugung oder in einer schöpfungstheologischen Redeweise – nichts, was mit Handlungen oder Unterlassungen intendiert werden könnte. Kant a.a.O. Band IV, S. 428. Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, Akademieausgabe Band VI, S. 381. 11 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Akademieausgabe Band V, S. 180. 9
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
Vielmehr können, wenn die auch von Kant geteilte, gängige Definition von „Zweck“ richtig ist, nur Sachverhalte, Ereignisse oder Prozesse Zwecke sein, nicht aber singuläre Entitäten wie Menschen. Das lässt sich auch leicht anhand des üblichen Sprachgebrauchs des Begriffes „Zweck“ zeigen. Dieser erlaubt es beispielsweise ohne weiteres zu sagen: „Ich verfolge den Zweck, ein Auto der Marke Z zu besitzen“, während Sätze wie „Ich verfolge den Zweck Hans Müller“ oder „Ich verfolge mich selbst als Zweck“ prima facie vollkommen sinnlose Aussagen wären. Den Zweckbegriff von Menschen auszusagen wäre mithin sowohl nach der Definition von „Zweck“, die Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ gibt, als auch nach dem alltäglichen Gebrauch des Zweckbegriffs semantisch gesehen unsinnig. Vor dem Hintergrund des sich dergestalt aufdrängenden Sinnlosigkeitsverdachts liegt es nun zunächst nahe, dessen Ursache in einer gleichsam „verunglückten“ Übernahme bzw. Transformation von Begrifflichkeiten der philosophischen Tradition zu vermuten. Rufen wir uns mit Thomas von Aquin noch einmal denjenigen Autor in Erinnerung, der das esse propter se ipsum mit dem Begriff der dignitas verknüpft und es der utilitas als dem esse propter aliud entgegengesetzt. Bei Thomas sollte, wie wir gesehen haben, diese Redeweise das jeweilige „Worumwillen“ der Sorge Gottes zum Ausdruck bringen. D.h., es sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass Gott, wenn er sich dem Menschen sorgend zuwendet, dies um des Menschen selbst willen tut. Wendet er sich dagegen einem nichtvernünftigen Wesen in sorgender Weise zu, so wendet er sich ihm zu, wie man sich einem Werkzeug zuwendet: nämlich nicht um seiner selbst, sondern um desjenigen Zwecks willen, den man mit dem Werkzeug zu realisieren gedenkt. Wenn das aber der Fall ist, dann wäre es schon in diesem Zusammenhang eine nur sehr ungenaue – und zudem bei Thomas so auch nicht zu findende – Redeweise, zu sagen, Gott wende sich dem Menschen „als Selbstzweck“ zu. Vielmehr müsste man genau genommen sagen, Gott sorge sich um nichtvernünftige Wesen um seiner Sorge für das Wohlergehen und das Seelenheil der Menschen willen. Der „Endzweck“ oder „Zweck an sich“, den Gott in dieser Konstellation verfolgte, wäre also gar nicht „der Mensch“ als solcher, sondern eben das „Wohlergehen und Seelenheil der Menschen“. Wohlergehen und Seelenheil der Menschen wiederum können ohne weiteres – im alltagssprachlichen wie im kantischen Sinn – Zwecke sein, d. h. etwas, das mit einem bestimmten Handeln zu realisieren oder zu befördern intendiert wird. Die Schwierigkeit, die im Hinblick auf Kant auftaucht, ist dann aber, dass Kant, wenn er von Menschen als „Zwecken an sich“ redet, offenbar gerade nicht „das Wohlergehen und das Seelenheil der Menschen“ als Endzwecke eines Subjekts, sei es Gottes oder des Menschen selbst, meint. Beruhen also, so könnte man sich fragen, die Irritationen, die Kants Redeweise von Menschen als „Zwecken an sich“ auslöst, darauf, dass Kant hier eine Begrifflichkeit der philosophisch-theologischen Tradition, nämlich das thomistische esse propter seipsum,
III. Die „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs
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übernimmt, ihr aber eine neue Funktion zuzuweisen versucht, die mit deren Semantik eigentlich unvereinbar ist? Wäre das der Fall, so würde es zwar noch nicht bedeuten, dass Kant der Sache nach Unrecht hätte. Es würde aber bedeuten, dass er versucht hätte, einen bestimmten Gedanken in einer diesem Gedanken semantisch inadäquaten Begrifflichkeit auszudrücken, einfach deshalb, weil diese Begrifflichkeit ihm von der Tradition nahegelegt worden wäre. Will man Kant dagegen vor diesem Verdacht in Schutz nehmen, so wäre es erforderlich, eine Deutung der Aussage „Der Mensch ist Zweck an sich“ zu geben, die sowohl mit der alltagssprachlichen wie der kantischen Definition von „Zweck“ vereinbar ist. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist das zumindest teilweise durchführbar, erfordert aber einen gewissen hermeneutischen Aufwand und ist keineswegs ganz bruchlos möglich.
2. Subjektivität und Selbstzwecklichkeit in der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs Es ist im Vorfeld dessen sinnvoll, sich die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Zweck“ in Erinnerung zu rufen, wie sie Theodor Ebert in einem 1977 erschienenen, in manchen Hinsichten grundlegenden Aufsatz aufgezeigt hat.12 Ebert unterscheidet darin zwischen drei bzw. vier Bedeutungsschichten des Zweckbegriffs: Zum einen bezeichnet „Zweck“ demnach ein Handlungsziel, das ein Akteur sich setzt und das er mit seinem Handeln zu erreichen versucht. Dieser Zweckbegriff entspricht weitgehend demjenigen, den Kant der oben zitierten Zweck-Definition aus der „Kritik der Urteilskraft“ zugrunde gelegt hat. Zum Zweiten bezeichnet „Zweck“ nach Ebert eine Funktion, die eine Entität erfüllt oder erfüllen soll, damit ein Ziel erreicht wird. Greifbar wird diese Bedeutung des Zweckbegriffs in Aussagen wie derjenigen, die Leber habe den Zweck, den Körper zu entgiften, oder der Aussage, ein Hammer habe (unter anderem) den Zweck, Nägel in die Wand zu schlagen. Dabei können dann wiederum zwei Untergruppen unterschieden werden, je nachdem ob es sich um eine Funktion handelt, die als „von Natur aus“ zukommend gedacht wird (wie im Fall der Entgiftungs-Funktion der Leber) oder als von einem Subjekt beigelegt (wie im Fall des Hammers). Zum Dritten bezeichnet der Begriff des „Zwecks“ laut Ebert schließlich eine „Gebrauchsweise von etwas“13 , wie sie etwa in Sätzen wie „Er erwarb dieses Gebäude zum Zweck der Weitervermietung“14 zum Ausdruck komme. Wie nun unschwer zu erkennen ist, handelt es sich bei den von Ebert ausgemachten mehrfachen Bedeutungen nicht um grundsätzlich verschiedene Bedeu12 Vgl. zum folgenden Ebert, Theodor: Zweck und Mittel: Zur Klärung einiger Grundbegriffe der Handlungstheorie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (1977), S. 21–39. 13 Ebert a.a.O. S. 31. 14 Ebert a.a.O. S. 31.
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
tungen, sondern um verschiedene Aspekte derselben Sache, die nur durch den Aussagenkontext variieren. Insbesondere stellt der Zweckbegriff in der zweiten Bedeutung nichts anderes dar als eine Verknüpfung zwischen einem von einem Subjekt verfolgten (oder als der Natur immanent betrachteten) Zweck und dem dazu eingesetzten Mittel. Verfolgt beispielsweise jemand den Zweck, Nägel in die Wand zu schlagen, und benutzt zur Erreichung dieses Zwecks einen Hammer, so legt er dem Hammer den Zweck bei, Nägel in die Wand zu schlagen. Indem er das tut, realisiert er wiederum einen Zweck, den bereits derjenige dem Hammer beigelegt hat, der ihn konstruiert hat und der sich bei dieser Konstruktion eben von dem Zweck hat leiten lassen, etwas anzufertigen, mit dem man Nägel in die Wand schlagen kann. Die dritte von Ebert ausgemachte Bedeutung schließlich bringt wiederum nichts anderes zum Ausdruck als das Verhältnis zwischen einer Handlung, die als Mittel zur Erreichung eines Zwecks im ersten Sinn dient, und diesem Zweck selbst. Wenn also etwa gesagt wird, ein Anleger erwerbe eine Immobilie „zum Zweck der Weitervermietung“, so wird damit einfach gesagt, dass der Erwerb der Immobilie und ihre anschließende Weitervermietung diejenigen logisch aufeinander aufbauenden Mittel sind, durch die der von dem Anleger eigentlich verfolgte Zweck erreicht werden soll, der vermutlich darin bestehen wird, Mieteinnahmen zu generieren. Sieht man von der speziellen Problematik der „naturimmanenten Funktionen“ einmal ab, so erweist sich als durchgängige Grundbedeutung von „Zweck“ die erste Bedeutung, während die beiden weiteren Begriffsverwendungen davon nur abgeleitet sind und lediglich bestimmte handlungstheoretische Perspektiven auf diesen grundlegenden Zweckbegriff sprachlich zum Ausdruck bringen. Von einer wirklichen Mehrdeutigkeit kann dementsprechend auch nicht die Rede sein; gleichwohl helfen Eberts Überlegungen dabei, die verschiedenen handlungs theoretischen Sinndimensionen des Zweckbegriffs auszufalten. Davon ausgehend wäre nun die wohl naheliegendste Auslegung von Kants Aussage, Vernunftwesen seien „Zwecke an sich“, diejenige, dass sie nicht als „Mittel“ zur Erreichung eines bestimmten Zwecks dienen sollten. Diese Auslegung, von der vermutlich die meisten Leser Kants intuitiv ausgehen, wäre mithin eine rein negative Bestimmung des Begriffs „Zweck an sich“. Die Aussage „Menschen sind Zwecke an sich“ würde dann nichts anderes heißen als: „Menschen sind keine Mittel zur Erreichung eines Zwecks.“ Der Begriff „Zweck“ hätte in der Kombination „Zweck an sich“ demnach gar keine eigenständige Bedeutung, sondern wäre lediglich eine Negation von „Mittel-Sein“. Dabei wäre dann die Aussage „Der Mensch ist nicht Mittel zum Zweck“ nicht deskriptiv, sondern normativ gemeint. Sie würde also im Sinn der zweiten von Theodor Ebert identifizierten Bedeutungsdimension des Zweckbegriffs zum Ausdruck bringen, dass es illegitim wäre, einem Menschen in der Weise einen äußerlichen Zweck beizulegen, in der beispielsweise einem Hammer ein Zweck beigelegt wird. Eine solche Auslegung trifft nun sicherlich bereits einen wesent-
III. Die „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs
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lichen Punkt des notwendigen Selbstverständnisses vernünftig handelnder Wesen, was sich leicht zeigen lässt, wenn man probehalber Aussagen formuliert, in denen Personen in der skizzierten Weise ein Zweck beigelegt wird. So werden Aussagen wie „Der Zweck der Existenz Hans Müllers besteht darin, dass seine Verwandten sich wohlfühlen“ oder „Der Zweck meiner Existenz besteht darin, in den Besitz eines Auto der Marke Y zu kommen“ zweifelsohne als unangemessen im Hinblick auf das betrachtet, was ein freies Vernunftwesen ausmacht. Wie die beiden Beispiele zeigen, ist es dabei sogar zunächst gleichgültig, ob ein solcher Zweck einem von anderen oder von sich selbst beigelegt wird, denn in beiden Fällen wird jene Unangemessenheit nicht unterschiedlich wahrgenommen. Mit dieser Feststellung ist nun aber immer noch kein intersubjektiv nachvollziehbarer und notwendiger Grund für die Wahrnehmung der Unangemessenheit angegeben. Worin besteht dieser Grund nun also? Die naheliegendste – und entsprechend häufig gegebene – Antwort auf diese Frage bestünde darin zu sagen, dass es widersprüchlich wäre, diejenige Instanz, die einen jeweiligen Zweck überhaupt allererst setzt, ihrer eigenen freien Zwecksetzung unterzuordnen. So kann die Zwecksetzung, ein Auto der Marke Y zu erwerben, von dem Zwecksetzenden, nennen wir ihn P, natürlich jederzeit widerrufen werden. P hat den Zweck, „ein Auto der Marke Y zu erwerben“ also nicht im Sinne eines Genitivus obiectivus, d. h. im Sinn von etwas, das ihm oder seiner Existenz unabhängig von seinem Wollen zukäme, sondern nur, wenn und solange P selbst diesen Zweck setzt, er also dessen Realisierung selbst will. Die Aussage „Der Zweck von P’s Existenz liegt im Erwerb eines Autos der Marke Y“ wäre mithin dem notwendigen Selbstverständnis eines freien Vernunftwesens aus dem Grund unangemessen, dass sie P’s Fähigkeit leugnen würde, der Herr seiner eigenen Zwecksetzungen zu sein, d. h. seine Fähigkeit, Zwecke beliebig setzen und solche Zwecksetzungen auch widerrufen zu können, bestreiten würde. Für jedes freie Vernunftwesen „notwendig“ wäre ein solches Selbstverständnis dabei, weil zwar der jeweils gewollte Zweck kontingent, willkürlich und partikular ist, die Struktur der Zwecksetzung als solche – mithin der menschlichen Freiheit – aber für alle Wesen gleich ist, die in der Lage sind, sich bewusst für oder gegen die Setzung von partikularen Zwecken zu entscheiden. Legt man diese Lesart des „Zweck an sich“-Begriffs zugrunde, so wird zugleich deutlich, warum, wie Kant selbst andeutet, in vielen Fällen bereits die Zustimmung zu einer mich betreffenden Handlung eines anderen genügt, um die Konformität der Handlung mit dem Kategorischen Imperativ sicherzustellen. Durch meine Zustimmung nämlich wird die Zwecksetzung des anderen in etwas verwandelt, das meiner eigenen Freiheit nicht mehr widerspricht. Obwohl nun diese rein negative Auslegung der Aussage „Ein Vernunftwesen versteht sich notwendig als Zweck an sich“ im Sinne von „Ein Vernunftwesen versteht sich notwendig als ein Wesen, das nicht Mittel zur Erreichung eines
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bestimmten Zwecks ist“ sicherlich einen wichtigen Punkt trifft, so scheint sie doch noch nicht ganz den Kern desjenigen notwendigen Selbstverständnisses zu treffen, um das es Kant geht, sondern allenfalls dessen Folge. Das lässt sich zunächst einfach am sprachlichen Befund der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs festmachen. Diese lautet bekanntlich: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“15 Versteht man den Begriff des „Zwecks an sich“ so wie bisher vorgeschlagen rein negativ, d. h. als Negation bzw. genauer gesagt als kontradiktorisches Gegenteil von „Mittelzum-Zweck-Sein“, so zeigt der Wortlaut der Menschheitsformel unmittelbar, dass diese Lösung für sich genommen noch nicht hermeneutisch tragfähig ist. Um das zu sein, müsste „Zweck-an-sich-Sein“ ja der Gegenbegriff zu „Mittelzum-Zweck-Sein“ sein. Nach Kants Aussage ist es aber nicht der Gegenbegriff zu „Mittel-zum-Zweck-Sein“, sondern der Gegenbegriff zu „Bloßes-Mittelzum-Zweck-Sein“. Der Sinn von „Zweck-an-sich-Sein“ lässt sich mithin überhaupt nicht aus der Negation von „Mittel-zum-Zweck-Sein“ erschließen, sondern umgekehrt ist es notwendig, den Sinn von „Bloßes-Mittel-zum-ZweckSein“ (im Unterschied zu „Mittel-zum-Zweck-Sein“) negativ aus dem Sinn vom „Zweck-an-sich-Sein“ zu erschließen. Denn anders könnte die für jede praktisch-normative Anwendung der „Zweck-an-sich“-Formel so zentrale Unterscheidung zwischen „Mittel zum Zweck“ und „bloßes Mittel zum Zweck“ überhaupt nicht gemacht werden. Eine Bestimmung der Aussage „Vernunftwesen sind/verstehen sich notwendig als Zwecke an sich“ via negationis ist dementsprechend nicht ausreichend; es bedarf vielmehr einer positiven Bestimmung. Das wird auch unabhängig von Kants Wortlaut klar, wenn man sich die logisch-semantische Struktur der Angemessenheitsrelation vor Augen führt, auf die im vorigen Abschnitt rekurriert wurde. „Angemessenheit“ besteht demnach darin, dass etwas demjenigen entspricht, woran es sich zu messen hat oder woran es gemessen wird. Gäbe es mithin kein positives Maß des „Zweck-an-sichSeins“, so könnte unmöglich festgestellt werden, dass bestimmte Verhaltensoder Denkweisen diesem Maß widersprechen. Worin dieses Maß nun bestehen kann, ist bereits weiter oben angeklungen, wenn davon die Rede war, dass die Auffassung eines Vernunftwesens als „(bloßes) Mittel zum Zweck“ dem notwendigen Selbstverständnis eines Vernunftwesens als eines freien Wesens, das Herr seiner Zwecksetzungen ist, widerspricht. Wie später noch genauer zu zeigen sein wird, impliziert dieser Freiheitsgedanke aber mehr als nur die Willkürfreiheit, Zwecke zu setzen und gegebenenfalls diese Zwecksetzungen wieder aufzuheben. Einstweilen lässt sich sagen, dass dasjenige, worauf die Aussage Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Band IV, S. 429. 15
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„Ein Vernunftwesen ist Zweck an sich“ offenbar abzielt, nichts anderes ist als die praktische Subjektivität jedes vernünftigen Wesens und das damit verknüpfte reflexive Selbstverständnis als praktisches Subjekt. Wenn Kant dementsprechend aussagt, dass jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich existiere, bedeutet dies, dass jedes vernünftige Wesen, weil und indem es sich vermittelt über seine jeweiligen partikularen Zwecksetzungen auf sich selbst als den Zwecksetzenden bezieht, notwendigerweise sein eigenes Sein als freies Subjekt anstrebt. Wo immer ein vernünftiges Subjekt einen bestimmten partikularen Zweck setzt, kann es sich selbst nicht als das zwecksetzende Subjekt wegdenken, ohne dass damit auch die Zwecksetzung selbst verschwinden würde. Aus dieser theo retischen Einsicht wiederum folgt die notwendige praktische Forderung, das Anstreben eines beliebigen Zwecks so auszugestalten, dass es mit dem eigenen Sein als Subjekt vereinbar ist, ihm also jedenfalls nicht zuwiderläuft. Damit wird es dann endlich möglich, Kants Rede von vernünftigen Wesen als Zwecken an sich mit der üblichen und von Kant auch in der „Kritik der Urteilskraft“ gebrauchten Bestimmung des Zweckbegriffs zu vereinbaren. Wenn es sich bei einem „Zweck“ um ein Handlungsziel handelt, das von einem Akteur gesetzt wird und das dieser zu erreichen versucht, und es sich bei einem „Zweck an sich“ um einen solchen handelt, der um seiner selbst willen angestrebt wird, so wird nun deutlich, welcher Zweck es eigentlich ist, der mit dem Begriff eines Vernunftwesens a priori verbunden ist und von ihm notwendigerweise immer angestrebt wird: das Sein als freies Subjekt. Wenn in diesem Zusammenhang allerdings von einem „notwendigen Anstreben“ die Rede ist, so ist das nicht so zu verstehen, dass ein Vernunftwesen jederzeit in der Weise bewusst das eigene Subjekt-Sein anstreben würde, in der es z. B. temporär einen partikularen Zweck anstrebt. Vielmehr ist das „Anstreben“ hier als das Resultat einer transzendentalphilosophischen Reflexion zu verstehen, in der das Subjekt sich seines eigenen Subjekt-Seins bewusst wird und begreift, dass dies für seine Praxis als Vernunftwesen bedeutet, dass es widersprüchlich wäre, eine partikulare Zwecksetzung zu vollziehen, die den eigenen Status als freies Subjekt in Frage stellen oder gar zunichtemachen würde, bzw. sie auf eine Weise zu vollziehen, die jenem Status zuwiderläuft. Dementsprechend kann der Anlass jener Reflexion auch immer nur eine bestimmte Handlung sein, hinsichtlich derer sich die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem eigenen und dem Subjekt-Sein anderer Subjekte stellt. Die rein formale, auf eine negative Pflicht abstellende Struktur der Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs kehrt mithin in der „Menschheitsformel“ in veränderter Form wieder und enthüllt hier ihren eigentlichen Grund.
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3. Selbstzwecklichkeit und Pflichten gegen andere War nun bislang nur von dem jeweils eigenen „Sein-als-freies-Subjekt“ die Rede, so stellt sich sogleich die Frage, wie aus dem notwendigen reflexiven „Anstreben“ des eigenen Subjekt-Seins Pflichten nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegenüber anderen Subjekten resultieren können. Kants Antwort hierauf ist scheinbar einfach. Da jedes Subjekt sich selbst in der Reflexion auf die Struktur des Setzens und Realisierens von Zwecken notwendigerweise als „Zweck an sich“ begreift und in dieser Reflexion zugleich notwendigerweise begreift, dass ihm dieser „Zweck an sich“-Status allein aufgrund seines Subjekt-Seins zukommt, folgt wiederum notwendigerweise, dass es anderen Subjekten den Status eines „Zwecks an sich“ mit allen sich daraus ergebenden normativen Konsequenzen nicht vorenthalten kann. Diese Überlegung lässt sich auch als einfacher logischer Schluss ausdrücken, der die folgende Form hätte: 1. Prämisse: Ich muss mich selbst und mein Dasein als freies Subjekt notwendig als „Zweck an sich“ begreifen. 2. Prämisse: Prämisse (1.) hat keinen weiteren Geltungsgrund als mein freies Subjekt-Sein selbst. Conclusio: Ich muss notwendig alle Wesen, die freie Subjekte sind, als „Zwecke an sich“ begreifen.
Kant selbst formuliert diesen Verallgemeinerungsschritt lapidar mit den Worten: „[…] die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können.“16
Durch dieses Argument eröffnet sich für die kantische Moral- und Rechtsphilosophie überhaupt erst die gesamte Dimension intersubjektiver Normativität. Vergleicht man das Argument mit dem Wortlaut des Kategorischen Imperativs in der ersten Formulierung, so wird ersichtlich, dass beider Struktur analog ist. Wie der Kategorische Imperativ in der ersten Formulierung hebt nämlich Kants Argument für den „Zweck an sich“-Charakter aller vernünftigen Subjekte auf die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit ab. Wer sich selbst alleine aufgrund seines eigenen freien Subjekt-Seins notwendig als „Zweck an sich“ versteht, kann diesen Status anderen Wesen, die freie Subjekte sind, nicht vorenthalten ohne sich zugleich selbst den Status eines „Zwecks an sich“ abzuerkennen. Denn es wäre widersprüchlich, sich selbst diesen Status alleine aufgrund des freien Subjekt-Seins zuzusprechen, ihn anderen Wesen, die ebenfalls freie Kant a.a.O. Band IV, S. 436.
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Subjekte sind, aber abzusprechen. Gleichzeitig kann sich ein vernünftiges Subjekt nach Kants Auffassung den Charakter eines „Zwecks an sich“ gar nicht aberkennen, da das Selbstverständnis als „Zweck an sich“ für jedes vernünftige, freie Subjekt notwendig ist – und zwar insofern, als es in der reflexiven Struktur von freier Subjektivität selbst liegt. Eine, wenn nicht gar die entscheidende Frage bleibt damit aber immer noch offen: die Frage nämlich, wie und wodurch ein Subjekt eigentlich weiß, dass es sich bei einem anderen Wesen, das ihm in der „phänomenalen“, d. h. raumzeitlichen Welt begegnet, um ein anderes Vernunftwesen handelt, ja wie es überhaupt wissen kann, dass außer ihm noch andere Vernunftwesen existieren, deren „Zweck an sich“-Charakter es zu respektieren gilt. Wirft man diese Frage auf – und Fichte wird das mit aller Konsequenz tun –, so verändert sich noch einmal das gesamte Bild der Problematik in ganz grundlegender Weise. Ungeachtet dessen gelingt es Kant mit den skizzierten Überlegungen, die ihn zur Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs führen, in der Tat, den noch uneingelösten theoretischen Vorschuss, der noch auf der Verallgemeinerbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs lag, einzulösen. Wie man sich erinnert, war Kant zu dieser Formel gekommen, indem er einfach den Gedanken des moralischen Sollens ernst genommen hat und dabei zeigen konnte, dass ein derartiges Sollen nicht auf einem hypothetischen Imperativ beruhen kann. Auf diesem Weg wurde die erste Formulierung des Kategorischen Imperativs zunächst als ein Prüfverfahren gewonnen – genauer gesagt als ein Verfahren, durch das sich prüfen lässt, ob eine bestimmte Handlung als eine Handlung denkbar ist, die mit jenem nichthypothetischen Sollen, dem Sollen im eigentlich Sinn vereinbar ist. Warum das Erfordernis der Verallgemeinerbarkeit selbst dann aber wiederum den eigentlichen Inhalt des moralischen Sollens ausmacht, warum also die letztlich einzige Forderung der Moral darin besteht, in Übereinstimmung mit dem Verallgemeinerbarkeitskriterium zu handeln, war damit noch nicht geklärt. Und ebenso wenig war ein Grund der Verbindlichkeit dieser Forderung angegeben, war also, um mit Kant zu sprechen, gezeigt, „dass dergleichen Imperativ wirklich stattfinde“. Das ist nun anders, denn ein Grund sowohl des Verallgemeinerbarkeitskriteriums wie auch der Verbindlichkeit dieses Kriteriums ist jetzt aufgezeigt worden: Diejenige Allgemeinheit, die Inhalt, Gegenstand und Geltungsgrund des unbedingte Sollens bildet, ist keine andere als die allen Subjekten gemeinsame, unhintergehbare Struktur praktischer Subjektivität selbst, die sich im notwendigen Anstreben des je eigenen Seins als freies Subjekt realisiert.
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IV. Freiheit, Autonomie und Verallgemeinerbarkeit 1. Die systematische Stellung des Autonomiebegriffs Mit dem oben Ausgeführten scheint das Phänomen unbedingten Sollens moralphilosophisch eigentlich bereits eingeholt und begründet zu sein. Unbedingtes Sollen, wie es moralische und rechtliche Normativität ausmacht, ist in der unhintergehbaren Grundstruktur praktischer Subjektivität begründet. Gleichwohl ist diese Antwort auf die Frage nach dem Grund unbedingten Sollens an dieser Stelle immer noch eine erst vorläufige Antwort, denn entgegen dem ersten Anschein sind an der jetzt erreichten Stelle von Kants Argumentationsgang die Tiefendimensionen praktischer Subjektivität noch keineswegs ausgelotet. Nach der Erörterung von Universalisierbarkeits- und Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs leitet Kant aus beiden Formeln unmittelbar zwei weitere Formulierungen des Kategorischen Imperativs her, die insofern über die beiden ersten hinausgehen, als sie auf den Gedanken der Autonomie bzw. Selbstgesetzgebung abheben. Und erst in diesem Kontext taucht dann der Begriff der Menschenwürde auf. Zentral dafür ist, dass Kant den Grund für die Selbstzwecklichkeit vernünftiger Wesen in deren Autonomie ausmacht. „Autonomie“ bedeutet im spezifisch kantischen Sinn, dass derartige Wesen gemäß allgemeinen moralischen Gesetzen handeln können. Unter „Autonomie“ wird hier also nicht das verstanden, was wir heute üblicherweise „Selbstbestimmung“ nennen, noch gar Willkür, sondern die spezifische Moralfähigkeit von Vernunftwesen. Vernünftige Wesen sind demnach in der Lage, ihr Handeln an moralischen Gesetzen auszurichten, die allein ihrer Vernunft entspringen, anstatt sich von ihren eigenen oder den Interessen, Neigungen, Zweck- und Wertsetzungen anderer bestimmen zu lassen. Kant gewinnt diesen Autonomiebegriff und damit den Würdebegriff aus dem Begriff des vernünftigen, allgemein gesetzgebenden Willens: Indem Vernunftwesen in der Lage sind, ihr Handeln an der Universalisierbarkeitsforderung auszurichten, und diese Forderung zugleich dem notwendigen Selbstverständnis jedes Vernunftwesens als eines „Zwecks an sich“ entspricht, müssen sie zugleich ihr Wollen, soweit es sich eben reflexiv auf die Universalisierbarkeit seiner Handlungsmaximen ausrichtet, als ein allgemeines Wollen verstehen, d. h. als ein Wollen, das nicht durch die jeweiligen subjektiv-partikularen Zwecke und Interessen determiniert ist: „[…] hieraus folgt nun das dritte praktische Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein-gesetzgebenden Willens.“17
Kant a.a.O. Band IV, S. 431.
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Im nächsten Schritt leitet Kant aus dem Gedanken der allgemeinen Gesetzgebung des vernünftigen Willens dann unmittelbar die Konzeption des sogenannten „Reichs der Zwecke“ her: „Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muss, um aus diesem Gesichtspunkt sich selbst und seine Handlungen zu beurteilen führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke.“18
Der Begriff der „Würde“ wird von Kant nun erst in diesem Zusammenhang, also im Rahmen der „Reich der Zwecke“-Formel, explizit eingeführt und mit dem Begriff der Autonomie verknüpft. Der Zusammenhang zwischen Autonomiebegriff und „Reich der Zwecke“-Formel lässt sich dabei folgendermaßen rekonstruieren: Unter dem „Reich der Zwecke“ versteht Kant zunächst „die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“.19 Die Besonderheit des „Reichs der Zwecke“ liegt nun aber darin, dass diejenigen Gesetze, welche die einzelnen Vernunftwesen, die gleichsam die „Bürger“ dieses Reichs sind, zu befolgen haben, sich alleine aus der Reflexion auf die eigene vernünftige Subjektivität jedes solchen Subjekts ergeben. Dementsprechend sind die einzelnen Subjekte nicht nur „Glieder“ des Reichs der Zwecke, sondern jeweils immer auch dessen „Oberhäupter“: „Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es als gesetzgebend keinem Willen eines anderen unterworfen ist.“20
Spätestens an dieser Stelle zeigt sich nun in aller Deutlichkeit der Einfluss Rousseaus auf die kantische Moralphilosophie, greift der kantische Autonomiebegriff doch strukturell Rousseaus Begriff der Volkssouveränität bzw. denjenigen der „volonté génerale“ auf. Anders als Rousseau löst Kant aber das Problem, wie die Nichtunterworfenheit unter den Willen eines anderen Subjekts mit der Befolgung von Gesetzen zu vereinbaren ist, nicht auf der politischen Ebene, sondern mittels einer transzendentalphilosophischen Transformation des Gedankens der volonté génerale. Ein vernünftiges Subjekt ist demnach genau dann nicht dem partikularen Willen eines anderen Subjekts (noch seinem eigenen partikularen Willen) unterworfen, wenn das Gesetz, um das es geht, in der Weise allgemeinverbindlich ist, dass es sich notwendigerweise aus dem Selbstverständnis jedes Vernunftwesens ergibt. Der Wille, der auf ein solches allgemeines Gesetz geht, ist damit ein „allgemeiner Wille“ im eigentlichen Sinn, d. h. einer, der nicht wie bei Rousseau erst durch Erziehungsprogramme und Ähnliches Kant a.a.O. Band IV, S. 433. Kant a.a.O. Band IV, S. 433. 20 Kant a.a.O. Band IV, S. 433. 18 19
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hergestellt oder gar erzwungen werden muss21, sondern sich zwanglos aus der Natur der praktischen Vernunft selbst ergibt. Soweit ein vernünftiges Subjekt dann einem solchen Gesetz „unterworfen“ ist, ist es nicht dem partikularen Willen eines anderen Subjekts, also nicht dessen willkürlichen Zwecksetzungen unterworfen, sondern einem Gesetz, das es notwendig als „durch sich selbst gegeben“ begreifen muss. Von „Autonomie“ kann dementsprechend nur da die Rede sein, wo das in Frage stehende Gesetz in dem Sinn „allgemein“ ist, dass es an den formalen Eigenschaften reflexiver vernünftiger Subjektivität anknüpft, die als solche für alle vernünftigen Subjekte gleich sind. Jedes andere, aus partikularen Zwecksetzungen resultierende „Gesetz“, d. h. jeder hypothetische Imperativ, erfüllt demgegenüber nicht das Kriterium der Freiheit, da ein anderes Subjekt, das diesem Gesetz unterworfen würde, damit immer einem ihm fremden Willen unterworfen wäre. Die Unterwerfung unter einen fremden, partikularen Willen wiederum bedeutet, dass das unterworfene Subjekt A von dem unterwerfenden Subjekt B nicht seinerseits als freies Subjekt verstanden und behandelt würde, sondern nur als ein Moment in B’s subjektiv-partikularer Zweckrealisisierungs-Ökonomie vorkäme. A wäre damit gewissermaßen vollständig und restlos in die Perspektive der partikular-willkürlichen Subjektivität B’s integriert und käme genau deshalb nicht mehr als eigenständiges Subjekt in den Blick. A wäre, um Kants Terminologie zu verwenden, also nicht mehr „Zweck an sich“, sondern „bloßes Mittel zum Zweck“, nicht mehr selbst Subjekt, sondern ein Objekt in der Sphäre von B’s Subjektivität. Um dies zu verhindern, genügt es nun nicht, bloß faktische diskursive Konsense – wie bei Habermas und in gewisser Weise auch bei Rousseau – zwischen den verschiedenen partikularen Willensbestrebungen herzustellen; vielmehr muss auf eine Ebene von vernünftiger Allgemeinheit rekurriert werden, die jenseits faktischer Konsensbildung liegt und dieser erst den Rahmen und die Grundlage gibt. Bevor die verschiedenen Subjekte in einen Diskurs über faktische Konsense überhaupt eintreten können, müssen sie sich bereits grundsätzlich als vernünftige Subjekte, „Zwecke an sich“, anerkannt haben und sich in der Weise begegnen, die solchen „Zwecken an sich“ angemessen ist. Genau das kann aber durch einen Diskurs nicht hergestellt werden, weil es gerade die Voraussetzung jeglichen Diskurses ist. Diese Voraussetzung der wechselseitigen Anerkennung als „Zweck an sich“, lässt sich nur auf derjenigen Ebene garantieren, die mit dem Begriff der Autonomie als vernünftiger allgemeiner Selbstgesetzgebung angesprochen ist. Kant macht ebendiesen Zusammenhang zwischen
21 Vgl. dazu vor allem Buch II, Kapitel 7 „Du législateur“ des Contrat social (Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou Principes du droit politique, hg. von Robert Derathé. Paris 1964, S. 203–206).
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Selbstgesetzgebung und „Zweck an sich“-Charakter unmissverständlich klar, wenn er sagt: „Die praktische Notwendigkeit, nach diesem Prinzip zu handeln, d.i. die Pflicht, beruht gar nicht auf Gefühlen, Antrieben und Neigungen, sondern bloß auf dem Verhältnisse vernünftiger Wesen zu einander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich denken könnte.“22
Es ist nun schließlich genau diese Stelle im Aufbau der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, an welcher der aus der philosophischen Tradition von Cicero bis in die frühe Neuzeit bekannte Begriff der „Würde“ innerhalb der kantischen Moralphilosophie zum ersten Mal explizit genannt wird. In unmittelbarem Anschluss an die eben zitierte Stelle führt Kant nämlich aus: „Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf jede Handlung gegen sich selbst, und dies zwar nicht nur um irgend eines anderen praktischen Beweggrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt.“23
Wir sind es heute, vor dem Hintergrund von Günter Dürigs „Objektformel“ derart gewohnt, Menschenwürde und Selbstzwecklichkeit in einem Atemzug zu nennen, dass uns das Auftauchen des Begriffs der „Würde“ in diesem Kontext kaum verwundert. Liest man die zitierte Passage jedoch unvoreingenommen, so wird man kaum umhin kommen zu konstatieren, dass der Begriff „Würde“ darin sehr unvermittelt auftaucht und eigentlich durch keinerlei Überlegung vorbereitet oder eingeführt wird. Führt man sich zudem vor Augen, wie stark Kant den Gedanken der Würde mit dem der Selbstgesetzgebung engführt, so könnte man zumindest anhand dieser Stelle sogar den Eindruck gewinnen, er greife gar nicht so sehr auf dasjenige zurück, was in der Tradition bis hin zu den Autoren der Renaissance mit „dignitas hominis“ gemeint ist, nämlich eine herausgehobene Stellung des Menschen in der göttlichen Schöpfungsordnung, als vielmehr auf die aus dem politischen Denken bekannte Herrscher-Würde, d. h. die politische Würde eines Amtsträgers. Sieht man jedoch genauer hin, so wird man feststellen, dass es weniger der Gedanke der Herrschaft als solcher ist, als vielmehr der Gedanke, nicht von anderem oder anderen, sondern alleine von „sich selbst“ beherrscht zu werden, der Gedanke der Freiheit also, der ausschlaggebend dafür ist, von einem autonomen Vernunftwesen auszusagen, dass ihm „Würde“ zukomme. Damit knüpft Kant durchaus an den Würdebegriff an, den wir von Cicero, Boethius, Thomas von Aquin und anderen kennen. Wir erinnern uns, dass bereits Cicero die spezifische dignitas, die dem Menschen zukommt, in der Vernunftnatur des Men Kant a.a.O. Band IV, S. 434. Kant a.a.O. Band IV, S. 434.
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schen begründet sah, die ihn in theoretischer Hinsicht auf Erkenntnis und Wissen ausrichtete und die ihm in praktischer Hinsicht die Beherrschung seiner Triebe und Leidenschaften ermöglichte. Bei Thomas’ Konzeption der dignitas hominis als eines herausgehobenen Status des Menschen in der göttlichen Schöpfungsordnung war diese dignitas innig verknüpft mit dem Gedanken der Freiheit, verstanden als Fähigkeit, im eigentlichen Sinn selbst, d. h. aus eigenem statt fremdem Antrieb zu handeln. Kant greift dementsprechend, wenn er im Zusammenhang der Autonomie den Würdebegriff ins Spiel bringt, zentrale Gedanken der philosophischen Tradition auf. Zum einen die Verknüpfung von Würde und Vernunft, wie sie bereits bei Cicero zu finden ist; zum anderen die Verknüpfung von Würde und Freiheit, die in der Antike zwar angelegt ist, aber erst in der Scholastik vor dem Hintergrund einer christlichen Transformation der aristotelischen Ethik und Handlungstheorie explizit vollzogen wird. Schließlich greift Kant auch einen dritten wesentlichen Aspekt des philosophischen wie des alltagssprachlichen Würdebegriffs auf, den Aspekt nämlich, dass „Würde“ immer das reflexive Moment eines Selbstverständnisses „als etwas“ aufweist. Mit diesem Aspekt war, wie wir gesehen hatten, wiederum der Gedanke verknüpft, dass eigenes oder fremdes Handeln demjenigen, als was ein „Würdenträger“ sich versteht, angemessen oder unangemessen sein kann.
2. Wert und Würde Trotz der oben genannten offensichtlichen Bezüge zum Würdebegriff der philosophischen Tradition ist gleichwohl nicht auf den ersten Blick klar, welche systematische Funktion der Begriff der Würde innerhalb der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ genau hat. Ja, es ist nicht einmal klar, ob er überhaupt eine systematische und nicht vielmehr eine bloß illustrierende und resümierende Funktion hat. Tatsächlich scheint Kant den Begriff im Wesentlichen heranzuziehen, um zu verdeutlichen, dass und warum die Autonomie der letzte Grund dafür ist, sich selbst und alle anderen vernünftigen Subjekte notwendigerweise und damit objektiv als „Zwecke an sich“ zu verstehen. Der Grundgedanke, den Kant dazu anführt, ist keineswegs neu, sondern uns seiner Struktur nach bereits von der Einführung des Gedankens eines kategorischen Imperativs her vertraut. Er wird nun allerdings auf die Begrifflichkeiten von „Wert“ oder „Preis“ übertragen. Alles, wovon man überhaupt sinnvoll als „Zweck“ sprechen kann, habe, so Kant, entweder einen „Preis“ oder eine Würde: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“24
Kant a.a.O. Band IV, S. 434.
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Es ist unschwer zu erkennen, dass in dieser Differenzierung von „Preis“ und „Würde“ Thomas von Aquins Unterscheidung zwischen utilitas und dignitas nachklingt. Ebenso, vielleicht noch mehr, klingt der Gedanke des Boethius an, dass derjenige sich selbst und seine eigene Erhabenheit als Vernunftwesen verfehle, der äußere Dinge über die Vernunftnatur des Menschen stelle. Doch auch diese Anklänge an die Tradition des Menschenwürdebegriffs erhalten durch Kant insofern eine charakteristische Wendung, als er sie mit der Differenzierung zwischen Bedingtheit und Unbedingtheit, Relativem und Absolutem verknüpft. Wie für Zwecksetzungen gilt demnach auch für Wertsetzungen, dass sie bedingt sind durch dasjenige Subjekt, für das etwas einen Wert hat. Der Wert bestimmt sich mithin durch den Bezug auf ein bestimmtes, konkretes Subjekt und ist durch dessen Bestimmtheiten bedingt. Der Wert ist der wertgeschätzten Sache also nicht intrinsisch, er liegt nicht in ihr selbst, sondern in etwas ihr vollkommen Äußerlichem, dem wertschätzenden Subjekt. Kant versucht in seinen Erläuterungen zur „Würde“ nun zu zeigen, dass dieses Verhältnis sich da, wo es um „Zwecke an sich“ geht, genau umkehrt: das Zweck-an-sich-Sein tritt dem einzelnen Subjekt demnach mit einer unabweisbaren Forderung nach Wertschätzung entgegen. Es fordert eine Wertschätzung ein, die nicht auf den Neigungen oder auf sonstigen Bestimmtheiten des jeweils wertschätzenden Subjekts beruht und damit auch nicht durch diese bedingt ist, sondern allein in der Bestimmtheit desjenigen liegt, was wertgeschätzt wird. Betrachtet man das Argument, das Kant hierfür explizit anführt, so wird man allerdings feststellen müssen, dass es in der von Kant selbst vorgetragenen Form bis aufs Äußerste verkürzt, ja geradezu lückenhaft ist. Das Argument lautet in Kants eigenen Worten folgendermaßen: „Denn es hat nichts einen Wert als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d.i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung alleine den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“25
Lückenhaft ist das Argument in der vorliegenden Form aus zwei Gründen: Zum einen ist noch keineswegs gezeigt, dass Wertzuschreibungen nur durch Gesetze bzw. Gesetzmäßigkeiten erfolgen können. Zum Zweiten ist das Argument defizitär, da es offenkundig von der Voraussetzung ausgeht, dass einer Instanz dann und genau dann ein unbedingter Wert zukommt, wenn sie diejenige ist, die jeglichen bedingten Wert generiert oder zuweist. Genau das ist aber keineswegs erwiesen. Denn der bloße Umstand, dass etwas, dem ein Wert von etwas anderem bestimmt wurde, nur einen – eben durch die wertzuweisende Instanz – bedingten Wert aufweist, rechtfertigt selbstverständlich nicht den Kant a.a.O. Band IV, S. 436.
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Umkehrschluss, dass der wertzuweisenden Instanz ein unbedingter Wert zukomme. Es könnte ihr schlicht und ergreifend auch überhaupt kein Wert zukommen. Dass Kants Argument in der von ihm selbst angeführten Form mehr als elliptisch ist, bedeutet nun allerdings nicht, dass seine Auskunft zum unbedingten Wert und der damit verknüpften unbedingten Wertschätzung der Selbstgesetzgebung prinzipiell falsch wäre. Der Punkt, auf den Kant hinauswill und der in seinem Argument zumindest anklingt, dürfte sich vielmehr folgendermaßen rekonstruieren lassen: Bedingt ist ein Wert genau dann, wenn dasjenige, was den Wert einer Sache setzt, dieser Sache äußerlich ist. Solche äußerliche wertsetzende Instanzen können nur Subjekte sein, da nur Subjekte eine evaluative Haltung zur Welt einnehmen können. Was Subjekte wiederum in praktischer Hinsicht auszeichnet, ist Autonomie, verstanden als die Fähigkeit, sich in seinem Handeln am Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der eigenen Handlungsmaximen zu orientieren. Reflektiert ein Subjekt nun auf seine eigene Autonomie, so wird es feststellen, dass diese nicht durch etwas ihr Äußerliches – wie ein Bedürfnis, eine Neigung oder eine Affektion – bedingt ist. Während äußerliche Wertsetzungen immer auf das wertsetzende empirische Subjekt mit seinen Neigungen, Trieben und Affektionen rückführbar sind, wäre Autonomie demnach in dem Sinn „unhintergehbar“, dass sie keinen Grund außerhalb ihrer selbst hat, auf den sie rückführbar wäre. Jede bedingte Wertsetzung verweist also auf ihre Bedingung zurück. Gäbe es vor diesem Hintergrund nun keine transzendentale Freiheit im Sinne des kantischen Autonomiebegriffs, so wären jegliche Wertsetzungen das Ergebnis rein kausal-mechanischer Naturgesetzlichkeiten. So wäre etwa der Wert, den ein Stück Fleisch für ein hungriges Subjekt A hat, alleine durch die Physiologie des Hungers bzw. des Hungergefühls und die ihr zugrunde liegenden Naturgesetze bedingt. Gäbe es mithin ausschließlich solche kausal-mechanisch bedingten Formen der Wertsetzung, so wären Subjekte zu keinem Zeitpunkt die eigentlichen Autoren oder Urheber von Wertsetzungen; vielmehr gäbe es im eigentlichen Sinn gar keine Wertsetzungen, sondern nur naturgesetzlich ablaufende Mechanismen. Damit Subjekte im eigentlichen Sinn die Autoren ihrer Wertsetzungen sein können, müssen sie sich zu diesen Wertsetzungen also noch einmal in ein rationales Verhältnis setzen können. Das ist aber für Kant nur möglich, wenn und insoweit Subjekte überhaupt dazu fähig sind, in dem Sinne „unbedingt“ zu handeln, der für die Autonomie soeben herausgestellt wurde. Es gilt dann, dass ein Subjekt nur da überhaupt als Subjekt handelt – d. h. mehr ist als ein kausal determiniertes Objekt von Naturgesetzen –, wo es autonom handelt. Autonomie wäre demnach die Bedingung dafür, dass ein Subjekt sich selbst und alle anderen Subjekte überhaupt als Subjekte verstehen kann. Macht ein Subjekt sich das reflexiv klar, so wird es, das ist offenbar Kants entscheidende Pointe an dieser Stelle, nicht umhin kommen, der Fähigkeit zu solch unbedingtem Handeln
IV. Freiheit, Autonomie und Verallgemeinerbarkeit
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eine besondere Form der Achtung zukommen zu lassen: eine Art der Wertschätzung, die mit der endlichen, partikularen und bedingten Wertschätzung, die ein Subjekt gegebenenfalls einem Objekt entgegenbringt, inkommensurabel ist. Kant spricht diese spezifische „Achtung für das Gesetz“ bereits in einer ausführlichen Fußnote des ersten Abschnitts zur „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ an, in der er ausführt: „Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze, ohne Vermittlung anderer Einflüsse auf meinen Sinn, bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.“26
Die „Achtung“, um die es hier geht, scheint dementsprechend zunächst nichts anderes zu bedeuten als die „Beachtung“ des Sittengesetzes, das „unmittelbar“ den Willen eines Vernunftwesens bestimmt. Indem die vernünftigen Subjekte dann freilich in der Reflexion auf den Grund des Sittengesetzes begreifen können, dass dieses Gesetz ihnen nichts Fremdes und Äußerliches ist, sondern gerade die Struktur ihrer eigenen praktischen Vernünftigkeit bildet, wird aus der notwendigen Beachtung des Gesetzes eine Achtung vor der eigenen Vernunft als der Gesetzgeberin. Wenn das alles allerdings richtig ist, stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Würdebegriff in dem Sinn, in dem Kant ihn hier gebraucht, im Zusammenhang einer Erörterung des Wertbegriffs einzuführen, legt diese Einführung doch die Vorstellung nahe, unter „Würde“ sei einfach so etwas zu verstehen wie ein „unendlich großer Wert“. Das wäre jedoch insofern ein grundlegendes Missverständnis, als der Gedanke eines „unendlich großen Wertes“ sich immer noch im Rahmen des Wertbegriffs und damit von letztlich quantitativen Werterelationen bewegt.27 Der Begriff der „Würde“ zielt bei Kant aber gerade auf etwas anderes ab, nämlich darauf, die absolute Inkommensurabilität der Autonomie mit allen nur denkbaren Zweck- und Wertsetzungen zum Ausdruck Kant a.a.O. Band IV, S. 401. Insofern ist auch Oliver Sensen zuzustimmen, der in einer kürzlich vorgelegten Studie zu Kants Würdebegriff (Sensen, Oliver: Kant on Human Dignity. Kant-Studien, Ergänzungsheft Nr. 166. Berlin/Boston 2011) betont hat, dass die verbreitete Meinung, wonach Kant die Auffassung verträte, Vernunftwesen müssten geachtet werden, weil ihnen ein besonderer Wert namens „Würde“ zukomme, falsch sei. Sensen schreibt: „In Kant scholarship the reason why one should respect others is often thought to be that all human beings as such possess a value. I have argued that Kant does not have such a conception of value, and that his arguments rule out the possibility that value is the justification for the moral requirements Kant puts forward.“ (Sensen a.a.O. S. 53) Diese Einsicht entspricht in weiten Teilen der auch hier entwickelten Interpretation des kantischen Würdebegriffs. Neu ist diese Einsicht allerdings eher für die angelsächsische Kant-Interpretation, die, wie Sensen zeigt, in der Tat Kants Praktische Philosophie häufig als Wertphilosophie missversteht (vgl. Sensen a.a.O. S. 53–95) – sicherlich aber nicht für die deutsche, in der dieses Missverständnis kaum verbreitet ist. 26 27
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
zu bringen. „Würde“ ist von „Wert“ nicht quantitativ unterschieden, und sei es, dass der Autonomie ein „unendlicher Wert“ zugesprochen würde, sondern qualitativ: als etwas, das in einer völlig anderen Seinsordnung angesiedelt ist.28 Das lässt sich auch leicht daran zeigen, dass wenn „Würde“ ein Begriff wäre, mit dem lediglich so etwas wie ein „höchster“ bzw. „oberster“ Wert zum Ausdruck gebracht werden soll, ein bestimmter Typ von Situationen strikt dilemmatisch wäre, der nach der „Menschheitsformel“ wie der Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs gerade nicht dilemmatisch ist. Die Situationen, die ich dabei im Auge habe, sind solche, in denen eine Instanz eines Guts, das einen „höchsten“ oder „obersten“ Wert besitzt, verletzt wird, um mehrere andere Instanzen desselben Gutes oder eines anderen Gutes, das ebenfalls einen „höchsten“ bzw. „obersten“ Wert besitzt, zu realisieren.29 Eines der immer wieder zitierten Standardbeispiele für solche Situationen sieht folgendermaßen aus: Der Arzt und begnadete Organtransplanteur T hat fünf Patienten A, B, C, D und E, von denen jeder zum Überleben ein anderes Organ benötigt. Alle benötigten Organe könnten von einem Menschen explantiert werden, der dazu aber von T ermordet werden müsste. Darf T den ahnungslosen Patienten P, der wegen einer Bagatellerkrankung seine Klinik betritt, ermorden, um das Leben seiner fünf Patienten zu retten? Nähert man sich dieser Frage mit der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs, so ist klar, dass P durch ein solches Vorgehen T’s eindeutig als „bloßes Mittel zum Zweck“ der Rettung des Lebens der fünf Patienten behandelt würde. Die Ermordung P’s wäre damit durch die Menschheitsformel ausgeschlossen. Ebenso ist klar, dass die Ermordung P’s durch die Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs ausgeschlossen wäre, da die Beendigung des Lebens von Menschen zum Zweck der Rettung des Lebens von Menschen selbstwidersprüchlich wäre. Bei Anwendung beider Formeln des Kategorischen Imperativs ergibt sich also eine eindeutige Beurteilung der Tötungshandlung als verboten. Ein moralisches Dilemma gibt es daher für diesen Fall im Rahmen der kantischen Moralphilosophie nicht: das Unterlassen des Mordes ist eindeutig geboten, seine Durchführung eindeutig verboten. Anders sieht dies aus, wenn man den Begriff der „Würde“ im Sinn eines „höchsten Werts“ verstünde. Dann nämlich würde durch die Tötung von P zwar ein Einzelfall dieses „höchsten Wertes“, nämlich die Existenz des Vernunftwesens P vernichtet; dafür würden aber fünf Einzelfälle dieses „höchsten Wertes“, nämlich die Existenzen der Vernunftwesen A, B, C, D und E realisiert. 28 Diesen Punkt hat offenbar auch Sensen im Blick, wenn er schreibt: „Dignity is not a definition of value, but a way of saying that morality is elevated or special.“ (Sensen a.a.O. S. 6). 29 Vgl. zu dieser Problematik die Diskussion bei von Kutschera (von Kutschera, Franz: Grundlagen der Ethik. Berlin/New York 1982, S. 63–81) und bei Taurek (Taurek, John M.: Should the numbers count? In: Philosophy and Public Affairs Vol. 6, Nr. 4 (1977), S. 293–316).
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Geht man nun davon aus, dass hier mit „höchstem Wert“ gemeint ist, dass es sich bei dem Leben von P auf der einen und den fünf Leben von A, B, C, D und E jeweils um Güter handelt, die einen „unendlichen“ Wert haben, so stünde gleichsam „1x unendlich“ gegen „5x unendlich“, und da „5x unendlich“ gleich „1x unendlich“ ist, stünde mithin „unendlicher Wert“ gegen „unendlichen Wert“. Die Situation wäre also moralisch dilemmatisch im strengsten denkbaren Sinn des Begriffs eines „moralischen Dilemmas“. Der Umstand, dass bei Anwendung des Kategorischen Imperativs kein solches Dilemma entsteht, sondern eine eindeutige, nichtdilemmatische Beurteilung der Situation möglich ist, zeigt also überdeutlich, dass der Menschenwürdebegriff, wie Kant ihn versteht, offenkundig gerade nicht den Gedanken eines „höchsten“ oder „obersten“ Wertes zum Ausdruck bringen soll. Vielmehr gilt genau das Gegenteil: Der Begriff der „Würde“ bringt bei Kant gerade die Inkommensurabilität und vollständige Diskontinuität zwischen der Autonomie und demjenigen, worum es bei Werten und Zwecken geht, zum Ausdruck. Wenn das alles aber richtig ist, sind die bisherigen Ausführungen zum Zusammenhang von Autonomie, Würde und Selbstzwecklichkeit immer noch nicht hinreichend genau bestimmt, um zu erfassen, auf welche spezifische Form der Achtung der Menschenwürdebegriff bei Kant eigentlich abzielt, da bislang nur die negative Seite dieses Verhältnisses, nämlich seine Inkommensurabilität mit Werten und Zwecken beschrieben ist. Um das positive Moment der Achtung selbst zu klären, ist darum noch einmal ein vertiefter Blick auf das Verhältnis von Selbstzwecklichkeit, Autonomie und Verallgemeinerbarkeits-Erfordernis notwendig, in dessen Verlauf sich zeigen wird, dass der Fluchtpunkt von Kants Konzeption moralischer und rechtlicher Praxis dasjenige ist, was dann bei Fichte und Hegel „Anerkennung“ heißen wird. Damit eröffnet sich auch für den Menschenwürdebegriff eine Dimension intersubjektiver Normativität, wie sie bislang eher verdeckt geblieben ist.
V. Würde, Autonomie und Anerkennung 1. Autonomie und Selbstzwecklichkeit Wie gesehen, sind Vernunftwesen nach Kant insofern „autonom“, als sie den Gesetzen ihres Handelns nicht einfach nur unterworfen sind, sondern sich diese Gesetze selbst geben, nämlich aufgrund der Reflexionsbewegungen, die es erlauben, dem Kategorischen Imperativ zu folgen. Dass die moralische Gesetzgebung Selbstgesetzgebung ist, ist dabei von entscheidender Bedeutung dafür, Vernunftwesen als „Zwecke an sich“ zu verstehen. An dieser Stelle scheint es nun aber, als tue sich ein kaum zu behebender Widerspruch zwischen der in Unterkapitel IV.3. rekonstruierten Begründung des „Zweck an sich“-Charak-
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
ters vernünftiger Wesen qua Reflexion auf die eigene Fähigkeit zur Zwecksetzung auf der einen Seite und der nun gegebenen Begründung qua Autonomie als Fähigkeit zur vernünftigen Selbstgesetzgebung auf der anderen Seite auf. Dieser dem ersten Anschein nach bestehende Widerspruch ist in der Literatur häufig konstatiert worden. So kritisiert etwa Gerold Prauss Kant explizit dafür, im Gang der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ eine ursprünglich „moralneutrale“ Bestimmung des Begriffs „Zweck an sich“ – die in etwa derjenigen Bestimmung entspricht, die hier als „Begründung qua Reflexion auf die eigene Zwecksetzungsfähigkeit“ gekennzeichnet wurde – unter der Hand durch eine an ihrer Zirkularität scheiternde Begründung des „Zweck an sich“-Charakters qua moralischer Selbstgesetzgebung ersetzt zu haben. Da Prauss’ diesbezügliche Ausführungen die vermutlich deutlichste und anspruchsvollste Variante dieser auch bei anderen Autoren durchklingenden Kritik bilden, seien sie an dieser Stelle in voller Länge zitiert. Um die Schwierigkeiten einer nicht moralneutralen Begründung der Selbstzwecklichkeit vernünftiger Subjekte zu sehen, bedürfe es, so Prauss „lediglich eines Rückblicks auf jenen Text, wo Kant versucht, mit Hilfe des moralneutralen Sinns von ‚Zweck an sich selbst‘ für den Kategorischen Imperativ eine Art von Äquivalent zu formulieren. Dieser Imperativ besagt danach, ein Mensch dürfe niemals als bloßes Mittel, sondern solle immer zugleich auch als Zweck behandelt werden. Wäre der Mensch nun aber darin Zweck an sich selbst, daß er sich das Moralgesetz auferlegt, wie Kant später behauptet, so hätte er damit noch diesen seinen Versuch nachträglich zum Scheitern verurteilt. Denn danach müßte jener Kategorische Imperativ in Form dieses Äquivalents einen jeden von uns moralisch verpflichten, daß auch jeder andere moralisch verpflichtet sei, – eine Formulierung, die jedoch das Moralgesetz schon voraussetzt und von daher zirkulär ist. Keineswegs zirkulär und somit tatsächlich ein mögliches Äquivalent für den Kategorischen Imperativ aber ist und bleibt diese Formulierung, wenn man jene ursprüngliche Bedeutung von ,Zweck an sich‘ in ihr festhält. Danach nämlich würde jener Imperativ in Form dieses Äquivalents einen jeden von uns dadurch moralisch verpflichten, daß jeder andere ebenso wie man selber zunächst einmal Zweck an sich selbst ist, nämlich in moralneutralem Sinn: Als ,eigener Wille‘ ist jeder Mensch eben ,Willen zu sich selbst‘ oder ,Wollen seiner selbst‘; jeder bildet ,für sich selber praktische Vernunft‘, das heißt ein Selbstverständnis auch als praktisches und müßte somit dergleichen wie Willensfreiheit auch zunächst einmal im Sinn einer moralneutralen Autonomie sein.“30
Um diesem – auf jeden Fall starken – Einwand begegnen zu können, bedarf es zweifelsohne einer genaueren Untersuchung dessen, was gemeint ist, wenn davon die Rede ist, Vernunftwesen seien insofern „Zwecke an sich“, als sie je das eigene freie Subjekt-Sein notwendig anstreben. Wie weiter oben gesehen, kommt Kant zu dieser Einsicht zunächst via negationis, indem er aufzeigt, dass subjektiv-partikulare Zwecksetzungen nicht zu derjenigen Unbedingtheit führen können, die mit dem Begriff des Sollens verbunden ist. Die Bedingtheit aller Prauss, Gerold: Kant über Freiheit als Autonomie. Tübingen 1983, S. 142 f.
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subjektiv-partikularen Zwecksetzungen durch das zwecksetzende Subjekt erschließt sich diesem Subjekt zunächst dadurch, dass es sich selbst nicht wegdenken kann, ohne damit zugleich den von ihm gesetzten und angestrebten Zweck aufzuheben. Diese Einsicht in die Bedingtheit der jeweils gesetzten Zwecke durch das zwecksetzende Subjekt und die aus ihr folgende Einsicht in die Notwendigkeit, das eigene Sein-als-freies-Subjekt anzustreben, sind aber nur der erste Schritt einer komplexeren Reflexion. Der erste Reflexionsschritt zeigt – wie schon bei der Herleitung der Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs – zunächst lediglich, dass diejenige Unbedingtheit, die mit dem Begriff des Sollens verbunden ist, nicht von subjektiv-partikularen Zwecksetzungen bzw. den ihnen zugrunde liegenden Neigungen herrühren kann; Kant selbst führt dazu ja aus: „Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen bedingten Wert; denn, wenn die Neigungen und darauf begründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert sein.“ 31
Die Unbedingtheit, mit der uns das moralische Sollen entgegentritt, kann daher überhaupt nur theoretisch eingeholt werden, wenn an der Subjektivität selbst etwas gefunden wird, das grundsätzlich von jeder Bedingtheit durch etwas anderes frei ist und dementsprechend durch nichts anderes bedingt als durch sich selbst. An dieser Stelle hat der Begriff der Autonomie als Selbstgesetzgebung dann seinen systematischen Ort. Um das zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, sich vor Augen zu führen, welche Konsequenzen es hätte, wenn nicht die Autonomie im kantischen Sinn, sondern bereits, wie Prauss es vorschlägt, die Fähigkeit zur Zwecksetzung der Grund des notwendigen Selbstverständnisses als „Zweck an sich“ wäre. Dazu kann man sich ein Wesen vorstellen, das zwar in der Lage wäre, Zwecke zu setzen und diese zu verfolgen, nicht aber in der Lage wäre, seine eigenen Zwecksetzungen zu reflektieren und sich zu ihnen noch einmal in ein Verhältnis zu setzen. Ein solches Wesen wäre in der Tat nicht frei, sondern würde von seinen eigenen Zwecken bestimmt und beherrscht, auch und gerade dann, wenn diese Zwecke seine „eigenen“ wären. In der Alltagswelt stellen vermutlich Tiere solche Wesen dar. Bei einem Hund etwa, der von der Neigung des Hungers angetrieben seinen Fressnapf aufsucht, um zu fressen, wird man kaum bestreiten können, dass er sich einen Zweck gesetzt hat und diesen verfolgt. Er ist aber nicht imstande, seine eigene Zwecksetzung zu reflektieren und aus Vernunftgründen gegebenenfalls wieder aufzuheben. Wo er das Verfolgen eines Zwecks aufgibt, da geschieht dies nicht aufgrund einer Überlegung aus Gründen, sondern deshalb, weil von außen eine stärkere Neigung an die Stelle der ursprünglichen Neigung tritt. Sollte er beispielsweise aufgrund einer Drohgeste eines anderen Hundes von der Verfolgung seines Zwecks abkommen, ist das Kant a.a.O. Band IV, S. 428.
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nicht das Ergebnis einer reflektierten Überlegung, sondern das Resultat eines anderen Reizes, der – in diesem Fall beruhend auf der Neigung zur Selbsterhaltung – stärker ist als derjenige Reiz, den der Hunger ausübt. Diejenigen Wesen, die Kant „Vernunftwesen“ nennt, muss also noch etwas anderes auszeichnen als die bloße Fähigkeit, Zwecke zu setzen und zu verfolgen: sie müssen „Herren“ ihrer Zwecksetzung sein, d. h. sie müssen in der Lage sein, ihre Zwecksetzungen im Licht von Gründen zu betrachten und sie in diesem Licht gegebenenfalls zu revidieren. Das setzt jedoch bereits voraus, dass jene Vernunftwesen die Fähigkeit aufweisen, sich in ihrem Handeln und ihren Zwecksetzungen grundsätzlich an etwas anderem zu orientieren als an ihren Neigungen und Bedürfnissen, auch dann, wenn diese Neigungen und Bedürfnisse zweifellos als ihre „eigenen“ bezeichnet werden können. Alleine die Fähigkeit, Zwecksetzungen auf der Basis von Gründen zu revidieren, die auch für dasjenige noch Voraussetzung ist, was Prauss die „moralneutrale Autonomie“ nennt, verweist mithin bereits auf eine Ordnung des Handelns, die jenseits der „moralneutralen Freiheit“ liegt. Dasjenige Sein-als-freies-Subjekt, um das es bei der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs geht, kann dementsprechend nicht in der Fähigkeit zur Zwecksetzung aufgehen, sondern betrifft die Autonomie als Fähigkeit, gemäß einem alleine aus der Struktur der vernünftigen Subjektivität resultierenden und insofern eigenen Gesetz zu handeln.
2. Autonomie und Verallgemeinerbarkeit Die von Prauss angesprochene Schwierigkeit ist damit allerdings noch nicht gänzlich aus dem Weg geräumt. Ja vielmehr scheint sie sich in gewissem Sinn sogar noch gravierender darzustellen, als es bei Prauss der Fall war. Auf der einen Seite nämlich bildet, wenn die Ausführungen des vorangehenden Unterkapitels richtig sind, die Autonomie dasjenige Charakteristikum der Subjektivität, aufgrund dessen jedes vernünftige Subjekt sich selbst und alle anderen Subjekte notwendig als „Zweck an sich“ verstehen muss. Die Allgemeinheit des „Zweck an sich“-Charakters aller Subjekte gibt sodann der Forderung nach Verallgemeinerbarkeit, wie sie in der Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs aufgestellt ist, erst ihren Grund und verleiht ihr erst „Gültigkeit“ in dem Sinn, dass jedes Vernunftwesen tatsächlich die Pflicht hat, sich in seinem Handeln an ihr auszurichten. Die reflexive Einsicht darin, dass Autonomie allen Subjekten eignet, ist mithin in Kants Konzeption dasjenige, was ein Subjekt dazu verpflichtet, sich selbst und alle anderen Subjekte als „Zwecke an sich“ zu begreifen und sich aus eben diesem Grund dem moralischen Gesetz des Kategorischen Imperativs zu unterwerfen. Stellt man dann aber die Frage, was eigentlich der Inhalt des moralischen Gesetzes ist, das ein Vernunftwesen sich im kantischen Sinn von „Autonomie“ selbst gibt, so ist die Antwort wiederum diese: die Forderung, sein eigenes Handeln jederzeit an der Frage auszurichten, ob die
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Maxime dieses Handelns dem Kriterium der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit genügt. „Autonom“ handelt ein Akteur also nach Kant genau dann, wenn er die Prüfung seiner Handlungsmaxime auf widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit vollzieht und sich in seinem Handeln vollständig durch das Ergebnis dieser Prüfung bestimmen lässt. Die Engführung von Autonomie und Verallgemeinerbarkeitserfordernis ist mit dieser Aussage allerdings erst behauptet, aber noch nicht bewiesen. Um den entsprechenden Beweis zu führen, ist es zunächst notwendig, sich klarzumachen, was es eigentlich genau bedeutet, „sich selbst ein Gesetz zu geben“. Nehmen wir das von Kant selbst immer wieder behandelte Beispiel der Lüge, so wird derjenige, der anhand des Kategorischen Imperativs prüft, ob eine Lüge zum eigenen oder fremden Nutzen moralisch zulässig ist, feststellen, dass dies nicht der Fall ist, weil ein solches Ansinnen sich genau dann selbst widerspricht, wenn davon ausgegangen wird, dass alle vernünftigen Subjekte so handeln. Derjenige, der so zu dem Ergebnis kommt, dass das Lügen zum eigenen oder fremden Nutzen der Forderung des Kategorischen Imperativs nach widerspruchsfreier Verallgemeinerbarkeit widerspricht, wird sich dann notwendig das Gesetz geben müssen, in keiner Situation zum eigenen oder fremden Vorteil zu lügen. In ähnlicher Weise lassen sich weitere Gesetze mit Hilfe des Prüfverfahrens des Kategorischen Imperativs ermitteln, so etwa das Gesetz, unter keinen Umständen zum eigenen oder fremden Nutzen zu stehlen, unter keinen Umständen zum eigenen oder fremden Nutzen zu töten etc. Diese konkreten Handlungsanweisungen stellen dann jeweils eines derjenigen Gesetze dar, die nach kantischer Terminologie aus reiner praktischer Vernunft entspringen, an denen ein vernünftiges Subjekt – und nur ein vernünftiges Subjekt – sich in seinem Verhalten orientieren kann und an denen es sich, gegebenenfalls auch entgegen seinen empirisch bedingten Neigungen, orientieren soll. Der Kategorische Imperativ bildet dementsprechend so etwas wie ein Meta-Gesetz der möglichen vernünftigen Selbstgesetzgebung. Das heißt: sofern sich ein vernünftiges Subjekt am Kategorischen Imperativ als dem Gesetz seiner Maximenprüfung orientiert, ergibt sich aus dieser Orientierung eine Vielzahl konkreter Handlungsgesetze – wie das Verbot des Diebstahls, der Lüge, des Mordes etc. –, die als solche dann als Resultate einer Selbstgesetzgebung der Vernunft gelten können. Das Handeln gemäß diesen Gesetzen kann somit als Handeln aus reinen Vernunftgründen verstanden werden und die Gesetze können als „selbstgegeben“ insofern gelten, als sie sich aus nichts anderem als der jedem Subjekt eignenden praktischen Vernunft ergeben. Warum aber, so wird man sich nun fragen, ist das Kriterium dafür, eine normative Setzung als Ausfluß der „Selbstgesetzgebung“ zu bestimmen, überhaupt die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit? Obgleich Kant selbst hierfür eigentlich keine weitere Begründung gibt, die über die vorläufigen Bemerkungen bei der Einführung des Kategorischen Imperativs hinausgeht, kann man eine
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entsprechende Begründung wohl folgendermaßen rekonstruieren: Damit die Regel, aus der sich eine bestimmte Handlungsanweisung ergibt, eine solche ist, die der Freiheit und Subjektivität nicht widerspricht, muss es sich um eine Regel handeln, die von jedem beliebigen Subjekt anerkannt werden kann. Wie wir oben bei der Diskussion des Begriffs eines „Zwecks an sich“ gesehen hatten, können wiederum von einem beliebigen Subjekt, das sich seiner Subjektivität reflexiv vergewissert hat, nur diejenigen Regeln anerkannt werden, die nicht im Widerstreit mit dem eigenen Sein als freies Subjekt, d. h. dem eigenen Sein als autonomes und freies Vernunftwesen, stehen. Da zugleich jedes vernünftige Subjekt, soweit es sich nicht von seinen Neigungen und den darauf aufbauenden partikularen Zwecksetzungen bestimmen lässt, einsehen kann, dass es anderen vernünftigen, freien Subjekten nicht verweigern kann, was es sich selbst alleine aufgrund der eigenen Subjektivität und der eigenen transzendentalen Freiheit zugesteht, folgt, dass nur solche Handlungsregeln vernunftgemäß sind, die nicht nur mit der eigenen Freiheit und Subjektivität vereinbar sind, sondern auch mit derjenigen aller anderen vernünftigen Subjekte und die genau deshalb auch von jedem dieser Subjekte gemäß dem eigenen notwendigen Selbstverständnis als mögliche allgemeinverbindliche Handlungsregeln anerkannt werden können. Wenn also bei der Operation der Verallgemeinerung einer Maxime gemäß dem Kategorischen Imperativ ein logischer Widerspruch auftaucht, so zeigt das einfach, dass es sich bei der betreffenden Maxime, dem „Gesetz“ des Handelns, um eine Regel handelt, die eben nicht von jedem beliebigen Subjekt anerkannt werden kann. Vielmehr wäre die betreffende Handlungsregel nur als eine denkbar, die lediglich denkmöglich ist als für einige Subjekte geltend, die aber nicht für alle Subjekte gelten kann. Damit jedoch steht sie im Widerstreit mit der Forderung, dass eine Handlungsregel von jedem beliebigen Subjekt sollte anerkannt werden können, weil sie lediglich aus der vernünftigen Subjektivität als solcher folgt. Das Gesagte bedeutet dann aber, dass Autonomie bzw. transzendentale Freiheit in Kants Grundlegung der Moral in zwei systematischen Hinsichten auftauchen. Einmal bildet sie den Verpflichtungsgrund dafür, sich selbst und allen anderen Subjekten gegenüber das Moralgesetz zu beachten: Jedes Subjekt ist deshalb sich selbst und allen anderen Subjekten gegenüber verpflichtet, das Moralgesetz zu beachten, weil alle Subjekte autonom sind. Zum anderen bildet die Autonomie aber auch den eigentlichen Inhalt dessen, was das Moralgesetz fordert. Denn dieses fordert ja eben, sein eigenes Handeln jederzeit am Kriterium der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit zu messen. Der Geltungsgrund der Forderung nach Achtung der Selbstzwecklichkeit jedes vernünftigen Subjekts ist demnach nichts anderes als der bloße Umstand, dass jedes vernünftige Subjekt in der Lage ist, die Selbstzwecklichkeit jedes vernünftigen Subjekts (d. h. seiner selbst als Subjekt und jedes anderen vernünftigen Subjekts) zu achten. Ein vernünftiges Subjekt hätte also, um es pointiert zu sagen, sich selbst
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und jedes andere Subjekt in seiner Autonomie und Freiheit alleine aufgrund der Einsicht zu achten, dass es selbst und jedes andere Subjekt in der Lage ist, sich selbst und jedes andere Subjekt als autonom und frei zu achten. Für die wechselseitige Achtung voneinander verschiedener Subjekte, wie sie für die Normativität des Rechts einschlägig ist, bedeutet das: ein vernünftiges Subjekt A ist deshalb verpflichtet, ein vernünftiges Subjekt B in seiner Autonomie bzw. transzendentalen Freiheit zu achten, weil es sich dessen bewusst ist, dass B als ein vernünftiges Subjekt in der Lage ist, seinerseits A als vernünftiges Subjekt zu achten. Die Verpflichtung zur wechselseitigen Achtung resultiert mithin aus der Wechselseitigkeitsstruktur selbst. Es ist nun auch leicht zu sehen, dass und warum – anders als Prauss vermutet – die bloße Fähigkeit zur Zwecksetzung nicht ausreicht, um diejenige Achtung als Subjekt hervorzubringen, die die Grundlage eines wirklich unbedingten Sollens bildet. Ersetzt man nämlich in der oben dargelegten Figur wechselseitiger Achtung einmal probehalber „Autonomie“ durch „Fähigkeit, Zwecke zu setzen“, so ergäbe sich die Aussage: „Ein vernünftiges Subjekt hat sich selbst und jedes andere Subjekt in seiner Fähigkeit zur Zwecksetzung alleine aufgrund der Einsicht zu achten, dass es selbst und jedes andere Subjekt in der Lage ist, sich selbst und jedes andere Subjekt als Zwecke setzend zu achten.“ Während der moralischen Autonomie bereits der Bezug auf die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit des eigenen Handelns und damit auf die Wechselseitigkeit der Achtung eingeschrieben ist, ist das bei der „Fähigkeit zur Zwecksetzung“ keineswegs der Fall. Die bloße „Fähigkeit zur Zwecksetzung“ bleibt insofern einseitig und bedürfte, um Medium allgemeiner wechselseitiger Achtung zu werden, der Ergänzung durch eine äußere Reflexion: durch die äußere Reflexion nämlich, dass alle vernünftigen Subjekte solche Subjekte sind, die in der Lage sind, Zwecke zu setzen, und die die Erhaltung dieser Fähigkeit anstreben. Dann ist aber wiederum nicht klar, warum diese Einsicht ein Subjekt überhaupt zu irgendetwas verpflichten sollte. Denn es müsste ja den Maßstab widerspruchsfreier Verallgemeinerbarkeit bereits, und zwar aus anderen Gründen, anerkannt haben, um aus der Einsicht in den Umstand, dass alle zwecksetzenden Wesen die Erhaltung der Fähigkeit zur Zwecksetzung anstreben, zu folgern, dass diese Fähigkeit auch bei anderen Subjekten zu achten ist. Hätte es jenen Maßstab nicht bereits anerkannt, so wäre es für es völlig unproblematisch, für sich selbst als zwecksetzendes Wesen die Achtung dieser Fähigkeit einzufordern, sie anderen zwecksetzenden Wesen aber zu verweigern. Ohne eine aus anderen Quellen gespeiste vorgängige Verpflichtung auf den Grundsatz der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit der eigenen Handlungsmaximen bliebe jene Einsicht somit ohne jede normative Konsequenz. Den Gedanken der Autonomie zeichnet demgegenüber aus, dass er gar keinen anderen normativen Gehalt hat als eben den der widerspruchsfreien, sich selbst und alle anderen Vernunftwesen einbeziehenden Verallgemeinerbarkeit,
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und zwar eben deshalb, weil diese die notwendige und hinreichende Bedingung des freien Subjekt-Seins selbst ist. Dasjenige, was im Fall der Zwecksetzungsfähigkeit erst noch äußerlich hinzukommen müsste, um die in Rede stehende normative Konsequenz zu erreichen, ist bei der Autonomie bereits deren eigentlicher Gehalt. Nur wenn die grundlegende Achtung als Subjekt also nicht der Fähigkeit zur Zwecksetzung, sondern der Fähigkeit zur Autonomie gilt, lässt sich daher vermeiden, für die normative Konsequenz, die aus der Einsicht in die Allgemeinheit jener Fähigkeit gezogen wird, noch einen weiteren, äußerlichen Grund auffinden zu müssen. Vielmehr liegt der betreffende Grund im Falle der Autonomie unmittelbar im Gehalt der Autonomie selbst. Die Wechselseitigkeit der Achtung wird mithin dadurch garantiert, dass dasjenige, was geachtet wird, selbst durch den Gedanken der wechselseitigen Achtung als das bestimmt ist, was es ist, nämlich als freies Subjekt. Überträgt man diese Konzeption nun auf den Bereich der Pflichten gegen sich selbst, so ergibt sich, dass selbst diese nur möglich sind, wenn und soweit das betreffende Subjekt gleichsam in zwei Rollen auftritt: ein Subjekt A wäre demnach genau aus dem Grund dazu verpflichtet, die eigene Autonomie bzw. Freiheit zu achten, weil es sich dessen bewusst ist, dass es selbst ein vernünftiges Subjekt ist, das als solches in der Lage ist, sich als vernünftiges Subjekt zu achten. Dieser Gedankengang zeigt freilich, dass die je eigene Subjektivität, anhand derer Kant ja den Gedanken des „Zwecks an sich“ eingeführt hatte, gar nicht in der Weise vorgängig ist und den eigentliche Ausgangspunkt der Moralität bildet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag und wie auch Kant selbst noch zu meinen scheint. Denn auch und gerade bei den Pflichten gegen sich selbst bedarf es in gewissem Sinn einer Vermittlung der eigenen praktischen Subjektivität durch andere Subjektivität, und das selbst dann, wenn diese „andere“ Subjektivität nur eine andere logische Stelle innerhalb der Reflexion auf sich selbst darstellt. Die Achtung des eigenen Status als autonomes und freies Subjekt jedenfalls ist nur möglich, indem das eine Subjekt sich zunächst in die Rollen des achtenden und des geachteten Subjekts auseinanderfaltet. Dementsprechend liegt die Vermutung nahe, dass der eigentlich primäre Vorgang der reflexiven Achtung als Subjekt derjenige ist, der sich wechselseitig zwischen einer Pluralität von Subjekten abspielt, und dass diejenige Reflexion, die den Pflichten gegen sich selbst zugrunde liegt, dieser in Wirklichkeit nachgebildet ist. Ein Indiz dafür besteht nicht zuletzt darin, dass gerade im Kontext der „Reich der Zwecke“-Formel die Hinweise auf Pflichten gegen sich selbst oft merkwürdig eingeschoben und ergänzt wirken, so als ob Kant den Gedankengang zunächst anhand der Pflichten gegen andere entwickelt und dann erst auf Pflichten gegen sich selbst rückübertragen hätte.32 Vgl. etwa die bemerkenswerte Bestimmung des Gedankens des „Reichs der Zwecke“, in der zunächst noch vom Verhältnis zu sich selbst und zu anderen Vernunftwesen die Rede ist, 32
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Überhaupt stellt sich bei Pflichten gegen sich selbst die Frage, was im Hinblick auf diese Pflichten die Forderung nach „widerspruchsfreier Verallgemeinerbarkeit“ eigentlich bedeutet. Im Hinblick auf Pflichten gegen andere nämlich ist klar, dass die dort gemeinte „Allgemeinheit“ auf die Möglichkeit der widerspruchsfreien Geltung einer Handlungsregel für alle vernünftigen Subjekte abzielt, d. h., die Allgemeinheit ist Universalität im Hinblick auf die Menge der voneinander unterschiedenen vernünftigen Subjekte. Bei Pflichten gegen sich selbst fällt demgegenüber die Universalität im Hinblick auf die Gesamtheit aller vernünftigen Subjekte gerade weg, so dass entweder nur noch die Forderung nach Widerspruchsfreiheit überhaupt, ohne weiteren Bezug zum Verallgemeinerbarkeitskriterium, bliebe. Geht man diesen Weg, bei dem gerade das Verallgemeinerbarkeitskriterium wegfällt, nicht, so könnte nur noch auf eine Universalität in der Zeit abgestellt werden, d. h., es würde widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit im Hinblick auf alle möglichen Zeitpunkte des Lebens eines vernünftigen Subjekts eingefordert. Im ersteren Fall könnte der „Widerspruch“ dann allerdings nur ein materialer Widerspruch zwischen einer Neigung und einer Orientierung an der eigenen Selbstzwecklichkeit sein, wie sie Kant offenbar für den Fall des Suizids vorschwebt33 , nicht aber ein formaler, logischer Selbstwiderspruch, der sich einstellt, wenn man die Verallgemeinerungsoperation durchführt. Wenn das aber richtig ist, fallen die Menschheitsformel und die Verallgemeinerbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs tendenziell auseinander und führen eben nicht immer zu deckungsgleichen Ergebnissen. Im zweiten Fall, der Widerspruchsfreiheit in der eigenen endlichen Lebenszeit, dagegen bleibt in der Tat nur noch ein rein formales Erfordernis der Widerspruchsfreiheit über die Zeit hinweg übrig, das entgegen der kantischen Lehre von den Tugendpflichten gegen sich selbst auch der konsequente Faulenzer ohne weiteres erfüllen würde, wenn er eben die Faulheit nur sein ganzes Leben lang bei jeder sich bietenden Gelegenheit durchhielte. Es ist in diesem Zusammenhang zudem zu bedenken, dass eine Vielzahl von Pflichten, so etwa das Verbot der Lüge, das Verbot des Mordes oder das Verbot des Diebstahls überhaupt nur denkbar sind und relevant werden, wo eine Pluralität von vernünftigen Subjekten gegeben ist, die ihr Zusammenleben in irgenddann aber im Folgesatz plötzlich nur noch vom Verhältnis der Vernunftwesen untereinander: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle. Hierdurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen auf einander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann.“ (Kant a.a.O. Band IV, S. 433 [Hervorhebung durch den Verfasser]). 33 Vgl. dazu die eingehende Analyse von Héctor Wittwer zur Frage des Suizids bei Kant (Wittwer, Héctor: Über Kants Verbot der Selbsttötung. In: Kant-Studien 92 (2001), S. 180– 209).
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
einer Weise gestalten. Evident ist dies im Fall der Lüge, und zwar einfach deshalb, weil man in einem nichtmetaphorischen Sinn von „Lüge“ immer nur einen anderen Menschen, nicht aber sich selbst belügen kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Diebstahl, der nicht alleine die soziale Institution des Eigentums bereits voraussetzt, sondern ebenfalls wieder eine Pluralität voneinander verschiedener vernünftiger Subjekte. Denn auch hier gilt wieder, dass man sich selbst nichts stehlen kann, da der Begriff des „Diebstahls“ einfach definiert ist als die rechtswidrige Aneignung des Eigentums eines anderen Rechtssubjekts. Es scheint dementsprechend zwar „un-kantisch“, aber sicherlich nicht ganz verfehlt, gerade der Dimension intersubjektiver Normativität, wie sie bei Kant schließlich in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“ und bei Fichte mittels des Anerkennungsbegriffs in den „Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre“ entfaltet wird, den Vorzug größerer Stringenz gegenüber den – wenn auch sicher nicht abzulehnenden, so doch in mancher Hinsicht theoretisch problematischen – Pflichten gegen sich selbst einzuräumen.
3. Der systematische Ort der Menschenwürde in Kants Praktischer Philosophie Der bis hierhin rekonstruierte Gang der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ erlaubt es nun, den systematischen Ort des Menschenwürdebegriffs innerhalb von Kants praktischer Philosophie präzise anzugeben. Ausgegangen war Kant von einer inhaltlichen Bestimmung des Moralprinzips als eines „Kategorischen Imperativs“, die im ersten Schritt alleine auf der Analyse des Gedankens eines „unbedingten Sollens“ beruhte. Dass es ein solches unbedingtes Sollen überhaupt gibt, war damit allerdings noch nicht gezeigt. Es bedurfte daher des Aufweises, dass es einen Bezugspunkt des Handelns vernünftiger Subjekte gibt, der in dem Sinn „objektiv“ ist, dass ihn jedes vernünftige Subjekt notwendigerweise als für sich verbindlich erkennen muss, da er mit dem Begriff eines solchen vernünftigen Subjekts intrinsisch verknüpft ist. Dieser Bezugspunkt ist der „Zweck an sich“-Charakter jedes vernünftigen Subjekts, der zu verstehen ist als ein Anstreben des eigenen „Seins als freies Subjekt“, das für jedes solche Subjekt unvermeidlich ist. Die weitere Explikation des Begriffs eines vernünftigen Subjekts führt dann in einem dritten Schritt, vermittelt über die „Reich der Zwecke“-Formel, zum Gedanken der Autonomie als vernünftiger Selbstgesetzgebung. Von dieser wird aufgezeigt, dass sie der eigentliche Geltungsgrund des notwendigen Selbstverständnisses eines vernünftigen Subjekts als „Zweck an sich“ ist. Denn nur, weil und indem vernünftige Subjekte zur transzendentalen Freiheit, die sich in der Autonomie realisiert, fähig sind, sind sie überhaupt vernünftig und frei und überhaupt Subjekte. Wenn die „Zweck an sich“-Bestimmung der Subjektivität aber im notwendigen Anstreben des eigenen Seins-als-freies-Subjekt besteht,
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dann ist der Geltungsgrund dieser Bestimmung die Autonomie. Der Begriff des „Geltungsgrundes“ zielt dabei darauf ab, dass vernünftige Subjekte sich selbst und alle anderen vernünftigen Subjekte nicht nur faktisch als „Zwecke an sich“ begreifen, sondern dass sie dies erstens auf der Grundlage der Einsicht in ihre Autonomiefähigkeit auch legitimerweise tun; dass sie zweitens legitimiert sind, auch von anderen Subjekten eine dieser Selbstzwecklichkeit entsprechende Behandlung einzufordern; und dass sie drittens verpflichtet sind, sich selbst gegenüber in einer Weise zu handeln, die ihrer Selbstzwecklichkeit angemessen ist. Der Begriff der „Würde“ wird nun genau an dieser Stelle von Kant eingeführt, um eben diejenige spezifische Form der Achtung zu bezeichnen, die der Fähigkeit zur vernünftigen Selbstgesetzgebung eignet. Wenn davon die Rede ist, dass einem vernünftigen Subjekt „Würde“ zukomme, so bedeutet dass mithin nichts anderes als dass ihm ein Anspruch auf Achtung seiner Selbstzwecklichkeit zukommt, der wiederum in der Autonomie als Fähigkeit zu vernünftiger, am Gedanken der Verallgemeinerbarkeit orientierter Selbstgesetzgebung seinen Legitimationsgrund hat. „Würde“ bringt demnach, wie in der philosophischen Tradition von Cicero bis in die frühe Neuzeit, einerseits das spezifische normative und evaluative Verhältnis eines Vernunftwesens zu sich selbst zum Ausdruck. Zum anderen bringt der Begriff der „Würde“ aber auch zum Ausdruck, dass eine der Selbstzwecklichkeit entsprechende Behandlung von anderen vernünftigen Subjekten legitimerweise eingefordert werden kann. Eben dieser zweite Punkt bildet – sieht man von den im vorigen Kapitel zusammengestellten Anmerkungen des Thomas von Aquin ab – die neue, von Kant in die Diskussion gebrachte intersubjektive Dimension des Würdebegriffs. Die Begründungsfiguren der Pflichten gegen sich selbst und der Pflichten gegen andere sind bei Kant erstmals gleichursprünglich mit dem Begriff der menschlichen Würde verbunden. Die Dimension der Pflichten gegen andere wird dabei am ehesten greifbar wird in der „Reich der Zwecke“-Formel. Wie oben gezeigt, lässt sich der dem Würde-Begriff zugrunde liegende Autonomie-Gedanke in normativer Hinsicht von dort aus wieder zwanglos an die Forderung nach widerspruchsfreier Verallgemeinerbarkeit zurückbinden, die uns als Inhalt der ersten Formulierung des Kategorischen Imperativs bereits bekannt war. Autonom handelt ein vernünftiges Subjekt dementsprechend genau dann, wenn es sich an dem Kriterium orientiert, dass die Regel des eigenen Handelns für alle möglichen autonomen Handlungssubjekte zu jedem Zeitpunkt muss denkmöglich sein können. Verallgemeinerbarkeit und Autonomie fallen dementsprechend genau deshalb zusammen, weil „Autonomie“ auf der Ebene ihres normativen Gehalts letztlich in nichts anderem als der Fähigkeit besteht, die eigene Autonomie und diejenige anderer autonomer Wesen anzuerkennen und entsprechend dieser grundlegenden Anerkennungsfigur zu handeln. Damit wird dann freilich auch noch einmal deutlich, dass es für Kant nicht der Menschenwürdebegriff als solcher ist, der die Rolle eines Grundes der Pflichten, sei es
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
gegen sich selbst oder andere übernimmt, sondern vielmehr der Autonomiebegriff. Mit dem Ausdruck „Menschenwürde“ bezeichnet Kant demgegenüber die gewissermaßen subjektive Seite der Reflexionsbewegung der Autonomie: den Umstand nämlich, dass die Autonomie die Forderung nach einer spezifischen Form der Achtung eines jeden autonomen Subjekt mit sich führt, wobei diese Achtung wiederum nur von anderen autonomen Subjekten eingefordert werden kann.
VI. Die Träger der Würde bei Kant – Wem kommt Würde zu? Wie gesehen, bildet bei Kant die Autonomie im Sinn der Fähigkeit, sich in ein reflektiertes Verhältnis zu den eigenen Handlungszwecken zu setzen und nach allgemeinen moralischen Gesetzen zu handeln, den Grund dessen, was Kant „Würde“ nennt. Die in zeitgenössischen Bioethik-Diskursen oft diskutierte Frage, wem eigentlich Menschenwürde „zukomme“, lässt sich dementsprechend im Hinblick auf Kants praktische Philosophie nur cum grano salis beantworten, da man an die kantische Philosophie eigentlich nur die Frage stellen kann, welchen Wesen diejenige Achtung entgegenzubringen ist, die von der Autonomie gefordert wird, und damit letztlich die Frage, welche Wesen als autonom im kantischen Sinn zu betrachten sind. Beachtet man diesen Punkt und behält man dementsprechend im Hinterkopf, dass die Frage „Wem kommt Würde zu?“ für Kant eigentlich als „Wem kommt Autonomie zu?“ zu lesen wäre und im Folgenden auch so gelesen werden möge, so lässt sich diese Frage durchaus auch im Rahmen der kantischen Philosophie stellen und beantworten. Die erste und naheliegende Antwort ist dann natürlich: allen vernünftigen Wesen, da diese und nur diese autonom sein können. Der Begriff der „Menschenwürde“ ist insofern im Hinblick auf Kant streng genommen insofern irreführend, da Würde nicht nur Menschen, sondern auch allen anderen Wesen – wenn es denn solche gibt – zukäme, die vernünftig und moralfähig sind. Damit taucht freilich zugleich die Frage auf, ob im kantischen Sinn alle Menschen, also alle Angehörigen der Spezies „Mensch“, autonom sind oder ob es nicht auch Menschen gibt, denen keine Autonomie zukommt. Dabei wäre zum einen etwa an einzelne Menschen zu denken, die beispielsweise aufgrund biologisch bedingter „Defizienzen“ nicht im kantischen Sinn „autonom“ sein können, zum anderen wäre an Menschen in bestimmten Entwicklungsstadien – wie dem Embryonal- oder Fötalstadium – oder Zuständen wie z. B. schwerer geistiger Verwirrung zu denken. In der Tat hat eine ganze Reihe von Autoren Kant in diesem Sinn interpretiert und daraus geschlossen, dass insbesondere ungeborene menschliche Lebewesen nicht der Status von Würdeträgern und mithin auch nicht von Wesen, denen gegenüber als „Zwecken an sich“ kategorische Pflichten gelten würden, zukomme. Eine solche Position vertreten etwa Volker Ger-
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hardt34 und Georg Geismann 35 , sie wurde aber auch bereits von dem Neukantianer Julius Ebbinghaus in den 50er Jahren verfochten.36 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Avishai Margalit, wendet dies aber kritisch gegen Kant.37 Die Auslegungen der genannten Autoren widersprechen allerdings sowohl dem Textbefund als auch der inneren Logik der kantischen Argumentation. 34 Gerhardt, Volker: Der Mensch wird geboren. Eine kleine Apologie der Humanität. München 2001. 35 Geismann, Georg: Kant und ein vermeintes Recht des Embryos. In: Kant-Studien 95 (2004), S. 4 43–469. 36 Ebbinghaus rekurriert dabei allerdings explizit nicht auf empirische Tatsachen wie ein beobachtbares Bewusstsein seiner selbst, sondern alleine auf den Begriff des vernünftigen Willens, der seiner Auffassung nach die Voraussetzung dafür ist, ein Wesen als Träger von Rechten anzusprechen. Ebbinghaus stellt die merkwürdige These auf, dass „kein Wesen, das vom Leben eines anderen Wesens im ganzen Umfange seiner Lebensmöglichkeit abhängt, einen Willen haben kann“ (Ebbinghaus, Julius: Rechtsfähigkeit des Menschen, metaphysische Embryologie und politische Psychiatrie. In: Kant-Studien 49 (1957/1958), S. 36–48; hier: S. 40). Abgesehen davon, dass diese These implizieren würde, dass alle schwerstpflegebedürftigen Menschen keine Rechte hätten, ist auch die Begründung, die Ebbinghaus dafür gibt, gänzlich unüberzeugend. Ebbinghaus begründet seine Prämisse nämlich mit dem Argument, dass ein solches Lebewesen zumindest eine Sache prinzipiell nicht wollen könne, nämlich den Tod desjenigen Wesens, von dem es abhängig sei, und zwar weil das seinen eigenen Tod bedeuten würde. Damit sei sein Wille aber nicht rein der Vernunft unterworfen, sondern hänge von der äußerlichen Bedingung ab, dass ein anderes Lebewesen existiere. Da aber nur ein rein und ausschließlich vernunftbestimmter Wille überhaupt als Wille bezeichnet werden könne, habe ein derart abhängiges Wesen a priori gar keinen Willen. Diese Begründungssequenz ist allerdings auf beinahe schon groteske Weise abwegig, denn selbstverständlich will jeder Mensch, der weiterexistieren will und dazu als leibliches Wesen auf bestimmte natürliche Bedingungen angewiesen ist, auch den Fortbestand der natürlichen Bedingungen seines Weiterexistierens. Um sein Argument aufrecht zu erhalten müsste Ebbinghaus in der Ausrichtung auf Selbsterhaltung als solcher den Grund dafür verorten, einem Vernunftwesen den Willen und damit die Rechtspersönlichkeit abzusprechen. Sofern die Selbsterhaltung aber gerade nach Kant eine aus der Vernunft fließende Pflicht gegen sich selbst bildet, ist nicht zu sehen, warum die Ausrichtung eines Wesens auf Selbsterhaltung der Vernunftbestimmtheit seines Wollens Abbruch tun sollte oder ihm deshalb sogar überhaupt kein Wille sollte zugeschrieben werden können. Nähme man Ebbinghaus’ „Begründung“ ernst, so wären mithin nur diejenigen Menschen Rechtspersonen, die nicht ihre Selbsterhaltung anstreben, mithin diejenigen, die kurz vor dem Suizid stehen. Denn diejenigen, die die Selbsterhaltung aus Pflicht gegen sich selbst anstreben, hätten nach Ebbinghaus keinen vernünftigen Willen, einfach weil sie überhaupt die Selbsterhaltung anstreben, und alle anderen hätten ebenfalls keinen vernünftigen Willen, weil sie die Selbsterhaltung nicht aus Vernunftgründen anstreben. Ebbinghaus’ Argumente kann man insofern kaum anders denn als nonsense bezeichnen. 37 Kant, so Margalit, mache die Menschenwürde an einer Reihe von Eigenschaften fest, darunter insbesondere an der Fähigkeit, moralisch zu handeln und sich frei von der Naturkausalität eigene Gesetze zu geben. Diese Eigenschaften aber besäßen, so Margalit weiter, „verschiedene Menschen in verschiedenem Maße; so gleicht etwa das Vermögen des einen als Gesetzgeber seiner selbst nicht dem eines anderen. Diese Eigenschaften kommen den Menschen in unterschiedlichen Graden zu und begründen folglich nicht, was Kant ursprünglich begründen wollte: gleiche Achtung vor allen Menschen allein aufgrund der Tatsache, dass sie Menschen sind.“ (Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt a.M. 1996 (dt.), S. 84). In dieser Passage wird deutlich, dass Margalit offenbar nicht einmal die Differenz zwischen homo noumenon und homo phaenomenon geläufig ist.
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
Kant verortet die Autonomie ja gerade nicht in konkreten Akten moralischen Handelns und der faktischen – biologischen, sozialen oder psychologischen – Befähigung dazu, sondern in der prinzipiellen Befähigung zu moralischen Handlungen, die nach Kant als eine dezidiert nichtempirische Qualität jedem Menschen eignet 38 . „Würde“ im Sinn einer notwendigen Achtung als autonomes Wesen kommt dem Menschen genau deshalb zu, weil er nach einer Seite seines Wesens homo noumenon ist, d. h. ein freies, nur der allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft unterworfenes rationales Wesen. Als homo phaenomenon, d. h. als der Naturkausalität unterworfenes und empirisch beschreibbares Sinnenwesen, besitzt er demgegenüber keine Auszeichnung gegenüber (anderen) Tieren. Homo noumenon zu sein ist demnach aber selbstverständlich keine empirische Eigenschaft, die es „in verschiedenem Maße“ oder „unterschiedlichen Graden“ gibt, sondern eine Bestimmung, die jedem Menschen als Menschen zukommt. Für die Frage nach dem Status ungeborener menschlicher Lebewesen aus kantischer Perspektive ist es dann von entscheidender Bedeutung, was unter diesem „als Mensch“ zu verstehen ist; ob also bereits Ungeborene darunter zu rechnen sind oder nicht. Für Kant selbst scheint es relativ unstrittig, dass diese Frage mit einem Ja zu beantworten ist. Ein Beleg dafür sind bereits Kants Überlegungen zum Suizid, die er mit der Bemerkung einleitet, dass ein Suizid unter Umständen nicht nur ein Verbrechen gegen die eigene Person, sondern auch eines gegen andere Personen sein könnte, nämlich genau dann, wenn es sich um den Suizid einer Schwangeren handele.39 Noch deutlicher wird Kant in der Rechtslehre, in der er fast beiläufig den Beginn des Personenstatus und der Rechtssubjektivität auf den Zeitpunkt der Zeugung festlegt: „Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und notwendige Idee, den Akt der Zeugung als solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben […] Sie [die Eltern] können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern ein Weltbürger in einen Zustand herüber gezogen, der ihnen nun nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann.“40
38 Auf diesen Umstand hebt eindringlich Wolfgang Wieland in seiner Verteidigung des bioethischen „Potentialitätsarguments“ hin (Wieland, Wolfgang: Pro Potentialitätsargument. Moralfähigkeit als Grundlage von Menschenwürde und Lebensschutz. In: Damschen, Gregor/Schönecker, Dieter (Hg.): Der moralische Status menschlicher Embryonen. Berlin 2002, S. 149–168). 39 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, Akademieausgabe Band VI, S. 422. 40 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 280 f.
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Obgleich diese Passage natürlich primär den Sinn hat, überhaupt die Verantwortlichkeit von Eltern für ihre Kinder zu begründen, vertritt Kant hier doch unbestreitbar zumindest en passant die Auffassung, menschlichen Lebewesen sei ab dem Augenblick der Zeugung Rechtspersönlichkeit zuzusprechen.41 Die Begründung dafür ist allerdings weniger trivial, als man dies auf den ersten Blick bei einer so beiläufig auftauchenden Stelle vermuten würde. Vielmehr vermag die Beiläufigkeit der Passage nicht zu verdecken, dass Kant sich hier mit einem Grundproblem seiner transzendentalphilosophischen Anthropologie konfrontiert sieht, nämlich mit dem Problem des Zusammenhangs zwischen homo phaenomenon und homo noumenon. Dieses Problem taucht hier im Gewand der Frage auf, ob und wie man sich einen Beginn der Existenz eines noumenalen Wesens in der phänomenalen Welt überhaupt denken könne. Kants Antwort darauf ist ebenso einfach wie folgerichtig: man kann sich einen solchen Beginn gar nicht denken. Folgerichtig ist diese Antwort deshalb, weil die Zeugung tatsächlich eine „physische Operation“ ist, d. h. ein natürlicher Vorgang in der phänomenalen Welt, der den Naturgesetzen, der Kausalität und den Anschauungsformen von Raum und Zeit unterworfen ist. Der homo noumenon aber, vermöge dessen allein dem Menschen Würde zukommt, steht gerade jenseits der phänomenalen Welt. Er kann daher prinzipiell nicht als ein Wesen gedacht werden, das durch einen Vorgang entstanden ist, der nach der Kategorie der Kausalität strukturiert ist und in Raum und Zeit stattfindet. Besonders wegen des Letzteren kann seine Entstehung genau genommen eigentlich nicht einmal als Entstehung gedacht werden, da jede Entstehung, jeder Vorgang überhaupt, ein zeitliches Vorher oder Nachher voraussetzt. Dementsprechend geht Kant sogar so weit, in der Fußnote zu der zitierten Passage der „Rechtslehre“ zu sagen, die Nichtunterworfenheit der noumenalen Seite des Menschen unter die Anschauungsform der Zeit lasse es im Grunde nicht einmal zu, den homo noumenon als durch Gott erschaffen zu denken. Auf der anderen Seite ist es aber evident, dass Menschen in der phänomenalen Welt nicht immer schon existieren, sondern offensichtlich entstehen und vergehen. Der Widerspruch, der sich damit ergibt, ist im Rahmen der kantischen Philosophie selbst nicht mehr theoretisch auflösbar, sondern – eine häufige Gedankenfigur bei Kant – nur noch durch eine „praktische Idee“ überbrückbar. Das geschieht, indem die Zeugung als Beginn der Existenz des noumenalen Menschen gesetzt wird. Diese Setzung ist aber, und darauf legt Kant offenbar 41 Volker Gerhardt allerdings bestreitet dies, indem er die Stelle dahingehend ausdeutet, der Embryo sei vorgeburtlich nur dann Person, wenn die Eltern ihn in einem Akt der Freiheit, der dem zur Zeugung führenden freien Akt der Liebe entspreche, als Person anerkennen würden (vgl. hierzu Gerhardt a.a.O. S. 122–127). Gerhardts Interpretation hat freilich den nicht ganz unbedeutenden Nachteil, dass sie in den Text exakt das Gegenteil dessen hineininterpretiert, was er offenkundig sagt. Sie beruht im Übrigen wesentlich darauf, Kant einen völlig unkantischen, romantisierenden Liebes- und Freiheitsbegriff zu unterschieben, wie er allenfalls bei Friedrich Schlegel zu verorten wäre.
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
großen Wert, nicht willkürlich und in das Belieben des Einzelnen gestellt, sondern, wie er betont, eine „richtige und notwendige“: eine Setzung also, die seiner Auffassung nach für jedes Vernunftwesen unabweisbar und damit auch moralisch verpflichtend ist. Die Schwierigkeit des Textes besteht nun darin, dass Kant genau dafür selbst keine weitere Begründung mehr angibt. Sie lässt sich m.E. aber zumindest ansatzweise rekonstruieren.42 Tatsächlich ist es offenbar die Abwesenheit von Entwicklungsmomenten und Vorbedingungen, die die Zeugung als den „notwendigen“ Punkt des Beginns der Existenz der Person erscheinen lässt. Da der noumenale Mensch außerhalb der Anschauungsform der Zeit steht und nicht der Naturkausalität unterworfen ist, kann seine Entstehung jedenfalls nicht als zeitliche Entwicklung gedacht werden. Jede Zäsur, der erst noch eine biologische oder soziale Entwicklung in der Zeit, z. B. vom Embryo zum Fötus oder vom ungeborenen zum geborenen Menschen, vorausgeht, scheidet damit aus. Da die Geltung der Menschenwürde als einer transzendentalen Größe weiterhin nicht von empirischen Bedingungen – wie Hirntätigkeit, extrauteriner Lebensfähigkeit usw. – abhängig sein kann, die per definitionem der phänomenalen Welt angehören, muss weiterhin der Punkt des Anfangs hinsichtlich empirischer Bedingungen so bedingungs- und voraussetzungslos wie nur möglich sein bzw. es muss die Bedingung der Geltung der Menschenwürde, wenn es denn eine gibt, nach Möglichkeit nichtempirischer Art sein. Der einzige Vorgang der phänomenalen Welt, auf den aber beide Kriterien gleichzeitig zutreffen, ist die Zeugung. Die Zeugung ist erstens trotz ihrer gewissen zeitlichen Erstreckung ein Vorgang, dem keine natürliche Entwicklung in zeitlicher Perspektive vorausgeht. Sie ist ein Ereignis, das eine unhintergehbare Diskontinuität markiert, nämlich die zwischen Existenz und Nichtexistenz eines menschlichen Lebewesens. Zweitens gilt für die Festlegung bei der Zeugung, dass keine empirischen Sachverhalte wie Hirntätigkeit oder extrauterine Lebensfähigkeit die Vorbedingung für die Geltung der Menschenwürde bilden, sondern allein das Menschsein als solches. Bei diesen Überlegungen gilt es allerdings immer zu beachten, dass sie für das Problem des Lebensanfangs keine theoretische Auflösung geben – denn eine solche ist im Rahmen der kantischen Philosophie nicht möglich –, sondern nur eine praktische, gleichsam „transzendentalpragmatische“ Überbrückung des Problems bieten. Gleichwohl hat diese Überbrückung im Rahmen des kantischen Ansatzes den Charakter einer „notwendigen Idee“ und ist damit für ein Vernunftwesen, das auf die Bedingungen seiner eigenen Existenz reflektiert, nicht abweisbar.
Die folgenden Überlegungen stellen den Vorschlag einer Rekonstruktion von Kants Argument dar und finden sich in dieser Form nicht im kantischen Text. 42
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VII. Menschenwürde zwischen Moral und Recht 1. Die Rechtsidee als Veräußerlichung des Kategorischen Imperativs Auf der Basis des im vorangehenden Kapitel Entwickelten wird es in den abschließenden Kapiteln möglich sein, erste kritische Anmerkungen zu den zeitgenössischen öffentlichen Diskursen über den Menschenwürdebegriff, ebenso wie zur „herrschenden Meinung“ der Verfassungsrechtsdogmatik, zu formulieren. Dazu ist es allerdings zunächst noch notwendig, das Verhältnis von Ethik, Moral und Recht in der Praktischen Philosophie in seinen Grundzügen in den Blick zu nehmen. Der wichtigste Grund dafür liegt so klar auf der Hand, dass es kaum erforderlich scheint, ihn noch gesondert zu benennen: Da gerade in Kants praktischer Philosophie die Unterscheidung von Moral und Recht eine zentrale Rolle spielt, bedarf jede Erörterung des kantischen Menschenwürdebegriffs, die sich auf den Kontext des Rechts bezieht, einer Untersuchung der Frage, wie sich der Begriff systematisch zu jener Unterscheidung verhält. Ohne diese Frage zu klären, ist es mithin offensichtlich unmöglich, Rolle und Bedeutung des Menschenwürdebegriffs als eines Rechtsbegriffs angemessen zu erfassen. Darüber hinaus gibt es aber noch einen weiteren, eher äußerlichen Grund, sich mit jener Frage zu befassen; dieser Grund liegt in der von einigen Autoren geäußerten These, der Menschenwürdebegriff sei bei Kant überhaupt nur ein moralischer Begriff, der alleine Tugendpflichten gegen sich selbst und gegen andere zum Thema habe, nicht aber Rechtspflichten. So leitet etwa Dietmar von der Pfordten aus dem Umstand, dass der Würdebegriff von Kant nur in der Tugend-, nicht aber in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“ erwähnt wird, ohne weitere Umstände her, dass Kant „der Menschenwürde keinerlei Bedeutung in Recht und Politik zuerkannt“ 43 habe. Noch einen Schritt weiter geht Georg Lohmann, der die Menschenwürde alleine der Moralsphäre zuordnet und ihn explizit von der Rechtssphäre abscheidet: „Kant hat den Begriff der Selbstgesetzgebung von der politischen Philosophie Rousseaus in den Bereich der Moral importiert, aber seine Bestimmung von Würde hat mit ‚Rechte haben‘ und Rechtspflichten nichts zu tun, sondern verbleibt allein im Bereich der vernünftigen moralischen Selbstbestimmung.“44
43 „Zum Schluss bleibt die Frage: Warum taucht der Begriff der Menschenwürde ins Kants Schriften zur Rechtsphilosophie und zur politischen Philosophie überhaupt nicht auf? Warum hat Kant also der Menschenwürde keinerlei Bedeutung in Politik und Recht zuerkannt?“ (von der Pfordten, Dietmar: Zur Würde des Menschen bei Kant, in: von der Pfordten, Dietmar: Menschenwürde, Staat und Recht bei Kant. Fünf Untersuchungen. Paderborn 2009, S. 9 –26; hier: S. 17). 44 Lohmann, Georg: Menschenwürde als „Basis“ von Menschenrechten, in: Joerden, Jan C./Hilgendorf, Eric/ Thiele, Felix (Hg.): Handbuch Menschenwürde und Medizin. Berlin 2013, S. 179–194; hier: S. 185.
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
Bei Lohmann hat diese Aussage freilich einen klaren strategischen Grund, versucht Lohmann doch, den Menschenwürdebegriff in eine diskurstheoretische politische Philosophie und Rechtsphilosophie à la Habermas und Arendt einzubauen, nach der alle rechtlichen Regelungen letzten Endes das Ergebnis von faktischen Konsensen zwischen Individuen mit verschiedenen empirischen Interessen seien. Deutlich wird das, wenn Lohmann schreibt: „Das moderne Recht ist aber nicht mehr von absoluten Rechtsquellen her (Gott/Natur/ Vernunft) zu denken, sondern ist gemachtes, von der Rechtsgemeinschaft selbst gesetztes Recht.“45
Geht man von einer solchen Theorie aus, so ist weder eine apriorische Bestimmung eines Rechtsprinzips und daraus sich ergebender Grundrechte, noch eine Verankerung des Menschenwürdegedankens in einem starken transzendentalphilosophischen Autonomieverständnis möglich. Der transzendentalphilosophische Autonomiebegriff Kants muss daher von Lohmann in einen politischen Autonomiebegriff im Sinn der Partizipation an demokratischen Willensbildungsprozessen „rückübersetzt“ werden: der Gedanke der vernünftigen Selbstgesetzgebung soll durchgestrichen und durch den Gedanken einer auf der empirischen Ebene angesiedelten politischen Selbstgesetzgebung einer Rechtsgemeinschaft ersetzt werden. Verfolgt man ein solches Ansinnen, so ist es natürlich argumentationsstrategisch praktisch unerläßlich zu bestreiten, dass der in einem starken transzendentalphilosophischen Autonomiekonzept verankerte kantische Menschenwürdebegriff überhaupt für Recht und Politik relevant sei. Denn mit diesem Bestreiten werden Recht und Politik von einem transzendentalphilosophischen Autonomieverständnis gewissermaßen „freigeräumt“ und damit Platz für einen diskurstheoretisch reduzierten, politischen Autonomiebegriff geschaffen. Lohmann deutet denn auch den Menschenwürdebegriff konsequent im Sinn eines Konzepts der Partizipation an realen politischen Entscheidungsprozessen um. Für die Menschenwürde bleibt dann nur die Funktion übrig, im Hinblick auf die politische Gesetzgebung einer Gemeinschaft dafür zu bürgen, so Lohmann, „als Mitglied in einer Rechtsgemeinschaft mit allen anderen die allgemeine Gesetzgebung zu bewerkstelligen und dazu in den doppelten Rollen als Autor und als Adressat mit allen anderen gleichgestellt zu sein. ‚Menschenwürde‘ bedeutet, dass die Fähigkeit, Mitglied in diesem Gesetzgebungsprozess in beiden Rollen zu sein, niemandem abgesprochen wird.“46
Diese Reduktion der Menschenwürde auf ein Recht auf politische Partizipation widerspricht nun aber einerseits Lohmanns eigener Aussage, die Menschenwürde bilde die Basis aller Menschenrechte47 und nicht bloß der politischen Partizi Lohmann a.a.O. S. 187. Lohmann a.a.O. S. 188. 47 Vgl. Lohmann a.a.O. S. 190: „Entscheidend ist zunächst, dass die republikanisch inter45
46
VI. Die Träger der Würde bei Kant – Wem kommt Würde zu?
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pationsrechte. Und andererseits wird, streicht man den starken transzendentalphilosophischen Autonomiebegriff durch, völlig unklar, worin eigentlich der Geltungsgrund der Forderung nach Anerkennung als gleichberechtigtes Glied einer politisch souveränen Rechts- und Legislativgemeinschaft bestehen soll. Ungeachtet des evidentermaßen argumentationsstrategischen Hintergrunds von Lohmanns Bestreitung einer rechtlichen Relevanz des Menschenwürdebegriffs bei Kant muss freilich auf die Frage, die er und von der Pfordten aufwerfen, geantwortet werden. Diese Antwort ist nur möglich im Rahmen einer Bestimmung des Verhältnisses der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zur „Rechtslehre“, die allerdings im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur insofern gegeben werden kann, wie es für das Verständnis der rechtlichen Dimension des Menschenwürdebegriffs unbedingt notwendig ist.48 Dafür ist es sinnvoll, sich zunächst Kants Formulierungen des Rechtsprinzips vor Augen zu führen. Deren erste lautet: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“49
Unmittelbar im Anschluss daran beschreibt Kant dieselbe Überlegung mit leicht veränderten Worten, wobei er diese in Anführungszeichen setzt, um zu signalisieren, dass er sich gewissermaßen nur selbst zitiert: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür des einen mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.“50
Wesentlich für den Bereich der Praxis, der „Recht“ genannt wird, ist damit zweierlei: zum einen, dass das Recht das äußere Verhältnis von Personen zueinander regelt, also nicht die Gründe und Motive des Handelns betrifft, sondern alleine das Handeln selbst, sofern Handlungen einer Person als raumzeitliche Ereignisse auf andere Personen kausal einwirken. Kant spricht das unmissverständlich aus, wenn er sagt: pretierte, rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde alle Menschenrechte umfasst, d. h. nicht nur die klassischen subjektiven Freiheitsrechte und juridischen Teilnahmerechte als Abwehrrechte gegen staatliche Willkür und die sozialen Teilhaberechte auf ein Minimum an menschenwürdigem Leben, sondern auch die politischen Teilnahmerechte.“ 48 Zu der umfangreichen Debatte über das Verhältnis von Recht und Moral bei Kant vergleiche ansonsten etwa die Arbeiten von Ludwig, Bernd: Kants Rechtslehre. Hamburg 1988; Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit – Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie. Berlin 1984; Dreier, Ralf: Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants. In: Ders.: Recht – Moral – Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt a.M. 1981, S. 286–315; Kaulbach, Friedrich: Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode. Würzburg 1982 (insbes. S. 135–169) und Geismann, Georg: Recht und Moral in der Philosophie Kants. In: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 3 –124. 49 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 230. 50 Kant a.a.O. Band VI, S. 230.
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„Der Begriff des Rechts betrifft […] nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können.“51
Zum Zweiten ist für das Recht charakteristisch, dass es nicht die Freiheit als vernünftige Selbstgesetzgebung, sondern die Willkürfreiheit des Einzelnen betrifft, d. h. dass es das Verhältnis der Willkürfreiheiten einer Pluralität von Subjekten zueinander regelt und damit überhaupt erst dem einzelnen Subjekt Willkürfreiheit ermöglicht: nämlich indem es ihm eine Sphäre zuweist, in der es seine Willkürfreiheit ohne Einwirkung der Willkürfreiheit der anderen Subjekte betätigen kann. Durch diese doppelte Fokussierung – auf äußeres Handeln und auf Willkürfreiheit – wird ein eigener Bereich des Rechts konstituiert, der von der Moral unterscheidbar ist, ohne jedoch auf eine Grundlegung in der Moral verzichten zu können. Georg Geismann bringt diesen Umstand treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: „Im Falle des Rechts als eines Problems speziell der Rechtslehre stellt sich dem Menschen ein moralisches Problem eigener Art. Es geht darin nicht um die Frage, wie er sein Wollen bestimmen, welchen inneren Gebrauch er also von seiner Willkür machen, welche Zwecke er sich setzen, nach welchen Maximen er handeln soll; ja, es geht nicht einmal um die weite Frage, welchen äußeren Gebrauch er von seiner Willkür überhaupt machen soll. Dies sind lauter Fragen, die sich etwa für Robinson Crusoe bereits stellen (können), wenn er noch ganz allein auf ‚seiner‘ Insel ist. Die Frage aber, die sich für ihn als Rechtsproblem stellt, ergibt sich erst mit der Möglichkeit der Ankunft eines Freitag, damit freilich unausweichlich.“52
Während es also bei der Moral um die Frage nach der inneren Selbstbestimmung des eigenen Wollens aus reiner praktischer Vernunft geht, geht es beim Recht um die Regelung der Willkürfreiheit im Verhältnis verschiedener Subjekte zueinander, und zwar insofern, als diese Willkürfreiheit sich in raumzeitlichen Handlungen manifestiert. Diese Differenzierung führt dazu, die Charakteristika des Rechts noch präziser bestimmen zu können. Entscheidend für das Recht ist nämlich eine Aufspaltung zwischen der inneren, auf vernünftige Autonomie bezogenen Handlungsmotivation und der äußeren „Form“ der Handlung. Um das Erfordernis der Konformität mit dem Rechtsprinzip – Kant redet hier in der Regel von „Legalität“ – zu erfüllen, ist es nicht erforderlich, dass die Handlung53 aus Pflicht erfolgt, sondern nur, dass sie so beschaffen ist, dass sie ihren äußerlichen Merkmalen nach den Kriterien der Verallgemeinerbarkeit und Widerspruchsfreiheit genügt. Wenn Kant mithin davon redet, dass es beim Recht le Kant a.a.O. Band VI, S. 230. Geismann a.a.O. S. 16 f. 53 Unter „Handlung“ wird hier sowohl Tun, als auch Unterlassen verstanden, sofern es intentional erfolgt. Da das Recht in der kantischen Bestimmung die Abgrenzung von Sphären der Handlungsfreiheit zum Gegenstand hat, wird es sich bei den „Handlungen“, von denen hier die Rede ist, im Regelfall um bestimmte Unterlassungen handeln. 51
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VI. Die Träger der Würde bei Kant – Wem kommt Würde zu?
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diglich um die äußere Form, nicht aber um die Materie des Handelns geht, so ist damit gemeint, dass die äußere Handlung genau diejenigen Bestimmungen aufweisen muss, die sie aufweisen würde, wenn sie aus Pflicht erfolgen würde. Aber ob sie aus Pflicht erfolgt oder aus einem anderen Motiv heraus – das in der Regel das Motiv der Furcht vor Bestrafung sein wird –, spielt für das Recht keine Rolle. Und genau der Umstand, dass diese Frage für das Recht keine Rolle spielt, ist das, was das Recht ausmacht und es von demjenigen Teil der praktischen Philosophie unterscheidet, der in der Tugendlehre verhandelt wird. An dieser Stelle ließe sich nun allerdings einwenden, dass eine solche „Veräußerlichung“ des Kategorischen Imperativs unplausibel sei, da mittels des Kategorischen Imperativs ja nicht Handlungen, sondern Handlungsmaximen auf ihre widerspruchsfreie Universalisierbarkeit hin geprüft werden, dass es also unmöglich sei, von Handlungen die Prädikate der Universalisierbarkeit bzw. der Nichtuniversalisierbarkeit auszusagen. Dieser Einwand lässt allerdings unberücksichtigt, dass mit der Verschiebung des Blickfelds von der Handlungsmotivation auf die Handlung selbst auch das Prüfverfahren verändert wird. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, was genau bei der Prüfung der Frage, ob eine Handlung dem Kriterium der „Legalität“ genügt, eigentlich geprüft wird. Geprüft wird nämlich nicht die immanente Widerspruchsfreiheit bei Verallgemeinerbarkeit einer Maxime, sondern es existiert ein spezieller äußerer Maßstab, im Hinblick auf den die Prüfung der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit unternommen wird: nämlich der Maßstab der Ermöglichung gleicher Willkürfreiheit. Was dadurch dann in den Blick kommt, sind bestimmte Klassen oder Arten von Handlungen wie etwa Diebstahl, Mord oder Betrug. Hinsichtlich dieser wird die Frage gestellt, ob die allgemeine rechtliche Zulassung von Handlungen der betreffenden Art damit vereinbar ist, dass jedem Mitglied der Rechtsgemeinschaft erstens überhaupt eine eigene Sphäre der Willkürfreiheit zukommt, und zweitens, dass ihm ein gleiches Maß an Willkürfreiheit zukommt. Man kann sich diesen Punkt leicht anhand des Diebstahls verdeutlichen. Dabei soll von einer Situation ausgegangen werden, in der ein Subjekt A stiehlt, um sich zu bereichern. Wird die Frage nach der Zulässigkeit dieses Diebstahls in moralischer Hinsicht, d. h. anhand des Kategorischen Imperativs geprüft, so wird man feststellen, dass die Maxime, dann zu stehlen, wenn man sich bereichern möchte, nicht widerspruchsfrei verallgemeinerbar ist. Denn der Dieb würde ja das Eigentum eines anderen Subjekts missachten, um den gestohlenen Gegenstand in sein Eigentum zu bringen. Er würde also eine Institution, hier die des Eigentums, zugleich verletzen und in Anspruch nehmen54 , was offen54 Anderes würde für einen hypothetischen „Proudhon’schen Dieb“ gelten, der nicht stiehlt, um sich selbst das Gestohlene anzueignen, sondern um die Institution des Eigentums selbst zu Fall zu bringen. Diesem könnte kein Selbstwiderspruch für den Fall einer Verallgemeinerung seiner Handlungsmaxime nachgewiesen werden. Bemerkenswerterweise ließe
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
kundig widersprüchlich ist. Führt man die Prüfung in dieser Weise durch, so ist evident, dass dazu auf die Maxime Bezug genommen werden muss, die der Handlung des Diebstahls zugrunde liegt. Das Verbot des Diebstahls ist auf dieser Ebene ein moralisches Verbot, das sich als solches an den Handelnden selbst wendet und von diesem verlangt, sich im Einklang mit der eigenen Vernünftigkeit zu verhalten. Anders sieht dies aus, wenn nicht die Moralität, sondern die Legalität von Handlungen der Klasse bzw. Art „Diebstahl“ untersucht wird. Bei dieser Untersuchung nämlich wird überprüft, ob die Etablierung einer Regel, die den Diebstahl erlauben würde, damit vereinbar wäre, dass jedem Mitglied der Rechtsgemeinschaft die gleiche grundlegende äußere Handlungsfreiheit zugestanden wird, dass sich der Begriff der äußeren Handlungsfreiheit also nicht aufhebt, wenn die betreffende Regel eingeführt wird. Dabei ließen sich prinzipiell wiederum zwei Formen einer solchen Zulassung des Diebstahls denken. Einmal könnte der Diebstahl nur einer bestimmten Gruppe von Personen erlaubt werden. In diesem Fall wäre auf den ersten Blick erkennbar, dass ein solches Gesetz nicht mit dem Rechtsprinzip vereinbar ist, da damit einer Gruppe von Personen mehr Rechte zugestanden würden als der anderen Gruppe. Eine Gruppe G1 von Personen nämlich dürfte über das Eigentum der anderen Gruppe G2 verfügen, während Mitglieder von G2 nicht über das Eigentum der Mitglieder von G1 verfügen dürften. Zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen würde also per positivem Gesetz eine rechtliche Asymmetrie auf der formalen Ebene der Zuteilung der Freiheitssphären etabliert, die als solche gegen das Kriterium der Allgemeinheit verstoßen würde, das für alle dem Rechtsprinzip konformen Gesetze gefordert ist. Komplizierter stellt sich die Sachlage für den Fall eines positiven Gesetzes dar, das allen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft den Diebstahl erlauben würde. Ein solches Gesetz würde dem Kriterium der Allgemeinheit prima facie durchaus genügen. Die Folge eines solchen Gesetzes wäre allerdings, dass sich die Unterschiede der natürlichen Begabung, seien es physische Stärke, Geschicklichkeit oder Klugheit, unmittelbar in asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft niederschlagen würden. Es gäbe mithin kein Eigentum mehr, sondern nur noch Besitz, genauer gesagt: bloß vorübergehenden Besitz, der immer nur so lange bestünde, bis ein Stärkerer käme. Denn der Stärkere könnte dem Schwächeren jederzeit seinen Besitz gewaltsam streitig machen, so dass zwischen dem Starken und dem Schwachen ein Verhältnis entstünde, bei dem die äußere Handlungsfreiheit F1 des Starken die äußere Handlungsfreiheit F2 des Schwachen in einem anderen Maß einschränsich gegen einen solchen Dieb, wie in den folgenden Abschnitten gezeigt wird, aber immer noch das Rechtsprinzip in Anschlag bringen. Es tut sich an dieser Stelle mithin die interessante Perspektive auf, dass es offenbar Handlungen geben kann, die nach Kant nicht unmoralisch, aber trotzdem illegal sind.
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ken würde, als die äußere Handlungsfreiheit F2 des Schwachen die äußere Handlungsfreiheit F1 des Starken einschränkt. Auch in diesem Fall würde das Gesetz, das den Diebstahl erlaubt, also, obgleich es in einer gewissen Hinsicht „allgemein“ genannt werden kann, doch dem Kriterium der Allgemeinheit in einer anderen Hinsicht nicht genügen: in der Hinsicht nämlich, dass es faktisch erlauben würde, dass die wechselseitigen Einschränkungen der Handlungsfreiheit nicht einer symmetrischen Regel folgen, sondern sich aus der natürlichen Verteilung von Stärken und Schwächen ergeben würden. Die Gewährleistung äußerer Handlungsfreiheit nach allgemeingültigen Regeln in einer aus einer Mehrzahl verschiedener Subjekte bestehenden Gemeinschaft würde durch ein derartiges Gesetz also negiert. Wie dieses Beispiel zeigt, ist der Maßstab der Universalisierbarkeit also durchaus nicht nur auf subjektive Handlungsmaximen anwendbar, sondern kann auch an Klassen oder Arten von Handlungen angelegt werden. Das setzt aber voraus, dass der Universalisierbarkeitsmaßstab nach einer äußerlichen Seite genommen wird, und zwar als Maßstab der Vereinbarkeit miteinander der äußeren Handlungsfreiheit(en) einer Vielzahl handelnder Subjekte nach einem allgemeinen Gesetz. Wolfgang Kersting hatte insofern mit seiner vielfach kritisierten Aussage, dass das Rechtsprinzip kein kategorischer Imperativ sei55 , in gewisser Hinsicht durchaus recht, denn der Kategorische Imperativ hat eben das einzelne Subjekt in seinem persönlichen praktischen Entscheiden und Handeln zum Adressaten, während das Rechtsprinzip ein Verfahren darstellt, das dazu dient, die Vereinbarkeit von Handlungsarten (Mord, Diebstahl, Hilfe in Not etc.) mit der gleichen und allgemeinen äußeren Handlungsfreiheit für jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft zu prüfen. Wenn das Rechtsprinzip mithin überhaupt so etwas wie einen konkreten Adressaten hat, dann ist dieser Adressat der Gesetzgeber und damit diejenigen Personen, die einzeln oder als Gruppe dazu legitimiert sind, für ein bestimmtes Gemeinwesen positives Recht zu setzen. Es eröffnet sich an dieser Stelle also die Perspektive auf so etwas wie eine genuine „Ethik der Gesetzgebung“, die niemand anderen als den Gesetzgeber in seiner Rolle als Gesetzgeber zum Adressaten hat. Der Gesetzgeber nämlich wird durch das Rechtsprinzip selbst unmittelbar verpflichtet, bei seiner Ausgestaltung des Rechts dem Rechtsprinzip inhaltlich zu entsprechen. Auf diese Perspektive einer „Ethik der Gesetzgebung“ wird später noch einmal in einem anderen Zusammenhang zurückzukommen sein.56
55 Kersting, Wolfgang: Neuere Interpretationen der Kantischen Rechtsphilosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 282–298; hier: S. 290. Eine fundierte Kritik an der von Kersting daraus z.T. gefolgerten weitgehenden Entkopplung von Kategorischem Imperativ und Rechtsprinzip hat Hariolf Oberer vorgetragen (Oberer, Hariolf: Rezension zu Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. In: Kant-Studien 77 (1986), S. 119 ff.). 56 Vgl. Kapitel 6, III (S. 272–278).
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
2. Menschenwürde, Autonomie und Rechtsidee Der Punkt, der für das Verhältnis von Menschenwürde und Rechtsprinzip zentral ist, liegt nun allerdings darin, dass der Kategorische Imperativ trotz des Umstandes, dass er im Rechtsprinzip in einer veräußerlichten und auf „äußeres“ Handeln bezogenen Form auftritt, dennoch die Grundlage auch des Rechtsprinzips bildet, ja bilden muss. Dass dem kantischen Rechtsprinzip der Gedanke der Verallgemeinerbarkeit zu Grunde liegt, ist offenkundig. Angewandt auf die äußere Handlungsfreiheit bedeutet dieser Gedanke, dass das Handeln von Individuen aufeinander, das in äußerer Handlungsfreiheit erfolgt, auch dann nicht selbstwidersprüchlich sein darf, wenn allen Individuen einer Gemeinschaft gleiche äußere Handlungsfreiheit zugebilligt wird. Ein solcher Widerspruch läge jedenfalls dann vor, wenn in normativer Hinsicht allen Individuen uneingeschränkte Handlungsfreiheit zugestanden würde. Eine Norm, die für jedes einzelne Individuum aus einer Vielzahl von Individuen uneingeschränkte äußere Handlungsfreiheit vorsehen würde, lässt sich überhaupt nicht denken, da äußere Handlungen unter den Randbedingungen der phänomenalen Welt für ein Subjekt immer nur möglich sind, wenn und indem Handlungen anderer Subjekte nicht vollzogen werden. Jedem Individuum in normativer Hinsicht uneingeschränkte Handlungsfreiheit zuzusprechen würde daher bedeuten, jedem Individuum das Recht zuzusprechen, die Handlungsfreiheit aller anderen Individuen aufzuheben. Einem Individuum kann also nur dann eine uneingeschränkte äußere Handlungsfreiheit zugesprochen werden, wenn zugleich allen anderen Individuen jede äußere Handlungsfreiheit abgesprochen wird. Eine Norm, die mehr als einem Individuum uneingeschränkte äußere Handlungsfreiheit zuspricht, ist folglich logisch unmöglich, weil diese Norm jedem dieser Individuen zugleich die absolut uneingeschränkte Handlungsfreiheit und gar keine Handlungsfreiheit zusprechen würde. Eine Norm uneingeschränkter äußerer Handlungsfreiheit für alle, oder genauer gesagt für mehr als ein Individuum, würde sich mithin selbst aufheben. Eine derartige Selbstaufhebung fände allerdings nicht statt, wenn nur einem Individuum oder wenn den Individuen ein je unterschiedliches Maß an allgemeiner Handlungsfreiheit zugeteilt würde. Aus dem Widerspruch, der im Gedanken uneingeschränkter Handlungsfreiheit für alle Individuen liegt, lässt sich das kantische Rechtsprinzip mithin noch nicht vollständig herleiten. Es bedarf der Ergänzung um ein weiteres grundlegendes Moment des Kategorischen Imperativs, die in der „Reich-der-Zwecke-Formel“ am ehesten greifbar wird: nämlich demjenigen, dass ein praktisches Prinzip nur dann vernunftgemäß genannt werden kann, wenn es bei der gleichen Anwendung auf alle Vernunftwesen nicht widersprüchlich und damit denkunmöglich wird. Wenn das richtig ist, beruht das Rechtsprinzip aber auf der impliziten Voraussetzung, dass in einem Rechtssystem alle vernünftigen Subjekte in gleicher Weise berücksichtigt wer-
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den müssen, d. h. zum einen, dass sie überhaupt alle „zählen“ und dementsprechend jedes vernünftige Subjekt einen Anspruch auf äußere Handlungsfreiheit hat. Zum zweiten, dass alle vernünftigen Subjekte in gleicher Weise zählen. Ohne die Zusatzvoraussetzung eines Anspruchs aller vernünftigen Subjekte auf gleiche Berücksichtigung würde ein Widerspruch im Begriff einer uneingeschränkten äußeren Handlungsfreiheit, der im Rechtsprinzip dann zu ihrer Einschränkung nach einem allgemeinen Gesetz führt, überhaupt nicht bestehen. Hätte nämlich nur ein Individuum einen Anspruch auf Handlungsfreiheit, alle anderen aber nicht, so wäre das Zugestehen absolut uneingeschränkter Handlungsfreiheit – eben an dieses eine Individuum – natürlich ohne weiteres widerspruchsfrei denkbar: einem Individuum würde dann uneingeschränkte Handlungsfreiheit zugesprochen und allen anderen Individuen keine. Undenkbar wird eine Norm uneingeschränkter Handlungsfreiheit mithin nur, wenn man davon ausgeht, dass es zum einen überhaupt eine Pluralität von vernünftigen Subjekten gibt und dass zweitens jedes Subjekt aus dieser Pluralität den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung seiner äußeren Handlungsfreiheit hat. Wenn das aber der Fall ist, muss die Frage gestellt werden, worauf jener Anspruch beruht, der doch offenbar die unabdingbare Voraussetzung des Rechtsprinzips ist. Ruft man sich die weiter oben vorgeschlagene Rekonstruktion der Grundlagen der praktischen Philosophie Kants ins Gedächtnis, so kann die Antwort auf diese Frage nur lauten, dass jener Anspruch auf der wechselseitigen Achtung vernünftiger Subjekte als vernünftiger Subjekte beruht, der genau deshalb, weil er sich alleine auf die autonome praktische Vernunft bezieht, nur als strikt symmetrischer Anspruch gedacht werden kann. Ebendiese vorgängige gleiche Achtung vernünftiger Subjekte für sich selbst und für andere vernünftige Subjekte ist es aber, die Kant mit dem Begriff der „Menschenwürde“ zum Ausdruck bringt. Wenn das aber der Fall ist, dann lässt es sich nicht sinnvoll bestreiten, dass der Gedanke der Würde des Menschen nicht alleine in der Tugendlehre eine Rolle spielt, in der er unmittelbare Anwendung findet, sondern auch die Grundlage der Rechtslehre bildet. Pointiert könnte man dementsprechend sagen, dass die kantische Rechtsidee aussagt, was der Menschenwürdebegriff für das Recht bedeutet: nämlich die wechselseitige, symmetrische Garantie der äußeren Handlungsfreiheit einer Pluralität vernünftiger Subjekte nach allgemeinen Gesetzen. Genau das wäre dann auch der normative Gehalt der Menschenwürde, soweit sie als Prinzip und Geltungsgrund des Rechts fungiert. Nun könnte man gegen diese Fundierung der Rechtsidee im Menschenwürdebegriff einwenden, dass diejenige „Achtung“, auf die das Konzept der Menschenwürde abzielt, ja gerade nicht der äußeren Willkürfreiheit57, sondern eben 57 Diese Festlegung auf die Willkürfreiheit soll keineswegs besagen, dass die äußere Handlungsfreiheit immer Willkürfreiheit ist, denn selbstverständlich kann eine äußere Handlung auch aus Pflicht erfolgen. Für das Recht ist es aber charakteristisch, dass es die äußere Handlungsfreiheit auch und gerade da schützt, wo sie nicht aus Pflicht erfolgt, sondern Willkürfrei-
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der Autonomie gilt. Dieser Einwand, so er denn vorgebracht würde, missversteht aber, auf welcher Ebene die Fundierung des Rechtsprinzips in Würde und Autonomie vernünftiger Subjekte genau ansetzt. In der Tat ist es richtig, dass die Achtung, die der Menschenwürdebegriff zum Ausdruck bringt, der Autonomie als Fähigkeit gilt, sich und andere Vernunftwesen als Vernunftwesen zu achten und entsprechend dieser Achtung zu handeln. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass die Autonomie auch dasjenige ist, was durch eine den Forderungen der praktischen Vernunft konforme allgemeine Regel geschützt wird. Autonomie ist vielmehr der Grund dafür, dass Handlungsmaximen – wie im Bereich der Tugendlehre – oder Handlungsregeln – wie im Bereich der Rechtslehre – dem Kriterium der Allgemeinheit genügen müssen. Wenn etwa der Diebstahl zum Zweck persönlicher Bereicherung als unvereinbar mit dem Kategorischen Imperativ erwiesen wird, so bedeutet dies nicht, dass der Diebstahl deshalb unzulässig wäre, weil er die Fähigkeit des Bestohlenen zur vernünftigen Selbstgesetzgebung beeinträchtigen würde; die je eigene Autonomie kann vielmehr nur ein Akteur selbst beeinträchtigen, in diesem Fall der Dieb. Dennoch widerspricht der Diebstahl dem Autonomieprinzip auch im Hinblick auf den Bestohlenen, dies allerdings auf eine andere Weise: sie widerspricht ihm insofern, als Autonomie der Geltungsgrund der Achtung jedes vernünftigen Subjekts als eines „Zwecks an sich“ ist und sich aus dem „Zweck an sich“-Charakter wiederum die Pflicht ergibt, sich selbst und andere nur solchen Gesetzen zu unterwerfen, die dem Kriterium der Allgemeinheit und Wechselseitigkeit genügen. Die Forderung, dass alle Handlungsregeln, die für vernünftige Subjekte in Geltung gebracht werden, dem Kriterium der Allgemeinheit entsprechen, resultiert also aus dem Autonomieprinzip deshalb, weil, wie weiter oben gesehen, alle nichtallgemeinen und nichtwechselseitigen Handlungsregeln mit dem in der Autonomie gründenden „Zweck an sich“-Charakter vernünftiger Subjekte unvereinbar und damit selbst unvernünftig wären. Dementsprechend ergibt sich aus dem Prinzip der wechselseitigen Achtung vernünftiger Subjekte als vernünftiger Subjekte genau derjenige Anspruch auf die gleiche Berücksichtigung aller vernünftigen Subjekte, der für die Rechtsidee konstitutiv ist. Freilich ist dabei immer zu beachten, dass die Rechtsidee nicht wie der Kategorische Imperativ den Einzelnen zum Adressaten hat, in dessen Handlungsmaxime gegebenenfalls ein Selbstwiderpruch aufgewiesen würde. Adressat ist stattdessen eine Gemeinschaft vernünftiger Subjekte, die als solche durch eine vorgängige symmetrische Anerkennung jedes praktisch-vernünftigen Subjekts als praktisch-vernünftiges Subjekt durch jedes andere praktisch-vernünftige heit ist. Diese Gleichgültigkeit des Rechts gegenüber dem Motiv der Handlung ist es gerade, was das Recht ausmacht. Da eine unbedingte Achtung von autonomen Handlungen aus Pflicht aber von vornherein unproblematisch ist, wird im Folgenden nur die problematischere Frage verfolgt, in welchem Verhältnis der Schutz der Willkürfreiheit zum Menschenwürdeprinzip steht.
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Subjekt konstituiert ist. Charakteristisch für diese Anerkennung ist, dass sie nicht, wie in der individuellen moralischen Prüfung der Handlungsmaximen mittels des Kategorischen Imperativs, durch das einzelne praktisch-vernünftige Subjekt bewusst vollzogen werden muss. Vielmehr lässt sie sich reflexiv aus dem Begriff der Autonomie als Selbstgesetzgebung rückerschließen, und zwar in der Weise, in der dies weiter oben geschehen ist. Diese reflexive Rückerschließung des Anerkennungsprinzips aus dem Begriff praktischer Vernunft hat ebenso apriorischen Charakter wie der Kategorische Imperativ selbst. Eben weil sie aber nicht das einzelne moralische Subjekt zum Adressaten hat, sondern gewissermaßen das Prinzip des vernunftgemäßen Zusammenlebens einer Pluralität von moralischen Subjekten darstellt58 , folgt, dass auch denjenigen Personen, die die Anerkennung anderer Personen als Subjekte von Rechten und Pflichten faktisch verweigern (z. B. indem sie Akte des Diebstahls oder Mordes begehen), die also mithin nicht im moralischen Sinn autonom handeln, legitimerweise rechtliche Regeln auferlegt werden dürfen. Sie müssen die Anerkennung des anderen nicht für sich selbst innerlich vollzogen haben, um Regelungen unterworfen werden zu dürfen, die sie dazu zwingen, sich so zu verhalten, als ob sie jene Anerkennung vollzogen hätten. Auch aus einer anderen Perspektive heraus lässt sich die spezifische Stellung des Rechtsprinzips gegenüber dem Menschenwürdeprinzip noch näher beleuchten, nämlich aus dem Kontrast von Autonomie und Heteronomie. Wie wir weiter oben gesehen haben, bildet Autonomie im Rahmen der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ sowohl die normative Grundlage der Achtung jedes moralischen Subjekts als eines moralischen Subjekts – d. h. dasjenige, was den Achtungsanspruch begründet –, wie auch deren normativen Gehalt. Das Rechtsprinzip ist demgegenüber dadurch charakterisiert, dass es gleichgültig dagegen ist, ob eine Handlung bzw. Unterlassung aus Pflicht erfolgt, d. h. autonom im starken kantischen Sinn ist, oder aus Neigung. Allerdings gilt zugleich auch, dass Handlungen einer Person A auf eine Person B, die mit dem Prinzip gleicher wechselseitiger Freiheit unvereinbar sind, für B, dessen äußere Handlungsfreiheit solcher Art ungerechtfertigt eingeschränkt wird, immer den Charakter der Heteronomie aufweisen. Denn B wird durch das Handeln von A nichts anderem als den partikularen, privaten Zwecksetzungen von A unterworfen; B wird also im eigentlichen Sinn als „Mittel zum Zweck“ der Realisierung von A’s Zielen und Plänen behandelt. Eine solche Form der Heteronomie, in der ein Subjekt einem anderen Subjekt seine partikularen Zwecksetzungen und Lebenspläne aufzwingt, könnte man „äußere Heteronomie“ nennen. Obwohl sich diese Distinktion bei Kant nirgendwo ganz explizit findet, könnte man demgegenüber diejenige Heteronomie, die sich aus der Unterworfenheit unter die eigenen Kant nennt die Rechtsidee folgerichtig auch ein „Postulat“ (vgl. Kant a.a.O. Band VI, S. 231). 58
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Neigungen und Triebe ergibt, „innere Heteronomie“ nennen. Wichtig ist nun, dass beide Formen der Heteronomie dem Autonomieprinzip und damit letzten Endes dem Gedanken der Menschenwürde widersprechen. In dem einen Fall wird Heteronomie durch das Handeln eines anderen Subjekts realisiert, im anderen Fall durch eigenes Handeln. Charakteristisch für die Sphäre des Rechts ist dann, dass es die reduzierte Zweckbestimmung hat, lediglich „äußere Heteronomie“ durch andere Subjekte abzuwenden, nicht aber diejenige, Autonomie im starken kantischen Sinn zu garantieren. Das Recht nimmt von daher gewissermaßen eine Zwischenstellung ein, die möglich wird, weil Autonomie und Heteronomie keinen kontradiktorischen, sondern nur einen konträren Gegensatz bilden. Da, wo äußere Heteronomie abgewehrt wird, ist noch lange nicht Autonomie gegeben, sondern eben nur die Negation von äußerer Heteronomie, die als solche noch keineswegs ausreicht, um Autonomie sicherzustellen. Gleichwohl widerspricht nicht nur die innere, sondern auch die äußere Heteronomie dem Autonomieprinzip. Dietmar von der Pfordten ist dementsprechend uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er sagt: „Kant kennzeichnet zum Beispiel die Verpflichtung ‚ehrbar zu leben‘ (honeste vive) als Rechtspflicht. Diese Aussagen wären unverständlich, wenn der Rechtsbegriff mehr oder anderes bedeuten würde, als eine bestimmte Perspektive auf das Vernunftgesetz, die von der alleinigen Funktion des Sittengesetzes als Triebfeder der Handlung abstrahiert.“59
Aus dem Gesagten ergibt sich im Übrigen weiterhin, dass das für das Recht charakteristische Erzwingen rechtmäßigen Handelns dem Autonomieprinzip keineswegs widerspricht, da unter der Bedingung einer Pluralität praktisch-vernünftiger Subjekte die wechselseitige gleiche Einschränkung der Handlungsfreiheit dasjenige ist, was die Vernunft fordert, wenn zumindest äußere Heteronomie verhindert werden soll. Diese Folgerung wird später noch für die Frage relevant sein, ob Notwehr bzw. Notwehrhilfe und Strafe überhaupt als Verletzungen des Rechtsprinzips und damit mutatis mutandis des Menschenwürdegedankens betrachtet werden können. Die hier angestellten Überlegungen zeigen, dass die kantische Rechtsidee trotz aller gegenläufigen Behauptungen eben doch auf dem Kategorischen Imperativ und somit auch auf dem Autonomie- bzw. Menschenwürdeprinzip aufbaut und ohne beide nicht denkbar ist. Denn ohne den Kategorischen Imperativ und die in der Autonomie fundierte Menschenwürde wäre es überhaupt nicht verständlich zu machen, warum die Zuteilung uneingeschränkter Handlungsfreiheit an ein Subjekt bei gleichzeitiger Aufhebung der Handlungsfreiheit aller 59 von der Pfordten a.a.O S. 39. Die zitierte Aussage von der Pfordtens ist insofern bemerkenswert, als er damit seine eigene Aussage, der Menschenwürdebegriff sei für die Rechtslehre irrelevant, implizit zurücknimmt – ist das von ihm erwähnte „Vernunftgesetz“ doch nichts anderes als der im Kategorischen Imperativ praktisch werdende Grundsatz der Achtung autonomer Vernunftwesen sich selbst und anderen autonomen Vernunftwesen gegenüber.
VIII. Ein Zwischenfazit: Kant und die Anerkennung als Rechtssubjekt
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anderen Subjekte überhaupt ein Problem wäre. Die Forderung, dass die Einschränkung der Handlungsfreiheit wechselseitig, gleich und symmetrisch erfolgen soll, ist überhaupt nur aus dem Gedanken der gleichen wechselseitigen Achtung vernünftiger Subjekte als vernünftiger Subjekte aufgrund ihrer Autonomie erklärbar. Diese Gedankenfigur wiederum resümierte Kant, wie wir gesehen haben, mit dem Ausdruck „Menschenwürde“. Der damit aufgezeigten Verknüpfung zwischen Menschenwürdebegriff und Recht entspricht in einer anderen Perspektive, dass das Rechtsprinzip den normativen Ausschluss einer bestimmten Form von Heteronomie gewährleistet, nämlich der äußeren Heteronomie: einer Heteronomie also, die als solche der Autonomie nicht weniger widerspricht als die innere Heteronomie, wenn auch der Ausschluss äußerer Heteronomie eben deshalb, weil er nicht zugleich auch die innere Heteronomie überwindet, noch nicht ausreicht, um auch Autonomie im strengen Sinn zu garantieren. Vor diesem Hintergrund wird dann auch klar, warum der Menschenwürdebegriff in der Tugendlehre immer wieder auch ganz explizit auftaucht, während er in der Rechtslehre praktisch unerwähnt bleibt. Grund hierfür ist einfach der Umstand, dass der Menschenwürdebegriff mit dem Autonomiebegriff in unmittelbarer Weise verknüpft ist, es aber um Autonomie im strikten kantischen Sinn nur in der Tugendlehre und nicht in der Rechtslehre geht. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der von Kant mittels des Menschenwürdebegriffs resümierte Autonomiebegriff in der skizzierten Weise notwendige Voraussetzung auch der Rechtsidee ist: eine Voraussetzung, ohne die die Rechtsidee unverständlich wäre und ohne Fundament dastehen würde.
VIII. Ein Zwischenfazit: Kant und die Anerkennung als Rechtssubjekt 1. Menschenwürde und Rechtspflichten Mit der kantischen Konzeption eröffnet sich dem Menschenwürdebegriff endgültig die Dimension der Pflichten gegen andere, wie sie für das Recht, aber auch für viele Bereiche moralischen Handelns charakteristisch ist. Wie im Durchgang durch die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ gesehen, beruht dies auf einem starken Begriff von Autonomie als Selbstgesetzgebung, der, vermittelt über den Gedanken der Verallgemeinerbarkeit, den Gehalt des Kategorischen Imperativs ausmacht, zugleich aber auch dessen Geltungsgrund bildet. Der Begriff der „Würde des Menschen“ hat dabei die spezifische Funktion, diejenige Achtung zum Ausdruck zu bringen, die jedem vernünftigem Subjekt als vernünftigem Subjekt zusteht. Diese Achtung wiederum stellt in Kants Ansatz den speziellen Fall eines gewissermaßen „apriorischen Gefühls“ dar, d. h.
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eines Gefühls, das zwar einerseits als Gefühl subjektiver Natur ist, das andererseits aber nicht aus den Neigungen oder Trieben des Empfindenden resultiert, sondern aus sich heraus die Antwort der Achtung fordert und das insofern allgemein und notwendig genannt werden kann. Kant greift damit, wie unschwer zu erkennen ist, eine Grundstruktur des alltagssprachlichen wie des philosophisch-theologischen Würdebegriffs auf. In der Verwendung des Begriffs der „Würde“, so hatten wir gesehen, verknüpfen sich stets die Momente eines bestimmten, meist sozial vermittelten, positiv evaluierten Selbstverständnisses mit der normativen Forderung, sich der Würde gemäß zu verhalten. Primär richten diese Forderungen sich an den Träger jener „Würde“, sekundär existieren aber auch Forderungen an alle anderen Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft und verpflichten sie darauf, sich dem „Würdenträger“ gegenüber angemessen zu verhalten. Indem diese Grundstruktur der Würdebegriffs bereits bei Cicero auf die dem Menschen eignende Vernunftnatur bezogen wird, bildet sich ein spezifischer Begriff der „Würde des Menschen“ heraus, der gewisse normative Forderungen aus der allen Menschen gemeinsamen Vernunftnatur selbst herleitet. Während diese Forderungen in der Antike und weitgehend auch im Mittelalter sich in Pflichten eines vernünftigen Subjekts gegen sich selbst erschöpfen, findet bei Kant dann eine Ausweitung des Würdebegriffs auf alle Pflichten statt, die vernünftige Subjekte gegenüber vernünftigen Subjekten haben. Entscheidend für die hier zu beobachtende Ausweitung ist Kants Vertiefung des Begriffs praktischer Vernunft. In dem Moment, in dem die praktische Vernunft nicht mehr nur eine Art „Hilfsmittel“ zur Ermittlung eines teleologisch vorgegebenen Guten ist, sondern selbst zum Grund und Gehalt der für Vernunftwesen geltenden Normen wird, brechen die Schranken in sich zusammen, die die Menschenwürde bis dahin auf den Bereich der Pflichten gegen sich selbst festgelegt hatten. Die im Menschenwürdebegriff artikulierte Achtung ist nun nicht mehr alleine die Achtung eines Vernunftwesens gegenüber sich selbst als Vernunftwesen, sondern weitet sich auf das Verhältnis verschiedener Vernunftwesen zueinander aus. Jedem dieser autonomen Subjekte tritt mithin der Anspruch entgegen, sowohl sich selbst wie auch alle anderen autonomen Subjekte als autonome Subjekte und „Zwecke an sich“ zu achten. Der Begriff der Menschenwürde aber hat die Funktion, eben diesen Achtungsanspruch zu artikulieren. Was aus dem Anspruch, sich selbst und alle anderen vernünftigen Subjekte als autonome Vernunftwesen und „Zwecke an sich“ zu achten, in praktischer Hinsicht folgt, lässt sich zunächst einfach mittels der Universalisierbarkeitsformel des Kategorischen Imperativs angeben: Was der Universalisierbarkeitsforderung nicht genügt, widerspricht auch der „Zweck an sich“-Bestimmung jedes vernünftigen Subjekts und dem Prinzip der vernünftigen Selbstgesetzgebung. Der grundlegenden Struktur nach ist damit bereits diejenige Funktion theoretisch eingeholt, die sich als die zentrale Funktion des rechtlichen Menschenwür-
VIII. Ein Zwischenfazit: Kant und die Anerkennung als Rechtssubjekt
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debegriffs identifizieren ließ, wie er sich in nationalen und internationalen Rechtstexten niedergeschlagen hat. Diese Funktion besteht darin, jeder Person einen unbedingten Anspruch gegenüber allen anderen Personen auf Anerkennung als Rechtssubjekt und Träger von Menschenrechten zu garantieren. Der Menschenwürdebegriff stellt also da, wo er in Verfassungs- und Deklarationstexten positivrechtlich vorkommt, immer zugleich eine überpositive Bestimmung dar, die die Grundlage des Rechts überhaupt thematisiert: die Achtung jedes vernünftigen Subjekt als eines lebendigen Gegenübers von Rechten und Pflichten. Dementsprechend bildet er die Scharnierstelle zwischen dem positiven Recht, in diesem Fall dem Verfassungsrecht, und dessen überpositiver Begründung. „Menschenwürde“ bezeichnet insofern dann auch kein spezielles Recht, dem spezifische Verletzungstatbestände entsprechen könnten. Sie ist als Prinzip und Geltungsgrund des Rechts in der Tat „unantastbar“, und zwar nicht im Sinne einer normativen Forderung „Taste die Menschenwürde nicht an!“, sondern weil sie gar nicht auf derselben logisch-systematischen Ebene angesiedelt ist wie Rechte, die verletzt, oder Pflichten, die missachtet werden könnten. Verletzt werden können lediglich diejenigen Rechte und Pflichten, die aus der Menschenwürde als Prinzip der Normativität resultieren. Wenn man demnach mutatis mutandis doch von „Menschenwürdeverletzungen“ redet, so kann dies nichts anderes bedeuten, als dass ein Recht oder eine Pflicht verletzt werden, die aus dem Prinzip der Menschenwürde qua Autonomie und Selbstzwecklichkeit resultieren. In diesem Sinn ist dann aber jegliche Handlung, die gegen den Kategorischen Imperativ, gleich in welcher Formel er genommen wird, verstößt, eine Menschenwürdeverletzung. So wäre, wenn man Kants Argumentation gegen den Suizid ernst nimmt, beispielsweise auch der Suizid als Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, oder auch jede Lüge eine Menschenwürdeverletzung. Eine Einschränkung dieses weiten Feldes der Menschenwürdeverletzungen ergibt sich allerdings für den spezifisch rechtlichen Gebrauch des Menschenwürdebegriffs daraus, dass das Recht lediglich einen kleinen, durch eine Form der Veräußerung des Autonomiegedankens gekennzeichneten Bereich der möglichen Pflichten von vernünftigen Subjekten betrifft und abdeckt: den Bereich nämlich der Sicherung der Handlungsfreiheit von Subjekten gegeneinander. Es kann daher gerade im Rahmen von Kants Praktischer Philosophie eine Vielzahl von „Menschenwürdeverletzungen“ geben, die für das Recht völlig irrelevant sind. So wäre etwa der Fall, dass der Mitarbeiter einer Firma einer Kollegin Blumen schenkt, nur um beider Chef zu beeindrucken, zweifelsohne als Verstoß gegen die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs eine Menschenwürdeverletzung im obigen Sinn des Ausdrucks. Zugleich handelt es sich aber um eine Menschenwürdeverletzung, die nur die Moral, nicht aber das Recht betrifft, weil die Schenkungshandlung keine Beeinträchtigung der äußeren Handlungsfreiheit der Betroffenen darstellt und darum das Prädikat der moralischen Falschheit hier auch nur von der innerlichen
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Motivation des Täters ausgesagt werden kann. Schließlich gilt dann aber auch, dass jede Verletzung eines Rechts eines Subjekts, ganz gleich ob diese Rechtsverletzung vom Staat, einem anderen Subjekt oder einer Korporation ausgeht, immer auch eine „Menschenwürdeverletzung“ ist, da jede Rechtsverletzung die Nichtachtung des anderen als Träger von Rechten impliziert.
2. Der Kategorische Imperativ und Dürigs „Objektformel“ Vor diesem Hintergrund erweist sich nun auch die gängige, über Günter Dürig60 vermittelte Kant-Rezeption der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik als ein gravierendes Missverständnis der kantischen Theorie. Wie wir uns erinnern, hatte Dürig gewissermaßen zwei Ebenen von Menschenwürdeverletzungen unterschieden. Einmal gilt ihm die Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte. Er schreibt: „Durch Abs. II des Art. 1 wird zunächst (in der Erkenntnis, dass ein genereller, auf Achtung der Menschenwürde gerichteter Anspruch kaum vollziehbar ist) dieser Gesamtanspruch in einzelne ‚Menschenrechte‘ aufgelöst. Das ist zunächst ein rein gesetztechnischer Formalvorgang ohne materielle Auswirkungen.“61
Diese Aussage impliziert zweifellos, dass der normative „Anspruch“, der vom Menschenwürdebegriff ausgeht, durch die Menschenrechte eingelöst wird. Die Menschenwürde wird nach Dürig also durch die Gesamtheit der Menschenrechte garantiert und geschützt. Geht man allerdings davon aus, so bedeutet dies, dass jede Verletzung eines Menschenrechts immer eine Verletzung der Menschenwürde darstellt und zugleich die Menschenwürde auch nicht anders verletzt werden kann als dadurch, dass ein Menschenrecht verletzt wird. Diese These wurde im 2. Kapitel als die prinzipialistische These bezeichnet. Wie im 2. Kapitel ebenfalls gesehen, bleibt Dürig dabei aber nicht stehen, sondern versucht Art. 1 GG mithilfe der „Objektformel“ zusätzlich noch direkt juristisch operabel zu machen. Nach der Objektformel stellen dann nur solche Menschenrechtsverletzungen auch Menschenwürdeverletzungen dar, die zusätzlich dazu, dass sie Menschenrechtsverletzungen sind, noch eine bestimmte Modalität aufweisen, nämlich die Modalität der „Instrumentalisierung“ oder „Objektivierung“: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“62 Wie der weitere Kontext dieser Aussage zeigt, ist Dürig offensichtlich der Auffassung, dass nicht jede Menschenrechtsverletzung die Modalität der „Objektivierung“ bzw. „Instrumentalisierung“ aufweise, führt er doch 60 Vgl. Dürig, Günter: Kommentar zu Art. 1 GG. In: Maunz, Theodor/Dürig, Günter u. a.: Grundgesetz. Kommentar (Stand 1958). München 1958, Rn. 1–58, S. 1–26. 61 Dürig a.a.O. Rn. 6 . 62 Dürig a.a.O. Rn. 28.
VIII. Ein Zwischenfazit: Kant und die Anerkennung als Rechtssubjekt
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im Anschluss an die „Objektformel“ explizit eine Reihe von seiner Auffassung nach gravierenden Menschenrechtsverstößen an, bei denen er jene Modalität verwirklicht sieht. Das bedeutet im Umkehrschluss – und so wurde Dürig in der Tat auch immer rezipiert –, dass nicht jede Menschenrechtsverletzung jene Modalität aufweist, sondern eben nur bestimmte Menschenrechtsverletzungen. Damit setzt Dürigs Theorie der Menschenwürdeverletzung zugleich ein weites Kriterium M1 (jede Verletzung eines Menschenrechts) und ein enges Kriterium M 2 (nur Menschenrechtsverletzungen, die eine bestimmte zusätzliche Modalität aufweisen) zur Definition desselben Begriffs an. Das führt zu dem Widerspruch, dass dieselbe Handlung nach Dürigs Theorie zugleich den Charakter einer Menschenwürdeverletzung haben und nicht haben kann. Eine Menschenwürdeverletzung, die – was nach Dürig ja möglich sein soll – nicht die Modalität der Objektivierung bzw. Instrumentalisierung aufweist, wäre nach Kriterium M1 eine Menschenwürdeverletzung, nach Kriterium M 2 aber keine. Dürigs Dogmatik der Menschenwürdeverletzung erweist sich demnach als logisch widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit ist allerdings nicht auf Dürig beschränkt; sie ist vielmehr bei jedem verfassungsrechtlichen Ansatz gegeben, der die Menschenwürde als etwas konzipiert, das zugleich das Prinzip der Menschenrechte und ein spezifisches Recht mit eigenen Verletzungstatbeständen (wie z. B. der Folter) neben und über den „weiteren“ Menschenrechten sein soll. Abgesehen von ihrer inneren Widersprüchlichkeit, widerspricht Dürigs Theorie aber auch dem Befund, den wir durch die Rekonstruktion des kantischen Menschenwürdebegriffs gewonnen haben, auf den Dürig sich mit der Objektformel doch so offensichtlich bezieht. Wie gesehen, bildet das Konzept der Menschenwürde, wie Kant es entwickelt, zum einen den Geltungsgrund der Rechte und Pflichten, die gegenüber anderen und gegenüber sich selbst gelten. Zum anderen bildet es qua Selbstzwecklichkeit und Universalisierbarkeit das inhaltliche Prinzip dieser Rechte und Pflichten. Es ist darum auch nicht möglich, die Menschheitsformel so auszulegen, als ob sie auf ein spezifisches Recht abzielen würde, „nicht als bloßes Mittel zum Zweck benutzt“ oder „nicht als Objekt behandelt“ zu werden, das gleichsam neben und über den weiteren Menschenrechten bestünde. Vielmehr gilt, dass ein Mensch bei jeder Verletzung einer moralischen oder rechtlichen Pflicht, die ihm gegenüber besteht, als „bloßes Mittel zum Zweck“ benutzt bzw. „als bloßes Objekt behandelt wird.“ Diese Aussage ist insofern analytisch, als die gleichberechtigten Prüfkriterien dafür, ob eine Handlung eine Pflichtverletzung darstellt, ja gerade die verschiedenen Formeln des Kategorischen Imperativs sind, zu denen eben auch die „Zweck an sich“-Formel gehört. Eine Handlung stellt also genau dann eine Pflichtverletzung dar, wenn der Handelnde selbst oder ein anderes Subjekt durch diese Handlung als „bloßes Mittel zum Zweck“ behandelt, d. h. in seiner Subjektivität nicht geachtet wird. Was den Bereich des Rechts angeht, ist das wiederum immer genau dann der Fall, wenn ein Menschenrecht verletzt wird; jede Men-
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
schenrechtsverletzung verletzt mithin den Imperativ „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“63 , und zwar weil jede Menschenrechtsverletzung bedeutet, dass der davon Betroffene nicht als autonomes Subjekt geachtet wird. Eine Verletzung der Menschenwürde bildet dementsprechend der Diebstahl ebenso wie die Folter, der Genozid ebenso wie der Betrug. Gerade in der Hinsicht, Verstöße gegen die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs und damit Menschenwürdeverletzungen zu sein, unterscheiden diese Handlungen sich nicht. 64 Kant macht das an einer zentralen Stelle der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ im Übrigen selbst unmissverständlich deutlich, wenn er schreibt: „Deutlicher fällt dieser Widerstreit gegen das Princip anderer Menschen in die Augen, wenn man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und Eigenthum anderer herbeizieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der Übertreter der Rechte der Menschen sich der Person anderer bloß als Mittel zu bedienen gesonnen sei, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie, als vernünftige Wesen, jederzeit zugleich als Zwecke, d.i. nur als solche, die von eben der selben Handlung auch in sich müssen den Zweck enthalten können, geschätzt werden sollen.“65
Nimmt man diese Aussage Kants ernst, so ist die bei Dürig und der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik bis heute zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen den vermeintlich abwägbaren einzelnen Grundrechten und einem vermeintlich unabwägbaren „Menschenwürderecht“ nicht aufrechtzuerhalten. Denn als negative Pflichten sind im Rahmen der kantischen Theorie alle Rechtspflichten „vollkommene“ Pflichten, die als solche ausnahmslos gelten und jeder denkbaren Abwägung entzogen sind. Mithin sind von Kant her gesehen auch durchgehend alle Abwehrrechte eines Menschen unabwägbar. Die Würde des Menschen, wie Kant sie versteht, bildet insofern immer auch das Prinzip und den Grund des Deontologischen selbst an einer streng deontologisch gedachten Ethik und Rechtslehre: Sie begründet und beschreibt im Rahmen der kantischen Moralphilosophie den Umstand, dass alle Pflichten gegenüber Menschen kategorisch gelten und alle Rechte von Menschen kategorisch zu respektieren sind, sie liefert aber selbst keine spezifische Pflicht und kein spezifisches Recht. Vielmehr begründet und normiert sie als eine Art Meta-Norm gerade die Unabwägbarkeit jeglicher Rechtspflichten und mithin die Unantastbarkeit jeglicher ihnen korrespondierender Rechte. Gegen die „spezifisch-rechtliche“ Auslegung der Menschenwürdegarantie sprechen also nicht alleine deren innere Widersprüchlichkeit und deren kontraintuitive Folgen, wie sie vor allem im 2. Kapitel dieser Arbeit aufgezeigt wurden, sondern auch der Rückgang auf die philoso63 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Band IV, S. 429 64 Wohl aber, wie in Kapitel 6, IV (S. 278–307) gezeigt werden wird, in anderer Hinsicht. 65 Kant a.a.O. Band IV, S. 430.
VIII. Ein Zwischenfazit: Kant und die Anerkennung als Rechtssubjekt
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phisch sicherlich anspruchsvollste und am weitesten ausgearbeitete Konzeption der Menschenwürde, wie sie sich in Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ findet. Und das in doppelter Hinsicht: einmal, indem aufgezeigt werden kann, dass diejenige Kant-Rezeption, auf die die spezifisch-rechtliche Lesart zurückgeht, offensichtlich von einem grundlegenden Missverständnis der praktischen Philosophie Kants geprägt ist; zum anderen aber auch, weil gezeigt werden kann, dass Kants Konzeption der Menschenwürde mit einigen Modifikationen durchaus geeignet ist, die Rolle der Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte, wie sie uns in den einschlägigen Rechtstexten entgegentritt, theoretisch einzuholen. Damit ist allerdings nur erst eine der beiden als zentral identifizierten Funktionen des rechtlichen Menschenwürdebegriffs theoretisch eingeholt. Die zweite Rolle, als absolute deontologische Grenze der Abwägbarkeit von Rechten gegeneinander zu fungieren, scheint noch nicht eingeholt oder jedenfalls nicht in der Art und Weise, in der sie von der Rechtsdogmatik gedacht ist. Statt nämlich angeben zu können, wo die Grenze der Abwägbarkeit und Einschränkbarkeit von Rechten liegt, sind wir mit Kants Theorie unversehens zu dem Schluss gelangt, dass alle Rechte, die ein Mensch hat, als unabwägbar und uneinschränkbar betrachtet werden müssen und jede Abwägung oder Einschränkung von Rechten somit normativ unzulässig wäre. Diese Schlussfolgerung scheint aber sowohl einem zentralen Dogma der gegenwärtigen Verfassungsrechtslehre, als auch verbreiteten moralischen Intuitionen zu widersprechen. So dürfte es etwa eine durchaus verbreitete Intuition sein, dass eine Einschränkung des Eigentumsrechts zur Rettung eines Menschenlebens auf jeden Fall legitim wäre, und die Strafrechtsdogmatik sieht in Form des sogenannten „rechtfertigenden Notstands“ derartige Abwägungen auch explizit vor. So scheint die Rekonstruktion des kantischen Menschenwürdekonzepts uns unversehens in ein Dilemma geführt zu haben. Im Rahmen der prinzipialistischen Lesart des Menschenwürdebegriffs scheinen sich in der Tat nur zwei gleichermaßen problematische Theorie-Alternativen zu bieten: nämlich entweder mit Kant alle Grund- bzw. Menschenrechte als unabwägbar anzunehmen; oder aber die Menschenwürde zwar als Prinzip und Geltungsgrund dieser Rechte zu verstehen, die einzelnen Rechte aber gegen Kant als prinzipiell „antastbar“ und je nach Umständen und Folgen relativier- und abwägbar. Man wird sicherlich nicht ganz falsch liegen, wenn man in diesem vermeintlichen Dilemma das wesentliche Motiv für das anhaltende Unbehagen einer Mehrzahl von Juristen (und mittlerweile auch einiger Philosophen) an der prinzipialistischen Lesart der Menschenwürdegarantie und für die vergleichsweise Attraktivität der spezifisch-rechtlichen These sieht. Tatsächlich ist die dargelegte Alternative aber natürlich nicht zwangsläufig. Es spricht prima facie nichts dagegen, die Menschenwürde nicht als Moment der Unabwägbarkeit generell aller Rechte und Pflichten zu begreifen, sondern vielmehr als Moment der Unabwägbar-
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4. Kapitel: Der Begriff der Menschenwürde bei Kant
keit einer anhand des Menschenwürdebegriffs selbst bestimmbaren Teilmenge von grundlegenden Rechten, allen voran des Lebensrechts. Wenn – in einem Schritt, der natürlich über Kant hinausgehen müsste – gezeigt werden könnte, dass die den Menschenrechten zugrunde liegende Logik der Menschenwürde es notwendigerweise impliziert, dass einige der Menschenrechte, aber nicht alle, als unabwägbar und nichteinschränkbar zu denken sind, dann würde es möglich, die Menschenwürdegarantie widerspruchsfrei als Prinzip und Grund der Menschenrechte überhaupt, wie auch als Grund der Unabwägbarkeit einiger Menschenrechte zu denken. Ein Vorschlag für eine solche Theorie soll im 6. Kapitel entwickelt werden. Zunächst soll allerdings im folgenden Kapitel die weitere Entwicklung des kantischen Konzepts der wechselseitigen Achtung vernünftiger Subjekte füreinander, wie sie für das Recht grundlegend ist, zum Begriff der Anerkennung in der Rechtsphilosophie Fichtes nachgezeichnet werden. Diese Erörterung hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen erlaubt Fichtes Ansatz es, die Fundierung rechtlicher Normativität in einer wechselseitigen Anerkennung von Personen als Rechtssubjekten noch klarer herauszuarbeiten, als das bei Kant der Fall ist, bei dem der Zusammenhang zwischen Rechtsidee, Kategorischem Imperativ, Autonomie- und Menschenwürdeprinzip erst mühevoll rekonstruiert werden musste. Zum anderen geht Fichte insofern einen wesentlichen Schritt über Kant hinaus, als er zu zeigen versucht, dass und warum das Bewusstsein der eigenen Subjektivität und das Bewusstsein der Subjektivität anderer Subjekte nicht voneinander trennbar sind. Fichte entwirft damit nichts weniger als die erste transzendentalphilosophische Theorie der Intersubjektivität. Er wirft die Frage auf, warum es überhaupt jene Pluralität von Subjekten gibt, die bei Kant noch einfach vorausgesetzt wird, wie diese Subjekte miteinander verbunden sind und welche Konsequenzen der transzendentalphilosophische Grund der Pluralität von Subjekten für die Rechtsidee hat. Damit gibt Fichte der Rechtsidee eine Grundlegung, die weit über die spärlichen Anmerkungen Kants zu dieser Frage hinausreicht. Schließlich bildet Fichtes Rechtslehre auch den Ausgangspunkt dafür, ein Kriterium der Unterscheidung zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten zu entwickeln.
5. Kapitel
Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts „Audiatur et altera pars.“ (Rechtsgrundsatz)
I. Der Begriff der Anerkennung Im vorangehenden Kapitel wurde der kantische Begriff der „Würde des Menschen“ sowohl nach seinem Gehalt als auch nach seiner systematischen Stellung innerhalb der praktischen Philosophie Kants untersucht. Da die vorliegende Studie der Frage gewidmet ist, ob und inwieweit der Menschenwürdebegriff als Rechtsbegriff tauglich ist und was es bedeutet, ihn als Rechtsbegriff zu nehmen, wurde dabei dem Verhältnis von Menschenwürdegrundsatz und Rechtsidee bei Kant besonderes Augenmerk geschenkt. Stark verkürzt lassen sich zwei Ergebnisse der Untersuchung festhalten: Erstens hat sich gezeigt, dass der Begriff der „Menschenwürde“ zum Ausdruck bringt, dass autonomiefähigen Wesen eine bestimmte Form der Achtung gebührt, deren praktische Konsequenzen in den verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs greifbar werden. Autonomie ist dabei, wie ebenfalls gezeigt werden konnte, sowohl der Grund der Achtung, die jedes autonome Wesen jedem anderen autonomen Wesen und sich selbst entgegenzubringen aufgefordert ist, wie sie auch den normativen Gehalt dieser Achtung in Form des Universalisierungsprinzips bestimmt. Im Menschenwürdebegriff spricht sich insofern aus, was das Verhältnis von Subjekten zu Subjekten vom Verhältnis von Subjekten zu Objekten unterscheidet. Während das praktische Verhältnis von Subjekten zu Objekten durch die Zweck-Mittel-Relation gekennzeichnet ist, ist das praktische Verhältnis von Subjekten zueinander das einer an Vernunftgründen orientierten kommunikativen Begegnung von einander als frei und gleich achtenden Vernunftwesen. Dieses besondere Verhältnis hat sich sodann auch als grundlegend für die Rechtsidee erwiesen, die Kant in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“ konzipiert, da nur auf der Basis dieses Verhältnisses sich die Allgemeinheit und Gleichheit, die für die Rechtsidee konstitutiv sind, theoretisch einholen lassen. Obgleich Kant den Menschenwürdegrundsatz in der Rechtslehre nicht explizit heranzieht, lässt sich daher doch mit guten Gründen sagen, dass die Rechtsidee zum Ausdruck bringt, was der Menschenwürdegrundsatz für den Bereich des
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
Rechts bedeutet. Unter „Recht“ wird dabei derjenige Teil der Normativität verstanden, der das Verhältnis zwischen verschiedenen Subjekten unter dem Gesichtspunkt der Ermöglichung und Wahrung ihrer äußeren Handlungsfreiheit betrifft. Als noch problematisch oder jedenfalls lückenhaft haben sich in diesem Zusammenhang aber die folgenden Punkte erwiesen: Zum einen setzt Kant die Pluralität von Subjekten, die ja für das Recht grundlegend ist, einfach voraus. Dass endliche Subjektivität immer in Form einer Vielzahl von verschiedenen Subjekten auftritt, wird weder hergeleitet, noch spielt die Frage nach dem Grund jener Pluralität eine Rolle bei der Aufstellung des Rechtsprinzips. Zum Zweiten tut sich bei Kant noch eine Lücke zwischen dem Kategorischen Imperativ und dem Rechtsprinzip insofern auf, als der Kategorische Imperativ Handlungsmaximen beurteilt und aus der Prüfung von deren Verallgemeinerbarkeit auf die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der intendierten Handlung schließt, das Rechtsprinzip als veräußerlichte Form des Kategorischen Imperativs aber direkt Handlungen zum Gegenstand der normativen Bewertung hat. Dadurch weist das Rechtsprinzip den Vorteil der Unabhängigkeit von der innerlichen Handlungsmaxime auf, gerade dies kann aber, wie das Gedankenexperiment des „Proudhon’schen Diebes“1 verdeutlicht, dazu führen, dass die normative Bewertung mittels des Kategorischen Imperativs und die normative Bewertung mittels des Rechtsprinzips nicht mehr deckungsgleich sind. Dieser Umstand zeigt, dass hinsichtlich des Verhältnisses von Verallgemeinerbarkeitsprinzip und Rechtsidee noch weiterer Klärungsbedarf besteht. Ein Ansatz, auf die beiden damit im Raum stehenden Fragen zu antworten, findet sich in Johann Gottlieb Fichtes „Grundlagen des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“, die bereits 1796, also noch ein Jahr vor Kants „Rechtslehre“ erschienen sind. Das Originelle und Charakteristische an Fichtes Ansatz liegt in dem Umstand, dass Fichte die Pluralität der Subjekte nicht einfach voraussetzt, um dann die Rechtsidee daran äußerlich anzuschließen. Stattdessen geht es Fichte darum, das Gebot der Einschränkung der eigenen Freiheit um der Ermöglichung der Freiheit aller Subjekte willen um eine tiefere Begründungsdimenson zu erweitern, indem er zu zeigen versucht, dass bereits die Konstitution eines individuellen, endlichen, aber gleichwohl freien Subjekts als Subjekt nur unter der Bedingung der Intersubjektivität denkbar ist. Gelänge diese Herleitung, so wäre gezeigt, dass das Bewusstsein der jeweils eigenen Freiheit und eigenen Subjektivität und das Bewusstsein der Freiheit und Subjektivität aller anderen Subjekte gleichursprünglich sind. Damit wäre zugleich ein wesentlicher Schritt über Kant hinaus getan, da nun deutlich würde, warum ein einzelnes Subjekt sich nicht nur der eigenen Autonomie, sondern auch fremder Autonomie bewusst ist. Ein solches Bewusstsein davon, dass es auch andere Vgl. Kapitel 4, Fn. 54.
1
I. Der Begriff der Anerkennung
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autonome Vernunftwesen gibt, ist aber offenkundig die Voraussetzung dafür, dass die anderen Vernunftwesen aufgrund ihrer Autonomie geachtet und ihr gemäß behandelt werden. Fichtes Ansatz hat so den Vorzug, das Bewusstsein der Existenz fremder Autonomie mit der normativen Forderung nach einer Achtung der Freiheit des anderen zu verschränken und so das Verallgemeinerungsprinzip auf eine Grundlage zu stellen, die bei Kant noch nicht in den Blick kommt: Die Gleichursprünglichkeit des Bewusstseins der eigenen Subjektivität und der Subjektivität der anderen ist es – so Fichtes zentraler Gedanke – die sich auf der normativen Ebene in die Forderung übersetzt, sich im praktischen Verhältnis zu den anderen an den Prinzipien der Gleichheit und Allgemeinheit auszurichten. Damit kommt ein neuer Grundbegriff der praktischen Philosophie ins Spiel, der seit Fichte den Kernbestand zahlreicher ethischer, sozial- und rechtsphilosophischer Theorien bildet, nämlich der Begriff der Anerkennung. Seine eigentliche „Karriere“ hat dieser Begriff in den vergangenen gut 200 Jahren seit seiner ersten Ausformulierung zweifelsohne im Anschluss an das „Herr-Knecht“-Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ in der Sozialphilosophie gemacht, wo er, etwa bei Axel Honneth 2 , nach wie vor einen wichtigen Platz einnimmt. Honneth und die an ihn anschließenden Autoren verstehen unter „Anerkennung“ allerdings gerade nicht in erster Linie das, was Fichte und Hegel darunter verstehen, nämlich einen Begriff, dessen Thema eine transzendentalphilosophische Explikation der Genese von endlicher Subjektivität aus der Intersubjektivität ist. Der Anerkennungsbegriff Honneths und seiner Schule ist demgegenüber in erster Linie ein empirisch-sozialpsychologischer Begriff, bei dem es weniger um die Bedingungen der Möglichkeit endlicher Subjektivität überhaupt, als vielmehr um die wechselseitige Bestätigung des Selbstwertgefühls der verschiedenen Akteure eines sozialen und rechtlichen Gefüges geht. Dementsprechend werden die Unterschiede zwischen der für die Konstitution endlicher Subjektivität wesentlichen wechselseitigen Anerkennung vernünftiger Wesen als Rechtssubjekte und der wechselseitigen Bestätigung des empirischen Selbstwertgefühls von Honneth fast durchgängig verwischt. So greift Honneth zwar durchaus den Gedanken der Anerkennung als Rechtssubjekt auf, macht als deren Anspruchsgrundlage und Fluchtpunkt dann aber nicht die transzendentale Genese der Subjektivität aus der Intersubjektivität, sondern die empirisch-sozialpsychologische „Selbstachtung“ aus, die dem Einzelnen durch solche Anerkennung vermittelt werde: „Beziehen wir in den damit umrissenen Zusammenhang die bislang entwickelten Überlegungen ein, so ist der Schluß zu ziehen, daß ein Subjekt sich in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung als eine Person zu betrachten vermag, die mit allen anderen Mitgliedern seines Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursi Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M. 1994. 2
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
ven Willensbildung befähigen; und die Möglichkeit, sich in derartiger Weise positiv auf sich selber zu beziehen, können wir ‚Selbstachtung‘ nennen.“3
Es ist vor diesem Hintergrund dann kaum mehr verwunderlich, dass der größte Teil von Honneths Ausführungen zur „Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse“4 aus einer Rezeption der Erkenntnisse der empirischen Entwicklungspsychologie über die Herausbildung von Selbstachtung und Selbstwertgefühl besteht. Dabei gerät dann allerdings völlig aus dem Blick, was uns eigentlich in normativer Hinsicht dazu verpflichtet, uns wechselseitig als Träger von Menschenrechten anzuerkennen. Gerade der entscheidende Punkt der Anerkennungstheorie bleibt damit bei Honneth ein blinder Fleck. An seine Stelle tritt eine deskriptive Sozialpsychologie, die von mehr oder weniger expliziten normativen Prämissen zwar getragen wird; diese normativen Prämissen können im Rahmen von Honneths Ansatz aber kaum mehr ausgewiesen werden. Hinter dem empirisch-sozialpsychologischen Gebrauch des Anerkennungsbegriffs stehen offenkundig Äquivokationen im Begriff der „Anerkennung“ und des „Selbstbewusstseins“ selbst. So kann „Anerkennung“ einerseits tatsächlich den Sprechakt der Bestätigung des empirisch-psychologischen Selbstwertgefühls eines Akteurs durch einen anderen Akteur meinen 5 , etwa, wenn einem Sportler gesagt wird: „Das war eine Leistung, die man nur neidlos anerkennen kann.“ Andererseits existiert aber auch derjenige Sprachgebrauch, der für die rechtsphilosophischen Ansätze Hegels und Fichtes wesentlich ist. Bei diesem Sprachgebrauch, der Anerkennung „von etwa als etwas“, geht es darum, dass einer Entität ein gewisser normativ bzw. evaluativ bestimmter Status zuerkannt wird. Dieser Sprachgebrauch ist etwa gegeben, wenn ein politisches Gebilde von anderen Staaten als Staat „anerkannt“ wird oder z. B. die „Anerkennung“ einer politischen Partei als einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft ausgesprochen wird. Eine solche Status-Zuerkennung kann auf der Seite der anerkannten Entität, soweit es sich bei ihr um ein Subjekt handelt, natürlich wiederum positive Auswirkungen auf deren empirisches Selbstwertgefühl haben; diese empirischen Nebeneffekte aber, wie Honneth, Georg Lohmann und Honneth a.a.O. S. 194 f. Honneth a.a.O. S. 107–211. 5 Dieser Sprachgebrauch ist fast durchgängig gemeint, wenn im Rahmen des sogenannten „Kommunitarismus“ innerhalb der jüngeren angelsächsischen Philosophie von „recognition“ die Rede ist. So hat ein zentrales Kapitel in Michael Walzers „Sphären der Gerechtigkeit“ in der deutschen Übersetzung denselben Titel wie Honneths Hauptwerk, nämlich „Kampf um Anerkennung“ (vgl. Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt/New York 1992, S. 356–369). Walzer verhandelt unter diesem Stichwort freilich nichts anderes als Fragen der Selbstachtung und Selbstwertschätzung und man wird sicher nicht ganz fehlgehen, wenn man vermutet, dass Walzers Verständnis von „Anerkennung“ für dasjenige Honneths Pate gestanden hat. Das macht freilich Honneths Versuch, diesen sozialpsychologischen Anerkennungsbegriff mit dem transzendentalphilosophischen Anerkennungsbegriff Hegel und Fichtes kurzzuschließen, umso problematischer. 3 4
I. Der Begriff der Anerkennung
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andere es tun, als den eigentlichen Fluchtpunkt solcher Anerkennung auszuzeichnen, führt nur dazu, dass der Gedanke aus dem Blick gerät, der den Anerkennungsbegriff für die Rechtsphilosophie fruchtbar macht: der Gedanke, dass endliche Subjektivität ohne die wechselseitige Anerkennung von freien Subjekten als freien Subjekten und Trägern von Rechten nicht denkmöglich ist. Eine ähnliche Äquivokation wie im Anerkennungsbegriff findet sich auch im Begriff des Selbstbewusstseins, der einmal in der transzendentalphilosophisch bedeutsamen Hinsicht die Grundstruktur der Subjektivität, den „Bezug auf sich selbst“ bezeichnet, zum anderen aber auch – in einem eher alltagssprachlichen Gebrauch – das Phänomen eines ausgeprägten empirisch-psychologischen Selbstwertgefühls bezeichnen kann. Honneth und seinem Umfeld geht es nun offenbar in erster Linie um „Selbstbewusstsein“ in diesem alltäglichen Sprachgebrauch, der dann oft sogar Hegel und Fichte unterstellt wird. 6 Für die beiden systematisch bedeutsamen Grundlagenfragen der modernen praktischen Philosophie – die Frage nach dem Prinzip und dem Geltungsgrund intersubjektiver Normativität und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Seins endlicher Subjektivität überhaupt im Rahmen einer Pluralität endlicher Subjekte – ist dieser Alltagssprachgebrauch allerdings nicht einschlägig. Die aktuell im Anschluss an Honneth zu beobachtende Verkürzung des Anerkennungsbegriffs auf die Affirmation des empirischen Selbstwertgefühls hat daher leider die Auswirkung, ihn auf eine philosophisch informierte Sozialpsychologie mit unausgesprochenen und nicht eingelösten normativen Prämissen zurückzuwerfen und so gerade das der Aufmerksamkeit des Fachpublikums zu entziehen, was am Anerkennungsbegriff philosophisch eigentlich interessant ist. Sollte es der vorliegenden Arbeit gelingen, daran etwas zu ändern, wäre bereits viel erreicht. Was nach dem Gesagten bereits klar sein dürfte, ist, dass der Anerkennungsbegriff in seinem Ursprung bei Fichte kein sozialphilosophischer, sondern ein rechtsphilosophischer Grundlagenbegriff ist. Und gerade als solcher ist er im Zusammenhang einer Untersuchung, die die Frage nach Sinn und Gehalt der Menschenwürde als eines Rechtsbegriffs zum Gegenstand hat, von zentraler Bedeu6 So schreibt Andreas Wildt: „Weiterhin führen Fichte und Hegel Anerkennung als notwendige Bedingung von ,Selbstbewußtsein’ ein. Das ist eins der Indizien dafür, daß hier unter dem Titel ,Selbstbewußtsein’ von Selbstbewußtsein im umgangssprachlichen Sinn die Rede ist, also von Bejahung, Schätzung oder Achtung seiner selbst.“ (Wildt, Andreas: Recht und Selbstachtung im Anschluß an die Anerkennungslehren von Fichte und Hegel. In: Kahlo, Michael/Wolff, Ernst A./Zaczyk, Rainer (Hg.): Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Frankfurt a.M. 1992, S. 127–172; hier S. 128). Während sich bei Hegel im Sittlichkeitskapitel der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ noch Ansätze für eine solche Lesart mögen finden lassen, ist sie im Hinblick auf Fichte, wie die ganze folgende Untersuchung zeigen wird, gänzlich verfehlt. Wenn Selbstachtung in den hier vorgestellten Kontexten überhaupt eine Rolle spielt, dann nicht im Sinn einer Achtung der eigenen empirischen Charakterzüge und Leistungen, sondern im Sinn der grundlegenden transzendentalphilosophischen Achtung seiner selbst und aller anderen Vernunftwesen als Vernunftwesen.
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
tung. Als rechtsphilosophischer Grundlagenbegriff vermittelt das Konzept der Anerkennung – so viel kann sicherlich im Vorgriff gesagt werden, ohne die Sachlage allzu verkürzt darzustellen – zwischen der Einsicht in die Subjekthaftigkeit anderer Subjekte und der Einschränkung der jeweils eigenen Freiheit im Hinblick auf die Ermöglichung der Freiheit aller Subjekte. Fichtes zentrale Einsicht ist dabei, dass bereits das Bewußtsein der Subjekthaftigkeit des anderen Subjekts als Subjekt die normative Forderung impliziert, die je eigene Freiheitsausübung derart zurückzunehmen, dass die Freiheit aller Subjekte möglich wird. Der Begriff der Anerkennung weist dementsprechend immer zwei Bedeutungsschichten auf: die einfache Anerkennung des anderen Subjekts als Subjekt und die Anerkennung des anderen als eines Trägers von Rechten und Pflichten. Es ist Fichtes großes Verdienst, gezeigt zu haben, dass und wie beide Bedeutungsschichten zusammengehören. Fichtes Theorie vermag damit in überzeugender Weise genau diejenige Lücke zu schließen, die bei Kant noch zwischen dem Gedanken der Achtung von Subjekten als autonomen Vernunftund Freiheitswesen, wie er sich im Menschenwürdebegriff ausdrückt, und der Rechtsidee wechselseitiger Freiheitseinschränkung besteht und die im vorigen Kapitel noch mit Zusatzüberlegungen überbrückt werden musste. Indem Fichtes rechtsphilosophische Anerkennungstheorie diese Lücke schließt, bildet sie auch das fehlende Glied zwischen dem kantischen Menschenwürdebegriff und dem rechtlichen Menschenwürdebegriff moderner Rechts- und Verfassungstexte. Dieser nimmt, wie im 2. Kapitel gesehen, in den Rechtssystemen, in denen er präsent ist, im Wesentlichen zwei Rollen ein: einmal bildet er den Geltungsgrund und das überpositive Prinzip der positivierten Grund- bzw. Menschenrechte; zum anderen fungiert er als eine absolute Grenze der Einschränkbarkeit und Abwägbarkeit von Rechten. Beide Funktionen sind, wie im Folgenden anhand der Analyse der Herleitung des Rechtsbegriffs in Fichtes „Grundlage des Naturrechts“ gezeigt werden soll, mithilfe des Anerkennungsbegriffs theoretisch einholbar. Insbesondere lässt sich mithilfe von Fichtes Überlegungen der Gedanke Hannah Arendts, beim modernen Menschenwürdebegriff handele es sich um ein „Recht auf Rechte“, explizieren und – was noch viel wichtiger ist – begründen. Dabei wird sich im Übrigen dann zeigen, dass dieser Gedanke viel weniger aporetisch ist, als Hannah Arendt dies selbst meinte. Auch wenn der Menschenwürdebegriff dementsprechend in Fichtes Rechtsphilosophie – wohl aber, auch das sei vermerkt, an anderer Stelle – nicht explizit auftaucht, stellt diese Rechtsphilosophie doch den naheliegendsten und angemessensten Bezugspunkt für eine systematische Rekonstruktion dessen dar, was den rechtlichen Menschenwürdebegriff der Sache nach ausmacht. Dieser Zusammenhang wird des Weiteren auch in historisch-systematischer Hinsicht dadurch bestätigt, dass Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts genau diejenige Lücke plausibel zu schließen vermag, die bei Kant noch zwischen
II. Fichtes Grundlegung der Intersubjektivität
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Menschenwürdegrundsatz und Rechtsidee besteht. Georg Mohr bringt diese Zusammenhänge auf den Punkt, wenn über Fichtes Rechtslehre schreibt: „Es ist Fichtes Verdienst, den normativen Gehalt der Kantischen Menschheits-Selbstzweck-Formel durch eine Theorie der Anerkennung für die Rechtsphilosophie so begründet zu haben, dass sein methodischer Status deutlicher wird. Zum einen können wir Fichtes Theorie entnehmen, dass und wie sich im Kontext einer Interpersonalitätskonzeption Menschenwürde von ontologisch-subtantialistischen Missverständnissen abkoppeln lässt. Das Missverständnis, wir müssten Menschenwürde wie eine deskriptive Eigenschaft konzeptualisieren, wird bei Fichte schon im Ansatz der Theorie erfolgreich ausgeschlossen. Stattdessen wird die grundlegende Beziehung zwischen Personen als wechselseitige Anerkennung charakterisiert, die nur als eine solche Wechselseitigkeit existiert. Und nur diese interpersonale Relation ist gemeint und nicht etwa noch eine irgendwie zugrunde liegende substantielle Eigenschaft.“7
Es versteht sich in diesem Zusammenhang, dass eine Studie zur Frage des rechtlichen Menschenwürdebegriffs keine vollständige Darstellung der Fichte’schen Rechtsphilosophie liefern kann, noch weniger, dass sie diese in erschöpfender Weise in den Gesamtzusammenhang der Transzendentalphilosophie Fichtes einordnen kann. Die Analyse wird sich daher darauf beschränken, Fichtes Deduktion des Rechtsbegriffs nachzuzeichnen, um auf diese Weise seinen Anerkennungsbegriff herauszuarbeiten und schließlich zu zeigen, dass dieser Anerkennungsbegriff in sachlicher Hinsicht als Prinzip und Geltungsgrund der Grund- bzw. Menschenrechte fungiert. Dass und inwieweit der Rechtsbegriff so, wie Kant und Fichte ihn konzipieren, auch die Rolle einer absoluten Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten ausfüllen kann, soll im Anschluss daran im 6. Kapitel gezeigt werden.
II. Fichtes Grundlegung der Intersubjektivität 1. Die Pluralität endlicher Subjektivität Fichtes „Grundlage des Naturrechts“ setzt mit der Frage ein, ob und wie die Genese endlichen Selbstbewusstseins gedacht werden kann. Eine solche Fragestellung mag für eine Arbeit zur Rechtsphilosophie zunächst überraschend erscheinen, hat ihren Sinn aber darin, dass Fichte zu zeigen versucht, dass endliches Selbstbewusstsein überhaupt nur unter der Bedingung der Intersubjektivität möglich ist. Endliche Subjektivität ist daher, so das Ergebnis der Über legungen, die im Folgenden nachgezeichnet werden sollen, auch nur in Form einer Pluralität endlicher Subjekte denkbar, die aufgrund bestimmter Charakte7 Mohr, Georg: ‚Ein Wert, der keinen Preis hat‘ – Philosophiegeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Menschenwürde. Philosophische, theologische und juristische Analysen. Frankfurt a.M. 2007, S. 13–39; hier: S. 36.
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
ristika ihrer Genese immer schon um diese Pluralität wissen. Fichte drückt dies in einem Fazit, das er selbst ziehen wird, pointiert mit den Worten aus: „Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er gar nichts anderes seyn kann denn ein Mensch, und gar nicht seyn würde, wenn er dies nicht wäre – sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn. Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherige Erfahrung oder auf andere Wahrscheinlichkeitsgründe aufgebaute Meinung, sondern es ist eine aus dem Begriff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken eines einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht der Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.“8
Betrachten wir, in welchen Schritten Fichte zu dieser Aussage kommt. Er geht, wie bereits bemerkt, vom unbestreitbaren Faktum der Existenz endlicher, selbstbewusster Wesen aus und versucht, die Bedingungen der Möglichkeit dieser Existenz aufzusuchen. Die Eckpunkte der Denkbewegung sind dabei durch die beiden Charakteristika „endlich“ und „selbstbewusst“ vorgegeben. Dass jene Wesen durch Selbstbewusstsein charakterisiert sind, bedeutet in letzter Konsequenz, dass ihr Sein darin besteht, sich ihrer selbst bewusst zu sein. Als „Ich“ zu sein heißt nichts anderes als sich seiner selbst bewusst zu sein. Zwar könnte man dagegen einwenden, dass eine bestimmte Person P nicht alleine als „Ich“ existiert, sondern auch als Körper oder Leib, dass also ein Substrat des Selbstbewusstseins existiert, das nicht darauf angewiesen ist, Selbstbewusstsein zu sein, um überhaupt zu sein. Diese Überlegung geht allerdings am eigentlichen Punkt insofern vorbei, als der Körper oder Leib von P eben nicht der Köper oder Leib von P als Subjekt ist, wenn P nicht als Ich, d. h. als Bewusstsein seiner selbst existiert. Die Existenz eines Ich unterscheidet sich damit von der Existenz aller nichtselbstbewussten Wesen in dem entscheidenden Punkt, dass die Existenz eines Selbstbewusstseins in nichts anderem als dem Sich-Beziehenauf-sich, d. h. einer Bewegung der Reflexion besteht. Fichte charakterisiert die Weise zu sein von Selbstbewusstseinen daher – wie in der „Wissenschaftslehre“ – auch als „Thathandlung“9 oder – wie in der „Grundlage des Naturrechts“ – als „Thätigkeit“: „In sich selbst zurückgehende Thätigkeit überhaupt (Ichheit, Subjectivität) ist Charakter des Vernunftwesens. Das Setzen seiner selbst ist ein Act dieser Thätigkeit.“10 8 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band III. ND Berlin 1971, Corollaria zu § 3 Zweiter Lehrsatz, S. 39. 9 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band I. ND Berlin 1971, 1. Teil, § 1, S. 91. 10 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band III. ND Berlin 1971, § 1 Erster Lehrsatz, S. 17.
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Wie Dieter Henrich11 und vor ihm schon Hermann Schmitz12 dargelegt haben, macht nun allerdings gerade diese Struktur des Selbstbewusstseins die Konstitution von Selbstbewusstsein rätselhaft, da jeder Versuch einer Erklärung der Konstitution von Selbstbewusstsein bereits Selbstbewusstsein voraussetzen zu müssen scheint. Grund dafür ist der Umstand, dass der Bezug auf sich selbst, der ja das Sein des Ich ausmacht, nicht der Bezug auf etwas sein kann, das nicht seinerseits schon Bezug auf sich selbst ist – denn sonst würde das Ich sich ja nicht auf sich als Ich, sondern auf etwas anderes als es selbst beziehen. Es wäre dann nicht Selbstbezug und dementsprechend auch nicht Selbstbewusstsein. Der Bezug auf sich kann daher nicht ein Bezug auf etwas sein, das vor dem SichBeziehen-auf-sich schon – als Objekt – gegeben wäre, denn ein solches Gegebenes wäre gerade nicht das Ich, das sich auf es bezieht. Henrich zeichnet dieses Problem folgendermaßen nach: „Ich soll der sein, der sich reflektierend auf sich besinnt. Also muß der, welcher die Reflexion in Gang bringt, selbst schon beides sein, Wissendes und Gewußtes. Das Subjekt der Reflexion erfüllt somit schon die ganze Gleichung Ich = Ich. Doch durch die Reflexion sollte sie erst zustandekommen.“13
Mithin würde sich das Ich, das sich auf etwas vor dem Selbstbezug schon Gegebenes bezöge, gerade nicht auf sich beziehen und würde daher auch gar nicht als Selbstbezug existieren. Wenn Selbstbewusstsein überhaupt sein soll, muss es also durch sich selbst gestiftet oder, wie Fichte es ausdrückt, „gesetzt“ sein: „Durch den Akt einer solchen Thätigkeit setzt sich das Vernunftwesen. Alle Reflexion geht auf etwas als sein Object B. Was für ein Etwas muss denn das Object der geforderten Reflexion A seyn? – Das Vernunftwesen soll in ihr sich selbst setzen, sich selbst zum Object haben. Aber sein Charakter ist in sich zurückgehende Thätigkeit. Das letzte höchste Substrat (B) seiner Reflexion auf sich selbst muss demnach auch seyn, in sich selbst zurückgehende, sich selbst bestimmende Thätigkeit.“14
Ob und wie diese scheinbar aporetische Struktur eines Sich-Beziehens-auf-sich, die das „Sich“ des Bezuges im Beziehen erst hervorbringt, überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden kann, bildet nun bekanntermaßen den Ausgangspunkt einer umfangreichen, im Grunde bis heute andauernden Debatte15 , deren Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht (Wissenschaft und Gegenwart Heft 34). Frankfurt a.M. 1967 12 Schmitz, Hermann: System der Philosophie I. Bonn 1964, S. 249–250. 13 Henrich a.a.O. S. 13. 14 Fichte a.a.O. § 1 Erster Lehrsatz, S. 17 [Hervorhebungen im Original]. 15 Den letzten intellektuellen Höhepunkt dieser Debatte bildet vermutlich die Kontroverse zwischen Dieter Henrich, Jürgen Habermas und Ernst Tugendhat über die Genese des Selbstbewusstseins (vgl. dazu die Darstellungen bei Mauersberg, Barbara: Der lange Abschied von der Bewusstseinsphilosophie. Theorien der Subjektivität bei Habermas, Henrich und Tugendhat. Frankfurt a.M. 2000 und bei Henrich, Daniel C.: Zwischen Bewußtseinsphilosophie und Naturalismus. Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas. Bielefeld 2007, insbesondere S. 29–36 und S. 85–96). 11
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Verästelungen kaum mehr zu überblicken sind. Die Debatte muss an dieser Stelle allerdings auch nicht in ihren Details nachverfolgt werden, da es Fichte in der „Grundlage des Naturrechts“ um ein noch spezielleres Problem geht, nämlich, wie das zweite der erwähnten Charakteristika besagt, um die Möglichkeit endlichen Selbstbewusstseins. Unter „endlichem“ Selbstbewusstsein versteht Fichte dabei solches Selbstbewusstsein, dem etwas entgegensteht, das die Bestimmung aufweist, nicht es selbst zu sein. Aus diesem, wohlgemerkt nicht zeitlichen Verständnis des Begriffs „endlich“ ergibt sich, dass sowohl dasjenige begrenzt ist, das dem Ich entgegengesetzt ist, nämlich durch das Ich, wie auch das Ich selbst, nämlich durch das ihm Entgegengesetzte, das die Bestimmung aufweist, nicht Ich zu sein.16 Die besondere Schwierigkeit, die sich an dieser Stelle nun ergibt, besteht darin, dass ein solches endliches Subjekt, dem ein Objekt entgegengesetzt ist, aus einer rein theoretischen, d. h. das Objekt wahrnehmenden und erkennenden Einstellung heraus nicht erklärbar ist. Diese Aussage mag zunächst überraschen. Kann denn, so mag man einwenden, das Selbstbewusstsein nicht eben dadurch genetisch erklärt werden, dass man annimmt, dass das wahrnehmende oder erkennende Ich sich in seiner Wahrnehmung oder Erkenntnis dessen bewusst wird, dass es außer dem Wahrgenommenen bzw. Erkannten noch ein Wahrnehmendes bzw. Erkennendes gibt und dass dies Wahrnehmende bzw. Erkennende es selbst ist? So oder so ähnlich jedenfalls dürfte der gemeine Menschenverstand sich die Genese des Selbstbewusstseins vorstellen. Allerdings setzt auch diese Theorie eben das Selbstbewusstsein wieder voraus, das sie eigentlich erklären soll. Denn wie, so muss man zurückfragen, sollte denn das Ich dazu kommen, sich auf sich als Erkennendes zurückzuwenden, wenn nicht in die Relation der Erkenntnis bereits vorgängig ein solcher Rückbezug eingeschrieben wäre? Wo das nämlich nicht der Fall wäre, da wäre das Erkennende völlig an das Erkannte verloren; es wäre reine Rezeptivität und Passivität. Der Bezug auf sich selbst muss also bereits gegeben, ein Bewusstsein seiner selbst bereits vorhanden sein, damit das Erkennende auf sich selbst als dasjenige reflektieren kann, das die Objekte erkennt. „Seine Thätigkeit in der Weltanschauung kann das Vernunftwesen nicht als eine solche setzen; denn diese soll ja vermöge des Begriffs nicht in das Anschauende zurückgehen; nicht dieses, sondern vielmehr etwas, das ausser ihm liegen und ihm entgegengesetzt seyn soll – eine Welt – zum Objecte haben“17, bemerkt Fichte lapidar. 16 Die Bestimmung des „endlichen Ich“, die Fichte hier gibt, entspricht damit dem „[d] ritten, seiner Form nach bedingten Grundsatz“ der „Wissenschaftslehre“: „Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen.“ (Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band I. ND Berlin 1971, 1. Teil, § 3, S. 110). 17 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band III. ND Berlin 1971 § 1 Erster Lehrsatz, S. 17.
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Er folgert aus dieser Einsicht, dass Selbstbewusstsein nicht aus einer theoretischen Einstellung heraus erklärbar ist, sondern nur aus der praktischen Einstellung heraus; dass es also nicht aus einer Reflexion auf sich selbst als etwas die Welt Erkennendes hervorgegangen sein kann, sondern aus einer Reflexion auf sich als etwas auf die Objekte in Freiheit Einwirkendes und sie Veränderndes hervorgegangen sein muss. Während in der theoretischen Einstellung das Bewusstsein durch die Gegenstände der Erkenntnis bestimmt wird, erfährt es sich im praktischen Einwirken auf die Objekte als eine Instanz, die in freier Entscheidung Bestimmungen der Objekte, jedenfalls in einem gewissen Maß, verändern kann. In der Wirksamkeit auf die Objekte liegt damit bereits ein Rückbezug auf sich, wie er für die Konstitution von Selbstbewusstsein gefordert ist. Indem das selbstbewusste Wesen auf die Objekte einwirkt, verleiht es diesen wiederum Bestimmungen, die es selbst aus sich hervorgebracht hat und die es insofern als „Selbstbestimmung“ im Hinblick auf die von ihm bestimmten Objekte begreifen kann. Indem ich mich beispielsweise entscheide, einem Stück Holz durch Schnitzen eine bestimmte Form, etwa die eines Rechtecks, zu geben, realisiere ich diese Form zwar an dem Holz, die Bestimmung zu jener Form bringe ich aber aus mir hervor; sie liegt nicht schon im Holz selbst. Fichte kommt daher zu dem Schluss: „Es wird behauptet, dass das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewusstseins sey; dass ein vernünftiges Wesen nur im Wollen unmittelbar sich wahrnimmt, und sich nicht, und dem zufolge auch die Welt nicht wahrnehmen würde, mithin auch nicht einmal Intelligenz seyn würde, wenn es nicht ein praktisches Wesen wäre.“18
Mit dieser Überlegung ist verständlich gemacht, dass endliches Selbstbewusstsein, wenn es denn überhaupt existieren soll, nur aus der praktischen Einstellung hervorgehen kann, aber noch nicht, wie dies genau erfolgt. Tatsächlich identifiziert Fichte nun, anstatt einfach zu behaupten, die Genese des endlichen Selbstbewusstseins erklärt zu haben, ein Problem, das in der bisherigen Beweisführung verborgen ist. Dieses Problem liegt abermals im Verhältnis von theoretischer und praktischer Einstellung begründet. Die praktische Wirksamkeit auf ein Objekt der Erkenntnis setzt nämlich die Existenz eines solchen Erkenntnisobjekts bereits voraus. Damit etwas ein Erkenntnisobjekt sein kann, muss es als solches aber wiederum als Objekt „gesetzt“ sein. Es kann für unsere Zwecke dabei gleichgültig sein, ob unter einer „Setzung als Objekt“ zu verstehen ist, dass die gesetzte Außenwelt tatsächlich durch das Ich hervorgebracht wird, oder ob damit gemeint ist, dass etwas als „Objekt“, d. h. als ein vom Ich unterschiedenes Gegebenes bestimmt wird, das auch unabhängig von dieser Bestimmung existiert. Wichtig für den weiteren Beweisgang ist lediglich, dass etwas überhaupt als Objekt bestimmt ist. Als „Objekt“ bestimmt ist etwas nämlich genau dann, wenn es bestimmt ist als etwas, das von dem erkennenden Subjekt Fichte a.a.O. Corollaria zu § 1, Erster Lehrsatz, S. 20.
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einerseits unterschieden ist, andererseits aber auch derart in Bezug auf das Subjekt steht, dass es die Inhalte des Bewusstseins des Subjekts bestimmt. Eine solche „Setzung“ als Objekt setzt aber wiederum voraus, dass es ein Wesen gibt, das sich seiner selbst bewusst ist. Denn wäre es nicht bereits Bewusstsein seiner selbst, dann könnte das Subjekt auch nicht etwas als von sich selbst unterschieden identifizieren. Wir stünden wieder an dem Punkt, von dem wir ausgegangen waren, nämlich einem Bewusstsein, das in reiner Rezeptivität an das von ihm Wahrgenommene oder Erkannte verloren wäre. Damit überhaupt von Objekten die Rede sein kann, auf die ein Subjekt als auf von ihm unterschiedene einwirken kann, scheint also Selbstbewusstsein wieder vorausgesetzt werden zu müssen, diesmal nämlich das Selbstbewusstsein in der theoretischen Einstellung. Damit scheint dann der Versuch einer Erklärung des Selbstbewusstseins wieder zirkulär zu werden: denn das Selbstbewusstsein überhaupt sollte ja aus der praktischen Einstellung hervorgehen, also daraus, dass das Ich sich in der Einwirkung auf die Objekte als etwas erfährt, das die Objekte in Freiheit bestimmt und nicht von ihnen festgelegt ist. Dies setzt aber voraus, dass die Objekte bereits als vom Ich unterschieden und unabhängig von ihm existierend begriffen werden. Eine solche Unterscheidung zwischen Ich und Objekten setzt aber scheinbar wiederum theoretisches Selbstbewusstsein voraus, das zugleich aber doch erst aus dem praktischen Selbstbewusstsein hervorgehen soll. Fichte beschreibt diesen vermeintlichen Zirkel folgendermaßen: „b. Aber es [das vernünftige Wesen] kann sich keine Wirksamkeit zuschreiben, ohne ein Object, auf welches diese Wirksamkeit gehen soll, gesetzt zu haben. Das Setzen des Objects, als eines durch sich selbst bestimmten und insofern die freie Thätigkeit des vernünftigen Wesens hemmenden, muss in einem vorhergehenden Zeitpunct gesetzt werden, durch welchen allein derjenige Zeitpunct, in welchem der Begriff der Wirksamkeit gefasst wird, der gegenwärtige wird. c. Alles Begreifen ist durch ein Setzen der Wirksamkeit des Vernunftwesens; und alle Wirksamkeit des Vernunftwesens durch ein vorhergegangenes Begreifen desselben bedingt. Also ist jeder mögliche Moment des Bewusstseyns, durch einen vorhergehenden Moment desselben bedingt, und das Bewusstseyn wird schon als wirklich vorausgesetzt. Es lässt sich nur durch einen Cirkel erklären; es lässt sich sonach überhaupt nicht erklären, und erscheint als unmöglich.“19
Die bisherige Reflexion über die Bedingung der Möglichkeit endlichen Selbstbewusstseins hat dementsprechend dem ersten Anschein nach in eine Aporie geführt. Da Wesen, die ein Bewusstsein ihrer selbst haben, aber offenkundig existieren, kann die Genese des Selbstbewusstseins nicht aporetisch sein. Es muss also einen anderen, bislang übersehenen Weg der Genese von selbstbewussten endlichen Wesen geben. Worin dieser Weg bestehen könnte, ergibt sich bereits aus einer genaueren Analyse der vermeintlichen Aporie. Diese war dadurch zustande gekommen, Fichte a.a.O. § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 30.
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dass das Selbstbewusstsein sich wirkend auf Objekte bezieht, die bereits als vom Subjekt verschieden vorausgesetzt sein müssen, damit überhaupt auf sie eingewirkt werden kann. Die Setzung von etwas als Objekt konnte aber wiederum nur durch ein Subjekt erfolgt sein. Beschreibt man die Aporie in dieser Weise, so wird deutlich, dass sich zumindest die Möglichkeit ihrer Auflösung eröffnet. Diese Möglichkeit wäre genau dann gegeben, wenn das Objekt, das durch das Subjekt gesetzt und schließlich erkannt wird, die praktische Subjektivität (d. h. die Fähigkeit, sich in Freiheit Zwecke zu setzen) selbst wäre, dies aber in einer Weise, bei der ihr „Objekt“-Charakter zugleich bestehen bliebe und aufgehoben würde. Wäre eine solche Struktur denkmöglich, so würde sich gewissermaßen die gesamte Richtung der Reflexionsbewegung ändern. In der ersten Reflexion, die unternommen worden war, war das Objekt etwas, das mit der Bestimmung vorausgesetzt war, vom Subjekt unterschieden zu sein. Auf dieses Unterschiedene sollte dann eingewirkt werden und in der Einwirkung sollte das Einwirkende zum Bewusstsein seiner selbst kommen. Eine solche Relfexionsbewegung hat sich aus den geschilderten Gründen als aporetisch erwiesen In der nun angedachten Reflexion sind die Rollen auf den ersten Blick vertauscht: Objekt der Erkenntnis ist nun gerade die Freiheit desjenigen Subjekts, das auch das Subjekt des Erkennens ist. Im Unterschied zu einem beliebigen anderen Erkenntnisobjekt wäre die eigene Freiheit, so Fichtes Argument, nichts, das dem Subjekt absolut entgegensteht. Ist die eigene Freiheit das Objekt der Erkenntnis, so erkennt das Subjekt nichts anderes als sich selbst; die eigene Freiheit ist, um es mit anderen Worten zu sagen, das einzige mögliche Erkenntnisobjekt eines endlichen Subjekts, das nicht als vom Subjekt unterschieden diesem vorausgesetzt sein muss. Sie ist vielmehr denkbar als etwas, das durch das Selbstbewusstsein im Moment seiner Konstitution hervorgebracht wird: „Dieser Grund [der Möglichkeit von Selbstbewusstsein] muss gehoben werden. Er ist aber nur so zu heben, dass angenommen werde, die Wirksamkeit des Subjects sey mit dem Objecte in einem und demselben Moment synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjects sey selbst das wahrgenommene und begriffene Object, das Object sey kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjects und so seyen beide dasselbe. Nur von einer solchen Synthesis würden wir nicht weiter zu einer vorhergehenden getrieben; sie allein enthielte alles, was das Selbstbewusstseyn bedingt, in sich, und gäbe einen Punct, an welchen der Faden desselben sich anknüpfen liesse.“20
Auf den ersten Blick mag dieser Ansatz nun allerdings wie ein Taschenspielertrick erscheinen. Zwar ist es richtig, dass das Problem der Voraussetzung eines vom Subjekt unterschiedenen Objekts nicht mehr auftaucht, wenn das Objekt der Erkenntnis das Subjekt selbst, genauer gesagt, die Subjektivität in praktischer Hinsicht ist. Denn die eigene Freiheit des Subjekts ist in der Tat nichts, Fichte: a.a.O. § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 32 [Hervorhebungen im Original].
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was bereits in irgendeiner Weise vor dem Subjekt und unabhängig vom Subjekt existieren müsste, damit es sich theoretisch oder praktisch darauf beziehen kann. Allerdings ließe sich zum einen einwenden, dass auch die „Wirksamkeit“ des Subjekts, die nun das Objekt der Erkenntnis sein soll, nicht denkbar ist ohne externe, vom Subjekt unterschiedene Objekte, auf die eingewirkt wird. Zum Zweiten scheint die nun von Fichte vorgeschlagene Konstellation eben wieder in das Ausgangsproblem des Zirkels des Selbstbewusstseins zu münden. Denn wie, so kann man wieder fragen, kann sich durch einen Bezug auf die eigene Wirksamkeit Selbstbewusstsein konstituieren, wenn nicht bereits vorausgesetzt ist, dass die Wirksamkeit eben die eigene Wirksamkeit ist? Als die eigene Wirksamkeit scheint die Wirksamkeit aber nur bestimmt sein zu können, wenn ein Bewusstsein seiner selbst bereits gegeben, die Wirksamkeit schon als die eines Subjekts, das man selbst ist, bestimmt ist. Erstaunlicherweise stellt Fichte selbst sich diese beiden Fragen nicht. Wohl aber wirft er eine dritte Frage auf, die ihn zu einer Lösung führt, mit deren Hilfe sich auch die beiden ersten dürften beantworten lassen. Die Frage, die Fichte nämlich umtreibt, ist diejenige, wie es möglich ist, die freie Wirksamkeit des praktischen Ichs überhaupt als Objekt zu denken, wenn unter einem Objekt doch immer etwas zu verstehen ist, das der Freiheit (die doch das entscheidende Charakteristikum von Subjektivität ist) entgegengesetzt ist – und zwar entgegengesetzt als etwas, das dem Subjekt vorgegeben ist und es in theoretischer Einsicht bestimmt: „Das durch sie Aufgestellte soll seyn ein Object; aber es ist der Charakter des Objects, dass die freie Thätigkeit des Subjects bei seiner Auffassung gesetzt werde, als gehemmt. Dieses Object aber soll seyn eine Wirksamkeit des Subjects; aber es ist der Charakter einer solchen Wirksamkeit, dass die Thätigkeit des Subjects absolut frei sey und sich selbst bestimme. Hier soll beides vereinigt seyn; beide Charaktere sollen erhalten werden, und keiner verloren gehen. Wie mag dies möglich seyn?“21
Nun mag auch dieser Einwand, den Fichte sich selbst macht, auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Sollte es denn, so könnte man zurückfragen, wirklich ein Problem sein, von der eigenen Freiheit ein Bewusstsein zu gewinnen, sich also selbst als frei zu erkennen, nur weil der Seinsmodus des Erkennens – also die theoretische Einstellung – insofern unfrei ist, als das Erkennen durch ein gegebenes Objekt der Erkenntnis bestimmt wird? Hier soll das Objekt der Erkenntnis ja gar nicht etwas Äußerliches, dem Subjekt Vorgegebenes und es von außen Bestimmendes sein, sondern eben es selbst als Freies. Wenn aber das Objekt der Erkenntnis die eigene Freiheit ist, so ließe sich gegen Fichte vorbringen, wird das Subjekt bei der Einsicht in diese Freiheit ja gar nicht von etwas bestimmt, das etwas anderes als es selbst ist. Vielmehr ist das, was das theoretische Subjekt hinsichtlich seiner selbst erkennt, die rein reflexive Bestim Fichte a.a.O. § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 32.
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mung, sich gegenüber allen Objekten, die ihm äußerlich sind, in ein freies Verhältnis setzen zu können. Wenn die Bestimmung, sich zu den Objekten in ein freies, sie gestaltendes Verhältnis setzen zu können, aber schon eine solche reflexive Bestimmung ist, dann sollte doch eigentlich klar sein, dass auf diese Freiheit nicht selbst wieder muss eingewirkt werden können, damit die Erkenntnis seiner selbst als eines freien Wesens die erkannte Freiheit nicht negiert.
2. Der Zirkel des Selbstbewusstseins und der Begriff der „Aufforderung“ Auf den ersten Blick stellt sich das Problem, das Fichte meint identifizieren zu können und das ihn schließlich zur Intersubjektivität als Lösung bringt, also als ein Scheinproblem dar. Dass das nicht der Fall ist, wird jedoch deutlich, wenn man das Problem noch einmal von einer anderen Seite betrachtet. Was mit der Frage, die Fichte aufwirft, implizit auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit praktischen Selbstbewusstseins überhaupt. Um das zu erläutern, muss der bisher erreichte Stand der Reflexion noch einmal verdeutlicht werden: Das einzelne endliche Selbstbewusstsein soll sich demnach selbst konstituieren, indem es sich auf sich selbst als praktisches, frei wirkendes Selbstbewusstsein bezieht. Sich als praktisches Selbstbewusstsein zu erkennen bedeutet aber, sich als etwas erkennen, das zu den Erkenntnisobjekten in einem freien Verhältnis steht, indem es im Hinblick auf die Objektwelt frei Zwecke setzen und zu deren Realisierung auf die Objekte einwirken kann. Damit ein solches freies Verhältnis zu den Objekten möglich ist, muss das Sein des dergestalt freien Wesens, wie weiter oben gesehen, im Selbstbezug bestehen. Denn anders könnte es gar nicht aus sich selbst heraus in ein derartiges freies Verhältnis zu den Objekten treten, sondern würde von diesen bestimmt. Eben derjenige Selbstbezug, der die Freiheit des Subjekts ermöglicht, soll allerdings durch den theoretischen Bezug auf sich selbst als auf ein frei wirksames Subjekts erst konstituiert werden. Der theoretische Selbstbezug soll aber wiederum erst durch den praktischen hervorgebracht werden. Vor dem praktischen Selbstbewusstsein müsste also bereits theoretisches Selbstbewusstsein sein, damit sich das praktische Selbstbewusstsein konstituieren könnte, während umgekehrt das praktische Selbstbewusstsein sich bereits konstituiert haben müsste, damit theoretisches Selbstbewusstsein existieren könnte. Das Paradox des Selbstbewusstseins, das wir als erstes Problem des Fichte’schen Lösungsvorschlags identifiziert hatten, taucht also in verwandelter Form auch an dieser Stelle wieder auf. Demnach existiert Selbstbewusstsein überhaupt nur als Bezug auf sich selbst. Wenn das aber der Fall ist, dann kann die Stelle des „Selbst“, die in dieser Beschreibung von Selbstbezüglichkeit auftaucht, nur von einem Wesen eingenommen werden, das bereits Bezug auf sich selbst ist, denn sonst würde das beziehende Subjekt sich ja auf etwas anderes beziehen, als es ist. Der Selbstbezug würde also nicht hergestellt und damit wür-
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de Subjektivität überhaupt nicht entstehen. Damit geraten wir in das Dilemma, dass der Bezug auf sich selbst bereits vor dem Sich-Beziehen-auf-sich scheint gegeben sein zu müssen, damit er sich ereignen kann; dass er aber vor dem SichBeziehen-auf-sich nicht gegeben sein kann, da sein Sein in nichts anderem als eben diesem Sich-Beziehen-auf-sich besteht. Genauso wird das Problem denn auch von Fichte im weiteren Verlauf seiner Überlegungen beschrieben: „Die Frage war: wie vermag das Subject sich selbst zu finden als ein Object? Es konnte, um sich zu finden, sich nur als selbstthätig finden; ausserdem findet es nicht sich; und, da es überhaupt nicht findet, es sey denn, und nicht ist, es finde sich denn, findet überhaupt gar nichts.“22
Damit wird nun deutlich, dass das Problem, das Fichte anspricht, tatsächlich gar kein anderes ist als dasjenige, das weiter oben als Zirkel des Selbstbewusstseins identifiziert wurde. Fichte betrachtet diesen Zirkel hier lediglich in einer bestimmten Hinsicht, nämlich der Hinsicht des Verhältnisses von praktischem und theoretischem Selbstbezug bei einem endlichen Subjekt. Und genau an diesem Verhältnis setzt dann auch Fichtes intersubjektivistische Lösung des Problems an. Diese Lösung liegt, verkürzt gesprochen, darin, dass die Bestimmung eines Subjekts zur Freiheit – und damit eben überhaupt erst zur Subjektivität – nicht aus sich selbst heraus erfolgt, sondern dadurch, dass es von einem anderen Subjekt als freies Wesen angesprochen und zur Freiheit, wie Fichte sich ausdrückt, „aufgefordert“ wird. Fichte beschreibt das folgendermaßen: „Beide [Subjekt und Objekt] sind vollkommen vereinigt, wenn wir uns denken ein Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschließen. Inwiefern das Geforderte ein Object ist, muss es in der Empfindung gegeben werden, und zwar in der äusseren – nicht in der inneren; denn alle Empfindung entsteht lediglich durch Reproduction einer äusseren, die erstere setzt demnach die letztere voraus, und es würde sonach bei dieser Annahme abermals das Selbstbewusstsein, dessen Möglichkeit erklärt werden soll, als vorhanden vorausgesetzt. – Aber dasselbe wird nicht anders begriffen, und kann nicht anders begriffen werden, denn als eine blosse Aufforderung des Subjects zum Handeln. So gewiss daher das Subject dasselbe begreift, so gewiss hat es den Begriff von seiner eigenen Freiheit und Selbstthätigkeit, und zwar als einer von aussen gegebenen. Es bekommt den Begriff seiner freien Wirksamkeit nicht als etwas, das im gegenwärtigen Momente ist, denn das wäre ein wahrer Widerspruch; sondern als etwas, das im künftigen seyn soll.“23
Will man verstehen, warum gerade eine solche „Aufforderung zur Freiheit“, ein solcher „Anstoß“ von außen durch ein anderes Subjekt das Problem der Ermöglichung endlicher Subjektivität sollte lösen können, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, in welchem kommunikativen Akt jene „Aufforderung“ eigentlich besteht. Der Lage der Dinge nach kann sie nur darin bestehen, dass dem zu konstituierenden Subjekt B – im Folgenden soll von einem „Prä-Subjekt“ die Fichte a.a.O. § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 33 [Hervorhebungen im Original]. Fichte a.a.O. § 3, Zweiter Lehrsatz, S. 32 f. [Hervorhebungen im Original].
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Rede sein, da die Selbstkonstitution als Subjekt ja erst erfolgen wird – ein anderes Subjekt A gegenübertritt, das es dazu auffordert, sich von seiner Bestimmtheit durch die erkannten Objekte freizumachen und stattdessen in einer eigenen Zwecksetzung auf sie einzuwirken. Ein naheliegendes Beispiel für einen solchen kommunikativen Akt wäre etwa die Aufforderung: „Entscheide du, was du mit dem Stück Holz machen willst, das wir gefunden haben!“ Aber auch das Angebot „Tue etwas mit dem Stück Holz oder lass es!“ wäre bereits eine Aufforderung in Fichtes Sinn, insofern als der so Angesprochene überhaupt vor eine Wahl gestellt würde, die er und niemand anderer zu treffen hätte. Selbst wenn er sich entschiede, nichts zu tun, wäre dies nicht mehr einfach nur vorgegebene Passivität, sondern nun ein aktiver Entschluss, in dem sich Freiheit ereignete. Rekonstruiert man ein derartiges „Auffordern“ in subjektivitätstheoretischer Hinsicht, so zeigt sich Folgendes: Das auffordernde Subjekt A denkt sich im ersten Schritt das aufgeforderte Präsubjekt B als freies Subjekt; es hat damit die Freiheit und Subjektivität von B als das Objekt seines eigenen Denkens und Vorstellens. Diese Vorstellung, die den Inhalt hat, dass B freies Subjekt sei, kommuniziert A nun dem Präsubjekt B, das eben der Gegenstand dieser Vorstellung ist. Damit B sich den Inhalt der Vorstellung von A zu eigen machen kann, genügt es allerdings nicht, dass A deren Inhalt dem Präsubjekt B einfach nur in propositionaler Form mitteilt, indem es ihm z. B. sagen würde: „Du bist ein freies Wesen.“ Denn würde das geschehen, dann würde B die Bestimmung, dass er freies Subjekt ist, wiederum nur als vorgegebenes, von ihm unterschiedenes Objekt seines Denkens erhalten, seine Freiheit aber nicht vollziehen und sich deshalb auch nicht als Subjekt konstituieren können. A muss B dessen Freiheit folglich als etwas vermitteln, das B selbst vollziehen soll. Daraus erklärt sich, warum die Adressierung von B durch A den Charakter einer praktischen Aufforderung zu einem konkreten Handeln haben muss. Erfolgt eine solche Kommunikation, in der B sowohl als frei angesprochen als auch zum freien Handeln aufgefordert wird, dann kann B in der Tat seine eigene Freiheit zugleich vollziehen und sie als Objekt denken. Möglich wird das aber nur dadurch, dass die Identifikation von B als frei handelndem Subjekt mit B als Objekt eines Erkennens seiner selbst als eines frei handelnden Subjekts von einem anderen Subjekt A bereits präfiguriert wurde. B nämlich könnte diese Identifikation aufgrund des Zirkels des Selbstbewusstseins nicht aus sich selbst heraus leisten. Indem B nun aber die Identifikation seiner selbst als eines freien Subjekts, die in der Ansprache durch A vorgenommen wird, übernimmt, kann es jene Identifikation gewissermaßen nachvollziehen und sich auf diese Weise als Sich-Beziehen-auf-sich konstituieren. Auf der Seite von B geschieht dabei Folgendes: B wird von A aufgefordert, frei zu handeln. Durch diese Aufforderung wird das unmittelbare und passive Verhältnis zu den Objekten der Außenwelt, das B zunächst einnimmt, aufgehoben. B muss auf die Ansprache durch A reagieren und tut dies, indem er in die
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Objekte der Außenwelt, von denen er sich bis dahin hatte bestimmen lassen, aktiv einen Zweck setzt. B erfährt durch das freie Setzen eines Zwecks, dass er ein Wesen ist, das von den Objekten der Außenwelt unterschieden ist, und zwar dergestalt, dass es entscheiden kann, ob und in welcher Weise es auf jene Objekte einwirken will. Entscheidend ist dabei, dass B nicht alleine einen Zweck setzt und diesen gegebenenfalls realisiert, sondern dass B von A das Bewußtsein vermittelt bekommt, diesen Zweck frei setzen zu können. Das Anstreben und Realisieren von Zwecken nämlich kommt auch bei Tieren vor und ebenso bei den „Präsubjekten“, die noch keinen äußeren „Anstoß“ zur Freiheit erhalten haben. Es genügt daher nicht, dass B einen Zweck anstrebt; vielmehr muss B sich dessen bewusst sein, dass er diesen Zweck frei gesetzt hat, d. h. dass er auch hätte anders handeln können. Das Bewusstsein der Freiheit im Zweck-Setzen erhält B aber gerade dadurch, dass ihm von A explizit eine Wahl angetragen und gelassen wird. Erst mit dieser Erfahrung des Anders-Handeln-Könnens und damit der Negation einer Bestimmtheit durch die äußeren Objekte, ebenso wie durch die eigenen Triebe, konstituiert B sich als ein Bezugnehmen-auf-sich-selbst: Der Selbstbezug, der das „Ich-Sein“ ausmacht, geht aus dem Bewusstsein hervor, ein Wesen zu sein, das sich auch hätte anders entscheiden können. Ebendieses Bewusstsein kann B aber nicht aus sich selbst hervorbringen, da es dafür bereits hätte Selbstbewusstsein sein müssen, bevor es zum Bewusstsein seiner Freiheit gekommen wäre. Es kann ihm daher nur durch ein anderes Subjekt, das wir hier A genannt haben, vermittelt werden – und zwar dadurch, dass A ihn explizit vor eine Wahl stellt. Dadurch wird auch noch einmal deutlich, dass und warum B nicht in einer rein theoretischen Einstellung angesprochen werden kann, sondern als praktisches, frei handelndes Wesen angesprochen werden muss. Diese Ansprache zeichnet nämlich die Übernahme der Identifikation von B als frei handelndem Subjekt und B als Subjekt, das sich auf sein freies Handeln erkennend bezieht, für B vor. Müsste B diese Identifikation selbst in der Weise vornehmen, dass er die Vorstellung, die A von ihm hat, Selbstbezug zu sein, erst noch eigenständig auf sich beziehen, sie also erst noch für sich übernehmen müsste, so würde B wieder in den Zirkel des Selbstbewusstseins zurückfallen. In diesem Fall nämlich wäre – wie Dieter Henrich in seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Theorie der Vorgängigkeit der Intersubjektivität gegenüber der Subjektivität zu Recht betont hat 24 – das reflexive Moment des Selbstbewusstseins, das „Sich“ Dieter Henrich formuliert seine treffende Kritik an Habermas prägnant folgendermaßen: „Hätte ich nicht schon die Möglichkeit, mich zu mir selbst zu verhalten, so könnte ich über kein Studium der Selbstbeziehungen in der Welt, und wären es auch solche, die (aus der Perspektive eines dritten aus gesehen) meine eigenen sind, zu einer Schlußfolgerung dahingehend veranlaßt werden, daß es mich gibt und daß ich mich wesentlich in einer solchen Beziehung befinde.“ (Henrich, Dieter: Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt a.M. 1982, S. 148). 24
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des Rückbezugs, bereits wieder vorausgesetzt. Denn nur wenn B schon als Selbstbezug existierte, hätte er überhaupt die Möglichkeit, eine Vorstellung, die ein anderes Subjekt von ihm hat, auf „sich“ zu beziehen. Indem B aber zum Bewusstsein seiner selbst dadurch kommt, dass ihm die eine Negation seines Bestimmt-Seins durch die äußeren Objekte kommunikativ in Form einer Wahl präsentiert wird, muss er dieses Bewusstsein nicht erst noch als eine Vorstellung, die zunächst A von ihm hatte, auf „sich“ rückbeziehen (was, wie gesehen, ja unmöglich wäre). Vielmehr vollzieht er seine Freiheit selbst und gelangt so zum Bewusstsein seiner selbst. Damit wird nun deutlich, dass auch der erste der möglichen Einwände, die gegen Fichtes Lösungsvorschlag erhoben werden könnten – der Einwand nämlich, dass die freie Wirksamkeit trotz allem immer noch äußerer Objekte bedarf –, ins Leere geht. In der Tat ist genau das der Fall: wie sich gezeigt hat, bleibt der freie Bezug auf äußere Objekte konstitutiv für das Bewusstsein seiner selbst. Es hat sich nur ebenso gezeigt, dass er nicht ausreicht, um Selbstbewusstsein zu konstituieren, wenn nicht eine Aufforderung zur freien Wirksamkeit durch ein anderes Subjekt hinzutritt. Das Verhältnis zwischen A und B, durch das B sich als Subjekt konstituiert, kann daher nur ein Verhältnis sein, in dem A zwar B vorgängig als frei denkt, in dem B aber den Gedanken seiner Freiheit nicht einfach theoretisch übernimmt, sondern sie selbst praktisch realisiert. Möglich – und zugleich notwendig – ist ein solcher Prozess dann aber in der Tat nur, weil der Inhalt des Gedankens, den A von B hat, nichts anderes als die Freiheit von B ist, das heißt: gerade das Nicht-festgelegt-Sein von B auf eine objektiv vergegenständlichende Bestimmung seiner. Wenn diese Überlegungen Fichtes richtig sind, dann ist nun das gezeigt, was Fichte in den Corollarien zum zweiten Lehrsatz der „Grundlagen des Naturrechts“ behauptet hatte: „[…] sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn. […] Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht der Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.“25 Was damit allerdings noch nicht gezeigt ist, ist, ob und wie sich aus dieser Einsicht überhaupt normative Konsequenzen ergeben und inwiefern diese Konsequenzen die Grundlagen des Rechtsbegriffs bilden. Zudem wurde jene Einsicht hier auf dem Weg einer komplexen transzendentalphilosophischen Reflexion gewonnen, die das einzelne Subjekt vermutlich in dieser Form üblicherweise nicht anstellen wird. Wenn die Einsicht, dass endliche individuelle Subjektivität nur als „Gattung“ und Pluralität denkbar ist, aber normative Konsequenzen haben und das Recht konstituieren soll, dann müsste sie für das einzelne Subjekt auch ohne und schon vor der transzendentalphilosophischen Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit endlicher Subjektivität gegeben sein. In welcher Weise Fichte auf diese beiden Fragen antwortet, soll im folgenden Unterkapitel betrachtet werden. Fichte a.a.O. Corollaria zu § 3 Zweiter Lehrsatz, S. 39.
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
III. Anerkennung als Rechtsprinzip 1. Fichtes Theorie des Rechtsverhältnisses Die bemerkenswerte These, die Fichte im Anschluss an seine Einsicht in die notwendige Pluralität individueller Subjekte formuliert, lautet: „Das endliche Vernunftwesen kann nicht noch andere Vernunftwesen ausser sich annehmen, ohne sich zu setzen, als stehend mit denselben in einem bestimmten Verhältnisse, welches man das Rechtsverhältnis nennt.“26
Um diese Behauptung zu beweisen, geht Fichte im ersten Schritt davon aus, dass jedes endliche und individuelle Subjekt aufgrund der Überlegungen des § 3 der „Grundlage des Naturrechts“, wie sie im vorigen Kapitel rekonstruiert wurden, nicht nur das Bewusstsein seiner selbst ist, sondern zugleich ein Bewusstsein davon hat, dass es außer ihm noch weitere endliche und individuelle Subjekte gibt. Bereits diese Aussage ist allerdings nicht selbstverständlich, wenn man vom Ergebnis ausgeht. Dort nämlich wurde die Pluralität der Existenz endlicher Subjekte durch eine transzendentalphilosophische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit endlicher Subjektivität überhaupt gewonnen. Eine solche Reflexion vorzunehmen ist dem einzelnen Subjekt zwar prinzipiell möglich; Fichtes These ist jedoch, dass sich grundsätzlich jedes endliche Subjekt, sofern es sich nur seiner selbst bewusst ist, auch der Existenz anderer Subjekte bewusst ist. Das bedeutet aber nichts weniger, als dass das Bewusstsein der fremden Subjektivität auch dann gegeben sein muss, wenn es nicht durch eine transzendentalphilosophische Reflexion erschlossen wurde. Dass jedes einzelne Subjekt sich nun dennoch jederzeit dessen bewusst ist, dass eine Vielzahl endlicher Subjekte existiert, resultiert für Fichte daraus, dass es die „Aufforderung“ zur Freiheit, die seine Subjektivität erst ermöglicht, als von außen kommend erfahren und so auch als Bedingung der Möglichkeit eigener Freiheit bewahrt hat: „Der Grund der Wirksamkeit des Subjekts liegt zugleich in dem Wesen ausser ihm und in ihm selbst, der Form nach oder darin, dass überhaupt gehandelt werde. Hätte jenes nicht gewirkt und dadurch das Subject zur Wirksamkeit aufgefordert, so hätte dieses selbst auch nicht gewirkt. Sein Handeln als solches ist durch das Handeln des Wesens ausser ihm bedingt.“27
Mit der Identifikation des „Anstoßes“ als einer Wirkung, die von außen kommt, ist allerdings erst der Anfang gemacht. Denn dass dasjenige Wesen, von dem der „Anstoß zur Freiheit“ ausging, ebenfalls Subjekt ist, scheint auf den ersten Blick noch keineswegs ausgemacht. Betrachtet man die Konstellation allerdings genauer, so wird klar, dass die „Aufforderung zur Freiheit“ von keinem anderen Wesen als einem anderen Subjekt kommen konnte. Der Grund dafür liegt darin, Fichte a.a.O. § 4 Dritter Lehrsatz, S. 41. Fichte a.a.O. § 4 Dritter Lehrsatz, S. 41.
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III. Anerkennung als Rechtsprinzip
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dass die „Aufforderung“ zur freien Wirksamkeit auf der Seite des auffordernden Subjekts eine bewusste Selbstbeschränkung seiner Freiheitsausübung impliziert. Denn hätte das auffordernde Subjekt A dem aufgeforderten Subjekt B nicht zugleich mit der begrifflich-kommunikativen Aufforderung zur Freiheit einen Handlungsraum zur Betätigung der Freiheit eröffnet – ihm also einen Handlungsraum aufgezeigt und belassen dadurch, dass es selbst darauf verzichtet hat, über bestimmte Dinge zu verfügen –, dann wäre die Aufforderung leer und abstrakt geblieben. B nämlich hätte dann gar keine Sphäre gehabt, in der er seine freie Wirksamkeit hätte entfalten können. Ohne eine vorgängige freiwillige Selbstbeschränkung von A wäre B also niemals zum Bewusstsein seiner selbst gekommen. Eine solche freiwillige Selbstbeschränkung ist aber nur einem Wesen möglich, das seinerseits durch Selbstbewusstsein und Freiheit gekennzeichnet ist. Da B wiederum mit seiner Konstitution als Subjekt auch einen Begriff von Freiheit gewinnt, ist ihm dieser Zusammenhang bewusst. Damit schließt sich nun auch aus der Perspektive von B der Kreis: Indem B sich seiner selbst als eines freien und endlichen Subjekts bewusst ist, ist ihm, auch ohne dass er eine explizite transzendentalphilosophische Reflexion vollziehen müsste, bewusst, dass endliche Subjekte nur in einer Pluralität oder – wie Fichte sich ausdrückt: „als Gattung“ – existieren können. Es ist damit aber noch viel mehr gewonnen als nur das Wissen um die notwendige Pluralität endlicher Subjekte. In der Rekonstruktion der Genese dieses Wissens im individuellen Subjekt wurde nämlich gewissermaßen en passant eine Einsicht gewonnen, die für den weiteren Verlauf des Gedankengangs von entscheidender Bedeutung ist: die Einsicht, dass das Wissen um die Pluralität endlicher Subjektivität ein Wissen um die Beschränktheit der Freiheit aller endlichen Subjekte impliziert. Die Rede von der „Beschränktheit der Freiheit“ ist dabei an dieser Stelle noch nicht normativ gemeint, sondern strikt transzendentalphilosophisch. Sie besagt, dass es ein bestimmtes endliches Subjekt nur geben kann, wenn es vorgängig die frei gewählte Selbstbeschränkung von Freiheit durch ein anderes Subjekt gegeben hat. Da es endliche Subjekte nun aber offenkundig gibt, muss es auch immer schon die freie und bewusste Selbstbeschränkung von Freiheit gegeben haben: „Das Wesen ausser ihm [außerhalb des aufgeforderten Subjekts – der Verf.] ist gesetzt als frei, mithin als ein solches, welches die Sphäre, durch die es gegenwärtig bestimmt ist, auch überschreiten, so überschreiten gekonnt hätte, dass dem Subjecte die Möglichkeit eines freien Handelns nicht übriggeblieben wäre. Es hat mit Freiheit sie nicht überschritten; es hat also seine Freiheit – materialiter, d.i. die Sphäre der, durch seine formale Freiheit möglichen, Handlungen, durch sich selbst beschränkt: und das alles wird im Gegensetzen durch das Subject nothwendig gesetzt. […] Ferner, das Wesen ausser dem Subjecte hat, vorausgesetztermassen, das letztere durch seine Handlung zum freien Handeln aufgefordert; es hat demnach seine Freiheit beschränkt durch einen Begriff vom Zwecke, in welchem die Freiheit des Subjectes – wenn auch etwa nur problematisch – vorausge-
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
setzt wurde; es hat sonach seine Freiheit beschränkt durch den Begriff von der (formalen) Freiheit des Subjects.“28
Wie Fichte nun weiter ausführt, ergibt sich aus dieser Konstellation, dass die beiden in den Prozess involvierten Subjekte sich wechselseitig als freie Subjekte begreifen. Dies geschieht in sieben logisch voneinander unterscheidbaren Schritten: 1. Das auffordernde Subjekt A gibt B einen Anstoß zu freiem Handeln, was nur möglich ist, wenn A zugleich bewusst seine eigene Freiheitsausübung beschränkt. Diese bewusste Freiheitsbeschränkung ist möglich, weil A als Subjekt einen Begriff von der Freiheit und Subjektivität des anderen hat. 2. Auf der Grundlage der Aufforderung konstituiert B sich selbst als endliches, aber freies Subjekt. 3. Mit der Konstitution als Subjekt, d. h. als Bewusstsein seiner selbst, gewinnt B seinerseits einen Begriff der Freiheit und sieht ein, dass er nur deshalb als Subjekt ist, weil das auffordernde Subjekt A seine Freiheit eingeschränkt hat. 4. Da B nun weiß, dass nur ein Subjekt dazu in der Lage ist, seine Freiheit aufgrund eines Begriffs der Freiheit eines anderen Subjekts einzuschränken, begreift B nun seinerseits notwendigerweise A als Subjekt. 5. B begreift A aber nicht einfach nur als Subjekt, sondern als ein Subjekt, das seine Freiheit um der Ermöglichung seiner Freiheit, d. h. der Freiheit von B willen eingeschränkt hat. Der bewussten, frei erfolgten Freiheitseinschränkung seitens A verdankt B seine Existenz als Subjekt. Indem B sich als Subjekt begreift, begreift er also zugleich A als Subjekt. 6. B kann sich darum nur als Subjekt begreifen, indem er seinerseits seine Freiheit einschränkt. Würde B nach seiner Konstitution als Subjekt seinerseits eine uneingeschränkte Freiheitssphäre beanspruchen, so geriete er in einen Selbstwiderspruch, da er ja nur aufgrund des Umstandes, dass A seine Freiheit bereits eingeschränkt hat, überhaupt Subjekt sein kann. 7. Um sich selbst überhaupt als Subjekt begreifen zu können, muss B seine eigene Freiheitssphäre zugunsten von A einschränken, so wie A seine Freiheitssphäre zugunsten von B eingeschränkt hat. Eine uneingeschränkte Freiheitssphäre zu beanspruchen würde nämlich bedeuten, die Subjektivität und Freiheit aller anderen Subjekte – und damit auch die von A – zu bestreiten. Damit würde B aber die Voraussetzung aufheben, unter der er alleine seine eigene Existenz als Subjekt denken kann. Sich selbst als endliches und individuelles Subjekt mit einem Anspruch auf Ausübung von Freiheit zu begreifen impliziert also, die eigene Freiheit zur Ermöglichung des freien Subjekt-Seins aller anderen Subjekte einzuschränken. Fichte selbst beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: Fichte a.a.O. § 4 Dritter Lehrsatz, S. 43.
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III. Anerkennung als Rechtsprinzip
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„Das Verhältnis freier Wesen zu einander ist demnach nothwendig auf folgende Weise bestimmt: Die Erkenntnis des Einen Individuums vom anderen ist bedingt dadurch, dass das andere es als ein freies behandele (d. h. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten). Diese Weise der Behandlung aber ist bedingt durch die Handelsweise des ersten gegen das andere; diese durch die Handelsweise und die Erkenntnis des anderen und so ins Unendliche fort. Das Verhältnis freier Wesen zu einander ist daher das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen; und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide gegenseitig sich so behandeln.“29
Ist die hier gegebene Rekonstruktion der intersubjektiven Bedingungen der Möglichkeit endlicher, individueller Subjektivität richtig, so stellt sich natürlich sofort die Frage, was es bedeuten würde, wenn B den theoretischen Selbstwiderspruch ignorieren würde, indem er nicht in Antwort auf die Aufforderung durch A seinerseits seine Freiheitssphäre einschränkte. Der Grund für eine solche Verweigerung könnte, entsprechend der Ausgangskonstellation, auf zweierlei Ebenen liegen. Einmal könnte B in der Tat nicht fähig sein, seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit eines anderen Subjekts einzuschränken. In diesem Fall erwiese B sich allerdings als ein Wesen, das jenseits des Raums der Anerkennung stünde. B wäre nicht im eigentlichen Sinn Subjekt, da es – wie zuvor gezeigt wurde – zum Begriff eines Subjekts gehört, seine eigene Freiheit bewusst zugunsten der Freiheit anderer Subjekte einschränken zu können.30 Komplexer stellte sich die Sachlage dar, wenn B zwar in der Lage wäre, seine Freiheit aufgrund des Begriffs der Freiheit und Subjektivität der anderen endlichen Subjekte einzuschränken, sich aber – trotz des resultierenden Selbstwiderspruchs – in Freiheit entscheiden würde, dies nicht zu tun. Dabei ist nun nicht so sehr an den Fall einer partiellen Anerkennungsverweigerung in Form eines konkreten Verbrechens gedacht, die immer noch auf dem Boden einer ansonsten erfolgenden prinzipiellen Anerkennung stünde, sondern an eine gewissermaßen generelle Anerkennungsverweigerung: also an den Fall des radikal Bösen. Zum einen könnte ein derart generell die Anerkennung der anderen verweigerndes Subjekt sich selbst vermutlich nur momentan, nicht aber in einer zeitlichen Erstreckung als Subjekt begreifen. Zum anderen aber fiele auch für die anderen Subjekte die Verpflichtung weg, ihre Freiheit zugunsten eines solchen radikal bösen B einzuschränken, beruht diese Verpflichtung doch allein darauf, dass B sich als dem Begriff eines Subjekts entsprechend dadurch erweist, dass er seine Freiheit einschränkt. Der Grund dafür, dass dem anerkennungsverweigernden Subjekt wiederum legitimerweise die Anerkennung verweigert werden kann, liegt freilich nicht so sehr darin, dass ein die Freiheitseinschrän Fichte a.a.O. § 4 Dritter Lehrsatz, S. 4 4. Ein naheliegendes Beispiel für eine Gruppe von Wesen, die nicht in der Lage sind, ihre Freiheit aufgrund des Begriffs der Freiheit anderer Subjekte einzuschränken, wären Tiere. 29
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
kung verweigerndes Subjekt von anderen Subjekten nicht als Subjekt begriffen werden könnte, sondern darin, dass B von den anderen Subjekten nicht als Bedingung der Möglichkeit ihres Subjekt-Seins bzw. des Subjekt-Seins irgendeines Subjekts begriffen werden könnte. Damit resultierte aus der Nichtanerkennung eines die Anerkennung verweigernden Subjekts B auf der Seite der anderen Subjekte nämlich kein Selbstwiderspruch, wie er sonst resultieren würde. Diese Überlegung zeigt zugleich, dass der Gedanke der wechselseitigen Anerkennung kein oberflächliches „do ut des“ meint, das als solches die Existenz der beteiligten Subjekte als Subjekte bereits voraussetzt. Der Grund dafür, dass einem Subjekt gegenüber, welches anderen Subjekten die Anerkennung als freies Subjekt verweigert, selbst keine Pflicht zur Anerkennung besteht, ist nicht, dass das anerkennungsverweigernde Subjekt einer irgendwie bereits bestehenden Norm der Gerechtigkeit nicht entsprechen würde. Vielmehr liegt er darin, dass die anderen endlichen Subjekte nicht in einen Selbstwiderspruch geraten, wenn sie ein Subjekt, das seine Freiheit nicht zur Ermöglichung der Freiheit aller endlichen Subjekte beschränkt, nicht als Subjekt behandeln. Nur darum gibt es dem hypothetischen angenommenen „anerkennungsverweigernden Subjekt“ gegenüber keine Pflicht zur Anerkennung.
2. Symmetrie und Asymmetrie des Rechtsverhältnisses An dieser Stelle drängt sich nun allerdings die Frage auf, wie aus der Struktur interpersonaler Anerkennung, die Fichte bis zu diesem Punkt nachgezeichnet hat, überhaupt ein Verhältnis der wechselseitigen und symmetrischen Anerkennung, wie sie für die rechtliche Normativität charakteristisch ist, soll hervorgehen können. Denn wie es scheint, ist die Anerkennung, so wie Fichte sie skizziert, jedenfalls in ihrem Ausgangspunkt von grundlegend asymmetrischer Natur: Es gibt ein aufforderndes Wesen (A), das doch offenbar bereits Subjekt sein musste, um die Aufforderung vollziehen zu können – da es sonst keinen Begriff von Freiheit hätte –, und ein aufgefordertes Wesen (B), das sich überhaupt erst vermittels der Aufforderung als Subjekt konstituieren konnte. Wenn das aber der Fall ist, dann ist überhaupt nicht klar, was das auffordernde Subjekt A überhaupt dazu veranlasst oder gar verpflichtet haben sollte, B zur freien Wirksamkeit aufzufordern. Nachdem sich B als Selbstbewusstsein konstituiert hat, mag das Anerkennungsverhältnis wechselseitigen Charakter annehmen und so die Beschränkung der eigenen Freiheit um der Freiheit des anderen willen die Natur einer Verpflichtung annehmen. Damit das aber möglich ist, scheint vorgängig eine radikal einseitige Anerkennung des anderen als Subjekt erfolgt sein zu müssen, zu der das anerkennende Subjekt in keiner Weise verpflichtet war, die mithin gänzlich willkürlich und grundlos erfolgte. Ja, mehr noch, es scheint diese einseitige Anerkennung sogar gleichsam auf einer Fehlannahme zu beruhen, insofern das Wesen, das als Subjekt anerkannt wurde, ja im
III. Anerkennung als Rechtsprinzip
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Moment der Freiheitsbeschränkung durch das anerkennende Subjekt sich noch gar nicht als freies Subjekt konstituiert hatte. Der Zirkel des Selbstbewusstseins scheint dementsprechend auf der Ebene des interpersonalen Verhältnisses in transformierter Form wiederzukehren. Mithin scheint der Aufforderungsakt nicht nur in normativer Hinsicht grundlos zu sein – da nichts das auffordernde Subjekt zur Aufforderung verpflichtet –, sondern auch in ontologischer und epistemischer Hinsicht, da das auffordernde Subjekt seine Freiheit im Moment der Freiheitsbeschränkung selbst nicht zugunsten eines anderen Subjekts beschränkt, sondern (noch) zugunsten eines Präsubjekts, dem es lediglich die Möglichkeit zu Freiheit und Selbstbewusstsein unterstellt. Ist das alles richtig, dann gerät allerdings die Möglichkeit des Rechts als einer Struktur symmetrischer und wechselseitiger Verpflichtung in Gefahr, der reinen Willkür der gleichsam bereits „fertigen“ Subjekte ausgeliefert zu werden: das auffordernde Subjekt A nämlich könnte sich jederzeit entscheiden, keine Aufforderung auszusprechen, und würde damit dem Präsubjekt B keinerlei Unrecht tun, da dieses sich ja ohne A’s Freiheitsbeschränkung nicht als Subjekt konstituieren kann, so dass wiederum im Moment von A’s Freiheitsbeschränkung auch keine Pflicht zur Freiheitsbeschränkung auf Seiten von A bestehen würde, die A verletzen könnte. Die ursprüngliche Freiheitsbeschränkung bliebe damit ein Akt, für den kein Grund und keine Verpflichtung angegeben werden könnte. Eine solche Kritik an Fichtes Theorie würde allerdings zwei wesentliche Punkte übersehen. Der eine dieser Punkte besteht darin, dass das auffordernde Subjekt A vor dem Akt der „Aufforderung“ gar nicht wissen kann, ob es sich bei dem aufgeforderten B um ein „Präsubjekt“ oder ein Subjekt handelt. Hinsichtlich des Aussprechens der „Aufforderung“ und der damit einhergehenden Selbstbeschränkung macht es also gar keinen Unterschied, ob das aufgeforderte Wesen bereits als Subjekt oder erst als „Präsubjekt“ existiert. Entscheidend ist vielmehr, ob die Aufforderung nachträglich in der Weise beantwortet wird, dass das aufgeforderte Wesen sich seinerseits auf eine bestimmte Freiheitssphäre beschränkt und sich damit als Subjekt erweist. Ob es sich als Subjekt erst im Moment des Aufgefordert-Werdens konstituiert hat oder bereits vorher als solches konstituiert hatte, spielt dementsprechend für die gesamte Konstellation keine Rolle. In beiden Fällen nämlich bestätigt sich die Unterstellung, die das auffordernde Subjekt dadurch gemacht hat, dass es die Aufforderung ausgesprochen und seine eigene Freiheit beschränkt hat. Wenn sich jene Unterstellung aber bestätigt, die Freiheitseinschränkung also durch eine Freiheitseinschränkung beantwortet wird, dann ist das auffordernde Subjekt sogleich verpflichtet, seine zunächst bedingte Anerkennung des anderen in eine kategorische zu transformieren.31 Zum Aussprechen einer bedingten Anerkennung ist es aber wiederum dadurch verpflichtet, dass es – wie ausführlich gezeigt wurde – seine eigene Sub Vgl. dazu die Bemerkung Fichtes: „Alles problematische wird kategorisch, wenn die
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
jektivität nicht denken kann ohne zugleich die Existenz anderer Subjekte, die sein Subjekt-Sein und seine Freiheit ermöglichen, vorauszusetzen. Ruft man sich diesen Punkt in Erinnerung, so wird deutlich, dass und warum der oben skizzierte Einwand ins Leere geht. Subjektivität erweist sich nämlich an dieser Stelle des Gedankensgangs in gewisser Weise grundsätzlich als etwas, das immer nur in Form eines „Vorschusses“ unterstellt werden kann, der aus prinzipiellen Gründen immer erst nachträglich eingelöst werden kann. Genau aufgrund dieser prinzipiellen und unaufhebbaren Nachträglichkeit besteht aber eine Verpflichtung, jenen „Vorschuss“ jeweils auch zu geben, d. h. jedem Wesen, von dem vermutet werden kann 32 , dass es Subjekt ist oder das Potential hat, Subjekt zu sein, erstens zu unterstellen, dass es seine Subjektivität realisieren kann und zweitens sein eigenes Handeln an dieser Annahme auszurichten. Diese Überlegung leitet dann auch zur zweiten Hinsicht über, in der der Einwand an der Sache vorbeigeht. Tatsächlich verlangt er von Fichte nämlich mehr, als Fichte zeigen will und auch nur zeigen muss. Um das Anerkennungsprinzip als Prinzip des Rechts aufzuweisen, muss Fichte lediglich zeigen, dass jedes endliche, individuelle Subjekt sich selbst nur unter der Bedingung als endliches, individuelles Subjekt denken kann, dass außer ihm noch andere endliche Subjekte existieren und seine Subjektivität durch eine Beschränkung ihrer Freiheit ermöglichen. Indem ein endliches Subjekt weiterhin darauf reflektieren kann, dass ebendies auch für jedes einzelne der anderen Subjekte gilt, d. h. dass auch diese jeweils ihre Subjektivität nur unter der Bedingung denken können, dass die anderen Subjekte ihre Freiheit bewusst beschränkt haben, ergibt sich – allerdings, wie nicht genug betont werden kann, erst auf dieser Reflexionsebene – ein Begriff der Anerkennung, der trotz oder gerade wegen der Asymmetrie des Aufforderungsakts ein Begriff wechselseitiger Anerkennung ist. Gerade diese reflexive Ebene, auf der das einzelne endliche Subjekt seine Eingebundenheit in und Bedingtheit durch einen umfassenderen Anerkennungsraum erkennt, ist aber die Ebene des Rechtsprinzips und die Perspektive, aus der das Recht begriffen werden muss. Mehr als das muss dementsprechend auch überhaupt nicht gezeigt werden, um das Prinzip der notwendigen wechselseitigen Anerkennung von freien Subjekten als freien Subjekten zu gewinnen. Aus dem Anerkennungsprinzip ergibt sich dann ohne weiteres ein Prinzip rechtlicher Normativität, das inhaltlich weitgehend mit der kantischen Rechtsidee identisch ist. In Fichtes Fassung lautet es: „Soll überhaupt die Vernunft in der Sinnenwelt realisiert werden, so muss es möglich seyn, dass mehrere vernünftige Wesen, als solche, d.i. als freie Wesen neben einander bestehen. Das postulierte Beisammenstehen der Freiheit mehrerer aber ist, – es versteht Bedingung hinzukömmt […] wird die Bedingung gegeben, so ist nothwendig das Bedingte anzunehmen. (Fichte a.a.O. § 4 Dritter Lehrsatz, S. 46). 32 Diese Vermutung kann sich wiederum sinnvollerweise nur an der Spezieszugehörigkeit festmachen.
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sich beständig und nach einer Regel, nicht etwa bloss hier und da zufälligerweise – nur dadurch möglich, dass jedes freie Wesen es sich zum Gesetz mache, seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit aller übrigen einzuschränken.“33
Wie dieses Rechtsprinzip aus dem Gedanken der wechselseitigen Anerkennung von Subjekten als Subjekten folgt, ist dann eigentlich bereits klar, wenn man sich die Anerkennungsrelation verdeutlicht, wie sie oben entwickelt wurde. Anerkennung ist demnach ein Akt, der gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er die theoretische Einsicht in die Gleichursprünglichkeit der eigenen Subjekthaftigkeit und Freiheit mit der Subjekthaftigkeit und Freiheit aller anderen Subjekte mit der praktischen Behandlung dieser Subjekte als frei verschränkt. Die Verschränkung resultiert daraus, dass – wie wir gesehen haben – das Sein von endlich-individueller Subjektivität überhaupt nur über Handlungen der in Freiheit erfolgenden wechselseitigen Freiheitsbeschränkung möglich wird, so dass eine Praxis der Freiheitsbeschränkung der Einsicht in die Subjekthaftigkeit sowohl seiner selbst wie der anderen Subjekte vorausgeht. Diese Einsicht ist darum aber gleichwohl nicht ein bloß ephemeres Phänomen, das ebenso gut entfallen könnte. Vielmehr ist es gerade die reflexive Einsicht in die wechselseitige Verwiesenheit endlicher, aber freier Subjekte aufeinander, die konstitutiv dafür ist, dass die Praxis der Freiheitsbeschränkung sich in eine Pflicht zur Freiheitsbeschränkung transformiert. Das wiederum ist der Fall, da jedes einzelne der Subjekte durch die Reflexion darauf, dass die Praxis wechselseitiger Anerkennung und Freiheitsbeschränkung die Bedingung der Möglichkeit seines Seins als endliches Subjekt ist, begreift, dass es sich in einen Selbstwiderspruch verwickeln würde, wenn es seine eigene Freiheitssphäre nicht zum Zweck der Ermöglichung der Freiheit aller Subjekte einschränken würde. Mit den bisherigen Überlegungen konnten dementsprechend die Grundzüge einer transzendentalphilosophischen Begründung des Rechtsgedankens aus der notwendigen wechselseitigen Verwiesenheit endlicher Subjekte aufeinander, wie sie sich wiederum aus den Grundstrukturen dieser Subjektivität ergibt, skizziert werden. Dabei wird man freilich nicht verhehlen können, dass der hier rekonstruierte Argumentationsgang Fichtes an einzelnen Punkten noch manche Schwierigkeiten mit sich bringt, die einer Auflösung bedürften. Insbesondere birgt Fichtes Gedanke eines zunächst einseitigen Aufforderungsakts manche Probleme, von denen eines bereits ausführlicher behandelt wurde. Ein weiteres Problem liegt in dem Umstand begründet, dass der Aufforderungsakt so wie Fichte ihn konzipiert, in einen weiteren infiniten Regreß zu führen scheint, da er impliziert, dass es immer schon zumindest ein Subjekt gegeben haben müsste, von dem die allererste „Aufforderung“ ausgegangen ist, das selbst aber keiner „Aufforderung“ bedurfte, um Subjekt zu sein. Fichte gesteht diese Schwierigkeit selbst ein und rettet sich aus ihr durch einen Rückgriff auf Gott Fichte a.a.O. § 8 Deduction der Eintheilung einer Rechtslehre, S. 92.
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als demjenigen, der ohne selbst einer Aufforderung zu bedürfen, die erste Aufforderung ausgesprochen habe: „Wer erzog denn das erste Menschenpaar? Erzogen mussten sie werden; denn der geführte Beweis ist allgemein. Ein Mensch konnte sie nicht erziehen, da sie die ersten Menschen seyn sollten. Also ist es nothwendig, dass sie ein anderes vernünftiges Wesen erzogen, das kein Mensch war – es versteht sich, bestimmt nur so weit, bis sie sich selbst unter einander erziehen konnten. Ein Geist nahm sich ihrer an, ganz so, wie es eine alte ehrwürdige Urkunde vorstellt […]“34
Diese Lösung, mit der Fichte, betrachtet man den eher tastenden Charakter der zitierten Passage, selbst nicht wirklich zufrieden zu sein scheint, ist alleine deshalb nicht recht überzeugend, da sie doch sehr stark nach einer ad hoc-Hypothese aussieht und im wahrsten Sinne des Wortes wie ein deus ex machina daherkommt. Unbhängig davon weist sie aber auch eine systematische Schwierigkeit auf, die Vittorio Hösle in einem scharfsinnigen Aufsatz herausgearbeitet hat35 . Indem Fichte nämlich auf Gott zurückgreift, unterläuft er, wie Hösle richtig bemerkt, seine eigene, für das Rechtsverhältnis grundlegende These, dass „der Mensch nur unter Menschen ein Mensch [wird]“36 und dass daher gelte: „sollen überhaupt Menschen seyn, so müssen mehrere seyn“.37 Denn in der Tat wird es nun für das einzelne endliche Subjekt wieder denkbar, dass es außer ihm selbst eben keine anderen endlichen Subjekte gibt, sondern er durch Gott als unendlicher Subjektivität zu seinem Subjektsein gekommen ist. Hösle führt dazu aus: „Unbefriedigend ist Fichtes Ausflucht vor allem deshalb, weil mit ihr sein ganzer Beweis zusammenbricht. Wenn die Aufforderung auch durch einen nicht endlichen Geist zustande kommen kann, dann ist die Pluralität endlicher Geister nicht bewiesen; denn eine Welt, die aus einem endlichen Geist und Gott bestünde, wäre durchaus denkmöglich.“38
Diese und die vorgenannten Schwierigkeiten resultieren, wie leicht zu sehen ist, allesamt daraus, dass Fichte den Vorgang der Aufforderung als einen asymmetrischen Vorgang begreift, bei dem die Aufforderung von einem Wesen ausgeht, das bereits Subjekt ist. Der infinite Regreß ergibt sich dann unvermeidlich insofern, als eine solche Konzeption die Existenz zumindest eines Subjekts − gewissermaßen einen „unaufgeforderten Aufforderer“ – immer schon voraussetzen muss. Ohne dass dies im Rahmen einer dem Menschenwürdebegriff gewidmeten Studie detailliert ausgeführt werden könnte, scheint es aber tatsächlich gar nicht notwendig zu sein, die Aufforderung in der Weise asymmetrisch zu ver Fichte a.a.O. Corollaria zu § 3 Zweiter Lehrsatz, S. 39 f. Hösle, Vittorio: Intersubjektivität und Willensfreiheit in Fichtes „Sittenlehre“. In: Kahlo, Michael/Wolff, Ernst A./Zaczyk, Rainer (Hg.): Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Frankfurt a.M. 1992, S. 29–52. 36 Fichte a.a.O. Corollaria zu § 3 Zweiter Lehrsatz, S. 39. 37 Fichte a.a.O. Corollaria zu § 3 Zweiter Lehrsatz, S. 39. 38 Hösle a.a.O. S. 45. 34 35
IV. Anerkennung und Menschenwürde
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stehen, wie Fichte das tut. Ohne dass grundlegende Veränderungen an Fichtes Ansatz erforderlich würden, wäre es denkbar, die Aufforderung als einen wechselseitigen und symmetrischen Vorgang zu begreifen, der sich auch zwischen zwei Wesen ereignet, die ihre Subjektivität beide noch nicht realisiert haben. Diese Überlegung im Detail durchzuführen, würde freilich einer eigenen umfangreichen Studie zum Anerkennungsbegriff bedürfen. Dessen ungeachtet lässt sich im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung festhalten, dass eine anerkennungstheoretische Konzeption rechtlicher Normativität, wie sie Fichte in der „Grundlage des Naturrechts“ exemplarisch durchgeführt hat, dazu geeignet ist, die zentralen Momente des rechtlichen Menschenwürdebegriffs theoretisch einzuholen. Dies soll im folgenden Unterkapitel 5.IV., sowie in den Unterkapiteln 6.II. und 6.III. des Näheren gezeigt werden.
IV. Anerkennung und Menschenwürde Ist die in den vorigen Unterkapiteln 5.II. und 5.III. gegebene Rekonstruktion des Anerkennungsprinzips richtig, dann schließt die Anerkennung der anderen Subjekte als mit Freiheit begabter individueller Subjekte eine Pflicht zur Beschränkung der je eigenen Freiheit zur Ermöglichung der Freiheit aller individuellen Subjekte ein. Indem diese Pflicht für alle Individuen in gleicher Weise gilt, ergibt sich das Rechtsprinzip in der Formulierung Fichtes, dem gemäß jedes Subjekt dazu verpflichtet ist, die Freiheit der anderen Subjekte durch eine Beschränkung der eigenen Freiheit zu ermöglichen. Da jede Freiheitseinschränkung nur zur Ermöglichung von Freiheit legitim sein kann, ergibt sich daraus im Umkehrschluss nicht zuletzt, dass die Freiheit jedes der beteiligten Subjekte nur genau in dem Maß eingeschränkt werden darf, das zur Ermöglichung eines Maximums an gleicher Freiheit für alle Subjekte erforderlich ist. Das Anerkennungsprinzip impliziert daher, dass jedes Subjekt notwendigerweise sich selbst und jedem anderen Subjekt einen Anspruch auf die unbedingte Respektierung derjenigen eingeschränkten Freiheitssphäre zuerkennt, die mit der Ermöglichung gleicher Freiheit für alle Subjekte vereinbar ist. Genau insoweit, wie die verschiedenen Subjekte sich als Subjekte anerkennen, erkennen sie sich also auch an als ausgestattet mit Ansprüchen, die jedes Subjekt jederzeit gegen jedes andere Subjekt geltend machen kann. Einen derartigen Anspruch einer Person, den diese Person jederzeit gegenüber jeder anderen Person geltend machen kann, nennt man nun gemeinhin – sofern man nicht als Rechtspositivist der Auffassung ist, Rechte gebe es überhaupt nur in Form gesetzter Rechte – ein „Recht“. Genauer gesagt, handelt es sich bei dem Recht, von dem hier die Rede ist, um dasjenige grundlegende Recht, aus dem allererst der Begriff eines subjektiven „Rechts“ hervorgeht und aus dem alle konkreten Freiheitsrechte von Personen ableitbar sind. Fichte spricht in diesem Zusammen-
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
hang denn auch treffend von dem „Urrecht“.39 Gleichzeitig geht aus dem Gedanken des „Urrechts“ nicht nur der Begriff der subjektiven Rechte hervor, sondern auch der Begriff des „Rechts“ überhaupt, d. h. eines Systems von Regeln, das dazu dient, allen Individuen gleiche Freiheitssphären zu garantieren. Die Anerkennung der anderen Subjekte als Subjekte impliziert damit immer zugleich ihre Anerkennung als Träger subjektiver Rechte, d. h. ihre Anerkennung als Rechtssubjekte und Mitglieder einer Gemeinschaft freier Vernunftwesen, die ihr Zusammenleben entsprechend dem Rechtsprinzip gestalten. Bemerkenswert an dieser Konstellation ist, dass das Recht bei Fichte aus einer wechselseitigen Verpflichtung der Subjekte hervorgeht, die dem Recht als System von freiheitsermöglichenden Regeln noch vorausliegt. In diesem Punkt unterscheidet Fichtes Ansatz sich deutlich von dem Kants, der der Rechtsidee den moralischen Verpflichtungscharakter abgesprochen hatte und sie stattdessen als ein „Postulat“ der Vernunft charakterisiert hatte. Indem das Anerkennungsprinzip nun aber die Rechtsidee gleichsam in die Konstitution von Subjektivität einschreibt, kann jedes endliche Subjekt die Pflichten, die sich aus der wechselseitigen Anerkennung ergeben, nur noch um den Preis eines Selbstwiderspruchs zurückweisen, der es ihm unmöglich machte, sich selbst überhaupt als freies Subjekt zu begreifen. Die verschiedenen Individuen sind insofern auch unmittelbar, und nicht bloß vermittelt über ein Postulat, verpflichtet, ihre Freiheitssphären im Hinblick auf die Ermöglichung der Freiheit aller Individuen einzuschränken und diese damit als Träger von Rechten anzuerkennen. Erst aus dieser grundlegenden Pflicht, die jedes Subjekt hat, resultiert dann wiederum eine Pflicht zweiter Ordnung: die Pflicht nämlich, gemeinsam ein System von Regeln zu etablieren, das der Ermöglichung gleicher maximaler Freiheit gemäß ist, und zugleich damit eine Zwangsgewalt – den Staat – einzusetzen, die die Einhaltung dieses Systems von Regeln garantiert. Es ist nun unschwer zu erkennen, dass das Anerkennungsprinzip, wie es Fichte entwickelt, die erste zentrale Funktion theoretisch einzuholen vermag, die in zeitgenössischen Rechtsdokumenten dem Menschenwürdebegriff zukommt. Diese wurden im Rahmen der im 2. Kapitel vorgenommenen Rekonstruktion des Gehalts des rechtlichen Menschenwürdebegriffs dahingehend bestimmt, dass die Menschenwürde dort als Prinzip und Geltungsgrund der Grund- bzw. Menschenrechte fungiert.40 Diese Doppelfunktion hat sich nun als das Wesen der Anerkennung als Rechtssubjekt erwiesen. Prinzip des Rechts und der subjektiven Rechte ist die Anerkennung insofern, als aus ihr Recht und Rechte in formaler wie in inhaltlicher Sicht hervorgehen. Geltungsgrund ist sie Fichte a.a.O. § 10 Definition des Urrechts, S. 113. Als weitere Funktion wurde, zumindest im Hinblick auf das deutsche Grundgesetz, diejenige identifiziert, eine Grenze der Abwägbarkeit von Rechten gegeneinander zu bilden. Ob und inwiefern sich auch diese Funktion aus dem Anerkennungsprinzip herleiten lässt, soll das folgende Kapitel zeigen. 39
40
IV. Anerkennung und Menschenwürde
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insofern, als sie dasjenige Moment bildet, das die verschiedenen Subjekte darauf verpflichtet, jeweils alle anderen Subjekte als Rechtssubjekte anzuerkennen und zu behandeln. Damit ist nun nichts weniger erwiesen, als dass der Begriff der wechselseitigen Anerkennung vernünftiger Subjekte als Rechtssubjekte seinen normativen Konsequenzen nach mit dem Menschenwürdebegriff des zeitgenössischen Rechtsdenkens deckungsgleich ist. Diese Aussage darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Anerkennungsbegriff nur ein Synonym für das wäre, was in zeitgenössischen Rechtsdokumenten „Menschenwürde“ genannt wird. Vielmehr bietet er darüber hinaus gerade eine philosophische, überpositive Grundlegung jenes rechtlichen Menschenwürdebegriffs. Im Ausgang von dieser Grundlegung lässt sich dann wiederum, wie das letzte Kapitel der vorliegenden Studie zeigen soll, eine rechtsphilosophisch fundierte Kritik der juristischen Verfassungsrechtsdogmatik formulieren. Eine solche Vorgehensweise dürfte nun allerdings einen gewichtigen Einwand provozieren: den Einwand, dass Fichte selbst den Begriff der Menschenwürde im Zusammenhang seiner Rechtslehre nicht prominent gebrauche und dass es dementsprechend nicht legitim sei, den dort entwickelten Anerkennungsbegriff zur Explikation des Menschenwürdebegriffs heranzuziehen. Dieser Einwand ist jedoch aus zwei Gründen nicht stichhaltig. Zum einen konnte gezeigt werden, dass das Anerkennungsprinzip die zentrale (Doppel)Funktion des rechtlichen Menschenwürdebegriffs – Prinzip und Geltungsgrund der Grund- bzw. Menschenrechte zu sein – theoretisch einzuholen gestattet. Die Rekonstruktion des Menschenwürdebegriffs mithilfe der Figur der Anerkennung macht es hierbei zugleich möglich, den universalen normativen Anspruch, der mit diesem Begriff in den zeitgenössischen Menschenrechtsdiskursen erhoben wird, philosophisch auszuweisen. Unabhängig davon, ob das Wort „Menschenwürde“ in der Rechtsphilosophie Fichtes auftaucht, ist also dasjenige, was den rechtlichen Menschenwürdebegriff der Sache nach ausmacht, dort ohne Zweifel präsent. Ja, mehr noch, die Figur der Anerkennung vermag den rechtlichen Menschenwürdebegriff überhaupt erst philosophisch zu begründen und ihn dadurch gegen den Vorwurf kultureller Bedingtheit oder geschichtlicher Kontingenz zu verteidigen. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass Fichte den Begriff der „Würde des Menschen“ in den „Grundlagen des Naturrechts“ zwar nur selten benützt, dann aber durchaus in einer Weise, die den Zusammenhang zwischen Würde und Rechtsprinzip klar benennt. So schreibt er in einer Passage, in der es um dasjenige geht, was man heute vermutlich „sexuelle Selbstbestimmung“ nennen würde, unmißverständlich: „Nun verliert aber das Weib seine Persönlichkeit und seine ganze Würde, wenn sie ohne Liebe der Geschlechtslust eines Mannes sich zu unterwerfen genöthigt wird. Sonach ist es absolute Pflichte des Staates, seine Bürgerinnen gegen diesen Zwang zu schützen […]
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5. Kapitel: Fichtes anerkennungstheoretische Grundlegung des Rechts
Eine Pflicht, die so heilig und unverletztlich ist, als die, das Leben der Bürger zu schützen.“41
Auch an anderer Stelle in Fichtes Werk wird von ihm selbst der Zusammenhang zwischen der Anerkennung als Subjekt und dem Menschenwürdebegriff explizit hergestellt. So gab er der letzten seiner 1794 in Zürich gehaltenen Vorlesungen über die „Wissenschaftslehre“ den bezeichnenden Titel „Über die Würde des Menschen“ und führte darin mit fast atemlos wirkendem rhetorischem Überschwang aus: „Das ist der Mensch; das ist jeder der sich sagen kann: Ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen, und schaudern und erheben vor seiner eigenen Majestät! – Das ist jeder, der mir sagen kann: Ich bin. – Wo du auch wohnest, du, der du nur Menschenantlitz trägst; – ob du auch noch so nahe grenzend mit dem Thiere, unter dem Stecken des Treibers Zuckerrohr pflanzest, oder ob du an des Feuerlandes Küsten dich an der durch dich nicht entzündeten Flamme wärmst […] – oder ob du mir der verworfenste, elendeste Bösewicht scheinest – du bist darum doch, was ich bin; denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum doch mein Gesell und mein Bruder.“42
Fichtes Konzeption der Anerkennung ist aber auch in historisch-systematischer Hinsicht aufs engste mit dem Menschenwürdebegriff verwoben. Wie gesehen, bildeten Kants Begriff der „Würde des Menschen“ und die „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs den philosophischen Anknüpfungspunkt der innerjuristischen Auslegung der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes. Im vorigen Kapitel wurde nun im Hinblick auf den kantischen Begriff der Menschenwürde zweierlei gezeigt: zum einen, dass die Würde des Menschen bei Kant bereits das Resultat – und nicht etwa der Grund – derjenigen Achtung ist, die autonome Vernunftwesen notwendigerweise sich selbst und allen anderen autonomen Vernunftwesen aufgrund von deren Fähigkeit zu autonomem, moralischem Verhalten entgegenbringen. Wie wir ebenfalls gesehen hatten, blieb bei Kant aber noch weitgehend im Dunkeln, in welchem Zusammenhang die Gedanken der Menschenwürde und der Selbstzwecklichkeit mit der Rechtsidee stehen, ebenso wie er die Pluralität autonomer Vernunftwesen einfach als gegeben voraussetzte. Fichtes Transformation des Menschenwürdegedankens in den Gedanken der notwendigen wechselseitigen Anerkennung von Subjekten als freien Vernunftwesen und Rechtssubjekten bringt Licht in dieses Dunkel. So hat sich in der Untersuchung der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs gezeigt, dass Kants Konzeption des Menschen als eines „Zwecks an sich“ nur dann einen nichttheologischen Sinn ergeben kann, wenn darunter verstanden wird, dass jedes Vernunftwesen notwendig sein eigenes Sein-als41 Fichte a.a.O. Erster Anhang des Naturrechts: Grundriss des Familienrechts, Zweiter Abschnitt: Das Eherecht, § 10, S. 318. 42 Fichte, Johann Gottlieb: Über die Würde des Menschen, beim Schlusse seiner philosophischen Vorlesungen gesprochen von J. G. Fichte. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band I. ND Berlin 1971, S. 415.
IV. Anerkennung und Menschenwürde
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freies Subjekt und in der Folge auch das Sein-als-freies-Subjekt aller anderen Vernunftwesen anstrebt. Bei Fichte findet sich dieser Gedanke in der Formulierung wieder, das einzelne Subjekt schränke seine Freiheit aufgrund des Begriffs der Freiheit der anderen ein. Diese Formulierung bringt erst recht auf den Punkt, was – jedenfalls in intersubjektiver Hinsicht43 – unter „Selbstzwecklichkeit“ verstanden wird: Genau indem ein Subjekt entsprechend dem Begriff der Freiheit und Subjekthaftigkeit des anderen Subjekts handelt, behandelt es dieses andere Subjekt als „Zweck an sich“ und nicht als Mittel zum Zweck der Ausübung seiner eigenen Willkürfreiheit. Wer die eigene Willkürfreiheit aufgrund des Begriffs des freien Subjekt-Seins einschränkt, der handelt wiederum autonom, insofern er eben fähig ist, den Grund seines Handelns nicht aus seinen Trieben und Neigungen zu gewinnen, sondern aus der Orientierung am Allgemeinen. Nur wenn ein Subjekt derart handelt, handelt es selbst als ein Subjekt und muss daher seinerseits als Subjekt behandelt werden. Genau in dieser Konstellation liegt dann weiterhin auch der Zusammenhang zwischen dem Gedanken der Menschenwürde qua Autonomie und der Rechtsidee als dem Prinzip der Freiheitseinschränkung um der Ermöglichung der gleichen Freiheit aller Subjekte willen nach allgemeinen Regeln begründet – ein Zusammenhang, der hinsichtlich Kant erst mühsam rekonstruiert werden musste. Fichtes anerkennungstheoretische Reformulierung der Praktischen Philosophie Kants bildet damit auch in historisch-systematischer Hinsicht das fehlende Bindeglied zwischen dem kantischen Menschenwürdebegriff und dem auf die Anerkennung als Rechtssubjekt abzielenden Menschenwürdebegriff des zeitgenössischen Rechtsdenkens. Mit alldem konnte bislang allerdings lediglich gezeigt werden, dass mithilfe des anerkennungstheoretischen Ansatzes in der Rechtsphilosophie die Rolle des modernen, rechtlichen Menschenwürdebegriffs, Prinzip und Geltungsgrund der Grund- bzw. Menschenrechte zu sein, theoretisch eingeholt werden kann. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob sich vom anerkennungstheoretischen Ansatz her auch diejenige Funktion plausibel machen lässt, die der Menschenwürdegarantie insbesondere im deutschen Verfassungsrechtsdiskurs zugesprochen wird: nämlich eine absolute Grenze der Abwägbarkeit und Aufhebbarkeit von Rechten zu bilden. Diese Frage soll, nach einem Exkurs zur „Nichterniedrigungstheorie“ der Menschenwürde, im 6. Kapitel beantwortet werden.
43 Die hier skizzierte Überlegung gilt natürlich, wie besonders in der Sittenlehre von 1798 ausgeführt, auch bei Fichte mutatis mutandis ebenso für die Pflichten gegen sich selbst, d. h. für das Behandeln seiner selbst als Subjekt. Der Gedanke der Selbstzwecklichkeit ist bei den Pflichten gegen sich selbst allerdings anspruchsvoller, insofern es dort nicht um äußere Freiheit, sondern wie bei Kant um Autonomie geht.
1. Exkurs
Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik
Wie bereits mehrfach erwähnt, findet in den aktuellen Diskursen über die Menschenwürde eine Theorie breiten Anklang, die in der Menschenwürdegarantie weder den Geltungsgrund und das Prinzip der Menschenrechte, noch eine absolute Schranke der Abwägbarkeit von Rechten gegeneinander sieht. Vielmehr versteht diese Theorie unter der Menschenwürdegarantie eine ganz bestimmte Norm, nämlich das Verbot, erniedrigt oder gedemütigt, in seiner empirischen Selbstachtung und seinem empirischen Selbstwertgefühl (also nicht in der transzendentalen Selbstachtung als Vernunftwesen) beschädigt zu werden. Damit gehört diese Theorie zum einen unter denjenigen Theorietyp, der im 2. Kapitel als die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie charakterisiert wurde. Zum anderen weist die betreffende Theorie deutliche Parallelen zu Honneths Transformation des transzendentalphilosophischen Anerkennungsbegriffs in einen empirisch-sozialpsychologischen Begriff auf, bei dem es im Wesentlichen um die wechselseitige Bestätigung des Selbstwertgefühls geht. Es dürfte ohne weiteres klar sein, dass eine solche Theorie, wie sie im deutschen Sprachraum hauptsächlich von Ralf Stoecker, Arnd Pollmann, Tatjana Hörnle, Christian Neuhäuser und mit Abstrichen von Georg Lohmann und Peter Schaber verfochten wird, der hier vertretenen Menschenwürdekonzeption grundlegend widerspricht – nicht zuletzt weil sie eine spezifisch-rechtliche und damit antiprinzipialistische Lesart der Menschenwürde vertritt, während hier eine dezidiert prinzipialistische Lesart vorgeschlagen wird. Im Folgenden sollen die „Nichterniedrigungs-Theorien“ der Menschenwürde daher einer Kritik unterzogen werden. Dabei wird unter anderem gezeigt werden, dass Theorien dieses Typs – Christoph Horn bezeichnet sie in einer von ihm vorgelegten, gründlichen Kritik des Ansatzes1 auch als „humiliationistische“ Theorien 2 – zwar an einer bestimmten Bedeutungsschicht eines alltagssprachlichen, sozialen Verständnisses von „Würde“ ansetzen können, dass sich der philosophische Menschenwürdebegriff aber von eben dieser Bedeutungsschicht schon 1 Horn, Christoph: Die verletzbare und die unverletzbare Würde des Menschen – eine Klärung. In: Information Philosophie Heft 3/2011. S. 30–41. 2 Horn a.a.O. S. 32.
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1. Exkurs: Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik
im Moment seiner Herausbildung bei Cicero abgesetzt hat und dass sie damit auch gerade nicht diejenige ist, die für den rechtsphilosophischen Menschenwürdebegriff wesentlich sein kann. Mit der Kritik an der „Nichterniedrigungs-Theorie“ soll freilich nicht behauptet werden, dass das Problem der Demütigung in normativer Hinsicht irrelevant wäre und es kein Recht gäbe, nicht in seiner Selbstachtung beschädigt zu werden. Es soll allerdings gezeigt werden, dass es in systematischer wie in geistesgeschichtlicher Hinsicht mehr als problematisch ist, eine normative Theorie des Demütigungsverbots mit dem Etikett einer Theorie der Menschenwürde zu versehen, ja das Demütigungsverbot als die Lösung der Frage nach dem Sinn der Menschenwürdegarantie zu präsentieren, wie es etwa Ralf Stoecker tut.3 Betrachten wir also zunächst die Grundzüge der „Nichterniedrigungs-Theorie“ der Menschenwürde. Peter Schaber bringt deren zentrale These folgendermaßen zum Ausdruck: „Menschenwürde ist kein physisches Gut, sondern ein moralischer Anspruch, der – und das ist das entscheidende – verletzt wird, wenn eine Person erniedrigt wird. Einem Menschen Würde zuzusprechen bedeutet demnach, ihm das moralische Recht zuzuerkennen, nicht erniedrigt zu werden.“4
Sowohl Schaber wie auch Stoecker definieren die Begriffe der „Erniedrigung“ bzw. „Demütigung“ dabei über den Begriff der „Selbstachtung“. Schaber schreibt in diesem Sinn: „Jemanden zu erniedrigen heißt demnach, ihm die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu achten. Und dementsprechend liegt eine Verletzung der Menschenwürde dann vor, wenn eine Person in einer Weise behandelt wird, die es ihr nicht länger erlaubt, sich selbst zu achten.“5
Arnd Pollmann6 geht dann über den Ansatz von Stoecker und Schaber sogar noch hinaus, indem er unter „Würde“ nicht nur einen moralischen Anspruch auf „Selbstachtung“ versteht, sondern noch spezifischer die gelungene „verkörperte Selbstachtung“ eines Menschen.7 Menschenwürde begreift Pollmann folglich als ein allen Menschen zukommendes Recht, in der Fähigkeit zur gelingenden körperlichen Darstellung der eigenen Selbstachtung nicht beeinträchtigt zu werden, sowie als ein Recht auf die Schaffung derjenigen politischen und sozia3 So bei Stoecker, Ralf: Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde – und wie sie sich vielleicht auflösen lassen. In: ZiF-Mitteilungen 1/2010, S. 19–30. 4 Schaber, Peter: Menschenwürde als Recht, nicht erniedrigt zu werden. In: Stoecker, Ralf (Hg.): Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff. Wien 2003, S. 199–131; hier: S. 124 f. 5 Schaber a.a.O. S. 125. 6 So Pollmann, Arnd: Würde nach Maß. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/2005, S. 611–619 und Pollmann, Arnd: Embodied self-respect and the fragility of human dignity. In: Kaufmann, Paulus/Kuch, Hannes/Neuhäuser, Christian/Webster, Elaine (Hg.): Humiliation, Degradation, Dehumanization. Human Dignity Violated. Dordrecht 2010, S. 243–262. 7 Vgl. Pollmann, Arnd: Würde nach Maß. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4/2005, S. 611–619; hier: S. 615.
1. Exkurs: Zur Kritik der Auffassung der Menschenwürde als Erniedrigungsverbot 243
len Bedingungen, die solche körperliche Selbstdarstellung ermöglichen. Der Aspekt des Würdebegriffs, auf den Pollmann sein Menschenwürdekonzept praktisch ausschließlich stützt, ist mithin dasjenige, was in der Analyse des Begriffs der „Würde“ meist als dessen „expressive“ Dimension bezeichnet wird. 8 Gemeint ist damit, dass einer „Würde“, genauer gesagt, einer spezifischen Amtsoder Rollenwürde im alltagssprachlichen und sozialen Verständnis des Würdebegriffs eine Seite des leiblichen Ausdrucks dieser Würde entspricht; so etwa im Fall eines hohen Würdenträgers der Römischen Republik bestimmte langsame und gemessene Bewegungen in der Öffentlichkeit. Pollmann verallgemeinert nun diesen Zusammenhang offensichtlich dahingehend, dass er ihn nicht mehr auf eine soziale Amts- oder Rollenwürde und deren körperliche Darstellung bezieht, sondern auf die körperliche Darstellung der Achtung, die ein Mensch gegenüber sich selbst, genauer gesagt: gegenüber der eigenen empirischen Persönlichkeit empfinden mag. Gerade in der letztgenannten Charakterisierung kommt nun aber auch schon eine grundlegende Schwierigkeit des „Humiliationismus“ zum Ausdruck. Weder Pollmann noch Stoecker lassen einen Zweifel daran, dass ihre Theorie der Menschenwürde der Struktur nach dem alltagssprachlichen Verständnis einer „Amtswürde“ bzw. der Würde einer sozialen Rolle nachgebildet ist. Dieses Verständnis war uns bereits im altrömischen dignitas-Begriff begegnet und dementsprechend kann die „Nichterniedrigungs-Theorie“ in der Tat an einen bestimmten Aspekt des alteuropäischen Würdebegriffs anknüpfen, verweist der Begriff der „Würde“ doch immer auch auf die Angemessenheit zwischen dem positiv evaluierten, meist auch als Selbstverständnis reflektierten eigenen Status und dem eigenen äußeren Handeln, sowie dem Behandeltwerden durch andere. Nach diesem politisch-sozialen Würdeverständnis behandelt z. B. derjenige, der sich vor einem Herrscher nicht verneigt, diesen insofern „unwürdig“, als er ihn nicht so behandelt, wie es die Würde des Herrscheramtes verlangt. Umgekehrt verhält sich wiederum der Herrscher „unwürdig“, wenn er sich z. B. nicht gemessenen Schrittes bewegt, gegenüber seinen Untertanen keine Güte walten lässt, auf seinem Thron herumzappelt oder Ähnliches. Stoecker macht diesen Ursprung der Nichterniedrigungs-Theorie unmissverständlich deutlich, wenn er schreibt: „Es wird beispielsweise erwartet, dass jemand, der ein X ist, sich auf die Weise Y verhält und auf die Weise Z von anderen behandelt wird. Verhält er sich nicht auf Weise Y, oder behandeln ihn die anderen Menschen anders als auf Weise Z, dann schwächt er seinen Anspruch, gleichwohl ein X zu sein. Es ist deshalb ein Gebot der Selbstachtung, solche Missachtungen zu vermeiden, sie zu verhindern oder, wenn sie doch geschehen, sie aus-
8 Wildfeuer, Armin G.: Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke? In: Nicht, Manfred/Wildfeuer, Armin G. (Hg.): Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput. Münster 2002, S. 19–116; hier: S. 32.
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1. Exkurs: Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik
zubügeln, so dass am Ende das Selbst wieder intakt ist (z. B. dadurch, dass man eine Beleidigung rächt, aber auch dadurch, dass man sein Selbstbild modifiziert).“9
Wie wir im 3. Kapitel ebenfalls gesehen hatten, löst sich der philosophische Menschenwürdebegriff von dem von Stoecker hier beschriebenen sozialen Würdeverständnis allerdings bereits bei Cicero in der Weise ab, dass die Struktur von Achtung und Selbstachtung nun auf die praktische Vernunftnatur des Menschen bezogen wird. Die Selbstachtung des Menschen als Mensch gilt schon bei Cicero, erst recht dann aber bei seinen Nachfolgern bis zu Kant, Fichte und Hegel, sich selbst als einem Wesen, das mit praktischer Vernunft begabt ist. Selbstachtung ist Achtung seiner selbst als eines Vernunftwesens, nicht diejenige als Träger einer sozialen Rolle X. Derjenige Begriff, vermittels dessen die Universalisierung und Transformation des sozialen Würdebegriffs zum Begriff der „Würde des Menschen“ erfolgt, ist also eben der Begriff der praktischen Vernunft. Was die „Humiliationisten“ nun offenbar versuchen, ist nichts weniger, als das kontingente soziale Würdeverständnis ebenfalls zu universalisieren, das aber ohne auf den Vernunftbegriff zu rekurrieren, der seit Cicero als der Grund und Bezugspunkt derjenigen Achtung gilt, die allen Menschen aufgrund ihres Menschseins gebührt. In geistesgeschichtlicher Hinsicht greift die „Nichterniedrigungs-Theorie“ also noch hinter Cicero zurück und versucht einen völligen Neuansatz, bei dem die gesamte geistesgeschichtliche Tradition des Menschenwürdebegriffs von Cicero bis zum deutschen Grundgesetz gewissermaßen mit einem Federstrich verworfen wird. In systematischer Hinsicht tauchen damit allerdings zwei grundlegende Probleme auf: Zum einen wird durch die Streichung des Vernunftbegriffs unklar, worin die Selbstachtung, die zu beschädigen das Erniedrigungsverbot untersagt, eigentlich besteht und welchem Gegenstand sie gilt, wenn nicht der freien, vernünftigen Subjektivität. Zum Zweiten wird unklar, was eigentlich der normative Geltungsgrund dieses Verbots sein soll, nachdem ja die Vernunft als Grund der Achtung verworfen wurde. Betrachten wir zunächst das erste Pro blem, so scheint die Antwort der „Humiliationisten“ darin zu bestehen, dass gesagt wird: Selbstachtung besteht in einer Bejahung der eigenen Individualität. Bei Stoecker heißt das: „Dieser oder jener Mensch zu sein ist selbst eine Rolle, versehen mit Verhaltenserwartungen sowohl dem Rolleninhaber gegenüber, wie auch nach außen hin. Jeder Mensch nimmt eine solche Rolle ein als das Individuum, das er ist, in das die anderen Rollen, die er spielt, mehr oder minder stark integriert sind. Das ist das gesuchte Selbst, dem unsere Selbstachtung gilt. Wir haben eine Identität, eine individuelle persona, neben anderen Rollen, in die wir auch schlüpfen. Selbstachtung zu haben heißt nun nicht mehr, als dass einem die eigene persona nicht gleichgültig ist. […] Ich plädiere also für ein Verständnis von Demütigungen und Erniedrigungen, das von der Voraussetzung ausgeht, dass wir Stoecker, Ralf: Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung. In: Stoecker, Ralf (Hg.): Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff. Wien 2003, S. 133–151; hier: S. 145. 9
1. Exkurs: Zur Kritik der Auffassung der Menschenwürde als Erniedrigungsverbot 245
alle über eine durch unsere Umwelt prinzipiell akzeptierte individuelle Identität, ein Selbst, eine persona verfügen.“10
Bis hierin scheint der Ansatz Stoeckers noch weitgehend mit dem Menschenwürde- bzw. dem Anerkennungskonzept Fichtes übereinzustimmen, bei dem die Anerkennung des anderen ja auch dem anderen als einem individuellen Freiheitswesen gilt. Der Schein trügt allerdings insofern, als die Achtung, von der Stoecker im Zusammenhang der Menschenwürdegarantie spricht, eben gerade nicht der Individualität und Freiheit des anderen selbst gilt, wie sie bei Fichte durch die rechtliche Abgrenzung der Freiheitssphären gewährleistet wird, sondern dem Moment einer psychologischen Bejahung der eigenen empirischen Subjektivität durch das betreffende Individuum, d. h. dem Selbstwertgefühl eines empirischen Subjekts. Es geht folglich bei Stoecker nicht – wie bei Fichtes und Kants Rechtsgrundsatz – um den Schutz und die Achtung vor der Individualität des anderen selbst, sondern um die Achtung vor der Wertschätzung, die der Einzelne für seine empirischen Individualität empfindet (oder eben nicht empfindet). Da dieses Selbstwertgefühl nun zudem nicht mehr auf die eigene transzendentale Freiheits- und Vernunftnatur gestützt wird, ist es auch nicht mehr ein transzendentales Achtungsverhältnis, sondern ein rein empirisch-psychologisches Selbstverhältnis, um das es Stoecker, Pollmann, Schaber usw. geht. Wir haben es also gegenüber Kant und Fichte mit einer doppelten Verlagerung des Achtungsverhältnisses zu tun: von einem transzendentalen Selbstverhältnis hin zu einem empirisch-psychologischen Selbstverhältnis und im selben Zug von der Forderung nach einer Achtung der Individualität des anderen, wie sie sich in der Form von Grundrechten objektiv realisiert, hin zur Forderung nach einer Achtung, genauer gesagt: einer Nichtbeschädigung derjenigen Wertschätzung, die der Einzelne für seine eigene empirische Subjektivität empfindet. Diese doppelte Verlagerung hat nun aber gleich mehrere systematische und praktische Konsequenzen. Zum einen führt sie dazu, dass die „Nichterniedrigungs-Theorie“ der Menschenwürde vollständig dem Bannkreis der Kontingenzen des sozialen Würdebegriffs verhaftet bleibt. Da es bei der „Selbstachtung“, die die „Humiliationisten“ im Blick haben, um eine empirisch-psychologische Selbstachtung geht, hängt es letztlich auch von den empirischen Gegebenheiten einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit ab, was von deren Mitgliedern als demütigend empfunden wird und was nicht. So hat Christoph Horn, der den humiliationistischen Menschenwürdebegriff als „MW2“ bezeichnet, daran erinnert, „dass es in einigen sehr traditionellen Gesellschaften den Stolz und die Selbstachtung (und gemäß MW2 somit auch die Würde) von Männern verletzt, wenn ihre Ehefrauen einer Lohnarbeit nachgehen müssen“.11 Demgegenüber würde es Stoecker a.a.O. S. 144 f. [Kursiva im Original]. Horn a.a.O. S. 36.
10 11
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1. Exkurs: Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik
in einer modernen westlichen Gesellschaft sicherlich kaum die Selbstachtung eines Mannes verletzen, wenn seine Frau einer Arbeit nachgeht. Nach der „humiliationistischen“ Theorie der Menschenwürde wäre der Umstand, dass Frauen einer Arbeit nachgehen, mithin zu gewissen Zeiten und in gewissen Gesellschaften eine Verletzung der Menschenwürde ihrer Ehemänner, zu anderen Zeiten und in anderen Gesellschaften aber nicht.12 Es ist nun zwar klar, dass die Verfechter des „Humiliationismus“ nicht Beispiele wie das von Horn im Auge haben, sondern andere wie etwa die erniedrigende Folter und Ähnliches, und die Beschädigung der Selbstachtung, die der Mann in einer traditionellen Gesellschaft erfährt, wenn seine Frau berufstätig wird, als einen Fall durchaus gerechtfertigter Demütigung bzw. Erniedrigung werten würden. Die Schwierigkeit liegt für den „Humiliationismus“ allerdings darin, dass er aufgrund seiner Festlegung darauf, dass die Verletzung des empirischen Selbstwertgefühls selbst dasjenige Problem sei, um das es bei der Menschenwürde geht, gar kein theorieinternes Kriterium mehr an der Hand hat, zwischen gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Demütigungen zu unterscheiden. Er müsste daher auf ein externes Kriterium zurückgreifen – und das kann nach Lage der Dinge wiederum eigentlich nur aus dem nicht-humiliationistischen, kategorischen Menschenwürdebegriff in der Tradition Fichtes und Kants gewonnen werden. Will der „Humiliationismus“ also die Konsequenz vermeiden, sich durch seine Festlegung auf einen empirischen Begriff der Selbstachtung an die kontingenten Wertvorstellungen konkreter historischer Gesellschaften zu fesseln, so muss er zwangsläufig auf den nicht-humiliationistischen und nicht-empiristischen Menschenwürdebegriff zurückgreifen. Das verweist bereits auf die zweite systematische Schwierigkeit des „Humiliationismus“, die darin besteht, dass mit der Verlagerung des Menschenwürdebegriffs weg von der notwendigen wechselseitigen Achtung und Anerkennung von freien Vernunftwesen hin zur empirisch-psychologischen Selbstachtung auch die Grundlage wegfällt, auf der eine normative Forderung wie diejenige, die Selbstachtung eines anderen Menschen nicht zu beschädigen, überhaupt noch erhoben werden könnte. Die „humiliationistische“ Theorie vermag mithin durchaus eine sehr gute Beschreibung und Explikation von Phänomenen wie Demütigung und Erniedrigung zu bieten, die Angabe eines normativen Grundes, warum es eigentlich verboten sein soll, zu demütigen und zu erniedrigen, sucht man in den Texten der „Humiliationisten“ in der Regel aber vergebens.13 Dieses beredte Schweigen ist insofern bezeichnend, als der Grund für 12 An Horns Beispiel zeigt sich zudem, dass die „humiliationistische“ Theorie der Menschenwürde das Potential hat, zu den klassischen Menschenrechten, zu denen die Gleichberechtigung von Mann und Frau sicherlich gehört, geradezu in ein feindliches Verhältnis zu treten. 13 Bei Pollmann (vgl. Pollmann, Arnd: Und die Moral von der Geschicht‘: Menschenwürde und Menschenrechte als Antworten auf die totalitäre Barbarei. In: Schäfer, Alfred/Thomp-
1. Exkurs: Zur Kritik der Auffassung der Menschenwürde als Erniedrigungsverbot 247
das Verbot solchen Handelns, wenn überhaupt, wohl nur im Prinzip der wechselseitigen Anerkennung als Subjekt gefunden werden könnte. Würde das nämlich zugestanden, so müssten die Vertreter der „Nichterniedrigungs-Theorie“ zugleich zugestehen, dass ihre „humiliationistische“ Konzeption der Menschenwürde auf einen anderen, grundlegenderen Menschenwürdebegriff verweist und dass ihr ohne diesen die normative Grundlage fehlt. Ein mit der ersten Schwierigkeit eng verwandtes Problem liegt drittens darin, dass die Frage, ob eine bestimmte Handlung die Menschenwürde verletzt oder nicht aufgrund der psychologischen Engführung, die der „Humiliationismus“ vornimmt, in dessen Rahmen wesentlich davon abhängt, wie stabil das psychische Selbstwertgefühl des von der Handlung Betroffenen ist. So mag der eine bereits von einer marginalen Geste der Missachtung nachhaltig in seiner Selbstachtung beschädigt werden, während bei anderen Menschen aufgrund von deren psychischer Stabilität selbst die schlimmsten Demütigungen, Beleidigungen und Erniedrigungen nicht zu einer Beeinträchtigung ihrer Selbstachtung und ihres Selbstwertgefühls führen. Der Begriff der „Menschenwürdeverletzung“ gerät damit für die Seite der Anwendung in völlige Abhängigkeit von der psychischen Verfassung der Opfer. Auch hier fehlt dementsprechend ein valides Kriterium zur Abgrenzung von Menschenwürdeverletzungen; ja schlimmer noch: je psychisch stabiler ein Mensch ist, desto schlimmere Demütigungen könnte man ihm nach dieser Theorie zufügen, ohne dass es sich dabei um Menschenwürdeverletzungen handeln würde. Eine vierte, damit direkt verknüpfte systematische Schwierigkeit liegt sodann darin, dass die „humiliationistische“ Menschenwürdetheorie eine Vielzahl von oft als „evident“ erachteten Menschenrechtsverletzungen, auch solchen, die z. B. vom „Ansatz beim Verletzungsvorgang“ als typische Beispiele für Menschenwürdeverletzungen bestimmt werden, als nicht menschenwürderelevant betrachten kann. Christoph Horn nennt hier als Beispiele die „ehrenvolle“ Hinrichtung eines Dissidenten14 oder die Vergewaltigung einer Frau, die psychisch so stabil ist, dass sie durch die Vergewaltigung nicht in ihrer Selbstachtung beeinträchtigt wird.15 Analog dazu könnte man sich auch den Fall einer son, Christiane (Hg.): Werte. Paderborn 2010) und Lohmann (vgl. Lohmann, Georg: Die rechtsverbürgende Kraft der Menschenwürde. Zum menschenrechtlichen Würdeverständnis nach 1945. In: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg. 4 (2010) Nr. 1, S. 46–63) findet sich bezeichnenderweise der Versuch, die „humiliationistische“ Menschenwürde durch einen Verweis auf das historische Faktum massiver Demütigungen während der NS-Diktatur zu „begründen“. Da aus Fakten aber keine Normen folgen und man, um die Demütigungen, die viele Menschen durch das NS-Regime erfahren haben, als moralisch falsch beurteilen zu können, bereits eine von historischen Fakten unabhängige Einsicht in die Unzulässigkeit der Demütigung benötigte, ist dieser Verweis auf historische Fakten keine „Begründung“, sondern vielmehr das Eingeständnis, keine anbieten zu können. 14 Horn a.a.O. S. 40. 15 Horn a.a.O. S. 40.
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1. Exkurs: Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik
Folter denken, bei der das Opfer aufgrund einer großen psychischen Stabilität ebenfalls keinen Schaden an seiner Selbstachtung nähme. All das führt schließlich zu einer fünften systematischen Schwierigkeit, die, wie ebenfalls Christoph Horn treffend herausarbeitet, darin besteht, dass der „humiliationistische“ Menschenwürdebegriff (bei Horn: MW2) ein weites Spektrum an Graduierungen aufweist, die dem kategorischen Menschenwürdebegriff der kantischen Tradition fremd sind (bei Horn: MW1). Es gibt dementsprechend beim „humiliationistischen“ Menschenwürdebegriff auch unterschiedliche Ausmaße und Grade von Menschenwürdeverletzungen, während es beim kategorischen Menschenwürdebegriff nur ein „Entweder-oder“ gibt. Horn führt dazu aus: „Es liegt auf der Hand, dass sich im Alltag nie alle Fälle von Demütigung und Herabsetzung vermeiden lassen, allein schon weil sich kein objektives Sensibilitätsniveau für Selbstrespekt angeben lässt; zudem wiegen offenbar nicht alle Verletzungsfälle gleich schwer. Für Verteidiger von MW1 impliziert Kategorizität eine Ja-Nein-Distinktion: Ein moralisches Problem kann die MW nur entweder berühren oder nicht berühren. Nach humiliationistischer Auffassung ist MW dagegen in sehr verschiedenen Graden verletzbar.“16
Horn folgert aus diesem Befund nicht nur, dass der humiliationistische Menschenwürdebegriff ein wesentliches Merkmal, mit dem der rechtliche Menschenwürdebegriff üblicherweise verknüpft wird, nicht theoretisch einzuholen vermag, sondern verweist auch darauf, dass die Menschenwürde damit notwendigerweise zu einem Gut unter vielen Gütern wird, gegen welche sie durchaus verrechnet und abgewogen werden kann: „Für Humiliationisten ist MW (iii) selbstverständlich verletzbar und verlierbar, allerdings nur faktisch, nicht dem grundlegenden Anspruch nach. Sie ist zudem (iv) nicht strikt unverrechenbar, sondern durchaus in den Kontext anderer Güter eingebunden; diese sind grundsätzlich mit ihr vergleichbar und verrechenbar.“17
Für sich genommen wäre der hier dargelegte Befund nun nicht problematisch, könnte man doch sagen, dass die „Humiliationisten“ einfach unter „Menschenwürde“ etwas anderes verstehen, als sowohl die philosophische Tradition wie auch die zeitgenössischen Rechtsdokumente, in denen der Begriff auftaucht, darunter verstehen. Wenn das allerdings der Fall ist, stellt sich die Frage, warum die „Humiliationisten“ das Phänomen, das sie im Auge haben, überhaupt mit dem Ausdruck „Menschenwürde“ meinen bezeichnen zu müssen. Angesichts des Umstands, dass offensichtlich etwas anderes gemeint ist, wäre sicherlich auch ein anderer Begriff sinnvoll. Besteht man aber von „humiliationistischer“ Seite auf den Begriff, wäre immerhin festzuhalten, dass der „humiliationistische“ Menschenwürdebegriff nicht dazu tauglich ist, die beiden wesentlichen Funktionsbestimmungen des rechtlichen Menschenwürdebegriffs – Prinzip Horn a.a.O. S. 32. Horn a.a.O. S. 32.
16
17
1. Exkurs: Zur Kritik der Auffassung der Menschenwürde als Erniedrigungsverbot 249
und Geltungsgrund der Menschenrechte und absolute Schranke der Abwägbarkeit von Rechten gegeneinander zu sein – theoretisch einzuholen. An die Vertreter des „Humiliationismus“ wäre dementsprechend die Forderung zu richten, dass sie, wenn sie denn ihre Theorie als Theorie der Menschenwürde auszeichnen, auch regelmäßig klar machen sollten, dass es sich bei ihrem Menschenwürdeverständnis weder um dasjenige handelt, was die philosophische Tradition mit „Menschenwürde“ meinte, noch um dasjenige, was etwa im deutschen Grundgesetz oder der EU-Grundrechtecharta mit „Menschenwürde“ gemeint ist, und dass der „humiliationistische“ Menschenwürdebegriff daher auch nicht zur Auslegung des Menschenwürdebegriffs der einschlägigen Rechtstexte herangezogen werden kann. Diese Forderung ist ihrerseits ethisch begründet. Geht man nämlich davon aus, dass in der deutschen Rechtsdogmatik nach wie vor die spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürdegarantie verbreitet ist, nach der unter „Menschenwürde“ ein spezifisches Recht neben und über den „sonstigen“ Grundrechten zu verstehen sei, so ergäbe sich aus einer Auslegung dieses „Menschenwürderechts“ als „Demütigungsverbot“ die kontraintuitive Konsequenz, dass es ein noch über dem Lebensrecht, dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz etc. stehendes unantastbares „Recht auf Selbstachtung“ gäbe. Das hätte wiederum zur Folge, dass die Rechtsordnung dann beispielsweise Morde zum Zweck der Erhaltung oder Wiederherstellung des eigenen Selbstwertgefühls im Namen des Art. 1 Abs. 1 GG erlauben müsste bzw. dass ein Verbot solcher Morde eine Menschenwürdeverletzung darstellen würde. Solche Folgerungen können nur vermieden werden, wenn klar gestellt wird, dass der „humiliationistische“ Menschenwürdebergiff nicht derselbe ist wie der rechtsbegründende und rechtsprinzipiierende Menschenwürdebegriff der zeitgenössischen Rechtstexte. Der „humiliationistische“ Menschenwürdebegriff kann mithin allenfalls als eine Ergänzung dienen, die auf eine normative Dimension aufmerksam macht, welche in klassischen Menschenrechtskanones häufig übersehen wird. Dazu muss allerdings immer klar bleiben, dass es sich beim „humiliationistischen“ Menschenwürdebegriff nicht um den kategorischen Menschenwürdebegriff der kantischen Tradition und des Rechts handelt und er dementsprechend auch nicht die herausgehobene normative Stellung für sich beanspruchen kann, die im deutschen Grundgesetz der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG zukommt, mithin auch keine Unantastbarkeit und Unabwägbarkeit. Als Ergänzung ist er gleichwohl von einer gewissen Bedeutung. Der eine Grund dafür ist, dass das Recht, nicht in gravierender Weise gedemütigt zu werden, sicherlich zu denjenigen Menschenrechten gehört, die aus dem anerkennungstheoretisch rekonstruierten Menschenwürdeprinzip resultieren. Der andere Grund wird augenfällig, wenn man die „humiliationistische“ Theorie in ihren Anfängen in Avishai Margalits „The Decent Society“ betrachtet. Hier fällt nämlich auf, dass
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1. Exkurs: Menschenwürde als Erniedrigungsverbot: eine Kritik
die Beispiele18 , anhand derer Margalit seine Theorie entwickelt, meist solche sind, in denen die Demütigung bzw. Erniedrigung durch einen symbolischen oder sogar realen Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft, zuweilen auch durch einen symbolischen (ein realer ist schließlich unmöglich) Ausschluss aus der menschlichen Spezies bewirkt wird.19 Soweit es um solche Fälle geht – die auch in den Beispielen von Stoecker20 und Lohmann 21 eine wesentliche Rolle spielen –, wäre der „Humiliationismus“ von der hier vertretenen anerkennungstheoretischen Rekonstruktion des rechtlichen Menschenwürdebegriffs nicht so weit entfernt, vorausgesetzt, er würde sich selbst richtig verstehen. Das tut er aber vermutlich deshalb nicht, weil bereits Margalit das Pferd gleichsam von hinten aufzäumt, indem er nicht in jenen symbolischen oder realen Exklusionen selbst das normative Problem sieht, sondern in dem eventuell auftretenden nachteiligen psychologischen Effekt einer Beschädigung der Selbstachtung, den solche Exklusionen für die Betroffenen haben können. Unzulässig sollen derartige Exklusionen nach Margalit also nicht primär deshalb sein, weil sie für sich genommen dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung als Freiheitswesen und Rechtssubjekt widersprechen, sondern weil sie auf der psychologischen Ebene die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl der Ausgeschlossenen beschädigen könnten (was übrigens keineswegs notwendig der Fall ist). Es ist dann natürlich fast unvermeidlich, den Schluss zu ziehen, den die meisten deutschsprachigen Rezipienten Margalits offenbar gezogen haben: nämlich die Menschenwürde einfach mit einem Recht zu identifizieren, nicht in seiner Selbstachtung und seinem Selbstwertgefühl beschädigt zu werden. Dieser Schluss kappt nun freilich auch noch den letzten systematischen Bezug zur Frage der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt – einen Bezug, der bei Margalit immerhin noch unterschwellig präsent war. Damit ist das Pferd dann aber, was den Menschenwürdebegriff anbelangt, in der Tat vollends von der falschen Seite her aufgezäumt.
18 Vgl. Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt a.M. 1996, S. 166–193. 19 Das praktische Problem, das Margalits Theorie vor allem im Auge hat, ist offenbar der rechtliche und politische Status der Palästinenser in Israel. 20 Vgl. Stoecker, Ralf: Stoecker, Ralf: Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde – und wie sie sich vielleicht auflösen lassen. In: ZiF-Mitteilungen 1/2010, S. 19– 30; hier: S. 26 f. 21 Vgl. Lohmann, Georg: „Menschenwürde“ – formale und inhaltliche Bestimmungen. In: Joerden, Jan C./Hilgendorf, Eric/Petrillo, Natalia/Thiele, Felix (Hg.): Menschenwürde und moderne Medizintechnik. Baden-Baden 2011, S. 151–160; hier: S. 152.
6. Kapitel
Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte „For it has been characteristic of that ethic to teach that there are certain things forbidden whatever consequences threaten.“ (Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe: Modern Moral Philosophy)
I. Das Problem unbedingter Pflichten Wie das 2. Kapitel gezeigt hat, erfüllt der Menschenwürdebegriff zumindest in der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik nicht nur und wohl nicht einmal vorgängig die Funktion eines Prinzips und Geltungsgrundes der Menschen- bzw. Grundrechte, sondern zusätzlich die Funktion einer absoluten Schranke der Abwägung von Rechten oder Rechtsgütern. Diese Funktion ist in der Folge der Rezeption der Dürig’schen Objektformel immer stärker in den Vordergrund getreten, so stark, dass man nahezu davon reden kann, dass im juristischen Diskurs über den Sinn der Menschenwürdegarantie, wie in der juristischen Praxis lediglich diese Funktion überhaupt noch eine Rolle spielt. Dabei hat sich innerjuristisch die Auffassung herausgebildet, dass die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG ein spezifisches Recht mit eigenem Gehalt und eigenen Verletzungstatbeständen neben und über den weiteren Menschenrechten bilde – ein Recht allerdings, welches sich dadurch auszeichnet, dass es die einzige unbedingt, d. h. ohne Rücksicht auf Handlungsumstände und Handlungsfolgen geltende, Rechtspflicht in einem Gefüge von ansonsten letztlich grenzenlos gegeneinander abwägbaren, aufhebbaren und einschränkbaren Rechten darstelle. Die Auszeichnung des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ als unabwägbar und unantastbar geht also einher mit einer weitreichenden Abwertung der geltungstheoretischen Dignität der klassischen Menschenrechte, einer Abwertung, die nicht einmal vor dem fundamentalsten aller Rechte, dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haltmacht. Dieser Zusammenhang zwischen Auszeichnung und Abwertung folgt der simplen Logik, dass die explizite Kennzeichnung der Menschenwürde als „unantastbar“, die sich bei keinem anderen Grundrecht finde, nur bedeuten könne, dass alle „weiteren“ Grund- bzw. Menschenrechte als „antastbar“ verstanden werden müssten. Nahrung findet dieser Gedanke zudem noch durch den Umstand, dass in anderen Artikeln des Grund-
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
gesetzes die dort genannten Rechte unter einen Gesetzesvorbehalt gestellt sind, der ihre grundsätzliche Einschränkung und Aufhebung zuzulassen scheint. Man könnte die damit skizzierte Problematik nun als eine spezifisch deutsche Merkwürdigkeit verstehen, die für die ernsthafte rechtsphilosophische und ethische Befassung mit dem Menschenwürdebegriff ohne Bedeutung wäre. Die spezifisch-rechtliche Auslegung der Menschenwürdegarantie, so könnte man demnach argumentieren, beruhe auf einem schlichten Missverständnis des Wortlauts des Grundgesetzes. Dieses lasse sich durch eine konsequente philosophische Rekonstruktion des rechtlichen Menschenwürdebegriffs als Prinzip der wechselseitigen Anerkennung vernünftiger Subjekte als Träger von Rechten widerlegen. Das Problem einer Abwägung zwischen einem vermeintlichen „Menschenwürderecht“ und den Grund- bzw. Menschenrechten stelle sich daher gar nicht; es erweise sich als Scheinproblem. Obgleich nun dieser Umgang mit der Problematik auf den ersten Blick verlockend erscheint, ist er doch nicht gänzlich befriedigend. Zum einen wird die Frage der Unbedingtheit der Geltung derjenigen Normen, die sich aus dem Kategorischen Imperativ und der Rechtsidee ergeben, bereits im Hinblick auf Kant in Form des sogenannten „Rigorismus“-Vorwurfs immer wieder aufgeworfen. Zum anderen bildet die Frage nach Abwägbarkeit oder Unabwägbarkeit, Einschränkbarkeit oder Uneinschränkbarkeit von Rechten, ebenso wie diejenige nach der Möglichkeit einer unbedingten Geltung von Pflichten, auch ganz unabhängig von den konkreten Entwürfen Kants und Fichtes eine der grundlegendsten Fragen der Ethik und der Rechtsphilosophie. Unter einer unbedingt geltenden Pflicht soll dabei vorläufig eine Pflicht verstanden werden, die unabhängig von den Umständen und Folgen der Handlung Gültigkeit hat. Es handelt sich also um Pflichten, die – wie die katholische Moraltheologie treffend sagt – semper et pro semper 1, immer und in jedem Fall, verbindlich sind. Analog dazu kann dann unter einem nichteinschränkbaren bzw. unabwägbaren Recht ein Recht verstanden werden, für das kein Fall denkbar ist, in dem seine Einschränkung oder Aufhebung legitim wäre. Traditionell geht man davon aus, dass es sich bei unbedingten Pflichten nur um negative Pflichten handeln kann, ein Standpunkt, der bekanntlich auch von Kant geteilt wird.2 Analog dazu wird üblicherweise davon ausgegangen,
1 Vgl. zur Position der katholischen Moraltheologie in dieser Frage etwa die Formulierung in Karl Hörmanns „Lexikon der christlichen Moral“: „Wenn jedoch ein Verhalten als dem Menschsein oder der Gotteskindschaft schlechthin widersprechend erkannt ist (z. B. die beabsichtigte Tötung eines schuldlosen Menschen), muß es vom Menschen immer unterlassen werden, wie immer die veränderlichen Elemente der Situation aussehen mögen (semper et pro semper).“ (Artikel „Situation“ in: Hörmann, Karl: Lexikon der christlichen Moral. Innsbruck/Wien/München, 2. Aufl. 1976, Sp. 1446). 2 Vgl. Kants Unterscheidung von „vollkommenen“ und „unvollkommenen“ Pflichten in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Band IV, S. 421).
I. Das Problem unbedingter Pflichten
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dass nur Abwehrrechte den Charakter uneinschränkbarer Rechte haben können. Wenn nun der Anspruch erhoben wird, mit dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung das Prinzip des Rechts überhaupt, und mutatis mutandis auch der Ethik, identifiziert zu haben, so kann an eine solche Theorie im Gegenzug auch der Anspruch gestellt werden, eine Antwort auf jene Frage zu bieten. Könnte ein Grundsatz, der als Prinzip der Praktischen Philosophie behauptet wird, nichts über eines der drängendsten Probleme der Praktischen Philosophie sagen, so müsste dies geradezu fraglich machen, ob es sich bei ihm wirklich um das Prinzip der Praktischen Philosophie handelt. Gelingt es jedoch, das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung auch für die in Rede stehende Frage fruchtbar zu machen, so würde gezeigt, dass es sich als Prinzip der intersubjektiven Normativität, einschließlich des Rechts, bewährt. Es würde sich zugleich als angemessene Rekonstruktion der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes bewähren, da mithilfe einer entsprechenden Theorie nicht alleine die Funktion der Menschenwürdegarantie, Geltungsgrund und Prinzip der Grund- bzw. Menschenrechte zu sein, theoretisch eingeholt wäre, sondern auch die Funktion einer absoluten Schranke der Abwägbarkeit und Einschränkbarkeit dieser Rechte. Die Frage, die hier im Raum steht, wird in der zeitgenössischen Philosophie zumeist nicht unter dem Stichwort der „Menschenwürde“ verhandelt, auch wenn es, wie etwa bei Robert Nozick 3 , Warren S. Quinn4 und Thomas Nagel5 immer wieder Ansätze eines Anknüpfens an die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs gibt. Vielmehr wird die Debatte üblicherweise als Debatte zwischen Vertretern einer „Deontologischen Ethik“ und Vertretern einer „Konsequentialistischen Ethik“ geführt, wobei es allerdings bereits um die Frage, wie die Begriffe „deontologisch“ und „konsequentialistisch“ genau zu verstehen sind, eine mittlerweile fast unüberschaubare Kontroverse gibt. 6 Gleichwohl scheint – bei allen sonstigen Differenzen – doch eine hinreichende Einigkeit darüber zu bestehen, dass die moralische Beurteilung einer Handlung im Rahmen einer deontologischen Ethik auf intrinsische Charakteristika der zu beurteilenden Handlung selbst oder der prägenden Handlungsintention abhebt. Das heißt wiederum, dass deontologische Ethiken in erster Linie darauf abstellen, welche Art bzw. Klasse von Handlung – z. B. Mord, Lüge oder Hilfe in Not – oder welche Intention durch die Handlung realisiert wird. Demgegenüber Vgl. Nozick, Robert: Anarchy, the State and Utopia. New York 1974. Vgl. Quinn, Warren S.: Actions, Intentions, and Consequences: The Doctrine of Double Effect. In: Philosophy and Public Affairs 18 (4): S. 334–351. Wiederabdruck in Woodward, Paul A. (Hg.): The Doctrine of Double Effect. Philosophers Debate a Controversial Moral Principle, Notre Dame (IN) 2001, S. 23–40. 5 Vgl. Nagel, Thomas: The View from Nowhere. New York 1986, S. 179 f. 6 Vgl. für diese Kontroverse etwa Broome, John: Weighing Goods. Equality, Uncertainty and Time. Oxford 1991 und Schroth, Jörg: Deontologie uund die moralische Relevanz der Handlungskonsequenzen. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 63 (2009), S. 55–75. 3 4
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
werden konsequentialistische Ethikmodelle üblicherweise dadurch charakterisiert, dass bei ihnen die moralische Beurteilung einer Handlung daran festgemacht wird, welche Folgen die Handlung für die Realisierung bestimmter, in der Regel in einer evaluativen Hierarchie (z. B. Leben über Eigentum) angeordneter Güter hat. Charakteristisch ist für den Konsequentialismus dabei, dass nicht alleine unmittelbare oder mit der Handlung irgendwie „innerlich“ verknüpfte und ihre Art bestimmende Wirkungen, sondern die Gesamtheit aller absehbaren Folgen der normativen Beurteilung der Handlung zugrunde gelegt und mittels einer Abwägung der betroffenen Güter in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Beschreibt man die Differenz zwischen deontologischer und konsequentialistischer Ethik allerdings auf diese Weise, so scheint sie zur Frage der Gegebenheit unbedingter Pflichten und nichteinschränkbarer Rechte quer zu liegen. Wie Jörg Schroth richtig bemerkt7, lässt sich aus dem Umstand, dass das deontologische Ethikmodell auf intrinsische Charakteristika der Handlung abhebt, noch nicht herleiten, dass die Pflichten, um die es geht, unbedingt, d. h. immer und in jedem Fall gelten. Vielmehr wäre rein theoretisch durchaus denkbar, dass die Bewertung der Erlaubtheit oder Gebotenheit einer Handlung an deren intrinsischen Charakteristika festgemacht würde, aber dennoch für den Fall von Pflichtenkollisionen Abwägungen zwischen den verschiedenen Pflichten zugelassen würden8 . Schroth nennt dementsprechend die Engführung zwischen dem deontologischen Ethikmodell und der These, es gebe unbedingt geltende Pflichten und nichteinschränkbare Rechte das „absolutistische Missverständnis der Deontologie“. Wenn auch dieser Überlegung Schroths prinzipiell beizupflichten ist, übersieht er doch einen gewichtigen Grund, der jene Engführung von deontologischem Ethikmodell und unbedingten Pflichten durchaus plausibel macht. Denn offensichtlich besteht zwischen deontologischen und konsequentialistischen Modellen von Normativität insofern eine Asymmetrie, als unbedingte Pflichten bzw. uneinschränkbare Rechte überhaupt nur im Rahmen des deontologischen Modells gedacht werden können. Unbedingte Pflichten nämlich sind offenkundig nur da möglich sind, wo die Beurteilung einer Handlung nicht von Charakteristika abhängt, die bei gleichem Handlungstypus oder gleicher Handlungsintention je nach den Umständen variieren können. Die Gesamtheit der Hand Vgl. Zum folgenden Schroth a.a.O. S. 60 ff. In diesem Fall müsste natürlich angegeben werden, was das Abwägungskriterium sein soll, wenn es nicht in den Folgen der Handlung für die Realisierung bestimmter Güter be stehen soll. Denn wäre das das Kriterium, dann würde es sich wiederum nicht um eine deontologische, sondern um eine konsequentialistische Position handeln. Die von Schroth angedeutete Option einer „nicht-absolutistischen“ deontologischen Ethik ist insofern zwar denkmöglich, ließe sich theoretisch aber nur durch die Angabe eines plausiblen nicht-konsequentialistischen Kriteriums der Pflichtenabwägung einlösen. Ein Vorschlag für ein solches Kriterium findet sich bei Schroth allerdings nicht. 7 8
I. Das Problem unbedingter Pflichten
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lungsfolgen ist aber gerade etwas, das nicht von intrinsischen Merkmalen der Handlung, sondern von deren Umständen abhängt. Deontologische Theorien müssen also – darin ist Schroth zuzustimmen – nicht zwangsläufig die Existenz unbedingter Pflichten annehmen, können dies aber zumindest. Konsequentialistische Theorien dagegen müssen die Möglichkeit solcher Pflichten von vornherein verneinen.9 Für die hier behandelte Fragestellung ist die von Schroth angedachte theoretische Möglichkeit einer „nicht-absolutistischen“ Deontologie mithin von geringer Bedeutung. Hinsichtlich der Kontroverse zwischen Verfechtern deontologischer und konsequentialistischer Normativitätsmodelle sind für die hier behandelte Fragestellung nur diejenigen Modelle deontologischer Ethik relevant, die tatsächlich die Gegebenheit unbedingt geltender Pflichten bzw. nichteinschränkbarer Rechte vertreten. Überblickt man die einschlägige Debatte im angelsächsischen Raum, so wird man ohnehin feststellen, dass die Frage nach solchen Pflichten bzw. Rechten auch diejenige ist, um die es bei der Kontroverse in der Regel geht. Das ist bereits bei der „Erfinderin“ des Begriffs „Konsequentialismus“, Elizabeth Anscombe, der Fall, die den Begriff ausdrücklich mit der Stoßrichtung geprägt hat, ein Ethikmodell zu beschreiben, das abweichend von der christlich-jüdischen Tradition die Möglichkeit unbedingter Pflichten mit Verweis auf Folgenabwägungen verneint.10 Mit dem Konsequentialismus ist allerdings erst ein möglicher Konterpart einer Theorie unbedingter Pflichten bzw. uneinschränkbarer Rechte benannt. Geht man davon aus, dass unter einer unbedingten Pflicht bzw. einem uneinschränkbaren Recht jeweils ein solches verstanden wird, das „immer und in jedem Fall“ gilt, so muss die Existenz solcher Rechte und Pflichten nicht alleine gegen den Konsequentialismus verteidigt werden, sondern auch gegen radikale Formen der Kasuistik bzw. der vor allem bei protestantischen Theologen äußerst populären „Situationsethik“11, die jede Pflicht und jedes Recht als je nach Situation und Umständen prinzipiell aufhebbar erachten – die also die Möglichkeit einer unbedingten und situationsunabhängigen Geltung von Normen grundsätzlich verwerfen.12 Wohl erweisen sich kasuistische und situationsethische Argumentationen in den meisten Fällen, in denen sie beansprucht werden, 9 Auch eine konsequentialistische Theorie, die die Möglichkeit „höchster Güter“ annimmt, welche gegenüber allen anderen Gütern vorrangig wären, kann unbedingte negative Pflichten theoretisch nicht einholen. Spätestens in Situationen, in denen auf jeder Seite einer Folgenabwägung „Höchstgüter“ auf dem Spiel stehen, vermag eine solche Theorie allenfalls ein normatives „Patt“ zu begründen, aber gerade keine unbedingt geltende negative Pflicht. 10 Vgl. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret: Modern Moral Philosophy. In: Philosophy 33, No. 124 (1958), S. 1–19; hier S. 8 f. 11 Vgl. für den wenig überzeugenden Versuch einer genuin philosophischen Wiederbelebung der „Situationsethik“ Jonsen, Albert R./Toulmin, Stephen: The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. London 1988. 12 Den vielleicht prägnantesten Ausdruck gibt dieser Haltung der liberale protestantische Theologe John A.T. Robinson, wenn er schreibt: „Denn es gibt nichts, was ein für allemal falsch wäre.“ (Robinson, John A.T.: Gott ist anders. München 1963, S. 122). Damit ist die ge-
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
als letztlich konsequentialistische Argumente. Die Betonung der „Situativität“ läuft in den Schriften der „Situationsethiker“ in der Regel nämlich auf nichts anderes hinaus, als dass die Gültigkeit einer Norm wird für eine bestimmte Situation deshalb abgelehnt wird, weil die Anwendung der Norm in der gegebenen Situation überwiegend negative Folgen für die Gesamtheit der betroffenen Güter hätte. „Situationsethik“ ist dementsprechend meist nur ein anderer, im theologischen Milieu möglicherweise akzeptablerer Name für Konsequentialismus bzw. Utilitarismus13. Allerdings gibt es auch genuin kasuistische Einwände, die nicht auf Handlungsfolgen rekurrieren, so etwa der Einwand, dass selbst das Tötungsverbot in Fällen der Notwehr bzw. der Notwehrhilfe oder des Notstandes nicht gelte. Solche Einwände müssen dementsprechend gesondert behandelt werden und sind nicht einfach auf den Konsequentialismus reduzierbar. Die folgenden Unterkapitel werden dementsprechend den folgenden Fragen gewidmet sein: In Kapitel 6, II wird zunächst herausgearbeitet, welche Charakteristika eine Theorie unbedingter Pflichten bzw. uneinschränkbarer Rechte genau aufweisen muss. Als wesentliches Merkmal einer solchen Theorie wird dabei im Rückgriff auf Nozick und Nagel die Akteursrelativität von Normen bestimmt. Im Anschluss daran wird nachgezeichnet, welche Vorschläge in der Debatte zwischen Konsequentialisten und Deontologen bislang gemacht wurden, um Akteursrelativität rational zu begründen. In Kapitel 6, III soll daraufhin gezeigt werden, dass sich die Akteursrelativität von Normen durch eine Theorie der Anerkennung theoretisch einholen lässt. Da Akteursrelativität, so wie sie üblicherweise diskutiert wird, primär das ethische Verhältnis zwischen individuellen Personen betrifft, muss dann expliziert werden, welche Konsequenzen die so gewonnenen Erkenntnisse für den überindividuellen Bereich des Rechts haben. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung sollen in den Kapiteln 6, IV und 6, V dann gegen handlungstheoretische und situationsethische Einwände abgesichert und dabei zugleich die Begriffe der „unbedingten Pflicht“ und des „uneinschränkbaren Rechts“ näher bestimmt werden. Im Kapitel 6, VI soll schließlich ein Kriterium vorgestellt werden, das es ermöglicht, zwischen einschränkbaren und nichteinschränkbaren Rechten zu unterscheiden.
naue Gegenthese zu der These formuliert, es gäbe Handlungen, die immer und in jedem Fall – semper et pro semper – falsch seien. 13 Einer der prominentesten Vertreter der protestantischen „Situationsethik“ des 20. Jahrhunderts, Joseph Fletcher, bekennt sich dementsprechend auch recht unmissverständlich zum Utilitarismus als der eigentlichen theoretischen Grundlage der „Situationsethik“ (vgl. Fletcher, Joseph: Situation Ethics: The New Morality. Philadelphia 1966, S. 120 f.) - mit theoretischen Konsequenzen, die der theologisch unbedarfte Philosoph bei einem Theologen eher nicht erwartet hätte, wie Plädoyers für Eugenik und Euthanasie oder der Befürwortung von Massakern an Zivilisten zur schnelleren Beendigung von Kriegen.
II. Akteursrelativität als Wesensmerkmal unbedingter Pflichten
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II. Akteursrelativität als Wesensmerkmal unbedingter Pflichten 1. Die Entdeckung der Akteursrelativität Die Debatte zwischen Verfechtern konsequentialistischer und deontologischer Ethikmodelle hat in 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer wichtigen metaethischen Präzisierung der Charakteristika deontologischer Ethik geführt. Der vermutlich wichtigste Ertrag dieser Diskussion war die Einsicht, dass deontologische Ethikmodelle, besonders wenn sie die Existenz unbedingter Pflichten annehmen, dadurch gekennzeichnet sind, dass sie agenten- bzw. akteursrelativ normieren. Ausgangspunkt dieser Erkenntnis war ein von Robert Nozick in „Anarchy, State and Utopia“ skizziertes Problem, das später mit dem griffigen Namen „Paradox der Deontologie“ belegt wurde. Dieses Paradox hat die folgende Form14 : Geht man davon aus, dass eine deontologische Ethik dadurch gekennzeichnet ist, dass nach ihr der Maßstab für die Bewertung einer Handlung nicht darin besteht, welche Folgen die Handlung hat, sondern welcher Handlungstypus – also z. B. Mord, Diebstahl etc. – in ihr realisiert ist, so ist nicht einzusehen, warum eine Handlung, durch die der Handelnde eine Instanz eines als moralisch falsch bewerteten Handlungstypus realisiert, zugleich aber mehrere Instanzen desselben Handlungstypus, die von anderen Akteuren vollzogen würden, verhindert, nicht sollte durchgeführt werden dürfen bzw. sogar müssen. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Warum sollte es im Rahmen einer deontologischen Ethik, die alleine auf die Bewertung von Handlungsarten abhebt, für Akteur A verboten sein, einen Mord an einem unschuldigen Dritten C zu begehen, wenn durch diesen Mord verhindert werden kann, dass Akteur B fünf Morde an den unschuldigen Dritten D, E, F, G und H begeht?15 Etwa gleichzeitig mit Nozick hat Bernard Williams ein ähnliches Szenario in Form eines Gedankenexperiments entworfen, das wir Williams schon Vgl. zum Folgenden die Ausführungen in Nozick, Robert a.a.O. S. 26–53 (Part I, Chapter 3: „Moral Constraints and the State“). 15 Die Konstellation mag konstruiert erscheinen. Sie verdeutlicht aber zum einen in Form eines Gedankenexperiments ein grundlegendes Problem deontologischer Ethik, zum anderen ist das Beispiel aber auch nicht so weit hergeholt, wie man vermuten möchte. Erinnert sei hier nur an die Diskussion über das Luftsicherheitsgesetz oder an die Problematik des britischen moral bombing im 2. Weltkrieg, bei dem genau diese Konstellation gegeben war: der Versuch, durch gezielten Massenmord an der Zivilbevölkerung ein Regime zur Aufgabe zu zwingen, das im Begriff war, einen Völkermord zu verüben. Ähnlich liegt der Fall bei den Vernichtungsangriffen gegen japanische Städte einschließlich der Atombombenabwürfe über Hiro shima und Nagasaki. Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, dass sich aus den hier entwickelten Überlegungen die kategorische ethische Unzulässigkeit solcher Praktiken und mithin ihre Bewertung als Kriegsverbrechen ergibt. Gerade in einer Zeit, in der es hierzulande zum „guten Ton“ bei Politikern, Journalisten etc. gehört, die betreffenden Handlungen zu rechtfertigen und die verantwortlichen Politiker und Militärs wie Churchill, Arthur Harris, Truman usw. von ihrer Verantwortung freizusprechen, ist es eine Forderung an den Ethiker, die Stimme gegen das Geläufige zu erheben, indem er Verbrechen und Massenmord auch als 14
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
alleine aufgrund der literarischen Qualitäten seines Textes selbst schildern lassen wollen: „Jim finds himself in the central square of a small South American town. Tied up against the wall are a row of twenty Indians, most terrified, a few defiant, in front of them several armed men in uniform. A heavy man in a sweat-stained khaki shirt turns out to be the captain in charge and, after a good deal of questioning of Jim which establishes that he got there by accident while on a botanical expedition, explains that the Indians are a random group of the inhabitants who, after recent acts of protest against the government, are just about to be killed to remind other possible protestors of the advantages of not protesting. However, since Jim is an honoured visitor from another land, the captain is happy to offer him a guest’s privilege of killing one of the Indians himself. If Jim accepts, then as a special mark of the occasion, the other Indians will be let off. Of course, if Jim refuses, then there is no special occasion, and Pedro here will do what he was about to do when Jim arrived, and kill them all. Jim, with some desperate recollection of schoolboy fiction, wonders whether if he got hold of a gun, he could hold the captain, Pedro and the rest of the soldiers to threat, but it is quite clear from the set-up that nothing of the sort is going to work: any attempt at that sort of thing will mean that all the Indians will be killed, and himself. The men against the wall, and the other villagers understand the situation, and are obviously begging him to accept. What should he do?“16
Die möglichen Antworten auf die Frage, was Jim tun sollte, spiegeln sich in den beiden verschiedenen Möglichkeiten, die es auf der theoretischen Ebene gibt, auf die Herausforderung durch das „Paradox der Deontologie“ zu antworten. Einmal könnte man es in der Tat für irrational erklären, eine Handlung einer moralisch unzulässigen Handlungart X nicht zu vollziehen, wenn dadurch verhindert werden kann, dass eine größere Anzahl von Handlungen der Art X von anderen Akteuren vollzogen wird. Der Mord, der Jim angetragen wird, wäre bei dieser Lösung nicht nur moralisch zulässig, sondern geradezu geboten. Eine solche Reaktion auf das „Paradox der Deontologie“ käme freilich einer Kapitulation des deontologischen Ethikmodells vor dem konsequentialistischen gleich. Folgt man dem nicht, so bleibt nur noch, deontologische Ethik im Ausgang vom Prinzip der Akteursrelativität neu zu bestimmen und für diese Neubestimmung eine rationale Begründung zu liefern. Deontologische Ethik ist entsprechend dieser Neubestimmung dann nicht nur dadurch ausgezeichnet, dass Handlungen statt Handlungsfolgen den Bezugspunkt für die moralische Bewertung von Handlungen abgeben, sondern zusätzlich dadurch, dass im Rahmen einer deontologischen Ethik Handlungen akteursrelativ normiert sind.17 solche benennt und die Verantwortung dafür bei niemand anderem verortet als denen, die sich in Freiheit entschieden haben, sie anzuordnen und durchzuführen. 16 Williams, Bernard: A Critique of Utilitarianism, S. 98 f. In: Smart, John J.C./Williams, Bernard: Utilitarianism For and Against. Cambridge 1973. 17 Der Begriff wurde von Thomas Nagel geprägt, der in „The View from Nowhere“ ein Szenario diskutiert, in dem Hilfspflichten gegenüber mehreren Person nur durch die Verletzung von Unterlassenspflichten einer anderen Person gegenüber erfüllt werden können (vgl. Nagel a.a.O. S. 175 ff.).
II. Akteursrelativität als Wesensmerkmal unbedingter Pflichten
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Akteursrelativ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine moralisch unzulässige Handlung nicht einfach nur als moralisch falsch bewertet wird, unabhängig davon, wer sie begeht, sondern dass jeder einzelne Akteur die moralische Pflicht hat, sie nicht zu begehen. Der adäquate sprachliche Ausdruck etwa des Tötungsverbots im Rahmen einer akteursrelativen deontologischen Ethik wäre demnach nicht: „Töten ist moralisch falsch, und deshalb sollte niemand getötet werden“, sondern: „Du sollst nicht töten“, wobei das „Du“ zwar jeden möglichen Akteur meint, zugleich aber als Ausdruck der Akteursrelativität deontologisch verstandener Normen irreduzibel ist. Obwohl beide Formulierungen auf den ersten Blick äquivalent erscheinen mögen, zeigt die skizzierte Fallkonstellation – in der durch einen Mord fünf Morde, die von anderen begangen werden, verhindert werden könnten –, dass sie keineswegs äquivalent sind. Samuel Scheffler, von dem eine der ausführlichsten Auseinandersetzungen mit der Problematik stammt, beschreibt die Überlegung, die vom „Paradox der Deontologie“ zum Gedanken der Akteursrelativität führt, denn auch treffend folgendermaßen: „An agent-centred restriction is, roughly, a restriction which it is at least sometimes impermissible to violate in circumstances where a violation would serve to minimize total overall violations of the very same restriction. [. . .] For how can it be rational to forbid the performance of a morally objectionable action that would have the effect of minimizing the total number of comparably objectionable actions that were performed and would have no other morally relevant consequences?“18
Es gilt in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Fallkonstellationen, die im „Paradox der Deontologie“ beschrieben werden, sicherlich nur einen kleinen Bereich derjenigen Fälle abdecken, in denen es zwischen einem deontologischen und einem konsequentialistischen Paradigma von Normativität zu einem Konflikt kommen kann. In der Regel werden konsequentialistische und deontologische Ethiker sich eher über diejenigen Fälle streiten, in denen durch einen Verstoß gegen eine Pflicht bzw. durch die Verletzung eines Rechts eines Menschen ein insgesamt optimaleres Ergebnis für die insgesamt auf dem Spiel stehenden Güter erreicht werden kann, als dies ohne jene Pflicht- bzw. Rechteverletzung der Fall ist. Gleichwohl ist das „Paradox der Deontologie“ insofern von größter metaethischer Bedeutung, als es eben die Akteursrelativität zum Vorschein bringt, die im deontologischen Ethikmodell notwendig am Werk ist, in den meisten „Standardfällen“ aber verborgen bleibt. Gelingt es nun zu zeigen, dass Akteursrelativität überhaupt für jegliche Normativität, jedenfalls aber für intersubjektive Normativität, dergestalt wesentlich ist, dass der Begriff der Normativität selbst sinnlos würde, wenn sie nicht zu Grunde gelegt wird, so wäre mithin zugleich die Richtigkeit des deontologischen gegenüber dem konsequentia-
Scheffler, Samuel: The Rejection of Consequentialism. Oxford 1994, S. 133 f.
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listischen Ethikmodell aufgezeigt. Zwar wäre dann außerdem noch zu zeigen, dass die Bewertung von Handlungen sich nicht an deren Folgen, sondern nur an intrinsische Merkmale der Handlung anknüpfen lässt. Wie sich im Verlauf der Untersuchung noch zeigen wird19, ergibt sich dies aber aus demselben Prinzip, das auch die Akteursrelativität trägt. Ist dieses Prinzip erst einmal aufgefunden, lassen sich beide Charakteristika deontologischer Ethik ohne weiteres theoretisch einholen.
2. Akteursrelativität in der Diskussion Vor allem im angelsächsischen Diskurs gibt es seit den Gedankenexperimenten von Williams und Nozick eine ausführliche Debatte darüber, ob und wie eine Akteursrelativität ethischer Normen überhaupt begründbar ist. Unter den Begründungsstrategien sind – eine verantwortungstheoretische, – eine die Differenz zwischen positiven und negativen Pflichten betonende, – eine tugendethische, – eine „opferzentrierte“ – und eine im weitesten Sinn kantianische Strategie die wichtigsten.20 Die verantwortungstheoretische Strategie versucht akteursrelative Normierungen dadurch zu begründen, dass eine unaufhebbare Differenz zwischen der Verantwortung für die Wirkungen des eigenen Handelns und der Verantwortung für die Wirkungen des Handelns anderer postuliert wird, wobei die Verantwortung für das eigene Handeln stets Vorrang vor der Verantwortung für das Handeln anderer habe. Letztlich scheint diese Antwort aber keine Begründung des Prinzips der Akteursrelativität zu bieten, sondern dieses Prinzips seinerseits als Grund zu bedürfen. Das wird sofort deutlich, wenn man sich die konsequentialistische Gegenposition verdeutlicht, die eben gerade davon ausgeht, dass es zwischen den Folgen der eigenen Handlungen und den Folgen der Handlungen anderer genau dann keinen Unterschied hinsichtlich der Verantwortungszuschreibung gibt, wenn man das Handeln anderer nachhaltig beeinflussen kann. Da Jim durch sein Handeln den Tod der zwanzig Indios verhindern könnte, wäre er nach dieser Verantwortungstheorie für den Tod der zwanzig Indios auch verantwortlich, und dies eben in keiner anderen Weise, als er für den Tod desjenigen Indios verantwortlich wäre, den er selbst erschießen würde, wenn er sich denn in der Situation dafür entscheiden würde. Nur wenn man das Vgl. dazu Kapitel 6, IV dieser Arbeit. Zu diesen Strategien und der konsequentialistischen Kritik daran vgl. Kagan, Shelly: The Limits of Morality. Oxford 1989, S. 83–182. 19
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Prinzip der Akteursrelativität – wie später zu zeigen sein wird: den Grund dieses Prinzips – bereits voraussetzt, kann man also überhaupt jenen Unterschied in der Verantwortungszuschreibung behaupten, der für die verantwortungstheoretische Lösung kennzeichnend ist. Eine eng mit dieser Lösung verwandte Strategie zur Begründung der Akteursrelativität besteht darin, die Differenz zwischen positiven und negativen Pflichten herauszustellen. Nach dieser These läge das unbedingte Verbot, einen Menschen zu töten, selbst wenn sich dadurch der Tod oder gar die Ermordung einer Vielzahl von Menschen verhindern ließe, darin begründet, dass negative Pflichten einen unbedingten Vorrang vor positiven Pflichten oder Hilfspflichten hätten. Auch hier gilt aber wieder, dass eine solche Lösung die Akteursrelativität wieder voraussetzt statt sie zu begründen. Denn nur dann, wenn die adäquate Formulierung einer negativen Pflicht lautet: „Du sollst nicht h tun“ und nicht: „h ist eine schlechte Handlung; daher sollten möglichst wenig Fälle von Handlung h realisiert werden“, ist es überhaupt plausibel, einen Vorrang der jeweils eigenen Unterlassung von h vor einer Verhinderung des Vollzuges von h durch andere Akteure zu behaupten. Scheffler ist daher recht zu geben, wenn er bemerkt: „These considerations do not support agent-centered restrictions. Someone who wants to claim that one must not commit one harm to prevent still greater harms because the duty not to harm is stronger than the duty to prevent harm, must give some sort of explanation of the source of this kind of differential strength.“21
Die tugendethische Lösungsstrategie hat eine ähnliche Stoßrichtung wie die verantwortungstheoretische, wenn sie betont, dass es im Handeln zunächst darauf ankomme, den eigenen Willen im Guten zu halten, und dann erst für „möglichst gute Weltzustände“ zu sorgen.22 Ein Konsequentialist kann dem allerdings entgegenhalten, dass das Prinzip der Akteursrelativität bereits vorausgesetzt sei, wenn man die Frage, was das Gute bzw. Richtige jeweils sei, nicht über eine Abwägung der Handlungsfolgen entscheide. So sei es in dem skizzierten Fall aus konsequentialistischer Perspektive keineswegs klar, dass es moralisch falsch oder schlecht sei, den einen Mord nicht zu begehen, wenn dadurch fünf Morde verhindert werden könnten.23 Bestimme man das richtige Handeln nämlich über eine Güterabwägung im Hinblick darauf, welche Folgen welches Handeln hat, so sei es gerade die richtige Handlung, den Mord zu begehen, und die schlechte, ihn nicht zu begehen. Wer das Richtige anders verstehe, begründe das Prinzip der Akteursrelativität also nicht, sondern setze es bereits voraus. Scheffler a.a.O. S. 25. Eine solche Argumentationsstrategie verfolgt neuerdings etwa Martin Rhonheimer (Rhonheimer, Martin: Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik. Berlin 2001; insbesondere S. 329–357). 23 Vgl. für eine solche Argumentation Kagan a.a.O. S. 29 f. 21
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Zudem sei es nicht nachvollziehbar, warum Personen das Recht haben sollten, ihren Willen im Guten zu halten, wenn dies bedeute, dass die Verletzung der fundamentalsten Rechte oder Interessen anderer in Kauf genommen werde. Eine Variante dieser tugendethischen Argumentation findet sich bei Williams, der gegen den Konsequentialismus vorbringt, jeder Akteur habe das Recht, seine persönliche moralische Integrität gegen die Zumutungen eines Konsequentialismus zu bewahren, der ihn z. B. im Gedankenexperiment „Jim und die Indios“ moralisch dazu verpflichten wolle, einen Mord zu begehen. Williams fasst das in die Worte: „It is absurd to demand of such a man, when the sums come in from the utility network which the projects of others have in part determined, that he should just step aside from his own project and decision and acknowledge the decision which utilitarian calculation requires. It is to alienate him in a real sense from his actions and the source of his action in his own convictions. It is to make him into a channel between the input of everyone’s projects, including his own, and an output of optimific decision; but this is to neglect the extent to which his actions and his decisions have to be seen as the actions and decisions which flow from the projects and attitudes with which he is most closely identified. It is thus, in the most literal sense, an attack on his integrity.“24
Williams’ Rückgriff auf die „persönliche Integrität“ ist nun freilich in gewisser Weise noch schwächer als der tugendethische Ansatz, da er lediglich von einem subjektiven Willen des Handelnden zur Wahrung der eigenen moralischen Integrität getragen ist. Geht man davon aus, so wird allenfalls eine Möglichkeit begründet, den Mord nicht zu begehen, wenn man ihn um seiner persönlichen Integrität willen nicht begehen will, weil dies den „Projekten und Haltungen“ widerspräche, die die eigene persönliche Identität ausmachen. Das Prinzip der Akteursrelativität hat aber den viel stärkeren Anspruch, dass es ganz unabhängig davon, was man persönlich will und welche persönliche empirische Identität man hat, verboten sei, ihn zu begehen. Und genau diesen stärkeren Anspruch kann eine auf den subjektiven Willen zur persönlichen Integrität und empirischen Identität des Handelnden abzielende Theorie offenkundig nicht begründen. Er muss aber begründet werden, wenn die Gegebenheit unbedingter Pflichten und unantastbarer Rechte theoretisch gerechtfertigt werden soll. In aller Deutlichkeit wird dies wieder von Scheffler ausgesprochen, der in seiner Studie „The Rejection of Consequentialism“ die Auffassung vertritt, dass man zwar ein „agent-centered prerogative“ begründen könne, nach dem man auch durch konsequentialistische Überlegungen nicht moralisch verpflichtet werden könne, jemandem Leid zuzufügen, wenn man dies nicht wolle. Die stärkere Be24 Williams a.a.O. S. 117. Dasselbe Argument findet sich auch bei Charles Fried, der das deontologische Ethikmodell geradezu auf den Anspruch des Einzelnen aufbaut, seine persönliche Integrität zu wahren: „If deontology, the theory of right and wrong, is solicitous of the individual, it is primarily solicitous of his claim to preserve his moral integrity.“ (Fried, Charles: Right and Wrong. Cambridge (MA) 1978, S. 2).
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hauptung einer „agent-centered restriction“, die besagt, man dürfe dies auf keinen Fall, sei dagegen nicht rational begründbar (dies allerdings sei zumindest beunruhigend): „For the prerogative, unlike the restrictions, appears to have an independent principled rationale; it represents one rational response to the natural independence of the personal point of view. […] But, at the same time, I hope these readers will also agree that there are reasons to be worried about agent-centered restrictions, and feel challenged to identify that rationale for the restrictions which has so far eluded our grasp.“25
Die von Scheffler eingeforderte Angabe eines Grundes akteursrelativer Beschränkungen in Form des Prinzips der wechselseitigen Anerkennung ist es, die diese Untersuchung nicht zuletzt leisten möchte. Ein erster Ansatz dafür findet sich in einer durchaus bemerkenswerten Weise bei Robert Nozick selbst. Nozick nämlich greift in ganz ähnlicher Weise wie Dürig auf die zweite Formulierung des Kategorischen Imperativs, die Menschheitsformel zurück, um die Idee unbedingt geltender negativer Rechtspflichten – bei ihm side constraints genannt, da sie eine absolute Schranke der konsequentialistischen Gütermaximierung bilden – zu begründen. Jede Person, so sein Ausgangspunkt, habe bestimmte grundlegende Rechte, darunter das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Eigentum. Auf dieser Grundlage formuliert Nozick nun seine Antwort auf das „Paradox der Deontologie“, die man eine „patientenrelativ-rechtezentrierte“ nennen könnte. Unbedingte Verbotsnormen sollen sich demnach aus fundamentalen Rechten der potentiellen Opfer von Rechtsverletzungen ergeben, nicht aus der persönlichen Integrität der potentiellen Täter oder Ähnlichem. Grundsätzlich löst die Verschiebung des Fokus auf den „Patienten“, d. h. auf den von einer Handlung Betroffenen und dessen Rechte, freilich auch nach Nozicks Auffassung das Paradox nicht. Denn wenn das, was an einer rechteverletzenden Handlung falsch wäre, der Umstand wäre, dass dadurch die Rechte des Opfers verletzt werden, so wäre nicht einzusehen, warum eine Handlung, die ein Recht R eines Opfers verletzt, aber dazu führt, dass dasselbe Recht R mehrerer anderer potentieller Opfer nicht verletzt wird, nicht sollte durchgeführt werden dürfen. Hebt also man in einer einfachen Weise auf Rechte ab, so kommt man gerade nicht zu unbedingten negativen Pflichten. Es muss daher, so offenbar Nozicks Überlegung26 , ein Art Meta-Recht geben, das die Art und Weise der Beachtung von Rechten festlegt und das als solches der Beachtung der Rechte jedes einzelnen Rechtssubjekts einen unbedingten Vorrang vor der Abwägung mit den Rechten anderer Rechtssubjekte einräumt. Genau dieses Meta-Recht findet Nozick in der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs ausgedrückt (allerdings mit der für den Li Scheffler a.a.O. S. 114. Es handelt sich bei der folgenden Aussage um eine Rekonstruktion von Nozicks Gedankengang; der Begriff „Meta-Recht“ kommt bei Nozick selbst nicht vor. 25 26
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bertären Nozick charakteristischen Modifikation, dass niemand ohne seine ausdrückliche Zustimmung als bloßes Mittel zum Zweck der Realisierung oder Wahrung der Rechte bzw. Interessen anderer benutzt werden dürfe). Nozick greift hier also aus ganz ähnlichen Gründen wie Dürig auf die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs zurück. Wie Dürig geht es Nozick darum, mittels der Menschheitsformel eine absolute Grenze dessen zu setzen, was im Rahmen einer Rechte-, Güter- und Interessenabwägung zulässig ist. Nozicks Vorgehensweise ist aber insofern überzeugender als die Dürigs, als bei Nozick klar ist, dass es sich bei der Formel nicht um ein spezifisches „Recht auf Nicht-Instrumentalisierung“ handelt, das neben den übrigen Rechten besteht, sondern um eine Meta-Regel, die besagt, dass die Rechte einer Person auch nicht zu dem Zweck aufgehoben werden können, die Rechte anderer Personen zu schützen. Auch bei Nozick bildet die Menschheitsformel also, wie bei Kant, gewissermaßen das Moment des Deontologischen selbst an einer deontologisch gedachten Ethik und Rechtsphilosophie, nicht aber ein bestimmtes Recht. Vielmehr fungiert sie in Nozicks Konzeption als ein Meta-Recht, das den Umgang mit und die Anwendung von Rechten regelt, indem es bestimmt, dass mit Rechten nicht konsequentialistisch-akteursneutral, sondern deontologisch-akteursrelativ umzugehen ist. Das bedeutet dann, dass die Wahrung und Beachtung von Rechten nicht als zu maximierendes Gut im Sinn eines „Konsequentialismus der Rechte“ zu verstehen ist, sondern die Normierung von Rechten dergestalt zu erfolgen hat, dass jedes einzelne Mitglied der Rechtsgemeinschaft durch die Rechtsordnung verpflichtet wird, die Rechte aller anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft situations- und folgenunabhängig zu achten. So wie Nozick die Menschheitsformel verwendet, dient sie also dazu, eben diejenige deontologische, anti-konsequentialistische Struktur des Rechts zu garantieren, die uns bereits aus den Rechtslehren Kants und Fichtes vertraut ist. Gleichwohl löst Nozicks Aufgreifen der Selbstzweckformel das „Paradox der Deontologie“ noch nicht vollständig auf. Der Rekurs auf das Prinzip der Akteursrelativität wird in Nozicks Vorschlag nicht überflüssig, sondern nur verschleiert und bleibt daher ein ungelöstes Problem. Wenn Nozick nämlich sagt, die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs verbiete es, die Rechte eines Menschen zu verletzen, selbst wenn dies zu dem Zweck geschehe, die Rechte anderer Menschen zu schützen, die von anderen Akteuren bedroht sind, so setzt das bereits voraus, dass jeder beliebige Akteur primär dazu verpflichtet ist, selbst kein Recht zu verletzen, und nur in sekundärer Hinsicht dazu, die Verletzung von Rechten durch andere Akteure zu verhindern. Genau für diese Voraussetzung wird aber eine tragfähige Begründung erst noch gesucht, wenn nach dem „Grund der Akteursrelativität“ gefragt wird. Nozick liefert durch die Verschiebung des Fokus auf den „Patienten“ und seine Rechte also eine derartige Begründung gerade noch nicht, sondern setzt sie seinerseits implizit voraus. Das zeigt sich deutlich, wenn man sich das Prinzip der Akteursrelativität probehal-
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ber aus Nozicks Vorschlag wegdenkt. Dann nämlich taucht sofort wieder die Frage auf, warum die Verhinderung von mehreren Verletzungen der Menschheitsformel nicht eine Verletzung der Menschheitsformel sollte erlauben können. Die „Gegenprobe“ zeigt deutlich, dass Nozick die Akteursrelativität in der Menschheitsformel bereits implizit mitdenkt und dass ohne dieses Mitdenken sein Lösungsvorschlag gar nicht zu dem behaupteten Ergebnis führen würde.
3. Zur Kritik des „Consequentializing“ Innerhalb der analytischen Ethik hat neuerdings der Gedanke erheblichen Zulauf gewonnen, man könne dasjenige, was einen deontologischen Ethikansatz ausmacht und attraktiv macht – nämlich die Existenz akteursrelativer unbedingter Pflichten –, im Rahmen eines rein konsequentialistischen Ethikmodells einholen und reformulieren. Auf diesem Wege könne dann auch der zentrale Kritikpunkt am Konsequentialismus, nämlich, dass solche Pflichten in einem konsequentialistischen Ethikmodell nicht denkmöglich seien, zurückgewiesen werden. Der derzeit wohl wichtigste Vertreter dieses Gedankens ist Douglas W. Portmore. Portmores und anderer Vorschlag einer aktkonsequentialistischen Rekonstruktion akteursrelativer Pflichten geht grob gesagt in vier Schritten vor, die die folgende Gestalt haben 27 : 1.) Konsequentialistische Theorien sind Theorien, bei denen die Frage, ob eine bestimmte Handlung moralisch verpflichtend ist, davon abhängt, wie ihr „outcome“ (d. h. die Gesamtheit der Handlungsfolgen) gegenüber den bestehenden Handlungsalternativen zu bewerten ist. 2.) Eine Handlung ist dann moralisch verpflichtend, wenn ihr „outcome“ höher zu werten ist als die „outcomes“ der zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen. 3.) Akteursrelative constraints lassen sich genau dann konsequentialistisch einholen, wenn die vergleichende Bewertung der verschiedenen „outcomes“ nicht akteursneutral, sondern akteursrelativ erfolgt. 4.) Wenn nun für einen Akteur A im Rahmen seiner subjektiven Güterhierarchie das Sich-Ereignen von fünf Morden ein geringeres Übel darstellt als das Übel, selbst einen Mord begangen zu haben, so ist für ihn der „outcome“ der Handlungsoption „Selbst keinen Mord begehen und dafür fünf Morde zulassen“ besser als der „outcome“ der Handlungsoption „Einen Mord begehen und dadurch fünf Morde verhindern“. Mit diesen vier Schritten hätte sich dann gemäß Portmores Vorschlag die akteursrelative Restriktion, keinen Mord zu begehen, im Rahmen einer konse Vgl. hierzu Portmore, Douglas W.: Consequentializing Moral Theories. In: Pacific Philosophical Quarterly Vol. 88 (2007) /1, S. 39–73. 27
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quentialistischen Theorie 1:1 reformulieren lassen. Wie Mark Schroeder gezeigt hat 28 , setzen diese Überlegungen allerdings voraus, dass die konsequentialistischen Grundbegriffe des „Gutes“ bzw. „Übels“ grundsätzlich relativ auf Personen zu verstehen sind, und zwar in einer partikular-subjektivistischen Weise. Ein Gut bzw. Übel wäre demensprechend immer ein „Gut für“ bzw. ein „Übel für“ eine bestimmte Person P, nie ein „Gut“ oder „Übel“ an sich und/oder für alle Personen. Mit dieser Partikularisierung der Begriffe des „Gutes“ und des „Übels“ eröffnen sich für das Programm des „Consequentializing“ aber zwei gleichermaßen problematische Alternativen. Entweder wird die Relation des „gut/schlecht für“ dahingehend verstanden, dass eine bestimmte Handlung h für jeden denkbaren Akteur „gut“ bzw. „schlecht“ ist. Ein Mord, den Akteur A an Opfer P begeht, wäre nach dieser Lesart ebenso „schlecht für A“ wie ein Mord, den Akteur B an Person Q begeht, „schlecht für B“ wäre und so fort. Weiterhin müsste dann, um ein universell geltendes akteursrelatives Verbot z. B. des Mordes einzuholen, angenommen werden, dass ein Mord, den B begeht, für A weniger schlecht ist als ein Mord, den A selbst begeht, während für B ein Mord, den A begeht, weniger schlecht ist als ein Mord, den B selbst begeht, etc. Diese Annahme ist allerdings nur aufrechtzuerhalten, wenn man von einer bestimmten Zusatzprämisse ausgeht: der Zusatzprämisse nämlich, dass es prinzipiell unmöglich ist, theoretisch die Perspektive eines anderen Akteurs einzunehmen. Denn wenn ein solcher Perspektivenwechsel möglich ist, dann kann Akteur A einsehen, dass der Mord, den Akteur B an Q begeht, für B schlechter ist als der Mord, den A an P begeht, und umgekehrt. Wenn das aber der Fall ist, so gilt für jeden beliebigen Akteur A wiederum, dass mehrere Morde, die von einem oder mehreren anderen Akteuren begangen werden, einen insgesamt schlechteren „outcome“ bilden als sein Mord an P. In diesem Fall wäre aber gemäß Schritt (2.) der Mord an P genau dann zu begehen, wenn dadurch verhindert werden kann, dass andere Akteure mehr als einen Mord begehen. Ein akteursrelativer constraint würde mithin gerade nicht bestehen. Die Zusatzprämisse, dass ein Perspektivenwechsel unmöglich sei, ist aber bereits dadurch widerlegt, dass ein solcher Wechsel hier durchgespielt werden konnte. Der andere Weg, den die Verfechtern des „Consequentializing“ einschlagen könnten, besteht darin, das „gut/schlecht für“ so zu verstehen, dass es nicht für jeden beliebigen Akteur gilt, sondern alleine von dessen subjektiven Präferenzen abhängt. Eine Handlung eines bestimmten Handlungstyps, der für Akteur A schlecht wäre, müsste dementsprechend für Akteur B nicht unbedingt ebenfalls schlecht sein. Während das Begehen eines Mordes z. B. für A eine schlechte Handlung wäre, wäre das Begehen eines Mordes für Akteur B keine oder zumindest eine weniger schlechte Handlung. Legt man aber Portmores Programm Schroeder, Mark: Teleology, Agent-Relative Value, and Good. In: Ethics 117 (2007), S. 265–295. 28
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der „Konsequenzialisierung“ diese Lesart zugrunde, wird unmittelbar evident, dass auf diese Weise keine allgemeingültigen und unbedingten akteursrelativen constraints begründet werden können. Denn ob im jeweiligen Fall eine akteursrelative Handlungsrestriktion bestünde, würde dann alleine davon abhängen, um wen es sich bei dem Akteur kontingenterweise handelt. Eine solche Form der Relativierung verfehlt aber wiederum das weiter oben herausgearbeitete Charakteristikum akteursrelativer constraints, das gerade darin besteht, dass sie jeden beliebigen Akteur in gleicher Weise verpflichten. Es zeigt sich mithin, dass akteursrelative negative Pflichten entweder – entsprechend dem ersten Weg – gar nicht konsequentialisierbar sind oder aber – entsprechend dem zweiten Weg – nur um den Preis, dass zwei ihrer konstitutiven Charakteristika, nämlich ihre Universalität und ihr präferenzunabhängiger Verpflichtungscharakter, verloren gehen. Allenfalls lassen sich mit Portmores Ansatz also „agent-relative prerogatives“ im Sinn von Scheffler und Williams konsequentialistisch rekonstruieren, nicht aber „agent-relative constraints“. Universale akteursrelative constraints erweisen sich demzufolge als prinzipiell nicht „konsequentialisierbar“. Portmores derzeit vielbeachteter Ansatz muss insofern als gescheitert betrachtet werden, und man versteht angesichts der Offenkundigkeit dieses Scheiterns eigentlich nicht ganz, woher die teilweise euphorische Aufnahme resultiert, die er erfahren hat. Die Frage nach dem eigentlichen Grund unbedingter akteursrelativer Pflichten bleibt damit weiterhin im Raum stehen.
4. Anerkennung als Grund der Akteursrelativität Der Ansatz Nozicks zeigt trotz seiner sicherlich noch vorhandenen Defizite die Richtung an, in der die tatsächliche Lösung des Problems unbedingt geltender Rechte und uneinschränkbarer Rechte zu suchen wäre. Weder eine einseitige Fokussierung auf den Handelnden, noch eine einseitige Fokussierung auf die von der Handlung Betroffenen kann solche Rechte und Pflichten offenbar theoretisch einholen. Anders sieht dies jedoch aus, wenn man Akteur und Betroffenen nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern bei der Relation zwischen beiden ansetzt. Eine Theorie, die ebendies zu leisten vermag, findet sich aber, wie in den vorigen Kapiteln gesehen, in den Rechtsphilosophien von Fichte und Kant, ja überhaupt bei denjenigen Theorien der Normativität, die üblicherweise „Anerkennungstheorien“ genannt werden. Unter einer Anerkennungsbeziehung ist, wie insbesondere die Analyse der Fichte’schen Rechtslehre gezeigt hat, diejenige Beziehung zwischen endlichen Subjekten zu verstehen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass jedes einzelne Subjekt aus einer Pluralität von Subjekten alle anderen Subjekte als Rechtssubjekte anerkennt und von ihnen als solches anerkannt wird. Eine andere Person als Rechtssubjekt anerkennen bedeutet wiederum, wie wir ebenfalls bei Kant und Fichte gesehen haben, sie als ein Wesen anzuerken-
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nen, das einen Anspruch auf eine exklusive Sphäre der Ausübung seiner Freiheit hat – eine Sphäre also, von der es die Freiheitsausübung jedes anderen Subjekts legitimerweise ausschließen darf. Dabei ist übrigens zu beachten, dass diese Befugnis nur gegenüber Wesen gilt, denen solche Verletzungshandlungen überhaupt zurechenbar sind, d. h. gegenüber solchen Wesen, die die Freiheitssphäre eines anderen Subjekts aufgrund einer freien Entscheidung verletzen können. So stellen beispielsweise Tierangriffe keine Rechtsverletzungen dar, da Tieren ihr Verhalten aufgrund des Umstandes, dass sie nicht aus Freiheit handeln können, nicht als Handlung zurechenbar ist. Ein Recht eines Subjekts kann nach dem Gesagten vielmehr nur durch das Handeln 29 eines anderen freien Subjekts verletzt werden. Ein Tier, das einen Menschen verletzt, verletzt dementsprechend zwar vielleicht dessen körperliche Unversehrtheit, nie aber sein Recht auf körperliche Unversehrtheit, weil die Verletzung eines Rechts Freiheit auf der Seite des Rechtsverletzers voraussetzt. Da von Tieren also keine rechtswidrigen Angriffe ausgehen können, bestehen gegen Tiere auch keine Notwehrrechte, sondern allenfalls Notstandsrechte. Ebenso wenig ist unter einem Recht etwas zu verstehen, das gegenüber solchen Beeinträchtigungen der eigenen Freiheitssphäre besteht, die sich zwar aus dem Dasein eines Subjekts kausal ergeben, die dem beeinträchtigenden Subjekt aber nicht als Handlungen zurechenbar sind. So stellt beispielsweise für jedes der beiden Subjekte eines siamesischen Zwillingspaares die bloße Existenz seines Geschwisters ohne Zweifel eine erhebliche Beeinträchtigung seiner Freiheitssphäre dar. Diese Beeinträchtigung ist dem Geschwister aber nicht als Handlung zurechenbar, sondern ist die kausale Folge seines bloßen Existierens unter den gegebenen Umständen. Daher hätte auch Besonders befremdlich erscheint vor diesem Hintergrund Paul Tiedemanns Argument für eine Entkopplung von Menschenwürdegarantie und Lebensrecht. Eine Tötung, so Tiedemann, könne keine Verletzung der aus der Menschenwürde folgenden Rechtsnormen sein, da man durch eine Tötung ja aufhöre zu existieren und dementsprechend durch die Tötung nicht in einen „menschenwürdewidrigen Zustand“ versetzt werden könne. Tiedemann schreibt: „Die Existenz einer Person ist dann ein Achtungsbereich der Menschenwürde, wenn der Wegfall der Existenz die Person in einen menschenunwürdigen Zustand versetzt. Wir müssen uns also fragen, ob sich ein Mensch, der nicht (mehr) existiert, in einem menschenunwürdigen Zustand befindet. Die Antwort darauf ist einfach: Ein nicht existierender Mensch kann sich nicht in einem menschenunwürdigen Zustand befinden, weil etwas existieren muss, um sich überhaupt in irgendeinem Zustand zu befinden.“ (Tiedemann, Paul: Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung. Berlin, 2. Aufl. 2010, S. 414). Der auf der Hand liegende Fehler dieses Arguments besteht darin, das Prädikat „menschenwürdewidrig“ auf Zustände zu beziehen. Tatsächlich können aber „Zustände“ überhaupt nicht gegen Rechte verstoßen. Gegen Rechte können nur Handlungen verstoßen, nicht aber Zustände, Umstände oder Situationen: und zwar weil der Begriff eines „Rechts“ sich genuin auf intersubjektive Verhältnisse bezieht. Insofern nun Tötungen, wenn sie von Subjekten in Freiheit vollzogen werden, offensichtlich Handlungen sind, können sie also selbstverständlich gegen eines derjenigen Rechte verstoßen, die sich aus dem anerkennungstheoretisch rekonstruierten Menschenwürdeprinzip ergeben. Leider ist Tiedemanns Argument bezeichnend für die Verwirrung, die selbst unter philosophisch gebildeten Rechtswissenschaftlern häufig hinsichtlich des Menschenwürdeprinzips und des normativitätslogischen Charakters von Rechten besteht. 29
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keines der beiden Geschwister das Recht, durch eine trennende Operation, in deren Folge das andere Geschwister versterben würde, eine ausschließliche Verfügungsgewalt über seine Freiheitssphäre herstellen zu lassen.30 Ein noch naheliegenderes Beispiel ist die Rechtspflicht von Eltern, das Leben ihrer Kinder zu erhalten, die ohne Zweifel eine Beeinträchtigung von deren Freiheitssphären darstellt, aber kein Recht der Eltern verletzt, da das Dasein des Kindes dem Kind selbst nicht als Handlung zuschreibbar ist. Dementsprechend haben die Eltern auch kein Abwehrrecht gegen jene Pflicht. Zugleich mit der Befugnis, anderen Subjekten den zurechenbaren Übergriff auf die eigene Freiheitssphäre zu untersagen, enthält die Anerkennung als Rechtssubjekt des Weiteren den Anspruch, dass die Zuteilung der Freiheitssphären nur nach allgemeinen und gleichen Gesetzen bzw. Regeln erfolgen darf. Damit ist jedem Wesen, das als Rechtssubjekt von allen anderen Rechtssubjekten anerkannt ist, ein Anspruch zugestanden, den es jederzeit gegenüber den anderen Rechtssubjekten geltend machen kann: der Anspruch nämlich, dass kein anderes Subjekt willentlich eine Handlung begeht, die die Unverfügbarkeit der ihm zugesprochenen legitimen Freiheitssphäre und/oder die Allge30 Das Beispiel mag weit hergeholt erscheinen. Allerdings eignet es sich wie kaum ein anderes, um ein wesentliches Charakteristikum von Rechten zu verdeutlichen, das sich aus deren intersubjektiv-akteursrelativer Grundbestimmung ergibt, aber oft übersehen wird: das Charakteristikum nämlich, dass Rechte nur gegenüber zurechenbaren Handlungen freier Subjekte geltend gemacht werden können, nicht aber im Hinblick auf Umstände oder Situationen, die dem anderen Subjekt, das involviert ist, nicht zurechenbar sind. Aus eben diesem Grund wird das Problem der Trennung siamesischer Zwillinge gerade in der medizinethischen und medizinrechtlichen Literatur auch viel diskutiert (vgl. dazu für die medizinrechtliche Seite etwa Merkel, Reinhard: Die chirurgische Trennung sogenannter siamesischer Zwillinge. Ethische und strafrechtliche Probleme. In: Joerden, Jan C. (Hg.): Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin. Heidelberg 1999, S. 175–205, und Joerden, Jan C.: Menschenleben. Ethische Grund- und Grenzfragen des Medizinrechts. Stuttgart 2003, S. 119–133. Für die medizinethische Debatte vgl. Bockenheimer-Lucius, Gisela: Siamesische Zwillinge – Trennen oder nicht? In: Ethik in der Medizin 12 (2000) Nr. 4, S. 223–226). Schließlich hat das Beispiel den Vorzug, emotional, politisch und kulturell nicht so stark vorbelastet und durch Interessen und Vormeinungen verzerrt zu sein wie das Beispiel der Abtreibung, das – für den Fall, dass man menschlichen Embryonen bzw. Föten den Status von Menschenrechtssubjekten zuerkennt – exakt die gleiche normenlogische Grundstruktur aufweist. Auch hier bestünde, entgegen der bekannten Auffassung Judith Jarvis Thomsons (vgl. Thomson, Judith Jarvis: Eine Verteidigung der Abtreibung. In: Leist, Anton (Hg.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt am Main 1990, S. 101–137), genau deshalb kein Abwehrrecht der Schwangeren gegen die Freiheitseinschränkung, die die Existenz des Foetus in ihrem Körper zweifellos darstellt, weil diese Einschränkung sich zwar kausal aus der Existenz des Foetus ergibt, ihm aber nicht als Handlung zuschreibbar ist. Abwehrrechte gelten jedoch, wie anhand von Kants und Fichtes Rechtsphilosophien gezeigt, lediglich im Hinblick auf Handlungen, nicht im Hinblick auf naturkausale Ursache-Wirkungs-Verhältnisse. Thomsons gesamtes Argument beruht also letztlich darauf, den entscheidenden Unterschied zu ignorieren, den die Differenz zwischen Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit für das Recht und damit auch für den Begriff des Individualrechts ausmacht.
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meinheit und Gleichheit der Zuteilungsregeln verletzt. Entscheidend ist dabei nun, dass die im Sinn solcher Ansprüche verstandenen Rechte des einzelnen Subjekts nicht primär unbestimmte Anrechte auf diejenigen Güter – wie etwa Leben, Eigentum oder Meinungsfreiheit – sind, die von dem jeweiligen Recht geschützt werden. Vielmehr sind sie Ansprüche, die gegenüber jedem anderen Subjekt dahingehend bestehen, dass das andere Subjekt nicht durch eine in Freiheit verursachte Einwirkung auf den Rechtsträger in dessen legitime Freiheitssphäre eingreift. Dieser Anspruch auf die Unverfügbarkeit der eigenen legitimen Freiheitssphäre für andere ist der grundlegende normative Gehalt der Anerkennungsbeziehung. Die Anerkennungsbeziehung adressiert also jedes einzelne Subjekt als ein Wesen, das die Fähigkeit hat, aus freier Entscheidung auf andere Subjekte einzuwirken, das zugleich aber nicht das Recht hat, in einer Weise auf andere Subjekte einzuwirken, die dem Rechtsprinzip widersprechen würde. Wie nun leicht zu sehen ist, ist genau dies der normative Gehalt des Prinzips der Akteursrelativität, das ebenso jeden einzelnen Akteur in der zweiten Person als ein Subjekt adressiert, das die Unverfügbarkeit der Freiheitssphären aller anderen Subjekte kategorisch zu beachten hat. Die Anerkennungsrelation ist also der von Scheffler und anderen analytischen Philosophen eingeforderte rationale Grund der Akteursrelativität von Rechtspflichten. Denkt man also von der Anerkennungsrelation her, so wird unmittelbar deutlich, dass und warum es nicht möglich ist, Rechte, Pflichten und Rechtsansprüche miteinander quantitativ oder qualitativ zu verrechnen. Denn jegliche Verletzung einer Pflicht, die gegenüber einem anderen Subjekt besteht, bedeutet dann eine Negation des Anerkennungsverhältnisses selbst. Die Meta-Norm aller Normen überhaupt ist aber diese, das in der Gesamtheit der einzelnen Normen artikulierte Anerkennungsverhältnis nicht zu verletzen. Eine Normverletzung ist daher prinzipiell nicht dadurch rechtfertigbar, dass sie Mittel zum Zweck der Erfüllung einer durch die Normverletzung bedingten Erfüllung einer Norm ist. Eine solche Rechtfertigung würde nämlich einen Standpunkt jenseits der wechselseitigen Anerkennungsrelation voraussetzen, die den Raum der Normativität aber allererst konstituiert. Das lässt sich nicht zuletzt in Form einer „Gegenprobe“ zeigen: Würde man nämlich analog zum „Paradox der Deontologie“ behaupten, dass es doch besser wäre, eine von einem Akteur A qua Rechteverletzung vollzogene praktische Nichtanerkennung von B in Kauf zu nehmen, wenn dadurch mehrere Nichtanerkennungen anderer Subjekte durch andere Akteure verhindert werden könnten, so zeigt sich unmittelbar, dass eine solche Behauptung keinen Sinn ergibt. Denn mit der Verletzung des Anerkennungsprinzips würde der Normativität selbst ihre Grundlage entzogen; A würde sich gewissermaßen außerhalb des Raums der Normativität stellen, so dass dann überhaupt nicht mehr angebbar wäre, warum er eigentlich Anerkennungsverletzungen, die von anderen Akteuren vollzogen werden, sollte verhindern wollen. In dem Moment, in dem A es also überhaupt als normativ
II. Akteursrelativität als Wesensmerkmal unbedingter Pflichten
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unzulässig bewertet, dass andere Akteure die Anerkennungsbeziehung verletzen, hat er sich selbst darauf verpflichtet, die Anerkennungsrelation zu achten, die es ihm verbietet, die Rechte eines anderen Subjekts zu verletzen. Denkt man ein deontologisches Modell der Normativität mithin vom Anerkennungsprinzip her, so verschwindet das vermeintliche „Paradox der Deontologie“ sofort. Vielmehr gilt, dass nur eine Person, die gänzlich jenseits der Anerkennungsrelationen stünde, sich der fundamentalen Verpflichtung entziehen könnte, die sie gegenüber jeder anderen Person hat, diese als Subjekt von Rechten und Gegenüber von Pflichten anzuerkennen, und zwar durch die Beachtung dieser Rechte und Pflichten. Wer aber dergestalt außerhalb der Anerkennungsrelation stünde, demgegenüber bestünden selbst keine Pflichten mehr und der hätte keine Rechte, ja er wäre nicht einmal als Rechtssubjekt anerkennbar. Sein Standpunkt wäre der außerhalb des durch die Anerkennung erst konstituierten Raums des Normativen und damit ein Standpunkt, der für moralfähige Wesen unmöglich ist. Genau diesen Standpunkt beansprucht aber der Akt-Konsequentialismus. Zumindest der Akt-Konsequentialismus31 erweist sich damit als selbstwidersprüchlich und nichtig, insofern er nichts weniger als den Versuch darstellt, intersubjektive Normativität an einem logischen Ort zu situieren, der jenseits des Raums der intersubjektiven Normativität liegt, die durch die Anerkennung allererst konstituiert wird. Das alles bedeutet nun keineswegs, dass das Anerkennungsprinzip positive Pflichten und Anspruchsrechte ausschließen würde. Insofern der Gehalt des Anerkennungsprinzips eben die Anerkennung des Subjekt-Seins des anderen ist, wie es sich bereits in dessen äußerer Handlungsfreiheit zum Ausdruck bringt, verpflichtet die Anerkennungsbeziehung die Subjekte, die in ihr situiert sind, immer auch dazu, dem anderen beim Erwerb und der Ausübung derjenigen Güter zu helfen, die für seine Freiheitsausübung notwendig sind. Sie verpflichtet dazu aber unter der Bedingung, dass dies nur dann und nur in einer Weise erfolgen darf, die die grundlegenden Abwehrrechte Dritter nicht verletzt. Zwischen positiven und negativen Pflichten, Abwehr- und Anspruchsrechten besteht also eine klare Hierarchie, die nun auch aus dem Anerkennungsprinzip heraus theoretisch expliziert werden konnte. Jim darf also den einen Indio nicht ermorden, auch wenn er dadurch verhindern könnte, dass der Obrist zwanzig andere Indios ermordet. Wenn er allerdings auf eine andere Weise als durch die Verletzung der Rechte eines Unschuldigen den Massenmord verhindern könnte, etwa durch die Tötung des Obristen in Nothilfe, so wäre dies nicht allein zulässig, sondern sogar geboten.
Ein gut ausgearbeiteter, anerkennungstheoretischer reflektierter Regel-Konsequentialismus dürfte demgegenüber durchaus in der Lage sein, den Selbstwiderspruch zu vermeiden. 31
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
III. Akteursrelative Normativität und der Staat Nachdem die Akteursrelativität, die jedes deontologische Modell des Normativen kennzeichnet, nun auf das Anerkennungsprinzip als seinen eigentlichen Grund zurückgeführt wurde, taucht ein Problem auf, das bislang noch hinter der Rede von „unbedingten Pflichten und unantastbaren Rechten“ verborgen geblieben war. Tatsächlich bewegt sich nämlich die Diskussion um die Akteursrelativität, wie sie vor allem im angelsächsischen Sprachraum geführt wurde, primär auf der individualethischen Ebene. Und diese Festlegung auf die individualethische Ebene scheint sogar unvermeidlich zu sein, geht es doch bei der Akteursrelativität gerade darum, dass der Einzelne in der zweiten Person, als Adressat einer Pflicht, angesprochen wird. Spätestens dann aber, wenn nicht mehr nur von unbedingten Pflichten die Rede ist, sondern ebenso sehr von „unantastbaren Rechten“, kommt eine Dimension ins Spiel, die die individualethische überschreitet, die von den einschlägigen englischsprachigen Diskussionsteilnehmern bislang aber weitgehend ignoriert wurde: die Dimension des Staates, des Rechts und des Gesetzgebers. Was bedeutet, so muss der Verfechter des Prinzips der Akteursrelativität sich fragen lassen, dieses Prinzip für das Handeln des Staates und vor allem für jene besondere Art von handlungsregelndem Meta-Handeln, das Gesetzgebung heißt? Selbst wenn man nämlich dem Verfechter der Akteursrelativität zugesteht, dass individuelles Handeln akteursrelativ normiert ist, ist damit noch lange nicht klar, ob auch Staat und Gesetzgeber in irgendeiner noch näher zu bestimmenden Weise auf das Prinzip der Akteursrelativität verpflichtet sind. Ist der Staat, so könnte man einwenden, nicht der akteursneutrale Akteur par excellence? Muss er nicht, in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber, gerade jene Neutralität einnehmen, die dem individuellen Akteur aus guten Gründen versagt bleiben muss? Und wenn dem so wäre, müsste das dann nicht bedeuten, dass das Prinzip der Akteursrelativität dann, wenn es nicht mehr nur um individuelle moralische Pflichten gegen andere, sondern um Rechte geht, bereits wieder seine Relevanz verliert? Angesichts der spezifischen Rolle des Akteurs „Staat“ scheint eine Übertragung der deontologischen Normativitätslogik auf das Recht, insbesondere das Strafrecht, mithin ausgesprochen erläuterungs- und begründungsbedürftig. Eine bestimmte Pflicht, z. B. diejenige, keinen Unschuldigen zu töten, mögen zwar alle denkbaren Akteure haben. Es ist aber nicht klar, ob und wenn ja warum der Staat bzw. der Gesetzgeber darauf verpflichtet sein sollte, das Strafrecht akteursrelativ zu normieren. Alternativ könnte man sich auch vorstellen, dass der Staat in seinem gesetzgeberischen Handeln auf eine akteursneutrale Weise ethisch gebunden wäre. Ein solcher „akteursneutraler Gesetzgeber“ wäre dazu verpflichtet, das Strafrecht so auszugestalten, dass die Zahl der Tötungen Unschuldiger insgesamt minimiert wird, nicht aber dazu, jedem Einzelnen ein Zuwiderhandeln gegen bestimmte Pflichten zu verbieten.
III. Akteursrelative Normativität und der Staat
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Auf den ersten Blick mag diese Differenzierung als in praktischer Hinsicht irrelevant erscheinen. Denn immerhin könnte man argumentieren, dass der beste Weg, die Zahl rechtsverletzender Handlungen insgesamt zu minimieren darin bestünde, sie jedem Einzelnen zu verbieten. In praktischer Hinsicht wäre der Unterschied zwischen akteursrelativer und akteursneutraler Normierung dann für die Meta-Ebene rechtssetzenden Handelns irrelevant. Dass dem freilich nicht so ist, zeigt sich anhand des Umstands, dass aus der Perspektive eines hypothetischen „akteursneutralen“ Gesetzgebers nichts dagegen spräche, die Ermordung eines Unschuldigen durch einen Akteur A genau dann zu gestatten, wenn aufgrund der spezifischen Umstände durch diesen einen Mord verhindert werden kann, dass andere Akteure eine insgesamt größere Zahl von Morden begehen. Ja, mehr noch, ein „akteursneutraler“ Staat wäre geradezu verpflichtet, das Strafrecht so auszugestalten, dass es Akteur A in diesem Fall das Begehen eines Mordes gestattet. Tatsächlich ist das Strafrecht in Rechtsstaaten aber in der Regel nicht so strukturiert. Vielmehr normiert es offenbar „akteursrelativ“, indem es jedem Einzelnen die Verletzung der Rechte anderer untersagt, und zwar auch dann, wenn dadurch die Zahl der begangenen Rechtsverletzungen insgesamt minimiert werden könnte. Diese in nahezu allen Rechtsstaaten feststellbare akteursrelative Tiefenstruktur des Strafrechts scheint nun allerdings auf den ersten Blick mit dem Umstand in Konflikt zu stehen, dass der Staat in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber insofern einen „akteursneutralen“ Akteur darstellt, als er auf die Rechte aller in ihm lebenden Rechtssubjekte verpflichtet ist. Analog zum akteursneutralen Konsequentialismus auf der individualethischen Ebene hätte ein „akteursneutral“ normierender Staat, anders als es in Rechtsstaaten üblicherweise der Fall ist, die Verletzung selbst fundamentalster Rechte unter bestimmten Umständen zuzulassen, wenn dadurch die Zahl der Verletzungen dieser Rechte insgesamt verringert werden könnte. Ein derartiges Vorgehen des Staates qua Gesetzgeber dürfte nun vermutlich den meisten Menschen als unzulässig, wenn nicht geradezu moralisch abstoßend, vor allem aber als unvereinbar mit dem Gedanken des Rechts selbst erscheinen. Auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht würde eine derartige Gesetzgebung sicherlich kaum Bestand haben können. Das bedeutet freilich nicht, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht nicht selbst schon die Logik des im vorigen Absatz skizzierten Gedankenexperiments affirmiert hätte. Wie dem Kenner der einschlägigen verfassungsrechtlichen Debatten sofort aufgefallen sein wird, ist dieses Gedankenexperiment der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch nachgebildet. Dort wird unter anderem argumentiert, dass der Staat die Abtreibung unter bestimmten Bedingungen qua Straffreistellung de facto erlauben dürfe, wenn ihm dies als geeignetes Mittel erscheine, die Zahl der Abtreibungen insgesamt zu verringern.32 Dem Vgl. Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung 39, 1 vom 25.02.1975, Abs. 153–160.
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Schutz des Lebensrechts sei damit bereits Genüge getan. Es gehört mittlerweile schon fast zu den Standardeinwänden von Kritikern der Schwangerschaftsabbruchsurteile wie Reinhard Merkel oder Norbert Hoerster, die Pseudologik dieses Gedankengangs probehalber auf ein beliebiges anderes Delikt wie Ladendiebstahl33 oder Vergewaltigung34 zu übertragen, um seine mit dem Menschenrechtsgedanken unvereinbare Absurdität aufzuzeigen. Die Frage, die sowohl Merkel wie Hoerster aufwerfen, ist die, ob eine Regelung, bei der die strafrechtliche Sanktion der betreffenden Rechtsverletzung ersetzt wird durch eine Pflichtberatung z. B. für die potentiellen Vergewaltiger, die dafür, dass sie sich auf die Beratung einlassen, einen Schein ausgestellt bekommen, der sie zur Begehung einer straffreien Vergewaltigung an einem beliebigen Opfer berechtigt, vereinbar damit wäre, die potentiellen Vergewaltigungsopfer noch als Träger eines Rechts anzuerkennen, nicht vergewaltigt zu werden. Die klare Antwort darauf ist natürlich: Nein. Durch die Aufhebung der Strafandrohung und des Strafvollzugs in Form des Beratungsscheins wird das Recht des Opfers, nicht vergewaltigt zu werden, de facto negiert, auch dann wenn es vom obersten Gericht des Landes rein rhetorisch aufrechthalten wird35 . Geschieht dies nun, um die Zahl der Vergewaltigungen, Ladendiebstähle etc. insgesamt zu senken, so werden die Opfer dieser Verbrechen mithin einem utilitaristischen Kalkül unterworfen, das mit ihrer Anerkennung als Rechtssubjekte strikt unvereinbar ist. Das Ziel von Merkel und Hoerster ist dabei freilich nicht, gegen den Schwangerschaftsabbruch zu argumentieren, sondern klarzumachen, dass die „Argumentation“ des Bundesverfassungsgerichts ethisch und rechtsphilosophisch nicht mit der Annahme vereinbar sei, dass es sich bei menschlichen Embryonen um Träger von Menschenwürde und Menschenrechten handelt. In der Tat ist dieser Feststellung Hoersters und Merkels ganz unabhängig davon, wie man selbst die Frage nach dem Status menschlicher Embryonen beantwortet, in jeder Hinsicht zuzustimmen: Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts stellt ein utilitaristisches Kalkül im schlechtesten Sinn des Wortes dar, dem kein Wesen, das als Träger von Menschenrechten und Menschenwürde anerkannt ist, jemals unterworfen werden dürfte. Weder bei Merkel noch bei Hoerster findet sich allerdings eine Reflexion darüber, was der tiefere Grund für die ausgesprochene Kontraintuitivität einer solchen Konstruktion ist, da beide zu sehr auf ihr kon-
33 So bei Merkel, Reinhard: Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. Hamburg 2002, S. 104–106. 34 So bei Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes. Stuttgart 2002, S. 60–63. 35 Hoerster charakterisiert diese Konstellation der höchstrichterlichen rhetorischen Affirmation eines Grundsatzes, den man mit dem Segen des besagten Gerichts zugleich de facto aufgibt, nicht zu Unrecht als „Verfassungslyrik“ (Hoerster, Norbert: Das „Recht auf Leben“ der menschlichen Leibesfrucht. Rechtswirklichkeit oder Verfassungslyrik? In: Juristische Schulung 1995, S. 192–197).
III. Akteursrelative Normativität und der Staat
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kretes Anliegen fixiert sind, die Widersprüchlichkeit der Abtreibungsurteile des Bundesverfassungsgerichts aufzuzeigen. Tatsächlich lässt sich dieser Grund erst verstehen, wenn man das Verhältnis von vorrechtlichen Pflichten und Recht zueinander näher betrachtet. Zwar binden akteursrelative Pflichten zunächst als Pflichten nur Individuen. Wie wir aber im Zuge der Rekonstruktion von Fichtes rechtlicher Anerkennungstheorie gesehen haben, impliziert die Anerkennung der fremden Subjektivität als Subjektivität einmal die Rücknahme der eigenen Freiheitsbetätigung zugunsten der Ermöglichung der Freiheit aller Subjekte. Mit der reflexiven Einsicht in die Notwendigkeit einer gleichen Zuteilung von Freiheitssphären nach allgemeinen Regeln resultiert aus der Pflicht zur Rücknahme der eigenen unbegrenzten Freiheitsbetätigung bereits das, was man „Rechte“ nennt, d. h. Ansprüche auf die Nichtverletzung der jeweils legitimen Freiheitssphären des Einzelnen, die gegenüber allen anderen geltend gemacht werden können. Der Staat bildet vor diesem Hintergrund dann diejenige Instanz, die die Nichtverletzung der Rechte jedes Einzelnen durch die anderen Akteure, einschließlich des Staates selbst, in Form des Rechts gewährleistet. In der Form von Staat und Recht konstituiert sich damit die Gemeinschaft sich wechselseitig anerkennender Personen selbst als eine Instanz, die sich dazu verpflichtet, die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft als Subjekte und damit als Träger von Rechten anzuerkennen. Der Staat ist insofern überhaupt nichts anderes als die sich – in der Form des Rechtsstaats – als Anerkennungsgemeinschaft konstituierende Gemeinschaft freier Subjekte. Sich als Anerkennungsgemeinschaft zu konstituieren bedeutet aber genau, sich als eine Gemeinschaft zu konstituieren, in der kein einziges Mitglied legitimiert werden kann, die subjektiven Rechte eines anderen Mitglieds zu verletzen. Der Begriff des „subjektiven Rechts“ ist mithin das Ergebnis einer von vorneherein unhintergehbar akteursrelativen Reflexion und bleibt so auch immer an das Prinzip der Akteursrelativität gebunden. Würde es der Staat es nun in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber – in Form des Verzichts auf Strafandrohung und Strafvollzug – erlauben, dass ein Akteur A ein Recht r1 eines Rechtssubjekts P verletzt, um zu verhindern, dass die gleichartigen Rechte r2, r3 und r4 der Rechtssubjekte Q, R und S durch ein anderes Rechtssubjekt B verletzt werden, so würde damit der Status von P als Mitglied einer Gemeinschaft sich wechselseitig als Rechtssubjekte anerkennender freier Vernunftwesen insgesamt aufgehoben: P würde dann seitens der Rechtsgemeinschaft nicht mehr als ein Träger von Rechten behandelt. Ein Wesen nicht als Träger von Rechten zu behandeln, bedeutet aber, es nicht als Subjekt anzuerkennen. Damit wäre P gegenüber das Anerkennungsprinzip selbst außer Kraft gesetzt, was in einem Rechtsstaat aber insofern denkunmöglich ist, als es die unhintergehbare Grundlage des Staates als einer Rechtsgemeinschaft überhaupt bildet. Anders gesagt: würde die Anerkennungsgemeinschaft in ihrer Eigenschaft als Gesetzgeber ein Gesetz erlassen, das es einigen Individuen erlauben
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
würde, die Rechte anderer Individuen unter bestimmten Umständen zu verletzen, so würde der Gesetzgeber ein „Recht auf Rechtsverletzung“ setzen. Ein „Recht auf Rechtsverletzung“ ist aber in sich widersprüchlich und hebt sich so selbst auf. Dementsprechend ist der Staat in seiner Rolle als Gesetzgeber des Strafrechts zunächst nur darauf verpflichtet, jedes einzelne Rechtssubjekt vor Übergriffen anderer Rechtssubjekte auf dessen Rechtssphäre zu schützen bzw. verletzte Anerkennungsverhältnisse durch den Vollzug einer Strafe zu restituieren. Dieser Schutz bzw. diese Restituierung qua Strafe vollzieht sich im Fall der Rechtssubjekte Q, R und S, die von einem Übergriff durch B bedroht sind, dadurch, dass B dieser potentielle Übergriff vom Gesetzgeber strafbewehrt untersagt wird, ebenso wie A vom Gesetzgeber der Übergriff auf die Rechtssphäre von P strafbewehrt untersagt wird. Das rechtsfundierende Prinzip der wechselseitigen Anerkennung freier Subjekte fordert mithin nicht nur vom Einzelnen, sich an der Akteursrelativität zu orientieren, sondern auch vom Gesetzgeber des Strafrechts, dieses akteursrelativ-deontologisch auszugestalten. Indem der Gesetzgeber es in dieser Weise jedem Subjekt strafbewehrt untersagt, die legitimen Rechtssphären aller anderen Rechtssubjekte zu beeinträchtigen, hat er denn auch die Pflichten, die ihm – in der hier relevanten strafrechtlichen Hinsicht – als Instanz der durch die wechselseitige Anerkennung der freien Subjekte konstituierten rechtlichen Anerkennungsgemeinschaft aufgegeben sind, bereits vollständig erfüllt. Für eine eventuell von B, in Verletzung des strafrechtlichen Verbots, begangene Rechtsverletzung ist dann alleine B verantwortlich, nicht aber der Gesetzgeber. Der primäre Sinn von Recht und Staatlichkeit ist darum auch überhaupt nicht die Minimierung der Zahl der Rechtsverletzungen, wie man missverständlicherweise annehmen könnte, sondern die Gewährleistung der Rechte jedes Einzelnen gegenüber allen anderen. Diese Gewährleistung ist aber dann und nur dann gegeben, wenn eine Verletzung eines Rechts mit einer Strafandrohung verknüpft wird und wenn immer dann, wenn ein Recht verletzt wurde, die Wechselseitigkeit und Symmetrie des Anerkennungsverhältnisses durch den faktischen Vollzug der angedrohten Strafe restituiert wird. Das bedeutet wiederum nichts weniger, als dass der Staat als Gesetzgeber aufgrund des Menschenwürdegrundsatzes darauf verpflichtet ist, das Recht seiner Tiefenstruktur nach akteursrelativ-deontologisch auszugestalten. Das Recht muss es darum, um wieder das Beispiel der vorsätzlichen Tötung zu wählen, jedem Einzelnen strafbewehrt untersagen, irgendeinen anderen zu töten, und das auch dann, wenn durch diese eine Tötung die Zahl der insgesamt sich ereignenden Verletzungen des Lebensrechts verringert würde. Sie im letzteren Fall zu erlauben würde dem Anerkennungsprinzip fundamental widersprechen und damit, sofern es dieses Prinzip ist, das den rechtlichen Menschenwürdebegriff ausmacht, auch der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes.
III. Akteursrelative Normativität und der Staat
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Ruft man sich vor diesem Hintergrund die weiter oben skizzierte utilitaristische Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs in Erinnerung, so zeigt dies nicht zuletzt, welche fatalen Auswirkungen für ein angemessenes Verständnis des Menschenwürdebegriffs das Lavieren des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage hat. Indem es einerseits ungeborenen menschlichen Lebewesen den Status von Menschenwürdeträgern zuspricht, es andererseits aber auch für zulässig erklärt, sie einem dem Menschenwürdeprinzip fundamental widersprechenden utilitaristischen Nutzenmaximierungskalkül zu unterwerfen, behauptet das Bundesverfassungsgericht nämlich implizit, dass die Menschenwürdegarantie damit vereinbar sei, die Träger der Menschenwürde solchen utilitaristischen Kalkülen zu unterwerfen. Die teilweise haarsträubenden Widersprüchlichkeiten in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch erweisen sich so als ein schleichendes Gift, das die fundamentalsten Prinzipien des Rechts überhaupt langsam, aber dafür umso sicherer zersetzt. Demgegenüber ist festzuhalten, dass der Staat sich mit der Menschenwürdegarantie auf die Anerkennung als sein eigenes Konstitutionsprinzip verpflichtet. Damit verpflichtet er sich aber auch darauf, das System der subjektiven Rechte akteursrelativ-deontologisch auszugestalten. Zu den wenigen Verfassungsrechtlern im deutschsprachigen Raum, die diesen Punkt hinreichend klar sehen, gehört Thomas Gutmann, der ebenso, wie es hier entwickelt wurde, die wesentliche Rolle der Menschenwürde innerhalb des Rechtssystems in der „Sicherung eines nichtkonsequentialistischen Verständnisses von Grundrechten“36 sieht. Gutmann charakterisiert diese Position folgendermaßen: „Deontologisch verstandene Rechte beharren auf der ‚Getrenntheit der Personen‘ und dem Respekt vor ihrem der Verrechenbarkeit entzogenen Eigenwert und fungieren so als Schranken für die kollektive Gütermaximierung, wenn diese droht, über die berechtigten Ansprüche Einzelner hinwegzugehen. Jedenfalls im Anwendungsbereich des Wür desatzes ist die Rationalität der Rechte eine strikt nichtkonsequentialistische. An der Struktur des Menschenwürdeschutzes entscheidet sich deshalb, ob die Rechtsordnung und die von der Verfassung garantierten subjektiven Rechte des Einzelnen auch künftig in einem deontologischen Sinn verstanden werden können oder sie sich bereits auf konzeptioneller Ebene konsequentialistischen, d. h. folgenorientierten Erwägungen und damit zugleich ihrer Assimilation an Güter öffnen und beugen müssen.“37
Das bedeutet dann zwar nicht, dass der Gesetzgeber gar keine konsequentialistischen Erwägungen in den Gesetzgebungsprozess mit einfließen lassen dürfte. 36 Gutmann, Thomas: Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff. Preprint der Kolleg-Forschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ Nr. 7, S. 8. Im Internet unter: http://www.uni-muenster.de/ KFG-Normenbegruendung/publikationen/preprints.html (zuletzt abgerufen am 19. Februar 2013). 37 Gutmann a.a.O. S. 8 f.
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Er darf dies aber nur dann, wenn, und nur, insofern als er dabei die fundamentalen Rechte der einzelnen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft nicht außer Kraft setzt. Wo das nicht der Fall ist, ist der Gesetzgeber dann aber auch verpflichtet, unter den möglichen rechtlichen Regelungen diejenige zu wählen, die die Zahl der Rechte-Verletzungen insgesamt minimiert.38 Das konsequentialistisch-akteursneutrale Modell von Normativität verliert dementsprechend auch nicht seine Relevanz für die Gesetzgebung, es tritt aber in die zweite Reihe hinter das deontologisch-akteursrelative Modell zurück und kann nur in sekundärer Hinsicht Beachtung beanspruchen.
IV. Antastbare und unantastbare Rechte Mit dem bisherigen Entwurf einer Theorie unbedingter Pflichten und unantastbarer Rechte ist es gelungen, auf der Grundlage des Anerkennungsprinzips die Gegebenheit solcher Rechte und Pflichten aufzuweisen. Dementsprechend konnte nun auch die zweite Rolle, die der Menschenwürdebegriff in zeitgenössischen Rechtstexten und Rechtsdogmatiken hat, theoretisch eingeholt werden. Wie sich zeigt, lässt sich also sowohl die Funktion des Menschenwürdebegriffs, Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte zu sein, als auch die Funktion, absolut geltende Verbote zu begründen, aus dem Anerkennungsprinzip ohne weiteres entwickeln. Dass der rechtliche Menschenwürdebegriff plausiblerweise nur als das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung von Personen als Rechtssubjekten rekonstruierbar ist, ist bislang einmal systematisch gezeigt worden, indem der innere Zusammenhang zwischen Menschenwürdebegriff und Rechtsidee bei Kant aufgewiesen wurde. Zum zweiten ist diese These auch historisch-genetisch bestätigt worden, indem die Transformation des Begriffs der wechselseitigen Achtung von autonomen Subjekten als „Zwecken an sich“ in den Fichte’schen Begriff der Anerkennung nachgezeichnet wurde. Zum dritten ist die Rekonstruktion des rechtlichen Menschenwürdebegriffs als Anerkennungsprinzip nun aber auch insofern noch einmal systematisch bestätigt worden, als nachgewiesen werden konnte, dass genau die beiden Funktionen, die der rechtliche Menschenwürdebegriff in unseren modernen Rechtsordnungen aufweist, sich zwanglos und in einer plausiblen Verknüpfung aus dem Anerkennungsgedanken, und nur aus diesem, herleiten lassen. Dementsprechend kann auch die Verfassungsrechtsdogmatik, ja der gesamte juristische Diskurs zur Menschenwürde an den hier gewonnenen Erkenntnissen nicht einfach mit 38 Das heißt nicht, dass jederzeit klar wäre, welche der möglichen Regelungen das dann wäre, und zwar eben weil diese Frage letztlich nur empirisch zu beantworten ist. Gerade dieser Bereich ist daher auch das legitime Feld politischen Streits über bessere und schlechtere Gesetzgebungsoptionen.
IV. Antastbare und unantastbare Rechte
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dem Hinweis vorbeigehen, ihr Verständnis von Menschenwürde sei ein anderes, nichtphilosophisches Verständnis, das mit den Rechtsphilosophien Kants oder Fichtes nichts zu tun habe. Oder jedenfalls könnte sie das nur, wenn sie eine andere rechtsphilosophische Theorie vorlegen würde, die mit ebenso großer Erklärungskraft die beiden Funktionen des rechtlichen Menschenwürdebegriffs widerspruchsfrei theoretisch einholen könnte. Eine solche Theorie ist aber gegenwärtig nicht in Sicht. Allerdings, so wird man zugestehen müssen, entspricht diejenige Theorie unbedingt geltender Normen, die aus dem Anerkennungsprinzip entwickelt wurde, nicht der derzeit in Deutschland vorherrschenden Verfassungsrechtsdogmatik, die nach wie vor davon ausgeht, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes um ein spezifisches Recht mit eigenen Verletzungstatbeständen neben oder über den Grund- bzw. Menschenrechten handelt. Entgegen dieser Dogmatik wurde hier bislang eine an Kant orientierte Auffassung nachgezeichnet, nach der der Grundsatz der Menschenwürde qua Anerkennungsprinzip die Unverletzlichkeit aller Grund- bzw. Menschenrechte garantiert. Eine solche Auffassung scheint freilich nicht alleine der spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürdegarantie und einer insgesamt auf der Abwägung von Rechten gegründeten Verfassungsrechtsdogmatik zu widersprechen, sondern auch weithin geteilten moralischen Intuitionen. Scheint es wirklich plausibel, so wird man fragen können, eine Verletzung des Eigentumsrechts unbedingt auszuschließen, auch in Fällen, in denen durch diese Verletzung ein Menschenleben gerettet werden könnte? Scheint es auch dann noch plausibel, dem Forscher Jim zur Rettung des Lebens der zwanzig Indios einen Eingriff in die Freiheitssphäre des einen Indios zu untersagen, wenn dieser Eingriff nicht in der Tötung, sondern etwa in einer minimalen Verletzung von dessen Recht auf körperliche Unversehrtheit, z. B. in Form einer Ohrfeige, bestünde? Und wie steht es schließlich mit allgemein anerkannten „Ausnahmen“ von unbedingt geltenden Unterlassenspflichten wie Notwehr, Notwehrhilfe und Strafe? Während die letzte Frage vergleichsweise unproblematisch ist und ganz im Rahmen der kantischen Rechtslehre beantwortet werden kann, stellen die erstgenannten Fragen eine durchaus größere Herausforderung dar. Zwar ließe sich den beiden ersten Nachfragen von einer streng kantianischen Warte aus mit dem Hinweis begegnen, jede Einschränkung von Rechten sei, ebenso wie jede Verletzung einer Pflicht gegenüber einer anderen Person, mit Menschenwürdebegriff und Rechtsprinzip grundsätzlich unvereinbar; die moralischen Intuitionen, die anderes insinuierten, seien dementsprechend falsch und könnten rational nicht bestehen. Allerdings scheint eine solche Antwort, die zweifellos den bekannten Vorwurf des „kantischen Rigorismus“ nach sich ziehen dürfte, schon im Rahmen der Rechtsphilosophie Kants nicht ganz unproblematisch. So unterscheidet bekanntlich bereits die kantische Rechtslehre zwischen dem „inneren Mein und Dein“, das sich nicht zuletzt auf das Recht auf
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Leben und körperliche Unversehrtheit bezieht, und dem „äußeren Mein und Dein“, das sich auf das Eigentumsrecht bezieht, in einer Weise, die einen deutlichen kategorialen Unterschied zwischen beidem erkennen lässt.39 Geht man davon aus, so wird man kaum zweifeln können, dass die Frage nach einer möglichen Einschränkung von Rechten wie dem Eigentumsrecht zugunsten des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht einfach nur von außen an die rechtsphilosophischen Entwürfe Kants und erst recht Fichtes herangetragen wird. Wer diese Frage vor dem Hintergrund der hier entwickelten Theorie unantastbarer Rechte und unbedingter Pflichten angeht, scheint allerdings in eine Aporie zu geraten. Denn wie weiter oben gezeigt wurde, lassen sich akteursrelative Unterlassenspflichten offenbar nur mit dem Gedanken der Unantastbarkeit von legitimen Freiheitssphären rational begründen. Gibt man diesen Gedanken auf, und sei es nur im Hinblick auf eine minimale Körperverletzung wie eine Ohrfeige, so scheint das nur um den Preis möglich zu sein, damit zugleich das gesamte Prinzip der Akteursrelativität, und damit das deontologische Ethikmodell überhaupt, wieder über Bord zu werfen. Dann wäre aber auch nicht mehr plausibel zu machen, warum Jim nicht statt einer Ohrfeige auch einen Mord sollte begehen dürfen, wenn er auf diese Weise zwanzig Morde verhindern könnte. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, gibt es gleichwohl einen Ausweg aus diesem Dilemma, der mit dem Anerkennungsprinzip vereinbar ist und sich aus ihm entwickeln lässt; im Beschreiten dieses Wegs werden wir allerdings über Kant und Fichte hinausgehen müssen. Zunächst soll aber das einfachere Problem der Notwehr bzw. Notwehrhilfe angegangen werden.
1. Notwehr und Nothilfe Wie bereits im 2. Kapitel gesehen40 , bildet die Rechtsfigur der Notwehr bzw. der Notwehrhilfe innerhalb der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik das zentrale Argument für die spezifisch-rechtliche These. Jedes der auf Art. 1 GG folgenden Grundrechte, selbst das fundamentale Recht auf Leben, so dieses Argument, sei zumindest in Fällen der Notwehr bzw. Notwehrhilfe aufgehoben. Die Menschenwürde sei dagegen als „unantastbar“ ausgezeichnet, so dass sie auch in der Ausübung von Notwehr nicht „verletzt“ werden dürfe.41 Das aber bedeu39 Vgl. dazu Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 237. 40 Vgl. S. 48 ff., S. 78 ff. und S. 83 f. der vorliegenden Untersuchung. 41 Dieses Argument spielte in der Debatte um die sogenannte „Rettungsfolter“ eine entscheidende Rolle. Obgleich nämlich unbestreitbar war, dass die Folterdrohung Wolfgang Daschners gegen den Kindesentführer Markus Gäfgen alle Kriterien der Notwehrhilfe erfüllte (vgl. Erb, Volker: Notwehr als Menschenrecht. Zugleich eine Kritik der Entscheidung des LG Frankfurt am Main im „Fall Daschner“. In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005, S. 593–602), entschied das Landgericht Frankfurt mit der Begründung gegen Daschner, die Unantastbar-
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te, dass zwischen der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG und den weiteren Menschenrechten ein fundamentaler Unterschied bestehe. Während die Letzteren prinzipiell „antastbar“ seien, müsse Art. 1 GG offensichtlich ein absolut unabwägbares und uneinschränkbares spezielles Recht mit eigenen Verletzungstatbeständen bezeichnen, die nicht in den Verletzungstatbeständen der Grund- bzw. Menschenrechte aufgingen. Dass dieses Argument zirkulär ist, wenn es als Argument für die spezifisch-rechtliche These herhalten soll, wurde bereits im 2. Kapitel gezeigt. Tatsächlich wird der spezifisch-rechtliche Charakter der Menschenwürdegarantie in ihm bereits vorausgesetzt. Denn selbst wenn man davon ausginge, dass alle Menschenrechte, die das Grundgesetz ab Art. 2 nennt, prinzipiell „antastbar“ wären, würde dies noch nicht den Umkehrschluss erlauben, dass es sich bei Art. 1 GG um ein spezifisches Menschenrecht mit eigenem normativem Gehalt und eigenen Verletzungstatbeständen neben oder „über“ diesen Menschenrechten handelt. Vielmehr wäre jene Auffassung auch ohne weiteres mit der prinzipialistischen Lesart des rechtlichen Menschenwürdebegriffs vereinbar. Die Menschenwürde gemäß Art. 1 GG wäre dann eben nichts anderes als Prinzip und Geltungsgrund eines Ensembles abwägbarer und einschränkbarer Grundrechte. In der hier vorliegenden Untersuchung wird aber, soweit wir sie bislang entwickelt haben, eine andere Auffassung des prinzipialistischen Charakters des rechtlichen Menschenwürdebegriffs vertreten. Menschenwürde ist danach zum einen Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte. Zugleich und aus demselben Grund, aus dem sie Prinzip der Menschenrechte ist, ist die Menschenwürde aber auch der Grund und das Kriterium der Unantastbarkeit zumindest einiger sehr fundamentaler Menschenrechte, unter denen an erster Stelle das Recht auf Leben zu nennen wäre. Vertritt man diese These, so muss gezeigt werden, dass die Zulässigkeit von Handlungen in Notwehr bzw. Notwehrhilfe, auch dann wenn der rechtswidrige Angreifer im Zuge einer solchen Handlung beispielsweise getötet oder schwer verletzt wird, kein Argument gegen die Charakterisierung der involvierten Rechte als unantastbar darstellt. Dieser Nachweis ist allerdings leicht zu führen; als Ursache der gegenteiligen Annahme wird sich ein vor allem unter Juristen verbreitetes Missverständnis der Natur des Notwehrrechts erweisen. Sucht man die rechtsphilosophische Grundlage des Notwehrrechts auf, so wird man auf die Theorie der für alles Recht konstitutiven „Befugnis zu zwingen“ verwiesen, wie sie Kant in der keit des vermeintlichen „Menschenwürdegrundrechts“ stehe über dem Recht auf Notwehr bzw. Nothilfe. Das setzt allerdings voraus, dass Notwehr- oder Nothilfehandlungen überhaupt Menschenwürdeverletzungen darstellen können. Genau diese Voraussetzung ist aber, wie hier gezeigt wurde, falsch. Notwehr- bzw. Nothilfehandlungen können vielmehr, da sie sich aus der rechtlichen Zwangsbefugnis ergeben, prinzipiell keine Verletzungen der aus der Menschenwürdegarantie folgenden Rechtsnormen sein. Die Begründung des LG Frankfurt, die sich so auch in einer Vielzahl von philosophischen und rechtswissenschaftlichen Beiträgen zum besagten Fall findet, ist damit widerlegt.
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Rechtslehre in unübertroffener Klarheit formuliert hat. Kant führt dort aus, dass die Befugnis, die Einhaltung von Rechten gewaltsam zu erzwingen, sich bei Zugrundelegung der Rechtsidee notwendig aus dem Satz vom Widerspruch und mithin analytisch ergibt: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d. i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“42
Kant bezieht diese Ausführungen zwar nicht ausdrücklich auf das Notwehrrecht, ebenso wenig, wie er sie explizit auf das Strafrecht bezieht. Dass Notwehr bzw. Nothilfe aber eine Form der Ausübung von Zwangsgewalt zur Erzwingung der Einhaltung von Rechtspflichten sind, ist eigentlich unbezweifelbar.43 Notwehr- und Nothilfehandlungen liegen damit in rechtsphilosophischer Hinsicht auf einer Handlungsebene zweiter Stufe, insofern es sich nämlich um legitime Handlungen handelt, die auf illegitime Handlungen der ersten Stufe antworten. Welche Handlungen erster Stufe verboten, erlaubt oder geboten sind, ergibt sich aus der Rechtsidee und damit in letzter Instanz aus dem Menschenwürde- und Autonomieprinzip, sofern die Rechtsidee ja zum Ausdruck bringt, was dieses Prinzip für den Bereich des Rechts bedeutet. Hinsichtlich der Legitimität der auf Handlungen erster Stufe bezogenen Handlungen zweiter Stufe ergibt sich daraus aber wiederum analytisch, dass jede Handlung legitim und sogar geboten ist, die erforderlich ist, um die Einhaltung einer Rechtspflicht gegen einen willentlichen Versuch ihrer Verletzung zu erzwingen. Dabei ist es auch gleichgültig, mit welchem Mittel diese Einhaltung erzwungen wird, da sich die Legitimität jeder rechtserzwingenden Handlung ja analytisch und nicht etwa synthetisch aus dem Begriff der Rechtspflicht selbst ergibt. Der Rechtswidrigkeit der Handlung erster Stufe entspricht aufgrund dieses analytischen Zusammenhangs die unhintergehbare Rechtmäßigkeit jeder gegen den rechtswidrigen Angreifer unternommenen Handlung zweiter Stufe, die auf eine Verhinderung oder Beendigung seiner rechtswidrigen Handlung erster Stufe abzielt. Welchen großen Stellenwert Kant selbst diesem Zusammenhang eingeräumt hat, lässt sich an einer Äußerung ersehen, die er vermutlich anlässlich von Bestrebungen der preußischen Regierung getan hat, das Notwehrrecht nach Ver Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 231. So auch Hruschka, Joachim: Die Notwehr im Zusammenhang von Kants Rechtslehre. In: Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft Vol. 115 (2003), S. 201–232. 42 43
IV. Antastbare und unantastbare Rechte
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hältnismäßigkeitsgesichtspunkten einzuschränken. Kant bemerkt dazu unmissverständlich: „Obrigkeiten, welche die Selbstverteidigung mit großer Beschädigung des andern verbieten, müssen wissen, daß sie dem Menschen sein heiligstes Recht nehmen.“44 Die Formulierung „heiligstes Recht“ mag auf den ersten Blick pathetisch oder übertrieben klingen: vor dem skizzierten Hintergrund der Rechtslehre ist das aber keineswegs der Fall. Da nämlich die Zwangsbefugnis zur Verhinderung oder Beendigung der Verletzung von Rechten in normativer Hinsicht mit der Existenz dieser Rechte selbst auf der logisch-analytischen Ebene strikt identisch ist, bedeutet eine Aufhebung oder nur die kleinste Einschränkung der ihnen korrespondierenden Zwangsbefugnisse nichts weniger als die Aufhebung der Rechte selbst und mithin die Aufhebung von Recht und Rechtsstaatlichkeit überhaupt. Die Unterscheidung zwischen Handlungen erster und zweiter Stufe und damit zwischen Rechtsverletzungen und Antworten auf Rechtsverletzungen ist dementsprechend für jedes Rechtssystem, so auch für das deutsche, konstitutiv. Daraus ergibt sich nun bereits die Antwort auf die Frage danach, ob eine Handlung in Notwehr oder Nothilfe mit der Unantastbarkeit gewisser Rechte vereinbar ist. Eine Notwehrhandlung stellt nach der soeben skizzierten Theorie immer eine legitime Handlung zweiter Stufe dar, die auf eine Rechtsverletzung auf der ersten Handlungsebene reagiert. Der immanente Sinn der Notwehr bzw. Nothilfe ist die Abwehr des rechtswidrigen Angriffs, nicht aber beispielsweise die Tötung oder Verletzung des Angreifers. Dieser immanente Sinn der Notwehr bzw. Nothilfe wiederum ist durch den analytischen Zusammenhang zwischen der Illegitimität der Rechtsverletzung und der Legitimität der Befugnis, die Wahrung von Rechten zu erzwingen, seinerseits legitimiert. Auf der Handlungsebene der Zwangsbefugnisse zur Abwehr rechtswidriger Angriffe können daher prinzipiell gar keine Rechte verletzt werden, soweit es sich bei der fraglichen Handlung nur wirklich um die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs handelt. Denn die Behauptung, eine solche Abwehr würde ein Recht des rechtswidrigen Angreifers verletzen, würde ihrerseits voraussetzen, dass der rechtswidrige Angreifer ein Recht hätte, die Rechte des Angegriffenen zu verletzen. Ebendiese Behauptung ist aber offensichtlich widersprüchlich und damit sich selbst aufhebend. Die Abwehr des Angriffs ist aufgrund der Befugnis zur Erzwingung der Wahrung von Rechten legitim. Eine Handlung, die legitim ist, ist aber nach der Rechtsidee per Definition eine Handlung, die kein Recht verletzt. Wird nun der rechtswidrige Angreifer im Zuge einer Notwehrhandlung verletzt oder gar getötet, so stellt die rechtliche Zulässigkeit der Notwehrhandlung, wie wir sie im deutschen Recht in Art. 32 StGB niedergelegt finden, auch keine Verletzung irgendeines Rechts des Angreifers dar. Die Tö Kant, Immanuel: Handschriftlicher Nachlaß: Moralphilosophie, Akademieausgabe Bd. XIX, S. 269, Reflexion 7195. 44
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
tung oder Verletzung des Angreifers ist vielmehr nur die Art und Weise, in der die legitime – und damit kein Recht verletzende – Abwehr des rechtswidrigen Angriffs erfolgt. Sie beeinträchtigt als solche aber gerade kein Recht des Angreifers, da es so etwas wie ein „Recht auf Rechtswidrigkeit“ nicht geben kann. Die Tötung eines rechtswidrigen Angreifers in Notwehr ist demnach nicht etwa eine logisch nachträglich gerechtfertigte Verletzung seines Rechts auf Leben, sondern von vorneherein gar keine Verletzung dieses Rechts, weshalb sie auch keiner nachträglichen Rechtfertigung bedarf. Das hat die weitreichende Implikation, dass man anhand des „natürlichen“ Genus einer Handlung – etwa Töten, Schlagen etc. – überhaupt nichts über die moralische und rechtliche Beurteilung dieser Handlung aussagen kann. Entscheidend für die normative Beurteilung einer Handlung ist allein, ob durch die betreffende Handlung ein Recht oder eine Pflicht verletzt werden. Entscheidend ist also das, wie es Thomas von Aquin nannte, genus moris einer Handlung, nicht ihr genus naturae, an dem gerade nicht abgelesen werden kann, ob wir es mit einer legitimen oder illegitimen Handlung zu tun haben. Genus moris und genus naturae stellen – modern gesprochen – verschiedene Beschreibungsperspektiven desselben Vorgangs dar. Mittels des genus naturae wird eine Handlung nach der Seite beschrieben und klassifiziert, nach der sie ein Ereignis in der Natur ist. Mittels des genus moris wird demgegenüber die Handlung nach ihrer normativen Seite beschrieben und klassifiziert.45 Thomas von Aquin verdeutlicht diesen Unterschied unter anderem anhand des Geschlechtsverkehrs, hinsichtlich dessen es auf der Ebene des genus naturae keinen Unterschied zwischen ehelichem und außerehelichem Geschlechtsverkehr gebe. Der Unterschied zwischen beidem sei vielmehr alleine auf der Ebene des genus moris der Handlung angesiedelt, als solcher aber von höchster Relevanz: „[…] unde potest dupliciter considerari: vel secundum genus naturae, et sic concubitus matrimonialis et fornicarius specie non differunt; unde et effectum naturalem eumdem specie habent: vel secundum quod pertinent ad genus moris; et sic effectus specie differentes habent, ut mereri vel demereri vel aliquid huiusmodi, et sic in specie differunt.“46
Dementsprechend sagt z. B. die Klassifikation einer Handlung als „Laufen“ nach dem genus naturae noch nichts über das genus moris dieser Handlung aus. 45 Diese für jegliche Ethik, Rechtsphilosophie und Handlungstheorie essentielle Unterscheidung hat neuerdings Martin Rhonheimer wiederaufgegriffen und ihre Fruchtbarkeit für die Behandlung von Fragen der Angewandten Ethik aufgezeigt (vgl. Rhonheimer a.a.O. S. 138–143). 46 „[…] von daher kann er [der Geschlechtsverkehr] in doppelter Hinsicht betrachtet werden: entweder gemäß seinem natürlichen Genus, und gemäß diesem unterscheiden sich der eheliche und der uneheliche Geschlechtsverkehr ihrer Art nach nicht, weshalb sie auch beide die natürliche Wirkung dieser Art haben: oder gemäß dem, was ihr moralisches Genus ausmacht; und da haben sie beide verschiedene Wirkungen, wie gelobt zu werden, getadelt zu werden oder Ähnliches, und so unterscheiden sie sich ihrer Art nach.“ (Thomas von Aquin: Scriptum super libros Sententiarum lib. 2 d. 40 q. 1 a. 1 ad 4 [Übersetzung des Verfassers]).
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Bei dieser Handlung kann es sich dem genus moris nach etwa um die moralisch als neutral oder (im Sinn der Erhaltung der eigenen Gesundheit) als moralisch gut zu bewertende Ausübung von Sport handeln. Es kann sich aber auch um das moralisch wie rechtlich zu verurteilende In-Sicherheit-Bringen von Diebesgut handeln. Wenn nun von „unbedingten Pflichten“ oder „unantastbaren Rechten“ die Rede ist, so kann eine solche Kennzeichnung auch immer nur auf der Ebene des „moralischen“ Genus einer Handlung ansetzen, nie auf der Ebene ihres „natürlichen“ Genus. Den Unterschied zwischen dem natürlichen und dem moralischen Genus nicht zu beachten hat in der Diskussion über unbedingte Pflichten und uneinschränkbare Rechte immer wieder für erhebliche Verwirrung gesorgt. Da es nämlich, legt man nicht die „moralischen“, sondern die „natürlichen“ Genera von Handlungen zugrunde, zu jeder zwischen Personen geltenden Handlungsnorm zumindest die „Ausnahme“ der Notwehr bzw. Notwehrhilfe zu geben scheint, scheint es auch unbedingte Pflichten bzw. unantastbare Rechte generell nicht geben zu können. Es scheinen also – wie sowohl der Konsequentialismus, als auch die „Situationsethik“ meinen − alle Pflichten und Rechte durch Situationen und Umstände bedingt zu sein, die nicht in ihnen selbst liegen. Dieser Schluss ist aber in der Tat ein Trugschluss, der dadurch hervorgerufen wird, dass man genus naturae und genus moris der Handlung nicht auseinanderhält. Eine unbedingt geltende Norm, die sich auf die „natürlichen“ Genera von Handlungen bezöge, kann es gar nicht geben, einfach weil sich Normen prinzipiell nur auf das beziehen können, was Handlungen in normativer Hinsicht ausmacht, nicht aber auf das, was sie in „natürlicher“ Hinsicht ausmacht. Dementsprechend stellt beispielsweise eine Tötung oder Körperverletzung in Notwehr auch nicht die absolute Geltung des moralischen Tötungsverbots in Frage. Denn die Tötung in Notwehr fällt von vornherein nicht unter das moralische Tötungsverbot, weil sie zwar dem genus naturae nach eine Tötungshandlung darstellt, dem genus moris nach aber eine Ausübung legitimer Selbstverteidigung. Für die moralische Bewertung der Handlung ist das genus naturae aber irrelevant und nur das genus moris, das hier in der „legitimen Selbstverteidigung“ besteht, relevant. Das Analoge gilt für den Bereich des Rechts und der Rechte. Hier gilt, dass die Tötung oder Verletzung eines Angreifers in Notwehr oder Notwehrhilfe einfach deshalb keine „Ausnahme“ vom Recht des Angreifers auf Leben und körperliche Unversehrtheit darstellt, weil durch die Notwehr bzw. Notwehrhilfe überhaupt kein Recht verletzt wird und werden kann. Denn die Annahme, dass die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs ein Recht verletzen könnte, würde, wie wir gesehen haben, implizieren, dass es kein Recht gäbe, rechtswidrige Angriffe abzuwehren. Das wiederum würde bedeuten, dass es ein Recht gäbe, die Rechte anderer und damit das Recht selbst zu verletzen. Die Behauptung eines solchen „Rechts auf Rechtswidrigkeit“ ist aber offensichtlich absurd und selbstwidersprüchlich. Wenn das aber der Fall ist, dann stellen Tö-
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
tungen oder Körperverletzungen in Notwehr auch keine Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Angreifers dar, sofern der immanente Sinn der Notwehrhandlung eben nicht die Tötung des Angreifers, sondern die Verteidigung des Rechts des Angegriffenen ist. Die Zulässigkeit von Notwehr und Notwehrhilfe in Form der Notwehrparagraphen praktisch aller zeitgenössischer Rechtsordnungen kann daher auch nicht als ein Argument gegen die absolute Unantastbarkeit des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Anspruch genommen werden. Notwehr und Notwehrhilfe sind keine „Ausnahmen“ von der Norm des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, da sie dieses Recht überhaupt nicht verletzen und folglich von vornherein nie unter diese Norm gefallen sind. Das gesamte Argument, das Menschenwürde und Lebensrecht im Verweis auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die vermeintliche „Antastbarkeit“ einander entgegensetzte, bricht somit in sich zusammen. Es gibt daher auch kein valides Argument dagegen, die Menschenwürde zugleich als das Prinzip und den Geltungsgrund der Menschenrechte überhaupt und als den Grund und das Kriterium der Unantastbarkeit zumindest einiger fundamentaler Menschenrechte wie des Rechts auf Leben zu begreifen. Umgekehrt heißt das aber auch, dass Handlungen, die in Notwehr bzw. Notwehrhilfe erfolgen, in keinem Fall Menschenwürdeverletzungen sein können. Denn die Legitimität der Notwehr ergibt sich, wie wir gesehen haben, analytisch aus der Rechtsidee, und die Rechtsidee wiederum bringt zum Ausdruck, was die Menschenwürde für den Bereich des Rechts besagt. Notwehrhandlungen können folglich a priori nie die Menschenwürde verletzen47 ; sehr wohl läuft aber jegliche Einschränkung des Notwehrrechts der Rechtsidee und damit auch dem Menschenwürdeprinzip zuwider.
2. Das „Urrecht“ und die abgeleiteten Rechte Durch die bisherigen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass das Prinzip der Akteursrelativität im Ausgang von einer vom Anerkennungsprinzip ausgehenden Begründung intersubjektiver Normativität theoretisch eingeholt werden kann. Insofern Akteursrelativität die notwendige Bedingung der Gegebenheit unbedingter Pflichten und unantastbarer Rechte bildet, konnte damit auch aufgewiesen werden, dass die Annahme solcher Plichten und Rechte nicht irra47 Wenn dementsprechend das LG Frankfurt und mit ihm eine Mehrheit der deutschen Juristen beim „Fall Daschner“ einen Widerstreit zwischen Notwehrrecht und Menschenwürde konstruiert und meint, die Menschenwürde schränke auf der rechtlichen Ebene das Notwehrrecht ein, so zeugt dies von einer völligen Verkennung der Systematik und des Gehalts des rechtlichen Menschenwürdebegriffs. Allenfalls mag die Menschenwürde eine moralische Mäßigung bei der Ausübung von Notwehr verlangen. Rechtlich erzwungen darf solche Mäßigung aber, wie Kant richtig bemerkt hat, nicht werden, da sie lediglich eine „Anempfehlung“ der Ethik ist (vgl. Kant: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 235).
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tional ist. Weiterhin konnte aufgezeigt werden, dass eine anerkennungstheoretische Begründung intersubjektiver Normativität nicht alleine die theoretische Möglichkeit unbedingter Pflichten und unantastbarer Rechte nachzuweisen geeignet ist, sondern auch deren Existenz fordert. Begründet wurde das damit, dass jeder Übergriff auf die legitime Freiheitssphäre eines anderen Subjekts das Prinzip der Anerkennung und damit letztlich auch das ihm zugrunde liegende Menschenwürdeprinzip verletzt. Wenn das allerdings der Fall ist, scheint zugleich auch jeder solche Übergriff strikt unzulässig zu sein. Rechte müssten daher, wenn sie überhaupt gelten, immer unantastbar sein. Der Staat dürfte es deshalb auch in keinem Fall und unter keinen Umständen einer Person gestatten, die Rechte einer anderen Person zu verletzen, geschweige denn, dass er selbst in die Rechte seiner Bürger eingreifen dürfte. Die im deutschen Rechtsdenken der Nachkriegszeit gängige Rechtsdogmatik, die von einer prinzipiellen Abwägbarkeit aller Grundrechte gegeneinander ausgeht und damit auch davon, dass jedes Grundrecht prinzipiell aufgehoben werden könne, wenn ihm ein vermeintlich „gewichtigeres“ Grundrecht entgegensteht, wäre damit obsolet. Sie hätte sich durch eine rechtsphilosophischen Reflexion auf die Grundlagen des Rechts überhaupt als unhaltbar erwiesen. Eine solche im Hinblick auf alle Rechte rigorose Deutung des Anerkennungsprinzips griffe, wie im folgenden gezeigt werden soll, gleichwohl zu kurz, was sich bereits im Hinblick auf die Rechtslehren Kants und Fichtes zeigen wird. Beiden ist gemeinsam, dass sie einen bestimmten Kernbestand von Rechten – bei Kant das „angeborene“ oder „ursprüngliche Recht“, bei Fichte das „Urrecht“ genannt – vor allen anderen Rechten systematisch als fundierend auszeichnen. Obwohl weder Kant noch Fichte daraus selbst weitere Folgerungen für die Frage nach der „Antastbarkeit“ oder „Unantastbarkeit“ von Rechten ziehen, bietet diese Auszeichnung doch einen möglichen Ansatzpunkt für eine solche Unterscheidung. Dabei muss man sich freilich im Klaren darüber sein, dass eine derartige Differenzierung zwangsläufig über den rechtsphilosophischen Ansatz Kants und Fichtes hinausweist, folgt aus diesem doch, wie wir gesehen haben, eine prinzipielle Priorität der Abwehrrechte gegenüber jeglichen Anspruchsrechten und Solidarpflichten, soweit die Letzteren als rechtlich erzwingbar gedacht werden sollen. Unter einem „Recht“ ist demnach ein durch das Anerkennungsprinzip garantierter Anspruch eines Subjekts zu verstehen, andere Subjekte von einem willentlichen Übergriff in die und eine Verfügung über die eigene Freiheitssphäre auszuschließen. Konsequenterweise muss dann für einen solchen Ansatz auch jede Handlung, die die Freiheitssphäre eines Subjekts nicht respektiert, als ein Verstoß gegen das Anerkennungsprinzip gewertet werden und daher als untersagt gelten. Erst in einer sekundären und uneigentlichen Hinsicht könnten dann auch direkte Ansprüche auf die Verteidigung48 , Dabei ist an den Fall des Defensivnotstands gedacht, für den das klassische Beispiel die
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Erhaltung oder Gewährleistung der Güter, die für die Freiheitsausübung grundlegend sind, als „Rechte“ betrachtet werden. Wenn das aber der Fall ist, so sind die von der Verfassungsrechtsdogmatik immer wieder diskutierten „Kollisionen“ zwischen Rechten, die dann „Rechtsgüterabwägungen“ erforderlich machen würden, im Rahmen des kantisch-fichte’schen Ansatzes nicht denkbar: Abwehrrechte selbst können danach überhaupt nicht miteinander kollidieren, da ihre innere Logik ja gerade die einer kollisionsverhindernden wechselseitigen Einschränkung und Abgrenzung der Freiheitssphären der verschiedenen Subjekte ist. Eine Kollision von Abwehrrechten miteinander ist darum logisch unmöglich. Das lässt sich anhand des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gut verdeutlichen. Im Rahmen des hier vorgestellten Ansatzes handelt es sich bei diesem Recht um nichts anderes als die Befugnis, jeden anderen von der Verfügung über die eigene Existenz und den eigenen Körper auszuschließen. Dass die Befugnis einer Person A, die Personen B, C, D usw. von der Verfügung über die eigene Existenz EA und den eigenen Körper K A auszuschließen nicht mit der Befugnis einer Person B, die Personen A, C, D usw. von der Verfügung über die eigene Existenz EB und den eigenen Körper K B auszuschließen „kollidieren“ kann, ist dann leicht einzusehen. Es ist keine Situation denkbar, in der das Recht von A mit dem von B in einen logischen Widerspruch treten kann, da diese Rechte gerade so „konstruiert“ sind, dass sie einen solchen Widerspruch a priori ausschließen.49 Mit Ansprüchen auf Güter könnten die Abwehrrechte aber nach diesem Ansatz ebenfalls nicht „kollidieren“, da solche Ansprüche nur in einer abgeleiteten und uneigentlichen Hinsicht überhaupt als „Rechte“ gelten könnten. Die gesamte Rede von „einschränkbaren“ Rechten und von einer Differenz zwischen „einschränkbaren“ und unantastbaren Rechten setzt dementsprechend voraus, dass es zumindest einen Punkt gibt, an dem Ansprüche auf Güter tödliche Abwehr des Angriffs eines Tieres ist, das das Eigentum einer anderen Person ist. Die Tötung des Tieres stellt dann einen Eingriff in das Eigentumsrecht der betreffenden Person dar, der nicht rechtfertigbar wäre, wenn es einen generellen Vorrang von Abwehrrechten gäbe. Das Problem liegt hierbei darin, dass der Angriff des Tieres kein willentlicher Übergriff auf die Freiheitssphäre des Angegriffenen, d. h. keinen „rechtswidrigen Angriff“ darstellt und seine Abwehr sich daher auch nicht durch das Notwehrprinzip legitimiert ist. Die Abwehr ist vielmehr nur legitimierbar durch einen unmittelbaren Anspruch des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Damit auch nur der Defensivnotstand legitimierbar ist, muss dieser Anspruch aber über dem abwehrrechtlichen Eigentumsrecht des Tierhalters stehen. Das Prinzip des Vorrangs von Rechten qua Befugnissen, andere Subjekte vom Eingriff in die eigene Freiheitssphäre auszuschließen, muss daher zumindest in einer Hinsicht aufgehoben werden, um auch nur Handlungen im Defensivnotstand, geschweige denn im „Aggressivnotstand“ (als dessen klassisches Beispiel der sogenannte „Mundraub“ gilt) rechtfertigen zu können. 49 Wie im vorigen Unterkapitel gezeigt, stellt auch die Tötung eines der beiden Rechtsträger in Notwehr oder Notwehrhilfe keinen Fall einer „Kollision“ dar, weil durch eine solche Tötung kein Recht verletzt wird.
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einen echten Vorrang vor Abwehrrechten haben können. Denn nur wenn das der Fall ist, taucht überhaupt das Problem auf, Rechte – verstanden in ihrem eigentlichen Sinn als Abwehrrechte – unter Umständen einschränken zu müssen. Hätten Rechte, genommen nach ihrer Grundbedeutung als freiheitssichernde Abwehrrechte, immer Vorrang vor Ansprüchen auf Güter, dann könnten Rechte überhaupt nicht miteinander in Konflikt geraten und es gäbe infolgedessen auch keinen Anlass, ein Recht einzuschränken oder gegen ein anderes abzuwägen. Es muss also, damit das Problem sich überhaupt stellt, güterbezogene Ansprüche geben, die normativ höherrangig sind als Rechte im eigentlichen, abwehrrechtlichen Sinn des Wortes. Das scheint aber wiederum im Rahmen der Rechtslehren Kants und Fichtes nicht sinnvoll denkbar zu sein. Damit sind die Schwierigkeiten, die mit dem Versuch einer Differenzierung zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten verbunden sind, aber noch nicht einmal alle benannt. Hat man nämlich umgekehrt einmal eingeräumt, dass es Ansprüche auf Güter geben mag, die normativ höherrangig sind als Rechte, so stellt sich umgekehrt die Frage, warum es dann überhaupt nichtabwägbare Rechte sollte geben können, warum also einige der Abwehrrechte doch wieder dem möglichen Vorrang von Güteransprüchen generell entzogen sein sollten. Verschärft wird diese Schwierigkeit noch dadurch, dass der Gedanke der Unabwägbarkeit von Rechten offensichtlich auf dem deontologischen Anerkennungsprinzip beruht, während der Gedanke, dass Ansprüche auf Güter höherrangig sein könnten als Rechte, auf nichts anderem als einem konsequentialistischen Paradigma scheint beruhen zu können, das als solches mit dem Anerkennungsprinzip logisch unvereinbar wäre. Eine Theorie, die zwischen abwägbaren und unabwägbaren, einschränkbaren und nichteinschränkbaren Rechten zu unterscheiden versucht – und damit beiden einen legitimen Platz zuweisen möchte –, scheint daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Entweder, so würde man denken, muss einer Theorie der Rechte das deontologisch-anerkennungstheoretische Prinzip der Normativität zugrunde gelegt werden und damit die Abwägbarkeit bzw. Einschränkbarkeit von Rechten ausgeschlossen werden. Oder es muss vom konsequentialistisch-güterbezogenen Modell von Normativität ausgegangen werden und damit die Unabwägbarkeit bzw. Nichteinschränkbarkeit jedes einzelnen Rechts bestritten werden. Geht man nun, wie hier entwickelt, von der grundsätzlichen Richtigkeit der anerkennungstheoretisch-deontologischen Fundierung rechtlicher Normativität aus, so kann es einen Ausweg aus diesem Dilemma nur dann geben, wenn gezeigt werden könnte, dass es möglich ist, den Vorrang von Ansprüchen auf bestimmte Güter gegenüber bestimmten, aber nicht allen Abwehrrechten aus dem Anerkennungsprinzip selbst zu entwickeln. Wie im folgenden Unterkapitel gezeigt werden soll, findet sich eine zumindest skizzenhaft ausgeführte Theorie dieses Zuschnitts erst in Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“.
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Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht zumindest Ansätze zu einer solchen Theorie bereits bei Kant und Fichte zu finden wären. Konkret finden sich diese Ansätze in der axiologischen und begründungstheoretischen Auszeichnung des „ursprünglichen Rechts“ (Kant) und des „Urrechts“ (Fichte) gegenüber den durch sie fundierten weiteren Rechten. Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst den systematischen Ort des „ursprünglichen Rechts“ bzw. des „Urrechts“ bei Kant und Fichte vor Augen führen. Für beide gilt, dass die Achtung bzw. die Anerkennung fremder Subjektivität zum Gedanken einer notwendigen Einschränkung der eigenen Freiheit und schließlich der Freiheit aller individuellen Subjekte führt; dies aber nur, damit jedem individuellen Subjekt Freiheit ermöglicht werden kann. Die Freiheit des Einzelnen darf also nicht über das Maß hinaus eingeschränkt werden, das notwendig ist, um jedem Subjekt einen nach allgemeinen Regeln zugeteilten Anteil an Freiheit zu gewährleisten. Die Regeln der Freiheitszuteilung müssen also immer darauf ausgerichtet sein, das Maximum an Freiheit zu gewähren, das noch damit vereinbar ist, dass anderen Subjekten ein ebensolches Maß an Freiheit zugestanden wird. Auf dieses gleiche Maß an Freiheit nach allgemeinen Gesetzen hat der Einzelne dann aber eben ein unbedingtes Anrecht, das der Staat sowohl selbst respektieren muss, wie er es auch gegen alle Übergriffe durch Dritte verteidigen muss. Kant spricht daher auch von der Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz als dem „einzige[n], ursprüngliche[n], jedem Mensch qua seiner Menschheit zustehende[n] Recht“50 und nennt dieses Recht auch das „angeborene Recht“. Kant expliziert im Folgenden dann auch sogleich, was in diesem „ursprünglichen“ oder „angeborenen“ Recht bereits analytisch enthalten ist, nämlich „[d]ie angeborne Gleichheit, d.i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sich wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines unbescholtenen Menschen (iusti), weil er, vor allem rechtlichen Akt kein Unrecht getan hat; endlich auch die Befugnis, das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; dergleichen ist, ihnen bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwa zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig (veriloqium aut falsiloqium), weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht; – alle diese Befugnisse liegen schon im Prinzip der angeborenen Freiheit und sind wirklich von ihr nicht (als Glieder der Einteilung unter einem höheren Rechtsbegriff) unterschieden.“51
Das Ganze dieser im „angeborenen“ Freiheitsrecht und damit auch im Rechtsprinzip analytisch enthaltenen Rechte nennt Kant auch das „innere Mein und Dein“. Versucht man die von Kant hier im Einzelnen genannten Rechte mit konkreten Grund- bzw. Menschenrechten, wie sie in allen Menschenrechtskatalogen der Moderne zu finden sind, zu identifizieren, so kann man feststellen, Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, Akademieausgabe Band VI, S. 237. Kant a.a.O. Band VI, S. 237 f.
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dass offensichtlich die folgenden Rechte und Rechtsstaatsprinzipien gemeint sind: 1.) Erstens das Recht, keinen freiheitseinschränkenden Handlungen Dritter unterworfen zu werden, die nicht den Kriterien der Gleichheit und Wechselseitigkeit genügen; in diesem Recht artikuliert sich gewissermaßen das Anerkennungsprinzip selbst. 2.) Zweitens das in der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik so genannte „allgemeine Persönlichkeitsrecht“, das im Grundgesetz in Art. 2 niedergelegt ist und das besagt, dass jeder ein Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, sofern er dadurch nicht die Rechte anderer verletzt. Dieses Recht impliziert, dass der Staat nur da die Befugnis hat, die Freiheit des Einzelnen zu beschränken, wo gezeigt werden kann, dass durch bestimmte Handlungen die Rechte anderer verletzt werden. 3.) Drittens das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, wie es im deutschen Grundgesetz in Art. 3 garantiert wird. 4.) Viertens das Rechtsstaatsprinzip der Unschuldsvermutung und 5.) Fünftens schließlich das Recht auf freie Meinungsäußerung, dessen Einschränkung Kant auch andernorts dezidiert zurückweist.52 Auffällig ist nun allerdings, dass gerade das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das doch meist als eines der wichtigsten, wenn nicht das grundlegendste Menschenrecht gilt, und das von Fichte auch ausdrücklich als der erste Bestandteil des „Urrechts“ genannt wird, in Kants Aufzählung nicht explizit auftaucht. Man wird allerdings mit guten Gründen annehmen können, dass Kant dieses Recht schon in der „Qualität des Menschen, sein eigener Herr zu sein“ impliziert sieht. Da sich in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten“ keine direkten Ausführungen dazu finden, ist zwar nicht ganz klar, wie Kant das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit genau begründen würde. Grundsätzlich lassen sich jedoch drei Begründungsstrategien denken, die alle miteinander kompatibel sind. Zum einen wäre ein Recht, über den Leib eines anderen zu verfügen, insofern nicht mit dem Rechtsprinzip vereinbar, als dies jedem Menschen die Freiheit einräumen würde, über die Existenz jedes anderen und damit auch über dessen Möglichkeit zur Freiheitsbetätigung vollständig zu verfügen. Ein solches „Recht“, über Leib und Leben des anderen willentlich zu verfügen, wäre mithin ein Recht, jedem anderen die Möglichkeit der Freiheitsausübung vollständig zu nehmen. Ebendies ist aber mit dem Prinzip der Ermöglichung der gleichen Freiheitsausübung für jedes vernünftige Wesen nach allgemeinen Regeln unvereinbar.
Vgl. Kant, Immanuel: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Akademieausgabe Bd. VIII, S. 304. 52
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Ein weiterer möglicher Begründungsstrang deutet sich bei Kant aber auch darin an, dass er, wie übrigens auch Fichte, davon auszugehen scheint, dass jedes Vernunftwesen über seinen eigenen Leib von vornherein ein ausschließliches Verfügungsrecht hat. Und zwar deshalb, weil der eigene Leib nicht wie beim „Äußeren Mein und Dein“ erst angeeignet werden muss, sondern unmittelbar dem eigenen Wollen gehorcht. So führt Kant – bezeichnenderweise nicht in der Rechtslehre, sondern in späteren handschriftlichen Bemerkungen zu einer vorkritischen Schrift zur Ästhetik – aus: „Der Leib ist mein denn er ist ein Theil meines Ichs und wird durch meine Willkühr bewegt. Die ganze belebte oder unbelebte Welt die nicht eigene Willkühr hat ist mein in so fern ich sie zwingen u. sie nach meiner Willkühr bewegen kann. Die Sonne ist nicht Mein. Bey einem andern Menschen gilt dasselbe, also ist keines Eigenthum eine proprietat oder ein ausschliessendes Eigenthum. In so fern ich aber ausschließungsweise mir etwas zueignen will so werde ich des andern Willen wenigstens nicht gegen den meinigen oder nicht seine That wider die Meinige voraussetzen.“53
Der Gedanke, der hier nicht zuletzt anklingt, ist der alte aristotelische Gedanke der Selbstbewegung, der auch schon bei Thomas von Aquin eine zentrale Rolle für die Auszeichnung des Menschen als „Selbstzweck“ gespielt hatte. Der Leib eines Subjekts kann, sofern er nicht etwas von der eigenen Subjektivität Verschiedenes ist, als durch sich selbst, durch die eigene Willkür bewegt gelten. Das Sich-Bewegen des eigenen Leibs ist damit grundsätzlich vom Bewegt-Werden der Objekte verschieden. Daraus folgt für Kant nun offensichtlich, dass alle Dinge der Sinnenwelt, die keine eigene Subjektivität aufweisen, potentielles Eigentum von Subjekten sind, die davon Besitz ergreifen können. Und daraus wiederum zieht Kant den Umkehrschluss, dass der jeweilige Leib in der ausschließlichen Verfügungsgewalt desjenigen Ich stehe, das sich in dem Leib verkörpert. Gegen diesen Gedankengang wird man allerdings einwenden können, dass sich alleine aus dem Faktum, dass der jeweilige Leib unmittelbar das Medium der eigenen Willkür eines Subjekts ist, nicht ohne weiteres die Norm herleiten lässt, dass dieses Subjekt auch die ausschließliche Verfügungsgewalt über seinen eigenen Leib haben soll. Es bedürfte hier weiterer Vermittlungsschritte, etwa der Überlegung, dass die Selbstbewegung des Leibes die notwendige Voraussetzung jeglicher Freiheitsausübung ist, da nur über den Leib überhaupt Einfluss auf Objekte in der raumzeitlichen Welt genommen werden kann. Eine solche Überlegung würde das Argument allerdings wieder dem ersten der Argumente annähern. Des Weiteren ließe sich noch eine dritte Begründung denken, die sich allerdings bei Kant in dieser Form nirgends findet, die auf der Grundlage des kantischen Menschenwürdebegriffs aber immerhin denkmöglich ist. Bei dieser Be Kant, Immanuel: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Akademie-Ausgabe Bd. XX, S. 66 f. 53
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gründung würde auf die „Zweck an sich“-Qualität des Menschen rekurriert, die ihm, wie wir gesehen haben, aus der reflexiven Einsicht in seine Autonomie zukommt. Der Begriff des „Zwecks an sich“ aber lässt sich, wie ebenfalls gezeigt wurde, dahingehend verstehen, dass jedes Vernunftwesen notwendigerweise sein eigenes Sein-als-freies-Subjekt anstrebt. Daraus folgt die Pflicht, keine Handlungen zu vollziehen, die dieses Subjekt-Sein bei sich und allen anderen Subjekten in Frage stellen würden. Das Sein als freies Subjekt zu achten impliziert aber zuallererst, überhaupt das Sein jedes Subjekts zu achten. Ein anderes Subjekt zu töten, d. h. seine Existenz in der raumzeitlichen Welt zu vernichten, stellt aber die fundamentalste Möglichkeit dar, das Subjekt-Sein des anderen zu missachten und zu negieren. Während andere Verletzungen des Anerkennungsprinzips das Subjekt-Sein des anderen in jeweils bestimmten Hinsichten negieren, negiert die Tötung das Subjekt-Sein absolut, und dies nicht nur in einem metaphorischen, sondern in einem wortwörtlichen Sinn. Diese Überlegung darf übrigens nicht dahingehend ausgelegt werden, dass das Leben vom Recht auf Freiheit sozusagen nur en passant mit geschützt würde, weil es die Voraussetzung der Freiheitsausübung sei.54 Ein solcher Gedanke würde das Verhältnis von Sein und Subjektivität grundlegend missverstehen. Wo es um das Sein von Subjektivität geht, ist es nicht so, dass es gewissermaßen schon das Ganze der Bestimmungen einer Sache gäbe (z. B. den psychologischen Charakter einer Person) und zu diesen dann noch das Sein der Sache entweder „hinzuträte“ oder eben nicht „hinzuträte“ (im letzteren Fall wäre die Sache dann bloß eine gedachte Sache).55 Vielmehr ist das „Sein“ eines Subjekts nichts anderes als der Vollzug eines Sich-Beziehens auf sich selbst. „Subjekt-Sein“ ist also selbst schon eine bestimmte Art und Weise zu sein oder zu existieren. Das Existieren lässt sich also gerade im Fall der Subjektivität nicht von dem abtrennen, was existiert und als was dieses Existierende existiert. Den anderen (und sich selbst) als Subjekt zu achten bedeutet daher unmittelbar – das heißt: nicht vermittelt über ein vermeintliches Voraussetzungsverhältnis zwischen „Sein“ und „Freiheit“ – immer schon, auch seine Existenz zu achten. Ungeachtet der Frage, welcher Weg einer Begründung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Rahmen von Kants Rechtslehre der treffendste wäre, scheint es doch klar, dass dieses Recht für Kant ein Bestandteil des „ursprüngliche[n], jedem Menschen qua Menschheit zustehende[n] Recht[s]“ ist.
Vgl. dazu auch die Kritik an der Bestimmung des Verhältnisses von Leben und Würde durch das Bundesverfassungsgericht in Kapitel 2, V (S. 88–91) dieser Untersuchung. 55 Diese Überlegung steht nicht zuletzt hinter Wolfgang Cramers Kritik an Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises (vgl. Cramer, Wolfgang: Gottesbeweise und ihre Kritik: Prüfung ihrer Beweiskraft. Tübingen, 2. Aufl. 2010, S. 88–101). Auch diese Dimension der Problematik zeigt, dass wir uns mit unseren Überlegungen an dieser Stelle bereits deutlich von Kant absetzen. 54
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Mit der Unterscheidung zwischen einem „ursprünglichen“ bzw. „angeborenen“ Recht auf der einen Seite, das mit dem Rechtsprinzip gewissermaßen zusammenfällt, und weiteren, auf das „äußere Mein und Dein“ bezogenen Rechten andererseits eröffnet sich bereits im Rahmen von Kants Praktischer Philosophie jedenfalls theoretisch die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen unantastbaren und abwägbaren Rechten. Diese Unterscheidung würde allerdings klarerweise den Rahmen der kantischen Rechtsphilosophie verlassen, in der streng genommen kein Recht „abwägbar“ sein und keine moralische Pflicht situationsbedingte Ausnahmen aufweisen kann. Die Unterscheidung zwischen „innerem“ und „äußerem Mein und Dein“ bietet aber durchaus schon innerhalb der kantischen Rechtslehre einen Anknüpfungspunkt für eine weitergehende Differenzierung zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten. Zunächst bekommen wir durch Kants Begriff eines „ursprünglichen Rechts“ noch einmal eindrucksvoll vor Augen geführt, dass und warum zumindest einige Rechte unantastbar sein müssen, wenn die Rechtsidee überhaupt valide sein soll. Wenn es nämlich eine Reihe von Rechten gibt, die für die Rechtsidee selbst konstitutiv sind und die daher nicht einmal partiell oder in bestimmten Hinsichten aufgehoben werden können, ohne dass dadurch die Rechtsidee selbst aufgehoben würde, dann müssen zumindest diese Rechte als unantastbar gelten. Denn durch jede Einschränkung, die bei ihnen vorgenommen würde, würden immer zugleich auch die Rechtsidee und damit das Recht insgesamt negiert. Wo überhaupt das Rechtsprinzip der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt wirksam ist, da dürfen diese Rechte keinen Einschränkungen unterworfen werden. Die Rechte, um die es dabei geht, sind in erster Linie das Recht, überhaupt als Rechtssubjekt anerkannt zu werden; zum Zweiten das Recht, nicht weiter in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden, als dies für die Ermöglichung gleicher Freiheit aller vernünftigen Subjekte in einer Rechtsgemeinschaft erforderlich ist; dann das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; weiterhin das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und schließlich das Recht auf freie Meinungsäußerung, das die unerlässliche Vorbedingung für jegliches rechtlich-politische Miteinander freier Vernunftwesen und jegliche Suche nach Wahrheit bildet.56 Wird eines dieser Rechte durch einen Einzelnen 56 Im Recht auf freie Meinungsäußerung kommt damit der besondere Charakter intersubjektiver Beziehungen, kommunikative Begegnung zwischen Subjekten zu sein, am deutlichsten zu Ausdruck. Außerdem ergibt sich die Unantastbarkeit des Rechts auf freie Meinungsäußerung schon alleine aus dem Verbot, die Freiheit eines Subjekts zu einem anderen Zweck als der Ermöglichung der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz einzuschränken. Da durch die Äußerung einer Meinung niemandes Freiheit eingeschränkt wird, ist folglich auch keinerlei Einschränkung der Meinungsfreiheit durch den Staat zulässig. Lediglich Verleumdungen, die als solche gar nicht unter das Recht auf freie Meinungsäußerung fallen, dürfen strafrechtlich sanktioniert werden. Nicht zuletzt resultiert das absolute Verbot einer Einschränkung der Meinungsfreiheit aber auch daraus, dass durch eine solche Einschränkung der potentielle Rezipient einer Meinung seitens des Staates wie ein dummes, unmündiges Kind
IV. Antastbare und unantastbare Rechte
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verletzt oder durch den Staat eingeschränkt, so wird dadurch unmittelbar gegen das Anerkennungsprinzip als solches verstoßen. Der tiefere Grund dafür ist, dass jedes der genannten Rechte die Rechtssubjektivität des als Rechtssubjekt anerkannten Individuums in unmittelbarer und innerlicher Weise und zugleich als Ganzes betrifft. Viele andere Rechte, wie beispielsweise das Eigentumsrecht, betreffen die Rechtssubjektivität zwar ebenfalls, dies jedoch nur in äußerlicher Weise und/oder bloß in einer partikularen Hinsicht. Die Vermutung, dass diese Rechte dann auch legitimerweise als „abwägbar“ verstanden werden könnten, ließe sich an dieser Stelle jedenfalls artikulieren, auch wenn sie nur theoretisch eingeholt werden kann, sofern der Rahmen des kantischen Ansatzes überschritten wird. Noch deutlicher kommt die Perspektive einer Differenzierung zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten anhand von Fichtes Begriff des „Urrechts“ in den Blick. Unter dem „Urrecht“ versteht Fichte dasjenige Recht, das als erstes und grundlegendes subjektives Recht unmittelbar aus dem Rechtsprinzip der wechselseitigen Anerkennung aller freien Subjekte als Rechtssubjekt folgt. Es besteht darin, überhaupt als Freiheitswesen behandelt zu werden: „Das Urrecht ist daher das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu seyn (schlechthin nie Bewirktes).“57
Was sich in dieser Formulierung ausspricht, ist nichts anderes als die Forderung, dass das Verhältnis zwischen Subjekten nicht ein kausal-mechanisches Verhältnis sein möge, in dem ein Subjekt A als freie, aktive, zwecksetzende Ursache fungiert und ein anderes Subjekt B als passives, unfreies, nicht selbst Zwecke setzendes Objekt, auf welches das Handeln von A dann lediglich kausal einwirken würde. Stattdessen soll das Verhältnis von Subjekten zueinander ein kommunikatives Verhältnis sein. Analysiert man das „Urrecht“ genauer, so kann man feststellen, dass es eigentlich zwei Momente beinhaltet, nämlich zum einen das Recht auf die „Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes“58 und zum anderen das „Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesammte Sinnenwelt“.59 Dieses gedoppelte Urrecht steht dann in mehrfacher Hinsicht in einem Fundierungsverhältnis gegenüber den sonstigen behandelt wird, das vor bestimmten „bösen“ Meinungen geschützt werden muss, statt dass man ihm erlauben würde, sich zu der betreffenden Meinung wiederum seine eigene Meinung zu bilden. Eine gröbere Missachtung des Einzelnen als freies und autonomes Subjekt durch den Staat kann man sich – ausgenommen die Tötung – kaum denken. Jeder noch so kleinen Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, und sei sie noch so gut gemeint, muss daher mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden, stellt sie doch einen unmittelbaren Anschlag auf die Grundlagen des Rechts selbst dar. 57 Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band III. ND Berlin 1971, § 10 Definiton des Urrechts, S. 113. 58 Fichte a.a.O. § 11 Analyse des Urrechts, S. 119. 59 Fichte a.a.O. § 11 Analyse des Urrechts, S. 119.
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Rechten des Menschen, darunter vor allem gegenüber dem Eigentumsrecht. Einmal bildet das Urrecht insofern das Fundament der weiteren Rechte, als die Fortdauer der eigenen Existenz als freies Subjekt in der raumzeitlichen Welt die unabdingbare Voraussetzung jeglicher Freiheitsausübung in dieser Welt ist. Zum anderen lassen sich die weiteren Rechte aber auch in inhaltlicher Hinsicht aus dem Urrecht herleiten, wobei „Herleiten“ bedeutet, dass sie sich als notwendige Implikate des Urrechts erweisen lassen. In diesem Sinn leitet Fichte das Eigentumsrecht sowohl aus dem ersten wie aus dem zweiten Moment des Urrechts her. Nach dem zweiten Moment besteht der normative Grund des Eigentums darin, jedem Subjekt eine Reihe von Objekten zuzuteilen, die ausschließlich seinem Wirken in der raumzeitlichen Welt vorbehalten sind. Fichte führt dazu aus: „Der Inbegriff des Urrechts ist nach obigem Erweise eine fortdauernde, lediglich vom Willen der Person abhängige, Wechselwirkung derselben mit der Sinnenwelt ausser ihr. Im Eigenthumsvertrage wird jedem Einzelnen ein bestimmter Theil der Sinnenwelt, als Sphäre dieser seiner Wechselwirkung, ausschliessend zugeeignet; und unter den beiden Bedingungen, dass er die Freiheit aller Uebrigen in ihren Sphären ungestört lasse, und sie, falls sie von einem Dritten angegriffen werden sollten, durch seinen Beitrag schützen helfe, garantirt.“60
Das Eigentumsrecht ergibt sich allerdings nicht alleine aus dem zweiten Moment des Urrechts, sondern auch und in noch nachdrücklicherer Weise aus dessen erstem Moment: nämlich insofern, als das Eigentum die Voraussetzung der Selbsterhaltung durch Arbeit ist. Fichte beschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Leben zu können ist das absolute unveräusserliche Eigenthum aller Menschen. Es ist ihm eine gewisse Sphäre der Objecte zugestanden worden, ausschliessend für einen gewissen Gebrauch. Aber der letzte Zweck dieses Gebrauchs ist der leben zu können. Die Erreichung dieses Zwecks ist garantirt; dies ist der Geist des Eigenthumsvertrags. Es ist Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jederman soll von seiner Arbeit leben können.“61
Wenn diese doppelte Herleitung des Eigentumsrechts aus dem Urrecht – die bei Fichte zahlreiche Konsequenzen für die konkrete Ausgestaltung des Eigentums-, Steuer- und Sozialrechts hat, auf die näher einzugehen den Rahmen dieser Studie sprengen würde – richtig ist, dann steht das Eigentumsrecht auch in doppelter Hinsicht immer unter der Bedingung des Urrechts. Nur wo das Leben, im Sinn der Fortdauer der Existenz des freien Subjekts, garantiert ist, kann demnach das Eigentumsrecht überhaupt wirksam werden. Das Eigentumsrecht ist mithin aus demselben Grund ein bedingtes Recht – bedingt eben durch die Garantie des Lebens –, aus dem das Recht auf Leben und körperliche Unver Fichte a.a.O. § 18 Über den Geist des Civil- oder Eigenthumsvertrags, S. 210. Fichte a.a.O. § 18 Über den Geist des Civil- oder Eigenthumsvertrags, S. 212.
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sehrtheit ein unbedingtes Recht ist. Falls ein Konflikt zwischen dem Lebensrecht als dem ersten Moment des Urrechts und einem aus dem Urrecht abgeleiteten Recht entstünde, könnte darum auch das Lebensrecht immer einen Vorrang geltend machen. Nun ist allerdings noch keineswegs gezeigt, dass ein solcher Konflikt entstehen kann. Wäre das Recht auf Leben ebenso wie diejenigen Rechte, die die Abgrenzung der Freiheitssphären ins Werk setzen, ein bloßes Abwehrrecht – wie es immerhin Fichtes Formulierung „Unantastbarkeit des Leibes“ nahelegt –, so könnte selbst unter der Voraussetzung der Bedingtheit der aus dem Urrecht hergeleiteten Rechte durch das Urrecht kein Konflikt zwischen dem Lebensrecht und den sonstigen Rechten entstehen. Gerade das Bedingungsverhältnis zwischen dem Leben und der jeweils konkreten Freiheitsausübung begründet aber eine Sonderstellung des Rechts auf Leben innerhalb des Gefüges des Rechts. Indem das Leben als das verkörperte Dasein der Freiheit die unhintergehbare Bedingung derjenigen Freiheit ist, die durch die abwehrrechtliche Abgrenzung der Freiheitssphären gewährleistet werden soll, muss diejenige Rechtsnorm, die auf das Leben Bezug nimmt, notwendigerweise mehr sein als ein bloßes Abwehrrecht: Das Recht auf Leben muss vielmehr neben seinem abwehrrechtlichen Charakter immer auch den Charakter eines rechtsförmigen Anspruchs auf die Gewährleistung des Lebens, jener „Fortdauer der absoluten Freiheit“, von der das Urrecht spricht, haben. Auf diese Weise ist nun gezeigt, dass es zumindest ein Recht gibt, das nicht nur Abwehrrecht, sondern gleichursprünglich auch Anspruchsrecht ist und das darum überhaupt erst in Konflikt mit bestimmten Abwehrrechten treten kann. Die doppelte Dimension des Rechts auf Leben als Anspruchs- und Abwehrrecht ergibt sich dabei freilich aus dem Anerkennungsprinzip selbst; die anspruchsrechtliche Seite wird ihm nicht einfach äußerlich hinzugefügt und ist auch nicht einem anderen Paradigma der Normativität, wie es etwa das konsequentialistische Güterabwägungsparadigma darstellt, entnommen. Als schlechthin fundierendes Recht liegt das Recht auf Leben, so offenbar Fichtes Überlegung, vielmehr der Differenz zwischen Anspruchs- und Abwehrrecht voraus und ist daher immer zugleich beides. Die Anerkennung des anderen als eines Freiheitswesens verpflichtet die übrigen Glieder der Anerkennungsgemeinschaft dementsprechend immer auch auf die Erhaltung des Lebens des Anerkannten, denn das Leben eines Subjekts ist nichts anderes als das Dasein konkreter, individuierter Freiheit. Wenigstens zwei Fragen bleiben an dieser Stelle des Gedankengangs dann aber noch offen. Zum einen bleibt offen, wer eigentlich der Angesprochene jenes Anspruchsrechts ist: die Rechtsgemeinschaft als Ganzes oder, in bestimmten Fällen, die die Rechtsdogmatik „Notstand“ nennt, auch einzelne Glieder der Rechtsgemeinschaft. Fichtes Antwort auf diese Frage scheint eindeutig, behält er doch – wie die in § 18 und § 19 der „Grundlage des Naturrechts“ entwickelten Überlegungen zeigen – die Gewährleistung der Subsistenz offensichtlich dem
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
Staat vor, auch und gerade um den Vorrang des abwehrrechtlichen Charakters der Grundrechte nicht zu gefährden. 62 Erst Hegel wird darüber, wie noch zu sehen sein wird, hinausgehen und auch einen Anspruch gegenüber anderen Gliedern der Rechtsgemeinschaft bejahen, dies jedoch nur in zugespitzten Notsituationen. Die zweite offene Frage ist von beinahe noch größerer Tragweite. Um sie zu erläutern, muss weiter ausgeholt werden und der bisher erreichte Stand der Argumentation rekapituliert werden. Bisher konnte gezeigt werden, dass das Recht auf Leben – und zwar nicht entgegen dem Anerkennungsprinzip, sondern aufgrund des Anerkennungsprinzips – insofern eine Sonderstellung hat, als sein Anspruchscharakter, anders als bei allen anderen Rechten, nicht prinzipiell hinter dem Abwehrcharakter eventuell entgegenstehender Rechte zurücksteht. Dass es aber überhaupt Rechte mit einem Anspruchscharakter gibt, der normativ höherrangig sein kann als ein Abwehrrecht, war weiter oben als die Voraussetzung dafür ausgemacht worden, dass es überhaupt zu „Konflikten“ oder „Kollisionen“ zwischen Rechten kommen kann, wie sie in der zeitgenössischen Verfassungsrechtsdogmatik beständig behauptet werden. Denn wenn der grundsätzliche Vorrang von Abwehrrechten vor Ansprüchen auf Güter nicht zumindest an einer Stelle durchbrochen wäre, könnte es keine „Kollisionen“ zwischen Rechten geben, weil dann überhaupt nur Abwehrrechte auch „Rechte“ im strikten Sinn wären, Abwehrrechte aber, wie oben gezeigt, gar nicht miteinander kollidieren können und Ansprüche auf Güter generell sekundär gegenüber Rechten wären. Nur weil es ein Recht gibt, dessen Anspruchscharakter nicht generell hinter dem abwehrrechtlichen Charakter anderer Rechte zurücksteht, kann es überhaupt auch „abwägbare“ oder „einschränkbare“ Abwehrrechte geben. Wenn es nun jedoch in Form des Lebensrechts zumindest ein solches Recht gibt, taucht natürlich sofort die Frage auf, ob dessen Anspruchscharakter je nach Umständen alle Abwehrrechte übertrumpfen kann, ob also mithin alle Abwehrrechte grundsätzlich abwägbar bzw. einschränkbar sind. Oder ob eben nur einige Abwehrrechte zugunsten des Lebensrechts einschränkbar sind (als Beispiel für ein solches abwägbares Recht wurde bislang nur das Eigentumsrecht angeführt), andere aber nicht. Die Frage, die im Raum steht, ist also die, ob sich einschränkbare und nichteinschränkbare Abwehrrechte unterscheiden lassen, und, wenn ja, worauf diese Differenz dann beruhen würde. Diese Frage betrifft dann nicht zuletzt auch das Recht auf Leben selbst, hinsichtlich dessen dann geklärt werden müsste, ob in Konstellationen, wie wir sie in dem von Bernard Williams konstruierten „Jim und die Indios“-Exempel finden, die anspruchsrechtliche Dimension des Lebensrechts gegenüber dessen 62 Zu diesem Ergebnis kommt im Großen und Ganzen auch Jean-Christophe Merle in seinem Aufsatz über das Verhältnis von Notrecht und Eigentum bei Kant, Fichte und den klassischen Naturrechtsdenkern (vgl. Merle, Jean-Christophe: Notrecht und Eigentumstheorie im Naturrecht, bei Kant und Fichte. In: Fichte-Studien 11 [1997], S. 41–61).
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abwehrrechtlicher Dimension einen höheren Rang sollte beanspruchen können. Fichte kann diese Fragen letztlich deshalb nicht beantworten, weil er das Anerkennungsverhältnis lediglich als negatives Verhältnis der Abgrenzung von Freiheitssphären gegeneinander begreift. Das hat dann einerseits zur Folge, dass selbst das Recht auf Leben letztlich nach dem Modell des Eigentumsrechts verstanden werden muss; andererseits hat es zur Folge, dass der intuitiv einleuch tende Vorrang des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit vor den meisten anderen Rechten nur über die theoretisch unbefriedigende Gedankenfigur eines Bedingungsverhältnisses artikuliert werden kann: eine Gedankenfigur, die – wie eben gezeigt – dann wiederum zwangsläufig in die Dilemmata des Konsequenzialismus zurückfällt. Um auf die somit im Raum stehenden Fragen zu antworten, bedarf es also offensichtlich einer präziseren Bestimmung des Grundes der Differenz zwischen einschränkbaren und nichteinschränkbaren Rechten, als sie sich bei Fichte bislang andeutungsweise gezeigt hatte. Ein wichtiger Ansatz für eine solche präzisere Bestimmung findet sich in einigen verstreuten Anmerkungen Hegels in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“.
3. Unantastbare und abwägbare Rechte – eine Kriteriologie nach Hegel Obgleich auf den folgenden Seiten in erster Linie Hegels Unterscheidung von abwägbaren und unveräußerlichen Rechten Thema sein soll, ist es doch sinnvoll, kurz auf die Stellung Hegels innerhalb des gesamten Spektrums der vorliegenden Studie einzugehen. Auch Hegel stützt das Recht insgesamt auf eine Theorie der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekt, wie nicht zuletzt an Hegels Formulierung des von ihm so genannten „Rechtsgebots“: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“63 deutlich wird. Bei Fichte wurde diese Anerkennungsrelation in rechtspraktischer Hinsicht noch primär als Forderung einer gleichen Zuteilung von gegeneinander abgegrenzten Freiheitssphären ausbuchstabiert, mithin im Sinn der abwehrrechtlichen Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. Während diese Forderung auch für Hegel immer grundlegend bleibt64 , kommt Hegel das Verdienst zu, gesehen zu haben, dass der Anerkennungsbegriff seiner eigenen inneren Logik nach über die negative Abgrenzung von Freiheitssphären hinausweist. Den Gedankengang, mit dem Hegel sich an dieser Stelle von Fichte absetzt, kann man grob vereinfachend etwa so skizzieren: Gerade wenn endliche Subjektivität, um überhaupt 63 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 36 (Werke in 20 Bänden: Band 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel). Frankfurt a.M., 1. Aufl. 1986, S. 95 [Hervorhebung im Original]. 64 Nämlich in Form des „Abstrakten Rechts“.
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als Subjektivität sein und damit Freiheit verwirklichen zu können, auf eine Beziehung zu anderen Subjekten angewiesen ist, dann impliziert dieses „Bei-sichSein-im-anderen“ – bekanntlich Hegels „Definition“ des Geistes – immer schon mehr als nur eine negative Abgrenzung von Freiheitssphären. Vielmehr impliziert es positive Anerkennungsverhältnisse wie diejenigen der Liebe, der Freundschaft, der Ehe, des gegenseitigen Wohlwollens und nicht zuletzt der politischen, der religiösen und der kulturellen Gemeinschaft. Zugleich findet sich bei Hegel auch noch einmal expliziter als es bei Kant und Fichte der Fall ist, eine Auszeichnung des anerkennungstheoretisch transformierten Menschenwürde-Gedankens als des eigentlichen Grundes des Rechts, so wenn Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion ausführt: „Das Staatsgesetz ist Gesetz der Freiheit, setzt die Persönlichkeit, die Menschenwürde voraus.“65
Die Verknüpfung von Menschenwürde und Recht, die bei Kant noch derart implizit war, dass sie erst noch mühsam rekonstruiert werden musste, bei Fichte in Form des Anerkennungsprinzips dann schon klarer hervortrat, zeigt sich bei Hegel damit erstmals in einer Deutlichkeit, die kaum noch etwas zu wünschen übrig lässt. Stellt man vor diesem Hintergrund nun die Frage nach der Möglichkeit einer Differenzierung von abwägbaren und unabwägbaren Rechten an Hegels Rechtsphilosophie, so werden deren Kenner sicherlich zunächst an die Ausführungen zum Notrecht in § 127 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ denken. 66 Dort nämlich findet sich eben der Gedanke, dass es eine echte „Kollision“ zwischen dem Eigentumsrecht des einen Subjekts und dem Anspruch eines anderen Subjekts, das eigene Leben zu erhalten, geben könne, und dass diese „Kollision“, wo sie geschehe, zugunsten des Lebens aufgelöst werden müsse. Hegel fasst seinen Gedankengang lapidar in die Worte: „Die Besonderheit der Interessen des natürlichen Willens, in die einfache Totalität zusammengefasst, ist das persönliche Dasein als Leben. Dieses in der letzten Gefahr und in der Kollision mit dem rechtlichen Eigentum eines anderen hat ein Notrecht (nicht als Billigkeit, sondern als Recht) anzusprechen, indem auf der einen Seite die unendliche Verletzung des Daseins und darin die totale Rechtlosigkeit, auf der anderen Seite nur die Verletzung eines einzelnen beschränkten Daseins der Freiheit steht, wobei zugleich das
65 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen zur Philosophie der Religion I (Werke in 20 Bänden: Band 16, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel). Frankfurt a.M., 1. Aufl. 1986, S. 227. 66 Eine tiefgründige Erörterung von Hegels Konzeption des Notrechts findet sich in Michael Pawliks ausgezeichneter Studie „Der rechtfertigende Notstand“ (vgl. Pawlik, Michael: Der rechtfertigende Notstand. Zugleich ein Beitrag zum Problem strafrechtlicher Solidaritätspflichten. Berlin/New York 2001; dort insbesondere die Seiten 80–124). Ihr verdankt dieses Unterkapitel viel.
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Recht als solches und die Rechtsfähigkeit des nur in diesem Eigentum Verletzten anerkannt wird.“67
Und in einem mündlichen Zusatz ergänzt Hegel diese Überlegung anhand des klassischerweise als Beispiel für das „Notrecht“ herangezogenen sogenannten „Mundraubs“: „Das Leben als Gesamtheit der Zwecke hat ein Recht gegen das abstrakte Recht. Wenn es z. B. durch Stehlen eines Brotes gefristet werden kann, so ist dadurch zwar das Eigentum eines Menschen verletzt, aber es wäre unrecht, die Handlung als gewöhnlichen Diebstahl zu betrachten. Sollte dem am Leben gefährdeten Menschen nicht gestattet sein, so zu verfahren, daß er sich erhalte, so würde er als rechtlos bestimmt sein, und indem ihm das Leben abgesprochen würde, wäre seine ganze Freiheit negiert. […] Daher kann nur die Not der unmittelbaren Gegenwart zu einer unrechtlichen Handlung berechtigen, weil in ihrer Unterlassung selbst wieder das Begehren eines, und zwar des höchsten Unrechts läge, nämlich die totale Negation des Daseins der Freiheit […].“68
Auf den ersten Blick scheinen die Argumente Hegels sich nicht wesentlich von den Überlegungen zu unterscheiden, die weiter oben bereits im Anschluss an Fichte angestellt wurden. Das Recht auf Leben weist demnach die Besonderheit auf, dass das Ende des Lebens zugleich das in einem Individuum verkörperte Dasein der Freiheit beendet. Aus diesem Grund besitzt das Lebensrecht eine anspruchsrechtliche Dimension, für die es charakteristisch ist, dass sie nicht generell den Abwehrrechten nachgeordnet ist, sondern unter Umständen auch den Vorrang gegenüber einem Abwehrrecht beanspruchen kann. Dementsprechend resultiert der so artikulierte Vorrang, wie bereits gesehen, aus dem Anerkennungsprinzip selbst und nicht etwa daraus, dass diesem ein anderes Modell der Normativität entgegengesetzt oder unverbunden zur Seite gestellt würde, das auf geheimnisvolle Weise das Anerkennungsprinzip punktuell außer Kraft setzte. Michael Pawlik schreibt daher auch im Ergebnis einer Diskussion verschiedener Deutungen der Hegelschen Notrechtskonzeption präzise und treffend: „Entgegen den soeben behandelten Deutungen sind es bei Hegel nicht ‚Güter‘ oder güterbezogene Interessen, die in der Notstandssituation miteinander kollidieren, sondern die Freiheitsansprüche der Konfliktbeteiligten.“69
Pawlik ist auch darin zuzustimmen, dass er den Konflikt zwischen Lebensrecht und Eigentumsrecht als einen Konflikt zwischen zwei dialektischen Entwicklungsstufen intersubjektiver Normativität, nämlich zwischen abstraktem Recht und Moralität, oder genauer: zwischen der formal-allgemeinen Struktur des ab67 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 127 (Werke in 20 Bänden: Band 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel). Frankfurt a.M., 1. Aufl. 1986, S. 239 f. [Hervorhebungen im Original]. 68 Hegel a.a.O. Zusatz zu § 127, S. 240 f. 69 Pawlik a.a.O. S. 103.
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strakten Rechts und dem besonderen Recht auf Wohlergehen interpretiert. Pawlik kritisiert Hegel dann aber insoweit, als er die Auflösung dieses Konflikts nicht im Rahmen des Moralitätskapitels für möglich hält. Hegel hätte, so Pawlik, die Aufhebung des Konflikts konsequenterweise nicht in Form der Annahme eines „Notrechts“ im Moralitätskapitel verorten dürfen, sondern sie im Sittlichkeitskapitel verorten müssen. Pawlik schreibt dazu: „Hegel meint die ‚Aufhebung‘ des von ihm erkannten Widerspruchs bereits im systematischen Kontext seines Moralitätskapitels und mit den dort zur Verfügung stehenden argumentativen Mitteln – insbesondere mit dem Gedanken der Verallgemeinerungsfähigkeit von Handlungsmaximen – vornehmen zu können. Diese Auffassung überzeugt nicht; die von Hegel intendierte Auflösung des Notstandskonflikts ist erst auf der dritten Systemstufe seiner Rechtsphilosophie, der Stufe der Sittlichkeit, möglich.“70
Soweit Pawlik bei seinen Ausführungen nun offenbar nicht zuletzt die Auflösung gewissermaßen „gesamtgesellschaftlicher“ Notstände wie des Massenelends der frühen Industrialisierung im Blick hat, hat diese immanente Kritik an Hegel durchaus ihre Berechtigung. Nicht zutreffend ist sie aber für die Fälle individuellen Notstands, um die es Hegel im § 127 der „Grundlinien“ geht und die auch hier im Mittelpunkt stehen. Pawlik würdigt nämlich einen Gedanken in Hegels Ausführungen zu wenig, der gerade für die Frage nach der Möglichkeit einer Differenzierung zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten entscheidend ist. Dieser Gedanke besteht darin, dass zwischen einer Verletzung des Eigentumsrechts und einer Verletzung des Lebensrechts insofern eine wesentliche Differenz besteht, als beim Eigentumsrecht zwischen der Verletzung eines bestimmten Eigentumstitels und der Verletzung des Rechts, überhaupt als Träger des Eigentumsrechts anerkannt zu werden, unterschieden werden kann. Diese Unterscheidung ist beim Recht auf Leben nicht möglich, da jede Verletzung des Lebensrechts das gesamte Dasein des Subjekts betrifft. Beim Recht auf Eigentum sind also partielle Verletzungen möglich, da das Eigentumsrecht seiner eigenen inneren Logik nach in eine Vielzahl miteinander unverbundener Eigentumstitel zerfällt. Verletzungen bzw. Aufhebungen des Lebensrechts stellen demgegenüber immer die Subjektivität des anderen als solche und im Ganzen in Frage. Diese Feststellung verweist nun bereits auf eine allgemeine Theorie der Differenzierung von Rechten, die Hegel nicht erst im Moralitätskapitel, sondern auch bereits innerhalb des „Abstrakten Rechts“ formuliert: die Differenzierung zwischen Rechten, die die Subjektivität des anderen nur in partieller und äußerlicher Hinsicht betreffen, und Rechten, die diese Subjektivität in einer nichtäußerlichen Hinsicht und als ganze betreffen. Wohl am klarsten spricht Hegel diese Differenz in § 96 der „Grundlinien“ an, wenn er schreibt:
Pawlik a.a.O. S. 103 f.
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„Insofern es der daseiende Wille ist, welcher allein verletzt werden kann, dieser aber im Dasein in die Sphäre eines quantitativen Umfangs sowie qualitativer Bestimmungen eingetreten ist, somit danach verschieden ist, so macht es ebenso einen Unterschied für die objektive Seite der Verbrechen aus, ob solches Dasein und dessen Bestimmtheit überhaupt in ihrem ganzen Umfang, hiermit in der ihrem Begriffe gleichen Unendlichkeit (wie in Mord, Sklaverei, Religionszwang usf.), oder nur nach einem Teile, sowie nach welcher qualitativen Bestimmung verletzt ist.“71
Diese Passage macht deutlich, dass der Unterschied zwischen beiden Kategorien von Rechten bereits im „Abstrakten Recht“ verankert ist und der Konflikt zwischen „Recht“ und „Wohl“ dementsprechend auch kein Konflikt ist, der an das „Abstrakte Recht“ bloß von außen durch die Moralität herangetragen würde. Vielmehr liegt der Grund für jenen Unterschied – und damit auch für die Rechte-Kollision, die Hegel im Moralitätskapitel behandelt – in dem Umstand, dass das „Dasein des Willens“, von dem Hegel hier redet, in zwei grundlegend verschiedenen Formen auftreten kann: einmal in der Form der Lebendigkeit des eigenen Leibes und seiner Betätigungen, zum anderen in der Form der angeeigneten Sache, d. h. des Eigentums. Ohne an dieser Stelle nun erschöpfend Hegels komplexe Theorie des Eigentumsbegriffs nachzeichnen zu können, dessen Entfaltung Hegel mehr oder weniger das gesamte Kapitel zum „Abstrakten Recht“ widmet, kann man vereinfachend wohl festhalten, dass das Eigentum in Hegels Konzeption dadurch gekennzeichnet ist, dass Eigentum und Besitz vollständig veräußerte Formen des personalen Willens darstellen.72 Bei der Genese von „Eigentum“ wird der personale Wille gleichsam in eine äußere Sache verlegt. Die Bewegung der Aneignung einer Sache, die sie in Eigentum verwandelt, ist deshalb immer zugleich auch eine Bewegung in die Gegenrichtung, bei der die Personalität sich selbst – und zwar notwendigerweise – äußerlich wird. Erst diese Veräußerlichung, die dazu führt, dass es nun Dinge gibt, bei denen der eigene Wille nicht mehr unmittelbar mit der Lebendigkeit des eigenen Leibs zusammenfällt, macht es überhaupt möglich, über die betreffende Sache wiederum Verträge abzuschließen, sie aufzugeben, zu verkaufen, zu tauschen, zu verschenken – kurz: sie zu veräußern und zu entäußern: „Meines Eigentums kann ich mich entäußern, da es das meinige nur ist, insofern ich meinen Willen darein lege – so daß ich meine Sache überhaupt von mir als herrenlos lasse (derelinquiere) oder sie dem Willen eines anderen zum Besitzen überlasse, – aber nur insofern die Sache ihrer Natur nach ein Äußerliches ist.“73
Anders verhält es sich bei der eigenen Leiblichkeit, dem gewissermaßen „innerlichen Äußeren“, in dem Subjektivität und äußeres Dasein die – zwar nicht für einen selbst, aber für jedes andere Subjekt – unmittelbare Einheit des Lebens Hegel a.a.O. § 96, S. 183. Vgl. zur Entfaltung des Eigentumsbegriffs die §§ 40–81 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (Hegel a.a.O. S. 98–172). 73 Hegel a.a.O. § 65, S. 140 [Hervorhebungen im Original]. 71
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
bilden, und erst recht da, wo die Subjektivität des Einzelnen in ihrer Innerlichkeit auf dem Spiel steht, wie im Fall der Religionsfreiheit. Zur Einheit von Körperlichkeit und Subjektivität führt Hegel dementsprechend aus: „Der Körper, insofern er unmittelbares Dasein ist, ist er dem Geiste nicht angemessen; um williges Organ und beseeltes Mittel desselben zu sein, muß er erst von ihm in Besitz genommen werden (§ 57). – Aber für andere bin ich wesentlich ein Freies in meinem Körper, wie ich ihn unmittelbar habe. Nur weil ich als Freies im Körper lebendig bin, darf dieses lebendige Dasein nicht zum Lasttiere mißbraucht werden. Insofern ich lebe, ist meine Seele (der Begriff und höher das Freie) und der Leib nicht geschieden, dieser ist das Dasein der Freiheit.“74
Aus dieser gegenüber dem Eigentum grundlegend anderen Form des Daseins der Subjektivität resultiert dann, dass diejenigen Rechte, die sich auf die Subjektivität in ihrer innerlichen Form bzw. in Form der „innerlichen Äußerlichkeit“ des Leibes beziehen, auch in einer normativen Hinsicht „unveräußerlich“ sind. „Unveräußerlich“ bedeutet dabei zunächst, dass die Bestimmungen, auf die sich diese Rechte beziehen, nicht in der Weise veräußerbar sind wie Eigentum, also nicht getauscht, verkauft etc. werden können. Hegel charakterisiert diesen Zusammenhang wie folgt: „Unveräußerlich sind daher diejenigen Güter oder vielmehr substantiellen Bestimmungen, sowie das Recht an sie unverjährbar, welche meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion […]. Beispiele von Entäußerung der Persönlichkeit sind Sklaverei, Leibeigenschaft, Unfähigkeit Eigentum zu besitzen, die Unfreiheit desselben usf.; Entäußerung der intelligenten Vernünftigkeit, Moralität, Sittlichkeit, Religion kommt vor im Aberglauben, in der anderen eingeräumten Autorität und Vollmacht, mir, was ich für Handlungen begehen solle (wenn einer sich ausdrücklich zum Raube, Morde usf. oder zur Möglichkeit von Verbrechen verdingt), mir, was Gewissenspflicht, religiöse Wahrheit sei usf., zu bestimmen und vorzuschreiben.“75
Auch wenn Hegel in dieser Passage speziell von der „Unveräußerlichkeit“ der betreffenden Rechte spricht – also davon, dass diese Rechte in der Hinsicht nicht zur Disposition des Rechtssubjekts stehen, dass es sie nicht wie ein Eigentumsobjekt an andere veräußern kann –, wird im Zusammenhang der weiteren zitierten Passagen doch deutlich, dass die Differenz zwischen veräußerbaren und unveräußerlichen Rechtstiteln zugleich eine kategoriale Differenz zwischen abwägbaren und unabwägbaren, einschränkbaren und unantastbaren Rechten markiert. Unabwägbar und unantastbar sind demnach alle diejenigen Rechte, die eine Person nicht in einem bloß partikularen und äußerlichen Aspekt ihres Subjekt-Seins betreffen, sondern im Ganzen ihres Subjekt-Seins. Dazu gehören sowohl das Recht auf Leben wie auch die Glaubens- und Gewis Hegel a.a.O. § 48, S. 111 f. Hegel a.a.O. § 66, S. 141.
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IV. Antastbare und unantastbare Rechte
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sensfreiheit und nicht zuletzt das Recht, seitens des Rechtssystems überhaupt als Träger von Rechten und als Gleicher anerkannt zu sein.76 Abwägbar wären dagegen diejenigen Rechte, die sich lediglich auf Aspekte des Daseins der Subjektivität beziehen, die der Subjektivität selbst bereits äußerlich sind. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang in erster Linie das Eigentumsrecht, das das eigentliche Paradigma eines solchen „äußerlichen Rechts“ bildet. Eben weil das Eigentumsrecht ein solches äußerliches Recht ist, kann es überhaupt in einzelne unverbundene Eigentumstitel auseinanderfallen. Diese Partikularität, die es – wie oben gesehen – allererst ermöglicht, dass eine Einschränkung des Eigentumsrechts nicht zugleich immer schon seine vollständige Negation darstellt, resultiert insofern aus dem Äußerlichkeitscharakter des Eigentums selbst. Das bedeutet dann aber wiederum, dass das Eigentumsrecht legitimerweise auch nur hinsichtlich einzelner Eigentumstitel abgewogen werden kann, und das auch nur, wo es in einer akuten Notlage in Konflikt mit einem unabwägbaren Recht steht. Eine vollständige Aufhebung des Eigentumsrechts, die darin bestünde, dass einem Subjekt die Fähigkeit abgesprochen würde, überhaupt Eigentümer zu sein, wäre demgegenüber unzulässig, da eine solche Aufhebung die Rechtssubjektivität des Betroffenen negieren würde.77 Gerade anhand dieses Beispiels wird nun auch deutlich, dass die Differenz zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten an das Prinzip der wechselseitigen subjektiven Anerkennung nicht von außen herangetragen wird, sondern sich aus der inneren Logik des Daseins der Freiheit selbst ergibt. Es wird hier also auch nicht ein konsequentialistisches, auf Güter- und Interessenverrechnungen beruhendes Modell der Normativität dem deontologischen Normativitätsmodell der Anerkennungsrelation entgegengestellt. Vielmehr zeigen die hier angestellten Überlegungen in gewisser Weise überhaupt erst, wie es 76 Anhand der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes lässt sich das Gesagte leicht illustrieren. Wird der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, so bedeutet dies, dass der Betroffene lediglich als Mitglied und Repräsentant einer Gruppe beurteilt und behandelt wird, nicht aber als individuelle Person und Rechtssubjekt. Da die Anerkennungsrelation aber immer individuellen Personen als solchen gelten muss, wird die Anerkennungsrelation bei einer Verletzung des Gleichheitsgebots grundsätzlich und nicht bloß in einer äußeren Hinsicht verfehlt. 77 Dieser Punkt betrifft etwa Enteignungen, bei denen den Betroffenen der Status möglicher Träger des Eigentumsrechts überhaupt abgesprochen wird, erst recht, wenn diese Enteignungen alleine gegen die Angehörigen einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppe gerichtet sind. Dazu zählen die „Arisierungen“ des NS-Regimes ebenso wie die Enteignung und Vertreibung von 14 Mio. Deutschen in den Jahren 1945/46. Diese verletzten nicht abwägbare, sondern unabwägbare Rechte: einmal aufgrund der religiösen bzw. ethnischen Selektivität der Verletzung des Eigentumsrechts, die dem Gleichheitsgrundsatz zuwiderläuft; zum anderen, da den Betroffenen de facto das Recht abgesprochen wurde, überhaupt Eigentümer von etwas zu sein. Dementsprechend haben die Opfer dieser Verbrechen und ihre Nachkommen auch ein unverjährbares und unveräußerliches Recht auf die Rückgabe jedes einzelnen Teils des ihnen geraubten Besitzes und die Enteignerstaaten eine unbedingte, rechtliche wie moralische Pflicht zur Rückgabe.
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6. Kapitel: Unbedingte Pflichten und unabwägbare Rechte
zum konsequentialistischen Gedanken einer Verrechenbarkeit von Gütern und Interessen kommen kann und in welcher Hinsicht der Konsequentialismus seine Berechtigung hat. Er hat sie nämlich genau da, wo Rechte und Güter selbst in der Weise äußerlich und partikular sind, dass sie ihrem eigenen Wesen nach verrechenbar werden. Falsch wird der Konsequentialismus erst da, wo er die so gezogene Grenze überschreitet und versucht, das Prinzip der Verrechnung von Rechten und Gütern auch auf nichtäußerliche und nichtpartikulare Rechte wie das Lebensrecht oder die Glaubensfreiheit anzuwenden. Bei der so gewonnenen Differenzierung zwischen abwägbaren und unantastbaren Rechten handelt es sich demgemäß also gerade nicht um eine ihrerseits konsequentialistisch begründete Differenzierung, die auf einer Hierarchisierung von Gütern, Interessen oder Präferenzen beruhen müsste. Eine derartige konsequentialistische Hierarchisierung könnte als solche gerade keine Unabwägbarkeit begründen. Denn jeder Versuch, so etwas wie unabwägbare Rechte oder Rechtspflichten auf der Grundlage von Güter- oder Präferenzhierarchien zu begründen, muss zwangsläufig scheitern, da im Rahmen einer solchen Begründung spätestens in den Fällen, in denen gleich hochrangige Güter einander entgegenstehen (das berüchtigte „Leben gegen Leben“), die Unabwägbarkeit aufgegeben werden müsste. Das ist aber nicht der Fall, wo eine Rekonstruktion unabwägbarer Rechte ohne Umweg über Güter oder Präferenzen aus der Dialektik des raumzeitlichen Daseins freier Subjektivität und der intersubjektiven Anerkennungsbeziehung entwickelt wird. Es ist an dieser Stelle denn auch wichtig zu betonen, dass Hegels Überlegungen keineswegs – wie es noch bei Fichte der Fall zu sein scheint – auf eine Art „transzendentale Güterhierarchisierung“ hinauslaufen, bei der das Leben deshalb über andere Güter gestellt würde, weil es die Voraussetzung der Freiheit und damit nicht zuletzt auch der Realisierung aller anderen Güter darstellt. Ginge es nämlich lediglich darum, das Leben als eine Art „höchstes Gut“ auszuzeichnen, so würden wir wieder in all die moralischen Dilemmata des Konsequenzialismus zurückfallen, aus denen wir uns durch den Rekurs auf die anerkennungstheoretische Grundlegung der Normativität befreit haben. Wir könnten z. B. wieder nicht erklären, warum es unzulässig sein sollte, einen Menschen zu ermorden, wenn dadurch die Leben von fünf oder fünfzig Menschen gerettet werden könnten oder diese sogar ihrerseits vor der Ermordung durch einen Dritten bewahrt werden könnten. Wenn demgegenüber die hier vorgelegte Rekonstruktion von Hegels Überlegungen richtig ist, so zielen diese darauf ab, aus dem Anerkennungsprinzip selbst einen normativitätslogischen Unterschied zwischen zwei Gattungen von Rechten herzuleiten: Auf der einen Seite steht eine Gattung von Rechten, die von vorneherein nur eine veräußerlichte und quantifizierbare Seite von Personalität betreffen, so dass ihre partielle Aufhebung in bestimmten Fällen mit dem Anerkennungsprinzip vereinbar bleibt. Auf der anderen Seite aber steht eine Gattung von Rechten, deren situa-
IV. Antastbare und unantastbare Rechte
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tions- und folgenunabhängige Unbedingtheit bzw. Unabwägbarkeit vom Staat gewährleistet werden muss, da jede Verletzung eines solchen Rechts mit dem Anerkennungsprinzip prinzipiell unvereinbar ist.
2. Exkurs
Die Würde des Menschen und das Verbot der Sklaverei – ein Fallbeispiel
Wie im vorigen Kapitel gesehen, nennt Hegel unter denjenigen Rechten, die als „unveräußerlich“ zu gelten haben, das Recht, nicht versklavt zu werden. Ja mehr noch, in einer Erörterung Hegels über die Sklaverei in der Antike findet sich sogar einer der wenigen Stellen, in denen Hegel den Menschenwürdebegriff explizit thematisiert und vor der Negativfolie der Sklaverei als Grundlage universeller Menschenrechte herausarbeitet. In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion stellt Hegel fest hinsichtlich der Antike fest: „Es fehlt noch das Bewusstsein der unendlichen Subjektivität des Menschen, dass die sittlichen Verhältnisse und das absolute Recht dem Menschen als solchem zukommen, dass er dadurch, dass er Selbstbewußstsein ist, in dieser formellen Unendlichkeit das Recht wie die Pflicht der Gattung hat. Freiheit, Sittlichkeit, ist das Substantielle des Menschen, und dieses als das Substantielle zu wissen und seine Substantialität darein zu setzen, ist der Wert und die Würde des Menschen […] Weil nun in der unbefangenen Sittlichkeit die Unendlichkeit der formellen Subjektivität nicht anerkannt ist, daher kommt dem Menschen als solchem nicht die absolute Geltung zu, dass er an und für sich gelte, mag er in seiner inneren Erfüllung se in, wie er will, da oder dort geboren, reich oder arm, diesem oder jenem Volke angehörig. Die Freiheit oder Sittlichkeit ist noch eine besondere und das Recht des Menschen mit einer Zufälligkeit behaftet, so dass Sklaverei stattfindet.“1
Das Recht, nicht versklavt zu werden – und seine Charakterisierung als „unveräußerlich“ – eignet sich vor diesem Hintergrund sehr gut, um einerseits noch einmal einen Blick auf die gesamte geistesgeschichtliche Entwicklung des Menschenwürdebegriffs zu werfen, andererseits aber auch, um einige Fragen im Hinblick auf die rechtliche Anwendung des Begriffs zu klären. Die Verurteilung der Sklaverei als einer der Menschenwürde auf ganz besondere Weise unangemessenen Praxis durchzieht im Grunde die gesamte Geschichte des Menschenwürdebegriffs. Das ist insofern kaum verwunderlich, als der Begriff der Menschenwürde durch seine gesamte Geschichte hindurch immer als ein Gegenbegriff zu innerer oder äußerer Heteronomie, zu Knechtschaft, zum „Be1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Werke in 20 Bänden: Band 17, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel). Frankfurt a.M., 1. Aufl. 1986, S. 128 f.[Hervorhebungen im Original].
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2. Exkurs: Die Würde des Menschen und das Verbot der Sklaverei
wegt-Werden durch andere(s)“ konzipiert worden ist und damit als Begriff, der auf das Engste mit dem Ideal, als Vernunftwesen „sein eigener Herr zu sein“, verknüpft war. Was sich dabei änderte, waren freilich die Akzentsetzungen. So hatte die Stoa lediglich die vernünftige Kontrolle über die eigenen Untugenden und Triebe im Blick, während bei den frühchristlichen Theologen häufig die Herrschaft über die Natur, das dominium terrae, eine wesentliche Rolle spielte. In der hochmittelalterlichen Scholastik kommt dann bei Thomas von Aquin der Gedanke zum Durchbruch, dass die Vernunftnatur und Selbstbewegtheit des Menschen – die ihn ontologisch von allen anderen, durch „Knechtschaft“ charakterisierten Lebewesen unterscheidet – mit einer Benutzung von Menschen als „Instrumenten“ prinzipiell unvereinbar ist. Ist dieser Schritt erst einmal gedanklich vollzogen, so ist die Ablehnung jeder Form der Sklaverei bereits unvermeidlich geworden und nur noch eine Frage der politischen Durchsetzung – einer Durchsetzung, die freilich im Zusammenhang der Kolonisierung Amerikas einen herben, Jahrhunderte andauernden Rückschlag erleiden musste. Es ist vor diesem Hintergrund auch kaum verwunderlich, dass der erste Beleg einer Verwendung des Menschenwürdebegriffs in einem Rechtstext sich eben in einem Dekret zur Abschaffung der Sklaverei findet. Gemeint ist damit das Décret de l’abolition de l’esclavage, einer der ersten Rechtsakte der provisorischen Regierung Frankreichs im Revolutionsjahr 1848, in dem die Abschaffung der Sklaverei ausdrücklich damit begründet wird, dass die Sklaverei ein „Anschlag auf die Menschenwürde“ sei: „Considérant que l‘esclavage est un attentat contre la dignité humaine […]“.2 Der Begriff der Menschenwürde tritt mithin in den Bereich des positiven Rechts eben anhand der Sklaverei als derjenigen Institution ein, die – neben der Tötung – die äußere Heteronomie im denkbar größten Ausmaß verwirklicht hat. Ungeachtet dieses rechts- und geistesgeschichtlich vielsagenden Befundes stellen Hegels Ausführungen freilich auch in systematischer Hinsicht eine Herausforderung dar. Wenn Hegel das Recht, nicht versklavt zu werden, als „unveräußerliches“ Recht kennzeichnet, so meint er damit, wie der ganze Kontext seiner Ausführungen zeigt, dass nicht alleine die unfreiwillige Versklavung illegitim ist, sondern auch der hypothetische Fall „freiwilliger Sklaverei“ durch einen auf dem Anerkennungsprinzip basierenden Rechtsstaat untersagt werden müsste. „Unveräußerlich“ ist hier also insofern tatsächlich wörtlich zu verstehen, als der Einzelne über sein Recht, nicht Sklave zu sein, nicht selbst verfügen kann und es dementsprechend auch nicht wie einen Eigentumstitel veräußern kann. Dieser Befund scheint dann aber gerade dem begrifflichen Gehalt dessen, was ein „Recht“ ausmacht, zu widersprechen; war unter einem Recht doch bis2 Décret relatif à l’abolition de l’esclavage dans les colonies et les possessions françaises du 27 avril 1848. Im Internet unter: http://www.assemblee-nationale.fr/histoire/esclavage/ decret1848.asp (zuletzt abgerufen am 19. Februar 2013).
2. Exkurs: Die Würde des Menschen und das Verbot der Sklaverei
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lang eine Befugnis verstanden worden, andere von der Verfügung über den eigenen Leib und die eigene Unversehrtheit ausschließen zu dürfen – nicht aber, sie davon ausschließen zu müssen. Die Rede von „unveräußerlichen“ Rechten scheint mithin einfach eine andere Formulierung für das zu sein, was innerhalb der Verfassungsrechtsdogmatik als die „objektiv-rechtliche“ Lesart der Menschenwürdegarantie ausgemacht wurde. Diese wurde allerdings bereits dahingehend kritisiert, dass sie die Schranke zwischen Recht und Moral nicht hinreichend beachte, indem sie Tugendpflichten gegen sich selbst als erzwingbare Rechtspflichten behandele.3 Vor diesem Hintergrund eignet sich die Frage der Sklaverei wie kaum eine andere, um einen legitimen Sinn der „objektiv-rechtlichen“ Lesart herauszuarbeiten und gegenüber einem problematischen Verständnis abzugrenzen. Dafür ist es wichtig, sich zunächst klarzumachen, auf welche Weise ein Rechtssystem, das die Sklaverei untersagt, dies eigentlich genau tut. Im Fall der „unfreiwilligen“ Sklaverei ist dies einfach anzugeben: derartige Sklaverei fällt einfach unter die strafrechtlichen Tatbestände der Nötigung, der Freiheitsberaubung, der Körperverletzung usf. Die „freiwillige“ Sklaverei fällt demgegenüber nur da in die Regelungskompetenz des Staates, wo sie durch einen zivilrechtlichen Vertrag gestiftet werden soll, d. h. in dem Fall, dass ein Subjekt A mit einem Subjekt B vertraglich vereinbaren würde, sich von B versklaven zu lassen. Für einen Staat stellt sich in einem solchen Fall die Frage, ob er einen solchen Vertrag als gültigen, seinen Rechtsfolgen nach erzwingbaren Vertrag behandelt oder nicht. Die „freiwillige Sklaverei“ zu verbieten besteht folglich in nichts anderem als darin, einen solchen privatrechtlichen Versklavungsvertrag nicht als einen gültigen Vertrag zu behandeln. Behandelt das Rechtssystem den Versklavungsvertrag als ungültig, so bedeutet das nämlich, dass der vermeintliche „Sklavenhalter“ keinerlei rechtliche Handhabe hat, gegenüber dem vermeintlichen „Sklaven“ die Erfüllung des Vertrags rechtlich zu erzwingen. Versucht er es dagegen eigenmächtig, durch Gewalt und Drohung, so realisiert er wiederum die Tatbestände der Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung etc. und muss dafür entsprechend strafrechtlich belangt werden. Verhält sich dagegen A aus völlig freien Stücken so, als ob er Sklave von B wäre, so geht dies das Recht nichts an. Die „freiwillige Sklaverei“ zu verbieten bedeutet also nicht, dass der Staat eine Pflicht A’s gegen sich selbst rechtlich erzwingen würde; vielmehr bedeutet es „nur“, dass jeglicher „Versklavungsvertrag“ seitens eines Staates, der auf dem Anerkennungsprinzip beruht, notwendigerweise als ein prinzipiell ungültiger und damit nicht erzwingbarer Vertrag behandelt werden muss. Davon abgesehen bleibt es A unbenommen, so lange den Sklaven von B zu spielen, wie er möchte – aber eben nur so lange, wie A dies möchte, und nicht so lange, wie B es möchte. Das Recht, nicht versklavt zu werden, wird dementsprechend durch das Anerkennungs Vgl. Kapitel 2, II (S. 41 ff.) der vorliegenden Arbeit.
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2. Exkurs: Die Würde des Menschen und das Verbot der Sklaverei
und Menschenwürdeprinzip insofern als ein im wörtlichen Sinn „unveräußerliches“ Recht gesetzt, als die mit der Sklaverei auf dem Spiel stehende eigene Rechtssubjektivität seitens des Rechtssystems nicht als ein möglicher Gegenstand eines gültigen Veräußerungsvertrags betrachtet wird. Ebendies unterscheidet das Verbot der Sklaverei und analoge denkbare Fälle, wie z. B. einen Vertrag über die eigene Tötung, grundsätzlich von der staatlichen Erzwingung von Tugendpflichten gegen sich selbst, wie sie im Rahmen der „objektiv-rechtlichen“ Lesart der Menschenwürdegarantie häufig von Gerichten und juristischen Kommentatoren postuliert wird. Beschränkt man die „objektiv-rechtliche“ Lesart demgegenüber in der Weise, die hier im Anschluss an Hegel dargelegt wurde, darauf, die Feststellung der prinzipiellen Ungültigkeit von Verträgen, die eine Veräußerung der eigenen Rechtssubjektivität zum Inhalt haben sollen, festzuschreiben, so hat sie durchaus ihren Sinn und ihre Berechtigung. Auch der Grund, der es einem Rechtsstaat unmöglich macht, einen Vertrag über die Veräußerung der Rechtssubjektivität als gültigen Vertrag zu behandeln, ist nun leicht zu sehen. Dieser Grund besteht nicht allein darin, dass ein solches Vorgehen widersprüchlich ist, da ein derartiger Vertrag nur auf der Grundlage derjenigen Rechtssubjektivität möglich ist, die durch ihn gerade negiert werden soll. Der tiefere und eigentliche Grund liegt vielmehr darin, dass ein einzelnes Mitglied der Anerkennungsgemeinschaft über sich selbst überhaupt nicht im Alleingang beschließen kann, von den anderen Mitgliedern der Anerkennungsgemeinschaft nicht als Rechtssubjekt anerkannt zu werden. Das ist zum einen der Fall, da die Anerkennung als Rechtssubjekt immer eine wechselseitige Anerkennung aller Subjekte einer Rechtsgemeinschaft ist, über die der Einzelne schon aufgrund der Wechselseitigkeit nicht verfügen kann; zum Zweiten, da diese Anerkennung die Grundlage des Rechts als solches bildet, und drittens, da die Anerkennung als Rechtssubjekt notwendig mit dem Begriff eines freien Subjekts verbunden ist. Überhaupt als Rechtssubjekt anerkannt und behandelt zu werden, ist dementsprechend nichts, über das ein Einzelner verfügen, das er tauschen, verschenken oder veräußern könnte. In diesem und nur in diesem Sinn hat die Menschenwürdegarantie auch eine „objektiv-rechtliche“ Dimension.
7. Kapitel
Menschenwürde als Rechtsprinzip „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)
I. Die Würde des Menschen zwischen Pflichten gegen sich selbst und intersubjektiver Normativität In den vorigen Kapiteln wurde die Entwicklung des Menschenwürdebegriffs von den antiken Wurzeln über den mittelalterlichen Gebrauch des Begriffs bis in die philosophische Moderne und in das zeitgenössische Recht nachgezeichnet. Es hat sich gezeigt, dass und wie der Begriff mit dem Beginn der modernen Subjektphilosophie bei Kant in zwei auf das Innigste miteinander verschränkten Punkten eine Neubestimmung erfährt. Dabei handelt es sich zum einen um den normativen Gehalt und den normativen Status des Begriffs und zum anderen um eine neue, nun transzendentalphilosophische Begründung. Während der Menschenwürdebegriff von seinen Anfängen in der Stoa bis weit in die frühe Neuzeit hinein ein evaluatives Konzept bildete, das lediglich Pflichten gegen sich selbst begründete, eröffnet sich dem Begriff spätestens bei Kant auch die Dimension intersubjektiver Normativität. Der Begriff der „Würde des Menschen“ beschreibt bei Kant den Umstand, dass jedes autonome Vernunftwesen sich selbst und jedes andere autonomen Vernunftwesen allein aufgrund der Fähigkeit zu autonomem Handeln notwendigerweise als „Zweck an sich“ betrachten muss und dass daraus wiederum die Pflicht folgt, sich selbst und andere Vernunftwesen auch als „Zwecke an sich“ zu behandeln. Der Begriff des „Zwecks an sich“ wiederum bringt in diesem Zusammenhang zum Ausdruck, dass jedes vernünftige Subjekt notwendigerweise sein eigenes Sein als Subjekt und das Sein als Subjekt aller anderen Subjekte anstrebt. Die notwendige und hinreichende Bedingung des Subjekt-Seins schließlich ist wiederum die Fähigkeit, autonom zu handeln, d. h. sich im Handeln nicht an den eigenen Neigungen und Trieben, sondern am Gedanken einer verallgemeinerbaren Gesetzgebung auszurichten. Die Begründung von Normativität ist bei Kant damit eine strikt reflexive Begründung, in der die Autonomie sowohl den Grund der Normativität darstellt, wie sie deren Gehalt in Gestalt des Verallgemeinerbarkeitsgedankens bildet. „Menschenwürde“ ist in Kants Praktischer Philosophie da-
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
mit kein „Wert“, nicht einmal ein „Höchstwert“ oder etwas von „unendlichem Wert“, der Menschen in irgendeiner substantiellen Weise einfach zukäme und ihnen gegenüber die Beachtung bestimmter Pflichten einfordern würde. Vielmehr bezeichnet der Begriff der „Menschenwürde“ bei Kant diejenige Reflexionsbewegung, bei der sich aus dem notwendigen Selbstverständnis autonomiefähiger Vernunftwesen der normative Gedanke der Universalisierbarkeit ergibt. Diese Reflexionsbewegung liegt dann, in einer bei Kant noch nicht ganz artikulierten Weise, letztlich auch der Rechtsidee als dem Prinzip der Einschränkung der äußeren Handlungsfreiheit zum Zweck der Ermöglichung der Handlungsfreiheit aller Subjekte zugrunde. Mit dem Gesagten wird deutlich, inwieweit der Menschenwürdebegriff Kants an den traditionellen Menschenwürdebegriff anknüpft und inwieweit er damit bricht. Wie gesehen, ist es für den Menschenwürdebegriff der Tradition von Cicero bis in die frühe Neuzeit eigentümlich, dass aus dem Selbstverständnis als Vernunftwesen ein besonders hervorgehobener und positiv bewerteter Status von Lebewesen der Spezies „Mensch“ innerhalb der Natur bzw. der Schöpfungsordnung hergeleitet wird. So wie bei sozialen Würden oder Amtswürden der besondere Status mit bestimmten Verhaltensanforderungen verknüpft ist – z. B. an Personen, die das Amt eines Staatspräsidenten bekleiden –, wird dann bereits bei Cicero die aus der Vernunftnatur hergeleitete Würde des Menschen mit dem Gedanken verknüpft, dass ein solches Vernunftwesen bestimmte Pflichten gegen sich selbst habe. Dass mit dem Gedanken der dignitas hominis Pflichten gegen andere verknüpft werden könnten, wäre von der Grundstruktur der sozialen Würde oder Amtswürde her zwar auch denkbar, denn immerhin gibt es auch gegenüber einem Amtsträger – wie etwa einem Staatspräsidenten – jeweils besondere Pflichten. Dieser Schluss wird allerdings in den gesamten antiken und spätantiken, und größtenteils auch in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen, Lehren von der dignitas hominis nicht vollzogen. „Menschenwürde“ bleibt dementsprechend bis zu Kant ein Begriff, der im Wesentlichen Pflichten gegen sich selbst als Vernunftwesen impliziert. Es ist offenkundig, dass Kant in seinem Neuansatz der Praktischen Philosophie in sofern an die Grundstruktur des Würdebegriffs anknüpft, als bei ihm die Begründung von Normativität überhaupt über eine Gedankenfigur des „Selbstverständnisses als Vernunftwesen“ erfolgt. Allerdings gewinnt diese Gedankenfigur bei Kant den Charakter einer transzendentalphilosophischen Begründung, wie sie dem traditionellen Menschenwürdebegriff noch gänzlich fremd war. Die Pflichten gegen sich selbst, die in diesem als impliziert galten, waren genau genommen gar nicht weiter begründet. Stattdessen orientierte man sich einfach am Modell der sozialen, administrativen und politischen Würden, bei denen das Innehaben eines Amtes oder eines sozialen Status mit bestimmten Pflichten gekoppelt war. Die Kopplung von sozialen und politischen Würden mit bestimmten Verhaltenspflichten war allerdings ihrerseits eine jeweils kon-
I. Die Würde des Menschen zwischen Pflichten gegen sich selbst
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tingente soziale Setzung. Dass ein römischer Senator in bestimmter Weise zu schreiten oder zu sprechen hatte, um seinem Amt gerecht zu werden, ist etwa eine solche historisch und gesellschaftlich kontingente Setzung. Streng genommen lässt sich dieses Modell daher gar nicht anwenden, wenn man – wie bei Cicero geschehen – die logisch-normative Struktur der sozialen Würden auf den Menschen als Vernunftwesen überträgt und sie damit universalisiert. Geschieht dies nämlich, so bedarf es einer Verknüpfung von Status und Norm, die mehr ist als eine bloße gesellschaftliche und damit kontingente Setzung. Der Status als Vernunftwesen und die daraus folgenden Normen müssen vielmehr notwendig, mithin unabhängig von menschlicher Setzung miteinander verknüpft sein, wenn jener Status unbedingte Pflichten soll begründen können. Angelegt ist eine solche notwendige Verknüpfung bereits in den Bemerkungen Thomas von Aquins zur dignitas hominis und zur Selbstzwecklichkeit des Menschen, hier jedoch theologisch vermittelt über eine von Gott vollzogene, gewissermaßen „vertikale“ Anerkennung jedes Menschen als eines freien Vernunftwesens. Diese Anerkennung drückt sich in dem Gedanken aus, Gott sorge sich um die Menschen um ihrer selbst willen, während er sich um die übrigen Entitäten der Schöpfung lediglich um der Menschen willen sorge. Indem Kant dann die reflexive Einsicht vernünftiger Wesen in die eigene Fähigkeit zu autonomem Handeln zur Grundlage der Normativität macht, greift er die Gedanken der Selbstzwecklichkeit und des „Selbstverständnisses als Vernunftwesen“ auf, gibt diesen aber eine neue, transzendentalphilosophische Bedeutung. Dementsprechend vermag Kants Neuansatz auch die Begründungslücke, die bei Cicero zu Tage tritt und bei Thomas nur theologisch überbrückt wird, zu schließen. Mit der transzendentalphilosophischen Neubegründung des Menschenwürdebegriffs ändert sich nun am normativen Gehalt des Begriffs in den Hinsichten nur wenig, in denen es um die Pflichten gegen sich selbst geht. Die Pflichten, die Kant insbesondere in der Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ diskutiert, unterscheiden sich inhaltlich kaum von denjenigen, die sich auch bei den Stoikern1, in der mittelalterlichen Moraltheologie oder der frühneuzeitlichen Moralphilosophie finden lassen. Neu ist dagegen – sieht man von den sporadischen Bemerkungen des Thomas von Aquin zum Verhältnis von dignitas hominis und Todesstrafe ab –, dass mit der transzendentalphilosophischen Transformation und Neubegründung des Würdebegriffs dieser nun auch den ganzen Bereich der Pflichten gegen andere mit einbezieht, seien es nun moralische Pflichten im engeren Sinn oder Rechtspflichten. Der Grund dafür ist letztlich, dass mit der transzendentalphilosophischen Neubegründung der Gedanke der Pflicht selbst und des Verpflichtet-Seins überhaupt aus dem notwendigen reflexiven Selbstverständnis autonomer Ver Einen signifikanten Unterschied zwischen der stoischen Pflichtenlehre und der kantischen Tugendlehre kann man allerdings bei Kants Verbot der Selbsttötung ausmachen. 1
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
nunftwesen gewonnen wird. Wenn das aber geschieht, kann der Menschenwürdebegriff nicht länger auf einen bestimmten Ausschnitt der Pflichten beschränkt werden. Indem sich die „Würde des Menschen“ nun als Resultat einer Reflexionsbewegung darstellt, verliert sie zugleich ihren vermeintlichen „Wert“-Charakter. Menschenwürde ist kein Wert, nicht einmal ein „unantastbarer Höchstwert“, sondern bringt die ganze Bewegung des notwendigen reflexiven Selbstverständnisses vernünftiger, autonomiefähiger Wesen zum Ausdruck. Fichtes Rechtslehre baut auf dieser transzendentalphilosophischen Wende dann einerseits auf, vertieft den Grundgedanken zugleich aber für den Bereich der Rechtspflichten gegen andere, indem sie die intersubjektive Basis freier, aber endlicher Subjektivität freilegt. Bei Hegel wird der anerkennungstheoretisch gefasste Menschenwürdebegriff schließlich auch explizit als Grundlage und Voraussetzung des Rechts ausgezeichnet. Damit schließt sich der Kreis zwischen dem Menschenwürdebegriff der philosophischen Tradition und dem modernen rechtlichen Menschenwürdebegriff. Das bei Fichte herausgearbeitete und von Hegel weitergedachte Anerkennungsprinzip vermag, wie in den letzten Kapiteln gesehen, punktgenau die beiden Rollen theoretisch einzuholen und rechtsphilosophisch zu begründen, die dem Menschenwürdebegriff in zeitgenössischen Rechtstexten zukommen: Prinzip und Geltungsgrund des Rechts überhaupt wie der Menschenrechte zu sein und gleichzeitig eine absolute Schranke der Abwägbarkeit und Aufhebbarkeit von Rechten gegeneinander zu bilden. Bei Kant noch implizit, bei Fichte und Hegel dann aber bereits deutlich greifbar, vollendet sich damit eine Entwicklung, in deren Verlauf die der Menschenwürdebegriff sich von einem Prinzip der Pflichten gegen sich selbst zum Prinzip des Rechts und der Menschenrechte gewandelt hat. In der praktische Philosophie des Deutschen Idealismus kommt die schon bei Thomas von Aquin angedeutete Rechtsdimension des Menschenwürdebegriffs mithin zu ihrem eigentlichen und schon in jeder Hinsicht vollständigen Durchbruch im Denken, auch wenn es dann noch über hundert Jahre gedauert hat, bis die Menschenwürde auch explizit in einigen Verfassungstexten positivrechtlich verankert wurde. Im folgenden Abschnitt soll nun gezeigt werden, welche rechtsphilosophischen Konsequenzen dies für die Verfassungsrechtsdogmatik der Menschenwürdegarantie hat.
II. Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte 1. Das „Recht auf Rechte“ und das „Urrecht“ Rekonstruiert man, wie hier geschehen, den rechtlichen Menschenwürdebegriff mithilfe des Anerkennungsgedankens, so wird schnell deutlich, dass und inwie-
II. Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte
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fern der Anerkennungsgedanke geeignet ist, die eine der beiden Rollen, die der Menschenwürdebegriff in modernen Rechtssystemen einnimmt, theoretisch einzuholen und zu begründen. Prinzip der Rechte ist die anerkennungstheoretisch rekonstruierte Menschenwürde einmal formal: nämlich insofern, als aus ihr das „Haben von Rechten“ überhaupt, der Umstand, dass Subjekte den Anspruch haben, als Träger von Rechten anerkannt zu werden, resultiert. Hannah Arendt hat demnach durchaus den richtigen Punkt getroffen, wenn sie den normativen Status des Menschenwürdegrundsatzes als den eines „Rechts auf Rechte“ bestimmt. Arendt hatte den Gedanken eines solchen „Rechts auf Rechte“ allerdings für problematisch gehalten, da es ihr unklar erschien, wie ein Anspruch auf die Anerkennung als Träger von Rechten selbst den Charakter eines „Rechts“ haben könne.2 Wie sich gezeigt hat, ist der Gedanke eines „Rechts auf Rechte“ aber keineswegs so problematisch und unklar, sobald man das Recht auf die Bewegung der wechselseitigen transzendentalen Anerkennung von Subjekten als Rechtssubjekte gründet. Dann ist es so, dass die Anerkennungsbewegung den Begriff eines „Rechts“ erst hervorbringt und verständlich macht. Dabei zeigt sich, dass der Begriff eines „Rechts“ selbst bereits auf einem vorstaatlichen und überpositiven Anspruch auf die Anerkennung als Träger von Rechten gegründet ist und ohne die Zugrundelegung eines solchen Anspruchs gar nicht sinnvoll gedacht werden kann. Was Hannah Arendt für eine Aporie gehalten hat, ist dementsprechend keineswegs eine Aporie, sondern die implizite Grundstruktur des Begriffs eines „Rechts“. Die Anerkennung ist sodann zweitens nicht alleine in formaler Hinsicht das Prinzip der Grund- bzw. Menschenrechte, sondern auch ihr inhaltliches Prinzip. Das bei Fichte so genannte „Urrecht“ auf Leben, körperliche Unversehrtheit und auf die Einräumung einer Freiheitssphäre überhaupt kann nämlich aus der Bewegung der wechselseitigen Anerkennung unmittelbar hergeleitet werden. Alle weiteren Freiheits- und Teilhaberechte lassen sich zumindest mittelbar auf das „Urrecht“ zurückbeziehen, wenn auch hier nicht rein deduktiv vorgegangen werden kann und sich dementsprechend genuin politisch-deliberative Gestaltungsräume eröffnen. Allerdings müssen alle politischen Gestaltungen sowohl den Bestimmungen des „Urrechts“ genügen, wie sie dem Grundsatz genügen müssen, dass jede Freiheitseinschränkung nur nach allgemeinen – d. h. für alle Glieder der Rechtsgemeinschaft gleichermaßen gültigen – Gesetzen erfolgen darf und nicht über das Maß dessen hinausgehen darf, was zur Ermöglichung gleicher Freiheit aller Glieder der Rechtsgemeinschaft erforderlich ist. Das „Urrecht“ wird man demnach um das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz ergänzen müssen, da dieses gewissermaßen die Konstitutionsbedingung des Rechts selbst bildet. Damit zeichnet sich dann zugleich auch ab, welcher Kern Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Bd. 2 Imperialismus. Berlin, 2. Aufl. 1966, S. 260–264. 2
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
bestand von Rechten durch das Menschenwürdeprinzip als unantastbar und unabwägbar gesetzt wird, nämlich genau diejenigen Rechte, die im „Urrecht“ und im Gleichheitsgrundsatz impliziert sind.
2. Der Geltungsbereich der Grundrechte Bevor jedoch noch einmal näher auf diese Problematik eingegangen werden kann, muss zuvor noch ein wichtiger Punkt benannt werden, an dem die gängige Verfassungsrechtsdogmatik von der hier entwickelten Konzeption eines rechtlichen Menschenwürdebegriffs in deutlicher Weise abweicht. Dieser Punkt betrifft die Stoßrichtung der Grund- bzw. Menschenrechte. Nach der derzeit gängigen Verfassungsrechtsdogmatik handelt es sich nämlich bei den Grundrechten in erster Linie um Abwehrrechte gegen den Staat, die dann allenfalls noch sekundär über die sogenannte „mittelbare Drittwirkung“ der Grundrechte auch das Verhältnis zwischen den einzelnen Rechtssubjekten zum Gegenstand haben. So schreiben Pieroth/Schlink in ihrem Lehrbuch zum Staatsrecht, dass durch das Grundgesetz „nur die öffentliche Gewalt an die Grundrechte gebunden wird, nicht aber private Rechtssubjekte“3 ; Hans-Jürgen Papier führt aus, durch die Nennung der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung in Art. 1, Abs. 3 GG werde „klargestellt, dass die Grundrechte grundsätzlich nur den Staat verpflichten“.4 Und Friedhelm Hufen behauptet: „Grundrechte sind historisch als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, nicht als Anspruchsgrundlagen zwischen den Bürgern konzipiert.“5 Rainer Zippelius kann dementsprechend durchaus recht gegeben werden, wenn er bemerkt, es sei eine „weit verbreitete Lehre, die Grundrechte würden sich nur gegen die Staatsgewalt richten. Sie gälten aber nicht im Verhältnis der Bürger untereinander, d. h. sie hätten keine unmittelbare Drittwirkung.“6 Für das Verhältnis zwischen den einzelnen Rechtssubjekten seien die Grundrechte daher allenfalls im Sinn einer „mittelbaren Drittwirkung“ einschlägig, die Hufen wie folgt charakterisiert: „Unter Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung hat das Bundesverfassungsgericht schon sehr früh auf die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung gesetzt und dies damit begründet, dass die Grundrechte eine allgemeine Wertordnung verkörpern, die auch die Privatrechtsordnung beeinflusst.“7
3 Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard: Grundrechte – Staatsrecht II. Heidelberg, 20. Aufl. 2005, Rn. 173, S. 43. 4 Papier, Hans-Jürgen: Artikel „Drittwirkung“. In: Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen u. a. (Hg.): Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band II: Grundrechte in Deutschland – Allgemeine Lehren I. München 2006, S. 1331–1361; hier: S. 1332. 5 Hufen, Friedhelm: Staatsrecht II. Grundrechte. München 2007, Rn. 31, S. 129. 6 Zippelius, Rainer: Staatsrecht. München, 15. Aufl. 2007, § 33, S. 261. 7 Hufen a.a.O. Rn. 9, S. 100.
II. Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte
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Bei Robert Alexy, dem immerhin das Verdienst zukommt, den Gedanken der „Drittwirkung“ für die Verfassungsrechtler überhaupt einmal akzeptabel gemacht zu haben, führt dies schließlich zu der recht kontraintuitiven Behauptung, bei einem „Grundrecht“ handele es sich streng genommen um zwei völlig verschiedene Normen, die eigentlich nichts miteinander zu tun hätten, die allerdings beide den Staat binden würden: nämlich einmal um einen Anspruch an den Staat, das betreffende Recht nicht zu verletzen, und das andere Mal um einen Anspruch an den Staat, bestimmte Güter gegen Übergriffe Dritter zu schützen. Es liegt nun auf der Hand, dass die rechtsdogmatische Konzeption, wonach die Grund- bzw. Menschenrechte Abwehrrechte seien, die nur dem Staat gegenüber gälten und nur diesen binden würden, und die allenfalls in Form einer geheimnisvollen „Drittwirkung“ auf dunklen Wegen auch das Verhältnis zwischen den Rechtssubjekten „beeinflussten“, mit der hier vertretenen anerkennungstheoretischen Rekonstruktion der Rechtsidee unvereinbar ist. Das Recht, ebenso wie die verschiedenen Rechte, geht danach vielmehr aus einer Bewegung der Anerkennung hervor, die zunächst eine Bewegung ist, welche sich zwischen den einzelnen Subjekten abspielt und diese unmittelbar zur wechselseitigen Freiheitseinschränkung (d. h. zur Anerkennung jedes anderen als eines Trägers unveräußerlicher Rechte) verpflichtet. Die Bindungswirkung der Rechte betrifft also zunächst die einzelnen Subjekte und erst in einem zweiten Schritt dann den Staat, der zum Schutz jener Rechte notwendig eingesetzt wird. Denn nur weil es die Grundrechte bereits vorstaatlich als Rechte gibt, die zwischen den individuellen Subjekten gelten, kann es überhaupt die Pflicht zweiter Ordnung geben, eine staatliche Ordnung zu etablieren, die diese Rechte gegen Übergriffe anderer Subjekte schützt. Die Bindung des Staates, die Grundrechte auch in seinem eigenen Handeln zu respektieren, resultiert dann erst nachrangig daraus, dass es sich eben um Rechte handelt, die als solche alle Akteure, also auch institutionelle Akteure wie den Staat binden. Selbst wenn man nun diese anerkennungstheoretische Rekonstruktion des Rechtsbegriffs mit welchen Gründen auch immer verwerfen würde, blieben immer noch eine Reihe gewichtiger Einwände gegen die „weit verbreitete Lehre“. Zum einen ist die historische Herleitung dieser Lehre, wie sie uns etwa in der oben zitierten Aussage Hufens, aber auch in den meisten anderen Staatsrechts-Lehrbüchern begegnet, schlichtweg falsch. Betrachtet man die Entwicklung des Grund- bzw. Menschenrechtsgedankens von ihren Anfängen in der spanischen Naturrechtslehre über den klassischen Kontraktualismus eines Hobbes, Locke, Pufendorf und Rousseau bis Kant und Fichte, so ist völlig klar, dass die Grundrechte dort als etwas gedacht werden, das vorrangig das Verhältnis zwischen den Rechtssubjekten betrifft und, wenn überhaupt, dann nur sekundär auch noch das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Die systemwidrige Verengung des Grundrechtsgedankens auf das zweitgenannte Verhältnis ist
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
vielmehr eine geistesgeschichtlich gesehen eher neue Entwicklung, die offenbar der Reflex der Verfassungskämpfe der knapp hundert Jahre zwischen Wiener Kongress und erstem Weltkrieg ist. Unabhängig von diesem geschichtswissenschaftlichen Einwand ist jene Verengung aber auch vom bloßen Begriff eines „Grundrechts“ her unhaltbar. Wie gesehen, ist unter einem Recht in dessen Grundbedeutung die Befugnis zu verstehen, anderen Akteuren jede ihnen zuschreibbare Verfügung über diejenigen Güter zu untersagen, die in die eigene Freiheitssphäre fallen. Oder positiv formuliert: Bei einem Recht handelt es sich um den gegenüber allen anderen Subjekten geltenden Anspruch auf eine ausschließliche Freiheitssphäre. Wenn das aber die Bedeutung des Begriffs eines „Rechts“ ist, ist sofort klar, dass ein Recht nicht nur gegenüber einem speziellen Akteur, hier dem Staat, Geltung haben kann. Der Begriff eines „Rechtes“ impliziert dann vielmehr analytisch, dass es gegenüber jedem beliebigen Akteur Gültigkeit hat. Es wäre gänzlich absurd und widersprüchlich, zu behaupten, ein Akteur P habe die Befugnis, alle anderen Akteure von der Nutzung eines Gutes X auszuschließen8 , er habe diese Befugnis aber nur gegenüber einem bestimmten Akteur S. Genau diese Widersinnigkeit behauptet aber die „weit verbreitete Lehre“. Auch die Lehre von der „mittel baren Drittwirkung“ vermag in der Form, in der sie üblicherweise vorgetragen wird, die Widersinnigkeit nicht aufzuheben. Rufen wir uns die Charakterisierung Friedhelm Hufens ins Gedächtnis, so wird deutlich, dass die gängige Drittwirkungstheorie die „Drittwirkung“ der Grundrechte nur um den Preis gewinnt, den einzelnen Subjekten diese Rechte de facto abzusprechen und sie stattdessen in die vage Form einer „allgemeinen Wertordnung“ umzulenken. Werte sind aber gerade keine Rechte. Eine deutlich subtilere Version einer Drittwirkungstheorie hat das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen, vor allem in seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch formuliert. Robert Alexy charakterisiert diese Theorie am Beispiel des Lebensrechts wie folgt, ohne dass ganz klar ist, inwieweit er sich diese Theorie selbst zu eigen macht: „So statuiert Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG nach dem Bundesverfassungsgericht sowohl ,negativ ein Recht auf Leben’, das ,insbesondere den staatlich organisierten Mord ausschließt’, als auch positiv ein Recht darauf, dass der Staat ,sich schützend und fördernd vor dieses Leben stellt’, was vor allem heißt, ,es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren’. Beide Rechte haben die durch RabG [Alexys Abkürzung für den Satz „a hat gegenüber b ein Recht auf G“ – Anm. d. Verf.] dargestellte Struktur und sind auf Handlungen des Adressaten bezogen: (4) a hat gegenüber dem Staat ein Recht darauf, dass dieser ihn nicht tötet 8 Diesen Punkt sieht auch Zippelius, der gegen die gängige Verfassungsrechtsdogmatik zutreffend einwendet: „Schon in historischer Sicht erscheint die Lehre von der bloßen Staatsgerichtetheit der Grundrechte als fragwürdig. Steckt doch in der Grundrechtsidee der Gedanke, dass es elementare individuelle Rechtspositionen gebe, die gegenüber jedermann unverfügbar seien.“ (Zippelius a.a.O. § 33, S. 262).
II. Menschenwürde als Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte
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(5) a hat gegenüber dem Staat ein Recht darauf, dass dieser sein Lebensrecht vor rechtswidrigen Angriffen Dritter schützt.“9
Diese Konzeption trifft zwar einerseits einen richtigen Punkt, bleibt aber dennoch dem Grundwiderspruch der „weit verbreiteten Lehre“ verhaftet. Sie geht nämlich davon aus, dass unter einem Grundrecht jeweils zweierlei zu verstehen sei: ein Abwehrrecht gegen den Staat und ein Anspruchsrecht auf Schutz dieses Rechts gegen anderen Rechtssubjekte, sie vermag aber letztlich nicht anzugeben, ob und wie beides zusammenhängt. Allein der Umstand, dass die von Alexy referierte rechtsdogmatische Konstruktion mit der Formulierung „ein Anspruchsrecht auf Schutz dieses Rechts“ sprachlich ausgedrückt werden muss, zeigt allerdings, dass auch hier eigentlich von einer einheitlichen Grundbedeutung des Begriffs eines „Rechtes“ ausgegangen werden müsste: einer Grundbedeutung, die der Differenzierung zwischen einem Recht als Abwehrrecht gegen den Staat und demselben Recht als Anspruchsrecht an den Staat vorausgeht und nach der ein Recht im Rahmen einer Rechtsordnung auch bereits zwischen den einzelnen Rechtssubjekten Gültigkeit und Bindungswirkung haben muss. Nimmt man eine solche vorgängige Geltung der Rechte zwischen den Rechtssubjekten nämlich nicht an, so ist es völlig unklar, woher eigentlich eine Pflicht des Staates (die der Einzelne als sein Recht soll geltend machen können) rühren sollte, die Einhaltung der Grundrechte zwischen den Rechtssubjekten zu garantieren, wenn zugleich ein „Grundrecht“ nur als Anspruch gegenüber dem Staat bestehen soll. Die Drittwirkungstheorie in der Rekonstruktion Alexys ist also insofern widersprüchlich, als sie ein „Grundrecht“ definiert als den Anspruch auf den Schutz eines Rechtes, von dem diese Theorie zugleich behauptet, dass es gar nicht existiert. Eine als „Grundrecht“ existierende Pflicht des Staates, die Einhaltung bestimmter Rechte zu garantieren, kann es also nur geben, wenn ein Subjekt diese Rechte bereits hat, und zwar unabhängig davon, gegen welche Akteure sie sich richten. Es ist demnach gänzlich inkonsistent, wenn – wie bei Alexy − einerseits eine solche vorgängige Gegebenheit der Rechte geleugnet wird, andererseits aber postuliert wird, dass es eine Pflicht des Staates gebe, diese als inexistent behaupteten Rechte zu schützen. Dementsprechend muss davon ausgegangen werden, dass jedem Einzelnen seine Grundrechte unabhängig von einer vermeintlichen Gerichtetheit nur gegen bestimmte Akteure zukommen. Der Einzelne hat, einfach weil er Subjekt unter Subjekten ist, eben die Befugnis, allen anderen Akteuren die Verfügung z. B. über sein Leben zu untersagen, und er hat den Anspruch, dass alle anderen Akteure dies respektieren. Und nur weil er diese Befugnis und diesen Anspruch vorgängig zum Staat und unabhängig davon hat, welcher Akteur sie gegebenenfalls verletzen möchte, kann jene doppelte Verpflichtung des Staates folgen, die das Bundesverfassungsgericht annimmt und die Alexy richtig beschreibt: die Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte. Frankfurt a.M.1994, S. 173.
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
Rechte des Einzelnen sowohl selbst nicht anzutasten, wie auch sie gegenüber Übergriffen Dritter zu schützen. Verschieden ist bei beidem lediglich die Form, in der die Grundrechte jeweils ihre Bindungswirkung entfalten. Zwischen den Bürgern gelten die Grundrechte in der spezifischen Form strafbewehrter Sanktionen, d. h. in der Form des Strafrechts, zu dessen Etablierung der Staat eben aufgrund des Umstandes verpflichtet ist, dass seine Bürger bereits vorstaatlich bestimmte Rechte haben. Zwischen Staat und Bürger gelten sie demgegenüber in der spezifischen Form einer durch ein Verfassungsgericht überwachten Selbstbindung des Staates. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass die Bindungswirkung der Grundrechte für den Staat als Inhaber des Gewaltmonopols nur die Form einer Selbstbindung haben kann. Das bedeutet aber nicht, dass umgekehrt die Gültigkeit der Grundrechte zwischen den einzelnen Rechtssubjekten in irgendeiner Weise nachrangig oder „mittelbar“ wäre, wie es der Begriff der „mittelbaren Drittwirkung“ zum Ausdruck bringt. Vielmehr ist die Geltung der Grundrechte in beiden Fällen unmittelbar und mittelbar zugleich: unmittelbar, insofern die Grundrechte jeden Akteur unmittelbar in seinem Verhältnis zu allen anderen Akteuren verpflichten, und mittelbar insofern, als die Geltung jeweils noch durch den Staat beachtet (durch Selbstbindung) oder positivrechtlich gesetzt (im Strafrecht) werden muss; der Unterschied liegt also lediglich in der Form ihrer Geltung und nicht in der Gerichtetheit gegen diese oder jene Kategorien von Akteuren.10 Dessen ungeachtet gibt es natürlich einige Grundrechte, die ihrem Sinn und Gehalt nach von vornherein nur für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger einschlägig sein können. So ist das Diskriminierungsverbot, anders als heute häufig behauptet, seinem Sinn nach als das Gebot der Gleichheit vor dem Gesetz zu verstehen, das wir bereits als einen Kernbestand des „Urrechts“ ausgemacht haben. Da einzelne Bürger aber keine Gesetze erlassen können, kann sich dieses Recht logischerweise überhaupt nur an den Staat qua Gesetzgeber richten. Von einer „Drittwirkung“ kann hier also nicht etwa deshalb keine Rede sein, weil es keine „Drittwirkung“ gäbe, sondern weil der einzelne Bürger dem Sinn des rechtlichen Gleichbehandlungsgebots nach – das überhaupt die Konstitutionsbedingung des Rechts bildet – von vornherein gar kein möglicher Verletzer dieses Rechts ist. Schließlich ist noch zu beachten, dass die Grundrechte nach der hier aus dem Anerkennungsprinzip heraus entwickelten Theorie das Verhältnis zwischen den einzelnen Rechtssubjekten entsprechend der Grundbedeutung des Rechts10 Alexy kommt von einem anderen Ausgangspunkt, nämlich einer Prinzipientheorie der Rechte, im Grunde zum selben Ergebnis, wenn er schreibt: „Die grundrechtlichen Prinzipien führen also zu Rechten und Pflichten im Gleichordnungsverhältnis, die wegen der Geltung dieser Prinzipien relativ auf die Verfassung notwendig sind, dies ohne deren Geltung aber nicht wären. Die Theorie der mittelbaren Drittwirkung hat damit zwingend eine unmittelbare Drittwirkung zur Folge.“ (Alexy a.a.O. S. 490).
III. Menschenwürde als Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten
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begriffs in erster Linie11 in deren abwehrrechtlicher Dimension betreffen. Daher ist es keineswegs so, dass die Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung – wie vielfach behauptet12 – eine unzulässige Einschränkung der Privatautonomie und „weitgehende Freiheitsbeschränkung“13 bedeuten würde. Ebenso wenig kann die Rede davon sein, dass, wie Hufen schreibt, mit der Annahme einer unmittelbaren Drittwirkung „die Grundrechte rasch von bürgerlichen Freiheitsrechten zu einer allgemeinen Pflichtenordnung“14 würden. Das wäre lediglich der Fall, wenn die Grundrechte im Verhältnis zwischen den Bürgern nicht nach ihrer Grundbedeutung der freiheitssichernden Abgrenzung von Freiheitssphären zwischen den Rechtssubjekten genommen würden, sondern darüber hinaus noch als Anspruchsrechte der Bürger gegeneinander aufgefasst würden. Eine solche anspruchsrechtliche Dimension ist von den in Kapitel 6 behandelten begründeten Ausnahmen abgesehen aber im Verhältnis der Bürger zueinander von vorneherein gar nicht gegeben.
III. Menschenwürde als Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten Wie sich in der Analyse des rechtlichen Menschenwürdebegriffs gezeigt hat, kommt der Menschenwürde zumindest nach der gängigen Rechtsdogmatik des deutschen Grundgesetzes, zunehmend aber auch in anderen Rechtskontexten, nicht allein die Rolle des Prinzips und Geltungsgrundes der Grund- bzw. Menschenrechte zu, sondern auch die Rolle einer absoluten, von keiner Abwägung nach Umständen oder Folgen erreichbaren Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten. Im vorangehenden Kapitel wurde nun gezeigt, dass sich auch diese Rolle auf der Basis des Anerkennungsprinzips theoretisch einholen und rechtsphilosophisch begründen lässt. Dabei wurde im Rückgriff auf die Debatte zwischen „Deontologen“ und „Konsequentialisten“ gezeigt, dass sich aus dem anerkennungstheoretisch reformulierten Menschenwürdeprinzip im Wesentlichen eine Meta-Norm für jegliche rechtliche Normierung ergibt: die Meta-Norm nämlich, dass das System der subjektiven Grundrechte eine deontologisch-akteursrelative Grundstruktur aufzuweisen hat, so dass akteursneutral-konse11 Eine Ausnahme stellt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit dar, bei dem es eine anspruchsrechtliche Dimension zwischen den Rechtssubjekten gibt, die nicht prinzipiell hinter Abwehrrechten zurücksteht und die sich beispielsweise im Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung niederschlägt. Die Gründe für diese Sonderstellung des Lebensrechts wurden in Kapitel 6 dargelegt. 12 So etwa bei Dürig, Günter: Grundrechte und Zivilrechtsprechung. In: Maunz, Theodor (Hg.): Festschrift für Hans Nawiasky. München 1956, S. 157–190; hier: S. 158 ff., und bei Pieroth/Schlink a.a.O. Rn. 173, S. 43. 13 Pieroth/Schlink a.a.O. Rn. 173, S. 43. 14 Hufen a.a.O. Rn. 99, S. 100.
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
quentialistische Normierungsformen lediglich an den Stellen greifen können, die von einer deontologischen Grundstruktur gleichsam von sich aus freigelassen werden. Konsequentialistische Erwägungen wären für die rechtliche Normierung mithin nur da einschlägig, wo dies möglich ist, ohne dass die zentralen deontologisch-akteursrelativen Rechtspflichten außer Kraft gesetzt oder einschränkt werden müssen. Diese Bestimmung der Schrankenfunktion der Menschenwürdegarantie weicht allerdings in signifikanter Weise von der Art und Weise ab, wie die sogenannte „herrschende Meinung“ diese Funktion versteht. Dort wird, wie wir gesehen haben, der Charakter der Menschenwürde, eine absolute Grenze der Antastbarkeit von Rechten zu bilden, nach wie vor meist dahingehend expliziert, dass die Menschwürde als ein spezifisches Recht aufgefasst wird. Der Gehalt dieses vermeintlichen „Rechts auf Menschenwürde“ wird dann im Anschluss an Dürigs Rezeption der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs meist bestimmt als ein „Recht auf Nichtinstrumentalisierung“ bzw. ein Recht, „nicht als bloßes Mittel zum Zweck benutzt zu werden“. Wesentlich für die herrschende Meinung ist dabei, dass das so bestimmte „Menschenwürderecht“ als ein Recht begriffen wird, das einen eigenen Verletzungstatbestand – eben die „Instrumentalisierung – aufweist. Dieses Recht soll dann als eigenständiges Recht neben den weiteren Menschenrechten wie dem Recht auf Leben, auf Eigentum, auf Religionsfreiheit, Freizügigkeit etc. existieren und diese Rechte im Fall einer vermeintlichen Kollision auch gewissermaßen übertrumpfen können. Die Folge einer solchen Auffassung ist dann, dass die Menschenwürde von den Menschenrechten nicht nur zunehmend entkoppelt wird, sondern immer mehr sogar in eine Opposition zu den Menschenrechten gebracht wird. Sie wird dementsprechend geradezu zu einem universellen Werkzeug, mit dem sich die Gültigkeit der Menschenrechte fast nach Belieben aushebeln lässt. Selbst so zentrale Menschenrechte wie das auf Leben und körperliche Unversehrtheit werden auf diese Weise ihrer Menschenwürderelevanz entkleidet, so dass dem Juristen selbst eine vorsätzliche, widerrechtliche Tötung nicht mehr per se als ein Verstoß gegen den Menschenwürdegrundsatz gilt. Erst wenn die Tötung vermeintlich den Charakter einer „Instrumentalisierung“ besitze, sei sie eine Menschenwürdeverletzung, dies aber nicht aufgrund des Umstandes, dass das Leben eines Trägers der Würde ausgelöscht wird, sondern allein aufgrund des Instrumentalisierungscharakters, der freilich ebenso dann gegeben ist, wenn ein Angestellter seiner Kollegin nur deshalb Blumen zum Geburtstag schenkt, weil er den gemeinsamen Chef beeindrucken will. Dass an einer solchen rechtsdogmatischen Konstruktion etwas grundlegend verfehlt ist, liegt eigentlich so offen auf der Hand, dass es schon einer gründlichen Juristenausbildung bedarf, um das Offenkundige nicht zu sehen. Wie nun schon die Untersuchungen des 2. Kapitels erwiesen haben, verwickelt sich die spezifisch-rechtliche Konzeption der Menschenwürdegarantie
III. Menschenwürde als Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten
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gleich in eine ganze Reihe von immanenten Aporien und Widersprüchen. Darüber hinaus konnte aber auch bereits gezeigt werden15 , dass die Auffassung, bei der „Menschheitsformel“ des Kategorischen Imperativs handele es sich um ein spezifisches Recht (bzw. bei der von ihr erhobenen Forderung um eine spezielle Pflicht neben anderen Pflichten) eine gravierende Fehlinterpretation darstellt. Vielmehr handelt es sich bei dem Kategorischen Imperativ in allen seinen Formulierungen um ein Prinzip der Pflichten. Prinzip der Pflichten ist der Kategorische Imperativ insofern, als er ein formales Kriterium bildet, das es erlaubt zu überprüfen, ob eine Handlungsmaxime mit den Kriterien der praktischen Rationalität, also mit der notwendigen Achtung autonomer Vernunftwesen für sich selbst und für andere autonome Vernunftwesen vereinbar ist. Eine der Formulierungen des Kategorischen Imperativs in eine spezifische Pflicht oder gar in ein spezifisches Recht umzudeuten, das vermeintlich neben allen anderen Rechten und Pflichten und zusätzlich zu ihnen existiere, ist dementsprechend gänzlich verfehlt. Vielmehr ist der Kategorische Imperativ dasjenige, woraus sich bei der Maximenprüfung jeweils ex negativo konkrete Handlungs- oder Unterlassenspflichten ergeben. So ergeben sich aus dem Kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Formulierungen etwa das Tötungs-, das Diebstahls- oder das Lügenverbot. Dementsprechend kann beispielsweise das dem Tötungsverbot korrespondierende Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht ein Recht sein, das sich von der Menschenwürdegarantie dergestalt unterscheiden würde, dass es neben der Menschenwürdegarantie stünde. Vielmehr ist das Lebensrecht, ebenso wie die übrigen Menschenrechte, das Prinzipiat des als Prinzip fungierenden Kategorischen Imperativs. Jede vorsätzliche Verletzung eines Menschenrechts ist demnach ein Verstoß gegen den Kategorischen Imperativ und damit gegen diejenigen Normen, auf deren Einhaltung jedes autonome Vernunftwesen gegenüber sich und jedem anderen autonomen Vernunftwesen verpflichtet ist. Die über Dürig vermittelte spezifisch-rechtliche Auffassung der Menschenwürdegarantie beruht damit einmal auf einem grundlegenden Missverständnis dessen, was überhaupt der systematische Status der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs und des Menschenwürdegedankens im Gefüge der Praktischen Philosophie Kants ist. Dieses Missverständnis ist aber nicht das einzige, das zwischen Kant und den zeitgenössischen deutschen Verfassungsrechtlern statthat. Ein zweiter entscheidender Punkt, der Quell zahlreicher Probleme, Konfusionen und vermeintlicher Aporien ist, liegt darin, dass seitens der Juristen der gerade für Kant wesentliche Unterschied zwischen moralischer und rechtlicher Normativität nicht beachtet wird. Ebenso wie alle anderen Formulierungen des Kategorischen Imperativs ist die Menschheitsformel zunächst und in erster Linie ein moralisches Prinzip, bei dem es um die Beurteilungen von Handlungsmaximen und nicht Vgl. Kapitel 4, VIII (S. 202–206) der vorliegenden Untersuchung.
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
von Handlungen oder Handlungstypen geht, d. h. letztlich um die Bewertung der Güte des Willens des Handelnden und nicht um die Bewertung der Handlung. Es ist dabei zwar kaum von der Hand zu weisen, dass zwischen der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs und dem Menschenwürdegedanken auf der einen Seite und der Rechtsidee als dem Prinzip der Ermöglichung beschränkter Handlungsfreiheit nach allgemeinen Gesetzen auf der anderen Seite ein systematischer Zusammenhang besteht. Allerdings wird dieser Zusammenhang von Kant selbst nicht erläutert und muss erst noch vergleichsweise mühsam rekonstruiert werden. Ein Vorschlag für eine solche Rekonstruktion findet sich im 4. Kapitel der vorliegenden Untersuchung. Folgt man diesem Vorschlag, so kommt in der Rechtsidee zum Ausdruck, was der Menschenwürdebegriff in normativer Hinsicht für das spezielle Feld des Verhältnisses der äußeren Handlungsfreiheit(en) verschiedener Subjekte zueinander bedeutet. Es zeigt sich dabei, dass insbesondere die Forderungen nach Allgemeinheit und Gleichheit, die für die Rechtsidee grundlegend sind, sich ohne Rekurs auf die Autonomie und damit die Menschenwürde weder sinnvoll explizieren noch begründen lassen, auch wenn die Rechtsidee nur die äußere Handlungsfreiheit betrifft. Ist das richtig, so schränkt dies aber auch die Anwendbarkeit der Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs für das Recht deutlich ein. Für das Recht nämlich kann das „Gebrauchen als bloßes Mittel zum Zweck“ nur da überhaupt als Kriterium der Unterscheidung zulässiger und unzulässiger Handlungen relevant sein, wo die „Instrumentalisierung“ die äußere Handlungsfreiheit und deren Grundlage, das Leben des freien Subjekts, betrifft. Führt man diese zusätzliche Bedingung ein, so ergibt sich daraus auch wieder eine Antwort auf Beispiele wie dasjenige des Mannes, der einer Kollegin Blumen schenkt, nur um den gemeinsamen Chef zu beeindrucken. Ein derartiges Verhalten verstößt in der Tat gegen die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs und dementsprechend gegen die normativen Forderungen, die sich aus der Menschenwürde ergeben. Da es aber nicht die äußere Handlungsfreiheit der Kollegin einschränkt oder ihre Existenz als freies Subjekt bedroht, handelt es sich nicht um eine derjenigen „Menschenwürdeverletzungen“, für die das Recht in irgendeiner Weise zuständig wäre. Diese Überlegung wirft dann auch ein neues Licht auf die Frage nach der spezifisch-rechtlichen These. Denn wie das Beispiel zeigt, ist es in der Tat möglich, mittels des Kategorischen Imperativs zu bestimmen, ob eine ganz konkrete einzelne Handlung gegen die Forderungen verstößt, die aus dem Menschenwürdeprinzip folgen: ein Befund, den man durchaus als Argument für die spezifisch-rechtliche Auslegung der Menschenwürdegarantie lesen könnte. Betrachtet man die Sache aber genauer, so wird man feststellen, dass das bei einem Verhalten wie dem Geschilderten tatsächlich nur möglich ist, weil es sich nicht um ein Verhalten handelt, das in den Bereich der Rechtsidee fällt. Was nämlich bei der ethischen Bewertung jenes Blumenschenkens beurteilt wird, ist
III. Menschenwürde als Grenze der Einschränkbarkeit von Rechten
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gerade nicht die äußere Handlung des Schenkens der Blumen, sondern die innerliche Handlungsmaxime, aus der heraus dieses Schenken erfolgt. Im Bereich des Rechts werden aber gerade nicht die Handlungsmaximen auf ihre Verallgemeinerbarkeit überprüft, sondern Handlungen, die eben aufgrund ihrer Äußerlichkeit in Handlungstypen – wie z. B. Mord, Diebstahl, Betrug etc. – unterteilt werden können und unterteilt werden müssen, um sie überhaupt nach dem Kriterium der Rechtsidee beurteilbar zu machen. Jeder der durch die Rechtsidee verbotenen Handlungstypen wäre demnach dadurch gekennzeichnet, dass er in jeweils bestimmter Weise die Möglichkeit gleicher äußerer Handlungsfreiheit nach einem allgemeinen Gesetz konterkarieren würde. Wie dann leicht zu sehen ist, entspricht jedem der Handlungstypen, welche die Rechtsidee auf je bestimmte Weise konterkarieren, ex negativo jeweils auch ein bestimmtes grundlegendes Menschenrecht. So dem Handlungstyp des Mordes ex negativo das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und dem Handlungstyp des Diebstahls ex negativo das Recht auf Eigentum. Dass im Übrigen auch dem Handlungstyp des Betruges ex negativo das Eigentumsrecht korreliert, zeigt, dass nicht jedem Handlungstyp ein nur für ihn geltendes distinktes Recht entgegensteht; es ist vielmehr durchaus möglich, dass ein Recht mehrere Handlungstypen, also z. B. Diebstahl und Betrug, betrifft. Das spricht allerdings nicht gegen den Punkt, um den es hier eigentlich geht: den Punkt, dass es gerade aufgrund des Umstandes, dass die Kriterien der Rechtsidee sich nicht auf Handlungsmaximen, sondern auf äußerliche Handlungen beziehen, dem Sinn des Rechts widerstreiten würde, eine unmittelbare Beurteilung einzelner Handlungen vorzunehmen. Das Recht nämlich kann sich gar nicht auf Handlungsmaximen beziehen, was jedoch die Voraussetzung für eine solche Einzelbeurteilung wäre. Das Recht muss sich daher über Typen bzw. Arten von Handlungen vermitteln. Das heißt aber wiederum, es muss sich in verschiedene Grund- bzw. Menschenrechte auseinanderlegen und kann sich nur vermittelt über diese auf den Kategorischen Imperativ und das Menschenwürdeprinzip rückbeziehen. Soweit die Menschenwürde als Rechtsbegriff fungiert, kann sie also nur in der Form einer Pluralität verschiedener Menschenrechte praxisrelevant werden, aber eben nicht unmittelbar zur Lösung von Rechtsfragen herangezogen werden, wie dies heute vielfach deutsche Gerichte der verschiedensten Instanzen mit oft entsprechend grotesken Ergebnissen tun. Es ist damit letztlich der Unterschied zwischen Recht und Moral, der am nachdrücklichsten gegen die spezifisch-rechtliche und für die prinzipialistische Lesart der Menschenwürdegarantie spricht. Der Schutz der Menschenwürde geschieht dann, wie es Christoph Enders treffend bemerkt hat16 , subjektiv-rechtlich durch die Gesamtheit der Grundrechte. Verletzungen der Menschenwürde haben stets die Gestalt der Verletzung eines konkreten Menschenrechts. Vgl. S. 31, Fn. 1 der vorliegenden Untersuchung.
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7. Kapitel: Menschenwürde als Rechtsprinzip
Mit dem rechtsphilosophisch begründeten Votum für die prinzipialistische Auslegung der Menschenwürdegarantie kehrt die Frage nach der Abwägbarkeit bzw. Einschränkbarkeit von Grundrechten nun aber mit aller Vehemenz wieder. Die spezifisch-rechtliche Auslegung konnte diese Frage noch recht einfach mit dem Verweis auf die „Unabwägbarkeit“ des vermeintlichen „Menschenwürderechts“ – der im Gegenzug die vermeintliche „Abwägbarkeit“ aller anderen Menschenrechte entsprechen sollte – für gelöst erklären. Eine solche Lösung ist im Rahmen der prinzipialistischen Auslegung aber aus naheliegenden Gründen nicht möglich. Vielmehr scheint es im Rahmen der prinzipialistischen Lesart nur zwei gleichermaßen problematische Alternativen zu geben: entweder vor dem Hintergrund der von dem Gedanken der „Rechteabwägung“ geprägten zeitgenössischen deutschen Verfassungsrechtsdogmatik grundsätzlich alle Rechte für abwägbar und damit auch aufhebbar zu halten und so den Gedanken absoluter deontologische constraints gänzlich aus dem Recht zu verbannen; oder aber, wie es die deontologischen Rechtstheorien Kants und Fichtes nahelegen, überhaupt jedes subjektive Recht als unabwägbar und uneinschränkbar zu betrachten. Gegen die letztere Konzeption wird ein Jurist, der der deutschen Verfassungsrechtsdogmatik folgt, dann freilich einwenden, sie sei nicht haltbar, da Grundrechte prinzipiell miteinander „kollidieren“ könnten und im Falle solcher Kollisionen dann Abwägungen nötig würden. Betrachtet man das einschlägige verfassungs- und staatsrechtliche Schrifttum, so wird darin praktisch durchgängig davon ausgegangen, dass Grundrechte miteinander „kollidieren“ oder „in Widerstreit“ geraten könnten und dass in einem solchen Fall Abwägungen stattfinden müssten, bei denen eines oder sogar jedes der auf dem Spiel stehenden Rechte „eingeschränkt“ werden müsste. So gibt es kaum ein Lehrbuch des Staatsrechts und keinen Grundgesetzkommentar, in dem der Frage, was bei „Grundrechtskollisionen“ zu tun sei, nicht mindestens ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Dabei ist dann häufig nicht einmal klar, was mit „Einschränkung“ eigentlich gemeint ist; tatsächlich wird darunter, auch wenn die Rhetorik anderes suggeriert, häufig nichts anderes verstanden, als dass eines der Rechte für den einen speziellen Fall de facto negiert wird, um einem anderen Recht Geltung zu verschaffen. An dieser Stelle wird dann im rechtswissenschaftlichen Schrifttum in der Regel die Lehre von der sogenannten „praktischen Konkordanz“ als Abwägungsprinzip bemüht, die in der klassischen Formulierung Konrad Hesses lautet: „In engem Zusammenhang damit steht das Prinzip praktischer Konkordanz: verfassungsrechtliche Rechtsgüter müssen in der Problemlösung einander so zugeordnet werden, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt.“ Insofern stelle, so Hesse, „das Prinzip der Einheit der Verfassung die Aufgabe einer Optimierung: beiden Gütern müssen Grenzen gezogen werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können“.17 17 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, ND der 20. Aufl. 1999, Rn 72, S. 27.
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Erstaunlich an solchen Aussagen ist vor dem in der vorliegenden Untersuchung entwickelten rechtsphilosophischen Hintergrund die Prämisse, dass Rechte überhaupt miteinander „kollidieren“ oder „in Widerstreit geraten“ können. Wenn die hier vorgeschlagene anerkennungstheoretische Rekonstruktion des Rechtsgedankens richtig ist, dann sind Rechte in ihrer primären Bedeutung gerade keine Ansprüche auf Güter, sondern Ansprüche auf die ausschließliche Verfügung über bestimmte Güter, also Befugnisse, andere von der ihnen zurechenbaren Verfügung über diese Güter auszuschließen. Damit soll nicht bestritten werden, dass zumindest einige Rechte in einer sekundären Hinsicht auch Ansprüche auf Güter sein können; es gilt aber festzuhalten, dass sie in ihrer vorrangigen Hinsicht etwas anderes sind als Ansprüche auf Güter. So ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach seiner primären Hinsicht kein Anspruch auf ein Gut namens „körperliche Unversehrtheit“, sondern der Anspruch, alle anderen Personen kategorisch von jeder zurechenbaren Verfügung über meinen Leib auszuschließen. Dass ein derartiger Anspruch einer Person auf ausschließende Verfügung über ein Gut mit einem Anspruch einer anderen Person auf ausschließende Verfügung über ein anderes Gut kollidieren oder in Widerstreit geraten könnte, ist logisch unmöglich. Wenn beispielsweise jede beliebige Person A einen Anspruch hat, jede andere Person von einer zurechenbaren Verfügung über ihren, d. h. A’s Leib auszuschließen, dann können die ausschließenden Verfügungsansprüche der verschiedenen Personen a priori überhaupt nicht miteinander in Widerstreit geraten, da eben die Verfügungsbefugnisse dann so verteilt sind, dass sie sich gar nicht überschneiden können.18 Das Problem der vermeintlichen „Grundrechtskollision“ erweist sich demnach in vielen, allerdings nicht allen Hinsichten, als Scheinproblem. Die Behauptung, dass Rechte miteinander kollidieren können, ist logisch nur möglich, wenn man unter einem Recht statt eines Anspruchs auf die ausschließende Verfügung über ein Gut einen Anspruch auf dieses Gut selbst (d. h. auf die Sicherung und Förderung dieses Guts) versteht. In einem solchen Verständnis von Rechten wäre dann unter dem „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ nicht der Anspruch zu verstehen, alle anderen Personen von der Verfügung über den eigenen Leib auszuschließen, sondern ein staatlich zu garantierender und zu befördernder Anspruch auf die Unversehrtheit des Leibes. Versteht man Rechte in dieser Weise, so können sie natürlich miteinander „kollidieren“ oder „in Widerstreit“ geraten, etwa dann, wenn eine Person A ihre körperliche Unver18 Verblüffend ist insofern die Formulierung Herbert Bethges: „Grundrechtskollisionen betreffen den Fall des Widerstreits der Freiheitsrechte von zwei oder mehreren Grundrechtsinhabern.“ (Bethge, Herbert: Artikel „Grundrechtskollisionen“ in Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen (Hg.): Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa: Band III: Grundrechte in Deutschland – Allgemeine Lehren II. Heidelberg 2009, S. 667–716; hier: S. 668). Verblüffend ist diese Formulierung deshalb, weil der Gehalt von Freiheitsrechten ja gerade die Aufteilung von Freiheitssphären dergestalt ist, dass Kollisionen zwischen diesen Sphären nicht stattfinden können.
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sehrtheit nur wahren kann, indem sie die körperliche Unversehrtheit anderer Personen beeinträchtigt. Bei einer Auffassung von Rechten als Befugnissen, andere Personen von der ihnen zurechenbaren Verfügung über bestimmte Güter auszuschließen, ist eine solche Kollision dagegen denkunmöglich. Dass die heute gängige Rechtsdogmatik des Verfassungs- und des Strafrechts Rechte tatsächlich nicht als ausschließende Verfügungsbefugnisse über Güter, sondern als Ansprüche auf Güter versteht, zeigt sich mithin bereits daran, dass sie die Auffassung vertritt, Rechte könnten miteinander „kollidieren“. Derselbe Befund zeigt sich aber auch in den einschlägigen Texten selbst, so wenn der Verfassungsrechtler Hesse ganz selbstverständlich davon redet, im Sinne der „praktischen Konkordanz“ müssten Gütern Grenzen gezogen werden, obgleich das eine semantisch völlig sinnlose Aussage ist. Auch in der Strafrechtsdogmatik findet sich ein ähnlicher Sprachgebrauch. Wessels/Beulke etwa schreiben in ihrem Lehrbuch zum Strafrecht: „Durch den Schutz von Rechtsgütern dient das Strafrecht der Verwirklichung des Gemeinwohls und der Wahrung des Rechtsfriedens. Es ist eine Schutz- und Friedensordnung, die auf der sozialethischen Wertordnung unserer Verfassung beruht und sich an deren Zielsetzung orientiert. […] Als Rechtsgüter bezeichnet man die Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannten Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Gesellschaft Rechtsschutz genießen. […] Die Wurzeln des Strafrechts liegen in den sozialethischen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft; sie bilden die Grundlage für die Entstehung von Rechtsgütern, Rechtsnormen und Straftatbeständen.“19
Es bedürfte nun wohl eines eigenen Buches, um in dieses Wirrwarr, in dem die Begriffe der Rechte, Güter und Werte, der Interessen und Normen, des Rechts und der Ethik bunt durcheinander gewürfelt werden, wieder eine gedankliche Ordnung zu bringen. Festhalten kann man allerdings, dass auch hier offensichtlich die subjektiven Rechte, die durch das Strafrecht garantiert werden sollen, als Ansprüche auf Güter begriffen werden. Hält man demgegenüber am primären Sinn subjektiver Rechte, ausschließende Verfügungsansprüche zu sein, wie er sich in der anerkennungstheoretischen Rekonstruktion des Rechtsgedankens erschlossen hat, fest, so erweist sich der größte Teil der Probleme, die mithilfe der „Rechte-Abwägung“ gelöst werden sollen, als Scheinprobleme, die sich von selbst erledigen. Betrachtet man z. B. vermeintliche „Kollisionen“ des Rechts auf Forschungsfreiheit und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, etwa wenn ein Forscher gegen den Willen eines Probanden mit diesem Versuche durchführen wollte, die dessen körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen könnten, dann beruht das kategorische Verbot solcher Versuche nicht auf einer vermeintlichen Abwägung zwischen Lebensrecht und Forschungsfreiheit, die dann zugunsten des Lebens Wessels Johannes/Beulke, Werner: Strafrecht Allgemeiner Teil. Die Straftat und ihr Aufbau. Heidelberg, 41. Aufl. 2011, Rn. 7–9, S. 2 f. 19
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rechts ausfiele. Vielmehr ergibt sich ein solches Verbot daraus, dass das Recht auf Forschungsfreiheit von vornherein und vor jeder möglichen Abwägung nie ein Recht implizierte, in die körperliche Unversehrtheit eines anderen Subjekts einzugreifen. Es muss also überhaupt keine Rechte- oder gar Güterabwägung vorgenommen werden, um die Widerrechtlichkeit solchen Handelns, genauer gesagt die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, das es erlauben würde, festzustellen. Ebenso würde sich ein Verbot, das Eigentum anderer im Rahmen einer Kunstaktion zu beschädigen, nicht daraus ergeben, dass das Recht auf Eigentum in einer „Rechtsgüterabwägung“ über dem Recht auf Kunstfreiheit stünde, sondern einfach daraus, dass das Recht auf Kunstfreiheit von vornherein nicht ein Recht impliziert, über das Eigentum anderer zu verfügen 20 . Insbesondere das erste Beispiel zeigt dann auch, dass es in keiner Weise eines Rekurses auf ein vermeintliches „Supergrundrecht auf Menschenwürde“ bedarf, um eindeutige Antworten auf angebliche „Rechtekollisionen“ zu geben. Solche Rekurse gab es etwa in der Debatte um die verbrauchende Embryonenforschung immer wieder, in der behauptet wurde, in der Abwägung zwischen dem Lebensrecht der Embryonen und der Forschungsfreiheit könne sich die Waagschale nur dann eindeutig zugunsten des Ersteren neigen, wenn man auf die Menschenwürde als Instrumentalisierungsverbot zurückgreife. Im Rahmen der hier vorgestellten Theorie der Rechte ist ein solcher Rückgriff aber überhaupt nicht erforderlich. Dieses Beispiel denn auch zeigt in aller Deutlichkeit, dass die spezifisch-rechtliche These von der Menschenwürdegarantie als einem „Supergrundrecht“, das als einziges abwägungsresistent sei, vor allem der Versuch ist, ein Scheinproblem zu kompensieren, das die Rechtsdogmatik sich an anderer Stelle durch ein verfehltes Verständnis dessen, was ein subjektives Recht ist, überhaupt erst eingehandelt hat. Dementsprechend erweisen sich auch vermeintliche „Konflikte“ zwischen den Grundrechten als Abwehrrechten gegen den Staat und den Grundrechten als Ansprüchen auf staatliche Gewährleistung dieser Rechte gegen Dritte, wie sie beispielsweise in manchen verfassungsrechtlichen Diskursen hinsichtlich des Schwangerschaftsabbruchs oder in einem ganz anderen Kontext hinsichtlich der sogenannten „Rettungsfolter“ konstruiert werden, als bloße Scheinkonflikte. Wie bereits in der Erörterung der Notwehrproblematik gezeigt, kann die Durchsetzung eines Rechts gegenüber einem Rechtsverletzer in keiner denkbaren Hinsicht ein Recht des Rechtsverletzers verletzen. Denn jedem 20 Diesen Punkt macht Martin Kriele eben anhand des Beispiels des Rechts auf freie Kunstausübung deutlich (vgl. Kriele, Martin: Vorbehaltlose Grundrechte und die Rechte anderer. In: Ders.: Recht, Vernunft und Wirklichkeit. Berlin 1990, S. 604–627). Kriele beschränkt diese Struktur allerdings auf die sogenannten „vorbehaltlosen Grundrechte“, d. h. diejenigen Grundrechte, die im Grundgesetz nicht explizit mit einem Gesetzesvorbehalt versehen sind. Tatsächlich handelt es sich aber, wie diese Untersuchung gezeigt zu haben meint, um die Grundstruktur des Rechts und der subjektiven Rechte überhaupt und nicht nur um die einiger Rechte.
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Recht korrespondiert, wie gesehen, analytisch eine Befugnis, die Achtung dieses Rechts zu erzwingen. Die Durchsetzung eines Rechts kann alleine deshalb kein Recht des Rechtsverletzers verletzen, da das voraussetzen würde, dass der Rechtsverletzer ein Recht hätte, nicht von seiner Rechtsverletzung abgehalten zu werden. Ein solches Recht, nicht von der Rechtsverletzung abgehalten zu werden, wäre aber gleichbedeutend damit, ihm ein Recht zuzugestehen, die Rechte seines Opfers zu verletzen. Der Gedanke einer rechtmäßigen Rechtsverletzung ist aber widersprüchlich und kann daher auch nicht aufrechterhalten werden. Das Recht selbst und die Befugnis, seine Beachtung zu erzwingen, sind von daher nicht zwei verschiedene Dinge, sondern dasselbe Recht, lediglich nach verschiedenen Seiten hin betrachtet. Daraus ergibt sich zum einen, dass eine Notwehr- oder Nothilfehandlung keine Rechtsverletzung, geschweige denn eine Menschenwürdeverletzung sein kann. Zum anderen ergibt sich daraus, dass auch die Durchsetzung eines Rechts in Form der Strafandrohung a priori in keinem denkbaren Fall die Verletzung eines Rechts oder gar der Menschenwürde des potentiellen Rechteverletzers darstellen kann, einfach weil der Rechteverletzer ja gar kein Recht hat, die Rechte eines anderen Subjekts zu verletzen.21 Wenn dementsprechend die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts richtig wäre22 , dass ungeborene menschliche Lebewesen bereits als Träger von Menschenwürde und Menschenrechten anzuerkennen sind, dann würde es den vermeintlichen „Konflikt“ zwischen dem Lebensrecht des Embryos bzw. Fötus und dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren – oder gar zwischen der Menschenwürde des Ungeborenen und der Menschenwürde der Schwangeren –, der zuweilen behauptet wird, überhaupt nicht geben. Das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren würde dann nämlich von vornherein gar kein Recht implizieren, über das Leben des Embryos bzw. Fötus zu verfügen, und damit würde auch die strafrechtliche Durchsetzung des Lebensrechts des Ungeborenen keinerlei Recht auf Seiten der Schwangeren beeinträchtigen. Auch wenn nun die Probleme, die mit dem Abwägungsgedanken und mit der spezifisch-rechtlichen Lesart der Menschenwürde gelöst werden sollten, sich zum größten Teil als Scheinprobleme erweisen, trifft der Abwägungsgedanke doch in einer bestimmten Hinsicht einen richtigen Punkt. Wie die Überlegungen des vorangehenden Kapitels gezeigt haben, führt das Anerkennungsprinzip trotz seines grundsätzlich deontologisch-akteursrelativen Charakters gleichwohl die Möglichkeit mit sich, grundlegende und innerliche Rechte, die sich auf das Subjekt-Sein selbst beziehen und die für die Rechtsidee konstitutiv sind, von Rechten zu unterscheiden, die das Subjekt-Sein nur in äußerlichen bzw. partiel21 Im Grunde handelt es sich bei diesen Überlegungen um Selbstverständlichkeiten. Dass sie heute seitens der Rechtsphilosophie gegen die Verfassungs- und Strafrechtsdogmatik geltend gemacht werden müssen, zeigt, wie sehr diese sich inzwischen im Netz ihrer eigenen ungeklärten Begrifflichkeiten verfangen haben. 22 Ob es richtig ist, ist nicht Gegenstand der vorliegenden Erörterung.
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len Hinsichten betreffen. Diese Unterscheidung eröffnet die Perspektive, jedenfalls einige der Grund- bzw. Menschenrechte als unter bestimmten Umständen abwägbar und einschränkbar zu begreifen, während andere aus Gründen, die im Anerkennungsprinzip selbst liegen, als unantastbar gesetzt werden müssen. So können insbesondere das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht darauf, nicht weiter in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden, als dies zur Ermöglichung gleicher Freiheit aller nach allgemeinen Regeln erforderlich ist, deshalb nicht eingeschränkt oder angetastet werden, da sie die Konstitutionsbedingungen des Rechts bilden. Jede Einschränkung oder Aufhebung eines dieser Rechte wäre daher gleichbedeutend mit einer Aufhebung des Rechts überhaupt. Eine Sonderstellung innerhalb des Gefüges der durch das anerkennungstheoretisch reformulierte Menschenwürdeprinzip garantierten Rechte kommt des Weiteren dem Recht auf Leben zu. Da das Leben eines Subjekts nichts anderes ist als das Sein der Subjektivität selbst, stellt jeder Angriff auf das Leben eines anderen Subjekts eine Form der Anerkennungsverweigerung dar, die in ihrer Radikalität und Grundsätzlichkeit von keiner anderen Rechtsverletzung erreicht wird. Die vorsätzliche Tötung ist diejenige Negation der Anerkennung, die den anderen nicht in irgendeiner besonderen Hinsicht seiner Subjektivität betrifft, sondern sein Subjekt-Sein als solches und als Ganzes23 , verwandelt die Tötung doch einen Menschen von einem durch Selbstbezug gekennzeichneten Subjekt in ein bezugsloses Ding, den toten Körper. Sie ist daher mit jeglicher Anerkennung auch prinzipiell unvereinbar. Der Anerkennungsgedanke und mithin die Menschenwürdegarantie impliziert daher die absolute Unverfügbarkeit des Lebens eines Subjekts für jedes andere Subjekt.24 Die Menschenwürde setzt insofern die kategorische Unantastbarkeit und Nichteinschränkbarkeit 23 Dieser Gedanke und damit der Gedanke der absoluten Sonderstellung des Rechts auf Leben im Gefüge des Normativen findet sich auch an zentraler Stelle bei dem den Gedanken der wechselseitigen Anerkennung ansonsten radikal ablehnenden Emmanuel Lévinas: „Ni la destruction des choses, ni la chasse, ni l’extermination des vivants – ne visent le visage qui n’est pas du monde. Elles relèvent encore du travail, ont une finalité et répondent à un besoin. Le meurtre seul prétend à la négation totale. La négation du travail et de l’usage, comme la négation de la représentation – effectuent une prise ou une compréhension, reposent sur l’affirmation ou la visent, peuvent. Tuer n’est pas dominer mais anéantir, renoncer absolument à la compréhension.“ (Lévinas, Emmanuel: Totalité et infini. Essai sur l’extériorité. Den Haag 1961, S. 216). 24 Einer der wenigen deutschen Verfassungsrechtler, der sich dieses Zusammenhangs noch bewusst ist und der ihn gegen den allgemeinen Trend geltend macht, ist Christian Hillgruber. Hillgruber führt zutreffend aus: „Die Unantastbarkeitsformel garantiert die Achtung der Menschenwürde umfassend. Ein Mensch ist – für jedermann verbindlich – selbständige Person, nicht verfügbare Sache, er gehört niemand anders als sich selbst und muss deshalb stets Zweck an sich selbst bleiben. Damit ist aber die eigenmächtige und eigennützige Inanspruchnahme von Leib und Leben eines Dritten kategorisch ausgeschlossen.“ (Hillgruber, Christian: Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtseingriff. In: Isensee, Josef/Kirchhoff, Paul: Handbuch des Staatsrechts Bd. IX: Allgemeine Grundrechtslehren. Heidelberg, 3. Aufl. 2011, S. 981–1032; hier: S. 993 f.).
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des Rechts auf Leben, nach seiner abwehrrechtlichen Dimension genommen, und kein Rechtssystem, das sich auf die Menschenwürde beruft, kann das Lebensrecht anders denn als unantastbar behandeln. Demgegenüber ist etwa das Recht auf Eigentum ein typisches Beispiel für ein Recht, das im Hinblick auf konkrete Fälle, wie sie z. B. in Notstandssituationen gegeben sein können, durchaus abwägbar und einschränkbar ist. Selbst diese Einschränkung steht allerdings unter der Bedingung, dass nur ein konkreter Eigentumstitel negiert wird und nicht etwa die Befugnis, überhaupt Eigentümer von etwas zu sein. Wie nun weiter oben gesehen, ist die Rede von der „Abwägbarkeit“ von Rechten überhaupt nur dann sinnvoll, wenn Rechte nicht nur Befugnisse sind, andere Personen von der Verfügung über ein Gut auszuschließen, sondern zumindest auch Ansprüche auf Güter. Damit es so etwas wie Abwägbarkeit geben kann, muss es insofern auch die andere Seite der Medaille geben, nämlich Rechte, die neben einem Abwehr- auch einen Anspruchscharakter aufweisen. Ein solcher Anspruchscharakter eignet nun, wie im vorigen Kapitel gezeigt, den meisten Grundrechten durchaus; allerdings ist er aufgrund des Anerkennungsprinzips im Allgemeinen dem abwehrrechtlichen Charakter nachgeordnet. Damit eine Abwägung überhaupt erforderlich und zugleich möglich wird, müssen zumindest einige Rechte die zusätzliche Charakteristik aufweisen, dass ihr Anspruchscharakter über dem abwehrrechtlichen Charakter der abwägbaren Rechte steht. Auch hier macht sich nun wiederum die Sonderstellung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit geltend. Mit dem Leben nämlich steht das Dasein eines freien Subjekts als solches auf dem Spiel. Das Anerkennungsprinzip verpflichtet nun jedes Subjekt darauf, bei jeglicher partikularer Zweckverfolgung das Subjekt-Sein jedes anderen Subjekts immer als einen Zweck zumindest mit zu beachten und jedenfalls nicht in Widerstreit mit diesem Zweck zu geraten. Genau daraus erwächst dann aber ein Anspruch eines in seinem Leben bedrohten Menschen darauf, dass die anderen Subjekte ihre partikulare Zweckverfolgung in dem Maß zurückstellen, wie es notwendig ist, um das Leben des so Bedrohten zu erhalten. Ebenso ergibt sich auf der Ebene der Rechte so ein Vorrang der anspruchsrechtlichen Dimension des Lebensrechts, bei dem das Ganze der Subjektivität eines Menschen auf dem Spiel steht, vor solchen Rechten, deren normativer Gehalt lediglich auf eine bestimmte, partielle und äußerliche Hinsicht der Betätigung der Subjektivität bezogen ist. Diese Überlegung zeigt auch, dass sich die Differenz zwischen einschränkbaren und unantastbaren Rechten nicht aus einer einfachen, quantitativ gedachten Güterabwägung ergibt, sondern daraus, dass die verschiedenen Rechte in einer jeweils anderen Weise auf Subjektivität bezogen sind. Nur weil die abwägbaren Rechte auf eine je nur partielle und veräußerlichte Hinsicht des Subjekt-Seins bezogen sind, können sie überhaupt im eigentlichen Sinn eingeschränkt werden, d. h. sie können tatsächlich eingeschränkt werden, ohne dass eine Einschränkung zugleich ihre vollständige Negation bedeuten würde, wie es etwa beim
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Recht auf Leben der Fall ist. Damit ergibt sich dann zugleich allerdings auch eine Grenze der Einschränkbarkeit selbst bei den abwägbaren Rechten. Geht die Einschränkung nämlich so weit, dass sie wiederum den Status eines Subjekts beträfe, überhaupt als Träger des in Rede stehenden Rechts gelten zu können, so wäre dies wiederum mit dem Anerkennungsprinzip selbst unvereinbar. Dementsprechend können z. B. Einschränkungen des Eigentumsrechts um des Lebensrechts willen nur bestimmte Eigentumstitel, und dies auch nur im Fall eines konkreten, nicht anders behebbaren Notstands, betreffen, nicht aber das Recht, überhaupt als möglicher Eigentümer von etwas anerkannt zu sein. Ebenso muss, denkt man von der Rechtsidee her, jede Einschränkung eines Rechts nach einem allgemeinen, für alle Mitglieder der Rechtsgemeinschaft gleichermaßen geltenden Gesetz erfolgen, um nicht dem Menschenwürdeprinzip zu widersprechen. Fasst man diese Überlegungen zusammen, so zeigt sich, dass die anerkennungstheoretisch reformulierte rechtliche Menschenwürdegarantie nicht alleine Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte bildet, sondern auch dasjenige Prinzip, von dem her sich die Frage der Abwägbarkeit und Unabwägbarkeit von Grund- bzw. Menschenrechten beantworten lässt. Dies jedoch auf eine gänzlich andere Art, als es sich die „herrschende Meinung“ innerhalb des deutschen Verfassungsrechtsdiskurses denkt. Denn es zeigt sich, dass es sich bei der Menschenwürdegarantie nicht um ein spezifisches „Supergrundrecht“ neben und „über“ den eigentlichen Grund- bzw. Menschenrechten handelt, sei es auf Nichtinstrumentalisierung oder Nichtdemütigung. Vielmehr ist die Menschenwürde dasjenige Prinzip, von dem her sich bestimmte Menschenrechte, allen voran das Recht auf Leben und der Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz, als unantastbare Rechte bestimmen und von abwägbaren Rechten unterscheiden lassen. Wenn mithin überhaupt von „Menschenwürdeverletzungen“ die Rede sein kann, so nur in dem Sinn, dass eines derjenigen Rechte verletzt wird, die aus dem anerkennungstheoretisch rekonstruierten Menschenwürdeprinzip hervorgehen. So gesehen, stellt dann jede Verletzung eines dieser Rechte eine „Menschenwürdeverletzung“ dar. Allerdings gibt es einige Rechte – das Lebensrecht allen voran –, die gerade durch den Menschenwürdegedanken als „immer und in jedem Fall“ unantastbar und unabwägbar bestimmt werden 25 , weil ihre Verletzung mit dem Prinzip der wechselseitigen Anerkennung als Rechtssubjekte grundlegend unvereinbar ist. An dieser Stelle treten auch noch einmal die Unterschiede zwischen der hier vorgelegten Theorie der Menschenwürde und den beiden ihr am nächsten stehenden alternativen Konzeptionen, der Dürig’schen „Objektformel“ und der Ensembletheorie, hervor. Von der Ensembletheorie unterscheidet sie sich zum Dabei ist freilich immer zu bedenken, dass durch Notwehr- bzw. Nothilfehandlungen prinzipiell keine Rechte verletzt werden. 25
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einen dahingehend, dass die Ensembletheorie nur die Verletzung mancher, eher willkürlich benannter Menschenrechte als Verstöße gegen den Menschenwürdegrundsatz begreift. Zum anderen fasst die Ensembletheorie den Begriff der „Menschenwürde“ lediglich als einen extensionalen Sammelbegriff für eine Reihe besonders wichtiger Menschenrechte, nicht aber als Rechtsprinzip. Der hier vertretenen Theorie nach handelt es sich dagegen bei allen Menschenrechtsverletzungen letztlich immer auch um Verstöße gegen den Menschenwürdegrundsatz, und zwar insofern, als alle Menschenrechte aus dem anerkennungstheoretisch rekonstruierten Menschenwürdegrundsatz als ihrem inhaltlichen und geltungstheoretischen Prinzip folgen. Wenn also von der hier vertretenen Theorie ein bestimmter Kernbestand von Rechten als unantastbar ausgezeichnet wird, so bedeutet das keineswegs, dass nur Verletzungen dieser Rechte als Verstöße gegen den Menschenwürdegrundsatz zu werten wären. Zugleich vermag die in dieser Studie entwickelte Theorie anders als die meisten Versionen der Ensembletheorie einen Grund und ein Kriterium der Unterscheidung zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten anzugeben. Von der „Objektformel“ unterscheidet sich die hier vorgeschlagene Theorie ebenfalls in mehrfacher Hinsicht: Zum einen macht sie gegen die „Objektformel“ geltend, dass „Intrumentalisierung“ und „Verobjektivierung“ nicht bloß mögliche Qualitäten der Verletzung eines menschenrechtlichen Abwehrrechts sind, die zu dieser noch hinzukommen können oder eben nicht. Vielmehr bilden „Instrumentalisierung“ und „Verobjektivierung“ ein grundsätzliches Merkmal aller Verletzungen von Abwehrrechten. Dabei ist zugleich zu bedenken, dass zwar jede Verletzung eines Abwehrrechts eine Instrumentalisierung darstellt, aber nicht jede „Instrumentalisierung“ eine Verletzung eines Abwehrrechts, da es Instrumentalisierungen gibt, die nicht die äußere Handlungsfreiheit betreffen und die darum zwar moralisch falsch, aber nicht widerrechtlich sind. Der zweite Unterschied besteht denn auch darin, dass nach der hier vertretenen Theorie ein Verstoß gegen den Menschenwürdegrundsatz nicht erst dadurch realisiert wird, dass eine Menschenrechtsverletzung eine bestimmte zusätzliche Qualität aufweist, sondern bereits dadurch, dass überhaupt ein Menschenrecht verletzt wird. Die Grenze zwischen abwägbaren und unantastbaren Rechten, die die „Objektformel“ durch einen Rückgriff auf den Intrumentalisierungsbegriff dergestalt ziehen wollte, dass nur „instrumentalisierende“ Menschenrechtsverletzungen als unabwägbar verbotene Verletzungen eines dann spezifischen „Menschenwürderechts“ gelten sollten, wird daher hier auch an einer systematisch ganz anderen Stelle und mithilfe eines anderen Kriteriums gezogen. Unterscheidungskriterium zwischen abwägbaren und unabwägbaren Rechten ist demnach, ob ein bestimmtes Menschenrecht das innerliche Subjekt-Sein schützt oder „nur“ eine partikulare, veräußerlichte Form des Subjekt-Seins. Als Grund dafür wurde angegeben, dass die Verletzung eines Rechts, das das Subjekt-Sein lediglich in einer partikularen, veräußerlichten Dimensio-
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nen schützt, als mit dem Anerkennungsprinzip noch grundsätzlich vereinbar gedacht werden kann, während dies bei Verletzungen, die eine innerliche Dimension des Subjekt-Seins betreffen, nicht der Fall ist. Eine gewisse Nähe zur „Objektformel“ ergibt sich für diesen Ansatz dann allenfalls insofern, als diese unantastbaren Rechte einen Bereich innerhalb des Rechts konstituieren, der einer strikt deontologisch-akteursrelativen Normenlogik unterworfen ist. Das impliziert natürlich im Umkehrschluss, dass sie derjenigen konsequentialistischen bzw. utilitaristischen Normenlogik entzogen sind, gegen die auch die „Objektformel“ sich in Form des Instrumentalisierungverbots wendet. Die Menschenwürde ist – sofern es um Menschenwürde als Rechtsbegriff geht – mithin ebenso sehr Prinzip und Geltungsgrund der Menschenrechte, wie sie Prinzip und Geltungsgrund der Unantastbarkeit der fundamentalsten unter diesen Rechten ist und den Grund der Unterscheidung zwischen abwägbaren und unantastbaren Rechten bildet. So sollte sie von der Rechtsdogmatik auch behandelt werden.
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Personenregister Alanus ab Insulis 122 Alexander von Hales 119–128 Alexy, Robert 319, 321 f. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 255 Arendt, Hannah 36, 188, 212, 317 Aristoteles 1, 106, 166, 292 Baranzke, Heike 119 Bernstorff, Jochen von 74, 75, 77, 78 Bethge, Herbert 329 Beulke, Werner 52, 330 Bielefeldt, Heiner 84–87 Birnbacher, Dieter 19, 66, 89 Blum, Paul Richard 140 Bockenheimer-Lucius, Gisela 269 Boethius 1, 117–122, 165–167 Bonaventura 124–127 Braun, Kathrin 6 Broome, John 253 Brugger, Winfried 71, 73, 75 f., 96 Büchner, Karl 108 Buck, August 137 Caesar 106 f. Churchill, Winston 257 Cicero 101 f., 104, 107–115, 133, 141, 146, 165 f., 181, 200, 242, 244, 314 f. Cramer, Wolfgang 293 Dancy, Jonathan 15 Daschner, Wolfgang 73, 86, 280 Dougherty, Michael V. 140 Dreier, Horst 33, 40 f., 60, 70 f. Dreier, Ralf 189 Drexler, Hans 104 Duns Scotus 140
Dürig, Günter 15, 21, 38 f., 57 f., 61, 132, 134, 142, 146, 165, 202 f., 251, 263, 323 ff., 335 Düwell, Marcus 34 Dworkin, Ronald 13 Ebbinghaus, Julius 183 Ebert, Theodor 155 f. Elsässer, Michael 120 Enders, Christoph 31, 34, 36, 71, 327 Erb, Volker 53, 280 Euklid 1 Facio, Bartolomeo 138 Fichte, Johann Gottlieb 15, 18, 27, 145, 161, 171, 206–239, 244, 252, 264, 267, 269, 275, 278, 280, 287–292, 295–297, 299 f., 306, 316 f., 319, 328 Fletcher, Joseph 256 Fried, Charles 262 Friedemann, Paul 268 Fuhrmann, Manfred 122 Gäfgen, Magnus 73, 86, 280 Geddert-Steinacher, Tatjana 37, 41, 44, 59 Geismann, Georg 183, 190 Gerhardt, Volker 183, 185 Gewirth, Alan 22, 34 Gilbert von Poitiers 121 Gregor von Nyssa 117, 119 Groß, Dominik 25 Gutmann, Thomas 277 Häberle, Peter 47, 50 Habermas, Jürgen 13, 46, 49, 145, 164, 188, 224 Hammerstaedt, Jürgen 120 Härle, Winfried 19 Harris, Arthur 257
356
Personenregister
Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich 18, 27, 145, 171, 209 ff., 244, 289, 298–310, 312, 316 Heinrich, Dieter 215 Herdegen, Matthias 62, 81 Hesse, Konrad 32, 328, 330 Heun, Werner 83 f. Hilgendorf, Eric 19, 35 f., 63, 67 Hillgruber, Christian 332 Hoerster, Norbert 10, 13, 62 ff., 81, 274 Hoffmann, Thomas Sören 138 Höfling, Wolfram 33, 37, 42, 46, 51, 58, 62, 70, f., 76 f., 79, 84 Honnefelder, Ludger 140 Honneth, Axel 145, 209 f., 240 Hörmann, Karl 252 Horn, Christoph 240, 245 ff. Hörnle, Tatjana 65, 81, 240 Hösle, Vittorio 234 Hruschka, Joachim 282 Hufen, Friedhelm 318 Husserl, Edmund 22 Isensee, Josef 70 f. Jesus Christus 116, 118, 120–123 Joerden, Jan C. 35 f., 269 Kagan, Shelly 15, 260 f. Kamm, Francis M. 15 Kant, Immanuel 2, 6, 15, 17 f., 30, 34, 61, 65, 78, 100 ff., 110, 117, 123 f., 132–136, 142 f., 145–209, 212 f., 244, 248, 252, 267, 269, 278 ff., 282 f., 286–294, 300, 313 f., 315, f., 319, 325 f., 328 Kaufmann, Paulus 19, 34 Kaulbach, Friedrich 150, 189 Kersting, Wolfgang 189, 193 Kettner, Matthias 19, 34 Kobusch, Theo 119, 123 Kondylis, Panajotis 103, 114, 116, 124, 141 Kriele, Martin 331 Krings, Hermann 140 Kuch, Hannes 19, 34 Kutschera, Franz 170 Lebech, Mette 103
Leitl, Josef 115 Leo der Große 116 Lévinas, Emmanuel 22, 332 Lohmann, Georg 36, 187 ff., 240, 246 f., 250 Ludwig, Bernd 189 Macklin, Ruth 11 Maihofer, Werner 44 Manetti, Gianozzo 137 Mangoldt, Hermann 34 Margalit, Avishai 19, 31, 65, 102, 183, 249 f. Markschies, Christoph 120 Maunz, Theodor 21 McKinnon, Catherine 6 Merkel, Reinhard 269, 274 Merle, Jean-Christophe 298 Metzler, Josef 137 Meyer, Michael J. 34 Mohr, Georg 212 f. Nagel, Thomas 15, 253, 256, 258 f. Neuhäuser, Christian 19, 31, 34, 102, 240 Neumann, Volker 8 Nicht, Manfred 5, 243 Nozick, Robert 15, 253, 256 f., 263 ff., 267 Nussbaum, Martha 19, 22 Panaitios von Rhodos 104, 112 Papier, Hans-Jürgen 318 Parent, William 34 Partmore, Douglas W. 265 ff. Paul III 136 f. Pawlik, Michael 300 ff. Petrillo, Natalia 35 f. Pfordten, Dietmar von der 187, 189, 198 Philon von Alexandrien 104 Picker, Eduard 83 Pico della Mirandola, Giovanni 138 ff. Pieroth, Bodo 318 Platon 106 Podlech, Adalbert 68 f. Pollmann, Arnd 19, 31, 102 f., 240, 242 f., 246 Pöschl, Viktor 103, 104, 108, 110, 116, 118 Prauss, Gerold 172 ff., 177 Principe, Walter H. 122
Personenregister
Proudhon, Pierre-Joseph 191, 208 Pufendorf, Samuel von 319 Quinn, Warren 16, 253 Rawls, John 145 Rhonheimer, Martin 261, 284 Richard von St. Viktor 121 f. Ricoeur, Paul 22 Rilinger, Rolf 105 Robinson, John A.T. 255 Rothhaar, Markus 73 Rousseau, Jean-Jacques 163 f., 187, 319 Sachs, Michael 33 Sandkühler, Hans-Jörg 74, 103 Schaber, Peter 19, 31, 65, 81, 102 f., 240, 242 Schaede, Stefan 116, 126 Scheffler, Samuel 15, 259, 261 ff., 270 Schlegel, Friedrich 185 Schlink, Bernhard 318 Schmitz, Hermann 215 Schopenhauer, Arthur 153 Schroeder, Mark 266 Schroth, Jörg 253 ff. Schulman, Adam 19 Schütze, Hinner 58 Scipio Aemilianus 110 Seelmann, Kurt 33 Seiterle, Stefan 41 Seneca 1 Sensen, Oliver 169 f. Singer, Peter 12
357
Sokrates 120 Starck, Christian 34, 42, 44, 70 f. Stepanians, Markus 34, 37 Stoecker, Ralf 3, 19, 25, 65, 81, 102 f., 240, 242–245, 250 Taurek, John M. 170 Teichert, Dieter 119 ff. Theophilus von Antiochia 115, 126 Thiele, Felix 35 f. Thomas von Aquin 101, 124 ff., 142 f., 154, 165 ff., 181, 284, 292, 310, 315, 316 Thomson, Judith Jarvis 269 Tiedemann, Paul 4, 103 Truman, Harry S. 28 Vogel, Bernhard 19 Vollmann, Benedikt Konrad 125 Wallau, Philipp 50 Walzer, Michael 210 Warren, Mary Anne 6 Webster, Elaine 19, 34 Wessels, Johannes 52, 330 Wetz, Franz Josef 35 Wieland, Wolfgang 184 Wildfeuer, Armin 5, 8, 103, 105, 118, 243 Wilhelm von Auxerre 121 William von Ockham 140 Willliams, Bernard 257 f., 262, 266, 298 Wittwer, Héctor 35, 179 Woodward, Paul A. 253 Zippelius, Rainer 318, 320
Sachregister Abhörurteil 62 Abwägung von Rechten 9, 27, 38, 45–55, 63, 251, 279, 328 Abwehrrechte 41, 66 f., 71, 77–83, 189, 204, 253, 269, 271, 287 ff., 297 ff., 301, 318 f., 321, 323, 331, 334, 336 Achtung 12, 14, 18 f., 25, 31, 45, 67 f., 74–76, 82, 85 f., 96, 102 f., 105, 147, 167, 169, 171, 176 f., 178, 181–184, 195–212, 238, 241–250, 268, 278, 290, 325, 332 f. Achtungspflicht 74 f., 82 Agent-centered prerogative 262 Agent-relative constraints 267 Aggressivnotstand 288 Akteursneutralität 15, 264 f., 272 f., 278, 323 Akteursrelativität 15, 256–280, 286, 323 f., 332, 337 Aktkonsequentialismus 265 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 2 f., 29, 32, 36, 146, 313 Allgemeinheit 107, 151, 161, 164, 174, 178 f., 192 f., 196, 207, 209, 326, 330 Amtswürde 17, 105, 124, 126, 243, 314 Anerkennung 13, 18, 22, 36, 38, 57, 69, 100, 137, 142–146, 151, 164, 171–181, 189, 196–256, 263, 267–280, 286–337 Angewandte Ethik 25, 284 Ansatz beim Verletzungsvorgang 57–60, 247 Anspruchsrechte 76, 82, 271, 287, 297 f., 301, 323, 334 Arbeit 245 f., 296, Atombombenabwürfe 257 Aufforderung 221–235 Äußeres Mein und Dein 280, 292, 294 Autonomie 11, 18, 109, 147, 162–184, 187–212, 238 f., 278, 282, 293, 295, 313–316, 323–326
Axiom 1 Bei-sich-Sein-im-anderen 300 Beleidigung 244, 247 Betrug 191, 204, 327 Bioethik 4, 6, 13 f., 19, 25, 30, 62, 67, 83, 93, 119, 182, 184, Bundesverfassungsgericht 7, 37, 62, 69, 83, 88, 273–277, 293, 318, 320 f., 332 Bundesverwaltungsgericht 41 f. Bürgerrechte 32 Consequentializing 15 f., 251, 253, 259, 262, 265 f. Constraints 15, 257, 265, 267, 328 Defensivnotstand 288 Demütigung 25, 40, 65–68, 81 f., 87, 92, 102 f., 242–250, 335 Demütigungsverbot 25, 65, 66,81 f., 87, 102, 242, 249 Deontologie 15 f., 47–51, 76 f., 97 ff., 148, 204 f., 253–280, 289, 305, 323 f., 328, 332, 337 Diebstahl 136, 175, 179 f., 191 ff., 196 f., 204, 257, 274, 301, 325, 327 Dignitas 1 f., 17, 103–143, 154, 165–167, 243, 314, 315 Diskriminierung 40, 58, 322 Diskriminierungsverbot 322 Diskurstheorie 22, 46, 188 Dominium terrae 116, 118 f., 310 Drittwirkung 319–323 Ehe 238, 246, 284, 300 Eigentum 32, 34, 36, 46, 113, 136 f., 180, 184, 191 f., 205, 254, 263, 270, 279 f., 288, 292, 295–305, 310, 314, 324, 327, 331, 334 f.
360
Sachregister
Eigentumsrecht 32, 34, 46, 205, 279 f., 288, 295–302, 305, 327, 335 Einschränkbarkeit von Rechten 50, 53 f., 76, 83 f., 88, 92, 97 f., 205 f., 208, 212 f., 251–256, 267, 279 f., 283, 285- 291, 294–299, 304 f., 314, 317, 319, 323–337 Embryo/Fötus 5 f., 10, 13, 25, 58, 62 f., 71, 77, 79, 182–186, 269, 274, 331 f. Ensembletheorie der Menschenwürde 63, 65, 68, 89, 335f. Enteignung 305 Entrechtung 58, 64 Erniedrigung 3, 25, 58, 65, 81, 103, 127, 239, 241–250 Erniedrigungsverbot 65, 81, 241–250 Esse morale 123 Eugenik 13, 256 Euthanasie 256, 269 Existenzminimum 7 f., 67, 71 Exklusion 250 Extrauterine Lebensfähigkeit 186 Folter 3, 39 f., 58, 68–76, 84–89, 203 f., 246, 248 Forschungsfreiheit 330 f. Freiheitsberaubung 137, 311 Freiheitsbeschränkung 140, 227 f., 230–235, 323 Freiheitsstrafe 6 f., 10, 69 Freizügigkeit 324 Gattung 111, 120, 214, 225, 227, 306, 309 Geist 67, 101, 104, 111–129, 182, 209, 234, 242, 244, 300, 304, 309 f., 310, 320 Gemeinwohl 112, 330 Genozid/Völkermord 58, 204, 257 Genus moris 284 f. Genus naturae 284 f. Gerechtigkeit 3, 7, 12, 16, 46, 108 f., 197, 210, 230, 315 Gesetzesvorbehalt 47, 83 f., 252 Gesetzgeber 8, 10, 83, 143, 169, 183, 193, 272–278, 322 Glaubens- und Gewissensfreiheit 304, 306, 324 Gleichbehandlung 95, 305, 322, 335
Gleichheit 3, 7, 12 f., 40, 66 ff., 147, 191, 207, 209 f., 249, 270, 290 f., 294, 305, 317 f., 322, 326, 333 Gleichheitsgrundsatz 68, 305, 318 Gott 115–143, 154, 165 f., 185, 188, 233 f., 252, 255, 293, 315 Gottesbeweis 293 Gottesebenbildlichkeit 116–119, 128 Gradus dignitatis 108 f., 113, 126 Grundgesetz 2 f., 15, 21, 29–37, 40 f., 44–48, 51, 54–58, 62, 68, 70 ff., 76 f., 87 f., 93, 97 f., 132, 146, 202, 236, 238, 244, 249, 252 f., 277, 279, 291, 318, 323, 328, 331 Grundrechte 2 f., 9 f., 14, 29, 32–56, 60–63, 69–98., 146, 188, 204, 245, 249, 251, 277, 280 f., 287, 298, 318–323, 327–331, 334 Grundrechtecharta der Europäischen Union 2 f., 29, 32, 93, 146, 249 Grundrechtsabwägung 46, 53, 63 Gut/Güter 6, 44, 46–51, 75, 84 ff., 89 f., 98, 106, 117 f., 126 f., 136 f., 142, 170 f., 200, 242, 248, 251, 254 ff., 259, 261–271, 288 f., 297 f., 301, 304 ff., 319 f., 328–335 Güterabwägung 47–50, 75, 98, 261, 288, 297, 331, 334 Gütermaximierung 263, 277 Handlungsfolgen 148, 251, 256, 258, 261, 265 Handlungsfreiheit 190–208, 271, 314, 326 f., 336 Handlungsintention 253 f. Handlungsmaxime 149, 162, 168, 175, 177, 191, 193, 196 f., 208, 302, 325, 327 Handlungsumstände 251 Herrschende Meinung 19, 47–56, 60, 64, 83, 95 f., 324, 335 Heteronomie 197 ff., 309 f. Hilfe in Not 73, 81, 92, 193, 253, 271, 280–283, 332, 335 Hirntätigkeit 14, 186 Höchstgüter 255 Homo noumenon 147, 183 ff. Homo phaenomenon 183 ff. Humiliationismus 25, 239, 243–250 Hypostase 120,122
Sachregister
Hypothetischer Imperativ 117, 147 ff., 151, 161, 164 Individualität 120, 123, 153, 209, 225–229, 232 f., 235, 244 f., 256, 290, 305, 319 Inneres Mein und Dein 280, 290 Instrumentalisierung 6, 19, 38, 61–68, 82, 87, 92, 102, 142, 202 f., 264, 324, 326, 331, 335 ff. Instrumentalisierungsverbot 61–64, 82, 87, 331 Integrität 40, 67 f., 262 f. Interessenabwägug 264 Intersubjektivität 16, 60, 123, 141 f., 157, 160, 171, 180 f., 206–229, 234, 239, 253, 259, 268 f., 271, 286 f., 294, 301, 306, 313, 316 Kasuistik 15, 97, 255 f. Kategorischer Imperativ 15, 21, 44, 61, 65, 101, 117, 136, 147–208, 238, 252 f., 263 f., 324 ff. Kausalität 183–186, 269 Klonen 60 Kollision von Rechten 14, 48 f., 73 f., 80, 82, 85, 96, 254, 288, 298, 300, 303, 324, 328–331 Kommunikationsfähigkeit 13 f., 94 Kommunitarismus 210 Konsensdefinition der Menschenwürde 59 f. Konsequentialismus 15 f., 47–51, 72, 76, 97 f., 148, 253–267, 271 ff., 277 f., 285, 289, 297, 305 f., 324, 337 Kontraktualismus 14, 68 f., 145, 319 Körperverletzung 52, 280, 285 f., 311 Kunstfreiheit 331 Ladendiebstahl 274 Leerformel 5, 64, 103, 243 Leib 138, 183, 214, 243, 274, 291 f., 295, 297, 303 f., 311, 329 Leidensfähigkeit 94 Lüge 41, 175, 179 f., 180, 201, 253, 325 Lügenverbot 179, 325
361
Massenmord 257, 271 Maxime 40, 109, 127, 148 f., 152, 162 f., 165, 168, 175 ff., 189–193, 196 f., 208, 302, 325, 327 Menschenantlitz 238 Menschenrechte 2–19, 25, 29, 31–45, 49–58, 63, 65, 71–99, 103, 146, 183, 187 ff., 201–206, 210, 212 f., 236–253., 274, 278 f., 281, 286, 290 f., 299, 309, 313, 316–328, 332–337 Menschenwürde als statusanzeigender Begriff 35, 94 Menschheitsformel (des Kategorischen Imperativs) 15, 21, 65, 101, 150–162, 170, 174, 179, 201–204, 238, 253, 263 ff., 324 ff. Mittel zum Zweck 6, 62, 77, 136, 156, 158, 164, 170, 197, 203, 239, 264, 270, 324, 326 Morale bombing 257 Moralität 178, 192, 301–304 Mord 49, 81 ff., 86, 105, 170, 175, 179, 191, 193, 197, 249, 253, 257 ff., 261 f., 265 f., 269, 271, 273, 280, 303 f., 306, 320, 327 Mundraub 288, 301 Naturkausalität 183 f., 186, 269 Naturrecht 135, 137, 180, 208, 212 ff., 216, 225 f., 235, 237 f., 295, 297 ff., 301, 319 Negative Pflichten 72, 76, 78, 82, 204, 252, 255, 261, 267 Nichtinstrumentalisierung 19, 61–64, 92, 102, 142, 324, 335 Nötigung 311 Notwehr 52 f., 66, 75 f., 81, 87, 90 ff., 99, 198, 256, 268, 279, 280–288, 331 f., 335 Notwehrhilfe 53, 76, 87, 91 f., 99, 198, 256, 279 ff., 285 f., 288 Notwehrrecht 66, 92, 268, 281 ff., 286 Objektformel 21, 38, 57–65, 165, 202 f., 251, 335 ff. Objektivierung 202 f., 336 Objektiv-rechtliche Lesart der Menschenwürde 41 ff., 71, 311 f. Paradox der Deontologie 257 ff., 263 f., 270 f.
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Sachregister
Paternalismus 43 „Peep-show“-Urteil 41 f., 96 Personalität 121, 123, 125, 213, 303, 306 Personenstatus 184 Persönlichkeitsrecht 291 Perspektivenwechsel 266 Pflichten gegen andere 101, 133, 140 ff., 160, 178 f., 181, 199, 272, 314 ff. Pflichten gegen sich sebst 2, 43, 101, 114, 119, 133, 141 f., 178–181, 187, 200, 239, 311–316 Politische Würde 104, 165 Positive Pflichten 271 Praktische Konkordanz 328, 330 Prinzipialistische Lesart der Menschenwürde 33–45, 55, 57, 69–72, 75, 80, 84 ff., 93, 95–99, 202, 205, 241, 281, 327 f. Recht auf freie Meinungsäußerung 46, 270, 291, 294 Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz 66, 68, 249, 291, 294, 317, 322, 333 Recht auf Leben 3, 6, 9,34, 36, 39, 46, 48, 50, 52–55, 62, 66 f., 72, 77–92, 97, 99, 206, 249,251, 263, 268, 274, 276, 280, 281, 286, 291, 294–306, 317, 320–327, 330–335 Recht auf Rechte 36, 71, 212, 316 Rechtfertigender Notstand 205, 300 Rechtfertigungsgrund 52 f. Rechtsgemeinschaft 12 f., 48, 59, 85, 188 f. 191 ff., 250, 264, 275 ff., 294, 297, 298, 312, 317, 330, 335 Rechtsgüter 44, 47, 85 f., 251, 288, 328, 330, 331 Rechtsidee 187, 194–199, 206 ff., 212, 232, 236, 238 f., 252, 278, 282 f., 286, 294, 314, 319 f., 326 f., 332, 335 Rechtspflichten 15, 27, 31, 43, 53, 55 f., 66, 69, 76 f., 79, 96, 99, 101, 146, 187, 199, 204, 263, 270, 282, 306, 311, 315 f., 324 Rechtsprinzip 8, 25, 33, 49, 68, 87, 146, 188–199, 208, 226–237, 249, 270, 279, 290–295, 313–336 Rechtsstaat 9 ff., 36, 45 f., 60, 68, 85 f., 96, 273, 275, 283, 291, 310, 312 Rechtsstaatsprinzip 60, 68, 291
Rechtssubjektivität 27, 184, 295, 305, 312 Rechtssubjekt 6, 12 f., 18, 35 f., 39, 42, 47 f., 69, 72, 77, 96, 99, 137, 146, 180, 199–209, 236–239, 250, 263, 267–278, 294–299, 305, 312, 317–323, 335 Rechtswidriger Angriff 52, 54, 66, 73, 75, 79, 91, 180, 268, 281–285, 288, 320 f. Redundanzthese 4, 5, 10, 11, 37 Reich der Zwecke 163, 166, 178 ff. Rettungsfolter 5, 9, 73 f., 76, 78, 84–87, 90, 96, 280, 331 Rigorismus 252, 279, 287 Rollenwürde 102, 105, 107, 113 ff., 125, 243 Schutzpflicht 71, 74–77, 82, 96 Schwangerschaftsabbruch 5 f., 9, 62, 76–79, 88, 90, 96, 269, 273 ff., 277, 320, 331 Selbstachtung 14, 19, 25, 31, 102 f., 209 ff., 241–250 Selbstbestimmung 6, 11, 19, 46, 48, 162, 187, 190, 217, 222, 237, 332 Selbstbestimmungsrecht 6, 11, 46, 48, 332 Selbstbewegtheit 129, 135, 292, 310 Selbstbewusstsein 14, 94, 108, 210–231, 304 Selbsterhaltung 174, 183, 296 Selbstverteidigung 283, 285 Selbstwertgefühl 103, 209 ff., 241, 245–250 Selbstzwecklichkeit 7, 19, 116, 132, 136, 155, 160, 162, 165, 171 f., 176, 179, 181, 201, 203, 238 f., 315 Sexuelle Selbstbestimmung 237 Siamesische Zwillinge 269 Side constraints 15, 263 Sittlichkeit 211, 302, 304, 309 Situationsethik 255 f., 285 Sklaverei 3, 36, 40, 58, 109, 131, 136 f., 303 f., 309–312 Solidarpflichten 287 Soziale Würde 31 f., 104, 244 Sozialstaatsprinzip 7, 68 Spezies 12 f., 30, 94, 119, 134, 182, 232, 250, 314 Spezieszugehörigkeit 94, 232
Sachregister
Spezifisch-rechtliche Lesart der Menschenwürde 34–102, 204 f., 241, 249, 252, 279 ff.,324–332 Stammzellforschung/Embryonenforschung 5 f., 13, 58, 71, 274, 331 Sterbehilfe 5, 9 Stoa 104, 112, 114–117, 124, 141 f., 145, 310, 313, 315 Strafrecht 51–54, 63, 78, 136, 205, 269, 272 ff., 276, 280, 282, 294, 300, 311, 322, 330, 332 Strafrechtsdogmatik 51 ff., 205, 330, 332 Strafvollzug 8, 274 ff. Suizid 179, 183 f., 201, 269 Teilnahmerechte 189, 210, 317 Todesstrafe 5, 71, 134 ff., 315 Tötung 6 f., 49, 52,62, 66 ff., 77–83, 86 f., 134, 170, 175, 179, 191, 193,197, 249, 252 f., 256–273., 276, 279 f., 281–288, 292–295, 301–306, 310, 312, 315, 317, 320, 324 f., 327, 333 Tötungsverbot 6, 62, 67, 81, 87, 256, 259, 285, 325 Trinität 119–123 Tugendethik 22, 260 ff. Tugendpflichten 78, 179, 187, 311, 312 Übel 7, 49, 265 f. Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (Bioethikkonven tion) 2 Unabwägbarkeit 9, 15 f., 19, 27, 38, 45 f., 50 ff., 66f., 72 ff., 81–85, 92, 204 ff., 249–307, 318, 328, 335 f. Unantastbarkeit 3 ff., 9, 15, 27, 43–58, 66–76, 80–92, 96, 201, 204, 249, 251, 262, 272, 278–307, 316, 318, 333–337 Unbedingte Pflichten 55, 251–306, 315 Unbedingtheit 15 f., 18, 54 ff., 62, 69, 71–74, 82, 85 ff., 98, 146–150, 161 f., 167 f., 172 f., 177, 180, 196, 201, 235, 251–307, 315 Ungeborene menschliche Lebewesen 6, 13, 25, 30, 76, 79, 182, 184, 186, 277, 332 Universalisierbarkeitsformel (des Kategorischen Imperativs) 148–151,
363
159–181, 190f., 194, 199f., 203, 208 f., 243, 302, 313 f., 327 Unterlassenspflichten 77 Unverfügbarkeit 7, 22, 42 269, 270, 320, 333 Urrecht 135, 137, 180, 208, 212–216, 225 f. 235 ff. Utilitarismus 12, 50 f., 72, 98, 148, 256, 274, 277, 337 Utilitas 132 ff., 137, 142 f., 154, 167 Verantwortung 73, 85, 185, 257 f., 260 f., 276 Verfassungsrecht 1, 4, 9, 15, 18 f., 29–102, 142, 187, 201–205, 237–239, 251, 273–280, 288, 291, 291, 298, 319, 325, 328–335 Verfassungsrechtsdogmatik 9, 18, 33, 43–56, 64, 76, 81, 90, 93, 97–99, 102, 142, 187, 202, 204, 237, 251, 278 ff., 288, 291, 298, 311, 316, 318, 320, 328 Vergeltungstheorie der Strafe 7 Vergewaltigung 247, 274 Verhältnismäßigkeit 283 Vernunftnatur / Vernunftbegabung 3, 13, 102, 104, 112–115, 123 ff., 127–132, 138, 141 f., 165, 167, 200, 244 f., 310, 314 Vernunftwesen 18, 120, 129–132, 135, 141, 143, 153 f., 156–183, 186, 194–200, 204, 207–211, 214- 218, 226, 232, 234, 236, 238 f., 241, 244, 246, 275, 291–94, 310, 313 ff., 325 Vertreibung 58, 305 Völkerrecht 1 f., 30 Volkssouveränität 163 Volonté générale 163 Vorbehaltlose Grundrechte 331 Vorverständnis 22–26, 93 Wesensgehalt der Grundrechte 34, 47 f. Widerspruchsfreiheit 41, 160, 175, 179, 190, 191 Willensfreiheit 126–128, 139, 142, 172, 234, 304 Willkürfreiheit 11, 60, 158, 189–196, 239 Wohlergehen 154, 302 Wohlwollen 300
364
Sachregister
Zeugung 10, 76, 89, 106, 146, 153, 184 ff. Zirkel des Selbstbewusstseins 221–224, 231 Zwangsbefugnis 53, 76–79, 281, 283
Zweck an sich 6, 145, 147, 152–167, 171–174, 179 f., 180 f., 196, 200, 203, 239, 293, 313, 333