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German Pages 322 Year 2016
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1327
Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts Kohärenz der Konzepte? Von
Sabine Blömacher
Duncker & Humblot · Berlin
SABINE BLÖMACHER
Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1327
Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts Kohärenz der Konzepte?
Von
Sabine Blömacher
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster hat diese Arbeit im Jahr 2015 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D6 Alle Rechte vorbehalten
© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: CPI buchbücher.de, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14973-5 (Print) ISBN 978-3-428-54973-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84973-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2015 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhems-Universität zu Münster als Dissertation angenommen. Sie entstand größtenteils während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht von Prof. Dr. Thomas Gutmann. Die Arbeit wurde durch ein Projekt der Volkswagen Stiftung gefördert und ist diesem verbunden. Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem (veröffentlichten) Stand Dezember 2014. Darüber hinaus konnten im Rahmen der Vorbereitung der Publikation der Arbeit noch einzelne Veröffentlichungen bis Anfang April 2016 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gebührt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Gutmann, der nicht nur das Erstgutachten zu meiner Arbeit erstattet, sondern diese auch betreut und über Jahre hinweg gefördert und begleitet hat. Herr Prof. Dr. Gutmann hat mich nicht nur in meiner Themenwahl bestärkt, sondern mir immer auch die Freiheit für eigene Gedanken und Ansätze eröffnet. Ohne seine stete Unterstützung, seine Anregungen und Kritik hätte diese Arbeit nicht in der vorliegenden Form entstehen können. Herzlich danken möchte ich weiterhin Herrn Prof. Dr. Fabian Wittreck für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie seine wertvollen Hinweise zur Vorbereitung der Veröffentlichung. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wittreck darüber hinaus für seine Unterstützung bei der Wahl des Verlages zur Publikation meiner Arbeit. Weiterhin möchte ich der Stiftung Menschenwürde weltweit und Herrn Prof. Dr. Jörn Hardy für die großzügige Unterstützung bei der Verfassung und Drucklegung dieses Buches danken. Zu Dank verpflichtet bin ich zudem der Volkswagen Stiftung für die finanzielle Förderung meiner Arbeit. Auch möchte ich meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht für die schöne gemeinsame Zeit danken. Sie standen mir stets mit Rat und Tat zur Seite. Meiner Kollegin Lioba Welling danke ich zudem für den einen oder anderen Denkanstoß und immer den nötigen Schokoladenvorrat, den einige Phasen eines solchen Dissertationsprojekts erfordern. Ebenso gebührt mein Dank Frau Silvia Ernst, Frau Johanna Peters und Frau Gunhilde Höhne-Ebert für ihre Geduld, Sorgfalt und Unterstützung beim Korrekturlesen der vorliegenden Arbeit.
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Vorwort
Außerdem danke ich ganz herzlich Herrn Dr. Nikolaus Vincent Manthey sowie dem gesamten gesellschaftsrechtlichen Team, die mich in der Endphase des vorliegenden Projekts unterstützt und bestärkt haben. Ganz besonders möchte ich schließlich Thore Apitz danken, der mich während der gesamten Zeit der Promotion und auch darüber hinaus stets unterstützt und in jeder Phase des Projekts ermutigt und bestärkt hat. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, Renate und Franz-Josef Blömacher, die mich während der gesamten Zeit meiner juristischen Ausbildung immer unterstützt und an mich geglaubt haben. Ohne ihre Unterstützung und ihren Zuspruch hätte ich diese Arbeit so nicht schreiben können. Hamburg, im Frühjahr 2016
Sabine Blömacher
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Teil 1 Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
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A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG – Der Rechtsbegriff der Menschenwürde . . . . . . . . . 20 I. Der Begriff der Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Standort der Menschenwürde im deutschen Recht – Das Grundgesetz . . . . . . . . . 26 1. Von den Anfängen bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes: Beratungen zur Normierung der Menschenwürde – Entwicklung einer grundgesetzlichen Fundamentalnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Entwicklung des Grundgesetzes seit 1949 – (Notwendige) Anpassung an eine sich wandelnde Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I. Art. 1 Abs. 1 GG in der Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungsgerichts 40 II. Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG – Entwicklungslinien der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Subjektives Moment des Schutzes der Menschenwürde – Verletzung der Menschenwürde durch eine verächtliche Gesinnung des „Täters“? . . . . . . . . . . . . . 44 2. Strukturelemente der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Nichtkonsequentialistisches Moment und absoluter Schutzanspruch – Die Abwehr- und Schutzpflichtfunktion der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . 49 (1) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 (2) Die Grundsatzentscheidung – Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes (15. Februar 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Grundnorm personaler Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 c) Fundamentalnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 d) Der würdebasierte Kernbereichsschutz und das Verhältnis der Würdegarantie zu den anderen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 (1) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 (2) Leitentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 (a) Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ (3. März 2004) – Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
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Inhaltsverzeichnis (b) Entscheidung zur „Online-Durchsuchung“ (27. Februar 2008) . . . . . 82 e) Entwicklung leistungs- und teilhaberechtlicher Aspekte aus der Garantie der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 (1) Leistungsrechtlicher Aspekt – Art. 1 Abs. 1 GG als Anspruchsgrundlage 87 (2) Teilhaberechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (3) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
C. Rezeption des Art. 1 Abs. 1 GG im Spiegel der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft . . 102 I. Verfassungsrechtliche Stellung des Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Allgemeine Bedeutung und Rechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG – (Basis-) Grundrecht vs. Fundamentalnorm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Art. 1 Abs. 1 GG als (Basis-)Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Art. 1 Abs. 1 GG als Fundamentalnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (1) Grundannahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (2) Modifikation: Ein Recht darauf, Rechte zu haben (Arendt/Enders) . . . . 119 (3) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG zu weiteren Grundrechten . . . . . . . . . . . . 123 3. „Würde gegen Würde“ – Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Theoretische Absicherung der normativen Aussage der Menschenwürde – Schutzbereichs- und Eingriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Konkretisierungsdilemma – Grundproblem im Umgang mit dem Inhalt der Würdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Schutzgrund und Schutzbereichsbestimmung der Menschenwürde . . . . . . . . . . 141 a) Positive Versuche der Begriffsbestimmung – säkulare Versuche inhaltlicher Konkretisierung zwischen Religion und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (1) „Mitgifttheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (2) „Leistungstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (3) „Kommunikationstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 (4) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Nicht- bzw. Negativdefinition der Menschenwürde und die Bedeutung der Objektformel – Lösungsansätze des Konkretisierungsdilemmas? . . . . . . . . . 151 (1) Nicht- bzw. Negativdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (2) Die „Objektformel“ als Konkretisierungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Der Verletzungsbegriff in Bezug auf den Schutz der Menschenwürde . . . . . . . 155 III. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen – Absolutes Konzept? . . . . . . . . . 158 IV. Die Ewigkeitsgarantie – Bedeutung des Schutzes durch Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . 163
Inhaltsverzeichnis
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D. Zusammenfassung – Die strukturellen Elemente des Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . 164 I. Schutz des Individuums und Achtung des Menschen als Rechtsperson . . . . . . . . . 166 II. Schutz und Achtung der personellen Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Gewährung fundamentaler Basisgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 IV. Strukturbildende Basis der (Grund-)Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 V. Deontologische Struktur der Rechtsordnung und „oberstes Konstitutionsprinzip“ 173
Teil 2 Die Menschenwürde im europäischen Recht – am Beispiel ausgewählter Rechtsnormen des Europarates sowie der Europäischen Union und der entsprechenden Rechtspraxis 175 A. Strukturelle Entwicklungen – Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 B. Entwicklungslinien überstaatlicher Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer gemeinschaftlichen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Institutionelle Gliederung des Europäischen (Menschen-)Rechtsschutzes . . . . . . . 180 1. Ebene des Europarates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Ebene der Europäischen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Vorüberlegungen zu einem europäischen Menschenrechts- und Würdeschutz . . . 181 C. Wesentliche Rechtsakte im Bereich des Grund- und Menschenrechtsschutzes auf Ebene des Europarates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Die EMRK und insbesondere Art. 3 EMRK – indirekter Schutz der menschlichen Würde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Grundsätze der EMRK und rechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Schutzumfang und -richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Menschenwürdegehalt der einzelnen Konventionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Die Bedeutung des Art. 3 EMRK als absolut geschütztes Recht – indirekter Schutz der Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Die Antifolterkonvention – spezifische Ergänzung des in Art. 3 EMRK angelegten Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 D. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)
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I. Drohende Todesstrafe und der Schutz des Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Auslieferung und Abschiebung bei drohender Folter oder erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 III. Die Bedeutung eines mutmaßlichen Terrorismusverdachts im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 1. Das Chahal-Urteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
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Inhaltsverzeichnis 2. Weitere Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 IV. Fragen zulässiger Haftbedingungen, Strafverfolgung und -vollstreckung . . . . . . . 225 V. Die Menschenwürde als Motiv und Grundlage der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) – Ansätze eines Konzeptes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 I. Ausgangssituation – Der Fall Stauder und die Anfänge des Grundrechtsschutzes durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 II. Entwicklungen post Stauder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 III. „Transsexuellen“-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 IV. Entscheidung zur Biopatentrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 V. Entscheidung in der Sache Omega Spielhallen- und Automaten-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon als ablösender Kompromiss – Entscheidende Entwicklungen (auch) im europäischen Grundrechtsschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I. Regelungsgehalt und Zielsetzung des Verfassungsentwurfs und die Modifikationen des Vertrages von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 II. Menschenwürdeverständnis im Verfassungsentwurf und dem Vertrag von Lissabon – Die Charta der Grundrechte, die Bezugnahme in Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Entstehung der Charta der Grundrechte – Neuland in der Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Ziel- und Zwecksetzung der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Europäischer Grundrechtsschutz post Verfassungsentwurf – Fortschreibung im Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 a) Verfassungsentwurf, Vertrag von Lissabon und die Charta der Grundrechte – Menschenwürdeschutz als Novum des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . 273 b) Die Würde des Menschen – Titel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ein umfassender Katalog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 c) Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 EUV (n.F.) – trotz Verbindlichkeit der Charta notwendig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 d) (Bindende) Werte und Prinzipien des Gemeinschaftsrechts? – Die Präambel und Art. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 G. Weitere Maßnahmen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Inhaltsverzeichnis
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H. Fazit: Die Europäischen Union zwischen unverbindlichen Erklärungen und bindenden Rechtssätzen – Der Weg zu einem europäischen Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . 285 I. Grundrechte- und Menschenwürdetradition im europäischen Recht – Von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 II. Menschenwürdeschutz als „Exportschlager“ des deutschen Rechts? . . . . . . . . . . . 288 Abschließende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Bedeutung der Menschenwürde im deutschen und im Gemeinschaftsrecht . . . . . . 292 II. Entwicklung und Reichweite des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes . . . . . 292 III. Verhältnis des deutschen zum europäischen Begriff der Menschenwürde . . . . . . . 294 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Abkürzungsverzeichnis A.A., a.A. Abs. a. F. AK-GG
andere Auffassung/andere Ansicht Absatz alte Folge Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), bearb. v. Axel Azzola u. a. Anm. Anmerkung AöR Archiv des öffentlichen Rechts ARSP Archiv für Rechts- und Staatsphilosophie Art. Artikel Aufl. Auflage AZP Allgemeine Zeitschrift für Philosophie BayVerf Verfassung des Freistaates Bayern (Bayerische Verfassung) BayVerfGH Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bd. Band Beih. Beiheft BGH Bundesgerichtshof BGHSt. Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerwG Bundesverwaltungsgericht bzw. beziehungsweise ders. derselbe Diss. Dissertation DÖV Die öffentliche Verwaltung DuR Demokratie und Recht DVP Deutsche Verwaltungspraxis ebd. ebenda EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einl. Einleitung EJIL European Journal of International Law EL Ergänzungslieferung E.L.Rev. European Law Review EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EuGH Europäischer Gerichtshof EuGRZ Europäische Grundrechtszeitung Euratom Europäische Atomgemeinschaft EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft f. folgende ff. fortfolgende Fn. Fußnote GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls
Abkürzungsverzeichnis Habil. H.M./h.M. Hrsg. hrsg. i.E. i. e.S. insb. i.V.m. i.w.S. JöR JR JuS JZ KJ KritV Lfg. M.M./m.M. MRM m.w.N. n.F. NJW NVwZ OLG OVG RJD Rn. Rspr. RW S. Sp. st. Rspr. StGB StPO Vgl./vgl. Z. B., z. B. ZEuS zfmr ZRP ZRPh
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Habilitation herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben im Einzelnen im engeren Sinne insbesondere in Verbindung mit im weiteren Sinne Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Lieferung Mindermeinung MenschenRechtsMagazin mit weiteren Nachweisen neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Reports of Judgements and Decisions/Recueil des arrêts et décisions (Entscheidungssammlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte seit 1996) Randnummer Rechtsprechung Rechtswissenschaft (Zeitschrift) Satz/Seite Spalte ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch Strafprozessordnung vergleiche zum Beispiel Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Menschenrechte Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Rechtsphilosophie
Im Übrigen wird verwiesen auf: Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Auflage, Berlin 2015.
Einleitung „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie! Sie sinkt mit Euch! Mit Euch sie sich hebt“. Friedrich Schiller, Gedichte: Die Künstler, 1789
Die Debatte um die Bedeutung und den Schutz der Menschenwürde als Rechtsbegriff erlebt eine Renaissance – national wie international.1 Die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen wie (medizin)technischen Entwicklungen der heutigen Zeit führen zu einer steten Fortentwicklung, wodurch zunehmend (Grenz-)Bereiche sichtbar werden, in denen die Reichweite des Menschenwürdeschutzes in Frage gestellt wird. Die vielfach beschworene – vermeintliche – Ungenauigkeit und Offenheit der Würdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG scheinen einer Lösung der auftretenden Konflikte entgegenzustehen. Der Stand der Debatte um Bedeutung und die Schutzdimension des Konzeptes der Würde erweist sich dabei insgesamt als unbefriedigend2 und beschränkt sich lange nicht mehr auf das deutsche Recht, sondern ist zugleich auch eine Frage des gemeinschaftlichen europäischen Rechts. Der Vergleich der Funktion der Würde in diesen beiden Bereichen bildet das Leitmotiv der vorliegenden Analyse. Ausgangspunkt dieser Dissertation ist dabei die verfassungsrechtliche Verankerung und Ausdifferenzierung des Würdeschutzes in der deutschen Rechtsordnung, woran in einem zweiten Schritt die Frage nach einem Schutzkonzept auf Europäischer Ebene angeschlossen wird. Die vorliegende Dissertation gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil hinterfragt als normtheoretische Analyse des Art. 1 Abs. 1 GG, kritisch das Konzept der Menschenwürde als Rechtsbegriff im deutschen Recht und zeigt anhand dessen die Struktur, Funktion und Verwendung des Würdebegriffes im deutschen Recht auf. Die Analyse der Normstruktur der Würde in der deutschen Rechtsordnung geht dabei einher mit einer Inhaltsbestimmung der Würdenorm, die sich mit der Frage befasst, was die Menschenwürde im deutschen Recht leistet und wie das Konzept der Würde funktioniert.
1
Vgl. dazu auch Lohmann, Was umfasst die „neue“ Menschenwürde der internationalen Menschenrechtsdokumente?, in: Demko/Seelmann/Becchi (Hrsg.), Würde und Autonomie, 2015, 15 ff. 2 Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (309).
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Einleitung
Zunächst werden speziell die Ereignisse und Umstände, die zur Normierung der Menschenwürde an der Spitze des Grundgesetzes geführt haben, kurz erläutert (A.). Mit Blick auf die Rechtspraxis und den diesbezüglich vorherrschenden „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ – die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts –, wird die Struktur der Norm in einem zweiten Schritt näher beleuchtet (B.). Dabei werden anhand ausgewählter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Funktionen des Normkonzeptes der Würde analysiert. Die Auswahl der Entscheidungen folgt keiner historisch-chronologischen Ordnung, sondern der Leitfrage nach der Funktion und der Struktur der Würde im deutschen Recht. Die Menschenwürdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG löst mit ihrer Interpretationsoffenheit und der damit verbundenen Unbestimmtheit immer wieder heftige Debatten aus. Dem geschuldet, müssen daran anknüpfend insbesondere die gegenläufigen Interpretationskonzepte der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft aufgezeigt und kritisch diskutiert werden (C.). Die in der Literatur entwickelten Konzepte der Würde werden dabei den Elementen des Konzeptes des Bundesverfassungsgerichts folgend erfasst und entsprechend dargestellt. Der gewählte Aufbau orientiert sich an der, der Darstellung des Konzeptes des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegenden Ordnung. Die Analyse des Würdekonzeptes im deutschen Recht mündet in der Erfassung fünf wesentlicher Strukturelemente, die dieses Konzept der Menschenwürde im deutschen Recht bestimmen (D.). An die Analyse des Würdekonzeptes im deutschen Recht schließt sich im zweiten Teil der Arbeit die Frage der Rezeption und die Analyse des Menschenwürdebegriffes im Europäischen Recht an. Die Konzeption des Rechtsbegriffes der Menschenwürde als kategorische Norm und unveräußerliches Gut wird seit einigen Jahren als „Exportschlager“ des deutschen Rechts gehandelt.3 Das deutsche Konzept hat @ wie es vom Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Interpretation in der Wissenschaft verstanden wird @ einen deontologischen, kategorischen Charakter, das die Menschenwürde als Grundrecht begreift, das einen besonders effektiven Schutz vor Verletzungen gewährleistet. Im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen kann diese Ausrichtung als ein „deutscher Sonderweg“4 der Grundrechtstheorie5 bezeichnet werden. Die Protokolle einschlägiger Beratungen auf europäischer Ebene6 deuten darauf hin, dass sich bisher keine umfassende eigenständige europäische Dogmatik der Menschenwürde als Rechtsbegriff herausge3
Vgl. dazu auch die Ausführungen von Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (534 f.). 4 Vgl. Kirste, Die Würde des Menschen im Recht, ARSP 95 (2009), 420 (421); Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (428 f.). 5 Siehe zur Grundrechtstheorie insgesamt Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 ff. 6 Vgl. Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1, Rn. 1 ff. m.w.N. Siehe zur Entwicklung der Charta der Grundrechte Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003 und dort zur Menschenwürde insbesondere 70 f.
Einleitung
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bildet hat. Vielmehr wurde der Begriff in verschiedenen Rechtsakten verwendet und in der Auslegung mit teils stark religiös oder politisch orientierten Konnotationen verbunden, die nicht als universeller Begründungszusammenhang anerkannt werden können. Ein dem deutschen Begriffsverständnis vergleichbares, normatives Konzept spiegelten diese ersten Ansätze nicht wider. Eine Analyse der Entwicklung der juristischen Praxis auf europäischer Ebene zeigt, dass neben der Übernahme des Begriffes der Menschenwürde auch die Entwicklung eines Konzeptes angestrebt wird, das sich an das deutsche Begriffsverständnis anlehnt und dieses sogar zum Teil adaptiert. Methodisch geht die vorliegende Analyse im Wesentlichen der Frage nach, welche Wertvorstellungen und Interpretationshorizonte die politischen Akteure bei der Konzeption der einschlägigen europäischen Rechtsnormen bzw. bei der richterlichen Rechtsfortbildung beeinflusst haben. Dabei werden ausgehend von der Idee internationaler Kooperation (A.) und den Entwicklungslinien der supranationalen Zusammenarbeit (B.) zunächst die wesentliche Rechtsakte im Bereich des Grundund Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene beleuchtet (C.). In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) wie auch des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zeigt sich indes eine stete Bezugnahme auf den Schutz der Menschenwürde – wenn auch zunächst ohne eine entsprechende normative Grundlage. Die Analyse des Umgangs mit dem grundlegenden Schutz und der Achtung der Menschenwürde in der Rechtspraxis des EGMR erfolgt an Hand einzelner – besonders prägnanter – Entscheidungen (D.). Dabei zeichnet sich Ansätze eines Konzeptes der Würde ab, das – in Korrelation zu dem Umgang des EuGH mit der Würde des Menschen gesetzt – dem europäischen Recht eigen ist und dessen Spezifika widerspiegelt. Spätestens seit dem Inkrafttreten der Charta der Grundrechte 2009 mit dem Lissaboner Vertrag – die eine normative Grundlage des Würdeschutzes geschaffen hat – zeigt sich in der Rechtsprechung des EuGH unter Anknüpfung an seine richterrechtlich entwickelten Grundrechte und die zugehörige Rechtsprechungstradition die Entwicklung erster Ansätze eines Konzeptes (E.). An dieser Stelle ist nicht zuletzt zu untersuchen, welchen Einfluss der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon auf die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte allgemein und das Würdeverständnis im Besonderen hatten (F.) und in wieweit dem europäischen Diskurs über den Rechtsbegriff der Menschenwürde gemeinsame substantielle Vorstellungen der Mitgliedsstaaten zugrunde liegen. Es ist anhand ausgewählter Beispiele danach zu fragen, wie das Konzept „Menschenwürde“ im europäischen Recht tatsächlich funktioniert, was es leistet und wie es angewendet wird. Die wesentlichen Ergebnisse der gesamten Analyse der Arbeit werden am Ende in Form eines Fazits (H.) und abschließender Thesen noch einmal zusammengefasst.
Teil 1
Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG – Der Rechtsbegriff der Menschenwürde Die Würde des Menschen steht an der Spitze des Grundgesetzes. Jedoch ist der Begriff der Menschenwürde kein originär juristischer Begriff, vielmehr ist er verschiedenen Disziplinen, wie etwa der Philosophie, der Ethik und der Theologie zugehörig. Jede dieser Disziplinen hat ihr eigenes Verständnis des Begriffes der Würde des Menschen – zum Teil über Jahrtausende – ausgebildet. Dies führt dazu, dass die Dimension des Würdebegriffes, als Begriff der verschiedenen Disziplinen eigen ist, entsprechend vielschichtig ist.1 Die Abgrenzung der jeweiligen Begriffsverständnisse von einander bedarf daher einer kritischen Betrachtung, um den spezifischen Rechtsbegriff der Menschenwürde eindeutig auszuweisen und diesen als Begrifflichkeit des Rechts zu erfassen. Als Rechtsbegriff kommt der Würde des Menschen ein besonderer Stellenwert zu, der eine Eindeutigkeit und Klarheit des Begriffsverständnisses verlangt, die nur durch eine konsequente Abgrenzung der Begrifflichkeit des Rechts zu der anderer Disziplinen zu erreichen ist. Das bestehende Spannungsverhältnis der unterschiedlichen Begriffsverständnisse, die abhängig vom jeweiligen Blickwinkel der Menschenwürde anhaften, erweist sich als besondere Schwierigkeit im Umgang mit dem Begriff der Menschenwürde als Begriff des Rechts. Der philosophische Begriff der Würde etwa, der wiederholt zu einer Bestimmung des Begriffes der Würde im Recht herangezogen worden ist, blickt dabei auf eine nahezu zweieinhalbtausendjährige Geschichte zurück, während im Vergleich dazu die Geschichte der Würde des Menschen als Begrifflichkeit des Rechts eine verhältnismäßig kurze ist.2 Eine wechselseitige Einflussnahme der Begrifflichkeit liegt daher nah, sollte für die rechtliche Begriffsbestimmung jedoch (vollständig) vermieden werden. Die Begrifflichkeit des Würdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG als solche ist von anderen Begriffsverständnissen zu differenzieren und muss losgelöst von diesen betrachtet werden, um als eigenständige Begrifflichkeit des Rechts zu bestehen. 1 Vgl. Sandkühler, Menschenwürde und Transformation moralischer Rechte in positives Recht, in: ders. (Hrsg.), Menschenwürde, 2007, 57 (66 f.). 2 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 2.
A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG
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Vorliegend soll der in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Rechtsbegriff der menschlichen Würde im Vordergrund stehen. Die Leitlinie bildet die Frage nach der Funktion der Würde im Recht. Die offene Formulierung des Normtextes des Art. 1 Abs. 1 GG bietet dabei eine besondere Schwierigkeit, die im Umgang mit der Würdenorm hervortritt und auf die ein besonderes Augenmerk zu legen ist. Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Garantie der Menschenwürde als zentrales Element des Art. 1 Abs. 1 GG und des Grundgesetzes insgesamt sowie der Problematik des interpretationsoffenen Konzeptes der Norm ist der Schwierigkeit einer eindeutigen Definition – Was ist Menschenwürde? – und der Notwendigkeit der Analyse des eindeutigen strukturellen Konzeptes – Was ist spezifisch für den durch die Menschenwürde gewährten Schutz? – zu begegnen. Eine Analyse des Konzeptes der Menschenwürdegarantie ermöglicht es, die rechtliche Begrifflichkeit der Würde und das dahinterstehende Konzept zu erfassen und den Schwierigkeiten des Würdeschutzes in Grenzbereichen zu begegnen, um so einen Ansatz zu bieten die Grenzen des Würdeschutzes (eindeutig) zu definieren. Verdichtet man die Ergebnisse einer solchen Analyse des Würdesatzes auf seine Funktion und Strukturelemente im Recht und lässt sich von ihnen als Grundlinien leiten, so wird der Schutz der menschlichen Würde als Konzept des Rechts und zugleich die Menschenwürde als Rechtsbegriff fassbar.3 Dies ist das Ziel des ersten Teils der vorliegenden Arbeit.
I. Der Begriff der Würde des Menschen Die Menschenwürde als Rechtsbegriff ist Ausgangspunkt des grundrechtlichen Begründungszusammenhanges und oberster Verfassungsbegriff zugleich, sie prägt die gesamte (grundgesetzliche) Rechtsordnung und ihr Schutz wird als „der personale Kern unserer Verfassung“4 erachtet. Die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG bildet die Spitze des Grundgesetzes und wird als höchste Norm des deutschen Rechts verstanden, als Konstitutionsprinzip5 und Mittelpunkt des Wertesystems der Verfassung.6 Als deontologisches Prinzip bildet die Würde den Kern eines nichtkonsequentialistischen Verständnisses der Grundrechte und gibt der gesamten Rechtsordnung eine deontologische Struktur vor.7 Art. 1 Abs. 1 GG bildet damit die 3
Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (309 f.). 4 Hassemer, Über den argumentativen Umgang mit der Würde des Menschen, EuGRZ 2005, 300 (304). 5 BVerfGE 6, 32 (36); 87, 209 (228); 109, 133 (149). 6 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 21, 362 (372); 24, 119 (144); 35, 202 (225); 36, 174 (188); 39, 1 (43). Vgl. auch BVerfGE 72, 155 (172). 7 Vgl. im Weiteren die Ausführungen unter B. II. 2. a) und ebenso Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316 f.). Siehe dazu ebenso die Ausführungen von Fenner, Menschenwürde – eine „Leerformel“?, AZP 32 (2007), 137 (142)
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Grundnorm und das Leitmotiv für das Gesamtverständnis der Grundrechte und bringt die Orientierung der Staatsgewalt in einer freiheitlich demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung, zum Ausdruck.8 In dieser Qualität ist sie als solche – weitgehend – unbestritten.9 In den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes löste die Unbestimmtheit des Begriffes der Menschenwürde vielfach Unsicherheiten und Ratlosigkeit in der Anwendung aus.10 Durch die historisch bedingte, stark ethisch-philosophische Prägung des Terminus der Würde schien der Begriff sich nur schwer in die rechtliche Struktur einzupassen und in dieser anwendbar zu sein.11 Dies änderte sich zunehmend durch den Umgang der Praxis mit dem Grundgesetz und insbesondere durch die (höchst-)richterliche Auseinandersetzung mit dem Würdesatz. So zeigt die Entwicklung der Rechtsprechungspraxis, dass mit der Herausbildung einer spezifischen rechtlichen Bedeutung und Interpretation des Würdebegriffes, der Würdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG konkret fassbar und – was im Weiteren noch genauer zu zeigen sein wird – durch eine sorgfältige Analyse der grundlegenden Funktion und Struktur der Würde diese zu einem handhabbarem und eindeutig ausweisbarem Rechtsbegriff wird.12 Die kontrovers geführten Debatten um den Gehalt und die Grenzen der Würdegarantie zeigen die Notwendigkeit einer genauen Ausdifferenzierung des Schutzanspruches der Menschenwürde. Die Erfassung des Normgehaltes des Art. 1 Abs. 1 GG erweist sich als besonders problematisch. Die normative Offenheit des verfassungsrechtlichen Begriffes erfasst nicht den Schutz eines spezifischen Lebensbereiches, sondern nahezu das gesamte Spektrum des menschlichen Handelns.13 Dies und von Bernstorff, Kerngehaltsschutz durch den UN-Menschenrechtsausschuss und den EGMR: Vom Wert kategorialer Argumentationsformen, Der Staat 50 (2011), 165 (168 f.). Vgl. zum Begriff des Konsequentialismus Schöne-Seifert, Ethischer Konsequentialismus und moralische Rechte, 2 f., nur als Online-Publikation erschienen: Preprints of the Centre for Advanced Study in Bioethics, Kolleg-Forschergruppe „Normenbegru¨ ndung in Medizinethik und Biopolitik“, Nr. 32, Mu¨ nster 2012, abrufbar unter http://www.uni-muenster.de/KFG-Normenbe gruendung/publikationen/preprints.html (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 8 Vgl. Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, in: Achterberg/ Krawietz/Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, 1983, 627 (630). 9 Vgl. Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, in: Achterberg/ Krawietz/Wyduckel (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, 1983, 627 (632 ff.) m.w.N. 10 Dusik, Grenzprobleme der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), 1967, 47 f. m.w.N.; Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, 7. 11 Vgl. die Ausführungen bei Kirste, Die Würde des Menschen im Recht, ARSP 95 (2009), 420 (421). 12 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (309). 13 Vgl. Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherung an einen schwierigen Verfassungsrechtssatz, JuS 1995, 857 (858). Vgl. außerdem zu den von Art. 1 GG
A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG
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führt dazu, dass die Menschenwürdegarantie in einer Vielzahl von Fällen argumentativ herangezogen werden kann und wird, in denen eine – vermeintliche – Betroffenheit der Würde anzunehmen sein soll, um dadurch vor allem die Argumentation durch das Gewicht der Menschenwürde zu stärken.14 Die damit auftretende, von Dreier wiederholt angeprangerte Gefahr der „Trivialisierung“15 des Begriffes der Menschenwürde zeigt sich insbesondere in jenen Fallkonstellationen, die sich weit unterhalb der „Reaktionsschwelle“16 der Menschenwürdenorm bewegen.17 Es kann eine Vielzahl von Fällen benannt werden, in denen die Verletzung der Menschenwürde gerügt wurde, die jedoch keinen Würdebezug aufwiesen. Durch solche Fälle gerate, so Dreier, die Würde in Gefahr, zu einem trivialen Argument zu werden, dass nach Belieben heranzuziehen sei.18 Hinzu komme die zunehmende, ja nahezu beliebige Verwendung des Begriffes der Würde, wodurch sie zu einer Art „Floskel für Sonntagsredner“ werde.19 Damit drohe, neben dem Problem der inhaltlichen Erfassung, erschwerend die „Entwertung“ der Menschenwürdegarantie, die – zumindest scheinbar – eine Beeinträchtigung ihrer Wirkung herbeiführe.20 Solchen Tendenzen kann nur durch eine sorgfältige Differenzierung der würderelevanten von den nicht würdeverletzenden Fallkonstellationen unter Bezugnahme auf die Funktion und die Elemente der Würdenorm begegnet werden.21 Mit einbezogen werden muss dabei der Inhalt des Begriffes der Menschenwürde, der die Konturen des Schutzbereiches im Wesentlichen mitbestimmt. Einen Ausgangspunkt für eine solchen Betrachtung bietet die historische Entwicklung der Würdenorm, beginnend mit ihrer Formulierung durch den Parlamentarischen Rat und ihrer Fortentwicklung nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 194922 (A. II.). Ausgehend von den Ausführungen Heuss’ im Parlamentarischen Rat zur Menschenwürde als „nicht interpretierte These“23 wird die Herangehensweise erfassten Bereichen und Funktionen etwa Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 6 f. sowie die Ausführungen bei Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 22. 14 Vgl. Horster, Menschenwürde und Säkularisierung, in: Schweidler (Hrsg.), Postsäkulare Gesellschaft, 2007, 151 (151). 15 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 49. 16 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 49. 17 Vgl. insgesamt die Darstellung bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 47 ff. Vgl. ebenso zur Ausweitung des Menschenwürdeschutzes und der damit einhergehenden Problematik Frankenberg, Die Würde des Klons und die Krise des Rechts, KJ 33 (2000), 325 (329 ff.). 18 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 47 ff. 19 Vgl. Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), 137 (138). 20 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 49. 21 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 50 ff. 22 Vgl. dazu im Folgenden die Ausführungen unter A. II. 23 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72.
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmung des Schutzbereiches, insbesondere der Weg der Nicht- bzw. der Negativdefinition und die Ansätze einer positiven Begriffsbestimmung beleuchtet (B.) und im Weiteren im Umgang der (Verfassungs-) Rechtswissenschaft mit der Würdenorm gespiegelt (C.). Der Ansatz der Nicht- oder Negativdefinition nährt sich dem Begriff der Menschenwürde vom historischen Verständnis des Parlamentarischen Rates kommend durch die Benennung einzelner Verletzungstatbestände oder Handlungsoptionen, die mit dem Schutz der Würde nicht vereinbar sind. Daneben werden weitere Ansätze zur Konkretisierung der Menschenwürde herangezogen, die durch Rückgriffe auf ein naturrechtliches, philosophisches oder theologisches Verständnis geprägt, eine Bestimmung des Begriffes und zugleich des Schutzbereiches der Menschenwürde vornehmen, dabei jedoch nur für konkrete Fallgestaltungen adäquate Argumentationsgrundlagen bereithalten, ohne eine universelle Begriffsbestimmung zu liefern.24 Die wesentlichen Ansätze zur Bestimmung des Würdebegriffes bilden die Mitgift-, die Leistungs- und die Kommunikationstheorie, die theoretische Konzepte zur Begriffsbestimmung aufzeigen.25 Als weitere Ansätze – aus dem Recht heraus – werden die Aufgliederung des Schutzes der Menschenwürde in einzelne subjektive Rechte26 sowie eine Differenzierung der Problemdimensionen zur Konkretisierung des Schutzgehaltes erörtert.27 Gemeinsam ist allen Ansätzen die Anerkennung der besonderen Bedeutung wie des Ausnahmecharakters der Menschenwürde als zentrales Element des Würdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG.28 Der genaue Umfang und die konzeptionellen Details des Schutzumfanges der Norm, die im Wesentlichen für ihre Anwendung notwendig sind, diese ermöglichen und bestimmen, sind hingegen streitig.29 Eine genaue Betrachtung zeigt dabei, dass für sich genommen weder im Wege einer rein historischen Herangehensweise noch dadurch, dass „man im breiten Angebot der moralphilosophischen Tradition eine Schublade aufzieht und deren Inhalt an das Recht her-
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Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 13 f. Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen in Kapitel D. 26 Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik 7 (1999), 137 (148). Ebenso Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 13 f. Ähnlich auch Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 57 ff. 27 Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 19. 28 Dies steht auch heute noch unter dem Eindruck der Gräueltaten der nationalsozialistischen Diktatur, die als einer der maßgeblichen Gründe für die Normierung eines absoluten Würdeschutzes in Art. 1 Abs. 1 GG gesehen werden. Siehe dazu vertretend für viele DreierDreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 41 m.w.N. und ebenso Seelmann, Menschenwürde: Ein Begriff im Grenzbereich von Recht und Ethik, in: Fischer/Strasser (Hrsg.), Rechtsethik, 2007, 29 (31, 34 f.). 29 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 43. Vgl. auch Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (2). 25
A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG
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anträgt“30, eine Begriffsbestimmung der Menschenwürde im Rechtssinne gewonnen werden kann. Es stellt sich vielmehr die Frage nach einem Konzept als Konsens der unterschiedlichen Ausrichtungen, der die einzelnen Ansätze in einen Ausgleich zu bringen vermag und einen adäquaten Ansatz zum Schutz der menschlichen Würde bietet. Die Konsensbildung per se führt zwar nicht zu einer umfassenden Begriffsbildung, ermöglicht aber im Wege einer „,praktischen Konkordanz‘ der Ansätze“31 eine Annäherung an den Inhalt der Menschenwürdegarantie. Es handelt sich dabei um eine Einigung auf „hoher Abstraktionsebene“,32 die unterschiedliche theoretische und dogmatische Ansätze zum Umgang mit der Normierung der Menschenwürde verbindet und so die Grundlage der notwendigen Konkretisierung zu bilden vermag.33 Zu beachten ist dabei, dass der Staat der Bundesrepublik Deutschland auf konfessionell-weltanschauliche Neutralität verpflichtet ist.34 Das Bundesverfassungsgericht verweist ausdrücklich darauf, dass verfassungsrechtliche Begriffe nach „neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten“35 interpretiert werden müssen. Dem ist bei der Analyse der Ansätze zur Begriffsbestimmung der Menschenwürde und der Bildung eines Konsens der Ansätze als einer der zentralen Aspekte Rechnung zu tragen. Das Konzept der Würde, wie es im deutschen Recht besteht, wird durch die Neutralitätspflicht des Staates ebenfalls zu Neutralität verpflichtet. Die Analyse zeigt, dass die Menschenwürde als Begriff des Rechts in Art. 1 Abs. 1 GG allein mit den Mitteln der Grundrechtstheorie – ohne einen Rückgriff auf andere Disziplinen – fassbar gemacht werden kann.36 Entscheidend kommt es darauf an, die allgemein akzeptierten Elemente und Funktionen des Würdeschutzes der einzelnen Ansätze zu erfassen und zu einem einheitlichen Konzept zu verbinden.37 Das in diesem Wege entwickelte Konzept der Garantie der menschlichen Würde dient dem deutschen Recht und der Gerichtspraxis als Grundlage für den Umgang mit der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG. Die Entstehung und die Elemente dieses Konzeptes zeichnen die Besonderheit des deutschen Menschenwürdeschutzes aus. Durch die eindeutige Beschreibung der Würdegarantie in Form funktionaler Elemente: Der Achtung des Individuums in seiner Autonomie als Rechtsperson, dem 30 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (309). 31 Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 13. 32 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 52. 33 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 9 ff. 34 Zu einer Analyse des Grundgesetzes unter dem Blickwinkel der Neutralitätspflicht, vgl. Huster, Die ethische Neutralitätspflicht des Staates, 2002, 84 ff., 633 ff. 35 BVerfGE 24, 236 (247 f.). 36 Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie, in: Honnefelder/Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 5 (26). 37 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 13.
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Verbot der Objektivierung sowie der absoluten Gleichheit aller Menschen, wird eine Operationalisierbarkeit der Menschenwürdegarantie erreicht. Die Würdegarantie wird greifbarer und in ihrer Anwendung handhabbarer. Auch wenn dieses Konzept der funktionalen Elemente weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch Einzigartigkeit oder gar Absolutheit erhebt, zeigt es einen gangbaren Weg, die Würdegarantie fassbar zu machen. Aufbauend auf der Analyse des deutschen Konzeptes soll in einem weiteren Schritt der Blick auf die Menschenwürde als Konzept des europäischen Rechts gerichtet werden, um sich im Wege eines Vergleiches der Konzepte der Frage nach einer möglicherweise bestehenden Kohärenz dieser Konzepte, als Leitlinie die Analyse, zu widmen.
II. Standort der Menschenwürde im deutschen Recht – Das Grundgesetz Das Grundgesetz als Spitze der Normenhierachie und die Würdegarantie als erste Norm des Grundgesetzes sind in ihrer Entwicklung entscheidend durch die historischen Bedingungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Als Reaktion auf die vorangegangenen Schrecken des zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft stellten die Grundrechte eines der zentralen Elemente des (neuen) staatsrechtlichen Selbstverständnisses dar und sind als solche für die Verfassung essentiell.38 Die Grundrechte sind als erster Abschnitt der Verfassung allen weiteren verfassungsrechtlichen Regelungen vorangestellt.39 Der Staat selbst und seine Ziele stehen im Hintergrund; sie haben keinen „Eigenwert“ und sind nicht zentraler Bezugspunkt, sondern sollen dem Individuum dienen.40 Ziel der Ausgestaltung des Grundrechtskataloges nach dem Erlebten war es „der Allmacht des Staates Schranken“ zu setzen, „damit der Mensch in seiner Würde wieder anerkannt werde“.41 Es komme gerade darauf an, den Gegensatz zur nahen Vergangenheit auszudrücken, die durch alltägliche Verletzungen der Menschenrechte und der Menschenwürde durch das nationalsozialistische Regime geprägt war.42 Geleitet durch diese Erfahrungen unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, war es für die Mitglieder des Parla38 Vgl. Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, NJW 1999, 1504 (1504 f.); Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, 337 (341) sowie die ausführliche Darstellung bei Lange, Die Würde des Menschen ist unantastbar, 1993, 119 f. 39 Vgl. im Ansatz dazu Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, NJW 1999, 1504 (1505). 40 Vgl. Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 1. 41 v. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR (a. F.) 75 (1949), 273 (275). 42 Vgl. Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, 337 (341).
A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG
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mentarischen Rates „unerläßlich“, dass „[n]ach einer Zeit fortgesetzter Bedrückung und schwerster Mißachtung der Menschenwürde […] die Achtung vor der Menschenwürde und als eine der notwendigen Grundlagen dafür die alten Freiheitsrechte“ in der neuen Verfassung gesichert werden.43 Die unveräußerlichen subjektiven Rechte des Einzelnen bilden zusammen mit den in Art. 20 GG festgeschriebenen Staatsgrundsätzen das Fundament des demokratischen Rechtsstaates der Bundesrepublik Deutschland und sollten einen besonderen Schutz durch Art. 1 Abs. 1 und Art 79 Abs. 3 GG erfahren.44 Einer Außerkraftsetzung und ein ad absurdum-Führen der demokratischen Grundordnung des Staates, wie sie in der Weimarer Republik stattgefunden haben, sollte dadurch präventiv verhindert werden.45 Der Mensch als Individuum mit Bedürfnissen und Rechten bestimmt als zentraler Bezugspunkt die neue Verfassung. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG formte dabei die feste Verankerung der neuen Verfassung in diesem Bestreben und unterstrich ihre Ausrichtung auf die neu formulierten Ziele.46 „Wie ein Trompetenstoß kennzeichnet sie hier das anthropologische und verfassungsrechtliche exakte Gegenbild zur buchstäblichen menschenfeindlichen und würdelosen Ideologie des Nationalsozialismus.“47 Ausgehend von diesem Motiv des Parlamentarischen Rates in der Formulierung der Menschenwürdegarantie als Spitze des Grundgesetzes sollen im Folgenden (1.) die Entwicklungslinien der Beratungen zum Grundgesetz und zur Art. 1 Abs. 1 GG nachgezeichnet und in einem zweiten Schritt (2.), die Veränderungen des Grundgesetzes nach seinem Inkrafttreten 1949 beleuchtet werden. Leitfrage dieses Abschnitts ist zum einen, wie es zu der Formulierung der Würdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG gekommen ist und welche Intention mit dem gewählten Wortlaut verbunden wurde. Zum anderen ist die Entwicklung des Grundgesetzes und insbesondere der Grundrechte nach 1949 und der Einfluss auf die Struktur des Würdeschutzes im deutschen Recht von besonderem Interesse.
43 Vgl. v. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR (a. F.) 75 (1949), 273 (275). 44 Vgl. Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 9 ff. 45 Die von Alexy in seiner „Theorie der Grundrechte“ vorgenommene Differenzierung der Begriffe ist nicht äquivalent zu den in der folgenden Darstellung verwendeten Begriffen. Die Begriffe Prinzip, Regel, Wert und Grundsatz entsprechen nicht den von Alexy verwendeten Begrifflichkeiten. Vgl. insgesamt Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986. 46 Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, 8 f. 47 Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (1) m.w.N.
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
1. Von den Anfängen bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes: Beratungen zur Normierung der Menschenwürde – Entwicklung einer grundgesetzlichen Fundamentalnorm Am 1. September 1948 nahmen die Mitglieder des Parlamentarischen Rates mit Zusammentritt zur ersten von insgesamt 36 Sitzungen die Arbeiten zum Grundgesetz auf.48 Die Beratungen begannen in den folgenden Sitzungstagen mit Berichten von Adolf Süsterhenn und Carlo Schmid über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (Herrenchiemsee-Konvent) und den dort entstandenen Entwurf der zukünftigen Verfassung, des Grundgesetzes.49 Schon relativ früh war im Rahmen der Beratungen des Herrenchiemsee-Konventes deutlich geworden, dass an der Spitze des Grundgesetzes eine Bestimmung stehen sollte, die die offensichtliche, grundverschiedene Ausrichtung eines freiheitlich-demokratischen Staates gegenüber der einer totalitären Diktatur hervorhebt.50 Die dahingehende Grundhaltung des Konventes verdichtete sich in dem als prägnante Eingangsformel gewählten ersten Absatz des ersten Artikels des Herrenchiemsee-Entwurfes (HChE): „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“.51
Diese Formulierung brachte die immer wieder betonte Abgrenzung der zu schaffenden staatlichen Struktur von der nationalsozialistischen Herrschaft zum Ausdruck. Art. 1 HChE stellte damit das als grundlegend erachtete Verhältnis des Einzelnen zum Staat an die Spitze des Artikels 1 und zugleich an die Spitze der Verfassung. Nachgeordnet in Absatz 2 enthielt Art. 1 HChE die Achtungs- und Schutzpflicht der Menschenwürde. Die dabei gewählte Formulierung erinnert bereits an die spätere Fassung des Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“52
48 Siehe zur den Beratungen der Fachausschüsse und den dort formulierten Artikeln des Grundgesetzes (Stand 18. Oktober 1948) im Einzelnen Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 7, 1995, 1 ff. Vgl. ferner Feldkamp, Die Entstehung des Gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949, 1999, 71 f. 49 Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, in: HStR I, 32003, § 8, Rn. 45. 50 Vgl. Wiesend, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Anmerkungen aus Sicht einer jungen Verfassungsjuristin, in: Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz, hrsg. vom Bundesrat, 1988, 66 (71). 51 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 9, 1996, 115. Vgl. auch AK-GG-Podlech, 32001, Art. 1 Abs. 1, Rn. 9; ebenso Wiesend, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Anmerkungen aus Sicht einer jungen Verfassungsjuristin, in: Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz, hrsg. vom Bundesrat, 1988, 66 (71). 52 Vgl. AK-GG-Podlech, 32001, Art. 1 Abs. 1, Rn. 9.
A. Die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG
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Aufgrund ihrer Abstraktheit und schweren Fassbarkeit schien die Formulierung des Art. 1 Abs. 1 HChE jedoch nicht geeignet, um die Spitze der neuen Verfassung zu bilden und wurde aus diesem Grunde nicht in das Grundgesetz überführt. Dennoch trat die Sichtweise der Beziehung des einzelnen Menschen zum Staat deutlich hervor, ohne jedoch eine rechtliche Vorgabe zu enthalten. Aus der gewählten Formulierung waren direkt weder Rechte noch Pflichten ableitbar, dies schien für die Eingangsnorm der Verfassung wenig geeignet. Gleichwohl kam in dieser Formulierung der angestrebte Wandel im Wesen des Staates zum Ausdruck. Die entstehende freiheitlich-demokratische Grundordnung auf der Basis des Grundgesetzes, die eine Wiedereingliederung Deutschlands in das vereinte Europa ermöglichen sollte, stand im erklärten Gegensatz zum totalitären, auf Alleinherrschaft und Hegemonie in Europa gerichteten Staat der nationalsozialistischen Diktatur.53 Viele Abgeordnete des Parlamentarischen Rates hatten unter der Herrschaft der nationalsozialistischen Diktatur selbst Unterdrückung und Entrechtung erlitten oder waren im unmittelbaren Umfeld Zeugen solcher geworden. Diese Erfahrungen prägten auch die Beratungen: „Viele von uns und Tausende andere haben die Würde in der Nazizeit hochgehalten, haben dafür Opfer gebracht und sind dafür in den Tod gegangen. Aber die Würde wurde getreten, wie es schlimmer nicht möglich war. Diese Würde sollte der Einzelne hochhalten, auch wenn er diskriminiert wird.“54
Die Zielrichtung der neuen Staatsverfassung war eindeutig. Die genaue Umsetzung und Einigung auf eine verbindliche Normierung erwies sich jedoch als schwierig. Von entscheidender Bedeutung für die Ausrichtung der neuen Verfassung waren unbestritten das Individuum, seine Rechte und seine Würde. Die Menschenwürde entwickelte sich im Rahmen der Beratungen zu einem der zentralen Elemente der neuen Verfassung. Dies wird auch in den Beratungen des Unterausschuss zur Fassung des Grundrechtskataloges deutlich, der sich erstmals am 22. September 1948 mit der konkreten Formulierung des Art. 1 GG und dem darin verankerten Schutz der Menschenwürde befasste. Den Beratungen lag als Ausgangspunkt die folgende Entwurfsfassung des Art. 1 vor:
53 Vgl. zur wesentlichen Ausrichtung der neuen Verfassung Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, in: HStR I, 32003, § 8, Rn. 53 f. und ebenso Wiesend, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Anmerkungen aus Sicht einer jungen Verfassungsjuristin, in: Stationen auf dem Weg zum Grundgesetz, hrsg. vom Bundesrat, 1988, 66 (71). 54 So der Abgeordnete Schrage im Rahmen der 4. Sitzung zur Frage der Formulierung des Würdeschutzes in Artikel 1 des Grundgesetzes. Er unterstrich damit die Aussage des Abgeordneten Heuss, der zuvor betont hatte: „Die Würde des Menschen ruht in ihm selbst; aber ihre Anerkennung innerhalb der sozialen Gemeinschaft setzt einen anderen voraus. Dieser Andere ist der organisierte Andere, der Träger des Gemeinschaftslebens.“; Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72 f.
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht „[d]ie Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten. Das deutsche Volk erkennt sie erneut als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft an. Deshalb werden Grundrechte gewährleistet, die Gesetzgebung, Verwaltungs- und Rechtspflege auch in Ländern als unmittelbar geltendes Recht binden“.55
Ausgehend von diesem Formulierungsvorschlag begann die – sich als überaus schwierig erweisende – Diskussion um die Stellung der Menschenwürde an der Spitze des Grundgesetzes als oberster Grundsatz mit ewigen, naturrechtlichen Wurzeln.56 Die Formulierung schien zwar zunächst als erster Konsensvorschlag möglich.57 Im weiteren Verlauf der Beratungen wurde jedoch deutlich, dass die Ausrichtung des Grundgesetzes als Verfassung eines zur Neutralität verpflichteten Staates mit einem Bezug zum Naturrecht, insbesondere aufgrund von dessen Unbestimmtheit, als unvereinbar erachtet wurde.58 Die Mehrheit der Mitglieder des Parlamentarischen Rates wollte vor allem bei der Normierung der Menschenwürde die Neutralität gewahrt wissen: Es sollten keine bestimmten religiösen, politischen oder philosophischen Konzeptionen in das Grundgesetz eingebracht werden.59 Der Umstand, dass die Anerkennung von Menschen- und Freiheitsrechten als Grundlage der Rechtsordnung notwendig und ohne diese eine „echte Achtung vor der Menschenwürde undenkbar“ ist, war (nahezu) unumstritten.60 Dennoch erwies sich der genaue Begründungszusammenhang als äußerst problematisch.61 Dessen Erörterung zog sich durch die verschiedenen Stufen der Modifikation des Artikels 1 und wurde jeweils neben den weiteren, insbesondere sprachlichen Veränderungen diskutiert. Die Frage eines möglichen Gottesbezuges in der Formulierung des Artikels 1 wurde dabei ebenso heftig diskutiert wie eine mögliche Begründung der Grundrechte und der Menschenwürde im Naturrecht. Zentraler Aspekt war stets der Inhalt der 55
Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 62 f. Siehe zum genauen Wortlaut der einzelnen Artikel ebd., 62, dortige Fn. 3. 56 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 62 ff. 57 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 64 f. 58 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 64 f. 59 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 46 f.; 67 f. 60 v. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR (a. F.) 75 (1949), 273 (279). 61 Vgl. dazu die kritischen Ausführungen zum Grundrechtskatalog von Thoma, Kritische Würdigung des vom Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates beschlossenen und verkündeten Grundrechtskatalogs, 25. Oktober 1948, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 362. Vgl. ferner Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (310).
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Würdegarantie und die Bedeutung der Grundrechte für die entstehende Rechtsordnung.62 Ausgangspunkt der Debatte um die Aufnahme eines möglichen Gottesbezuges war ein Antrag des Abgeordneten Seebohm, durch die Formulierung „von Gott gegeben“, eine Verwurzelung der „unverletzlichen und unveräußerlichen Freiheitsund Menschenrechte“ in überstaatlichen Rechten zu verdeutlichen.63 Seebohm begründete dies dahingehend, dass „diese Herkunft der Freiheits- und Menschenrechte im Grundgesetz klar zum Ausdruck zu bringen [ist]. Der Mensch ist ja nur dann wirklich frei, wenn er nicht dem Menschen, sondern nur dem Gesetz untertan ist, das er von Gott gegeben in sich trägt, daß ihm in Form seines Gewissens eingegeben ist. Wenn sich aus der von seinem Gewissen bestimmten Freiheit das Verantwortungsbewußtsein entwickelt, aus dem heraus der Mensch allein zum sozialen Handeln befähigt wird, so entwickelt sich aus dem von Gott gegebenen Gewissen auch sein Anspruch auf Freiheits- und Menschenrechte. Diese Entwicklung bedingt, daß der Mensch sich stets bewußt sein muß, daß ihm diese Freiheits- und Menschenrechte von Gott gegeben sind und im Rahmen der ihm dadurch von Gott auferlegten Verpflichtungen gewährleistet werden müssen. Um diese Wahrheit hier klar zum Ausdruck zu bringen, bitten wir, […] diese drei Worte ,von Gott gegeben‘ einzufügen“.64
Durch die textliche Verankerung des Gottesbezuges im Wortlaut der Verfassung sollte die Bedeutung der Freiheits- und Menschenrechte als jedem Menschen eigen unterstrichen werden. Die damit indes zugleich angestrebte Begründung der Freiheits- und Menschenrechte als von Gott gegeben und die Bindung des Menschen an das von Gott gegebene Gesetz, stehen in einem Widerspruch zu der Ausrichtung des Grundgesetzes als Verfassung eines neutralen Staates und sind mit dieser nicht vereinbar. So komme zwar die christliche Freiheit auch dem an die Galeere geketteten Sklaven zu, dies sei jedoch nicht mit den Freiheitsgarantien einer Verfassung gleich zu setzen und kann folglich nicht zu ihrer Begründung herangezogen werden.65 Zudem widersprach es dem säkularen Charakter, der im Vordergrund der Verfassung stehen sollte und einen Rückbezug auf theologische Argumente nicht zuließ. Daher sei eine Gründung auf theologische Argumente nicht haltbar. Süsterhenn führte dazu aus, bei der Normierung der Grundrechte komme es nicht auf die Theologie an, Ziel sei es vielmehr „noch klarer, als es in der bisher vorliegenden Fassung geschehen ist, den vorstaatlichen Charakter“ der Freiheitsrechte hervor62 Vgl. zum gesamten Absatz Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/2, 2009, 1289 ff. und ebenso Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, JZ 1981, 457 (457 f.). 63 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/2, 2009, 1289. 64 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/2, 2009, 1289 f. 65 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72. Vgl. ferner die Ausführungen bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 128.
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
zuheben, indem man sagt, sie seien dem Menschen von Gott und nicht etwa erst vom Staat verliehen, und sie dadurch dem Zugriff des Staates zu entziehen.66 Doch auch dieses Argument vermochte nicht die Aufnahme eines Gottesbezuges in Art. 1 Abs. 1 GG durchzusetzen. Die bereits im Zusammenhang mit einem möglichen Gottesbezug der Menschenwürde beanstandete Formulierung, die Menschenwürde ruhe auf „ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten“,67 bildete zusammen mit den Ausführungen des Abgeordneten Bergsträsser zur Formulierung vom 23. September 1948 auch den Ausgangspunkt der Debatte einer naturrechtlichen Fundierung der Grundrechte und der Menschenwürde. Diese Formulierung wurde dahingehend erörtert, dass dadurch die Gründung der Grundrechte auf vorstaatliche, von Natur aus gegebene Rechte und ihre Bedeutung als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft unterstrichen sowie das erneute Bekenntnis gegen die „bitteren Erfahrungen der Nazi-Zeit“ zum Ausdruck gebracht werde.68 Der Bezug zum Naturrecht, zu etwas Vor- und vor allem auch Überstaatlichen diene dazu, den Charakter der Menschenwürde als etwas besonders Bedeutendes hervorzuheben. Jedoch stieß diese Bezugnahme auf erbitterten Widerstand, wobei vor allem der mangelnde Grad der Bestimmtheit des Naturrechtes kritisiert wurde. Im Zweifel stand, ob das Naturrecht mit seiner Unbestimmtheit als Grundlage der „Fundamentalnorm“ des Grundgesetzes tauglich sei.69 Naturrecht fasst begrifflich allgemein die praktischen, auf menschliche Handlungen bezogenen Grundsätze zusammen, die jeder Mensch aus der eigenen Vernunft heraus erkennen und als verbindlich empfinden soll.70 Das Spektrum innerhalb der naturrechtlichen Lehren ist weit gefächert. Genau daran knüpft die geübte Kritik an. Gemeinhin anerkannt ist, dass im naturrechtlichen Verständnis „die universelle Verfügungsgewalt des Staates über das Recht verneint wird, dass also die Unverfügbarkeit von Recht wenigstens in seinen wichtigsten Grundsätzen behauptet wird“.71 Neben der Unbestimmtheit des Begriffes des Naturrechtes ist mit ihm
66 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/2, 2009, 1291. Siehe dazu weiterhin Deutscher Bundestag/ Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 63 ff. 67 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 62, dort Fn. 3. 68 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 63. 69 Vgl. Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, JZ 1981, 457 (457). 70 Vgl. Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, 62014, § 8, Rn. 2. 71 Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, 62014, § 8, Rn. 4 m.w.N. zu den einzelnen Lehren des Naturrechts und den damit verbundenen Ausprägungen des Verständnisses des Begriffes des Naturrechts.
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gleichwohl eine gewisse – zumindest partielle – Unverfügbarkeit von Recht verbunden, die im Bezug auf die Menschen- und Freiheitsrechte erstrebenswert schien. von Mangoldt verteidigte den Bezug zum Naturrecht und begründete dessen Notwendigkeit dahingehend, dass dies zu einer „gewissen Beweglichkeit“ der Menschenwürde und der Grundrechte führe: Denn das Naturrecht sei, so führte er weiter aus, im Verständnis der beteiligten Abgeordneten „nicht etwas für alle Zeiten ewig Gleiches, sondern etwas Fluktuierendes“.72 Durch die Wandelbarkeit sei eine Reaktion auf Veränderungen der Zeit möglich, denn die naturrechtlichen Auffassungen, die in den Grundrechten gefasst seien, ließen eine stetige Neuinterpretation zu.73 Gerade diese gewünschte Wandelbarkeit des Naturrechtes wurde jedoch zugleich als Problem eines naturrechtlichen Begründungszusammenhanges gesehen. Das Naturrecht sei gerade aufgrund seiner Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit in der Interpretation als universelles Begründungskonzept nicht geeignet. Das Naturrecht absolut zu setzen, so gab Schmid zu bedenken, wäre aufgrund seiner Unbestimmtheit gefährlich, da „jedermann freigestellt“ sei zu sagen: „Naturrecht, wie ich es auffasse“.74 Dies verdeutlichte das Spannungsverhältnis zwischen dem Vorteil einer naturrechtlichen Verwurzelung der Menschenwürde, die mit einer Begründung im Naturrecht einer stetigen Anpassung geöffnet würde, und dem Nachteil, die Menschenwürde durch eine solche Öffnung der Gefahr auszusetzten, zum Einfallstor partikularer Ansichten zu werden, die über das Naturrecht einen Einfluss auf die Begründung der Verfassung suchen. Heuss unterstrich dies, indem er die Menschenwürde als „nicht interpretierte These“75 bezeichnete, und darlegte, dass ein universelles, unabhängiges Konzept nötig sei. Er betonte: „Ich möchte das Naturrecht als Katalog von Rechtsverbindlichkeiten nicht nehmen, sondern das Naturrecht nur als Basis und Mittel einer moralischen Überprüfung ansehen. Die Formulierung ,von Natur aus eigenen Rechten‘ erscheint mir wegen der Mißverständlichkeit der Konsequenz nicht zweckmäßig. In meinem Vorschlag steht die ,Würde des menschlichen Wesens‘ als nicht interpretierte These.“76 Die Spannungen des Aufeinandertreffens verschiedener Denkansätze hinsichtlich der Ausgestaltung des Grundgesetzes manifestierte sich im Fortlauf der Debatte um die Einbringung eines naturrechtlichen Bezuges. Es sollte nicht ein Denkansatz die gesamte Verfassung prägen und ihre Entwicklung beeinflussen. Deutlich wurde, dass 72
Vgl. insgesamt Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 64. 73 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 64. 74 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 65. 75 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72. 76 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72.
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
das Grundgesetz eine Verfassung – eine neutralen Grundsätzen folgende universelle Grundlage – für alle Bürger – bilden sollte, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder einer bestimmten Weltanschauung.77 In der Folge verzichtete Schmid in seinem Formulierungsvorschlag grundsätzlich auf den Bezug zum Naturrecht und beschränkte sich auf die Fundierung der Würde menschlichen Lebens „in Rechten, die dem Menschen jedermann gegenüber Schutz gewähren“.78 Schmid, der den Grundrechtskatalog als Richtschnur der Gesetzesauslegung verstanden wissen wollte, hielt dies für eine Möglichkeit den „Gefahren der vorhandenen Formulierungen aus dem Weg“ zu gehen.79 Die Menschenwürde wurde damit zum primären Element des Grundrechtsschutzes und zugleich zu einem Mindeststandard, von dem als absolute Schranke ausgegangen werden sollte. Heuss knüpfte in einem weiteren Vorschlag zur Formulierung des Art. 1 GG an den Gedanken Schmids an. Da ihm die gewählten Worte aber zu missverständlich erschienen, schlug er vor den ersten Absatz – wie Schmid – ohne naturrechtlichen Bezug zu formulieren: „Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung.“
Im zweiten Absatz sollte sodann zusätzlich der Begründungszusammenhang verdeutlicht werden: „Sie ist begründet in ewigen Rechten, die das deutsche Volk als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft anerkennt.“80
Dies tilgte den naturrechtlichen Bezug zwar nicht vollständig, nahm ihn aber aus dem ersten Absatz heraus und statuierte ausdrücklich eine Schutzpflicht des Staates für die Würde des Menschen. Die einzelnen Formulierungen zeigen, dass die in den Beratungen erörterten Fassungen des Art. 1 GG insgesamt inhaltlich nicht sehr weit auseinanderlagen, vielmehr war es eine Frage der genauen Wortwahl und topologischen Konzeption des
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Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (310). 78 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 70. Die vollständige von Schmid vorgeschlagene Formulierung lautete: „Die Würde menschlichen Lebens wird vom Staate geschützt. Sie ist begründet in Rechten, die dem Menschen jedermann gegenüber Schutz gewähren. Deshalb werden Grundrechte gewährleistet, die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege auch in den Ländern als unmittelbar geltendes Recht binden.“ 79 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 70. 80 Siehe dazu insgesamt Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 71.
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Begründungszusammenhanges.81 Die Bedeutung und der Gehalt der Würde schienen klar, die gewählte Formulierung sollte dies bestärken und eine Wirkung beim „einfachen Manne des Volkes“ erzielen.82 Die Menschenwürde sollte als säkulares Konzept wertneutral hinsichtlich jeglicher, insbesondere theologischer oder philosophischer Konnotationen sein.83 Dadurch wurde die Garantie der Menschenwürde zunehmend den Anforderungen als „Generalklausel für den ganzen Grundrechtskatalog“84 und „verfassungsrechtliche[r] Schlüsselbegriff“85 angepasst und fand 1949 in der noch heute gültigen Normierung ihre endgültige Fassung.
2. Entwicklung des Grundgesetzes seit 1949 – (Notwendige) Anpassung an eine sich wandelnde Gesellschaft? Seit seinem Inkrafttreten 1949 hat das Grundgesetz insgesamt 59 formelle Änderungen und damit zum Teil erhebliche Fortentwicklungen erfahren.86 Die meisten dieser Änderungen befassten sich mit dem Bundesstaat und der bundesstaatlichen Ordnung, insbesondere mit der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen und der Finanzverwaltung.87 Die Grundrechte hingegen waren meist nur in geringem Maße betroffen.88 Deren fester Stand, der damit zum Ausdruck kommt, wird als „Er81 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 71 f. 82 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 73. 83 Vgl. dazu insgesamt die im Parlamentarischen Rat geführte Debatte Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/2, 2009, 1291 ff. 84 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 64. 85 Hofmann, Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 225 (226). 86 Stand: Dezember 2014. Vgl. dazu auch Sachs, Das Grundgesetz in seinem sechsten Jahrzehnt, NJW 2009, 1441 (1441). 87 Das hier vorherrschende Reformbedürfnis zeigte sich vor allem in den weit reichenden Änderungen der Föderalismusreform I und II sowie in den Änderungen der Gesetzgebungskompetenzen und den Vorgaben der Finanzverwaltung. Siehe zu Verfassungsänderungen und zum Reformbedürfnis allgemein die Ausführungen von Badura, Staatsrecht, 62015, A Einleitung, Rn. 35 ff. und zur Föderalismusreform Haug, Die Föderalismusreform – Zum Ringen von Bund und Ländern um die Macht im Staat –, DÖV 2004, 190; Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, NVwZ 2006, 1209; Hofmann, Föderalismusreformen im Verfassungsstaat, DÖV 2008, 833; Selmer, Die Föderalismusreform – Eine Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung?, JuS 2006, 1052; Selmer, Die Föderalismusreform II – Ein verfassungsrechtliches monstrum simile, NVwZ 2009, 1255. Allgemein zur Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990 siehe Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: HStR I, 32003, § 9. 88 Vgl. Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, 11 (17).
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folgsgeschichte“ der Grundrechte gesehen.89 Auch wenn es keine stringent nach oben gerichtete Entwicklung, keine problemlose Homogenität der grundrechtlichen und grundgesetzlichen Entwicklung gab und gibt, zeigt die Wahrung und die durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung vorgenommene Stärkung der Grundrechte, dass sich die von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes intendierte Bedeutung und Stellung der Grundrechte verwirklicht hat.90 Die Bundesrepublik Deutschland ist zunehmend eine „Grundrechtsrepublik Deutschland“ geworden.91 Die erste große Neuerung, die durch 18 Einzeländerungen umgesetzt wurde, erfolgte bereits 1956 – sieben Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes – mit der damals umstrittenen Einführung der Bundeswehr und der Wehrpflicht. Weitere wesentliche Änderungen hat das Grundgesetz 1968 durch die Einführung der Notstandsgesetze und 1969 durch die Neuregelung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern erfahren.92 Die letzten großen Änderungen erfolgte in den Jahren 2006 und 2009 durch die Föderalismusreformen I und II, die im Wesentlichen die Kompetenzverteilung sowie erneut die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern modernisierten und neu regelten.93 Mit diesen Änderungen und Ergänzungen erwuchs das Grundgesetz zunehmend zu einer Verfassung und entwickelte sich in seiner Bedeutung vom Stadium des Provisoriums zu einer dauerhaften Regelung. Dies wurde durch die bewusste Beibehaltung des Begriffes des Grundgesetzes, auch über die Wiedervereinigung Deutschlands hinaus, unterstrichen.94 Neben den formellen Änderungen erfolgte durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts eine Weiterentwicklung des Grundgesetzes im Wege der Auslegung in der Praxis.95 Durch Leitentscheidungen ist in fast allen Bereichen die Anwendung des Grundgesetzes beeinflusst und weiterentwickelt worden, insbesondere im Bereich des Staatsorganisationsrecht und der Grundrechte.96 Durch Entwicklungen 89 Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, 11 (27). 90 Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 2, Rn. 20. 91 Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 2, Rn. 20. 92 Vgl. dazu die Ausführungen von Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, 11 (17 f.). 93 Eine umfassende Übersicht zu den erfolgten Änderungen des Grundgesetzes liefert die Ausarbeitungen von Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, 11 (17 ff.) sowie Menzenbach/Netterscheidt/Beckebanze/Kuhn, Änderungen des Grundgesetzes seit 1949, Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 3 – 380/09, Analysen und Gutachten, Veröffentlichung vom 7. Mai 2009. Online verfügbar über das Webarchiv des Bundestages: http://webarchiv.bundes tag.de/cgi/show.php?fileToLoad=2588&id=1205 (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 94 Vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Überschrift, Rn. 4. 95 Vgl. Sachs, Das Grundgesetz in seinem sechsten Jahrzehnt, NJW 2009, 1441 (1441). 96 Vgl. die Ausführungen von Sachs, Das Grundgesetz in seinem sechsten Jahrzehnt, NJW 2009, 1441 (1444 ff.).
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etwa im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich war das Bundesverfassungsgericht mit Fallgestaltungen befasst, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes so nicht vorstellbar waren. Gerade im Bereich der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 10 GG sowie Art. 13 GG zeigt sich die Notwendigkeit der Fortentwicklung aufgrund des technischen Fortschritts. Mit der Entwicklung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und den Grundsätzen zum Schutz der Autonomie des Einzelnen hat das Bundesverfassungsgericht auf diese neuen Anforderungen reagiert.97 Nichtsdestotrotz wird in regelmäßigen Abständen die Frage laut, ob die Regelungen des Grundgesetzes, vor allem die der Grundrechte und des kategorischen Schutzes der Menschenwürdegarantie, vor dem Hintergrund technischer, medizinischer und gesellschaftlicher Fortschritte sowie durch neue Formen der Bedrohung durch internationalen Terrorismus und organisierte Kriminalität, noch zeitgemäß und den Anforderungen der Zeit gewachsen sind.98 Insbesondere die Herausforderungen, mit denen die innere Sicherheit zunehmend konfrontiert wird, erreichen neue Dimensionen, die eine Reaktion verlangen.99 Auch wenn auf einige Entwicklungen bereits im Wege der Auslegung in der Praxis reagiert werden konnte und kann – ohne eine formelle Verfassungsänderung zu erfordern –, stellt sich dennoch die Frage nach einer grundlegenden Neuformulierung einzelner Grundrechte respektive des gesamten Grundgesetzes. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen in diesem Zusammenhang – wie auch im Weiteren dargestellt – dass sowohl das Grundgesetz allgemein, als auch der Grundrechtskatalog im Speziellen neuen Entwicklungen gewachsen sind. Die Notwenigkeit einer grundlegenden Neuformulierung ist daher 97
Vgl. BVerfGE 109, 279; 120, 274. Vermehrt wird in der Literatur die Frage diskutiert, ob der Schutz der Unantastbarkeit der Würde weiterhin als zeitgemäß und beständig erachtet werden kann. Dabei zeigt sich deutlich die ungebrochene Bedeutung des Würdeschutzes, die gerade im Lichte neuer Herausforderungen bewahrt werden muss. Vgl. dazu stellvertretend für viele Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, 689 ff. Damit eng verknüpft ist die Frage, ob das Grundgesetz den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts gewachsen ist, die in verschiedenen Beiträgen erörtert wurde. Siehe dazu z. B. aus der politischen Perspektive Künast, Am Anfang steht die Menschenwürde: Ein Grundgesetz für das 21. Jahrhundert, NJW 2009, 1723 ff. Vgl. weiterhin Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – Verfassung mit Zukunft!?, 2010. 99 Zu nahezu jedem Jubiläum des Grundgesetzes wurden intensiv die verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen diskutiert, denen das Grundgesetz begegnet und auf die es nun zu reagieren gilt. Dies erfolgte verstärkt im Hinblick auf die Reaktionsfähigkeit des Grundgesetzes auf neue Herausforderungen, insbesondere durch technische und gesellschaftliche Entwicklungen. So stellte Grimm zum 40jährigen Bestehen des Grundgesetzes fest: „Die Bewährung einer Verfassung hängt nicht allein von der internen Qualität ihrer Regelungen, sondern auch von den externen Bedingungen ihrer Verwirklichung ab“. Vgl. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, 1305. Und weiterhin fragte die Akademische Feierstunde der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster anlässlich des 60jährigen Bestehen, „60 Jahre Grundgesetz – Verfassung mit Zukunft!?“ Vgl. den dazu erschienenen Band: Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – Verfassung mit Zukunft!?, 2010. 98
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
nicht gegeben. Es wird vielmehr festzustellen sein, dass das Grundgesetz zeitgemäß ist und „eine Zukunft hat – genauer gesagt haben muß“.100
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG ist als offen gefasste Norm der Interpretation und Konkretisierung durch die Rechtsprechung zugänglich und vor allem bedürftig. Das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“101 ist als Verfassungsorgan und oberstes Gericht mit der Auslegung und Anwendung des Würdesatzes sowie der anderen Verfassungsnormen befasst.102 Art. 1 Abs. 1 GG ist (meistens) in Verbindung mit anderen Grundrechten Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,103 das in ständiger Rechtsprechung die Reichweite und die Grenzen der Grundrechte im Allgemeinen sowie des Art. 1 Abs. 1 GG im Besonderen präzisiert.104 Der Würdesatz wird dabei durch die Grundrechte der Art. 2 bis 19 GG konkretisiert und reichert diese an, wodurch eine 100 Wittreck, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – Verfassung mit Zukunft!?, 2010, 5. So verdeutlicht auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009, dass das Grundgesetz in seiner vorliegenden Fassung neuen Herausforderungen, insbesondere auch durch die immer stärkere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, gewachsen ist. Vgl. BVerfGE 123, 267 (334 ff.). 101 BVerfGE 1, 184 (195); 1, 396 (408); 2, 124 (131); 6, 300 (304); 40 88 (93). Vgl. außerdem Jarass/Pieroth-Pieroth, GG, 132014, Art. 93, Rn. 3 („Hüter der Verfassung“). 102 BVerfGE 7, 1 (14); 7, 377 (413); 65, 152 (154). 103 So etwa in Bezug zu Art. 2 Abs. 2 GG: BVerfGE 88, 203 (251). 104 Im Folgenden soll ein Blick auf die wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit der Struktur und den Funktionen der Würdenorm geworfen werden, die die besondere Bedeutung der Menschenwürdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG im deutschen Recht hervorheben und das durch die Rechtsprechung entwickelte Konzept aufzeigen. Die im Folgenden im Rahmen der Analyse der Funktionen der Menschenwürde herangezogenen Entscheidungen sind eine Auswahl der Verfasserin und erheben (bei Weitem) keinen Anspruch auf Vollständigkeit. An dieser Stelle soll daher auf die wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG (insbesondere zur Funktion und der Struktur der Würde) in historisch-chronologischer Abfolge hingewiesen werden (ab dem 75. Bd. der Entscheidungssammlung in Fortführung zu Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 190 ff.): BVerfGE 80, 367 (Tagebuch); 82, 60 (Steuerfreies Existenzminimum); 86, 288 (Strafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe); 87, 153 (Grundfreibetrag); 87, 209 (Tanz der Teufel); 88, 203 (Schwangerschaftsabbruch II); 93, 266 (,Soldaten sind Mörder‘); 94, 49 (Sicherer Drittstaat); 95, 220 (Aufzeichnungspflicht); 96, 245 (Besonders schwerer Nachteil); 97, 375 (Kind als Schaden); 102, 347 (Schockwerbung I); 107, 275 (Schockwerbung II); 109, 133 (Langfristige Sicherungsverwahrung); 109, 190 (Nachträgliche Sicherungsverwahrung); 109, 279 (Großer Lauschangriff); 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz); 120, 274 (Computergrundrecht); 125, 175 (Hartz IV); 124, 43 (Beschlagnahme von E-Mails); 130, 1 (Verwertungsverbot Wohnraumüberwachung); 131, 268 (Sicherungsverwahrung); 132, 134 (Asylbewerberleistungsgesetz).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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„leistungsfähige Verwirklichung“ des Menschenwürdeschutzes gewährleistet wird.105 Die genaue Funktion und Konzeption des Art. 1 Abs. 1 GG in diesem Zusammenhang ist gleichwohl streitig.106 Bereits die Formulierung der Norm macht die Ambivalenz des Konzeptes und das damit verbundene Spannungsverhältnis deutlich: Der Positivierung des Naturrechtes auf der einen Seite steht eine Normierung kategorischer Grundsätze von unmittelbarer Verbindlichkeit auf der anderen Seite gegenüber.107 Fest steht, dass Art. 1 GG Rechtssatzqualität108 besitzt und zugleich als Fundamentalnorm fungiert.109 Ob Art. 1 GG auch ein Grundrecht enthält, ist gleichwohl streitig.110 Das Grundgesetz bildet in sich ein „Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet“, es ist nicht als „wertneutrale Ordnung“ ausgerichtet.111 Diese Ausrichtung der grundgesetzlichen Rechtsordnung sieht das Bundesverfassungsgericht als „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“, die durch die Ausgestaltung der Grundrechte, als Abwehrrechte gegen den Staat, die „in erster Linie“ dazu bestimmt sind, „die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern“, zum Ausdruck kommt.112 Ausgehend von den klassischen Grundrechtsfunktionen weist die Menschenwürdegarantie eine Abwehr- und Schutzpflicht auf, neben die eine durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Leistungs- bzw. Teilhabefunktion tritt. Die Leistungspflicht des Staates wird dabei vornehmlich aus der Garantie der Menschenwürde in Verbindung mit dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit abgeleitet. Subjektiv-rechtlich gewährt Art. 1 Abs. 1 GG zudem ein individuelles Grundrecht des Einzelnen, das neben der objektiv-rechtlich gewährleisteten Achtungs- und Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Individuum besteht. Diese dogmatischen Funktionen der Würdenorm sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Die zentrale Frage ist dabei, wie die Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „funktioniert“. Dazu soll die 105
Vgl. Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 2, 5. Vgl. die Darstellung der vertretenen Ansätze bei Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 5 ff.; Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 5 ff., insb., Rn. 9 f. 107 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 1. 108 Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 9. 109 Vgl. Hömig, Menschenwürdeschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 25 (27 ff.); Schüttauf, Menschenwürde. Zur Struktur und Geschichte des Begriffs, in: Brudermüller/ Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2008, 25 (25). 110 Vgl. dazu im Folgenden unter C. I. 1. a). 111 BVerfGE 7, 198 (204 f.). 112 Insgesamt dazu BVerfGE 7, 198 (204). 106
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Struktur des Würdekonzeptes beleuchtet und die für sie charakteristischen Elemente analysiert werden. Die gewählte Darstellung der Entscheidungen folgt dabei nicht einer historisch-chronologischen Ordnung, sondern dogmatischen Gesichtspunkten und orientiert sich an den wesentlichen Elementen des Konzeptes der Menschenwürde.
I. Art. 1 Abs. 1 GG in der Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungsgerichts Bereits im Rahmen einer der ersten Entscheidungen befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage der Reichweite des Schutzes der Menschenwürde und ihres möglichen Einflusses auf die rechtliche und politische Praxis.113 Art. 1 Abs. 1 GG wurde dabei zunächst vor allem als Grundwert und absoluter Achtungsanspruch, anknüpfend an die Erfahrungen des Nationalsozialismus, schwersten Verletzungen der Menschenwürde entgegen gehalten. Das Bundesverfassungsgericht formulierte ausdrücklich, dass durch Art. 1 Abs. 1 GG insbesondere der Schutz vor „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“ gewährleistet werden sollte.114 Die gewählte Aufzählung zeigt deutlich die Bezugnahme auf die Beweggründe der Schaffung der Norm, durch die den nationalsozialistischen Verbrechen entschieden entgegengetreten und durch die der dahingehende Willen und die Notwendigkeit, solche Handlungen zukünftig zu unterbinden, unterstrichen werden sollte. Diese Aspekte sind auch heute noch konsentierter Bestandteil des Schutzumfangs und bilden den konsentierten Bereich der Abwehrfunktion der Menschenwürde. Die Schutzpflichtfunktion ist ebenso ausdrücklich in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG normiert, tritt aber – nach vorwiegender Ansicht –115 aufgrund der Semantik der Norm, hinter der Abwehrfunktion zurück.116 Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen zeigen die einzelnen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde eine weitgehend einheitliche Linie in der Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG, der die wesentlichen Funktionen und Strukturelemente der Würdenorm entnommen werden können. So unterstrich das Bundesverfassungsgericht insbesondere die Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG als „tragendes Konstitutionsprinzip“117 und „obersten Verfassungswert“118 für die grundgesetzliche Ordnung. Dem Wür113
BVerfGE 1, 97. BVerfGE 1, 97 (104). 115 Vgl. dazu auch im Folgenden die Ausführungen unter C. I. 3. 116 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (318). 117 BVerfGE 6, 32 (36); 87, 209 (228); 96, 375 (399); 109, 279 (311). Vgl. ferner BVerfGE 109, 133 (149). 118 BVerfGE 109, 279 (311). Ähnlich BVerfGE 96, 375 (399); 117, 71 (89). 114
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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desatz als „wichtigste Wertentscheidung des Grundgesetzes“119 ist eine strukturbildende Funktion immanent, die eine „elementare Basisgleichheit“ der Menschen und einen „Schutz der jeweiligen Selbst- und Weltvorstellung des Einzelnen“ garantiert.120 Der Schutz der Menschenwürde ist untrennbar mit dem Schutz des Einzelnen als Person verbunden. Die Würde des Menschen ist dabei unabhängig von seinen physischen oder psychischen Möglichkeiten sich seiner Würde bewusst zu sein oder sich auf sie zu berufen: „Mit dem Begriff der Menschenwürde knüpft das Gesetz erkennbar an den Gehalt des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG an. Das Bundesverfassungsgericht versteht ihn als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte. Mit ihm ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Menschenwürde in diesem Sinne ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch ,unwürdiges‘ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.“121
Als elementarer und unveräußerlicher Grundsatz – wie auch als Recht – ist die Menschenwürde jedem Menschen allein aufgrund seiner Existenz eigen.122 „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“,123 so das Bundesverfassungsgericht. Diese Ausrichtung des Art. 1 Abs. 1 GG im Rahmen der Verfassung sei unabhängig von religiösen und philosophischen Konzeptionen und Überzeugungen.124 Mit dieser Klarstellung bezieht sich das Bundesverfassungsgericht argumentativ auf einen der Grundgedanken des Parlamentarischen Rates, bewusst eine religiöse wie auch eine philosophische Konnotation des Menschenwürdebegriffes abzulehnen und zugleich die Gleichheit aller Menschen in ihrer Würde hervorzuheben.125 Es geht dabei neben der Neutralitätspflicht zentral um den Aspekt, dass der Mensch um seiner selbst willen Würde besitzt und diese ihm nicht erst 119
Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 2. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (312). 121 BVerfGE 87, 209 (228) unter Bezugnahme auf E 6, 32 (36, 41); 45, 187 (227). 122 BVerfGE 88, 203 (252). 123 BVerfGE 39, 1 (41). 124 Vgl. BVerfGE 88, 203 (252). 125 Wie zu Beginn der Arbeit dargelegt (vgl. A. II.), sprachen sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates bewusst gegen eine religiöse bzw. philosophische Begriffsprägung der Menschenwürde aus. Eine Festlegung auf ein bestimmtes Konzept hätte keine allgemeine Zustimmung gefunden und wäre auch ein Widerspruch zu der gewünschten Neutralitätspflicht des Staates gewesen. Diese weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates betont das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen dieser Entscheidung: BVerfGE 88, 203 (252). 120
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
aufgrund eines Bezuges zu Gott oder einer naturrechtlichen Fundierung zukommt. Die Achtung des Menschen als Rechtsperson steht im Zentrum der Rechtsordnung und wird durch den absoluten Achtungs- und Schutzanspruch und das Konzept des Art. 1 Abs. 1 GG verstärkt.126 Die Menschenwürde fungiert dabei neben ihrer Funktion als Grenze des rechtlich Zulässigen zugleich auch als Auslegungsgrundsatz und kategorischer Anspruch des Einzelnen. Der Menschenwürdesatz sichert ein nichtkonsequentialistisches Verständnis der Grundrechte in der Rechtsordnung und prägt das Spannungsverhältnis der subjektiven Rechte des Einzelnen und der Bedürfnisse und Ansprüche des Kollektivs.127 Der Einzelne darf nicht zugunsten des Kollektivs vollständig seiner Rechten beraubt werden, er muss immer als Rechtsperson geachtet und als solche wahrgenommen werden. Ferner gewährleistet die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“128 einen menschenwürdebezogenen Schutzbereich aller Grundrechte, der nicht, auch nicht durch andere kollidierende Grundrechte, eingeschränkt werden darf.129 Jedoch oder vielmehr gerade weil die Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“ anzusehen ist und alle Grundrechte Konkretisierungen derselben sind, „bedarf es stets einer sorgfältigen Begründung, wenn angenommen werden soll, daß der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlägt“.130 Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht in diesem Zusammenhang die Stellung von Art. 1 Abs. 1 GG als Fundamentalnorm und Grundprinzip, betont aber zugleich den Grundrechtscharakter der Menschenwürdegarantie. Weiterhin verdeutlicht es in diesem Zusammenhang das besondere Verhältnis der Menschenwürdenorm zu anderen Grundrechten – so etwa am Beispiel des Verhältnisses der Menschenwürde zur Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG, die in ihrer Bedeutung als „schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Ordnung“131 einen besonderen Stellenwert einnimmt, im Spannungsverhältnis zur Menschenwürde gleichwohl zurücktreten muss. Trotz ihrer Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung könne 126 Bezugnehmend auf die Würde des ungeborenen Lebens betonte das Bundesverfassungsgericht: „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es zu achten und zu schützen bedingt, dass die Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleistet.“ (BVerfGE 88, 203 [252]). Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht den Würdeanspruch eines jeden Menschen, um seiner selbst willen. Aus dem korrespondierenden universellen Achtungs- und Schutzanspruch abgeleitet werden kann das Recht und der Anspruch des Einzelnen sich frei zu entfalten. Mit der Bezugnahme auf das Ungeborene weitet das Bundesverfassungsgericht diesen Anspruch zudem auf den pränatalen Bereich aus und statuiert einen (partiellen) vorgeburtlichen Würdeschutz. Vgl. dazu bereits BVerfGE 39, 1 (41 f.). 127 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 128 BVerfGE 93, 266 (293). 129 Vgl. BVerfGE 93, 266 (293). 130 BVerfGE 93, 266 (293). 131 BVerfGE 93, 266 (292 f.).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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auch die Meinungsfreiheit einen Eingriff in die Menschenwürde nicht rechtfertigen. Eine Abwägung der im Konfliktfall betroffenen Rechtsgüter sei nicht möglich.132 Das Bundesverfassungsgericht stellt damit den Vorrang der Menschenwürde deutlich heraus und unterstreicht ihre Unabwägbarkeit. Es wird deutlich: Die Menschenwürde ist kein abwägungsfähiges Gut und kann nicht in ein Abwägungsverhältnis zu anderen Grundrechten gestellt werden, gleich zu welchem. Neben der Unabwägbarkeit der Menschenwürdegarantie wird zudem ihre Bedeutung als Basis der Grundrechte, die sie konkretisieren, deutlich. Ferner zeigt das entstehende Spannungsverhältnis das Erfordernis einer sorgfältigen Prüfung und Begründung der Annahme eines würderelevanten Eingriffs auf; nicht jeder Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts kann als würderelevant erachtet werden. Dies ist offensichtlich. Es muss eine Prüfung im Einzelfall erfolgen, wobei die Menschenwürdegarantie immer – insbesondere im Kernbereichsschutz – mit zu berücksichtigen ist.
II. Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG – Entwicklungslinien der Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinen Entscheidungen bereits mit einem breiten Spektrum des Würdeschutzes auseinandergesetzt.133 Die Struktur der Würdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG erfordert für die Anwendung eine dezidierte Auseinandersetzung mit den wesentlichen Grundelementen der Norm und dem umfassten Schutzbereich sowie die Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalles. Vorwiegend ausgehend vom Verletzungsvorgang her erschließt das Bundesverfassungsgericht dabei den Schutzumfang des Würdesatzes und greift hierbei insbesondere auf die durch Dürig aus dem kantischen Instrumentalisierungsverbot abgeleitete Objektformel zurück, um Verletzungshandlungen gegen die menschliche Würde zu erfassen.134 Eine Betroffenheit der Menschenwürde liegt nach dieser vor, wenn „der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.135 Der Mensch muss danach stets in seiner Subjektivität geachtet werden und darf nicht zu einem Objekt, zu einem austauschbaren Mittel gemacht werden.136 Der zentrale Gedanke Dürigs lag in der Wahrung der Achtung des Einzelnen als Subjekt, als Individuum. 132
Vgl. BVerfGE 93, 266 (293). Vgl. zu den Würde-bezogenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Übersicht bei Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 190 ff. 134 Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 14 f. 135 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (127). 136 Vgl. hierzu auch Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, zitiert nach: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Weischedel, 182008, 600 f. 133
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Ausgehend von dem Gedanken Dürigs, den dieser in seiner Objektformel formuliert hat, hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einzelner Entscheidungen seinen Umgang mit der Menschenwürdegarantie stetig ausdifferenziert und weiterentwickelt. In dieser Auslegung des Würdesatzes durch das Bundesverfassungsgericht zeigt sich die Struktur, die das deutsche Konzept des Würdeschutzes entscheidend prägt. Im Folgenden sollen die Strukturelemente des Würdesatzes anhand ausgewählter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts analysiert werden. Im Wege dieser Analyse spezifischer (Leit-)Entscheidungen sind die durch die Rechtsprechung entwickelten Funktionen und Elemente differenzierbar und ermöglichen das Konzept der Menschenwürde im deutschen Recht auszuweisen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts werden zu diesem Zweck im Nachfolgenden den wesentlichen Funktionen der Würdenorm zugeordnet. Die Auswertung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen orientiert sich dabei maßgeblich an der Frage: Wie funktioniert der Würdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG im deutschen Recht? Diese Frage diente zugleich als Auswahlkriterium der hier dargestellten Entscheidungen. Die Darstellung folgt dabei nicht chronologischen Gesichtspunkten, sondern ist ebenfalls an den wesentlichen Elementen orientiert, die es zu benennen gilt. 1. Subjektives Moment des Schutzes der Menschenwürde – Verletzung der Menschenwürde durch eine verächtliche Gesinnung des „Täters“? Die Bestimmung des Schutzbereiches der Menschenwürde weist erhebliche Schwierigkeiten auf, die der spezifischen Struktur der Norm geschuldet sind und eine besondere Herausforderung im Rahmen der Konkretisierung darstellen.137 Im Bewusstsein dieser Schwierigkeiten sah sich das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen wiederholt mit der Frage konfrontiert, wann eine Verletzung der Menschenwürde vorliegt, also wann die erforderliche Schwelle überschritten worden ist. Neben der von Dürig entwickelten Objektformel bedurfte und bedarf es noch weiterer Kriterien, die in Ansehung des konkreten Falles eine Festlegung zulassen, wann eine Menschenwürdeverletzung vorliegt. Die Formulierung der Objektformel dient dabei vielfach als erster Schritt und Ausgangspunkt der Erwägungen um weitere Differenzierungen vorzunehmen. Im „Abhörurteil“138 1970 zog das Bundesverfassungsgericht ergänzend zur allgemeinen Bestimmung der Objektformel, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, das Kriterium der Infragestellung der Subjektqualität und der Verachtung des Wertes des Menschen heran, die in der Verletzungshandlung zum Ausdruck kommen müsse.139 Es kam nach dieser Ent137 138 139
Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 8, 13. BVerfGE 30, 1. BVerfGE 30, 1 (26).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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scheidung insbesondere auf die Art und Zielrichtung der Handlung an, indem es sich um eine „verächtliche“ Behandlung handeln müsse: „Was den in Art. 1 GG genannten Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde anlangt, der nach Art. 79 Abs. 3 GG durch eine Verfassungsänderung nicht berührt werden darf, so hängt alles von der Festlegung ab, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann. Offenbar läßt sich das nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles. Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ,verächtliche Behandlung‘ sein.“140
Mit dieser Entscheidung zog das Bundesverfassungsgericht ein subjektives Moment in die Beurteilung einer möglichen Würdeverletzung als weitere Ausdifferenzierung der Objektformel hinzu. Es stellte ausdrücklich klar, dass der einzelne Mensch „nicht selten bloßes Objekt“ der „Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung“ sowie des Rechts sei, ohne dass dadurch seine Menschenwürde verletzt werde.141 Das Gericht bezog sich damit auf Abläufe, in denen der Einzelne „ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß“, die folglich nicht seine Subjektqualität missachten, sondern vielmehr einem normalen Vorgehen geschuldet seien, das nicht individuell auf den Einzelnen abgestimmt ist.142 Der einzelne Mensch werde in solchen Situationen zwar zum Gegenstand und damit zum „Objekt“ des staatlichen Handelns, er werde jedoch nicht zum „bloßen Objekt“.143 Seine Eigenschaft als Rechtssubjekt werde dadurch nicht in Zweifel gezogen, so dass es sich nicht um einen Fall einer Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG handele. Entscheidend komme für die Beurteilung einer Handlung als würdeverletzend folglich darauf an, dass die Subjektqualität des Einzelnen missachtet und die (staatliche) Handlung die Achtung des Wertes des Einzelnen als Rechtsperson vermissen lasse.144 Die subjektive Intention des Verletzenden beeinflusste nach den Ausführungen des Gerichts wesentlich die Qualifikation der Handlung als Würdeverletzung, als insofern eine 140
BVerfGE 30, 1 (25 f.). BVerfGE 30, 1 (25 f.). 142 BVerfGE 30, 1 (25 f.). 143 Vgl. BVerfGE 30, 1 (25) und ebenso Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 15. 144 Vgl. BVerfGE 109, 279 (312 f.); 115, 118 (153 f.). Siehe außerdem Sachs-Höfling, GGKommentar, 72014, Art. 1, Rn. 16 f. 141
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„verächtliche Behandlung“ vorliegen müsse.145 Wann genau eine Behandlung „verächtlich“ sei und den Wert des Menschen in Frage stelle, hänge von der (individuellen) Betrachtung des Vorganges ab. Entscheidend ist demnach, dass „[d]ie Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, […] wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes [ist], der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, [es muss] also in diesem Sinne eine ,verächtliche Behandlung‘ sein.“146 Diese Entscheidung ist vor allem aufgrund des von ihr gewählten Ansatzes der Heranziehung eines subjektiven Moments zur Beurteilung einer Handlung als Verletzung der Menschenwürde auf heftige Kritik gestoßen.147 Im Rahmen eines Sondervotums kritisieren bereits die Richter Geller, von Schlabrendorff und Rupp, dass man zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der Menschenwürde nicht nur darauf zurückgreifen dürfe, eine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen, wenn es sich um eine den Wert des Menschen verachtende Handlung des Staates handele. Dies stelle eine Einschränkung dar, die der „Konzeption und dem Geist des Grundgesetzes nicht gerecht“ werde.148 Der Einzelne sei als Bürger immer der Rechtsordnung unterworfen, dies bedürfe jedoch keiner gesonderten Hervorhebung. Er sei damit jedoch nicht Objekt des staatlichen Handelns, sondern Mitglied der Rechtsgemeinschaft und als solches Subjekt.149 Die Frage der Verletzung der Menschenwürde könne folglich nicht von einer Absicht abhängig gemacht werden. Auch eine gute Absicht mache eine würdeverletzende Handlung nicht zu einer die Würde nicht verletzenden.150 Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, insbesondere der angesprochene Aspekt, dass auch eine noch so gute Absicht eine Würdeverletzung nicht zu rechtfertigen vermag, spiegelt die absolute Ausrichtung des Würdeschutzes wider. Es kann unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG keine Absicht geben, die eine Verletzung der menschlichen Würde zu rechtfertigen vermag. Daher ist die Beurteilung einer Handlung als Verletzung der Würde in Abhängigkeit von der Handlungsintention abzulehnen. 145 Vgl. BVerfGE 30, 1 (26). Den Gedanken, die Intention der Handlung für die Frage nach einer damit möglicherweise verbundenen Würdeverletzung heranzuziehen, greift in letzter Konsequenz auch Herdegen in seiner Kommentierung des Art. 1 GG in Maunz/Dürig auf. Indem er die Handlungen, die aus wirklich guten und gewichtigen Gründen erfolgen, nicht als Eingriffe in die Würde qualifiziert wissen will, zieht er letztlich ebenfalls die subjektive Intention hinter der Handlung in der Prüfung, ob es sich um eine Verletzung der Würde handelt, hinzu. Vgl. dazu auch Teil 1, C. I. 3. 146 Vgl. insgesamt BVerfGE 30, 1 (26). 147 Vgl. Häberle, Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1970, JZ 1971, 145 (151). Vgl. außerdem Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 47 m.w.N. 148 BVerfGE 30, 1 (39). 149 Vgl. dazu insgesamt die Ausführungen des Sondervotums zu BVerfGE 30, 1 (42). 150 BVerfGE 30, 1 (40).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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In späteren Entscheidungen ließ das Bundesverfassungsgericht das Kriterium der Missachtung des Wertes des Menschen als Ansatz zur Beurteilung der Würderelevanz einer Maßnahme gänzlich fallen.151 Deutlich wurde aber: Die Objektformel allein ist zum Teil nicht zielführend, es muss ein weiteres Moment für eine eindeutige Beurteilung hinzukommen. So stellte das Gericht in der Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“152 darauf ab, dass es für die Verletzung der Menschenwürde nicht schon darauf ankomme, Adressat einer staatlichen Maßnahme zu sein, sondern vielmehr, dass „durch die Art der ergriffenen Maßnahme die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird“153. Dies bezog sich jedoch auf die Modalitäten der Handlung und nicht auf eine dahinterstehende Absicht. So sei notwendig, dass „die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt“154. In seinen weiteren Ausführungen beschreibt das Gericht, es komme wiederholt vor, dass ein Mensch Objekt einer Handlung sei, ohne dass dadurch die Menschenwürde angetastet werde, entscheidend seien daher die Art und die Umstände der Handlung. Die in diesem Zusammenhang vorgenommene Konkretisierung der Objektformel durch das Bundesverfassungsgericht spitzt den Beurteilungsmaßstab dahingehend zu, dass es die Zielrichtung der Maßnahme als objektives Moment hinzunimmt, um eine Verletzung der Würde festzustellen. Der Leistungskraft der Objektformel als solcher sind Grenzen gesetzt,155 denn „[d]er Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, dem er sich zu fügen hat. Die Menschenwürde wird nicht schon dadurch verletzt, dass jemand zum Adressaten von Maßnahmen der Strafverfolgung wird, wohl aber dann, wenn durch die Art der ergriffenen Maßnahme die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das ist der Fall, wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Solche Maßnahmen dürfen auch nicht im Interesse der Effektivität der Strafrechtspflege und der Wahrheitserforschung vorgenommen werden […].“156
Das Bundesverfassungsgericht möchte dabei seine Ausführungen nicht (mehr) dahingehend verstanden wissen, dass es auf eine subjektive Absicht des Handelnden ankäme. Es betonte in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass mit dem Begriff der „Verachtung“ keine subjektive Intention des Handelnden gefordert werde, 151 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (315). So stellte das Bundesverfassungsgericht vor allem noch in den Entscheidungen BVerfGE 30, 1 (25 f. und 39 ff.) und 96, 375 (399) auf das Kriterium der Missachtung des Wertes des Menschen für die Feststellung einer Würdeverletzung ab. 152 BVerfGE 109, 279. 153 BVerfGE 109, 279 (312 f.). 154 BVerfGE 109, 279 (313). 155 BVerfGE 30, 1 (25); 109, 279 (312). 156 BVerfGE 109, 279 (312 f.).
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sondern es auf die Modalität der Handlung ankomme.157 Die Frage, ob eine würderelevante Handlung vorliege, sei immer objektiv unter Einbeziehung der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen.158 Es komme mithin auf die Frage der Achtung der Subjektqualität des Einzelnen durch die Art der Handlung an.159 Das Bundesverfassungsgericht sah eine Verletzung der menschlichen Würde nicht schon darin gegeben, dass der Mensch zum Objekt der Staatsgewalt werde. Dies sei nicht selten der Fall, da sich der Mensch aufgrund „der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung“ dem Recht fügen müsse. Eine Verletzung der Würde sei erst gegeben, so das Bundesverfassungsgericht, wenn der Einzelne „einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt“, oder die Behandlung selbst als „willkürliche Mißachtung der Würde“ zu erachten sei.160 Die Beurteilung der Handlung bei der Frage, ob es sich um eine Verletzung der Menschenwürde handelt, muss folglich immer anhand des Einzelfalles erfolgen, die Objektformel kann dabei als allgemeiner Ansatz nur eine Richtung vorgeben.161 Die Entwicklung zeigt, dass stets die objektive Beurteilung entscheidend ist und die Funktion der Menschenwürde als Sicherung der Anerkennung des Einzelnen, als Subjekt und die Wahrung seiner Subjektivität unter allen Umständen geachtet werden muss. Denn auch ein noch so guter Grund kann die Verletzung der Menschenwürde nicht rechtfertigen. In ihrem Anwendungsbereich statuiert die Würdenorm ein absolutes Verbot.162 Der Mensch muss immer Zweck an sich selbst bleiben. Darin kommt der Respekt vor dem Einzelnen als Rechtsperson, als Subjekt und die nichtkonsequentialistische Struktur der Grundrechtsordnung zum Ausdruck, deren Kern der Würdesatz bildet.
157
Vgl. BVerfGE 115, 118 (152 ff.). Vgl. BVerfGE 115, 118 (154). 159 Vgl. BVerfGE 30, 1 (26 f.). 160 BVerfGE 30, 1 (25 f.). 161 BVerfGE 30, 1 (25). 162 Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, in: Honnefelder/Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 5 (24). 158
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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2. Strukturelemente der Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Nichtkonsequentialistisches Moment und absoluter Schutzanspruch – Die Abwehr- und Schutzpflichtfunktion der Menschenwürdegarantie (1) Ausgangslage Die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde prägt die nichtkonsequentialistische,163 nichtutilitaristische Struktur der Rechtsordnung im Allgemeinen und des Grundgesetzes im Besonderen.164 Die nichtutilitaristische Ausrichtung der Rechtsordnung und des Grundgesetzes zeigt sich vor allem in der Beurteilung vorgegebener Handlungsmaxime. So bewertet der Utilitarismus Handlungen und Handlungsregeln nach ihrem Beitrag zur kollektiven Nutzenmaximierung, folglich danach, ob sie den Nutzen oder das Glück des Kollektivs größtmöglich mehren.165 Die kollektive Nutzenmaximierung ist primäres Ziel. Der Konsequentialismus als eine Unterform des Utilitarismus bewertet eine Handlung allein nach ihrer Konsequenz für die Maximierung des Kollektivnutzes, des Glücks Aller, was als wertvollstes Gut zu erachten und zu fördern ist.166 Diese Ausrichtung auf das Kollektiv bildet ein nahezu konträres Konzept zur der Ausrichtung der Rechtsordnung, die folglich als nichtutilitaristisch, nichtkonsequentialistisch ausgerichtet erachtet wird. Die Rechtsordnung insgesamt und das Grundgesetz im Besonderen sind nicht auf die Maximierung des Kollektivnutzens ausgerichtet. Vielmehr steht das Individuum, der einzelne Mensch, – wie von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes gewollt – im Mittelpunkt der Verfassung. Der Würdesatz verbietet, dass der Einzelne im Interesse des Kollektivs geopfert und der grundlegende Respekt vor ihm als Rechtsperson zugunsten eines Kollektivnutzens aufgegeben wird.167 Der Mensch muss folglich immer Selbstzweck bleiben. Es ist zwar möglich, dass individuelle Rechte
163 Die Begriffe „deontologisch“ und „konsequentialistisch“ können unterschiedlich ausbuchstabiert werden. In vorliegenden Zusammenhang geht es vor allem um die grundsätzliche Ausrichtung der mit diesen Begriffen bezeichneten Ansätze, die vorliegend mit dem im Text näher spezifizierten Sinn gebraucht werden. 164 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316 f.). 165 Vgl. Mill, Utilitarianism/Der Utilitarismus, übers. und hrsg. von Birnbacher, 2008, 53 ff. Zum Begriff des Utilitarismus und den unterschiedlichen Ausrichtungen vgl. Gesang, Utilitarismus, in: Jordan/Nimtz (Hrsg.), Lexikon Philosophie. Hundert Grundbegriffe, 2009, 276. 166 Gesang, Utilitarismus, in: Jordan/Nimtz (Hrsg.), Lexikon Philosophie. Hundert Grundbegriffe, 2009, 276 (276 f.). 167 Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, in: Honnefelder/Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 5 (24).
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zugunsten des Kollektivs Einschränkungen erfahren, dem sind jedoch durch die Würdenorm klare Grenzen gesetzt.168 Diesen zentralen Gedanken hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich in seiner Entscheidung zur „Lebenslangen Freiheitsstrafe“169 aufgegriffen. Denn gerade im Bereich des Strafvollzuges zeigt sich in besonderem Maße die Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde. Das Bundesverfassungsgericht führte dazu aus, dass es vor allem darauf ankomme, dass der Täter oder der Strafgefangene nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruches gemacht werde.170 So sei „[a]us Art. 1 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip […] – und das gilt insbesondere für den Strafvollzug – die Verpflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht. Mit einer so verstandenen Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können“.171
Neben die Feststellung, dass es dem Gefangenen grundsätzlich möglich sein muss, seine Freiheit – gerade auch im Falle einer lebenslangen Freiheitsstrafe – wieder zu erlangen, tritt die weitere ausdrückliche Klarstellung des Gerichts, dass die Grundlage und die Voraussetzung individueller und sozialer Existenz stets auch für Strafgefangene erhalten werden muss.172 Es wird eine starke und umfassende Achtungs- und Schutzpflicht des Staates gegenüber Strafgefangenen statuiert, die sich aufgrund der Haftsituation in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat befinden und daher in besonderem Maße diesem Schutz zur Wahrung ihrer Grundrechte bedürfen.173 Im Kern wird hier auf das subjektive Abwehrrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG Bezug genommen. Ein Handeln des Staates, Strafgefangene ihrer Freiheit „zu entkleiden“, ohne ihnen die Chance auf eine Wiedererlangung der Freiheit zu gewähren, ist mit der Menschenwürdegarantie ebenso wenig vereinbar, wie die Nichtgewährleistung eines menschenwürdigen Daseins (in der Situation der Haft).174 Die Bedeutung der Funktion des Würdesatzes, die Achtung des Einzelnen 168
Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 169 BVerfGE 45, 187 (228). 170 BVerfGE 45, 187 (228) mit Verweis auf E 28, 389 (391). 171 BVerfGE 45, 187 (228 f.). 172 BVerfGE 45, 187 (228 f.). 173 Vgl. BVerfGE 45, 187 (228 f.). 174 Vgl. BVerfGE 45, 187 (238 f.). Vgl. dazu auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. 7. 2015 zur Frage eines Entschädigungsanspruchs wegen menschenunwürdiger Haftbedingung, BVerfG, NJW 2016, 389 ff. und die Entscheidungsbesprechung von Muckel, Menschenunwürdige Haftunterbringung, JA 2016, 153 ff.
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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als Rechtsperson zu sichern und auch im besonderen Verhältnis der Haft die elementaren Bedingungen seiner Existenz und Entfaltung zu bewahren, wird unterstrichen. Weiterhin stellte das Bundesverfassungsgericht im Rahmen dieser Entscheidung fest, „[d]er Satz, ,der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben‘, gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt“.175 Dies unterstreicht die streng deontologische Ausrichtung der Rechtsordnung, die sich im dem Verständnis des Einzelnen als Selbstzweck und der Annahme seiner strikten Unverrechenbarkeit widerspiegelt. Die Selbstzweckhaftigkeit des Einzelnen ist zu achten und kann auch nicht zugunsten kollektiven Nutzens zurückstehen. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen den Interessen des Kollektivs an einer Maximierung des kollektiven Nutzens und den Ansprüchen und subjektiven Rechten des Einzelnen.176 Die Menschenwürde gibt hier im klassischen Verständnis eines Abwehrrechts durch ihre Funktion als constraint, als „deontologisch zu verstehende Grenze“177 und Verbotsnorm, das Maß der hinnehmbaren oder vielmehr hinzunehmenden Einschränkungen der Rechte und Ansprüche des Einzelnen vor.178 Die Menschenwürde als solche zieht eine absolute Grenze dessen, was einem einzelnen Menschen als Rechtsperson angetan werden darf. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, die das nichtkonsequentialistische Moment der Menschenwürde und die absolute Unverrechenbarkeit des Einzelnen auch in Extremsituationen betont. (2) Die Grundsatzentscheidung – Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes (15. Februar 2006)179 In der 2006 ergangenen Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG betonte das Bundesverfassungsgericht den kategorischen Schutzcharakter der Menschenwürdegarantie sowie die deontologische Prägung der Grundrechtsordnung, die auf der „,Getrenntheit der Person‘ und dem Respekt vor 175
BVerfGE 45, 187 (228). Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316 f.). 177 Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, in: Honnefelder/Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 5 (25). 178 Vgl. Gutmann, Würde und Autonomie. Überlegungen zur Kantischen Tradition, in: Honnefelder/Sturma (Hrsg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15 (2010), 5 (25); Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (317). 179 BVerfGE 115, 118 = NJW 2006, 751. 176
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ihrem der Verrechenbarkeit entzogenen Eigenwert“180 beharrt.181 Deontologisch verstandene Rechte fungieren als Grenze dessen, was der Einzelne an Einschränkungen seiner Rechte zugunsten des Kollektivs hinnehmen muss, sie bilden die „Schranke für die kollektive Gütermaximierung, wenn diese droht, über die berechtigten Ansprüche Einzelner hinwegzugehen“.182 Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht mit seinen Ausführungen in der vorliegenden Entscheidung diese grundsätzliche Ausrichtung der Grundrechtsordnung auf den Einzelnen, der immer Selbstzweck bleiben muss und nicht zugunsten eines kollektiven Interesses geopfert werden darf. Darin spiegeln sich die vier wesentliche Strukturelemente des deutschen Schutzkonzeptes der Menschenwürde wider: Der Schutz des Individuums und die Achtung des Menschen als Rechtsperson, die Gewährung fundamentaler Basisgleichheit sowie die deontologische Struktur der Grundrechtsordnung. Der Erlass des Luftsicherheitsgesetzes war die Konsequenz einer (vermeintlich) zunehmenden Gefährdung der zivilen Luftfahrt durch terroristische Aktivität, die durch die Anschläge vom 11. September 2001 eine neue Dimension erreicht hatte. Die Vorkommnisse des 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika, bei denen vier Passagierflugzeuge amerikanischer Fluggesellschaften von international agierenden Terroristen entführt und gezielt zum Absturz gebracht wurden, wodurch der Tod von mehr als 3000 Menschen verursacht wurde, zeigte ein vorher nicht gekanntes Ausmaß terroristischer Bedrohung und zugleich eine bisher nicht wahrgenommene Anfälligkeit der zivilen Luftfahrt für terroristische Akte. Diese Anschläge führten sowohl den staatlichen Behörden als auch der Bevölkerung die von solchen Szenarien ausgehenden Gefährdungen vor Augen. Der Schutz der Bevölkerung vor Nachahmern der Geschehnisse vom 11. September 2001 wurde infolgedessen zu einem Schwerunkt gesetzgeberischer Bemühungen, auch des deutschen Gesetzgebers.183 Die Kaperung eines Sportflugzeuges durch einen bewaffneten und (offenbar) geistig verwirrten Mann am 5. Januar 2003 in Frankfurt am Main regte die Diskussionen vor allem auch in Deutschland weiter an. Es wurden in der Folgezeit eine Vielzahl von Maßnahmen getroffen, um unrechtmäßige Eingriffe in die zivile Luftfahrt zu verhindern, die Sicherheit der Luftfahrt insgesamt zu verbessern und vor Gefahren zu schützen. Eine dieser Maßnahmen stellte das 180
Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316 f.). 181 Vgl. die Ausführungen von Jahn, Gute Folter – schlechte Folter? Straf-, verfassungs- und völkerrechtliche Anmerkungen zum Begriff „Folter“ im Spannungsfeld von Prävention und Repression, KritV 87 (2004), 24 (29 f.). 182 Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (317). 183 Vgl. Lepsius, Das Luftsicherheitsgesetz und das Grundgesetz, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 47 (47).
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Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) dar. Die zentrale Norm bildete der § 14 Abs. 3 LuftSiG, der eine Ermächtigung der Streitkräfte vorsah, mit Waffengewalt unmittelbar auf ein Luftfahrzeug einzuwirken und somit als ultima ratio dessen Abschuss vorzunehmen, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll und die [unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt] das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“.184
Der Gedanke der adäquaten Reaktionsmöglichkeit oder zumindest etwas, das als solche, als „einziges Mittel zur Abwehr“ eingeschätzt wurde, sollte auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Mit den ergänzenden Regelungen der §§ 13 bis 15 LuftSiG sollte in derartige Fällen durch den Rückgriff auf den Einsatz „militärtypischer Waffen“ eine größtmögliche Effektivität der Gefahrenabwehr ermöglicht werden. Dies schien bereits mit den wehrverfassungsrechtlichen Vorgaben, die einen Einsatz der Bundeswehr mit militärtypischen Mitteln im Inland nicht vorsehen, unvereinbar.185 Im Wege einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde gingen mehrere Beschwerdeführer gegen die durch das Luftsicherheitsgesetz ermöglichte Legitimation der vorsätzlichen staatlichen Tötung von Menschen, die Opfer eines Verbrechens – in diesem Fall der gewaltsamen Übernahme eines Luftfahrzeugs durch Menschen, die dieses als Waffe für einen gezielten Absturz missbrauchen wollen – geworden sind, vor.186 Ausgangspunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war die Frage der materiell-rechtlichen Vereinbarkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG mit dem Grundgesetz. Die Beschwerdeführer führten aus, sie seien durch ihre beruflichen Tätigkeiten häufig auf die Nutzung ziviler Luftfahrzeuge angewiesen und es wäre aus diesem Grund nicht unwahrscheinlich, dass sie als „Vielflieger“ durch eine Maßnahme auf Grundlage des Luftsicherheitsgesetzes betroffen sein könnten. Die Beschwerdeführer rügten dabei vor allem die „Abschussermächtigung“ des § 14 Abs. 3 LuftSiG, die sie in ihren Rechten aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 2 GG verletze. Die Regelungen der §§ 13 bis 15 LuftSiG waren 184
Wortlaut des § 14 Abs. 3 LuftSiG, Ergänzung zur Klarstellung durch die Verfasserin. Vgl. Pestalozza, Inlandstötung durch die Streitkräfte – Reformvorschläge aus ministeriellem Hause, NJW 2007, 492 (492 f.); Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, NJW 2006, 736 (737). Diese Frage beschäftigte auch das Bundesverfassungsgericht in einem weiteren Verfahren: Zu den §§ 13 – 15 LuftSiG wurde ein eigenes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geführt, Az. 2 BvF 1/05. Hinsichtlich des § 14 Abs. 3 LuftSiG wurde der gestellte Antrag für nach der Entscheidung des Ersten Senats am 15. Februar 2006 erledigt erklärt und das Verfahren eingestellt. Weiter stellte das Bundesverfassungsgericht bezüglich § 13 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG die Unvereinbarkeit mit den Vorschriften des Grundgesetzes, insbesondere mit Art. 35 GG und somit die Nichtigkeit fest. Die übrigen Normen erachtete es für verfassungsgemäß, vgl. insoweit BVerfGE 133, 241 und die dazugehörige Pressemitteilung. Abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemit teilungen/bvg13 - 027.html (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 186 Vgl. zum Sachverhalt insgesamt BVerfGE 115, 118 = NJW 2006, 751. 185
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nur insoweit Gegenstand des Vorbringens als sie in direktem Bezug zu § 14 Abs. 3 LuftSiG stehen und die Voraussetzungen für diese Maßnahmen enthalten. Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt. Die Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG ist nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang verfassungswidrig und somit gemäß § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG nichtig. Die Ermächtigung der Streitkräfte aus § 14 Abs. 3 LuftSiG sah das Bundesverfassungsgericht als mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar an, soweit tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen sind. Die Tötung der unbeteiligten Passagiere und Besatzungsmitglieder sei nicht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren, daher sei die Norm des § 14 Abs. 3 LuftSiG insgesamt nichtig. Für die Feststellung einer „bloßen Unvereinbarkeit“ mit dem Grundgesetz sei „unter den gegebenen Umstanden kein Raum“.187 Im Rahmen der Entscheidung differenzierte das Bundesverfassungsgericht zwischen dem Einsatz unmittelbarer Waffengewalt auf ein unbemanntes oder nur mit solchen Personen besetztes Flugzeug, die das Flugzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen und dem möglichen Abschuss eines Flugzeuges, in dem sich (auch) unbeteiligte Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden.188 Die zentrale Problematik dieser Entscheidung liegt folglich darin, dass – wie von den Beschwerdeführern gerügt wurde – die vermeintlichen Flugzeuginsassen eines entführten Passagierflugzeuges durch einen Akt staatlicher Gewalt sterben würden, ohne dass sie der Situation ausweichen bzw. sich dagegen wehren können. Die vom Gericht in diesem Punkt vorgenommene Differenzierung zwischen unbeteiligten Dritten und den Tätern selbst verweist dabei zunächst auf die grundsätzliche Ausrichtung des deutschen Straf- und Gefahrenabwehrrechts, das im Hinblick auf Maßnahmen, die in die Grundrechte einer Person eingreifen und im Fall einer ultima ratio Maßnahme sogar zum Tod einer Person führen können, zwischen Unbeteiligten und Störern unterscheidet. So kommt es für die Frage, ob der Einsatz eines gezielten Tötungsschusses möglich und zulässig ist, entscheidend auf die 187
BVerfGE 115, 118 (165). Im Rahmen der Entscheidung beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht zudem mit dem Zustimmungserfordernis des Bundesrates, der Gesetzgebungs- und Regelungskompetenz des Bundes aus Art. 35 GG und den Regelungen des Art. 87a Abs. 2 und 87d Abs. 2 GG. Es stellte im Rahmen der Entscheidung fest, dass die Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes auch insoweit keinen Bestand haben kann. Auf Frage der Gesetzgebungskompetenz soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, da sie für die vorliegende Analyse der Bedeutung und Funktion der Menschenwürde im deutschen Recht nicht weiter relevant ist. Siehe jedoch zu diesem Thema die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 115, 118 (139 ff.) und weiterführend vertreten für viele Baldus, Streitkräfteeinsatz zur Gefahrenabwehr im Luftraum. Sind die neuen luftsicherheitsgesetzlichen Befugnisse der Bundeswehr kompetenz- und grundrechtswidrig?, NVwZ 2004, 1278. Weiterführend zu einer möglichen Änderung des Art. 35 GG siehe Wiefelspütz, Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG, ZRP 2007, 17 ff. 188 BVerfGE 115, 118 (160 f.).
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Verantwortlichkeit und die Handlung des Täters an. Der Täter schafft durch seine Handlung eine Gefahr für (unbeteiligte) Dritte, die eine Schutzpflicht des Staates auslöst. Um dieser Schutzpflicht zu genügen, ist der Staat gehalten einzugreifen und wenn notwendig auf den Täter unmittelbar einzuwirken. Hierbei muss das mildest mögliche Mittel gewählt werden, um den erfolgenden Grundrechtseingriff auf das geringst mögliche Maß zu begrenzen. Die Abgabe eines gezielten Tötungsschusses kommt daher nur dann in Betracht, wenn kein anderes Mittel zur Verfügung steht und folglich die Tötung des Täters die einzige Handlungsalternative darstellt. Die Tötung des Täters wird in einem solchen Fall als gerechtfertigt erachtet. Es handelt sich dabei gleichwohl um einen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Lebensrecht des Täters. Durch die enge Verbindung des Lebensschutzes des Art. 2 Abs. 2 GG mit dem absoluten Achtungsanspruch des Art. 1 Abs. 1 GG muss die Frage berücksichtigt werden, ob es sich um eine würderelevante Verletzung des Lebensgrundrechts handelt, die als solche einer Rechtfertigung nicht zugänglich wäre. Dies ist im Fall eines gezielten Tötungsschusses nicht gegeben. Der Täter selbst wählt (in der Regel) autonom die Handlung, die den tödlichen Schuss provoziert. Er wird mit dem Einsatz des Schusses gerade nicht zum bloßen Objekt des staatlichen Handelns, sondern es wird vielmehr sein eigenes Verhalten berücksichtigt und er als Person wahrgenommen. Dies ermöglicht es die Verletzung des Lebensgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG zu rechtfertigen, eine würderelevante Verletzungshandlung liegt mithin nicht vor. Eine solche Tötung des Täters ist somit im Rahmen der grundgesetzlichen Werteordnung unter den engen Voraussetzungen der jeweiligen Eingriffsermächtigung möglich und zulässig. Diesen Ansatz überträgt das Bundesverfassungsgericht in der vorliegenden Entscheidung auf die Situation der Entführung eines Flugzeuges. Ausgehend von der Frage der Zulässigkeit des Einsatzes von Waffengewalt gegen ein Flugzeug prüft es die Vereinbarkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG mit den Vorgaben des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Der Abschuss des Flugzeuges würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod der an Bord befindlichen Menschen verursachen. Dies stelle einen Eingriff in ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG dar. Dabei ist zu beachten, dass das Grundrecht auf Leben kein schrankenlos gewährtes Grundrecht ist, sondern unter dem Vorbehalt des Gesetzes steht. Über diesen Vorbehalt des Gesetzes in Form der Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG stellt das Gericht den Bezug zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG her. Das einschränkende Gesetz muss seinerseits „im Lichte dieses Grundrechts und der damit eng verknüpften Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gesehen werden“.189 Entsprechend betonte das Bundesverfassungsgericht, befänden sich nur Personen an Bord, die das Flugzeug als „Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen“, stände der Anordnung und Durchführung einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG – der „unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt“ auf das Flugzeug – die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG 189
BVerfGE 115, 118 (152).
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nicht entgegen.190 Denn, „[w]er, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt, wenn sich der Staat gegen den rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und ihn in Erfüllung seiner Schutzpflicht gegenüber denen, deren Leben ausgelöscht werden soll, abzuwehren sucht“.191 Vielmehr werde gerade die Subjektstellung des Täters dadurch respektiert, dass ihm die Folgen seiner selbstbestimmten Handlungen zugerechnet werden und er die Konsequenzen des von ihm in Gang gesetzten Handlungsablaufs zu tragen hat.192 Insoweit zeigt sich hier eine Parallele zu der Rechtfertigung eines gezielten Tötungsschusses. Befinden sich hingegen Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord des Flugzeuges so stellt sich die Situation indes anders dar. Im Moment der Entführung eines Passagierflugzeuges werden sie in eine „Extremsituation [versetzt], die zudem durch die räumliche Enge eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs geprägt ist“, sie befinden sich „typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage“ in der sie „ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen“ können.193 In dieser besonderen Situation sind sie im Falle einer staatlichen Einwirkung auf das Flugzeug unmittelbar betroffen, es bestünde keine Möglichkeit seitens der Passagiere und Besatzungsmitglieder, dieser Einwirkung auszuweichen oder sich dagegen zur Wehr zur setzen. Die staatliche (vorsätzliche) Tötung der Betroffenen in einer solchen ausweglosen Situation würde den Einzelnen als Würdeträger missachten. Der Tod der Betroffenen wäre zwingende Konsequenz der staatlichen Handlung und würde ohne Ansehung ihrer Subjektivität erfolgen.194 Daher erteilt das Bundesverfassungsgericht dem Einsatz von Maßnahmen nach § 14 Abs. 3 LuftSiG in seinem solchen Fall eine klare Absage und unterstreicht dies durch den Aspekt der großen Unsicherheit, die im Zusammenhang mit der vor dem Abschuss erforderlichen Prognoseentscheidung besteht. Es ist nicht zu erwarten, dass die tatsächliche Lage im Falle der Entführung eines Passagierflugzeuges so umfänglich überblickt und eingeschätzt werden könne, dass die erforderliche Gewissheit, welche Voraussetzung für den Einsatz unmittelbarer Waffengewalt gegen ein Flugzeug ist, gegeben sei.195 Es würde im Zweifel immer mit Übermaß reagiert werden müssen. Doch einer solchen übermäßigen Reaktion tritt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich entgegen: „[U]nter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG [ist es] schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzliche Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Be190 191 192 193 194 195
BVerfGE 115, 118 (160). BVerfGE 115, 118 (161). BVerfGE 115, 118 (161). BVerfGE 115, 118 (154) = BVerfG, NJW 2006, 751 (758). BVerfGE 115, 118 (154). BVerfGE 115, 118 (154 f.).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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satzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unabwägbarkeiten vorsätzlich zu töten“.196
Es wird deutlich: Die Inkaufnahme des Todes der Passagiere, als Teil der staatlichen Abwehrhandlung gegen die Entführung des Flugzeuges, ist mit der Menschenwürde aufgrund der Missachtung der Subjektqualität des Einzelnen unvereinbar: „Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.“197
Die Absolutheit des bestehenden Achtungs- und Schutzanspruches treten in den beiden vorstehenden Auszügen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einer seltenen Deutlichkeit hervor. Die vorsätzliche staatliche Tötung unschuldiger Menschen ist danach „schlechterdings unvorstellbar“198. Dadurch würde der Mensch als Subjekt missachtet. Dies darf unter keinen Umständen geschehen. Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht ausdrücklich die Bedeutung des Menschen als Person und betont zugleich in besonderem Maße den Wert des Einzelnen.199 Das Bundesverfassungsgericht hebt ferner, in Anknüpfung an seine Rechtsprechungstradition, die fundamentale Bedeutung der Menschenwürde und des menschlichen Lebens als die „vitale Basis der Menschenwürde als tragende[s] Konstitutionsprinzip und oberste[r] Verfassungswert“ hervor.200 Gerade in diesem Bereich sei daher der würdegeschützte Kernbereich des grundrechtlichen Lebensschutzes besonders zu beachten.201 Hinzu tritt der Aspekt, dass der absolute Schutz der Würde eines jeden Menschen unabhängig von äußeren oder inneren Eigenschaften gewährleistet wird.202 „Jeder Mensch besitzt als Person […] Würde“, so das Bundesverfassungsgericht und zwar unabhängig von „seinen Eigenschaften, seine[m] körperlichen oder geistigen Zustand, seine[n] Leistungen und seine[m] sozialem Status“.203 Seine Würde kann mithin niemand vorenthalten oder genommen werden.204 Dies gilt unabhängig von der voraussichtlichen Dauer des Lebens des einzelnen Menschen, seinen individuellen Fähigkeiten und den äußeren Umständen. Der Würdeschutz kann weder durch quantitative noch durch qualitative Erwägungen 196 197 198 199 200 201 202 203 204
BVerfGE 115, 118 (157). BVerfGE 115, 118 (154). BVerfGE 115, 118 (154). BVerfGE 115, 118 (152). BVerfGE 115, 118 (152) mit Verweis auf E 39, 1 (42); 72, 105 (115); 109, 279 (311). BVerfGE 39, 1 (42). Vgl. BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 115, 118 (152). Vgl. BVerfGE 115, 118 (152).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
bezüglich der betroffenen Menschenleben in Frage gestellt werden.205 Damit wird zum einen deutlich, dass die Garantie der Menschenwürde nicht von den physischen oder psychischen Möglichkeiten des Einzelnen abhängt und zum anderen nicht durch eine noch so gering zu erwartende Lebensdauer beeinflusst wird. Damit entzieht das Bundesverfassungsgericht jeglichen Erwägungen, das Leben eines Menschen aufgrund einer höheren Lebenserwartung oder einer besseren gesundheitlichen Konstitution als lebens- oder schützenswerter zu erachten als das eines Anderen, die Grundlage.206 Ebenso steht der Opferung der betroffenen Passagiere zur Rettung einer größeren Zahl Menschen am Boden der verfassungsrechtliche Schutz des Würdesatzes entgegen. Das Argument der größeren Anzahl Betroffener am Boden kann nicht zur Rechtfertigung der Tötung der Insassen des Flugzeuges durch dessen Abschuss genutzt werden, denn der Mensch muss als Rechtsperson geachtet werden, er darf nicht zu einer rechnerischen oder an quantitativen Gesichtspunkten gemessenen Größe werden.207 Der Kollektivnutzen, der in einem solchen Fall über die Interessen des Einzelnen gestellt würde, ist nicht mit der antiutilitaristischen Struktur des Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar:208 Art. 1 Abs. 1 GG verbietet jegliche Quantifizierung von Rechten.209 Die egalitäre Basisgleichheit aller Menschen, die durch den Würdesatz gewährleistet wird und absolut zu achten ist, hebt das Gericht in seiner Entscheidung besonders hervor und betont damit eine der wesentlichen Funktionen der Menschenwürde. Die Position des Bundesverfassungsgerichts im Bezug auf eine rechnerische Abwägung der zu rettenden gegen die sterbenden Menschen ist indes nicht unumstritten. Gerade Stimmen in der Literatur wollen eine Öffnung der Auslegung hin zu einer Art Zweck-Mittel-Relation erreichen und daraus die Zulässigkeit eines Abschusses ableiten.210 Das Bundesverfassungsgericht tritt solchen Ansätzen entschieden entgegen. Die in diesem Zusammenhang vielfach diskutierte mutmaßliche Einwilligung der unbeteiligten Flugzeuginsassen in ihre eigene Tötung, um eine größere Anzahl Menschen am Boden zu retten, sieht es als eine Annahme „ohne
205 Vgl. Dreier, Grenzen des Tötungsverbotes – Teil 1, JZ 2007, 261 (265); Winkler, Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, NVwZ 2006, 536 (537); Hartleb, Der neue § 14 III LuftSiG und das Grundrecht auf Leben, NJW 2005, 1397 (1398). 206 Vgl. BVerfGE 115, 118 (152 ff.). 207 Vgl. BVerfGE 115, 118 (158 ff.). 208 Vgl. dazu Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (317 f.); Hirsch, Zum Verbot des Rettungstotschlags, NJW 2007, 1188 (1189). 209 Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (318). 210 Vgl. dazu im Weiteren insbesondere die von Brugger in diesem Zusammenhang wie auch im Bezug einem möglichen Einsatz von Rettungsfolter vertretenen Argumente.
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jeden realistischen Hintergrund“ und als solche als „lebensfremde Fiktion“.211 Die so erteilte Absage wird durch die Schärfe und Deutlichkeit der gewählten Worte unterstrichen. Eine solche mutmaßliche Einwilligung für den Fall der Verwicklung in einen Luftzwischenfall im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG anzunehmen, kommt sowohl unter den Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG wie auch aus strafrechtlicher Sicht nicht in Betracht. So ist bereits aus strafrechtlicher Sicht die Einwilligung in die eigene Tötung nicht möglich. Auch wenn ein ernsthaftes Verlangen nach der eigenen Tötung durch den Betroffenen geäußert worden ist, schließt dies die Strafbarkeit des Täters einer vorsätzlichen Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB nicht aus. Zwar sieht § 216 StGB in Abstufung zu einer vorsätzlichen, nicht einvernehmlichen Tötung ein geringeres Strafmaß vor, stellt die Tat aber dennoch nicht straffrei. Der darin zum Ausdruck kommende Grundgedanke der Strafbarkeit einer Tötungshandlung, auch unter Einwilligung des Betroffenen, kann selbst in einem solchen Extremfall wie einer Flugzeugentführung nicht außer Acht gelassen werden. Bereits dieser Aspekt spricht dagegen, eine mögliche Einwilligung der Opfer als Grundlage einer Rechtfertigung in Betracht zu ziehen. Zwar würde dies zunächst nur zu einem Konflikt mit dem in Art. 2 Abs. 2 GG gewährten Lebensgrundrecht führen. In einem weiteren gedanklichen Schritt wird aber deutlich, dass die unbeteiligten Passagiere durch das gezielte Töten trotz Einwilligung zum bloßen Objekt der staatlichen Handlung gemacht würden. Sie würden für die Rettung einer größeren Anzahl geopfert; eine Achtung ihrer Person als Individuum und Subjekt wäre dabei nicht mehr gegeben. Es käme nicht auf den konkreten einzelnen Menschen an, sondern nur noch auf ihn in seiner Eigenschaft als Passagier; die Opfer würden „entindividualisiert“ und damit würde ihnen der Respekt vor ihnen als Individuum genommen.212 Die grundlegende Achtung des Menschen als Rechtssubjekt, als eigenständiges, selbst bestimmtes Individuum und Bezugspunkt der Verfassungsrechtsordnung darf nicht durch eine Verobjektivierung des Menschen durch staatliches Handeln unterlaufen werden.213 Denn die betroffenen Passagiere und Besatzungsmitglieder würden durch ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt und dadurch zugleich verdinglicht und entrechtlicht; ihnen würde der Wert abgesprochen, der jedem Menschen um seiner selbst willen zu kommt, so das Bundesverfassungsgericht.214 Aus demselben Grund vermag der Abschuss nicht durch das Argument gerechtfertigt werden, die Passagiere, die an Bord der Maschine festgehalten werden, seien untrennbarer Bestandteil der Maschine und somit Teil der Waffe. Diese Annahme bringe, so das Bundesverfassungsgericht, „geradezu unverhohlen zum 211
BVerfGE 115, 118 (157). Lepsius, Das Luftsicherheitsgesetz und das Grundgesetz, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 47 (71 f.). 213 Vgl. Frenz, Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht versus Opferschutz und Fahndungserfolg, NVwZ 2007, 631 (631). 214 BVerfGE 115, 118 (154). 212
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Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden“.215 Eine solche Beurteilung der Situation steht folglich in offenem Widerspruch zur Achtung des Menschen als Rechtsperson und der Ausrichtung der Grundrechtsordnung. Die Ausführungen des Gerichts unterstreichen absolut und unmissverständlich den Umstand, dass auch in solchen extremen Konfliktsituationen das positive Recht moralischen und gesellschaftlichen Zwängen nicht weichen kann und darf. Vor allem die gesetzten Grundsätze dürfen in solchen Situationen nicht verworfen werden. Ferner wird als weiterer Ansatz zur Rechtfertigung die Möglichkeit einer hypothetischen Einwilligung erwogen. Wenn man die Möglichkeit einer solchen annähme – abstrakt im Vorhinein oder mutmaßlich in der Situation der Entführung – wäre auch dies nicht ausreichend um ein staatliches Handeln zu legitimieren. Denn zum einen würde auch dies – wie gerade erläutert – eine Strafbarkeit der Handlung nicht ausschießen, zum andern müsste sichergestellt sein, dass alle Betroffenen eingewilligt haben, was festzustellen jedoch mit letzter Sicherheit kaum möglich wäre.216 Weiterhin kann die mit einer solchen Einwilligung verknüpfte Erwartung an die Betroffenen, sich selbst zu opfern um andere zu retten, nicht vom Einzelnen verlangt und erst recht nicht pauschal mit dem Betreten eines Flugzeuges als konkludent erklärt angenommen werden. Eine solche freiwillige Aufopferung wurde jedoch vereinzelt unter dem Aspekt der ausweglosen Situation und des unweigerlichen Todeseintritts zum Teil „verlangt“.217 Die aufgrund der Situation als „todgeweiht“ anzusehenden Passagieren sollen demnach mit ihrem Tod und der Einwilligung in diesen Schlimmeres verhindern und die (größere Zahl) Menschen am Boden schützen. In dem dadurch entstehenden Spannungsverhältnis stehen sich der kategorische unabwägbare Schutz der Menschenwürde auf der einen Seite und der Wunsch, zumindest die am Boden befindlichen Menschen zu retten, gegenüber. Aus der rechtlichen Perspektive kann dabei nur der absolute Schutz der Menschenwürde überwiegen. Das Argument, dass die betroffenen Menschen im Flugzeug mit dessen Betreten für den Fall einer späteren Entführung eingewilligt hätten, durch einen Abschuss getötet zu werden, ist abwegig und systemwidrig. Es vermag den Abschuss eines Passagierflugzeuges nicht zu rechtfertigen, denn es nimmt dem Einzelnen nicht nur sein Recht auf autonome Selbstbestimmung, sondern es missachtet auch den Menschen als eigenständiges Subjekt. 215
BVerfGE 115, 118 (158). Schenke, Das Luftsicherheitsgesetz und das Recht auf Gefahrenabwehr – Kompetenzen, Prognosen und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: Roggan (Hrsg.) Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 75 (84). 217 Vgl. hierzu die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Abwegigkeit einer solchen Annahme BVerfGE 115, 118 (159) und ebenso die Ausführungen bei Hofmann, Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.) Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 225 (243 ff.). 216
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Die in den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts immer wieder deutlich werdende „Getrenntheit der Personen“218 und der damit verbundene „Respekt vor ihrem der Verrechenbarkeit entzogenen Eigenwert“219 sind Ausdruck eines deontologischen Verständnisses der Grundrechte. Mit dieser Entscheidung wird die Achtung des Einzelnen als Rechtsperson hervorgehoben und der absolute Achtungsanspruch auch in der Extremsituation eines terroristischen Angriffs bestärkt. Damit unterstreicht das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung der Menschenwürdegarantie und der von ihr vorgegebenen Struktur auch in Grenzsituationen und tritt gegenläufigen Tendenzen entgegen. Der Würdesatz zeigt insoweit die Grenzen dessen auf, was einem Menschen angetan werden darf, ohne dass er in seinem Achtungsanspruch als Rechtsperson verletzt wird.220 Auch wenn dadurch moralisch nachvollziehbare und – vielleicht aus soziologischer Perspektive – gute und richtige Entscheidungen nicht möglich sind, darf es nicht zu einer mit den Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbaren Aufweichung des subjektiven Abwehranspruches kommen.221 Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zeigen weiterhin, dass eine Handlung im Sinne des § 14 Abs. 3 LuftSiG unter Beachtung des Grundgesetzes nicht rechtmäßig erfolgen kann. Eine gezielte Tötung Unschuldiger durch staatliche Maßnahmen kann in keinem denkbaren Fall gerechtfertigt werden.222 Die Menschenwürdegarantie als kategorischer Abwehranspruch des Einzelnen, dessen absoluter Schutz auch im Lichte neuer, extremer Herausforderungen nicht weichen darf, zeigt in dieser Entscheidung in deutlichster Weise, die nichtkonsequentialistische Orientierung der Grundrechtsordnung in Form einer antiutilitaristischen Ausrichtung.223 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz ist zwar weitgehend auf Zustimmung getroffen, war jedoch bei weitem nicht unumstritten.224 So wurde die Rechtmäßigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG bzw. die verfas218
Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 219 Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (317). 220 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (319). 221 Vgl. Dreier, Grenzen des Tötungsverbotes – Teil 1, JZ 2007, 261 (267). 222 Vgl. Hirsch, Zum Verbot des Rettungstotschlags, NJW 2007, 1188 (1189). 223 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (317 f.). 224 Neben inhaltlicher Kritik wurde auch die Bindungswirkung der Ausführungen in Frage gestellt. Darauf sei hier nur am Rande hingewiesen, da dies auf die Frage des Umgangs des Bundesverfassungsgerichts mit der Menschenwürde per se keinen Einfluss hat. Die Ausfüh-
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sungskonforme Auslegung für – entgegen der eindeutigen Ausführungen des Gerichts – möglich erachtet.225 Zudem wurde zum Teil die Rechtmäßigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG zwar mit dem Bundesverfassungsgericht verneint, jedoch die gewählten Begründungsansätze als nicht zutreffend kritisiert.226 Vor allem der Ansatz einer Zweck-Mittel-Relation, wie das Bundesverfassungsgericht sie sieht, wurde kritisiert.227 Das Gericht sah in der Tötung der unbeteiligten Passagiere und Besatzungsmitglieder, deren Nutzung als Mittel zur Rettung der Menschen am Boden. Dem wird entgegengehalten, es sei vorliegend schon keine Nutzung der Menschen im Flugzeug als Mittel zur Rettung der Menschen am Boden gegeben.228 Ein Mittel läge nur vor, wenn dieses nicht hinweg gedacht werden könne, ohne dass der Erfolg entfiele. Jedoch wäre hier der Tod der Passagiere und Besatzungsmittglieder ungewollter Nebeneffekt der Rettungshandlung und nicht notwendige Voraussetzung. Die Menschen am Boden würden auch gerettet, wenn sich niemand an Bord befände und das Flugzeug abgeschossen würde. Ginge man von diesem Ansatz aus, wäre die vom Bundesverfassungsgericht in diesem Punkt gewählte Argumentation fehlerhaft. Eine Verletzung der Würde der Passagiere durch ihre Nutzung als Mittel zur Rettung könne nicht angenommen werden. Auch wenn man dieser Ansicht insoweit folgt, dass die Tötung der Passagiere und Besatzungsmitglieder nur ein ungewollter Nebeneffekt und nicht direktes Mittel ist, ist mit der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht von der Hand zu weisen, dass der Tod der unbeteiligten Menschen im Flugzeug als notwendiges Übel hingenommen würde und dadurch den Betroffenen rungen des Senats zur Menschenwürdegarantie sind in Form eines obiter dictum erfolgt. Es wurde daher kritisiert, dass die Ausführungen zur Vereinbarkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG mit der Menschenwürdegarantie die Entscheidung nicht mehr trägt, sondern vielmehr nach der Feststellung der mangelnden Gesetzgebungskompetenz des Bundes alle weiteren Ausführungen als obiter dictum erfolgen und somit nicht von der Bindungswirkung des § 31 BVerfGG erfasst seien, so Pestalozza. Dem ist entgegen zu halten, dass die Verletzung des Anspruches aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als eigenständiger Streitgegenstand gerügt wurde und die Ausführungen insoweit auch tragend sind. Es entfaltet sich somit auch die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG. Vgl. Pestalozza, Inlandstötung durch die Streitkräfte – Reformvorschläge aus ministeriellem Hause, NJW 2007, 492 (492 f.) und so auch Hofmann, Zur Absolutheit des Menschenwürdeschutzes im Wirken des Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier, NVwZ 2010, 217 (129) m.w.N. 225 Vgl. dazu Dessauer, Philosophische Überlegungen zum Luftsicherheitsgesetz, 2008. Nur digital veröffentlicht, abrufbar unter: http://repositorium.uni-muenster.de/document/miami/ b64c1865 – 87c5 – 423c-a856 – 168e302333a7/diss_dessauer.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). Ebenso ein Ansatz für eine zulässige Gestaltung einer den Abschuss eines Passagierflugzeug zulassenden Norm erörtert Pawlik, § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?, JZ 2004, 1045. 226 So vertretend für viele Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 ff.; aus anderem Blickwinkel erörtert die Thematik Winkler, Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, NVwZ 2006, 536 ff. 227 Vgl. insbesondere Dessauer, Philosophische Überlegungen zum Luftsicherheitsgesetz, 2008, 50 ff. 228 Vgl. zur folgenden Argumentation insgesamt Dessauer, Philosophische Überlegungen zum Luftsicherheitsgesetz, 2008, 51 f. Ebenso Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 (380).
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ihr Recht auf Selbstbestimmung genommen und ihre Achtung als Subjekt verletzt würde. Die Interessen der einzelnen Individuen würden hinter dem Interesse der Rettung einer größeren Zahl Menschen am Boden zurücktreten. Merkel kritisierte in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, es erfolge eine „Verdinglichung“ der Passagiere durch die Annahme der Passagiere als „Teil der Waffe“, dahingehend, dass darin gerade keine „Verdinglichung“ der Passagiere und Besatzungsmitglieder zu sehen sei.229 Es werde hier eine „abkürzende, metaphorische Wendung“ genutzt, um mit der Annahme, die Passagiere ständen in „unlösbarer physischer Verbindung“ mit der Gefahrenquelle Flugzeug, zu suggerieren, dass die Passagiere untrennbar mit dieser verbunden seien und dadurch „mit ihren Körpern zum Gefahrenpotential“ beitrügen.230 Weiterhin kritisierte Merkel, dass man nicht annehmen kann, dass die Passagiere durch ihre Anwesenheit an Bord des Flugzeuges nicht zum Teil der Maschine als „riesige Gefahrenquelle“ werden als gehören sie zu dieser.231 Der Begriff „Verdinglichung“ kann folglich nicht dahingehend verstanden werden. Merkel ist hier insoweit zuzustimmen, dass die Passagiere nicht als Teil der Waffe im Sinne eines Bestandteiles verstanden werden können. Das vorliegende Argument taugt daher zur Begründung nur bedingt.232 Dies steht jedoch nicht der grundsätzlichen Bedeutung der Entscheidung entgegen, sondern führt lediglich die Erforderlichkeit einer genauen Differenzierung der gewählten Argumente vor Augen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit der vorliegenden Entscheidung im Jahre 2006 unter dem Eindruck der neuen Bedrohungsdimensionen des internationalen Terrorismus und der damit verbundenen Unsicherheit in der Weltbevölkerung noch einmal ganz deutlich die Menschenwürde als Fundament des deutschen Rechts herausgestellt und deren absoluten Geltungsanspruch betont. b) Grundnorm personaler Autonomie Aus der Garantie der Menschenwürde folgt die Eigenverantwortlichkeit und Letztentscheidungsbefugnis des Individuums über sich selbst. Die Würdenorm ist als solche „Grundnorm personaler Autonomie“233 des Menschen. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet die Rechtsordnung zum Schutz und zur Achtung der Dispositions- und 229 BVerfGE 115, 118 (158). Vgl. Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 (380). 230 Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 (382). 231 Vgl. Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 (382). 232 Vgl. dazu insgesamt Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 (382 f.). 233 Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (27).
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Gestaltungsfreiheit des Einzelnen über sein Leben und Handeln.234 Der Menschen muss eine individuelle Selbst- und Weltvorstellung entwickeln und sein Leben nach dieser gestalten können:235 „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird. Hierzu gehört, daß der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet die freie Entfaltung der im Menschen angelegten Fähigkeiten und Kräfte.“236
Die freie Entfaltung des Einzelnen durch seine Fähigkeiten und Kräfte und seine dabei getroffenen Entscheidungen sind als zentrale Elemente Teil der Würdegarantie, der Mensch ist im Sinne Picos „plastes et fictor“237. Der Mensch ist danach sein eigener „Former und Bilder“, er schafft – im metaphorischen Sinne – sein eigenes Leben nach seinen Vorstellungen, als eine Art Bildhauer seiner selbst. Der Mensch soll nach Pico selbst nach seinen „Überzeugungen und Vorstellungen“ in freier Selbstbestimmung über seinen „Lebensentwurf und seinen Vollzug“ entscheiden können.238 Diese „Macht“ des Menschen zur Selbstbestimmung und die Selbstbestimmtheit des Einzelnen per se werden durch Art. 1 Abs. 1 GG als wesentliche Schutzgüter der Verfassung ausgewiesen. Es kommt entscheidend auf den selbstbestimmten, individuellen Menschen und seine Vorstellungen an. Dies spiegelt die Vorstellung vom Menschen als geistig-sittliches Wesen wider, die darauf angelegt ist, dass sich der Einzelne in Freiheit selbst bestimmen und entfalten kann. Dies bildet die Grundlage des Grundgesetzes.239 Der Einzelnen muss mithin als Rechtsträger frei über seine Rechtspositionen entscheiden können.240 234 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (27). 235 Vgl. BVerfGE 49, 286 (298). 236 BVerfGE 49, 286 (298). 237 Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, Lateinischdeutsch, hrsg. von Buck, 1990, 6. Vgl. dazu weiterhin die Ausführungen bei Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein, in: Gröschner/Kirste/Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, 2008, 159 (170 f.) und ebenso Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 31. 238 Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 1 (2010), 11 (20). 239 BVerfGE 45, 187 (227). Hier könnte sich die Frage eines Menschenbildes des Grundgesetzes anschließen, jedoch ist die Annahme eines dem Grundgesetz zugrunde liegenden solchen Bildes nicht adäquat. Daher soll nicht weiter auf diesen Aspekt eingegangen werden. Vielmehr achtet das Grundgesetz, gerade auch durch die Menschenwürde den Menschen in seiner Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbestimmtheit, ohne ein festes Bild zugrunde zu legen. Siehe zur Diskussion des Menschenbildes des Grundgesetz etwa Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, 2004, 55; Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001, 6 ff.; Huber, Rechtfertigung und Recht, 2001, 11; Schünemann,
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Die Bedeutung der Würde als Grundnorm personaler Autonomie zeigte sich unter anderem im Umgang der Rechtsprechung mit der Frage der freiwilligen Anwendbarkeit von polygraphischen Untersuchungen, den sogenannten Lügendetektortestes. 1981 sah sich zunächst das Bundesverfassungsgericht aus verfassungsrechtlicher Perspektive mit der Zulässigkeit der freiwilligen Anwendung eines solchen Testes befasst.241 Dabei kam es entscheidend auf die Frage an, ob die Ablehnung der freiwilligen Durchführung eines Lügendetektortestes als angebotenes Beweismittel den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletze. Der mit dem vorliegenden Fall befasste Vorprüfungsausschuss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts verneinte eindeutig eine Rechtsverletzung.242 Der Mensch dürfe nicht in der Art „durchleuchtet“ werden, wie es durch einen solchen Test geschehe. Dies stelle einen unzulässigen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Einzelnen dar.243 Der Einzelne entwürdige sich mit der Zustimmung zur Durchführung eines solchen Testes selbst. Zudem könne in der strafprozessualen Situation, in der sich der Betroffene befindet, eine freie Entscheidung nicht getroffen werden. Durch den auf dem Betroffenen lastende Druck der Strafverfolgung ist ihm eine Entscheidung frei von äußeren Zwängen nicht möglich, insbesondere wenn er in der Anwendung eines solchen Lügendetektortestes die einzige Möglichkeit zum Nachweis seiner Unschuld erblickt. Daher scheide, selbst wenn man ihm eine „Dispositionsmacht über die in Frage stehenden Rechte“ einräume, eine wirksame Einwilligung aus.244 Eines Schutzes gegen staatliche Eingriffe bedürfe nur derjenige nicht, der wählen könne, was dem von empfindlicher Freiheitsstrafe bedrohten Angeklagten tatsächlich nicht möglich sei. Ihm stelle sich „die Untersuchung durch den ,Lügendetektor‘ als eine günstige Gelegenheit“ dar, die er ergreifen müsse, so das Gericht.245 Darin kommt der Gedanke zum Ausdruck, die Würde des Einzelnen müsse auch gegen ihn selbst geschützt werden. Dieser Schutz vor Selbstentwürdigung steht jedoch in einem Widerspruch zu der grundsätzlichen Autonomie des Einzelnen. Es scheint ein Spannungsverhältnis zwischen dem Schutzgedanken und der Autonomie des Einzelnen zu entstehen. Jedoch kann eine Verpflichtung, sich nicht selbst zu entwürdigen, nicht aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Falle der Postmoderne und seine überfällige Ersetzung durch den „homo oecologicus“, in: Schünemann/Müller/Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, 2002, 3 (3 ff.) – hinsichtlich einer spezifisch verfassungsrechtlichen Perspektive, vgl. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 42008, 37 ff. 240 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (28). 241 BVerfG, NStZ 1981, 446. 242 BVerfG, NStZ 1981, 446 (446 f.). Vgl. auch die Besprechung durch Schwabe, Der „Lügendetektor“ vor dem Bundesverfassungsgericht, NJW 1982, 367 (367). 243 BVerfG, NStZ 1981, 446 (447). 244 BVerfG, NStZ 1981, 446 (447). 245 BVerfG, NStZ 1981, 446 (447).
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werden. Eine solche Verpflichtung besteht eben aufgrund der Selbstbestimmtheit des Individuums nicht. Denn die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen ist Ausdruck der Achtung seiner Würde, indem er als Person und Rechtssubjekt wahrgenommen wird. So sah es auch 1998 der BGH, der aus strafprozessualer Perspektive mit der Verwendbarkeit eines freiwilligen Lügendetektortestes als zulässiges Beweismittel befasst war.246 Er führte dazu aus, dass das bloße Anschließen des Beschuldigten an die Messinstrumente des Polygraphen ihn nicht „zum Objekt in einem apparativen Vorgang“ mache, sondern vielmehr durch sein Einverständnis seine Subjektstellung gerade unangetastet bleibe.247 Denn wenn der Einzelne sich freiwillig einem Lügendetektortest stelle, sei dies gerade Teil seiner freien Entscheidung über sein Schicksal.248 Nur eine solche differenzierende, auf das Einverständnis des Beschuldigten abstellende Sichtweise, könne am ehesten dem Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG gerecht werden, „[d]enn dieser soll nicht der Einschränkung, sondern gerade dem Schutz der Würde des Menschen dienen, wozu die grundsätzliche Freiheit gehört, über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten zu können“.249 Dem ist zu folgen. Der Respekt vor der eigenverantwortlichen Selbstbestimmung, der Autonomie des Einzelnen, ist wesentlicher Bestandteil der Würdegarantie. Die Bedeutung dieses Grundsatzes zeigt sich ausdrücklich in der Entscheidung des BGH. Es wird klar, es kommt entscheidend darauf an, die Eigenständigkeit des Einzelnen zu achten. Die Menschenwürde bestimmt ferner auch als „Grundnorm personaler Autonomie“ das Verhältnis der Menschen zueinander und zum Staat „prinzipiell im Sinne gleichverteilter privater wie politischer Autonomie“.250 Dies ist jedoch nicht dahin zu verstehen, dass das Grundgesetz durch die Würdegarantie dem Einzelnen bestimmte Pflichten auferlegt. Es gibt keine Pflicht des Einzelnen sich würdevoll zu verhalten. Eine solche Pflicht würde die durch die Würde absolut geschützte Autonomie des Einzelnen negieren und zudem die Frage aufwerfen, wer definiere, was ein würdevolles Verhalten sei. Denn jeder Mensch muss eigenverantwortlich seine Daseinsund Weltvorstellungen entwickeln und verwirklichen können und darf nicht „von
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BGHSt 44, 308. BGHSt 44, 308 (316 f.). 248 BGHSt 44, 308 (317). 249 BGHSt 44, 308 (317). Vgl. auch BVerfGE 49, 286 (298): „Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird. Hierzu gehört, daß der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann“. 250 Vgl. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat 45 (2006), 189 (189) und weiterhin Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (27). 247
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außen“ an ein als würdevoll oder würdegerechtes Verhalten gebunden werden.251 Jeder Mensch muss die Möglichkeit haben, sein Handeln selbst zu bestimmen. Das Konzept der „Selbstentwürdigung“ in der Auffassung anderer (Dritter) kann daher nicht Teil der staatlichen Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 GG sein, dies zeigt schon die Rechtsprechung zur freiwilligen Durchführung eines Lügendetektortestes, die deutlich macht, ein „Würdeschutz gegen sich selbst“ wäre mit der garantierten Autonomie des Einzelnen nicht vereinbar.252 Zwei weitere Entscheidungen, an Hand derer diese Ausrichtung des Würdeschutzes deutlich wird, sind die erste253 und die zweite254 Peep-Show Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus den Jahren 1981 und 1990. Das Bundesverwaltungsgericht entschied in seiner ersten Entscheidung 1981, dass die erforderliche gewerberechtliche Erlaubnis zum Betreiben einer Peep-Show nicht erteilt werden dürfte, da durch die beabsichtigte Art der Darbietung die Darstellerinnen in ihrer Menschenwürde verletzt würden. Unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen und der Freiwilligkeit der Darbietung nahm das Gericht die Sittenwidrigkeit einer solchen Show aufgrund des Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG an. Der Einzelne sei demnach verpflichtet, sich nicht selbst zu entwürdigen, denn die Menschenwürdegarantie sei ein „objektive[r], unverfügbare[r] Wert“, „auf dessen Beachtung der Einzelne nicht wirksam verzichten kann“.255 Von diesem Grundgedanken ausgehend sah das Bundesverwaltungsgericht eine Pflicht gegeben, die Menschenwürde müsse auch „gegenüber der Absicht des Betroffenen verteidigt werden“, „seine vom objektiven Wert der Menschenwürde abweichenden subjektiven Vorstellungen durchzusetzen“.256 Das Gericht statuierte damit eine Pflicht des Einzelnen, sich „würdevoll“ zu verhalten und schützte damit – vermeintlich – die Würde des Einzelnen vor ihm selbst. Dies steht jedoch in einem klaren Widerspruch zu dem Gedanken der Selbstbestimmung des Menschen und der Zielsetzung eines möglichst umfassenden Schutzes des Einzelnen. Staatliche Verbotsmaßnahmen aufgrund eines Verstoßes gegen die Menschenwürde können nicht mit der Menschenwürde selbst begründet würden.257 Der intendierte Schutz der Würdegarantie
251 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (28). 252 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 149; GeddertSteinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 89 ff. 253 BVerwGE 64, 274 ff. 254 BVerwGE 84, 314 ff. = NVwZ 1990, 668 ff. 255 BVerwGE 64, 274 (279). 256 BVerwGE 64, 274 (280). 257 Teifke, Das Prinzip der Menschenwürde: Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen, 2011, 82.
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würde dadurch ins Gegenteil verkehrt.258 Der vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen dieser Entscheidung gewählte Ansatz stieß folglich – zu Recht – auf heftige Kritik259 und wurde vom Bundesverwaltungsgericht selbst in seiner zweiten PeepShow-Entscheidung 1990 aufgegeben.260 Es stellte in dieser zweiten Entscheidung lediglich die Unvereinbarkeit der Veranstaltungsart der Peep-Show mit den guten Sitten fest; ein damit verbundener Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG wurde jedoch nicht mehr angenommen.261 Mit diesem Wandel in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wurde die Annahme eines Würdeschutzes des Einzelnen gegen sich selbst vollständig aufgegeben und die Bedeutung der Menschenwürde als Grundnorm personeller Autonomie unterstrichen. Die Annahme eines Würdeschutzes gegen den Willen des Betroffenen ist mit dem grundlegenden Gedanken der Pflicht der Rechtsordnung zum Schutz der individuellen Dispositions- und Gestaltungsfreiheit nicht vereinbar.262 Zwar können bestimmte Verhaltensweisen des Einzelnen einer strafrechtlichen Implikation unterliegen, wie dies etwa bei der Einwilligung zu einer (schweren) Körperverletzung im Bezug auf sexuelle Praktiken oder Selbstversklavung angenommen wird und als sittenwidrig erachtet werden, wenn etwa wenn eine konkrete Lebensgefahr mit der Handlung einhergeht.263 Dies kann zu einer Strafbarkeit oder einem Verbot solcher Handlungen führen. Ein Verbot dieser Handlungen als würdeverletzend aufgrund von Art. 1 Abs. 1 GG ist dennoch nicht möglich. Es kann keine Pflicht des Einzelnen geben, sich „würdekonform“ bezüglich seiner eigenen Würde zu verhalten. Ziel der Würdegarantie ist vielmehr den einzelnen Mensch in seinem irreduziblen Eigenwert durch die Gewährleistung nicht antastbarer Freiheitsund Schutzbereiche gegenüber Kollektivinteressen absolut zu schützen:264 „Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten 258 v. Olshausen, Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?, NJW 1982, 2221 (2221 f.); Teifke, Das Prinzip der Menschenwürde: Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen, 2011, 82. 259 Kritisch dazu v. Olshausen, Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?, NJW 1982, 2221; Höfling, Menschenwürde und gute Sitten, NJW 1983, 1582; Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, JuS 1983, 93; Discher, Die Peep-Show-Urteile des BVerwG – BVerwGE 64, 274, und BVerwG, NVwZ 1990, 668, JuS 1991, 642. 260 BVerwGE 84, 314 (317) = NVwZ 1990, 668 (668). 261 BVerwGE 84, 314 (317 f.) = NVwZ 1990, 668 (668 f.). 262 Vgl. dazu auch Huster, Individuelle Menschenwürde oder öffentliche Ordnung?, NJW 2000, 3477 (3477 f.). 263 Vgl. etwa BGHSt 49, 166 ff. = NJW 2004, 2458 ff. Vgl. ebenso Lackner/Kühl-Kühl, StGB, 282014, § 228, Rn. 10. 264 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (18). Siehe auch dazu Badura, Generalprävention und die Würde des Menschen, JZ 1964, 337 (339 f.).
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Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar […]. Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen. Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistigsittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten.“265
Ein Spannungsverhältnis entsteht jedoch dort, wo die absolut zu achtende Autonomie und Selbstbestimmung des Einzelnen auf gemeinschaftliche Vorgaben trifft. So sieht das Bundesverfassungsgericht den Menschen als „gemeinschaftsgebunden und -bezogen“ an: „Diese Freiheit versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums […]. Sie kann im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht ,prinzipiell unbegrenzt‘ sein. Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben […]. Dies bedeutet, daß auch in der Gemeinschaft grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt werden muß. Es widerspricht daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen […] er [muss] als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt“266
In dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kommt neben dem grundlegenden Anspruch eines jeden Menschen auf Achtung und Schutz seiner Würde und Persönlichkeit auch der Aspekt des Menschen als Teil der Gemeinschaft zum Ausdruck, der in einem Konflikt zur Autonomie des Einzelnen stehen kann. Das entstehende Spannungsverhältnis wird hier besonders deutlich: Der absolute Schutz des Einzelnen als Individuum vor äußerer Bestimmung steht der als solche bezeichneten Gemeinschaftsbezogenheit gegenüber. Die mit diesem Begriff suggerierte Bindung des Einzelnen an gemeinschaftliche Vorgaben, die seine individuelle Freiheit und damit seine aus der Würdegarantie abgeleitete Autonomie einschränken, scheint im Bezug auf die stete Betonung der Individualität des Einzelnen und des absoluten Schutzes dieser irritierend. Dieses Spannungsverhältnis wurde vom Bundesverfassungsgericht bereits in seiner ersten „numerus clausus“-Entscheidung267 1972 thematisiert und wird in der Entscheidung zur „Lebenslangen Freiheitsstrafe“ erneut aufgegriffen.268 Die zentrale Frage war, was genau das Bundesverfassungsgericht mit der „Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person“ verstanden wissen wollte und wie dies mit den Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist. Aus der beiden Entschei265
(108).
BVerfGE 45, 187 (227) mit Bezugnahme auf E 6, 32 (41); 27, 1 (6); 30, 173 (193); 32, 98
266 BVerfGE 45, 187 (227 f.) mit Bezugnahme auf E 33, 303 (334) zum „gemeinschaftsbezogenen und gebundenen“ Individuum sowie auf E 30, 1 (20) und E 27, 1 (6) m.w.N. 267 BVerfGE 33, 303. 268 BVerfGE 45, 187.
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dungen gemeinsamen Argumentation des Gerichts zur Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Menschen, die eine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft erlauben kann, wird deutlich, dass sich der Einzelne „diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen [muss], die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren vorsieht“.269 Dies umfasst jedoch nicht eine Einschränkung seiner würdegarantierten Autonomie. Mit anderen Worten, die Ansprüche und Rechte des Einzelnen sind nicht absolut gewährt, sondern müssen bis zu einem gewissen Grad Einschränkungen erfahren können, um eine funktionierende Gesellschaft zu ermöglichen. Die Grenze dieser Einschränkungen bildet jedoch die Würdegarantie. Nur so kann dieses Spannungsverhältnis aufgelöst werden. Dies wird auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dahingehend deutlich, dass es seine Aussage insofern relativiert, als die Pflicht zur Duldung bestimmter Einschränkungen persönlicher Rechte und Freiheiten nur insoweit anzunehmen sei, als „dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt“.270 Der Kernbereich der Freiheit des Einzelnen, der durch die Menschenwürdegarantie absolut geschützt ist, wird von der Gemeinschaftsbezogenheit nicht erfasst. Die Autonomie des Individuums darf keine derartige Einschränkung erfahren, dass sie dadurch aufgehoben würde. Es geht vielmehr um die grundrechtlich geschützten Freiheiten des Einzelnen und insbesondere die allgemeine Handlungsfreiheit, die Schrankenregelungen unterliegen kann und deren Einschränkung zugunsten Rechte Dritter oder Interessen der Allgemeinheit möglich ist und sein muss.271 So ist die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Menschen, wie sie vom Bundesverfassungsgericht angenommen wird, zu verstehen.272 Der Mensch wird somit als ein „geistig-sittliche[s] Wesen“ gesehen, „das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“273, und muss als solches aufgrund der Menschenwürdegarantie anerkannt und geachtet werden, so betont es das Bundesverfassungsgericht (ausdrücklich). In diesem Sinne gestaltet sich der Schutz der individuellen Autonomie im Verhältnis zur Gemeinschaft dahingehend, dass jedem Einzelnen ein größtmöglicher Freiraum zukommen muss, der durch die Grundrechte und den durch die Menschenwürde gewährten Schutzbereich gewährleistet wird. Staatliche Eingriffe sind immer strengen Anforderungen unterworfen, um rechtmäßig und mit den Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar zu sein. „Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen“, so das Bundesverfassungsgericht, „die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen 269 270 271 272 273
BVerfGE 33, 303 (334). BVerfGE 33, 303 (334). Vgl. dazu BVerfGE 117, 71 (89). Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 37 ff. BVerfGE 45, 187 (227).
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Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben“.274 Eingriffe in den Schutzbereich der Menschenwürde sind davon folglich nicht umfasst. Dadurch entsteht eine Balance zwischen dem Menschen als autonomes Individuum und als soziales Wesen der Gemeinschaft. c) Fundamentalnorm Der „Fundierungscharakter“ der Menschenwürdegarantie ist nahezu unbestritten.275 Als Fundamentalnorm bildet der Würdesatz eine „Norm des objektiven Verfassungsrechts“, die dem Einzelnen einen Rechtsanspruch sichert.276 Dies entspricht dem Willen des Parlamentarischen Rates der „nicht eine mehr oder weniger leere begriffliche Hülse, die je von neuem und interdisziplinär inhaltlich aufgefüllt werden soll, als normatives Prinzip verbindlich machen“ wollte, sondern vielmehr durch die Menschenwürdegarantie ein „inhaltlich näher bestimmtes Fundament“ zulegen suchte, das als Basis unabänderlich durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist.277 Daneben wird der Würdegarantie die Funktion einer Grund- und Leitnorm zugesprochen.278 Das Bundesverfassungsgericht greift in seinen Entscheidungen diese Zielsetzung vielfach auf, es charakterisierte die Menschenwürde als „Grundnorm“279 und sieht in ihr den Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertesystems280 als „oberster Wert“281 und als „tragendes Konstitutionsprinzip“282. Diese unterschiedlichen Einordnungen des Bundesverfassungsgerichts weisen zum einen die Vielschichtigkeit der Würdenorm aus, bergen zum anderen jedoch auch erhebliche Schwierigkeiten insofern, dass auf den ersten Blick die Einordnungen als Wert auf der einen Seite und als Norm auf der anderen Seite nicht in Einklang zu bringen sind. Eine Norm ist kein Wert. Dies hat Alexy in seiner „Theorie der Grundrechte“ deutlich gemacht. Eine Norm umfasst 274
BVerfGE 45, 187 (228) mit Verweis auf E 30, 1 (20). Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33). 276 Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33 f.). 277 Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004), 1216 (1223 f.). 278 Vgl. BVerfGE 102, 370 (389) und ebenso Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 2; Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (436). 279 BVerfGE 27, 344 (351); 32, 373 (379); 34, 238 (245). Vgl. auch BVerfGE 6, 32 (40). 280 BVerfGE 7, 198 (205); 21, 362 (372); 24, 119 (144); 35, 202 (225); 36, 174 (188); 39, 1 (43). Vgl. ferner BVerfGE 72, 155 (172). 281 BVerfGE 5, 85 (204); 27, 1 (6); 30, 173 (193); 32, 98 (106, 108); 35, 202 (221); 50, 166 (175); 72, 105 (115). Vgl. auch BVerfGE 33, 23 (29); 102, 370 (389); 115, 118 (152). 282 BVerfGE 6, 32 (36); 50, 166 (175); 72, 105 (115); 87, 209 (228); 96, 375 (399); 102, 370 (389); 109, 279 (311); 115, 118 (152). Vgl. auch BVerfGE 45, 187 (227); 117, 71 (89). 275
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kurz gesagt, „was gesollt ist“.283 Sie kann je nach der gewählten Sichtweise als der objektive „,Sinn eines Aktes, mit dem ein Verhalten geboten oder erlaubt, insbesondere ermächtigt wird‘ oder eine ,kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartung(en)‘, einen Imperativ oder ein Verhaltensmodell“284 verstanden werden – um einige der von Alexy im Zusammenhang mit dem Begriff der Norm angeführte Begrifflichkeiten zu benennen.285 Kennzeichnend ist dabei immer der Charakter der Norm als Verhaltens- oder Handlungsanforderung. Alexy differenziert im Weiteren noch zwischen Prinzipien und Regeln, die er als Unterkategorien des Normbegriffes begreift. Der Begriff der „Prinzipien“ umfasst dabei Normen relativ hohen und der Begriff der „Regeln“ Normen relativ niedrigen Generalitätsgrades.286 Prinzipen sind vornehmlich Optimierungsgebote und Regeln Normen, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können;287 beide sind gleichwohl als Normen abwägungsfähig.288 Ein Wert hingegen beschreibt die Bedeutung oder den monetären Gegenwert eines Gutes, aber zugleich auch Tugenden, Handlungen und Qualitäten eines Menschen.289 Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung gewählte Begrifflichkeit der Menschenwürde zum einen als „oberster Verfassungswert“ und zum anderen als „Grundnorm“ bergen insoweit eine gewisse Unschärfe, es verbindet diese – gleichwohl gegenläufigen – Begriffe in seinen Ausführungen mit der Würdegarantie. Es stellt sich daher die Frage, wie diese Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit der Menschenwürdegarantie zu verstehen sind. Grundsätzlich spiegeln die unterschiedlichen Aspekte des Konzeptes der Menschenwürde die hohe Bedeutung der Würdegarantie für die Grundrechtsordnung wider. Der Begriff der Norm nimmt dabei im Wesentlichen auf die Normierung in Art. 1 Abs. 1 GG Bezug, die Bezeichnung als Wert spricht vornehmlich die Würde des Menschen per se an. Primär ist dabei das Verständnis der Menschenwürde als absoluter Achtungs- und Schutzanspruch sowie als Grundrecht im Sinne eines subjektiven Abwehrrechts des Einzelnen gegen den Staat. Dies erfasst im Wesentlichen die Einordnung der Menschenwürde als Fundamentalnorm. Wenn das Bundesverfassungsgericht von der Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte spricht, 283
Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 72. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 41. 285 Alexy beschreibt die unterschiedlichen Diskussionen zur Bestimmung des Begriffes der Norm. Darauf soll im Weiteren nicht vertieft eingegangen werden. Für die vorliegende Betrachtung ist es von Bedeutung, sich zu vergegenwärtigen, was mit dem Begriff der Norm umschrieben wird. Eine Idee dessen kann durch die von Alexy genannten Begrifflichkeiten gewonnen werden, dies ist insoweit ausreichend. Zur Vertiefung siehe Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 40 ff. m.w.N. 286 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 73. 287 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 75 f. 288 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 77 ff., 143 ff. Alexy sieht auch im Bezug auf die Menschenwürde eine solche Abwägungsmöglichkeit gegeben, die zur Festlegung des Inhalts notwendig sei: Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 96 f. 289 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 128 ff. 284
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unterstreicht es eben diese Bedeutung der Menschenwürdegarantie als Norm. Der Würdesatz wird durch die im Grundgesetz nachfolgenden Grundrechte konkretisiert und prägt den Schutzbereich der einzelnen Grundrechte im Sinne eines absoluten Kernbereichsschutzes, der jeglichen Einschränkungen entzogen ist. Die Bedeutung der menschlichen Würde für die Rechtsordnung zeigt sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ferner durch den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates und wird durch die Stellung der Grundrechte in der Verfassung, die „keine wertneutrale Ordnung sein will“, betont.290 Die Würde des Menschen als „oberster Verfassungswert“291 und „tragendes Konstitutionsprinzip“292 tragen diesem Umstand Rechnung. Das Bundesverfassungsgericht greift die Intention der Väter und Mütter des Grundgesetzes insoweit auf, als die Würde des Menschen als Grundwert der Gesellschaft am Beginn des Grundgesetzes stehen sollte. Die Normierung der Würdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG ist davon begrifflich zu trennen. Die Menschenwürde bildet zusammen mit den Staatsprinzipen des Art. 20 GG die Basis der Rechtsordnung. Der Mittelpunkt dieses Wertesystems findet sich „in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde“.293 Somit prägt die Menschenwürde als fundamentaler Achtungsanspruch der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde die Ausrichtung der Verfassung. Die Bezeichnung der Würde des Menschen als „oberster Verfassungswert“ knüpft dabei nur indirekt an die Würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an, vielmehr wird auf die Würde des Menschen per se Bezug genommen und den Beweggründen und dem Motiv der Schaffung des Art. 1 GG insgesamt Rechnung getragen. d) Der würdebasierte Kernbereichsschutz und das Verhältnis der Würdegarantie zu den anderen Grundrechten (1) Ausgangslage Das Verständnis der Grundrechte als „Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde“294 geht von der Prämisse aus, dass die Individual(grund)rechte grundsätzlich Einschränkungen unterliegen können, sowohl zugunsten konkurrierender Rechte als auch kollektiver Interessen, jedoch nur bis zu einem gewissen 290
BVerfGE 7, 198 (205). So auch BVerfGE 2, 1 (12); 6, 32 (40 f.). BVerfGE 32, 98 (106, 108); 33, 23 (29); 109, 279 (311); 115, 118 (152). Vgl. auch BVerfGE 5, 85 (204); 6, 32 (41); 27, 1 (6); 30, 173 (193); 35, 202 (221); 50, 166 (175); 72, 105 (115); 96, 375 (399); 102, 370 (389). 292 BVerfGE 6, 32 (36); 50, 166 (175); 72, 105 (115); 87, 209 (228); 96, 375 (399); 102, 370 (389); 109, 279 (311); 115, 118 (152). Vgl. auch BVerfGE 45, 187 (227); 117, 71 (89). 293 BVerfGE 7, 198 (205). 294 BVerfGE 93, 266 (293). Vgl. ebenfalls Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik 7 (1999), 137 (149 f.). 291
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Punkt.295 Jede grundrechtliche Garantie enthält einen „Würdegehalt“, der jeglicher Abwägung entzogen ist. Dieser absolut garantierte Bereich wird mit der gängigen „Raummetaphorik“296 als Kernbereich eines jeden Grundrechts bezeichnet und führt dazu, dass Art. 1 Abs. 1 GG als kategorische Schranke dann eingreift, wenn ein Grundrecht in so massiver Weise verletzt wird, dass eine entwürdigende Verletzung des Grundrechtsträgers droht.297 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit diesem aus der Menschenwürdegarantie abgeleiteten absoluten Schutz des Kernbereichs der einzelnen Grundrechte jeweils im Zusammenhang mit den Grundrechtseingriffen befasst. Der Kernbereichsschutz entsteht durch die Konkretisierung der Menschenwürde durch andere Grundrechte und statuiert einen abwägungsfesten „Kern“ des jeweiligen Schutzbereiches. Die Gewährleistung des Art. 1 Abs. 1 GG reichert dabei durch ihre Ausstrahlungswirkung die anderen Grundrechte an, wodurch ein umfassender Schutz und eine „leistungsfähige Verwirklichung“ der Menschenwürdegarantie erreicht wird.298 Diese Prägung durch die Schutzwirkung der Menschenwürde zeigt sich insbesondere im Bereich der privaten Lebensgestaltung: Mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als eigenständiges Grundrecht, erfährt ein Teilbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG einen besonderen Schutz.299 Dieser umfasst vor allem die Möglichkeit innere Empfindungen, Gedanken und Gefühle ohne Angst der Überwachung oder staatlichen Einflussnahme frei zum Ausdruck zu bringen. „Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist. Ein solches Eindringen in den Persönlichkeitsbereich durch eine umfassende Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse seiner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein ,Innenraum‘ verbleiben muß, in dem er ,sich selbst besitzt‘ und ,in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt‘ […]. In diesen Bereich kann der Staat unter Umständen bereits durch eine – wenn auch bewertungsneutrale –
295 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313). 296 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313) m.w.N. zur Entwicklung der Raummetaphorik dort in Fn. 28. 297 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313). 298 Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 2. 299 Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 2, Rn. 36.
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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Einsichtnahme eingreifen, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme zu hemmen vermag.“300
Damit wird ein emotional-psychischer Schutzgehalt des Kernbereichskonzeptes mit Blick auf den Schutz der Privatheit des Einzelnen anerkannt.301 Gerade die Privatheit des Einzelnen bedarf eines besonderen Schutzes, sich hinsichtlich seiner Gedanken und Gefühle als intimster Teil der eigenen Persönlichkeit frei entfalten zu können und in diesem Bereich vor Eingriffen geschützt zu sein.302 Darüber hinaus umfasst das Konzept des Kernbereichsschutzes alle Sachverhalte, die ihrem Inhalt nach höchstpersönlichen Charakter aufweisen; bei der Frage des Schutzes und möglicher Eingriffe muss jedoch individuell berücksichtigt werden, ob und in welcher Art und Intensität die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft betroffen sind.303 Folglich wird der Schutz des Kernbereichs insbesondere in Bezug auf das Grundrecht der privaten Lebensgestaltung herangezogen. Ferner besteht jedoch in allen grundrechtlich geschützten Bereichen ein Kernbereichsschutz, der einen innersten, unantastbaren Teil des Schutzbereiches umfasst, der durch die besondere Nähe zur Menschenwürde als solcher absolut geschützt wird. Unter Umständen erweist es sich als schwierig, eine Balance zwischen einer angemessenen Reaktion auf neue Herausforderungen und der Wahrung fester Grundsätze herzustellen: Durch die Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde auf die Schutzbereiche der Individualrechte und ihren absoluten Schutzanspruch werden (würderelevanten) Eingriffen, auch wenn sie durch gesellschaftliche oder politische Umstände als notwendig und zwingend erachtet werden, Grenzen gezogen. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und zum Recht auf Schutz der Privatsphäre, in denen die Bedeutung des Kernbereichsschutzes in besonderer Deutlichkeit hervortritt.304 In den Entscheidungen zum „Großen Lauschangriff“305 und zur „Online-Durchsuchung“306 kommt das Spannungsverhältnis
300
BVerfGE 27, 1 (6 f.) m.w.N. Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, JZ 2008, 218 (219). 302 Sachs-Murswiek, GG-Kommentar, 72014, Art. 2, Rn. 59 ff. 303 Vgl. Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, JZ 2008, 218 (219). 304 Dies betont das Bundesverfassungsgericht sowohl in seinen Entscheidungen zum „Großen Lauschangriff“ (BVerfGE 109, 279) und zur „Online Durchsuchung“ (BVerfGE 120, 274) als auch in seiner Mikrozensus- Entscheidung (BVerfGE 27, 1) und in seiner Entscheidung zur Herausgabe von Ehescheidungsakten (BVerfGE 27, 344). 305 BVerfGE 109, 279. 306 BVerfGE 120, 274. 301
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und den Gefahrenabwehr- bzw. Strafverfolgungsinteressen des Staates deutlich zum Ausdruck.307 Der absolut geschützte Kernbereich privater Lebensgestaltung und der damit eng verbundene Schutz der Privatwohnung als „letztes Refugium“ und Mittel zur Wahrung der Menschenwürde sind unabdingbar für die Gewährleistung der Autonomie des Einzelnen in seiner privaten Lebensgestaltung.308 Die Menschenwürde schützt diese und ist insoweit als absolutes Gut einer Abwägung im Wege der Verhältnismäßigkeit nicht zugänglich; greift sie ein, ist eine Rechtfertigung eines Eingriffs nicht möglich. Daraus resultiert das Spannungsverhältnis zwischen effektiver Gefahrenabwehr, Strafverfolgung und -prävention und der Achtung der Menschenwürde sowie des Kernbereiches, das durch die Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ eine wesentliche Fortentwicklung erfahren hat. Der Umstand, dass der Mensch wiederholt zum Objekt des Rechts wird, ist bekannt und stellt nicht per se eine Verletzung der Menschenwürdegarantie dar. Erst wenn die Achtung des Einzelnen als Rechtsperson und Individuum verfehlt wird, ist eine Menschenwürderelevanz gegeben. Mit der Verpflichtung des Rechts, dem Einzelnen die „Chance auf Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung“309 zu garantieren, definiert das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“310 den Schutz der Identität und der psychisch-sozialen Integrität der Person.311 Der dadurch entstehende Schutz erfasst nicht nur die Kommunikationssphäre, sondern auch die Möglichkeit des Rückzugs ins Private. Der Schutz der Menschenwürde beginnt durch den Kernbereichsschutz nicht erst mit der physischen Einwirkung auf den Einzelnen, sondern bereits mit der Missachtung des Individuums in seiner körperlich-seelischen Integrität.312 Der Rückzugsraum als Schutz vor umfassender sozialer Kontrolle und der Verhinderung der völligen Inpflichtnahme des Individuums durch ständige Präsenz der Öffentlichkeit ist elementar für die private, höchstpersönliche Entwicklung des Menschen.313 Der Schutz durch den Kernbereichsgedanken ist wesentlicher Ausdruck der Achtung der Autonomie des Einzelnen und seiner Würde. Dies verdeutlichen auch die Ausführungen der im Folgenden genannten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Zentrale Frage ist dabei die Wirkung der
307
Vgl. BVerfGE 109, 279 (312 f.); 120, 274 (315 f., 344 ff.). Siehe ferner Hofmann, Zur Absolutheit des Menschenwürdeschutzes im Wirken des Präsidenten des BVerfG Hans-Jürgen Papier, NVwZ 2010, 217 (220). 308 Vgl. die Ausführungen bei Löffelmann, Die Neuregelung der akustischen Wohnraumüberwachung, NJW 2005, 2033 (2033 f.). 309 Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (458). 310 BVerfGE 109, 279 ff. 311 Vgl. Niebler, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum obersten Rechtswert der Menschenwürde; BayVBl. 1989, 737 (739). 312 Vgl. dazu näher Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 133 ff.; Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 37 ff. 313 Vgl. Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (458).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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Menschenwürdenorm im Bereich des Kernbereichsschutzes und die ihr in diesem Zusammenhang zukommende Funktion. (2) Leitentscheidungen (a) Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ (3. März 2004)314 – Ausstrahlungswirkung der Menschenwürde Grundlage der vorliegenden Entscheidung waren mehrere Verfassungsbeschwerden, die die Vereinbarkeit der im Jahre 1998 vorgenommenen Änderungen des Art. 13 Abs. 3 bis 6 GG mit den Vorgaben des Grundgesetzes, vornehmlich mit Art. 13 Abs. 1, 79 Abs. 3, 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 sowie mit Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG, in Frage stellten und die korrespondierenden Vorschriften der Strafprozessordnung angriffen. Die Verfassungsbeschwerden wurden, soweit zulässig, teilweise als begründet erachtet. In einer zweistufigen Prüfung erachtete das Gericht zwar die vorgenommene Änderung des Art. 13 GG als mit den Vorgaben des Prüfungsmaßstabs des Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar, sah jedoch die angegriffenen strafprozessrechtlichen Vorschriften nicht im Einklang mit den Vorgaben des Grundgesetzes und damit mit den Anforderungen der Konformität einfachgesetzlicher Regelungen mit der verfassungsmäßigen Ordnung unvereinbar (Art. 20 Abs. 3 GG). Hintergrund der Entscheidung war die 1998 vorgenommene Verfassungsänderung zur Neuregelung der akustischen Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken. Auf Grundlage des Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der organisierten Kriminalität vom Mai 1998 wurde in Ansehung neuer Erscheinungsformen der Kriminalität, mit denen sich die Justiz zunehmend konfrontiert sah, die Notwendigkeit der akustischen Überwachung des Wohnraums begründet. Dadurch sollte die effektive Strafverfolgung erleichtert oder in einigen Fällen sogar erst ermöglicht werden. Art. 13 GG wurde in diesem Zusammenhang um die Absätze 3 bis 6 ergänzt und der bisheriger Absatz 3 als Absatz 7 beibehalten, dies ermöglichte als Grundlage verschiedene einfachgesetzliche Regelungen zu Neureglung akustischer Überwachungsmaßnahmen.315 Zentrale Normen der einfachgesetzlichen Umsetzung waren die neu in die Strafprozessordnung eingebrachten oder geänderten §§ 100b bis f, 101, 111 StPO. Die Änderungen des Art. 13 GG beinhalteten u. a. die Einführung der im Rahmen der Schrankenregelung detailliert bestimmten Eingriffsvoraussetzungen (Art. 13 Abs. 3 bis 6 GG). Insbesondere der Richtervorbehalt und die daran gestellten Anforderungen waren dabei auffällig, ebenso wie die grundsätzliche Befristung der Maßnahmen, die dem Kernbereichsschutz des Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung tragen sollen. Ferner sollte die Prüfung bezüglich dem anzulegenden Maßstab differenzieren, da Verfassungsänderungen ihre Grenze nicht an der We314 315
BVerfGE 109, 279. Vgl. zum Sachverhalt im Einzelnen BVerfGE 109, 279 (281 ff.).
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sensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG finden, sondern allein in dem durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdegehalt eines Grundrechts.316 Eine der zentralen Aussage dieser Entscheidung ist in der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen, dass aus Art. 1 Abs. 1 GG ein absolut geschützter Kernbereich der privaten Lebensgestaltung abgeleitet werden muss.317 Es gehöre „[z]ur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung […]“, so das Bundesverfassungsgericht, dass „innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck […] [gebracht werden können], und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen. Vom Schutz umfasst sind auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowie Ausdrucksformen der Sexualität“.318
Der so gewährte Schutz ist absolut und „endet nicht dort, wo der andere Mensch anfängt, sondern verwirklicht und entfaltet sich gerade auch interaktiv und kommunikativ“ im zwischenmenschlichen Bereich.319 Es gibt folglich keine Grenze durch die Anwesenheit weiterer Personen. Bewegt sich der Einzelne jedoch im Bereich der Öffentlichkeit, so kann ein absoluter Schutz der Menschenwürdegarantie hinsichtlich seiner Kommunikation nicht mehr angenommen werden. Vielmehr sind dann andere Aspekte in Betracht zu ziehen, wann ein Schutz absolut gegeben ist. Hier müsse anknüpfend an den Schutz der Privatsphäre des Einzelnen gemäß Art. 2 Abs. 1 GG das Maß des Schutzes bestimmt werden.320 Die Menschenwürde fungiere im Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht als kategorischer Schutzwall der Intimsphäre. „Aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt sich“, so das Bundesverfassungsgericht, „dass ein Kernbereich privater Lebensgestaltung als absolut unantastbar geschützt ist“.321 Eine Missachtung der Grenzen des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung sei nicht im Grundsatz, sondern immer und absolut unzulässig. „Selbst sehr schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in ihn nicht rechtfertigen“; eine Interessenabwägung ist nicht möglich.322 Darin kommt der umfassende und absolute Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung des Einzelnen zum Ausdruck. Das Gericht betonte diesbezüglich, dass auch wenn im Einzelfall dieser absolute Schutz unpassend erscheinen mag und in Frage gestellt werde, er zwingende Vorgabe des Art. 1 Abs. 1 GG und damit der Verfassung sei. Mit anderen Worten, auch dort wo es unbequem erscheinen mag, ist die Menschenwürde absolut zu achten. Es führte dazu aus: 316
Vgl. BVerfGE 109, 279 (310 f.). Vgl. BVerfGE 109, 279 (2. Leitsatz). 318 BVerfGE 109, 279 (313). 319 Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (458). 320 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 2 I, Rn. 26 ff. 321 BVerfGE 130, 1 (22). 322 BVerfGE 130, 1 (22). Vgl. außerdem Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, 269 (270). 317
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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„Dieser Schutz darf nicht durch Abwägung […] nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden […]. Zwar wird es stets Formen von besonders gravierender Kriminalität […] geben, die die Effektivität der Strafrechtspflege […] manchem gewichtiger erscheinen lässt als die Wahrung der menschlichen Würde des Beschuldigten. Eine solche Wertung ist dem Staat jedoch […] verwehrt.“323
Mit dieser Wertung des Kernbereichsschutzes knüpft das Bundesverfassungsgericht an die im Zusammenhang mit der Frage des Schutzes von Tagebuchaufzeichnung entwickelten Grundsätze seiner Rechtsprechung an,324 in der es bereits die Trennung von Äußerungen des höchstpersönlichen Bereichs und sonstiger Angaben als Kriterium heranzog.325 Die direkte Herleitung aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG unterstreicht die besondere Bedeutung der Intimsphäre und die damit verbundene Schutzbedürftigkeit. Ausgehend von einem klaren Schutz des Kernbereichs entwickelte das Bundesverfassungsgericht Grundsätze bezüglich der Vorgaben für polizeiliche Überwachungsmaßnahmen: Informationen, die dem Kernbereich zuzurechnen sind, dürfen nicht verwendet und in einem folgenden Verfahren nicht verwertet werden. Die Einordnung von Informationen als dem Kernbereich zugehörig muss unter Einbeziehung der Besonderheiten des Einzelfalles erfolgen. Denn „[o]b eine Information dem Kernbereich zuzuordnen ist, hängt davon ab, in welcher Art und Intensität sie aus sich heraus die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berührt“.326 Dem Kernbereich sind insbesondere Äußerungen „innerster Gefühle oder Ausdrucksformen der Sexualität“ zuzuordnen.327 Äußerungen, die hingegen in „unmittelbarem Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen stehen“, sind nicht umfasst.328 Bei der Erhebung von Informationen im Wege (verdeckter) Überwachungsmaßnahmen, sind solche Maßnahmen zu unterlassen, die einen Eingriff in den geschützten Kernbereich wahrscheinlich erwarten lassen und daher eine Verletzung herbeiführen können. Ferner ist stets die Maßnahme zu wählen, die bei gleicher Eignung, jedoch geringerer Eingriffsintensität das gewünschte Ergebnis herbeiführen kann.329 Dies kann für die Überwachung privater Wohnräume dazu führen, dass eine automatische Überwachung unzulässig und eine manuelle, durch einen Beamten durchgeführte und damit jederzeit unterbrechbare Überwachung erforderlich ist. Dies ermöglicht die Aufzeichnung höchstpersönlicher Gespräche und Äußerungen zu vermeiden oder zumindest auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Darüber hinausgehend wird deutlich, dass es erforderlich ist, sich für den absoluten Schutz des Kernbereichs von einer räumlichen Denkweise zu lösen. Auch wenn 323 324 325 326 327 328 329
BVerfGE 109, 279 (314); so auch schon BVerfGE 34, 238 (245). BVerfGE 80, 367. BVerfGE 80, 367 (373 f.). BVerfGE 130, 1 (22). Vgl. BVerfGE 130, 1 (22). BVerfGE 130, 1 (22). Vgl. BVerfGE 109, 279 (320 f.).
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die Sphären des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf den aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Kernbereichsschutz übertragen werden können, heißt dies nur, dass zur groben Einordnung eine hierarchische Unterscheidung der Sozial-, Privat- und Intimsphäre vorgenommen werden kann. Dies ist aber nicht zwingend räumlich an Bereiche des täglichen Lebens gebunden. Auch wenn eine vollständige Loslösung von einem räumlich gedachten Bereich gerade auch im Kontext der vorliegenden Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ nicht möglich ist, sind Fälle denkbar, in denen der Schutz der Intimsphäre auch außerhalb der privaten Wohnung notwendig und geboten sein kann.330 Eine Beschränkung des durch die Menschenwürde gewährleisteten Schutzes auf die Unverletzlichkeit der Wohnung würde wesentliche Bereiche und Elemente der höchstpersönlichen Lebensgestaltung ausschließen. Der von der Menschenwürdegarantie geschützte Kernbereich entfaltet sich jedoch bezogen auf die Lebensumstände des Betroffenen, seine Äußerungen und Handlungen.331 Diese können durch den jeweiligen Aufenthaltsort bedingt sein: Handelt es sich um einen Ort, der Abgeschiedenheit und Einsamkeit suggeriert, sodass ein Überhören der Äußerungen oder Wahrnehmen der Handlungen nicht erwartet werden kann und muss, so besteht auch dort ein aus der Würde abgeleiteter Schutz, wenn es sich beim Inhalt des Gesprächs um den Bereich höchstpersönlicher Lebensgestaltung handelt.332 Dies fällt jedoch nicht mehr in den Schutz des Art. 13 GG, der an den Wohnraum als Schutzbereich anknüpft. Ein Schutz außerhalb dieser Räume des Privaten ist nur über das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG möglich. Problematisch ist in diesem Zusammenhang der Würdeschutz des Kernbereichs dahingehend, dass erst im Moment der Verletzung der Eingriff in den Kernbereich überhaupt als solcher erkennbar ist333 und somit das vom Bundesverfassungsgericht in seiner Senatsentscheidung vorgesehene Schutzmodell zu spät – nämlich erst nach der Verletzung – eingreift.334 Auch wenn eine Übereinstimmung besteht hinsichtlich der Erfassung der „privaten Wohnung als Lebensraum zur höchstpersönlichen Lebensgestaltung, der zur Aufrechterhaltung einer dem Gebot der Achtung und des
330 Vgl. Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, 269 (271) und weiterhin Herdegen, Deutungen der Menschenwürde im Staatsrecht, in: Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2008, 57 (65); Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (437). 331 Vgl. BVerfGE 109, 279 (313). 332 Vgl. dazu insgesamt Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, 269 (271). 333 Das abweichenden Votum der Richterinnen Jaeger und Homann-Dennhardt zu dieser Entscheidung macht dies deutlich, BVerfGE 109, 279 (383 ff.). Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Lösung ist unter dem Blickwinkel der Bedeutung der Würdegarantie und dem absoluten Schutz der Intimsphäre unbefriedigend. Erst mit dem Überhören der Äußerungen ist die Feststellung möglich, ob die Intimsphäre betroffen ist, jedoch ist dann auch bereits ein Eingriff erfolgt. 334 Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, 269 (273).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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Schutzes der Menschenwürde entsprechenden Ordnung unverzichtbar ist“,335 ergeben sich doch im Hinblick auf die in der Wohnung getätigten Äußerungen Schwierigkeiten. Zum einen ist es aufgrund des Fortschritts in einer Welt, „in der es technisch möglich geworden ist, so gut wie jede Bewegung und Kommunikation einer Person zu verfolgen und aufzuzeichnen“ notwendig, dem Einzelnen mehr denn je die Wohnung als „letztes Refugium, in dem sich die Freiheit seiner Gedanken unbeobachtet manifestieren kann“, zu belassen.336 Jedoch kann die Frage, wann eine getätigte Äußerung zum Kernbereich gehört, also wann es sich um eine höchstpersönliche Äußerung handelt erst im Nachhinein beantwortet werden. In dieser erst nachträglich möglichen Betrachtungsweise liegt die zentrale Problematik, die das entstehende Spannungsverhältnis der widerstreitenden Interessen bestimmt. Das Interesse an einer effektiven Strafverfolgung tritt in einen Konflikt zu der absolut zu schützenden Intimsphäre des Einzelnen. Das Problem, dass „nicht jede Äußerung in einer Privatwohnung […] höchstpersönlichen Charakter“ hat, aber dort wo „die Privatwohnung dem Ausdruck und Austausch persönlicher Empfindungen dient, […] ihr Schutz zur Wahrung der Menschenwürde absolut“ sein muss, wirft die Frage nach der Möglichkeit einer verfassungskonformen Beurteilung auf.337 Im Ergebnis wird deutlich, dass die Bewertung einer Kommunikation als höchstpersönlich, gerade auch wie sie nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts vorgenommen werden soll, ohne Verletzung der Intimsphäre des Einzelnen kaum möglich ist. Die Menschenwürdegarantie fungiert zwar als absolute Grenze, deren Verlauf jedoch nur durch ihre Überschreitung festgestellt werden kann. Aufgrund der Abgeschlossenheit der Privatwohnung ist für einen Außenstehenden nicht erkennbar und damit auch nicht differenzierbar, in welchen Bereich ein Gespräch oder eine sonstige Äußerung fällt. Zwar legt der Umstand, dass es sich um eine Privatwohnung handelt, den Verdacht nahe, dass die dort geführten Gespräche privater und gegebenenfalls auch höchstpersönlicher Natur sind, mit Sicherheit kann dies jedoch erst nach Beginn des Gesprächs oder der Äußerung beurteilt werden. Daher sieht das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil für solche Fälle den sofortigen Abbruch der Überwachung und die unverzügliche Löschung ebenso vor, wie die absolute Unverwertbarkeit der Aufzeichnungen.338 Nichtsdestotrotz muss in letzter Konsequenz der Eingriff in den absolut geschützten Kernbereich danach zunächst hingenommen werden, während dies gerade durch die Sperrwirkung Art. 79 Abs. 3 GG verhindert werden soll, wenn der in Art. 1 Abs. 1 GG niedergelegte Grundsatz der Menschenwürde und der damit verbundene Kernbereichsschutz berührt wird.339 Demnach soll aus der Menschenwürdegarantie bezüglich privater Wohnräume, die nur vom Betroffenen allein, mit Familienmitgliedern oder erkennbar eng Vertrauten bewohnt werden und deren Nutzung zur höchstpersönlichen Kommunikation un335 336 337 338 339
BVerfGE 109, 279 (382). BVerfGE 109, 279 (383). BVerfGE 109, 279 (383). Vgl. BVerfGE 109, 279 (312 f.). Vgl. BVerfGE 109, 279 (383).
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terstellt werden kann, ein absoluter und umfassender Schutz hergeleitet werden.340 Dies ist jedoch im bestehenden Spannungsverhältnis kaum möglich. Konsequenterweise müsste, um einen absoluten Schutz zu gewährleisten, eine Überwachung der Wohnung vollständig unterbleiben, soweit nicht eindeutig erkennbar ist, dass es sich nicht um ein höchstpersönliches Gespräch handelt. Eine solche Beurteilung ist in der Praxis schwerlich möglich. Der vom Bundesverfassungsgericht gewählt Ansatz, eine Verletzung zunächst hinzunehmen, um zumindest die Möglichkeit einer Überwachung zu eröffnen, mag nicht befriedigen, aber zur Ermöglichung einer solchen Überwachung der einzig gangbare Weg sein. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die Gefahr einer Verletzung in Kauf nimmt, versucht es dies durch die sofortige Löschung bzw. Nichtverwertbarkeit zu kompensieren. Deutlich wird in der vorliegenden Entscheidung dennoch, die Menschenwürdegarantie zieht eine absolute Grenze, deren Verletzung de jure indiskutabel ist und die jeglicher Relativierung oder Verschiebung eine Absage erteilt. In ihrer Funktion als absoluter Anspruch der Achtung der Autonomie des Einzelnen und seiner Selbstbestimmung bildet sie die Grenze möglicher Eingriffe in den Kernbereich des Persönlichkeitsschutzes. Ganz elementar sichert die Menschenwürdegarantie den Rückzugsraum der Wohnung (oder etwas Gleichwertigem) als Bereich der privaten, höchstpersönlichen Entfaltung. (b) Entscheidung zur „Online-Durchsuchung“ (27. Februar 2008)341 In diesem Zusammenhang weiterhin von besonderem Interesse ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit der Online-Durchsuchung aus dem Jahr 2008.342 Gegenstand dieser Entscheidung waren zwei Verfassungsbeschwerden, die sich gegen Vorschriften des Verfassungsschutzgesetzes Nordrhein-Westfalen (NWVerfSchG) richteten. Diese Vorschriften erweiterten die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden bezüglich verschiedener Datenerhebungen, insbesondere aus informationstechnischen Systemen und regelten den Umgang mit diesen Daten. Die angegriffenen Vorschriften waren überwiegend durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Verfassungsschutz in NordrheinWestfalen“ vom 20. Dezember 2006 eingefügt bzw. geändert worden. Die Beschwerdeführer nutzten alle das Internet, oder an das Internet angeschlossene Netzwerke, sowohl zu beruflichen als auch zu privaten Zwecken. Dabei besuchten sie immer wieder Internetpräsenzen, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurden, gehörten Gruppierungen an oder hatten mit Personen Kontakt, die Gruppierungen angehörten, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes standen bzw. benutzten das gleiche Netzwerk mit diesen Personen. Sie richteten sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die Regelung des § 5 Abs. 2 Nr. 11 340 341 342
BVerfGE 109, 279 (383 f.). BVerfGE 120, 274. BVerfGE 120, 274.
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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NWVerfSchG, der die Ermittlungsbehörden im Wesentlichen zu zwei Ermittlungsmaßnahmen ermächtigte. So wurden heimliche Beobachtungen und sonstige Aufklärung im Internet (Alt. 1), ebenso wie heimliche Zugriffe auf informationstechnische Systeme (Alt. 2) ermöglicht. Ferner griffen beide Beschwerden auch die Regelungen zur Benachrichtigung des Betroffenen hinsichtlich des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel gemäß § 5 Abs. 3 NWVerfSchG an und rügten darüber hinaus weitere damit in Zusammenhang stehende Normen des NordrheinWestfälischen Verfassungsschutzgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht stellte mit seiner Entscheidung die Unvereinbarkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 11 NWVerfSchG mit Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG fest und erklärte die Nichtigkeit der Vorschrift. Die Rügen gegen §§ 5 Abs. 3 und 17 NWVerfSchG waren damit durch ihren Bezug zu § 5 Abs. 2 Nr. 11 NWVerfSchG hinfällig. Die Beschwerde hinsichtlich § 5a Abs. 1 NWVerfSchG wurde zurückgewiesen. Im Übrigen wurden die Beschwerden verworfen. Das Bundesverfassungsgericht sah in den getroffenen Regelungen eine Missachtung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hinsichtlich der grundrechtlichen Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Das Bundesverfassungsgericht hat in der vorliegenden Entscheidung aus dem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährten allgemeinen Persönlichkeitsrecht als weitere Ausprägung das „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ abgeleitet.343 Schutzziel dieses „neuen“ Grundrechts ist danach „zunächst das Interesse des Nutzers, das die von einem vom Schutzbereich erfassten informationstechnischen System erzeugten, verarbeiteten und gespeicherten Daten vertraulich bleiben“.344 Eingegriffen werde in den so umgrenzten Schutzbereich, „wenn die Integrität des geschützten informationstechnischen Systems angetastet wird, indem auf das System so zugegriffen wird, dass dessen Leistungen, Funktionen und Speicherinhalte durch Dritte genutzt werden können; dann ist die entscheidende technische Hürde für eine Ausspähung, Überwachung oder Manipulation des Systems genommen“.345 Gerade vor einem solchen heimlichen Zugriff, „durch den die auf dem System vorhandenen Daten ganz oder zu wesentlichen Teilen ausgespäht werden können“, solle durch diese Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geschützt werden.346 Der gewährte Schutz bestehe dabei „unabhängig davon, ob der Zugriff auf das informationstechnische System leicht oder nur mit erheblichem Aufwand möglich ist“.347 Es kommt mithin nicht auf die seitens der Nutzer ergriffenen Schutzmaßnahmen an. 343 Vgl. dazu die Ausführungen von Sachs/Krings, Das neue „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, JuS 2008, 481. 344 BVerfGE 120, 274 (314). 345 BVerfGE 120, 274 (314). 346 BVerfGE 120, 274 (314). 347 BVerfGE 120, 274 (315).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Aber „[e]ine grundrechtlich anzuerkennende Vertraulichkeits- und Integritätserwartung“ setze voraus, dass nur „der Betroffene das informationstechnische System als eigenes nutzt und deshalb den Umständen nach davon ausgehen darf, dass er allein oder zusammen mit anderen zur Nutzung berechtigten Personen über das informationstechnische System selbstbestimmt verfügt“.348 Es darf sich folglich nicht um ein fremdes oder öffentliches Netz handeln. Durch die mit der vorliegenden Entscheidung entwickelte Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Bezug auf technische Systeme wird die Menschenwürde in ihrer Funktion als absoluter Schutzanspruch der Autonomie des Einzelnen unterstrichen. Der Einzelne muss auf die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme vertrauen dürfen und muss selbst bestimmen können, wer Zugriff auf die Speicherinhalte erlangt. Art. 1 Abs. 1 GG bewirkt in Verbindung mit der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG die Konkretisierung und Anpassung des Schutzumfangs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für persönliche Daten und die damit in Zusammenhang stehende Privatsphäre an die neuen Herausforderungen der Telekommunikationsmedien.349 Die Notwendigkeit für ein solches Grundrecht sah das Bundesverfassungsgericht aufgrund der technischen Entwicklungen als gegeben an, denn die bisher „anerkannten Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, insbesondere die Gewährleistungen des Schutzes der Privatsphäre und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, genügen dem besonderen Schutzbedürfnis des Nutzers eines informationstechnischen Systems nicht in ausreichendem Maße“.350 Das damit aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht wird zwar nicht schrankenlos gewährt, enthält jedoch durch seinen Bezug zu Art. 1 Abs. 1 GG einen absolut geschützten Kernbereich und steht im Übrigen unter einer strengen Kontrolle der Verhältnismäßigkeit. Die mit der Ermöglichung der Online-Durchsuchung verbundene Zielsetzung, terroristischen Angriffen und Bedrohungen durch organisierte Kriminalität effektiver entgegentreten zu können, muss daher mit Eingriffsmöglichkeiten verwirklicht werden, die in den grundrechtlich gewährten Schutzbereich in nicht zu massivem Maße eingreifen. Der entsprechende Maßstab wird von der Menschenwürdegarantie mitbestimmt und wurde nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts in § 5 Abs. 2 Nr. 11 Satz 1 Alt. 2 NWVerfSchG nicht ausreichend berücksichtigt. In dieser Entscheidung zieht das Bundesverfassungsgericht die Garantie eines durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Kernbereichsschutzes in Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG heran, der nicht einschränkbar ist und durch die Verbindung zu Art. 1 Abs. 1 GG auch absolut gewährt werden muss. Es erweitert diesen Schutzbereich um ein weiteres eigenständiges Grundrecht, das Grundrecht auf Integrität informationstechnischer Sys348 349 350
BVerfGE 120, 274 (315). Vgl. BVerfGE 120, 274 (303). BVerfGE 120, 274 (311).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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teme. Ähnlich den in der Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“351 formulierten Grundsätzen betont das Bundesverfassungsgericht dabei die Bedeutung des Schutzes bestimmter Kernbereiche innerhalb des Schutzbereiches einzelner Grundrechte, hier des allgemeinen Persönlichkeitsrechts: „Heimliche Überwachungsmaßnahmen staatlicher Stellen haben einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren, dessen Schutz sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt […]. Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in ihn nicht rechtfertigen […]. Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art ohne die Angst zum Ausdruck zu bringen, dass staatliche Stellen dies überwachen […].“352
Die absolute Uneinschränkbarkeit des Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung wird unterstrichen und ihre uneingeschränkte Geltung auch gegen überwiegende Interessen der Allgemeinheit betont. Sowohl in seinem Urteil zum „Großen Lauschangriff“ wie auch in der vorliegenden Entscheidung und der am 27. Juli 2005 ergangenen Entscheidung zur vorsorgenden Telekommunikationsüberwachung353 postuliert das Bundesverfassungsgericht einen gegenüber staatlicher Überwachung absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung.354 Dabei werden die Grundlinien der Rechtsprechung zum Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Lebensgestaltung deutlich. Das Bundesverfassungsgericht stützt sich in seinen Ausführungen im Wesentlichen auf die Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz eines absoluten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Jedoch ist ein solcher Kernbereichsschutz nicht nur im Gewährleistungsbereich des Art. 13 GG und des Art. 10 GG zu respektieren, sondern auch bei verdeckten Datenerhebungen durch Sicherheitsbehörden, die in andere grundrechtlich geschützte Bereiche eingreifen. Diesem absolut geschützten Kernbereich ist auch ein Teil der Daten zuzurechnen, die mittels einer „Online-Durchsuchung“ staatlichen Stellen zur Kenntnis gelangen können.355 Dies betrifft insbesondere persönliche Daten von gesteigerter Sensibilität, wie tagebuchartige Aufzeichnungen des Computernutzers ebenso wie E-Mails, die etwa sexuelle Beziehungen zum Gegenstand haben.356 Schwierigkeiten ergeben sich dabei insoweit, als auch hier den entsprechenden staatlichen Stellen erst im Rahmen der Auswertung der Daten die Möglichkeit gegeben ist, zu erkennen, ob die betreffenden Daten zu dieser Kategorie gehören. Erst die Auswertung zeigt, ob es sich bei den ausgespähten Daten 351
BVerfGE 109, 279. Insgesamt dazu BVerfGE 120, 274 (335) unter Bezugnahme auf E 6, 32 (41); 27, 1 (6); 32, 373 (378 f.); 34, 238 (245); 80, 367 (373); 109, 279 (313); 113, 348 (390) sowie BVerfGE 109, 279 (314). 353 BVerfGE 113, 348. 354 Vgl. BVerfGE 113, 348 (390 f.); 120, 274 (335). 355 BVerfGE 120, 274 (335). 356 Vgl. BVerfGE 120, 274 (322 f.). 352
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
um solche handelt, die im Zusammenhang mit einer Straftat stehen, lediglich berufliche bzw. geschäftliche Kontakte betreffen oder dem Kernbereich privater Lebensgestaltung entstammen. Ein wirksamer Schutz des absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist so nicht gewährleistet.357 Der Eingriff in den durch den Kernbereichsschutz erfassten Bereich und die damit verbundene Verletzung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG lässt sich nicht mehr ungeschehen machen.358 Diese Problematik stellt sich sowohl bei den in der vorliegenden Entscheidung thematisierten Online-Durchsuchungen als auch bei Lauschangriffen ebenso wie bei der generellen Überwachung der Telekommunikation. Bei all diesen Formen verdeckter Überwachung und Durchsuchung bestimmter (persönlicher) Lebensbereiche ist eine verfassungsrechtlich befriedigende Lösung bisher nicht gefunden und die gewählten Ansätze vermögen nur wenig zu befriedigen. Der momentan als gangbar erachtete Weg sieht vor, dass nur versucht werden kann, die Eingriffe in den Kernbereich auf ein Mindestmaß zu begrenzen.359 Die Frage, wo die Grenze des Zulässigen liegt, womit der Nutzer zu rechnen hat und welcher Bereich absoluten Schutz erfährt, wird nicht abschließend und zufriedenstellend geklärt. Das Bundesverfassungsgericht führte dazu lediglich aus: „[D]as heimliche Aufklären des Internets greift, soweit es nicht unter Art. 10 Abs. 1 GG fällt, insbesondere nicht stets in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht ein. Die von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gewährleistete Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme wird durch Maßnahmen der Internetaufklärung nicht berührt, da Maßnahmen nach § 5 Abs. 2 Nr. 11 Satz 1 Alt. 1 VSG sich darauf beschränken, Daten, die der Inhaber des Systems – beispielsweise der Betreiber eines Webservers – für die Internetkommunikation vorgesehen hat, auf dem technisch dafür vorgesehenen Weg zu erheben. Für solche Datenerhebungen hat der Betroffene selbst sein System technisch geöffnet. Er kann nicht darauf vertrauen, dass es nicht zu ihnen kommt.“360
Es wird deutlich: Die Menschenwürdegarantie zieht eine absolute Grenze möglicher Zugriffe auf höchstpersönliche Daten in einem geschützten technischen System, die keiner Relativierung zugänglich ist. In ihrer Funktion als absoluter Anspruch der Achtung der Autonomie des Einzelnen und seiner Selbstbestimmung bildet sie die Grenze möglicher Eingriffe in den Kernbereich des Persönlichkeitsschutzes, der hier in Ansehung der technischen Entwicklungen um einen neuen Aspekt erweitert wird. Denn es ist unstreitig, dass staatliche Stellen im Rahmen heimlicher Überwachungsmaßnahmen stets verpflichtet sind, den unantastbaren
357 358 359 360
Vgl. BVerfGE 120, 274 (335). Vgl. BVerfGE 120, 274 (337). Vgl. BVerfGE 120, 274 (338). BVerfGE 120, 274 (344).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren, dessen Schutz sich direkt aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt.361 Das entstehende Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf Schutz und Achtung seiner Privatsphäre und der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz der Allgemeinheit kann im Bezug auf den absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht zugunsten letzterer aufgelöst werden.362 „Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff nicht rechtfertigen“.363 Das Bundesverfassungsgericht hat hier bewusst das offene Konzept der Würdegarantie genutzt, um im Wege der Anwendung und Ausgestaltung einen umfassenden Schutz zu gewährleisten. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der das Konzept des Würdeschutzes ausmacht, der Würdeschutz soll auch auf gesellschaftliche, politische und technische Entwicklungen reagieren können und weiterhin einen umfassenden Schutz des Einzelnen gewähren. e) Entwicklung leistungs- und teilhaberechtlicher Aspekte aus der Garantie der Menschenwürde Einen weiteren Aspekt im Schutzbereich der Menschenwürdegarantie bildet der zunehmende Ausbau der Würdenorm als „Anspruchsgrundlage“ für ein Leistungsund Teilhaberecht des Einzelnen auf staatliches Handeln. Insbesondere im Zusammenhang mit der Frage eines Anspruches auf Gewährleistung eines sozialen und wirtschaftlichen Existenzminimums durch den Staat wird zunehmend die Würdenorm als Grundlage eines solchen Anspruches gesehen.364 (1) Leistungsrechtlicher Aspekt – Art. 1 Abs. 1 GG als Anspruchsgrundlage Als Zentralnorm gewährleistet der Würdesatz einen umfassenden Achtungs- und Schutzanspruch in allen Bereichen, insbesondere gegen staatliche Eingriffe. In Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gewährt die Würdenorm zugleich einen Anspruch auf staatlichen Schutz und aktive Unterstützung, um durch staatliche
361
BVerfGE 120, 274 (335). Vgl. BVerfGE 120, 274 (326, 335). 363 BVerfGE 120, 274 (335). 364 Zur Frage eines verfassungsunmittelbaren Anspruches auf das Existenzminimum im Überblick (Stand 2005) siehe Könemann, Der verfassungsunmittelbare Anspruch auf das Existenzminimum, 2005. Weiterführend zur besonderen Wirkung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Hartz IV Regelsätze Hörmann, Rechtsprobleme des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums: zu den Auswirkungen des „Regelleistungsurteils“ auf die „Hartz IV“-Gesetzgebung und andere Sozialgesetze, 2013. 362
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Leistungen ein menschenwürdiges Dasein zu sichern.365 Dies zeigt insbesondere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Bemessung der Hartz IV-Regelsätze.366 Die Bedeutung des Schutzes und der Ermöglichung eines menschenwürdigen Daseins gerade und vor allem für Kinder, als besonders schutzbedürftig, wird dabei als ein zentraler Aspekt des Sozialstaatsprinzips in Verbindung mit dem Schutz der Menschenwürde unterstrichen. Die Menschenwürde gewährleistet in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eine Absicherung des Einzelnen in einem menschenwürdigen Dasein. Der Würdesatz zieht als Fundamentalnorm eine absolute Grenze dessen, was dem Einzelnen zugemutet werden darf, und legt fest, dass ein menschenwürdiges Dasein gewährleisten werden muss, gemessen an dem allgemeinen Lebensstandard. Die Zuerkennung eines tatsächlichen Anspruches aus der Würdegarantie entwickelte sich dabei sukzessive. Erst mit der 1990 ergangenen Entscheidung zum „Steuerfreien Existenzminimum“367 sprach das Bundesverfassungsgericht eine staatliche Handlungspflicht, hier in Form der Befreiung von einer Besteuerung, ausdrücklich aus.368 Die Möglichkeit, die Würdenorm als Anspruchsgrundlage einer staatlichen Leistungspflicht heranzuziehen, beschäftigte das Bundesverfassungsgericht erstmals in einer seiner ersten Entscheidungen im Jahr 1951.369 Zunächst war dabei die Frage einer im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machenden Handlungspflicht des Gesetzgebers zu klären. Die Beschwerdeführerin der fraglichen Entscheidung richtete sich gegen die Regelung des Bundesversorgungsgesetzes (BVersG) in seiner damaligen Fassung vom 8. August 1950 und trug vor, dass aufgrund ihrer vorliegenden Erwerbsunfähigkeit und des Todes ihres Mannes sie und ihre Kinder durch die Regelungen des Gesetzes unzulänglich versorgt und dadurch in ihren Grundrechten verletzt würden. Sie sah einen Anspruch auf die Schaffung einer gesetzlichen Regelung zur Gewährleistung einer gerechten Versorgung als gegeben an.370 Dem trat das Gericht entgegen. Es verneinte das Bestehen eines solchen Anspruches ausdrücklich und führte dazu zunächst aus, dass „der einzelne Staatsbürger grundsätzlich keinen gerichtlich verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers haben kann, wenn anders nicht eine vom Grundgesetz schwerlich gewollte Schwächung der gesetzgebenden Gewalt erfolgen soll. Ein Recht zu schaffen, das den Idealen der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, Gleichheit und Billigkeit entspricht, ist
365 Vgl. Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, NVwZ 1995, 426 (426); Kirchhof, Die Entwicklung des Sozialverfassungsrechts, NZS 2015, 1 (4). 366 BVerfGE 125, 175. 367 BVerfGE 82, 60. 368 BVerfGE 82, 60 (85). 369 BVerfGE 1, 97. 370 BVerfGE 1, 97 (98 f.).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers, an welcher der einzelne Staatsbürger nur durch die Ausübung des Wahlrechts mittelbar Anteil hat“.371
Damit hielt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich fest, dass der Einzelne nicht ein bestimmtes gesetzgeberisches Handeln verlangen kann. Wenn er sich durch ein Gesetz in seinen grundrechtlich geschützten Rechten verletzt sehe, stehe ihm der Weg einer Verfassungsbeschwerde offen, er könne in diesem Wege jedoch nicht den Erlass eines Gesetzes verlangen.372 Darin kommt zunächst die strikte Trennung der staatlichen Gewalten zum Ausdruck; das Bundesverfassungsgericht kann nicht legislativ tätig werden, auch nicht, wenn ein grundrechtsrelevanter Bereich ungeregelt ist und einer Regelung bedürfe. Im Weiteren stellte das Gericht ausdrücklich klar, dass sich weder aus Art. 1 Abs. 1 GG noch aus Art. 2 GG ein Anspruch des Einzelnen auf eine gesetzliche Regelung einer angemessenen staatlichen Versorgung ergebe.373 Die grundrechtliche Gewährleistung gehe in ihrem Schutz nicht soweit, dass unmittelbar ein gesetzgeberisches Handeln gefordert werden kann.374 Auch aus dem absoluten Schutzanspruch der Menschenwürde könne ein solcher Anspruch nicht abgeleitet werden. Das Bundesverfassungsgericht verdeutlichte in diesem Zusammenhang den von Art. 1 Abs. 1 GG gewährten Schutz dahingehend, dass „[w]enn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: ,… Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ,Schützens‘, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.“375
Art. 1 Abs. 1 GG wurde hier im Sinne des absoluten Achtungsanspruches und der Schutzpflicht vor Verletzungen der menschlichen Würde verstanden. Dies entsprach der nach der Vorstellung der Väter und Mütter des Grundgesetzes gewollten – vornehmlichen –, Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG. Einen Anspruch auf staatliche Fürsorge in Form einer Grundvorsorge sah das Gericht nicht als aus Art. 1 Abs. 1 GG her leitbar an. Es sah Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Funktion als Schutz des Einzelnen vor staatlichen Eingriffen und Verletzungen der Würde, vornehmlich solche wie sie unter der Herrschaft der Nationalsozialisten erfolgt sind, dies verdeutlich die Aufzählung des Gerichts.376 Der Staat sei daraus verpflichtet, Angriffe auf die Würde des Einzelnen zu unterlassen bzw. durch positives Tun abzuwehren, soweit dies notwendig sei.377 Das Gericht unterstrich damit ausdrücklich den im Würdesatz nor371 372 373 374 375 376 377
BVerfGE 1, 97 (100). Vgl. BVerfGE 1, 97 (100 f.). BVerfGE 1, 97 (Leitsätze). Vgl. BVerfGE 1, 97 (104). BVerfGE 1, 97 (104). BVerfGE 1, 97 (104). BVerfGE 1, 97 (104).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
mierten absoluten Achtungsanspruch des Einzelnen ebenso wie die Schutzpflicht des Staates vor würdeverletzenden Eingriffen. Der Schutz des Einzelnen in seiner Eigenschaft als Rechtsperson trat deutlich hervor. Ein darüber hinaus gehender Leistungsanspruch und eine damit verbundene objektive Leistungspflicht des Staates in materieller Hinsicht wurden in diesem Zusammenhang (noch) abgelehnt.378 Bereits 1975 änderte das Bundesverfassungsgericht jedoch seine Rechtsprechung und stellte die Sicherung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins als Pflicht des Staates fest.379 Diese folge unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Eine ausdrückliche Leistungspflicht des Staates wurde damit zunächst zwar nicht verbunden, jedoch wurde die Verantwortung des Staates im Bereich des Schutzes der Menschenwürde in einem ersten Schritt um einen finanziell-materiellen Aspekt erweitert. In dieser Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Gewährung von Waisenrente aus der Angestelltenversicherung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres, war das Gericht mit der Frage befasst, ob die zeitliche Begrenzung der Gewährung von Waisenrente auch für Kinder, die aufgrund körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande sind, sich selbst zu versorgen, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.380 In diesem Zusammenhang stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass „die Fürsorge für Hilfebedürftige zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates“ gehöre und jedenfalls die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein“ zu sichern seien.381 Ferner betonte es ausdrücklich, dass „die staatliche Gemeinschaft“ dem Einzelnen die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern müsse.382 Was genau jedoch unter einem menschenwürdigen Dasein zu verstehen ist und was die Mindestvoraussetzungen in diesem Zusammenhang umfassen, lässt die Entscheidung offen. Dennoch zeigte sich in den Ausführungen bereits ein Ansatz einer finanziellmateriellen Pflicht des Staates zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins.383 Die Menschenwürde bildet hier nicht die Grenze dessen, was einem Menschen als Rechtsperson angetan werden darf, sondern sie bildet vielmehr das Maß dessen, was einem Mensch zum Dasein belassen oder gewährt werden muss. Der Einzelne muss stets Rechtsperson bleiben und als Mensch mit Würde geachtet und geschützt werden. Er muss als solcher existieren können. Der Schutz des Einzelnen wurde damit in einem ersten Schritt auf den finanziell-materiellen Bereich des Daseins ausgedehnt, der sich direkt aus dem absoluten Gebot des Schutzes der Menschenwürde verbunden mit dem Sozialstaatsprinzip ableitet.384 Die Menschenwürde gibt damit der grundsätzlichen Ausrichtung des Staates als Sozialstaat 378
Vgl. dazu insgesamt BVerfGE 1, 97 (104 f.). BVerfGE 40, 121. 380 BVerfGE 40, 121. 381 BVerfGE 40, 121 (133) mit Bezugnahme auf die Entscheidungen E 5, 85 (198) und 35, 202 (236). 382 BVerfGE 40, 121 (133). 383 BVerfGE 40, 121 (133). 384 Vgl. BVerfGE 82, 60 (85). 379
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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einen weiteren Aspekt im Bereich der Fürsorge vor und unterstreicht die Ausrichtung der Rechtsordnung auf den Menschen. 1990 betonte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum „Steuerfreien Existenzminimum“385 eine Begrenzung der staatlichen Interessen auf Steuereinnahmen zugunsten des Wohls des Einzelnen, indem es den Zugriff des Staates auf das Einkommen des Einzelnen jenseits einer bestimmten, als Existenzminimum erachteten, Grenze ausschloss. Es erweiterte damit den Bereich der Sicherung der Mindestvoraussetzung eines menschenwürdigen Daseins um einen steuerrechtlichen Aspekt, indem es das Existenzminimum als Grundlage eines menschenwürdigen Daseins explizit der Besteuerung durch den Staat entzog.386 Der „Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung“ war, nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, „der Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird“.387 Die Menschenwürde begründet dabei eine besondere Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Dasein des Einzelnen, verbunden mit einem Verbot, einen bestimmten Betrag, der als Existenzminimum in diesem Sinne erachtet wird, durch Steuerverpflichtungen zu belasten. Wurde in frühen Entscheidungen noch betont, dass das positive staatliche Tun des Schützens sich nicht auf den Schutz vor „materieller Not“ beziehe,388 vollzog sich mit der weiteren Entwicklung der Gesellschaft und des Staates ein Wandel dieser Auslegung dahingehend, dass der Mensch gerade als eine Einheit aus Leib, Seele und Geist erfasst werden müsse, die man nicht isoliert voneinander betrachten könne und dürfe.389 Nicht nur der Schutz vor physischen, sondern auch vor psychischen Eingriffen sollte gewährleistet werden, was auch den Schutz vor materieller Not umfasse. Denn eine materielle Notlage kann zu einer erheblichen Belastung des Einzelnen führen und ihn in seinem gesamten Dasein negativ beeinflussen. Dieser Linie folgend wurde in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Steuerfreien Existenzminimum“ die Schutzpflicht des Staates dahingehend festgestellt, dass diese als Grundlage für ein menschenwürdiges Dasein aus wirtschaftlicher und finanzieller Sicht notwendig und daher das wirtschaftliche Existenzminimum von der Steuerpflicht auszunehmen sei.390 Würde eine solche Besteuerung zugelassen, käme dem Staat wiederum die Verpflichtung zu, die dadurch fehlenden Mittel zur Schaffung eines Existenzminimums zu gewähren.391 Folglich „wäre es inkonsequent“, dem Bürger durch Besteuerung die notwendigen Mittel „ganz oder teilweise mit der Folge zu entziehen, daß der Staat die Unter385 386 387 388 389 390 391
BVerfGE 82, 60. BVerfGE 82, 60 (85). BVerfGE 82, 60 (85). BVerfGE 1, 97 (104). Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 43. BVerfGE 82, 60 (85). BVerfGE 82, 60 (86).
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stützung des Bedürftigen selbst übernehmen müßte“.392 Schafft es der Einzelne, sich sein Existenzminimum selbst zu erwirtschaften, soll dies vor staatlichem Zugriff geschützt und er nicht wiederum auf staatliche Unterstützung angewiesen sein.393 Das Bundesverfassungsgericht geht zudem noch einen Schritt weiter, indem es feststellt, dass aus der Verfassung zudem die Verpflichtung des Staates abgeleitet werden kann, dass in Fällen, in denen dieses Existenzminimum vom mittellosen Bürger nicht selbst erwirtschaftet wird, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein nötigenfalls „durch Sozialleistungen zu sichern“ sind.394 Für das Bundesverfassungsgericht ergibt sich dieses Gebot an den Staat eindeutig aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 1 GG festgesetzten Sozialstaatsgrundsatz.395 Als Konsequenz ist zum einen ein bestimmter Betrag bei der Steuerlastverteilung auszunehmen, denn dem Einzelnen soll es von seinem Verdienst möglich sein, ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Zum anderen besteht eine direkte Leistungspflicht des Staates in den Fällen, in denen der Bürger nicht selbstständig für sich sorgen kann.396 Dadurch wird ein umfassender Schutz hinsichtlich des Existenzminimums und des materiell Notwendigen gewährleistet, der es ermöglichen soll, jedem ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein“397, die als Grundlage der staatlichen Verpflichtung zu gewährleisten seien, gewähren aufgrund der „Weite und Unbestimmtheit“ des Gebots keinen Anspruch auf bestimmte soziale Leistungen, vielmehr sei „zwingend […] lediglich, daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft“398. Erneut lies das Bundesverfassungsgericht damit offen, was zu den Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins zu zählen ist. Deutlich wurde jedoch der Einfluss der Menschenwürde, die hier einen Bereich sichert, den der Einzelne für ein menschenwürdiges Leben benötigt. Die Prägung des Würdesatzes geht dabei über das Grundgesetz hinaus und entfaltet einen Einfluss auf die gesamte Rechtsordnung, die dem Schutz der Würde des Einzelnen verpflichtet ist. Dieser Schutz ist durch die direkte Ableitung aus dem Würdesatz i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG keiner Abwägung zugänglich und kann nicht relativiert werden. Im Zusammenhang mit der Sicherung des menschenwürdigen Daseins wies das Bundesverfassungsgericht ferner ausdrücklich auf die besondere Stellung von Kindern und die Bewertung des Kindesunterhalts unter dem Einfluss von Art. 1 Abs. 1 GG hin. So sei die Entscheidung der Eltern für ein Leben mit Kindern zu achten; die Vermeidbarkeit von Kindern dürfe den Eltern steuerrechtlich nicht 392 393 394 395 396 397 398
BVerfGE 82, 60 (86). Vgl. BVerfGE 82, 60 (87 f.). BVerfGE 82, 60 (85); vgl. auch BVerfGE 40, 121 (133). BVerfGE 82, 60 (85). Vgl. BVerfGE 82, 60 (86). BVerfGE 82, 60 (80); ebenso schon BVerfGE 40, 121 (133). BVerfGE 82, 60 (80).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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entgegengehalten werden.399 Kinder seien nicht als „Aufwendungen im privaten Bereich“ zu erfassen, die nicht abzugsfähig sind.400 Vielmehr wird durch die Aufwendungen der Kindererziehung und der damit verbundenen Versorgung die steuerliche Leistungsfähigkeit gesenkt. Dies muss unter dem absoluten Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG und des Art. 6 Abs. 1 GG beachtet werden, denn „[a]uch Unterhaltsaufwendungen für Kinder sind danach grundsätzlich keine Aufwendungen im privaten Bereich, die nach der Grundregel des § 12 Nr. 1 EStG steuerlich als allgemeine Kosten der Lebensführung nicht abzugsfähig sind; vielmehr muß berücksichtigt werden, daß durch diese Aufwendungen die steuerliche Leistungsfähigkeit gemindert wird. […] Der Staat, der die Würde des Menschen als höchsten Rechtswert anerkennt und Ehe und Familie dem besonderen Schutz des Staates anheimgegeben hat, darf Kinder und private Bedürfnisbefriedigung nicht auf eine Stufe stellen […].“401
Es widerspricht demnach der Achtung von Ehe und Familie sowie der grundsätzlichen Achtung des Einzelnen als Rechtsperson, Kinder und persönliche Bedürfnisbefriedigung auf eine Stufe zu stellen und steuerrechtlich gleich zu behandeln. Den Ausführungen des Gerichts ist zu entnehmen, dass folglich die Unterhaltsaufwendungen, die für die Entwicklung und Versorgung eines Kindes als existenziell notwendig erachtet werden, aus der Berechnung des besteuerbaren Einkommens auszunehmen sind. Der Würdesatz gibt hier, mit dem Gebot des Schutzes der menschlichen Würde, einen absoluten Schutz des Einzelnen und seiner persönlichen Entfaltung vor, der verbunden mit den Vorgaben des Art. 6 GG die Achtung und Förderung der Familie verlangt. Hier treten erneut die Ausstrahlungswirkung des Würdesatzes und seine richtungsgebende Funktion in Bezug auf die Rechtsordnung hervor und werden durch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts bestärkt und unterstrichen. Einen weiteren Schritt in der Entwicklung eines leistungsrechtlichen Anspruches aus der Garantie des Würdesatzes des Art. 1 Abs. 1 GG geht das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Hartz IV-Regelsätze.402 In dem am 9. Februar 2010 ergangenen Urteil hatte das Gericht über drei zur gemeinsamen Entscheidung verbundene Normenkontrollverfahren zu entscheiden, die die Verfassungsmäßigkeit der geltenden Hartz IV-Regelsätze nach § 20 Abs. 1 bis 3 und § 28 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB II in Zweifel zogen. Im Rahmen dieser Entscheidung befasste sich das Gericht (erneut) mit der Gewährleistung eines (menschenwürdigen) Existenzminimums und den Mindestvoraussetzungen für ein solches menschenwürdiges Dasein. Es betonte dabei zunächst noch einmal ganz deutlich den absoluten, kategorischen Charakter des Menschenwürdeschutzes als unverfügbar und hob den durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährten 399 400 401 402
Vgl. BVerfGE 82, 60 (87). BVerfGE 82, 60 (87). BVerfGE 82, 60 (87) mit Bezugnahme auf E 45, 187 (227) m.w.N. BVerfGE 125, 175.
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Schutz elementarer Lebensgrundlagen hervor.403 Der positive Anspruch des Einzelnen auf den Schutz seiner Würde wurde dabei explizit um einen Leistungsanspruch erweitert.404 Bereits in den Leitsätzen betonte das Gericht, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ein „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ ergebe, dass „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu[sichert], die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“.405 Das Bundesverfassungsgericht leitete in diesem Zusammenhang unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ein eigenständiges Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ab: „Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu“.406
Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts tritt neben den absoluten Achtungsanspruch des Würdesatzes somit ein eigenständiger Anspruch auf Leistung der notwendigen Unterstützung zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben durch die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieser Anspruch auf Leistung ist Teil der Schutzpflicht gegenüber der Würde des Einzelnen und erweitert den bisherigen Umfang des Schutzes des Art. 1 Abs. 1 GG um einen materiell-finanziellen Leistungsanspruch. Der Einzelne hat ein Anrecht auf Gewährleistung einer Grundsicherung, auf eine Leistung die jedem Menschen eine menschenwürdige Existenz und davon umfasst eine grundsätzliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichert.407 Das Bundesverfassungsgericht sieht es als eine Pflicht des Staates, jedem Menschen die notwendigen Mittel für ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, dies sei Teil der positiven Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde und des sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages.408 Der Staat wird dadurch verpflichtet, „[w]enn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, […] im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Ge403 404 405 406 407 408
Vgl. BVerfGE 125, 175 (222). Vgl. BVerfGE 125, 175 (2. Leitsatz). BVerfGE 125, 175 (1. Leitsatz). BVerfGE 125, 175 (175, 222 f.) BVerfGE 125, 175 (223). BVerfGE 125, 175 (222).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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staltungsauftrages […], dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen“.409 Im Weiteren führte das Bundesverfassungsgericht aus, der Leistungsbedarf im Einzelnen bedürfe der weiteren „Konkretisierung und stetige Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an den jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat“.410 Der Gestaltungsspielraum, den das Gericht dem Gesetzgeber dabei ausdrücklich eröffnete, verweist auf die Notwendigkeit der Entwicklungsoffenheit des Anspruches. Das Bundesverfassungsgericht hielt insoweit an seinen Grundsätzen, die es bereits im Zusammenhang mit seiner Entscheidung zum „Steuerfreien Existenzminimum“ entwickelt hat, fest. Bereits in der 1990 ergangenen Entscheidung betonte das Gericht den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers dahingehend, die Bedürfnisse des menschenwürdigen Existenzminimums festzulegen.411 Die Gewährleistung eines Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum umriss das Gericht dahingehend, dass die Einkommensteuer nur insoweit veranlagt werden kann, als die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger gesichert ist.412 Die durch den Sozialgrundsatz aus Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Vorgaben bedürfen im Rahmen der Anwendung einer Ausgestaltung, die dem Gesetzgeber im Rahmen eines Gestaltungsspielraumes obliege, auch wenn das gewährte Grundrecht im Grunde unverfügbar sei und eingelöst werden müsse.413 Der Menschenwürdesatz verbietet insoweit einen Gestaltungsspielraum nicht, kann aber die Art und Weise der Ausgestaltung beeinflussen und auch begrenzen, zudem ist ein solcher notwendig, um die zu erbringenden Leistungen an den jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens anzupassen und an den bestehenden Lebensbedingungen der Gesellschaft auszurichten und der dafür erforderlichen Konkretisierung und stetigen Aktualisierung zu eröffnen.414 So sieht das Gericht eine alters- und bedarfsbezogene Bestimmung der Leistungssätze vor. Es unterstreicht damit die Bedeutung der Entfaltung des Einzelnen. Gerade Kinder in verschiedenen Alters- und damit auch Entwicklungsstufen hätten unterschiedliche Bedürfnisse, die zur Förderung der Entwicklung notwendig und daher von der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen sind.415 Es wurde damit kein direkter Anspruch auf einen bestimmten Geldbetrag oder einer bestimmte Leistung gewährt. Gewährleistet wird vielmehr ein menschenwürdiges Existenzminimum, gemessen an den jeweils
409 410 411 412 413 414 415
BVerfGE 125, 175 (222). BVerfGE 125, 175 (222). BVerfGE 82, 60 (80). BVerfGE 82, 60 (85). BVerfGE 125, 175 (2. Leitsatz). BVerfGE 125, 175 (2. Leitsatz); so auch schon BVerfGE 82, 60 (94). Vgl. BVerfGE 125, 175 (228).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
„tatsächlichen Verhältnissen“.416 Die Verpflichtung des Gesetzgebers, diese Verhältnisse stetig zu prüfen und zu bewerten, folgt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Umstand, dass „der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht“.417 Es kommt jedoch in der Entscheidung explizit zum Ausdruck, dass die Leistungspflicht des Staates auf die wesentlichen Bedarfsgüter beschränkt ist. Mit diesem „Auftrag“ an den Gesetzgeber regelmäßig den tatsächlichen Bedarf zu überprüfen und anzupassen, sichert das Bundesverfassungsgericht die Entwicklungsoffenheit des Anspruches. Der Würdesatz ist dabei von grundlegender Bedeutung, er sichert die Wahrung des menschenwürdigen Daseins und trägt zugleich diesen Entwicklungen Rechnung. Mit diesem richtungsweisenden Urteil verdeutlichte das Bundesverfassungsgericht nicht nur, dass ein Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus der Gewährleistung des Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG besteht, sondern gerade auch, dass es sowohl eine sächliche als auch eine soziokulturelle Dimension aufweist.418 Es bestätigte damit ein diese Dimensionen garantierendes eigenständiges Grundrecht, das neben dem absolut wirkenden Achtungs- und Schutzanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG besteht. Damit ist erstmals ein persönlicher, aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteter Anspruch verbunden, der eine objektive Leistungspflicht des Staates auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums statuiert.419 Einen weiteren wesentlichen Schritt zur Stärkung eines Leistungsanspruches aus Art. 1 Abs. 1 GG ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetz420 gegangen, in dem es sowohl ein Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausdrücklich betonte und zugleich darauf verwies, dass Art. 1 GG diesen Anspruch als Menschenrecht begründe.421 Ausgangspunkt dieser Entscheidung war die Frage, ob die Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes, das den Mindestunterhalt für Asylbewerber und bestimmte ausländische Staatsangehörige regelt mit dem Grundgesetz und insbesondere mit Art. 1 GG vereinbar ist. Die durch das Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehenen Leistungen sind im Vergleich zu Leistungen für Deutsche und diesen gleichgestellte Staatsangehörige, insbesondere EUBürger, erheblich abgesenkt und vorrangig auf Sachleistungen statt auf Geldleistungen ausgerichtet. Sie liegen deutlich unter den im SGB II und SGB XII vorge416 417 418
(505). 419
BVerfGE 125, 175 (225). BVerfGE 125, 175 (225). Vgl. Seiler, Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, JZ 2010, 500
Vgl. Schnath, Das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – Ein rechtspolitischer Ausblick nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. 2. 2010, NZS 2010, 297 (298). 420 BVerfGE 132, 134. 421 BVerfGE 132, 134 (2. Leitsatz).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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sehenen Regelbedarfssätzen, zudem wurde die Bemessungsgrundlage seit dem Inkrafttreten des Gesetzes 1993 nicht an eventuelle Preissteigerungen angepasst.422 Mit der ausdrücklichen Anerkennung des Leistungsanspruches aus Art. 1 GG als Grundrecht und zugleich als Menschenrecht, steht nicht nur deutschen Staatangehörigen ein Anspruch auf Sicherung der physischen Existenz, der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sowie der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen zu, sondern ein solcher Anspruch besteht gleichermaßen auch für ausländische Staatsangehörige, die sich in der Bundesrepublik aufhalten.423 Die objektive Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG zur Achtung und zum Schutz der Würde besteht damit gegenüber allen Menschen. Dieser Verpflichtung korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, der als Grundrecht allen Menschen, die sich in Deutschland aufhalten, zukommen muss, da das Grundrecht die Würde jedes Einzelnen schützt:424 „Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen. Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus einer Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schützt und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.“425
Das Bundesverfassungsgericht greift die Grundsätze seiner Entscheidung zum Steuerlichen Existenzminimum und zur Angemessenheit der Hartz IV-Regelsätze in dieser Entscheidung erneut auf und unterstreicht hier aber ausdrücklich den dem Grunde nach von der Verfassung gegebenen Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG.426 Dieser Anspruch besteht als Menschenrecht aus der Würdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet, der in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot als direkte Anspruchsgrundlage fungiert.427 Die Würde des Menschen kann in einer Situation existenzieller Not nur durch materielle Unterstützung gesichert werden, die sowohl in Geld- als auch in Sach-
422
Vgl. zum Sachverhalt im Einzelnen BVerfGE 132, 134 = NVwZ 2012, 1024 (1024 f.). BVerfGE 132, 134 (160 f.); vgl. auch Kirchhof, Die Entwicklung des Sozialverfassungsrechts, NZS 2015, 1 (4). 424 BVerfGE 132, 134 (159). 425 BVerfGE 132, 134 (159) mit Verweis auf E 87, 209 (228); 125, 175 (222 f.). 426 BVerfGE 132, 134 (160). 427 Vgl. BVerfGE 132, 134 (160). 423
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
leistungen bestehen kann. Die Mittel und die genaue Ausgestaltung der Leistung bleiben auch weiterhin dem Gesetzgeber überlassen: „Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben. Sein Umfang kann jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation der Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu. Dieser Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen umfasst die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs und ist zudem von unterschiedlicher Weite: Er ist enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert, und weiter, wo es um Art und Umfang der Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht. Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet.“428
Die Bemessung des Leistungsumfangs an der konkreten Situation des Hilfsbedürftigen sowie an den äußeren Gegebenheiten muss auch für Staatsangehörige anderer Staaten gelten, die sich nur zeitweise in Deutschland aufhalten. Auch ihnen steht aus Art. 1 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums als Menschenrecht zu. Mit dieser ausdrücklichen Einbeziehung ausländischer Staatsangehöriger erweitert das Bundesverfassungsgericht die Reichweite des Leistungsanspruches aus Art. 1 Abs. 1 GG erheblich, insbesondere da auch in Bezug auf ausländische Staatsangehörige der konkrete Bedarf in Deutschland als maßgebliche Referenz heranzuziehen ist. Besonderheiten, die sich durch den nur kurzzeitigen Aufenthalt ergeben, dürfen nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts bei der konkreten Ausgestaltung berücksichtigt werden; dies erfolge anhand einer Prognose zu Beginn des Aufenthalts. Sobald jedoch die Aufenthaltsdauer das Maß eines kurzzeitigen Aufenthalts massiv überschreitet, sei eine Differenzierung nicht mehr möglich. Der Aufenthaltsstatus darf nicht als Kriterium der Berechnung herangezogen werden. Nach diesen Maßstäben sah das Bundesverfassungsgericht in den gesetzlichen Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG. Das Existenzminimum wurde durch die dort vorgesehenen Leistungen nicht ausreichend gesichert, zudem erfüllten die Maßstäbe der Bemessung nicht die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Anforderungen an Transparenz und ein sachgerechtes Verfahren. 428
BVerfGE 132, 134 (160 f.) mit Verweis auf E 125, 175 (224 f.).
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die leistungsrechtliche Dimension der Würdenorm erneut hervorgehoben und die diesbezügliche Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 GG unterstrichen.429 (2) Teilhaberechtliche Dimension Daneben wird ferner eine teilhaberechtliche Dimension des Würdeschutzes gesehen, die einen Anspruch des Einzelnen auf Teilhabe an (staatlichen) Leistungen begründet. Diese tritt in besonderem Maße hervor, wenn der Staat oder seine Agenturen mit der Frage der Verteilung lebensnotwendiger knapper (medizinischer) Ressourcen befasst sind.430 Die Frage, welche Kriterien der Staat bei einer lebenswichtigen Verteilungsentscheidung heranziehen darf, und woran diese Kriterien zu messen sind, ist äußerst schwierig und streitig. So etwa im Bereich der Organtransplantationen, wo es um die Verteilung weniger Transplantate an eine zahlenmäßig weit größere Gruppe von potentiellen Empfängern geht. Der Einfluss grundrechtlicher Vorgaben und namentlich der Würdegarantie werfen in diesem Zusammenhang besondere Schwierigkeiten auf: Wann darf die Aufnahme auf eine Transplantationsliste versagt werden? Nach welchen Kriterien wird diese Liste geführt und die Auswahl eines Empfängers getroffen? Vornehmlich im Zusammenhang mit der Leberallokationen, bei der es für die betroffenen Patienten häufig um Leben und Tod geht, wird im Rahmen der Frage einer gerechten Verteilung ein Bezug zum Schutz der menschlichen Würde und der physischen Integrität des Einzelnen als besonders deutlich gesehen.431 Der durch die Menschenwürdegarantie als „Wurzel aller Grundrechte“432 geprägte Kernbereichsschutz der einzelnen Grundrechte ist als solcher jeglicher Abwägung entzogen. Umstritten ist jedoch, ob daraus gefolgert werden kann, dass dieser Kernbereichsschutz in das Spannungsverhältnis der Verteilungsentscheidung eingreift und es maßgeblich beeinflusst. Die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Leben, unab429 Aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen und den damit verbundenen Schwierigkeiten der Versorgung und zeitnahen Bearbeitung von Asylanträgen, wird immer wieder die Frage laut, ob eine Einschränkung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz an Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern möglich ist. Dazu sei hier auf den Beitrag von Dietz, Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, DÖV 2015, 727 ff. und die dortigen weiteren Nachweise verwiesen. 430 Dieser Themenbereich soll vorliegend der Vollständigkeit halber angesprochen werden. Eine differenzierte, dem Umfang und der Reichweite der Problematik gerecht werdende Aufarbeitung der Thematik würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten. Daher sei hierzu im Einzelnen (vertretend für viele) verwiesen auf: Schneider, Verfassungsmäßigkeit des Rechts der Organallokation, 2015; Rücker, Die Allokation von Lebenschancen, 2014; Bader, Organmangel und Organverteilung, 2010; Oduncu/Schroth/Vossenkuhl (Hrsg.), Transplantation, Organgewinnung und -allokation, 2003. 431 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (317, dort Fn. 52). 432 BVerfGE 93, 266 (293).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
hängig von der noch zu erwartenden Dauer des einzelnen Lebens, wurde durch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes ausdrücklich betont.433 Sie muss als fundamentale Basisgleichheit, als eines der wesentlichen Elemente des Konzeptes der Würde auch und gerade im Leistungs- und Teilhabebereich gelten. Diese Gleichheit aller Menschen wird in diesem Zusammenhang als Lebenswertindifferenz bezeichnet, kein Leben kann als wertvoller oder höherwertiger als ein anderes bewertet werden. Dieser Grundsatz der Lebenswertindifferenz wird aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet und beharrt auf der absoluten Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens.434 Danach würde es sich verbieten aufgrund des Krankenzustandes eines Menschen ihn von der Möglichkeit des Erhalts eines Organs auszuschließen, weil ein anderer Patient bessere Überlebenschancen oder eine längere Lebenserwartung hat. Unter diesem Blickwinkel wird der Würdegehalt des Lebensgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG als Maßstab gesehen, der die Anforderungen für die Verteilung vorgibt. Dies ist jedoch gerade aus medizinischen Gesichtspunkten umstritten. Diese Vorgaben stehen in einem Spannungsverhältnis zu einer an den Erfolgsaussichten gemessenen Verteilungspraxis und den Interessen an einer möglichen Maximierung der medizinischen Erfolge.435 (3) Resümee Die Entwicklung einer leistungs- und teilhaberechtlichen Dimension des Würdesatzes durch das Bundesverfassungsgericht unterstreicht die prägende Funktion der Menschenwürde für die Rechtsordnung. Der deontologisch ausgerichtete Würdesatz gibt der gesamten Rechtsordnung eine am einzelnen Menschen und seinen Interessen orientierte Struktur vor.436 Der Einzelne wird durch die Gewährung eines objektiven Leistungsrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG als Individuum in seiner freien Entfaltung geschützt und der Rechtsordnung als Bezugspunkt vorgegeben. Seine Interessen stehen über dem Kollektivinteresse der Gemeinschaft; eine Einschränkung ist sowohl zugunsten konkurrierender Rechte als auch kollektiver Interessen und Güter möglich – jedoch nur bis zu einem gewissen
433
Vgl. BVerfGE 115, 118 (152). Vgl. hierzu Rücker, Die Allokation von Lebenschancen, 2014, 140 ff. m.w.N. 435 Vgl. dazu insgesamt Bader, Organmangel und Organverteilung, 2010, 515 f. Die Frage gerechter Verteilungskriterien und des richtigen Umgangs mit knappen lebensrettenden Ressourcen ist überaus komplex und vielschichtig. Dem kann an dieser Stelle nicht Rechnung getragen werden, da dieser Themenkomplex nicht Schwerpunkt der vorliegenden Ausführungen ist und nicht in dem der Bedeutung der Frage gerecht werdenden erforderlichen Umfang dargestellt werden kann. Zur weiteren Behandlung des Themas und zur Vertiefung sei daher auf die Ausführungen von Bader und die dortigen weiterführenden Nachweise verwiesen. 436 Vgl. Neumann, Die Tyrannei der Würde, ARSP 84 (1998), 153 (154 f.). 434
B. Die Menschenwürdenorm in der verfassungsgerichtlichen Praxis
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Grad.437 Das dabei möglicherweise entstehende Spannungsverhältnis kann durch die kategorische Wirkung des Würdesatzes als absolutes Schutzgebot nicht zugunsten der Gemeinschaft und ihrer Interessen gelöst werden. Die teilhaberechtliche Dimension unterstreicht diesen Aspekt erneut und führt besonders die Bedeutung dieser Ausrichtung vor Augen. Gerade im Zusammenhang mit der Problematik der wesentlichen Entscheidungskriterien zur Verteilung knapper lebensrettender Güter zeigt sich durch die Schwierigkeit, geeignete Kriterien zu benennen, die Funktion des Würdesatzes als Ausrichtungsmaßstab und Grenze: Einer Ausgestaltung der Verteilungskriterien auf der Basis einer reinen Kosten-Nutzen-Erwägung steht die nichtkonsequentialistische Ausrichtung der Rechtsordnung, die ihr die Menschenwürdegarantie vorgibt, entgegen. Diese Funktion des Würdesatzes als strukturgebende Basis der Rechtsordnung tritt im Rahmen der leistungs- und teilhaberechtlichen Dimension neben dem Schutzaspekt des Würdesatzes deutlich hervor. Gerade im Hinblick auf das aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG abzuleitende Leistungsrecht und die geforderte Anpassungsfähigkeit an die Entwicklung der Gesellschaft und der Lebensbedingungen zeigt die starke prägende Funktion der Menschenwürde für die Rechtsordnung. Durch die Vorgabe, stets ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, wird dem Gesetzgeber aufgegeben, regelmäßig die Mindestvoraussetzungen zu prüfen, um immer einen entsprechenden Schutz zu gewährleisten.
III. Fazit Die Besonderheiten des Würdesatzes in seiner Funktion als „(Staats-) Fundamentalnorm“438 und „Wurzel aller Grundrechte“439 und die damit verbundene Tiefenstruktur, die sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit der Dogmatik des Würdeschutzes herausgebildet hat, prägen den Umgang der deutschen Rechtspraxis mit der Menschenwürdegarantie. Das absolute Abwägungsverbot sowie der Schutz und die Achtung des Einzelnen als Rechtsperson sind die wesentlichen Grundfunktionen, auf denen diese Dogmatik aufbaut. Die einzelnen Funktionen der Menschenwürdegarantie werden in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ebenso deutlich wie die an das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde geknüpften Besonderheiten, die Art. 1 Abs. 1 GG fundamental von den anderen Grundrechten des Grundgesetzes unterscheiden. Der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit dem Würdesatz hat für die Entwicklung des spezifischen Menschenwürdekonzeptes im deutschen Recht erhebliche Bedeutung. Neben der Herausarbeitung der einzelnen Funktionen und der 437
Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313). 438 Vgl. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (356) m.w.N. 439 BVerfGE 93, 266 (293).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Struktur des Art. 1 Abs. 1 GG hat das Gericht im Zusammenhang mit kaum einer anderen Norm des Grundgesetzes in der gezeigten Deutlichkeit und Beharrlichkeit dessen Bedeutung unterstrichen, wie bei Art. 1 Abs. 1 GG.
C. Rezeption des Art. 1 Abs. 1 GG im Spiegel der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft Die Rezeption des Art. 1 Abs. 1 GG im Kontext der Verfassungsrechtswissenschaft erfolgt im Wege verschiedener theorienbasierter Ansätze, die Facetten der Konturen des Würdeschutzes aufzeigen. Übereinstimmungen dieser Ansätze weisen dabei die konsentierten Elemente des Konzeptes der Menschenwürde aus, die allen Theorien gemein sind und die die Grundstruktur der Würdenorm widerspiegeln. Jede der vertretenen Theorien weist dabei sowohl Vorzüge als auch Schwierigkeiten auf und vermag für sich genommen eine umfassende Fassung des Konzeptes der Würde nicht zu leisten. Die Gemeinsamkeiten der einzelnen Theorien können mit einem von Hofmann entwickelten Ansatz zusammengefasst werden, der sich in drei grundlegende Sätze fassen lässt: „1. Art. 1 Abs. 1 GG garantiert die prinzipielle rechtliche Gleichheit aller Menschen. Er verbietet daher jede Art systematischer Diskriminierung oder Demütigung. 2. Das Menschenwürdeprinzip verlangt die Wahrung der menschlichen Subjektivität, und d. h. insbesondere: Schutz der körperlichen und seelischen Identität und Integrität. Daraus folgt nicht nur das Verbot von Folterung, Misshandlung, Erniedrigung und Körperstrafen, sondern auch das Verbot der Brechung subjektiver Identität oder deren Auflösung durch sog. Wahrheitsseren, Lügendetektoren usw., sowie das Gebot des Schutzes menschlicher Intimität. […] 3. Art. 1 Abs. 1 GG gebietet die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz für jeden, z. B. auch unter Haftbedingungen. Darüber hinaus garantiert Art. 1 GG in jedem Fall das materielle Existenzminimum.“440
Zum Ausdruck kommen dabei die Kernelemente des Würdesatzes, die ein stringentes Konzept des Würdeschutzes ausweisen. Eine Zusammenschau aller Theorien zeigt die wohl konsentierten Kernelemente der Menschenwürde: „[v]orgegebener Eigenwert [des Einzelnen], Selbstbestimmung und zwischenmenschliche Solidarität“, die zwingende Elemente eines umfassenden Verständnisses der Würde bilden.441 Nimmt man noch die grundlegende Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson und Subjekt rechtlicher Interaktion sowie dessen Autonomie hinzu, weist dies die zentralen Elemente aus, die die Menschenwürdegarantie in ihren
440 441
Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (362). Vgl. Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 8.
C. Art. 1 Abs. 1 GG im Spiegel der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft
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wesentlichen Funktionen ausmacht. Obwohl die Ausführungen Hofmanns442 zu den Grundsätzen der Menschenwürde diese nicht voll umfänglich erfassen, wird doch ein grundlegendes Verständnis der wesentlichen Aspekte vermittelt. Festzuhalten bleibt somit: Die Achtung des Einzelnen als Rechtsperson und -subjekt ist ebenso bedeutend wie die Funktion der Menschenwürde als Basisgrundrecht und fundamentaler Verfassungsgrundsatz. Die schon bei Kant443 zu findende Betonung der menschlichen Würde als absoluter innerer Wert und nicht als etwas, das einen Preis hat und austauschbar ist, zeichnet die Bedeutung der menschlichen Würde aus: „Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“444
Auch wenn der Begriff des Wertes im Bezug zur Norm des Art. 1 Abs. 1 GG durchaus problematisch ist, da eine Norm nicht mit einem Wert gleich gesetzt werden kann,445 verdeutlich die Beschreibung Kants aus der (moral)philosophischen Betrachtung der Würde als absoluter innerer Wert des Menschen und als etwas Einzigartiges,446 die Bedeutung der Würde für den Einzelnen und verweist auf die Notwendigkeit der Absolutheit des Schutzes aus Art. 1 Abs. 1 GG. Im Folgenden werden die einzelnen Theorien zur Rezeption des Würdesatzes in der Verfassungsrechtswissenschaft und das so entstehende Konzept der Würde aufgezeigt. Die zentralen Aspekte bilden die Struktur und die Elemente des Konzeptes der Würde im Lichte der Verfassungsrechtswissenschaft. Dabei verdeutlichen die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Ansätze die Spannungsverhältnisse, die im Zusammenhang mit der Garantie der Menschenwürde in der deutschen (Verfassungs-)Rechtswissenschaft verbunden sind. Die konsentierten Elemente des Würdekonzeptes entsprechen den wesentlichen Elementen des Konzeptes der Menschenwürde, wie sie vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung entwickelt worden sind, und reflektieren zugleich die Struktur der Würdenorm. Ausgehend von diesen in der Rechtsprechung entwickelten Elementen, soll im Folgenden die Rezeption in der Verfassungsrechtswissenschaft nachgezeichnet 442
Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (362 f.). Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785, zitiert nach: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VII, hrsg. von Weischedel, 182008, 69. 444 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, zitiert nach: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Weischedel, 182008, 569. 445 Vgl. dazu auch die Ausführungen zur Menschenwürde als Fundamentalnorm in diesem Teil der Arbeit unter B. II. 2. c). 446 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, zitiert nach: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Weischedel, 182008, 569. 443
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
werden. Daran anknüpfend sollen im Weiteren die so gefundene Struktur der Menschenwürde und die mit dem Konzept verbundenen Spannungen als Grundlage herangezogen werden, um die Frage nach einem kohärenten Konzept im europäischen Recht zu beantworten.
I. Verfassungsrechtliche Stellung des Art. 1 Abs. 1 GG Die systematische Sonderstellung und die damit verbundene besondere Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG als Spitze des Grundgesetz sind unumstritten: „Ihrer hohen sachlichen Bedeutung entspricht der besondere normative Rang der Menschenwürde“.447 Dennoch bereitet der Umgang mit dem Würdesatz – gerade aufgrund dieser Besonderheiten – vielfach erhebliche Schwierigkeiten. Es gibt kein Vergleichskonzept und keine strukturell vergleichbare Norm, deren Auslegung im Zweifel als Orientierung herangezogen werden könnte. Art. 1 Abs. 1 GG realisiert in einem „Doppelschritt wechselbezüglicher Geltungsverstärkung“ die von den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates intendierte Verbindung von positiviertem Naturrecht und unmittelbarer normativer Verbindlichkeit.448 Die dafür notwendige komplexe und ambivalente Struktur sei mit den gängigen Interpretationsmethoden nicht fassbar,449 so zumindest der vielfache Vorwurf. Eine genaue Betrachtung der Struktur des Würdesatzes zeigt jedoch, dass es möglich ist, wesentliche Elemente und Funktionen dieser Struktur zu benennen und dadurch den Würdesatz operationalisierbar zu machen.450 Ein Rückgriff auf theologische sowie (moral)philosophische Begriffsbestimmungen der Würde – wie er vielfach erwogen wird – ist zur Beantwortung der Frage nach einer der verfassungsrechtlichen Struktur weder notwendig oder normgerecht.451 Die Struktur des Art. 1 Abs. 1 GG muss losgelöst von moralischen, philosophischen und ethischen Begriffsbestimmungen als eigenständige Begriffsbestimmung des Rechts erfasst werden. Ihr Bezugspunkt ist der säkulare Rechtsstaat. Die Menschenwürde als Begriff des Rechts ist als verfassungsrechtlicher, weltanschaulich-neutraler Begriff und als Teil der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG zu beleuchten. Die Begrifflichkeit der anderen Disziplinen kann dabei allenfalls ergänzend zur Orientierung herangezogen 447
Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33 f.). 448 Vgl. Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherung an einen schwierigen Verfassungssatz, JuS 1995, 857 (857). 449 Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherung an einen schwierigen Verfassungssatz, JuS 1995, 857 (857). 450 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (309). 451 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (309 f.).
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werden, ohne in die Struktur der Würde im Recht einzufließen. Aufgrund der staatlichen Neutralitätspflicht ist es notwendig, die spezifische Bedeutung und Struktur der Menschenwürde als Begriff des Rechts und vor allem als Begriff der Verfassung zu berücksichtigen und unabhängig von einer bestimmten ideologischen oder ethischen Prägung zu erfassen. Nur so kann die Menschenwürde als solche und ihre spezifischen Funktionen die Struktur der Grundrechtsordnung prägen. Die zur Interpretation des Begriffes der Menschenwürde im Recht herangezogenen Kriterien müssen sich mithin an der Struktur des Rechtsbegriffes orientieren. Vor diesem Hintergrund muss die Struktur der Menschenwürde im Blick der Verfassungsrechtswissenschaft analysiert werden. Die Leitfrage der folgenden Untersuchung bildet stets, die Funktion und die Elemente der Würde im Recht. Insgesamt orientiert sich die Untersuchung dabei an dem durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Konzept der Würde, dass darin reflektiert wird. 1. Allgemeine Bedeutung und Rechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG – (Basis-)Grundrecht vs. Fundamentalnorm? Im Mittelpunkt des Systems der Grundrechte steht, so das Bundesverfassungsgericht, die sich „innerhalb der sozialen Gemeinschaft“ frei entfaltende Persönlichkeit des Menschen und seine Würde.452 Der Mensch als Bezugspunkt der Verfassung wird dabei ebenso betont wie die mit ihm untrennbar verbundene Würde, die damit ebenfalls in den Mittelpunkt des grundrechtlichen Systems rückt. Der Gedanke der grundlegenden Bedeutung der Menschenwürde, den das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck bringt, wird von der Verfassungsrechtswissenschaft aufgegriffen und entsprechend reflektiert. Er zeigt sich gleichsam in unterschiedlich starker Ausprägung in allen Grundrechten durch den ihnen zugesprochenen Menschenwürdegehalt. Nicht nur die Freiheitsrechte, sondern auch der allgemeine Gleichheitssatz ebenso wie die Teilhabe- und Leistungsrechte enthalten einen durch die Menschenwürde geschützten (Kern-)Bereich.453 Die Umschreibung des besonders geschützten würdebezogenen Schutzbereiches mit dem Begriff des Kernbereichsschutzes bedient sich einer „gängigen Raummetaphorik“,454 um den grundlegenden Gedanken eines jeglicher Abwägung entzogenen Kernes der grundrechtlichen Schutzbereiche zu verdeutlichen.455 Aus der Funktion der Menschenwürde als 452
BVerfGE 7, 198 (205). Vgl. auch BVerfGE 45, 187 (227). Vgl. auch die Ausführungen unter B. II. 2. d). 454 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313) m.w.N. Vgl. zur Entwicklung der Raummetaphorik, ebd., Fn. 28. 455 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313); Poscher, Menschenwürde und Kernbereichsschutz, JZ 2009, 269 (271); SachsHöfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 17. Vgl. dazu auch die Ausführungen unter B. II. 2. d). 453
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„Wurzel aller Grundrechte“456 und strukturierende Basis der Rechtsordnung erwächst der absolute Schutz eines bestimmten Kerns jedes grundrechtlich gewährleisteten Schutzbereiches. Die Annahme dieses Kernbereichsgedanken wird zum Teil als zu weitgehend kritisiert.457 Durch die unmittelbare Verknüpfung bestimmter Aspekte des grundrechtlichen Schutzbereiches mit Art. 1 Abs. 1 GG würden die Grundrechte zu nah an den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG heranrücken.458 Diese Kritik verkennt insbesondere die Bedeutung der Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“459, die richtig verstanden nichts anderes heißen kann, als die Grundrechte als Ausdifferenzierungen des Würdeschutzes zu erfassen.460 Eine wechselseitige Beeinflussung der Grundrechte und des Art. 1 Abs. 1 GG ist untrennbar mit der grundgesetzlichen Struktur verbunden und wesentliches Element des deutschen Konzeptes der Menschenwürde. Dies heißt jedoch nicht, dass die Grundrechte dadurch jeglicher Veränderung durch den (verfassungsändernden) Gesetzgeber entzogen sind. Eine Änderung ist möglich, solange und soweit sie nicht in einen direkten Konflikt mit der Würdegarantie tritt.461 Ein wesentlicher Aspekt im Zusammenhang mit der Struktur des Art. 1 Abs. 1 GG ist die Frage nach der Gewährleistung eines subjektiv-öffentlichen (Grund-)Rechts. Die Meinungen, ob Art. 1 Abs. 1 GG direkt eine selbstständige, grundrechtliche Gewährleistung enthält, oder nur als Basiswert fungiert, gehen dabei weit auseinander. Auf der anderen Seite wird argumentiert, Art. 1 Abs. 1 GG wirke nur als verpflichtende objektive Verfassungsnorm und beinhalte daneben kein eigenständiges Grundrecht.462 Dem wird entgegen gehalten, Art. 1 Abs. 1 GG müsse aufgrund seiner Vorgabe einer Achtung- und Schutzpflicht als Grundlage einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können und daher als eigenständiges Grundrecht verstanden werden.463 Die praktische Relevanz dieses Streits wird insgesamt als begrenzt erachtet, da hinsichtlich der Auslegung der Grundrechte 456
BVerfGE 93, 266 (293). Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (37 f.). 458 Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (37 ff.). 459 BVerfGE 93, 266 (293). 460 BVerfGE 93, 266 (293). Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313). 461 Beispielhaft sei diesbezüglich auf die Entscheidung zum „Großen Lauschangriff“ (BVerfGE 109, 279) verwiesen, in deren Rahmen sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit einer Änderung des Art. 13 GG zu befassen hatte. 462 So etwa Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (119 f.); Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 4 f.; Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (434). Vgl. zudem Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit,1991, 380 f. 463 Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 11; Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 6. 457
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Art. 1 Abs. 1 GG stets mit heranzuziehen sei und der Einzelne in den meisten Fällen mit der Verfassungsbeschwerde zumindest Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem jeweiligen (Spezial-)Grundrecht und somit mittelbar geltend machen könne.464 Dies erweist sich als schwierig. Die Frage der Qualifikation des Art. 1 Abs. 1 GG als mögliche alleinige Grundlage einer Verfassungsbeschwerde, als einzig verletzte Norm, ist gerade auch aufgrund ihrer Bedeutung, zu klären. Die Einordnung und die Auseinandersetzung mit dem Charakterisierungsstreit bezogen auf Art. 1 Abs. 1 GG erfordert eine dogmatisch-theoretische Betrachtung, die es ermöglicht, die Menschenwürde in ihrem Umfang fassbar zu machen und im Folgenden mögliche Parallelen zwischen dem deutschen Normverständnis und einem europäischen Konzept aufzuzeigen. Entscheidend für die Analyse des Konzeptes der Menschenwürde ist die Bedeutung, die der Menschenwürde in der Gesetzessystematik allgemein und in der Systematik des Grundgesetzes im Besonderen zukommt. Die zentrale Frage, die daher die Analyse leitet, ist die Frage nach der Funktion der Menschenwürde im deutschen Recht. a) Art. 1 Abs. 1 GG als (Basis-)Grundrecht Generell gewährt ein Grundrecht dem Träger ein subjektiv-öffentliches Recht. Kriterium eines solchen Rechts ist die rechtliche Durchsetzbarkeit im Interesse des Betroffenen, des Rechtsinhabers, dessen Rechte durch die Norm geschützt werden und in dessen Interesse die Norm besteht.465 Daneben muss die Befugnis des Rechtsinhabers bestehen, die rechtliche Durchsetzung zu fordern.466 Ist dies gegeben, wird ganz allgemein von einem subjektiven Recht gesprochen. Die Annahme eines aus Art. 1 Abs. 1 GG direkt abgeleiteten subjektiven Grundrechts ist umstritten.467 Die wohl herrschende Meinung bejaht, ebenso wie das 464
Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 3. Vgl. Kahl/Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 24. 466 Vgl. Kahl/Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 24. 467 Vgl. zur herrschenden Meinung Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 3; Kahl/ Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 26 f.; Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 93 (100); v. Mangoldt/ Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28 ff.; Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat 45 (2006), 189 (196 f.). Kritisch dazu Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 124 ff. So auch Kunig, Zum Dogma der unantastbaren Menschenwürde, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 121 (127). Ablehnend Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 4 f.; Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (434); Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit, 1991, 380 f.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 172. 465
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Bundesverfassungsgericht, den Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG.468 Sie sieht in Art. 1 Abs. 1 GG demnach ein durchsetzbares, individuell subjektiv-öffentliches Recht im Sinne eines eigenständigen Grundrechts. Der Funktion des Würdesatzes als absoluter Achtungsanspruch und Schutzpflicht des Staates entsprechend muss Art. 1 Abs. 1 GG – anders als zum Teil angenommen469 – eine konkrete Grundrechtsgarantie enthalten, die auf dem Rechtsweg gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und insbesondere auf dem Verfassungsgerichtsweg gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG durchsetzbar ist. Denn der ausdrücklich normierten Verpflichtung der staatlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, die dort „mit normativer Eindeutigkeit verfassungstextlich zum Ausdruck“ kommt, korrespondiert eine „Berechtigung des einzelnen Menschen“.470 Die Frage der Gewährleistung eines subjektiv-öffentlichen Rechts durch die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG war bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes Thema vornehmlich literarischer Auseinandersetzungen. So wollte Nipperdey schon 1954 als unzweifelhaft feststehend verstanden wissen, dass eine solche Gewährleistung eines Grundrechts in der Normierung des Art. 1 Abs. 1 GG enthalten sei.471 Dies wird heute – zu Recht – von der herrschenden Auffassung angenommen.472 Nipperdey begründete die zwingende Einordnung der 468 So etwa in BVerfGE 15, 249 (255) – „das Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG“; 15, 283 (286) – „sein Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG“; 28, 151 (163) – „Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG“; 61, 126 (137) – „das in Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht“. Vgl. zudem Jarass/Pieroth-Jarass, GG, 132014, Art. 1, Rn. 3; Kahl/Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 26 f.; Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 93 (100); v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28 ff.; Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat 45 (2006), 189 (196 f.). 469 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 126 f.; Maunz/ Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 4 f.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 172. So auch Kunig, Zum Dogma der unantastbaren Menschenwürde, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 121 (127). Vgl. zudem die Ausführungen bei Enders, Die Menschenwürde als Recht auf Rechte – die mißverstandene Botschaft des Bonner Grundgesetzes, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 49 (52 ff.). 470 Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 6. 471 Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2,1954, 11. 472 Vgl. zur herrschenden Auffassung Jarass/Pieroth-Jarass, GG Kommentar, 132014, Art. 1, Rn. 3; Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, 313 (314); Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat 45 (2006), 189 (196 f.); Kahl/Waldhoff/ Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 26 f.; Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherung an einen schwierigen Verfassungssatz, JuS 1995, 857 (857); Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 93 (100, 104 m.w.N.); v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010,
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Menschenwürde als Grundrecht dahingehend, dass dies aus der verfassungsrechtlichen Stellung der Menschenwürde folge: Art. 1 GG bilde den Anfang des ersten Abschnitts des Grundgesetzes, der mit der Überschrift „I. Die Grundrechte“ beginne.473 Dadurch würden alle nachfolgenden Artikel, auch Art. 1 Abs. 1 GG unter dem Gesamtbegriff „Grundrechte“ zusammengefasst.474 Es wäre somit ein Widerspruch gerade Art. 1 Abs. 1 GG die Qualität als Grundrecht abzusprechen. Die zum Teil bemängelte fehlende Verwendung des Wortes „Recht“ in Art. 1 Abs. 1 GG könne ebenfalls nicht als Gegenargument herangezogen werden, da auch in den Artikeln 2 bis 19 des Grundgesetzes nicht das Wort „Recht“ in jedem Artikel enthalten sei.475 So enthalten die Art. 3, 4, 10 Abs. 1, 14, 15, 16, 16a GG ebenfalls nicht den Begriff „Recht“, obwohl es sich bei diesen Normen unstreitig um Grundrechte handelt. Die ausdrückliche Bezeichnung als Recht kann somit nicht als Voraussetzung für die Annahme eines Grundrechts gesehen werden. Ferner sprächen der Wortlaut und Sinn der Norm dafür, die Menschenwürdegarantie als Grundrecht zu verstehen.476 Diese Argumentation wird auch heute noch als Ausgangspunkt herangezogen, um die Positionierung der Menschenwürde als Grundrecht zu begründen. Dürig trat der Annahme die Menschenwürde als Grundrecht einzuordnen und ihr Grundrechtsqualität zuzuerkennen mit aller Entschiedenheit entgegen, er erachtete die Menschenwürde als „Basis für ein ganzes Wertsystem“, wodurch eine Abstraktheit voraussetzt werde, die mit einem konkreten subjektiven Recht nicht vereinbar sei.477 Die Qualifizierung als objektiv-rechtliche Norm, die als umfassende Garantie uneingeschränkte Geltung erlangt, könne nicht zugleich Grundrecht sein. Die für eine grundrechtliche Gewährleistung notwendige konkrete Konzeption würde die für die Menschenwürde als Basis der rechtlichen Werteordnung notwendige Abstraktheit ausschließen und so die fundamentale Bedeutung der Menschenwürde als Basis der Rechtsordnung beeinträchtigen. Die Einordnung der Menschenwürdegarantie als Grundrecht sei für die Achtung und Durchsetzung ihrer Bedeutung als fundamentale Basis weder notwendig noch sachgerecht.478 Insbesondere steht dem entgegen, so bestärkt Böckenförde die Position Dürigs, dass alle Grundrechte Grenzen hätten bzw. haben müssen und zudem Abwägungen unterläArt. 1 Abs. 1, Rn. 28 ff.; von Münch/Kunig-Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 62012, Art. 1, Rn. 29. 473 Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 12. 474 Vgl. Kahl/Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 25. 475 Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 13. 476 Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 13. 477 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (119 f.). Vgl. auch Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit, 1991, 380 f. 478 Vgl. dazu insgesamt Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (119 ff.).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
gen, während das Achtungs- und Schutzgebot der Menschenwürde nach „Intention und Formulierung universal und ,unantastbar‘“ gelten soll.479 So weise Art. 1 Abs. 1 GG im Gegensatz zu „gewöhnlichen“ Grundrechten keinen konkreten Schutzbereich auf, in den von Seiten des Staates eingegriffen werden könne, und die Eröffnung der grundrechtstypischen Auslegung und Abwägung würde mithin zu einer Schwächung und Entwertung der Würdegarantie führen.480 Dieser Ansatz stützt sich im Wesentlichen auf das Konzept des absoluten Schutzes und der Unantastbarkeit, das in diesem Zusammenhang eines der zentralen Argumente bildet, die Menschenwürde nicht als Grundrecht erfassen zu können. Die Singularität des Art. 1 Abs. 1 GG und die besondere, von der üblichen Grundrechtsstruktur abweichende normative Struktur wird als ein Indiz gegen den Grundrechtscharakter der Würdenorm bewertet.481 Dem ist indes die Forderung nach einem effektiven, umfassenden und dem absoluten Charakter der Menschenwürde entsprechenden Schutz entgegenzuhalten, der nur über die Einordnung des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht vollumfänglich gewährt werden kann. Vor dem Hintergrund der Struktur der Würdenorm und den vorangegangenen Ausführungen können diese Argumente gegen den Grundrechtscharakter der Würdenorm folglich nicht überwiegen. Weiterhin wird der Einordnung der Menschenwürde als Grundrecht ihre Position im Grundgesetz entgegen gehalten. Jedoch ermöglichen die Wortlautauslegung und die Interpretation der systematischen Stellung im Text des Grundgesetzes eine eindeutige Klassifizierung gerade nicht. Es wird angeführt, insbesondere aufgrund der Formulierungen der Absätze 2 und 3 bestünden Zweifel an der Grundrechtsqualität des Art. 1 Abs. 1 GG. Die Formulierungen „die weiteren Grundrechte“ und „darum“ werden als Indikatoren gesehen, die Menschenwürde nicht selbst als Grundrecht anzuerkennen. Die Verwendung des Wortes „darum“ in Absatz 2 führe dazu, dass Absatz 1 nur als „ideeller Ausgangspunkt“, als „Grundlage“ – und damit im Sinne Dürigs – gesehen werden könne.482 Absatz 2 enthält hiernach nur eine Rechtspflicht zum Schutz und zur Achtung der Menschenwürde, gewähre jedoch keinen grundsätzlichen Achtungsanspruch. Des Weiteren spricht Absatz 3 von den „nachfolgenden Grundrechten“. Darin kommt Kritikern zufolge der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass dadurch das Absatz 1 vorgeordnet und nicht nachfolgend ist und die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG mithin kein Grundrecht enthalten kann und soll. Dies steht im Widerspruch zu der Position 479
Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit, 1991, 380 f. Vgl. in diesem Zusammenhang die Darstellungen bei Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, 313 (314) und Kunig, Zum Dogma der unantastbaren Menschenwürde, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 121 (126). 481 Vgl. insgesamt dazu Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 124 und weiterhin Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 173 (174 f., 191). 482 Vgl. die Darstellung bei Kahl/Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 25. Kritisch dazu Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 11 ff. 480
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Nipperdeys, der gerade die systematische Stellung der Menschenwürdegarantie im Grundgesetz als zwingendes Argument für die Annahme des Grundrechtscharakters erachtet.483 Der Bezug auf die Wortwahl der nachfolgenden Absätze ist als eine rein formalistische Einwendung zu sehen, die nicht zu überzeugen vermag.484 Dürig argumentiert zudem Art. 1 Abs. 1 GG solle in Abweichung von der Orientierungsnorm des Art. 100 BayVerf. eben kein subjektives Recht bieten, sondern eine zentrale Norm des objektiven Rechts sein.485 Dies sei als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers in der Ausgestaltung des Art. 1 Abs. 1 GG berücksichtigt worden. In gleicher Weise führt Gröschner an, der Menschenwürde komme Prinzipien- und kein Grundrechtscharakter zu.486 Die alleinige Ausrichtung als zentrale und richtungsweisende Norm sei gewollt gewesen. Ausgehend von dem angenommenen „Eigen-Sinn“ des Art. 1 Abs. 1 GG spräche auch die Systemarchitektur des Stufenaufbaus gegen eine Grundrechtsgewährleistung. Die einzelnen Absätze der Norm würden entsprechend in drei Stufen eine Steigerung der normativen Bindung bewirken und sich in steigernden Formulierungen „vom nicht-normativen WürdePrädikat ,unantastbar‘ über das schwach-normative ,Bekenntnis‘ zu unveräußerlichen Menschenrechten bis zur normativen Bindung an die Grundrechte ,als unmittelbar geltendes Recht‘“ widerspiegeln.487 Dieser Ansatz ist als solcher nicht gänzlich von der Hand zu weisen, vermag aber mit Blick auf die Bedeutung der Norm nicht vollends zu überzeugen. Es lässt sich entgegenhalten, dass die Annahme einer gestuften Geltung und entsprechend abgestuften normativen Kraft der einzelnen Absätze der Bedeutung der Würdegarantie widersprechen würde. Gerade die statuierte Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG bindet die staatliche Gewalt und war als eine Art „Bollwerk“ gegen Missachtungen der Menschenwürde intendiert.488 Sähe man darin nur einen objektiven Rechtssatz ohne Anspruchscharakter, so würde die „strukturgebende Fundamentalnorm der Menschenwürde“ nicht nur nicht in angemessenem Umfang berücksichtigt, sondern es liefe nahezu der Systematik des Grundgesetzes zuwider.489 Ferner wird durch die Verwendung des Wortes „darum“ in Absatz 2 lediglich ausgedrückt, dass die einzelnen Grundrechte der Sicherung der Menschenwürde dienen. Die Verwurzelung aller Grundrechte in der Menschenwürde, die vom Bundesverfassungsgericht als eine zentrale Bedeutung der Wür483
Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 12 f. 484 Vgl. dazu die Ausführungen von Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherung an einen schwierigen Verfassungsrechtssatz, JuS 1995, 857 (858). 485 Vgl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (119). 486 Vgl. zum Folgenden insgesamt Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip der Grundrechte, in: Siegetsleitner/Knoepffler (Hrsg.), Menschenwürde im interkulturellen Dialog, 2005, 17 (21). 487 Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip der Grundrechte, in: Siegetsleitner/Knoepffler (Hrsg.), Menschenwürde im interkulturellen Dialog, 2005, 17 (21). 488 Vgl. die Ausführungen bei Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 6. 489 Vgl. dazu die Ausführungen von Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 5 ff.
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degarantie erachtet wird, knüpft unmittelbar an Absatz 2 an, der in diesem Sinne zu verstehen ist. Dies bedeute jedoch nicht, so betont es auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich, dass sich daraus zwingend folgern ließe, dass Art. 1 Abs. 1 GG keine Grundrechtsgarantie enthalte.490 Im Gegenteil benenne Art. 1 Abs. 2 GG vielmehr den zentralen Legitimationszusammenhang, ohne damit die Normqualität des Absatzes 1 oder des gesamten Artikels 1 zu beeinflussen oder festzulegen.491 Zudem bekräftigt das Bundesverfassungsgericht die Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG als „letzte Wurzel und Quelle aller später formulierten Grundrechte“ und ist, so Nipperdey „damit selbst das materielle Hauptgrundrecht“.492 Die Argumentation, ein grundrechtlicher Würdeschutz des Menschen bestehe nur, soweit dieser in einem der folgenden Grundrechtsartikel konkretisiert werde, widerspricht dem absoluten Schutzgedanken des Art. 1 Abs. 1 GG und ist somit widersprüchlich.493 Ebenso erweist sich die Formulierung des Art. 1 Abs. 3 GG insoweit nicht als taugliches Gegenargument, da nicht alle nachfolgenden Artikel echte Grundrechte im Sinne subjektiver Abwehrrechte und darüber hinaus auch jenseits des ersten Abschnitts grundrechtsgleiche Rechte zu finden sind, die als subjektive öffentliche Rechte gegen den Staat wirken.494 Außerdem spricht die Charakterisierung der Menschenwürde als Basis des grundgesetzlichen Wertsystems nicht gegen die Grundrechtsqualität des Art. 1 Abs. 1 GG, sondern ergänzt vielmehr dessen umfassendes Schutzkonzept. Dies wird durch die Aufnahme des Art. 1 Abs. 1 GG in Art. 79 Abs. 3 GG unterstrichen, der von den Grundsätzen des Staates spricht und den Würdeschutz somit in engem Zusammenhang mit den in Art. 20 GG niedergelegten Staatsgrundsätzen nennt.495 Aus diesem Grund überzeugt auch das Argument, die Aufnahme des Art. 1 GG in den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG spräche gegen die Rechtsnatur des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, nicht. Insgesamt wird deutlich: Aus der Regelung des Art. 1 Abs. 1 GG, der die Würde des Menschen als unantastbar statuiert, erwachsen objektiv-rechtliche Pflichten des Staates dahingehend, dass alle staatliche Gewalt zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet ist.496 Daraus folgt zunächst, dass der Mensch einen Anspruch auf diesen Schutz und die Achtung seiner Würde hat und sie ein Recht des 490
BVerfGE 61, 126 (137). Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 122. 492 Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 12. 493 Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 12. 494 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 122. 495 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 4. 496 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 30. 491
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Menschen als Person bilden.497 Ohne ein solches Recht wäre es nicht möglich, den vorgegebenen Achtungs- und Schutzanspruch effektiv zu verwirklichen. Aus der staatlichen Gewährleistungspflicht zugunsten der Würde ist ein subjektiv-rechtlicher Charakter der Norm abzuleiten, der einen klagbaren Anspruch gewährt.498 So kann, wenn man die Klagbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG anerkennt, der Einzelne die Pflicht des Staates zum Schutz und Achtung der Würde im Rechtsweg geltend machen und im Wege der Verfassungsbeschwerde erwirken. In diesem Zusammenhang liefert die gerade durch den Würdesatz geschützte Subjektqualität des Einzelnen ein starkes Argument für die Annahme als Grundrecht, da es widersinnig wäre, gerade dem Basissatz des grundgesetzlichen Freiheitssystems die Eigenschaft als Grundrecht abzusprechen.499 Betrachtet man ferner die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Frage, ob die Würdenorm ein individuell einklagbares subjektiv-öffentliches Recht ist, so war diese lange Zeit nicht eindeutig – und ist es nach Meinung einiger Autoren immer noch nicht.500 Einerseits bejahte das Bundesverfassungsgericht von Anfang an die Grundrechtsqualität und bezeichnete Art. 1 Abs. 1 GG ausdrücklich als Grundrecht,501 andererseits charakterisierte es die Menschenwürde in einigen seiner Entscheidungen eher als dirigierendes Fundamentalprinzip und ließ dabei die Frage nach der Gewährung eines konkreten Rechts offen. Aus einer Vielzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit der Menschenwürde befassen, wird jedoch explizit502 oder implizit503 497 Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 11 f. 498 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 29 f. und ebenso exemplarisch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 132, 134 zur Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetz. In dieser Entscheidung betont das Gericht ausdrücklich das aus Art. 1 Abs. 1 GG nicht nur ein Grundrecht, sondern ein Menschenrecht abgeleitet werden muss. 499 Vgl. die Darstellung bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 123. 500 Sowohl Dreier als auch Gröschner gehen davon aus, dass die Frage, ob der Menschenwürde Grundrechtsqualität zuerkannt werden kann oder nicht, weder eindeutig entschieden noch eingehend beantwortet werden kann. Dabei spricht sich Gröschner eher gegen und Dreier eher für einen Grundrechtscharakter der Menschenwürde aus. Vgl. Gröschner, Menschenwürde als Konstitutionsprinzip der Grundrechte, in: Siegetsleitner/Knoepffler (Hrsg.), Menschenwürde im interkulturellen Dialog, 2005, 17 (21 f.) sowie Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 121 ff. 501 BVerfGE 1, 332 (343); 15, 249 (255); 61, 126 (137); 109, 133 (150). 502 So etwa BVerfGE 15, 249 (255) – „das Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG“; 15, 283 (286) – „sein Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG“; 28, 151 (163) – „Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG“; 61, 126 (137) – „das in Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht“. 503 So BVerfGE 1, 332 (333, 343, 348); 12, 113 (122 f.); 13, 132 (152); 27, 1 (5); 45, 187 (229); 52, 256 (261); 65, 1 (3, 41 f.); 71, 183 (190, 201); 75, 369 (380); ganz deutlich dazu noch einmal BVerfGE 109, 133 (151): „Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG“.
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deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht von einem Grundrechtscharakter der Menschenwürde ausgeht.504 In neueren Entscheidungen geht das Bundesverfassungsgericht zudem noch einen Schritt weiter und nimmt die Funktion der Würdenorm als Grundrecht (zwingend) an.505 Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer seiner ersten Entscheidungen die Abwehrfunktion der Würdegarantie, im Sinne der klassischen Grundrechtsfunktion des status negativus betont.506 Es sprach dabei ausdrücklich von der Menschenwürde als Grundrecht: „Die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidungen nach diesen Maßstäben ergibt: Das Oberlandesgericht und der Bundesgerichtshof haben erkannt, daß eine Spannungslage zwischen den durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Bereichen besteht und daß diese durch eine Abwägung gelöst werden muß […]. Würdigt man die angefochtenen Entscheidungen in ihrem Gesamtzusammenhang, so ist nicht festzustellen, daß sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und vom Umfang der Schutzbereiche der beiden Grundrechte beruhen. Insbesondere lassen die Entscheidungen keine fehlerhafte Auffassung vom Wesen des bei der Abwägung unterlegenen Grundrechts, auf das sich die Beschwerdeführerin beruft, erkennen.“507
Eine Begründung für die Annahme des Grundrechtscharakters des Art. 1 Abs. 1 GG seitens des Bundesverfassungsgerichts erfolgte jedoch nicht; hierin wurde kein einer näherer Begründung bedürftiges Verfassungsproblem gesehen.508 Dennoch wurde deutlich, dass es sich bei der Würdegarantie um ein Grundrecht handeln muss, da das Gericht die Menschenwürde ausdrücklich als solches bezeichnet. Verschiedene Annahmeentscheidungen zu Verfassungsbeschwerdeverfahren in Zusammenschau mit den Vorgaben des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG lassen zu dem die Folgerung zu, dass es sich bei Art. 1 GG um ein Grundrecht handeln muss, da Art. 1 Abs. 1 GG insoweit als mögliches verletztes Recht angenommen wird.509 Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG können nur Verletzungen von Grundrechten und so genannten grundrechtsgleichen Rechten Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein. Nur wenn es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um ein solches Recht handelt, kann eine darauf gestützte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen werden 504
Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 5 m.w.N. So etwa die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 109, 133 (150 f.). 506 Vgl. BVerfGE 30, 173 (197 f.). Vgl. dazu ebenso BVerfGE 1, 97 (104); 27, 1 (6); 30, 1 (25 f.); 72, 105 (115 ff.); 109, 279 (312). 507 BVerfGE 30, 173 (197 f.). Hervorhebung nicht im Original, zum Zwecke der Klarstellung durch die Verfasserin vorgenommen. 508 Siehe Hömig, Menschenwürdeschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 25 (27). Vgl. ebenso v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28. 509 So z. B. in BVerfGE 30, 173 in der Art. 1 GG mit gerügt wird. Siehe ebenso BVerfGE 1, 97 (104); 27, 1 (6); 30, 1 (25 f.); 72, 105 (115 ff.). 505
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und auch Erfolg haben, da sie sonst jeglicher Grundlage entbehren würde. Diese Einbeziehung in die rügefähigen Rechte des Art. 93 GG bestärkt die Annahme des Grundrechtscharakters der Würdegarantie und ist ein weiteres starkes Indiz für den Grundrechtscharakter der Würdegarantie. Die Menschenwürdegarantie bildet eine Besonderheit im Rahmen der Grundrechtsnormen, denn die Funktion als subjektives Abwehrrecht und sekundäre Schutzpflicht steht neben der ihr zukommenden prägenden Funktion für die Ausrichtung der Rechtsordnung. Während die Grundrechte in der Regel einen bestimmten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit schützen und sich mit ihrem Schutzbereich konkret auf diesen beziehen, ist der Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG nicht an einen solchen sachlich geprägten Schutzbereich gebunden und geht insoweit über die „normale“ grundrechtliche Wirkung hinaus.510 Der Schutzbereich der Menschenwürde kann in einem Katalog einzelner Rechte und Garantien weitgehend erfasst werden, muss aber ferner stets in Ansehung des konkreten Einzelfalles geprüft werden.511 Das Bundesverfassungsgericht betonte wiederholt die Bedeutung des Würdesatzes in seinen grundsätzlichen Funktionen und die Konkretisierungsnotwendigkeit im Einzelfall, wobei es auch auf die Notwenigkeit hinweist, Fallgruppen oder Regelbeispiele zu bilden: „Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert […]. Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen […].“512
Die interpretationsoffene Fassung der Norm macht eine Konkretisierung für die Anwendung unausweichlich. Nur so kann in Ansehung des jeweiligen Falles den individuellen Umständen Rechnung getragen werden. Dabei kommt dem Gesetzgeber gerade bei den aus der Menschenwürde abgeleiteten Leistungsrechten, wie etwa dem Recht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums, ein Gestaltungsspielraum zu.513 Unter Achtung der Vorgaben des Würdeschutzes kann der Gesetzgeber die notwendige normative Absicherung ausgestalten. Dies bestärkt die Sicherung eines umfassenden Schutzes der Menschenwürde, der stetig im Wege notwendiger Anpassungen an neue Anforderungen gewahrt wird.
510
Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 9. Vgl. ebenso Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 57. 511 Vgl. dazu die Ausführungen im Weiteren und die Darstellung bei Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik 7 (1999), 137 (148). 512 BVerfGE 109, 279 (311 f.). 513 BVerfGE 125, 175 (222). Die Ausführungen beziehen sich im Rahmen dieser Entscheidung auf die Sicherung des aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 1 GG folgenden Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.
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Die Gegenüberstellung der verschiedenen Aspekte, sowohl für als auch gegen eine Charakterisierung der Menschenwürde als Grundrecht, legt den Schluss nahe – in Übereinstimmung mit der wohl herrschenden Meinung und vor allem dem Bundesverfassungsgericht – die Grundrechtsqualität der Menschenwürde anzunehmen. Auch wenn hinzukommend die Funktion als Fundamentalprinzip bejaht wird – dazu im Weiteren –, ist dies ein Nebeneinander; die Funktionen gehen Hand in Hand und ergänzen und verstärken sich wechselseitig. Insbesondere der interpretationsoffenen Formulierung der Menschenwürde, die eine (gerichtliche) Interpretation und Konkretisierung erfordert, ist geschuldet, dass es dem Gericht überlassen sein sollte, den Umgang der Praxis mit der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG zu bestimmen. In diesem Zusammenhang geht die Aussage des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Grundrechtsqualität auch konform mit dem Willen des Gesetzgebers. Die Formulierungen der Absätze 2 und 3 des Art. 1 GG sprechen nicht dagegen; vielmehr bekräftigt Absatz 3 in konkreterer Form die Aussage des Absatzes 1 Satz 2 und verstärkt nur dessen Vorgaben.514 Aus diesen Absätzen wird darüber hinaus die „komplexe Stufenstruktur“ der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG deutlich.515 b) Art. 1 Abs. 1 GG als Fundamentalnorm (1) Grundannahme Die Funktion der Menschenwürdegarantie als Grund- oder Fundamentalnorm ist im Gegensatz zur Frage des Grundrechtscharakters nahezu unumstritten.516 Kritik an einer solchen Klassifizierung der Menschenwürde als Fundamentalnorm und Basis der Rechtsordnung, ist rar gesät.517 „Als Basis der Schutzpflichtenfunktion gilt Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG – ,Schutz der Menschenwürde‘ – und die Funktion der Grundrechte als Wertentscheidungen für den gesamten Bereich der Rechtsordnung“.518 Auch wenn die Begrifflichkeiten variieren, herrscht weitgehend Einigkeit hinsichtlich der 514
Vgl. Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 13. 515 Lohse, Die Würde des Menschen ist unantastbar, DVP 2005, 221 (221). 516 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 5, 8 ff.; Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 42, 121 ff.; Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33). Vgl. außerdem Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 93 (93); Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, 9 f.; Fenner, Menschenwürde – eine „Leerformel“? Das Konzept der Menschenwürde in der Bioethik, AZP 32 (2007), 137 (140). 517 Im Ansatz kritisch dazu Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 21 ff. 518 Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, 241 (244) m.w.N.
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grundlegenden Funktion der Menschenwürde: Als Ausrichtung der Verfassung, als Orientierungspunkt, als oberstes Konstitutionsprinzip, Fundament und Basiswert. Die Funktion als Fundamentalnorm als einzige Funktion der Menschenwürde anzunehmen, stößt indes zum Teil auf erbitterten Widerstand.519 Denn der Würdesatz wird durch seine unterschiedlichen Funktionen geprägt und ausgezeichnet. Er ist daher in „sämtlichen seiner normativen Dimensionen zur Geltung zu bringen“.520 Gerade diese Vielschichtigkeit der Funktionen des Würdesatzes zeichnen die Besonderheit des Würdekonzeptes im deutschen Recht aus und bildet die Grundlage des differenzierten Würdeschutzes. Im „Bekenntnis zur ,Unantastbarkeit‘ der Menschenwürde liegt der Schlüssel“ zur Erfassung der einzigartigen normativen Wirkkraft der verfassungsrechtlichen Norm und des von ihr ausgehenden Schutzes und ihrer Bedeutung:521 Die Menschenwürde als Fundament des Verfassungsstaates.522 Mit dem Bekenntnis des Art. 1 Abs. 1 GG zur Menschenwürde sollte und soll die „neue Ordnung“ der Gesellschaft, die mit dem Grundgesetz geschaffen wurde, auf einen neuen Boden gestellt und auf eine andere Mitte bezogen werden als die Vorgängerverfassungen, allen voran die Weimarer Verfassung.523 Sie ist damit gleichwohl nicht einfach Ausdruck einer Verschiebung des Akzents, sondern vielmehr des gesamten Fundaments der Rechtsordnung und prägt ihre Ausrichtung.524 Der Würdesatz als Fundamentalnorm gibt der Rechtsordnung eine deontologische, antiutilitaristische Struktur vor, die die Beweggründe der Mütter und Väter des Grundgesetzes zur Schaffung des Art. 1 Abs. 1 GG und eines absoluten Schutzes der Menschenwürde widerspiegeln.525 Der Mensch als Individuum mit einem jeder Verrechenbarkeit entzogenen Eigenwert steht im Mittelpunkt und wird in seiner Achtung als Rechtsperson absolut geschützt.526 Der Würdesatz als Fundamentalnorm fungiert als absolute Grenze, die Rechte und Ansprüche des Einzelnen gegen staatliche und kollektive Interessen absichert. Die in diesem Zusammenhang auftretenden Überschneidungen mit dem zuvor aufgezeigten Schutzumfang des Wür519 Vgl. dazu die Ausführungen zur Bedeutung des Art. 1 Abs. 1 GG von Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (119 ff.) sowie Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 11 ff. 520 Vgl. hierzu insgesamt Schmidt-Jortzig, Zum Streit um die korrekte dogmatische Einordnung von Art. 1 Abs. 1 GG, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, 491 (505 f.). 521 Vgl. Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 93 (93). 522 Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit, 1991, 380; Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung, Der Staat 45 (2006), 189 (189). 523 Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, 9. 524 Vgl. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, 9 f. 525 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316); Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 1, Rn. 1. 526 Vgl. Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 1, Rn. 1 f.
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desatzes als Grundrecht unterstreichen die Vielschichtigkeit des Würdesatzes und die Geschlossenheit des mit ihm verbundenen Schutzkonzeptes. Die Würdegarantie ist auf den Menschen als Person ausgerichtet. „Würde haben heißt Persönlichkeit sein“527 stellte Dürig einst in seiner Kommentierung zur Menschenwürdegarantie fest. Jedoch legte Dürig seinen Ausführungen einen christlich geprägten Persönlichkeitsbegriff528 zugrunde, der seine Kommentierung in entscheidendem Maße beeinflusste. Dieser Persönlichkeitsbegriff ist nicht deckungsgleich mit dem heutigen Begriff der Rechtsperson. So gehört zum heutigen Begriff der Rechtsperson auch die Wahrung der körperlichen und seelischen Integrität, die durch Art. 1 Abs. 1 GG besonders in Verbindung mit den Grundrechten aus Art. 2 und Art. 3 GG geschützt wird. Die Einordnung Dürigs greift folglich bei genauerem Hinsehen zu kurz. Zudem erweist sich die Verknüpfung der Würde des Menschen mit der Persönlichkeit des Einzelnen mit Blick auf Säuglinge, Kleinkinder sowie schwer psychisch Erkrankte als problematisch und birgt insofern ein (erhebliches) Exklusionspotential, das dem absoluten Konzept der Würde zuwiderläuft. Daher ist eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der durch den christlichen Persönlichkeitsbegriff geprägten Kommentierung Dürigs geboten. Deutlich wird in den Ausführungen Dürigs zur Menschenwürde und zum Rechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG indes die grundlegende Qualifikation der Würde als Basiswert und oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts.529 Zweifel an dieser Einordnung als Fundamentalnorm hegen vor allem die Stimmen der Literatur, die eine Einordnung der Menschenwürde als Leerformel oder als bloßen Programmgrundsatz vornehmen wollen.530 Diese Sichtweisen der Menschenwürde sind verbunden mit dem Vorwurf, die Normierung des Art. 1 Abs. 1 GG weise mangels eindeutiger Inhaltsbestimmung keinerlei Wirkung auf.531 Außerdem solle unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Norm und durch die präambelartige Struktur nur eine Wertentscheidung getroffen werden, die jedoch keine normative Bindungswirkung entfalte.532 Dem ist gleichwohl entgegenzuhalten, dass sich schon in den Beratungsprotokollen des Parlamentarischen Rates zeigt, dass es sich gerade nicht um eine Leerformel handeln sollte, sondern vielmehr die inhaltliche Bestimmung aufgrund des bestehenden Begriffsverständnisses nicht not527
Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, 259 (261). Dürig sieht in der Menschenwürde einen sittlichen Wert, der – nachdem ein Hinweis auf Gott „als den Urgrund alles Geschaffenen“ sich in den Beratungen zur Entstehung des Grundgesetzes nicht durch zusetzten vermochte – die Grundlage der grundgesetzlichen Werteordnung bildet. Vgl. Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 1 f. sowie weiterhin Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, JR 1952, 259 (260 f.). 529 Vgl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81, 117 (119) und außerdem BVerfGE 61, 126 (137). 530 So etwa Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 2002, 21 ff. 531 Vgl. Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 2002, 21 ff. 532 So Hoerster, Ethik des Embryonenschutzes, 2002, 25 ff. 528
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wendig erschien.533 Im Übrigen sollte die Menschenwürde als stärkster Wert des Grundgesetzes festgelegt werden und ihre Normierung zukünftig als Bollwerk gegen jegliche Formen der Verletzungen der Menschenwürde fungieren.534 Die Annahme der Wirkungslosigkeit verkennt sowohl diese Bedeutung als auch die Zielsetzung der Norm und ist somit unter dem Eindruck der praktischen Bedeutung als Fundament abzulehnen. (2) Modifikation: Ein Recht darauf, Rechte zu haben (Arendt/Enders) Einen weiteren Aspekt im Hinblick auf die Ausrichtung des Würdesatzes als Fundamentalnorm bietet Enders: Er geht von der Annahme aus, dem Einzelnen werde durch die Menschenwürde ein Recht garantiert, Rechte zu haben.535 Er sieht die Menschenwürde als Fundament, den Einzelnen als Rechtssubjekt und Träger subjektiver Rechte anzuerkennen, der einen Anspruch auf Achtung seiner Person als solche hat. Er baut dabei im Wesentlichen auf einen Gedanken Hannah Arendts536 auf, die sich in ihren politischen und philosophischen Texten mit der Bedeutung der Menschenrechte und ihrem Gehalt kritisch auseinandergesetzt hat.537 Sie sah das Recht, (Menschen-)Rechte zu haben, als eine Erkenntnis der erfahrenen Verletzungen der Menschenrechte durch totalitäre Systeme. Erst durch Unterdrückung, Tyrannei und Barbarei sei der Verlust des Rechts, Rechte zu haben, erkennbar geworden. „Seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht“ seien, die das Recht auf Rechte verloren hätten und es nicht zurückzugewinnen im Stande seien, sei das Bewusstsein gegeben, dass es so etwas wie das Recht auf Rechte gebe.538 Zuvor sei das, was nun als Recht betrachtet werde, als „Kennzeichen des Menschseins“ wahrgenommen worden. Das Recht, Rechte zu haben, sei gleichbedeutend damit, in einem Bezugssystem zu leben, in dem man „aufgrund von Handlungen und Meinungen“ beurteilt werde.539
533
Vgl. dazu die Feststellung von v. Mangoldt, der im Rahmen der Beratungen ausführte: Es gehe in Bezug auf Art. 1 „mehr um Formulierungsfragen“, inhaltlich gingen die Meinungen „nicht weit auseinander“. Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 71 f. 534 Vgl. zur Intention, die mit der Normierung der Menschenwürde verbunden wurde, siehe v. Mangoldt, Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, AöR 75 a.F. (1949), 273 (275); Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, 8 f.; Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (1) m.w.N. 535 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 502 f. 536 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 61998, 614 ff. Siehe dazu zusammenfassend Anlauf, Hannah Arendt und das Recht, Rechte zu haben, MRM 2007, 299 ff. m.w.N. 537 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 61998, 559 ff. 538 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 61998, 614. 539 Vgl. insgesamt Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 61998, 614 f.
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Enders erweitert den Gedanken Arendts und konzentriert sich in seinen Überlegungen dabei speziell auf die Menschenwürde. Mit der Anerkennung des Menschen als Rechtssubjekt sei danach verbunden, dass auch das Recht des Menschen anerkannt sei, ein Recht auf Rechte zu haben. Dieses Recht auf Rechte spiegele sich folglich in der Feststellung der Rechtsfähigkeit des Menschen wider, deren allgemeinste Aussage die Menschenwürde sei.540 Er leitet aus der Menschenwürde das abstrakte Vermögen des Menschen ab, als vorstaatliches Subjekt mit Rechten anerkannt zu sein.541 Enders knüpft damit an den aus der Menschenwürdegarantie abgeleiteten Gedanken des Menschen als Rechtssubjekt an und entwickelt darüber hinaus den Gedanken Arendts weiter, dass es ein Recht, Rechte zu haben, geben müsse, da dies ein Kennzeichen des Menschseins sei. Anknüpfend an die philosophische Idee Kants sieht Enders zudem in der Subjektqualität des Menschen im Wesentlichen dessen (vorstaatliche) allgemeine Freiheit und damit auch die Möglichkeit des Menschen, Verpflichtungen einzugehen und die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen, angelegt.542 Dadurch bekommt der einzelne Mensch ein „Recht darauf, Rechte zu haben“ und diese Rechte nach seinen Vorstellungen wahrzunehmen.543 „Als Rechtsgrund der Grundrechte statuiert die Menschenwürde […] das objektive Prinzip sämtlicher möglichen Grundrechtspositionen, das als Interpretations- und Abwägungsmaßstab die Prinzipienkollisionen beherrscht und dadurch, ohne selbst an Absolutheit einzubüßen, auch die im Prinzipienkonflikt unterliegende Position in das große Ganze einbettet“.544 Damit wird der Charakter der Menschenwürde als Fundamentalnorm unterstrichen, die als „Rechtsgrund der Grundrechte“ die Grundlage der subjektiven Rechte des Einzelnen bildet.545 Durch die Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG werde das abstrakte Vermögen, schon vorstaatliches Subjekt zu sein, als allgemeiner Grundsatz statuiert, der durch die Menschenwürde und ihre Normierung zur Anerkennung des Menschen als Rechtssubjekt ausgeweitet werde.546 Der Mensch kann dadurch Subjekt möglicher Rechte sein, ihm kommt die Rechtsfähigkeit als Mensch und damit ein Recht auf Rechte zu.547 Diesen Ansatz spiegelt auch das Verständnis des
540
Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 503. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 502 f. 542 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 501 f. 543 Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 502 f. 544 Enders, Die Menschenwürde als Recht auf Rechte – die mißverstandene Botschaft des Bonner Grundgesetzes, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 49 (55). 545 Enders, Die Menschenwürde als Recht auf Rechte – die mißverstandene Botschaft des Bonner Grundgesetzes, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 49 (55). 546 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 502 f. 547 Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 502 f. Vgl. auch die Ausführungen bei Kirste, Menschenwürde und die Freiheitsrechte des Status Activus, in: Gröschner/Kirste/Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, 2008, 187 (210 f.). 541
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Bundesverfassungsgerichts vom Einzelnen als Rechtsperson und Träger subjektiver Rechte wider. Die Würde bietet zudem als Fundamentalnorm personaler Autonomie den Schutz der persönlichen Selbst- und Weltvorstellung und erlegt der Rechtsordnung die Verpflichtung zum Schutz individueller Dispositions- und Gestaltungsfreiheit auf.548 Jedoch entfalte der Menschenwürdesatz dabei „keine unmittelbare Rechtswirkung“, so Enders.549 Gleichwohl werde die Autonomie durch verschiedene zwingende Vorgaben wie strafrechtliche Verbote, zivilrechtliche Vorgaben der Vertragsgestaltung ebenso wie erbrechtliche Heirats- und Religionsvorgaben eingeschränkt.550 Ein gewisses Maß eines solchen staatlichen Paternalismus steht der durch die Menschenwürde verbürgten Autonomie jedoch nicht entgegen, sondern ist vielmehr für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft und des Rechtssystems grundlegend.551 Nur durch einen partiellen staatlichen Paternalismus, durch die Vorgabe eines Rahmens des Zusammenlebens, der nicht durch den Einzelnen in seiner autonomen Entscheidung abänderbar ist, kann ein gemeinschaftliches Zusammenleben auf der Basis einer funktionsfähigen Rechtsordnung entstehen.552 Die Vorgaben einer grundlegenden Rechtsordnung dürfen nicht von einzelnen Individuen folgenlos unterlaufen werden. Würde ein solches Maß an Autonomie zugelassen, wäre die Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung ausgeschlossen. Eine Entscheidung, was zulässig ist und was nicht, hinge vom Willen des Einzelnen ab und wäre somit für Dritte nicht mehr erkennbar. Das dadurch entstehende Spannungsverhältnis spiegelt sich in den verschiedenen Bereichen des Rechts wider, die ein unterschiedliches Maß an Autonomie des Einzelnen zulassen. Vornehmlich im Bereich des Strafrechts, aber auch in anderen Bereichen des öffentlichen Rechts ist der Gestaltungsspielraum des Einzelnen begrenzt oder gar ganz ausgeschlossen, während das Zivilrecht in vielen Bereichen eine individuelle Ausgestaltung an den Bedürfnissen und Wünschen des Handelnden anerkennt. Die grundsätzliche Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen wird durch staatliche Entscheidungen in Form der Rechtsordnung begrenzt und zugunsten der Interessen des Kollektivs, aber auch zugunsten einzelner Rechte anderer eingeschränkt.553 Die Grenze bilden indes die Garantie der Menschenwürde und der Würdegehalt der einzelnen Grundrechtsgarantien. Der Würdesatz fungiert dabei als Grenze der Einschränkungen, die der Einzelne in seine 548
Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (312). 549 Enders, Die Menschenwürde als Recht auf Rechte – die mißverstandene Botschaft des Bonner Grundgesetzes, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 49 (59). 550 Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001, 226 ff. 551 Vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 501 ff., insb. 505 f. 552 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 132. Dieses gewisse notwendige Maß staatlichen Paternalismus umschreibt das Bundesverfassungsgericht mit dem Begriff der Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums. 553 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 132.
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Interessen und Rechte hinnehmen muss.554 Sie bildet als Fundamentalnorm die Grundlage der Rechte des Individuums. (3) Resümee Insgesamt ist die Charakterisierung der Menschenwürde als Fundamentalnorm überzeugend, greift – auch wenn man damit der Bedeutung der Norm gerecht wird – allein jedoch zu kurz. Auf diese Weise wird der Schutzrichtung und dem dahinter stehenden Konzept nicht vollumfänglich Rechnung getragen. Die Würdenorm bliebe eindimensional. Als Fundamentalnorm ist die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht unmittelbar im Rechtsweg durchsetzbar. Sie bindet gleichwohl die staatliche Gewalt, jedoch ist dem Einzelnen die Durchsetzung ohne Hinzutreten eines anderen Grundrechts verwehrt. Somit ist die Einordnung als fundamentale Basis zwar sinnvoll und sachlich richtig, dennoch muss für die Gewährleistung eines umfassenden und effektiven Schutzes die Anerkennung eines subjektiven individuell durchsetzbaren Rechts hinzutreten. Dies erfolgt durch die Charakterisierung der Menschenwürde als Grundrecht mit Doppelcharakter. So gewährt die Menschenwürde ein subjektives Recht, im Sinne eines Grundrechts, das zugleich Basisgrundrecht der Verfassung ist und sichert als Fundamentalnorm die Rechte des Einzelnen ab und trägt die gesamte Rechtsordnung. c) Fazit Die Menschenwürdegarantie als Grundrecht mit Doppelcharakter gewährt neben einer grundrechtlichen Garantie gleichermaßen das Fundament der Verfassung und prägt die Ausrichtung der Rechtsordnung als Basiswert.555 Nur wenn man zwischen der Garantie der Menschenwürde als abstrakt-generellem Verfassungssatz einerseits und dessen Konkretisierung hin zu einem individuellen Anspruch andererseits unterscheidet, wird der Bedeutung und Absolutheit der Würde gebührend Rechnung getragen.556 Die Menschenwürdegarantie bildet das Fundament und den Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertesystems,557 muss daneben aber immer auch als etwas Unverfügbares geachtet werden, das mitgedacht und berücksichtigt werden muss.558 Dies zeichnet den Charakter des Würdesatzes als Fundamentalnorm und Grundrecht 554
Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 131. Vgl. Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, 313 (314 f.) und ebenso Thomas, Würde als absoluter und relationaler Begriff, ARSP 87 (2001), 299 (302). 556 Vgl. Herdegen, Die Garantie der Menschenwürde: absolut und doch differenziert?, in: Gröschner/Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 93 (97); Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, 313 (314 f.). 557 BVerfGE 36, 174 (188). 558 BVerfGE 45, 187 (229). 555
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zugleich aus. Diesen Aspekt unterstreicht das Bundesverfassungsgericht, indem es ausführt: „Bei alledem darf nicht aus den Augen verloren werden: Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares. Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, sie zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen. Die Geschichte der Strafrechtspflege zeigt deutlich, daß an die Stelle grausamster Strafen immer mildere Strafen getreten sind. Der Fortschritt in der Richtung von roheren zu humaneren, von einfacheren zu differenzierteren Formen des Strafens ist weitergegangen, wobei der Weg erkennbar wird, der noch zurückzulegen ist. Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“559
Die durch die Rechtsprechung entwickelten Elemente und Funktionen der Menschenwürde spiegeln sich in den Ausführungen der Literatur wider. Der absolute kategorische Schutz der Würde aus ihrer Unverfügbarkeit heraus ist eine der prägenden Funktionen des Würdesatzes. Sie betont, dass die Würde des Einzelnen unter keinen Umständen verletzt werden darf und der Schutz der Würde des Menschen immer an aktuelle Entwicklungen anzupassen ist, um diesen absoluten Schutz zu gewährleisten. Auch wenn ein gewisses „Konkretisierungsdilemma“560 durch die gleichzeitige Abstraktheit als Prinzip und die Konkretheit als subjektive Anspruchsnorm kaum vermeidbar ist, kann nur der Ausgleich dieser Bereiche der Struktur der Norm gerecht werden. Eine Einordnung als Leerformel oder gar als Auffang(grund)recht verkennt den Charakter, die Bedeutung und Systematik der Norm. Art. 1 Abs. 1 GG ist als Rechtsnorm mit gleichzeitigem Fundierungscharakter einzigartig: Art. 1 Abs. 1 GG bildet eine verbindliche Rechtsnorm des objektiven Verfassungsrechts, die eine „richtungweisende Wertentscheidung“561 mit Bindungswirkung für alle Träger staatlicher Gewalt darstellt.562
2. Das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG zu weiteren Grundrechten Die zuvor nachgezeichnete besondere Struktur des Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt das Verhältnis der Würdegarantie zu den weiteren Grundrechten; anders als die Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte der nachfolgenden Artikel weist Art. 1 Abs. 1 GG durch seine Formulierung und den Gebrauch des Absolutums eine besondere Struktur auf. Es besteht keinerlei Relativierungsmöglichkeit, vielmehr stellt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG einen kategorischen Wertgrundsatz ohne weitere Ausfüh559
BVerfGE 45, 187 (229). Siehe dazu im Folgenden die Ausführungen unter C. II. 2. 561 Kahl/Waldhoff/Walter-Zippelius, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 und 2 (1995), Rn. 30. 562 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 44. 560
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rungen an die Spitze der Verfassung. Die Würdegarantie ist dabei anders als die allgemeinen Freiheitsrechte gegenüber den Spezialgrundrechten niemals subsidiär. Sie stellt keinen Auffangtatbestand dar und muss auch in Konfliktsituationen nicht weichen. Sie wirkt absolut und ist mit keinem Einzelgrundrecht oder sonstigen Verfassungswert abwägbar und folglich nicht relativierbar,563 wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen betont.564 Die so verstandene Menschenwürde „im Rechtssinn“ ist kein kollisionsfähiges Gut.565 Sie sichert den absoluten Achtungsanspruch des Einzelnen und prägt die Rechtsordnung in ihrer Ausrichtung. Darüber hinaus erachtet das Bundesverfassungsgericht jedoch die Spezialgrundrechte und nicht die Würdenorm als primären Prüfungsmaßstab: Die Menschenwürde sei nicht als Grenze der durch die Grundrechte getroffenen Entscheidungen vorgesehen.566 Der Schutz der Spezialgrundrechte gehe vielfach über das Maß des Schutzes der Würdenorm hinaus, nur für den Schutz eines unveräußerlichen Kernbereichs trete die Menschenwürdegarantie zu den einzelnen Schutzbereichen hinzu. Grundsätzlich sei es in der Verfassung vorgesehen, dass zunächst die Kontrolldichte der Grundrechtsgewährleistungen auszuschöpfen sei.567 Erst wenn diese an eine Grenze stößt und die Reichweite der grundrechtlich gewährten Schutzbereiche ausgeschöpft ist, wird ein Rückgriff auf den „Telos der Grundrechte – Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit –“ geboten und notwendig.568 So begründet Geddert-Steinacher den Zusammenhang der Einzelgrundrechte zu Art. 1 Abs. 1 GG dahingehend, dass „[d]ie universelle, zunächst inhaltlich unbestimmte Menschenwürde […] erst über die Grundrechte als Ausdruck der Kontinuität historischer Erfahrung orientierende Kraft für die Entscheidungsfindung im konkreten Fall [erlangt]“ und „[d]ie Bedeutung der Menschenwürde als Verfassungsprinzip […] sich daher im Kontext der Grundrechtsinterpretation [entfaltet]“.569 Die Menschenwürde ist aufgrund ihrer Bedeutung und ihrer besonderen offenen Struktur eng auszulegen, denn nur in Fällen erheblicher Eingriffe in die Rechte des Einzelnen und damit in die menschliche Würde greift der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 GG ein.570 Gleichwohl führt dies keinesfalls zu einem lücken- oder bruchstückhaften Grundrechtsschutz. Vielmehr ist, wie bereits Dürig feststellte, ein lückenloser Grundrechtsschutz gewährleistet.571 So sei 563
Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 46. Vgl. BVerfGE 93, 266 (293); ebenso wie BVerfG, NJW 2003, 1303 (1304). 565 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (318). 566 Vgl. BVerfGE 53, 257 (300). 567 Vgl. BVerfGE 53, 257 (300). 568 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 164. 569 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 164. 570 Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (2). 571 Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 13. 564
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„kein Fall denkbar, in dem ein staatlicher Angriff auf die Menschenwürde nicht bereits durch ein spezielles Grundrecht (und sei es auch nur durch die allgemeinen Rechte der Freiheit und Gleichheit) aufgefangen würde, wenn man nur Art. 1 I, wie es von Verfassungs wegen nötig ist, als Wertmaßstab in die Spezialinterpretation des jeweiligen Grundrechts einbezieht“.572
Während Dürig dabei keine Notwendigkeit sieht, die Menschenwürdegarantie selbst als Grundrecht einzuordnen, weist er in seinen Ausführungen darauf hin, dass die Menschenwürde als Wertungsmaßstab die Interpretation der Einzelgrundrechte entscheidend beeinflusst und ein Verstoß gegen die Menschenwürde zumindest immer über den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG oder das allgemeine Gleichheitsrecht in Art. 3 Abs. 1 GG aufgefangen würde.573 Diese Grundannahme Dürigs ist zwar durchaus überzeugend, birgt jedoch das Problem, dass sich die Beurteilung des Verhältnisses von Art. 1 Abs. 1 GG zu den anderen Grundrechten darauf stützt, dass Art. 1 Abs. 1 GG kein Grundrecht gewährt, sondern lediglich als „oberstes Konstitutionsprinzip unseres Rechts“ fungiert.574 Er geht dabei davon aus, dass dem Grundrechtsteil ein in sich geschlossenes Wert- und Anspruchssystem zugrunde liegt, das auf der „technische[n] Auflösung der Werte in Ansprüche“ aufbaue.575 Der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende Gesamtanspruch werde in einzelne Rechte aufgelöst; dies meine jedoch nicht, dass die Grundrechte aus der Würdenorm abgeleitet seien, sondern dass die Menschenrechte durch das „darum“ in Art. 1 Abs. 2 GG auf die Kernaussage in Abs. 1 zurückgeführt werden. Durch die so entstehende Verknüpfung seien die Menschenrechte unveräußerlich und als unverletzlich anzuerkennen.576 Es besteht folglich ein Fundierungsverhältnis des Art. 1 Abs. 1 GG zu den Grundrechten der Art. 2 bis 19 GG, insoweit ist, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dem Ansatz Dürigs zu folgen. Das „Fundierungsverhältnis“ der Menschenwürde zu den Grundrechten wird durch die Bezugnahme des Wortes „darum“ in Art. 1 Abs. 2 GG unterstrichen.577 Hiermit korrespondiert im Ergebnis der Gedanke der Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte, der sich im Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Würdegarantie zeigt und in den Funktionen der Menschenwürde zum Ausdruck kommt.578
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Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 13. Vgl. dazu insgesamt die Ausführungen Dürigs in: Maunz/Dürig-Dürig, GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 13. 574 Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 14 (Titel). 575 Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 6 (Titel). 576 Vgl. dazu insgesamt die Ausführungen Dürigs in: Maunz/Dürig-Dürig, GrundgesetzKommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 6. 577 Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (35). 578 Vgl. BVerfGE 93, 266 (293). 573
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Alexy wählt einen anderen Ansatz, er sieht das Verhältnis der Menschenwürde und der anderen Grundrechte als ein Nebeneinander: Er geht davon aus, dass in bestimmten Fällen ein allgemeines, „negatives“ Freiheitsrecht neben die Menschenwürde treten kann. Das „Prinzip der negativen Freiheit“ umfasst nach Alexy drei Prinzipien: Das Prinzip der negativen Handlungsfreiheit, das Prinzip eines möglichst hohes Maßes an Nichtbeeinträchtigung von Zuständen sowie das Prinzip, welches ein möglichst hohes Maß an Nichtbeseitigung von Rechtspositionen des Grundrechtsträgers fordert.579 Geht man von diesem Prinzip der negativen Freiheit aus und setzt es in Bezug zur Menschenwürde, lässt sich der so gewonnene Zusammenhang mit folgenden Thesen beschreiben: „Die negative Freiheit ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der Menschenwürde. Ein Rekurs auf die Menschenwürde kann daher niemals zu einer Ersetzung des ,formalen‘ Prinzips der negativen Freiheit durch von der Menschenwürde-Norm geforderte inhaltliche Prinzipien führen. Etwas für die Menschenwürde Notwendiges wird nicht deshalb, weil noch anderes für die Menschenwürde notwendig ist, zu etwas für die Menschenwürde nicht Notwendigem und damit Ersetzbarem.“580
Die Menschenwürde tritt für Alexy somit stützend und ergänzend neben die negative Freiheit. Im Sinne einer Konkurrenzlehre wäre dies ein Fall der Idealkonkurrenz, sodass bei gleichzeitiger Verletzung mehrerer Grundrechte durch identische Tatbestände alle betroffenen Normen nebeneinander rechtsfolgenbestimmend wären.581 Betrachtet man die Funktionen des Art. 1 Abs. 1 GG innerhalb der Systematik des Grundrechtsteils so zeigt sich, dass die Würdegarantie als eigenständige Gewährleistung neben die einzelnen Grundrechte tritt und zudem Maßstab für deren Auslegung, Interpretation und Abwägung ist. Ein „bloßes“ Nebeneinander wie Alexy es annimmt wird dem Verhältnis der Würdenorm zu den Grundrechten folglich nicht umfänglich gerecht, ebenso wie die von Dürig vorgenommene Auflösung in Ansprüche. Der Würdenorm kommt insoweit eine besondere Position zu. Art. 1 Abs. 1 GG enthält keinen lebensbereichsspezifischen Schutzbereich und ist ein klassischer Fall eines „abwägungsfeindlichen Grundrechts“,582 das anders als die Spezialgrundrechte keiner Abwägung mit anderen Rechten zugänglich ist. Eingriffe in den Schutzbereich der Würdenorm sind nicht zu rechtfertigen. Gewährleistungsbereich und Verletzungsgrenze des Würdesatzes sind identisch.583 Die Dimensionen der Garantie der Menschenwürde als Grundrecht, Fundamentalnorm und Grundwert spiegeln ihre vielfältigen Funktionen im Rahmen der Grundrechtsdogmatik und der Verfassung wider. Sie entfaltet regulative Wirkung auf 579
Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 318 f. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 321. 581 Vgl. zu dem Konkurrenzen im Rechtsfolgenbereich allgemein Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, 331 ff. Siehe zur Idealkonkurrenz: ebd., 332. 582 Möller, Abwägungsverbote im Verfassungsrecht, Der Staat 46 (2007), 109 (111). 583 Vgl. Schwarz, „Therapeutisches Klonen“ – ein Angriff auf Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos?, KritV 84 (2001), 182 (199 f.). 580
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die Grundausrichtung des Grundgesetzes. Sie prägt den gesamten Katalog der Grundrechte als deren Wurzel und sichert als absolute Grenze dessen, was einem Menschen als Rechtsperson angetan werden darf, einen Kernbereich des grundrechtlichen Schutzes, der jeglichen Eingriffs entzogen ist.584 Die Menschenwürde hebt sich dabei durch ihre einzigartige Struktur von den anderen Grundrechten ab und wird durch die nachfolgenden Grundrechte konkretisiert. So verstanden tritt sie in der Funktion als eigenständiges Grundrecht neben die einzelnen Grundrechte und steht nicht in einem Konkurrenzverhältnis zu den anderen grundrechtlichen Garantien. Der Würdesatz bildet ein Grundrecht sui generis, das Verletzungen des Achtungsanspruches der Würde des Einzelnen und seiner Anerkennung als Rechtsperson entgegensteht und diesen Schutz auch im Bereich der Einzelgrundrechte durch seine Ausstrahlungswirkung in den Kernbereich des jeweiligen Spezialgrundrechts absichert. 3. „Würde gegen Würde“ – Das Verhältnis von Achtungs- und Schutzpflicht zueinander Art. 1 Abs. 1 GG ist „der klassische Fall eines abwägungsfeindlichen Grundrechts“.585 Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde folgt die ausnahmslose Unabwägbarkeit. Anders als bezüglich der Spezialgrundrechte ist eine Abwägung der Menschenwürde mit anderen (Grund-)Rechten, auch solchen von Verfassungsrang, nicht möglich. Durch die Identität des Gewährleistungsbereichs und der Verletzungsgrenze ist jede Antastung zugleich eine Verletzung.586 Solche Verletzungen des Schutzbereiches der Menschenwürde können nicht gerechtfertigt werden, auch nicht durch die Berufung auf mögliche konfligierende Grundrechte Dritter oder andere verfassungsrechtlich garantierte Rechtspositionen.587 Problematisch erweisen sich in diesem Zusammenhang Fälle, in denen – scheinbar – eine „Würdekollision“ vorliegt und die Würde eines Rechtsträgers unter Berufung auf die Würde eines anderen Rechtsträgers angetastet werden soll. Die Möglichkeit einer solchen Würdekollision wird vielfach – zutreffend – negiert.588 Das vermeintliche „Menschen584 Vgl. dazu Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (312 f.). 585 Möller, Abwägungsverbote im Verfassungsrecht, Der Staat 46 (2007), 109 (111). 586 Vgl. Schwarz, „Therapeutisches Klonen“ – ein Angriff auf Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos?, KritV 84 (2001), 182 (199 f.). 587 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 119 f., 136; Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht?, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, 161 (172 f.). 588 Vgl. etwa Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (315 f.). Ebenso Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaates?, BayVBl. 2003, 481 (484 f.); Jahn, Gute Folter – schlechte Folter? Straf-,
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würdedilemma“589, das durch die Kollision der Abwehr- mit der Schutzpflicht gesehen wird, ist bei genauerem Hinsehen durch den Vorrang des Abwehrrechts, der bereits aus der Semantik der Norm folgt und den das Bundesverfassungsgericht unter anderem in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz heranzieht, nicht möglich.590 Die Abwehrpflicht ist bereits lexikalisch, d. h. in der Wortfolge, der Schutzpflicht vorgeordnet und wird daher als vorrangig erachten.591 Auf Grundlage dieser Annahme ist eine „Würdekollision“ nicht möglich.592 Gleichwohl wird in der Literatur die Möglichkeit einer „Würdekollision“ angenommen,593 wenn zum Teil auch als sehr selten und grundsätzlich schwer vorstellbar, sei sie nicht vollständig auszuschließen.594 Gerade in Entführungsfällen, so Wittreck, seien Konstellationen denkbar, in denen eine Würdekollision – der Würde des Opfers verfassungs- und völkerrechtliche Anmerkungen zum Begriff „Folter“ im Spannungsfeld von Prävention und Repression, KritV 87 (2004), 24 (48 f.). 589 Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331 (331). 590 Vgl. Möller, Abwägungsverbote im Verfassungsrecht, Der Staat 46 (2007), 109 (112) m.w.N. 591 Siehe vor allem Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, 689; Höfling, Wer definiert des Menschen Leben und Würde?, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer, Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, 525 (528); von Münch/KunigKunig, Grundgesetz-Kommentar, 62012, Art. 1, Rn. 34; Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (318); Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (20). Kritisch differenzierend dazu Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht?, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, 161 (180 ff.). Wittreck stellt dabei darauf ab, dass der Vorrang der Abwehrpflicht nicht pauschal angenommen werden könne, da dies wesentliche Aspekte der grundrechtlichen Dogmatik zum Verhältnis von Schutz- und Achtungsfunktion, die Struktur des Art. 1 Abs. 1 GG und den Verantwortungszusammenhang solcher Fälle verkenne. Ablehnend v. Mangoldt/Klein/StarckStarck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 79; Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 133. 592 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 12. 593 Siehe zur Annahme von Würdekollisionen vor allem Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1, Rn. 133; v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 79; Baldus, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung – absolut geschützt, aber abwägungsoffen, JZ 2008, 218 (224 f.); Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, 953 (955 f.); Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot – Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG –, DÖV 2003, 873 (879); vermittelnd Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, 689 (694, 695 ff.); kritisch dazu Jarass/Pieroth-Jarass, GGKommentar, 132014, Art. 1, Rn. 16; ablehnend Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (315 f.); Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 9. Vgl. dazu auch im Weiteren die Ausführungen zum Schutzumfang und Eingriffsbegriff der Menschenwürde. 594 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 133.
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mit der des Täters – möglich sei.595 Ebenso wird im Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit staatlicher „Rettungsfolter“ zur Rettung Unschuldiger die Möglichkeit eines Konfliktes Würde gegen Würde erwogen. Bezogen auf diese Szenarien werden verschiedene Lösungsansätze des Problems erörtert.596 Betrachtet man die gewählten Argumentationsansätze und die damit verbundenen Diskussionen werden die Schwierigkeiten im Umgang mit der Menschenwürdegarantie in solchen Fallkonstellationen und den unterschiedlichen Interpretationsansätzen in besonderem Maße deutlich. So erachtet Dreier die Situation einer solchen „Würdekollision“ als möglich, wenn „sich staatliche Organe im Einzelfall mit zwei gegenläufigen, aber gleichermaßen aus Art. 1 I GG ableitbaren Rechtspflichten konfrontiert sehen“.597 Eine Würdeverletzung sei dann unvermeidlich, denn nach Ausschöpfung aller anderen Mittel bestehe nur noch die Möglichkeit die Würde des Opfers zu schützen oder die des Täters zu achten, somit wäre entweder die Achtungs- oder Schutzpflicht verletzt.598 Eine Würdeverletzung sei danach in einer solchen Situation unvermeidlich und der Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision folglich als Lösungsmöglichkeit nicht von vorneherein ausgeschlossen.599 Denn, so auch Wittreck, die Achtungs- und die Schutzpflicht sind einander gleichgestellt,600 dies folge schon durch den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG: „zu achten und zu schützen“601. Eine
595 Vgl. Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht?, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, 161 (161). 596 Vgl. dazu die Darstellung bei Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot – Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG –, DÖV 2003, 873 (879 ff.) und ebenso bei Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaates?, BayVBl. 2003, 481 (483 ff.). Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Ladeur/Augsberg, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, 2008, 35 ff. und Jahn, Gute Folter – schlechte Folter? Straf-, verfassungs- und völkerrechtliche Anmerkungen zum Begriff „Folter“ im Spannungsfeld von Prävention und Repression, KritV 87 (2004), 24 (46 f.). 597 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 133. 598 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 133. Eine Gleichwertigkeit der Achtungs- und der Schutzpflicht nimmt auch Isensee an, der einen grundsätzlichen Vorrang des Abwehrrechts und ein Zurücktreten der Schutzpflicht verneint. Vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191, Rn. 296 ff. 599 Eingehend Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot – Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG –, DÖV 2003, 873 (879 ff.). Vgl. ebenso Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht?, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, 161 (161, 184 ff.). Vgl. auch Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 134. 600 Vgl. Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht?, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, 161 (161, 178). 601 Wortlaut Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG (Hervorhebung durch die Verfasserin).
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Vorrangigkeit der einen vor der anderen sei nicht gegeben und die dahingehende These sei (zumindest) anfechtbar.602 Diesem Ansatz ist entgegenzuhalten, dass in seinem solchen Fall die Achtungspflicht der Würde des einen (meist des Täters) zugunsten der Würde des anderen (meist des Opfers) zurücktreten muss; dies scheint mit der Absolutheit des Würdeschutzes schwer in Einklang zu bringen. Die Verletzung der Würde eines Menschen, gleich ob Täter oder Opfer, zugunsten eines anderen widerspricht der Gleichheit aller Menschen und ihrer Würde. Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, dass jeder Mensch als Person Würde besitzt und die Frage der Verletzung keinen Raum für eine Beurteilung anhand der voraussichtlichen Dauer des Lebens oder ähnlicher Kriterien lässt.603 Zudem kann „[n]iemand […] den Anspruch erheben, um den Preis der Würdeverletzung Anderer vor Entwürdigung geschützt zu werden“; ein solcher Anspruch auf Schutz der eigenen Würde auf Kosten der Verletzung des Achtungsanspruches der Würde eines anderen kann nicht bestehen und stünde im Widerspruch zu der normlogischen Struktur des Würdesatzes.604 Die eindeutige Rangfolge der Achtungs- zur Schutzpflicht würde dadurch verkannt und negiert. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher die Frage des Rangverhältnisses nicht eindeutig beantwortet, es hat jedoch in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes ausgeführt: „Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtwidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren. Ihren Grund hat auch diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet.“605
Dies ist dahingehend zu verstehen, dass die Achtungspflicht jede Handlung des Staates, die die Würde des Menschen verletzt, kategorisch verbietet. Daran schließt sich die Schutzpflicht an, die den Staat weiterhin verpflichtet auch nichtstaatliche Handlungen Dritter, die die Würde verletzten, zu unterbinden. Dies kann jedoch nicht unter der Verletzung der Würde Anderer geschehen. Der Achtungsanspruch muss damit der Schutzpflicht vorrangig sein. Die Bewertung einer Situation da602 Wittreck, Achtungs- gegen Schutzpflicht?, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit? Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005, 161 (176, 180). 603 BVerfGE 115, 118 (152). 604 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 605 BVerfGE 115, 118 (152) mit Verweis auf E 39, 1 (42); 46, 160 (164); 56, 54 (73).
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hingehend, welche Würdeverletzung in Kauf zu nehmen ist, kann unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG nicht getroffen werden. Für den Fall einer vermeintlichen Würdekollision bietet dies, geht man von einem Primat der Achtungspflicht aus, unweigerlich nur eine Entscheidungsmöglichkeit. Die Abwehrpflicht bildet die Grenze staatlichen Handelns, die einer Handlung des Staates im Rahmen einer aktiven Abwendung zur Erfüllung einer Schutzpflicht entgegensteht, soweit dies zugleich eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG darstellt.606 Die Verletzung des Achtungsanspruches zugunsten der staatlichen Schutzpflicht ist aufgrund des Vorrangs Ersterer ausgeschlossen.607 Daneben ist in diesem Zusammenhang der vornehmlich von Herdegen in seiner (Neu)Kommentierung des Art. 1 Abs. 1 GG vertretene Ansatz zu sehen, der von einer Differenzierung zwischen dem „Würdekern“ und dem peripheren, abwägungsoffenen Schutzbereich („Begriffshof“) ausgeht.608 Damit löste er die nahezu 50 Jahre bestehende Kommentierung Dürigs ab und schlug einen neuen Weg der Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG ein. Herdegens Ansatz beruht maßgeblich auf dem Gedanken, die Unabwägbarkeit der Menschenwürde in bestimmten Bereichen einer „wertend-bilanzierenden Konkretisierung“ zu eröffnen, um dadurch die Anwendung der Würdegarantie zu vereinfachen bzw. zu ermöglichen.609 Er differenziert dabei den Schutzbereich der Würdenorm in einem ersten Schritt weiter aus, danach muss zwischen dem „Würdekern“, der nicht angetastet werden darf und dem „Begriffshof“ unterschieden werden.610 Der „Würdekern“ zieht dabei einen engen Kreis um die von der Würdenorm absolut geschützten Bereiche, in die nicht eingegriffen werden darf. Die Bestimmung dieser Bereiche erfolgt nach Herdegen im Wege der Betrachtung der fraglichen Handlungen. So seien Handlungen aufgrund ihrer Modalität, ihrer Finalität oder in Ansehung des konkreten Falles im Wege einer bilanzierenden Betrachtung aller Umstände als Würdeverletzung zu bewerten. Der so definierte Würdeanspruch ist nach Herdegen absolut. Darüber hinaus ist jedoch auch ein Bereich gegeben, der den nach dieser Auffassung weiteren Schutzbereich der Würdenorm betrifft und der für eine bilanzierende Würdigung aller „für die Schwere des Eingriffs und des verfolgten Zwecks maßgeblichen Umstände offen ist“.611 In diesem Bereich hängt die Frage der Verletzung von der Gesamtbetrachtung des 606 von Bernstorff, Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie, Der Staat 47 (2008), 21 (24 ff., 28). 607 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 12. 608 Vgl. zum Folgenden insgesamt Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 47 ff. 609 Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 47. Vgl. auch die Darstellung bei Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, 2007, 87 (97). Zur Struktur und den Problemen der Neukommentierung Herdegens siehe auch Kohl, Menschenwürde: Relativierung oder notwendiger Wandel?, 2007, insb. 99 ff. 610 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 47 f. 611 Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 49.
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Einzelfalles ab, so mag eine Handlung als Verletzung der Menschenwürde erscheinen, die aber zur Rettung höchster Güter notwendig und daher als solche nicht als würdeverletzend zu beurteilen ist. Es kommt mithin auf die Intention der Handlung an. Wenn gute Gründe die Handlung rechtfertigen, ist ein Eingriff in den absolut geschützten Bereich der Würdenorm nicht gegeben.612 Herdegen nimmt mit dieser Argumentation im begrenzten Maße den vom Bundesverfassungsgericht 1970 im Rahmen des „Abhörurteils“613 herangezogenen Aspekt, die Intention des Verletzenden sei maßgeblich für die Beurteilung des Vorliegens einer Verletzung, erneut auf. Herdegen differenziert dabei den von der Würdenorm erfassten Schutzbereich in einen „Würdekern“, dessen Verletzung „rein gegenständlich-modal durch die Art der Behandlung in Abstraktion von weiteren Umständen begründet ist (etwa Folter, Genozid oder Massenvertreibung)“.614 In solchen Fällen erachtet Herdegen eine zwingende Feststellung einer Würdeverletzung als offensichtlich. In anderen Fällen hingegen, sei eine Würdeverletzung zwingend aufgrund der Finalität der Handlung festzustellen, so bei Rassendiskriminierungen. Außerhalb eines solchen „engen Kreises“, wie Herdegen es beschreibt, erfordere die Beurteilung einer Handlung als mögliche Würdeverletzung eine „wertende Gesamtwürdigung eines weiten Rasters relevanter Umstände“.615 Im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation wird der Eingriff in den Schutzbereich der Würdenorm in ein Verhältnis zur Intention und zum Ziel des Handelnden gestellt. Verfolgt der Handelnde einen „guten Zweck“ und will den Betroffenen nicht entwürdigen, handelt er folglich nicht mit einer verwerflichen Gesinnung, so kann im Ergebnis die Abwägung im Wege der Zweck-Mittel-Relation dazu führen, dass eine Verletzung der Menschenwürde danach nicht gegeben ist. Herdegen will eine solche Zweck-Mittel-Relation nur im Bereich des Begriffshof der Würde zulassen, der „Würdekern“ sei insoweit außen vor. Denn bei „diesem ,Begriffshof’ geht es um die Zone des Schutzbereichs, in der die Menschenwürde ,tangierende‘ Eingriffe ausnahmsweise bei einer bilanzierenden Gesamtwürdigung aller Umstände keine Würdeverletzung darstellen“.616 Bezogen auf die Frage des Umgangs mit einer (vermeintlichen) „Würdekollision“ scheint durch den Ansatz Herdegens eine mögliche Lösung im Wege der Konkretisierung des Würdeanspruches und der teilweisen Aufgabe des absoluten Schutzes zugunsten einer Abwägung eröffnet.617 Im Wege einer Zweck-Mittel-Relation kann für einen Teil der als „Würdekollision“ erörterten Fälle zu mindestens eine Lösungsmöglichkeit erwogen werden, indem die Frage der Betroffenheit des „Würdekerns“ und die Intention der Handlung mit in die Betrachtung einbezogen werden. Denn wird nach der von Herdegen vorgelegten Definition eine Betroffenheit des 612
Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 50. BVerfGE 30, 1. 614 Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 47. 615 Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 47. 616 Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 49. 617 Vgl. dazu insgesamt Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 46 ff. 613
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„Würdekerns“ ausgeschlossen, so ist die Bewertung der Situation im Wege einer umfassenden Gesamtwürdigung der Umstände möglich, die im Ergebnis eine Handlung als Würdeverletzung ablehnen kann – soweit nur der „Begriffshof“ betroffen ist. Dieser Gedanke, die Menschenwürde einer Abwägung zugänglich zu machen und in extremen Fällen gar eine Einschränkung zuzulassen, taucht gerade im Hinblick auf die Diskussion der Zulässigkeit einer möglichen Rettungsfolter, insbesondere auch aus Anlass des Entführungsfalles Jakob von Metzlers, wiederholt auf.618 Die Abwägbarkeit der menschlichen Würde wurde in diesem Zusammenhang vermehrt in der Literatur diskutiert und die Unantastbarkeit in diesem Kontext infrage gestellt.619 Dem ist ebenso kritisch zu begegnen wie dem Vorschlag Starcks, der in einem Fall von „Würde gegen Würde“ eine Abwägung dahingehend zulassen will,620 dass eine Lösung im Wege der Unterwerfung der Gesamtsituation unter eine Zweck-MittelRelation in Betracht gezogen werden kann. Die Würdeverletzung solle dabei, eingebunden in eine Gesamtschau aller modalen und finalen Elemente hinsichtlich der Absichten des Eingriffs, in einer Relation des Zwecks des Eingriffs zu den gewählten Mitteln beurteilt werden.621 Diese Herangehensweisen sind insoweit insgesamt abzulehnen, als sie mit dem kategorischen Würdeschutz des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar sind und daher in letzter Konsequenz als nicht verfassungsgemäß erachtet werden müssen. Der absolute Schutz der Würdegarantie verbietet jegliche Qualifizierung, ebenso wie Quantifizierung der Würde. Zöge man die Abwägung „Würde gegen Würde“ in Betracht, würde sie dadurch ihren spezifischen, sie auszeichnenden Status einbüßen, der sie von einschränkbaren Rechten unterscheidet.622 Daher sind jegliche Ansätze, 618 Vgl. die Ausführungen von Jäger, der sich mit der Frage der Rechtfertigungsmöglichkeit der Folter und des Flugzeugabschusses unter Bezugnahme auf verschiedene Ansätze auseinandersetzt. Vgl. Jäger, Folter und Flugzeugabschuss – rechtsstaatliche Tabubrüche oder rechtsguterhaltende Notwendigkeiten?, JA 2008, 678 (679 ff.). 619 So etwa Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar, 2002; Wetz stellt hier sehr deutlich dar, dass die Menschenwürde geprägt durch religiöse und philosophische Konzepte sich selbst im Wege stehen kann und vermehrt für verschiedene Diskussionen als Argument genutzt wird, ohne jedoch dem Anspruch als säkulares Konzept zu genügen. Wetz selbst fasst es im Umschlagtext seines Buches dahingehend zusammen: „Die Würde des Menschen wurde mit dem Grundgesetz zum höchsten Rechtsgut unserer Gesellschaft erhoben. Doch ist die unantastbare Menschenwürde, schaut man näher hin, nicht eine unhaltbare Illusion? Eine provokante Frage mit weitreichenden Folgen“. Vgl. weiterhin die Ausführungen bei v. Mangoldt/Klein/StarckStarck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 33 ff.; Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, 2007, 87 (95 ff.); Böckenförde, Recht – Staat – Freiheit, 1991, 407 ff. 620 Vgl. die Ausführungen von Starck, Zur Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG, Anmerkung zur Entscheidung BVerfGE 115, 118, JZ 2006, 417 (417 f.). 621 Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 49 f. 622 Kluth, Menschenwürde zwischen Naturrecht und Tabu, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, 535 (546); vgl. dazu
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die Menschenwürdegarantie unter einen Abwägungsvorbehalt zu stellen, aufgrund der Unvereinbarkeit mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG abzulehnen.623 Denn eine Abwägung der Würde des Menschen führt unweigerlich zu einer nicht hinnehmbaren und der Struktur des Würdesatzes entgegenstehenden Relativierung ihres Schutzes. Dies kann sich im Ergebnis in der konkreten Situation als unbefriedigend herausstellen, insbesondere unter dem Aspekt, dass es dem „Opfer“ einer solchen Situation nicht nützt. Dennoch, vor dem Hintergrund der Struktur und der Absolutheit des Würdeschutzes kann eine Prüfung der möglichen Handlungsoptionen nicht zur Zulassung einer abweichenden, relativierenden Herangehensweise führen. Folglich ist auch dem in diesem Zusammenhang entwickelten Ansatz die Menschenwürde und den Lebensschutz zu entkoppeln, um dadurch eine Einschränkung der Würde zu ermöglichen, eine klare Absage zu erteilen.624 Eine solche Entkoppelung knüpft an den Gedanken an, Verletzungen des Lebensschutzes einer Rechtfertigung zugänglich zu machen, unabhängig von einer möglichen Betroffenheit des Würdeschutzes. Als Beispiel wurde dabei die Zulässigkeit des gezielten Tötungsschusses und damit der Tötung des Einzelnen durch staatliches Handeln herangezogen. In solchen Ausnahmefällen liegt jedoch keine Entkoppelung der Würdegarantie und des Lebensschutzes vor, sondern vielmehr ist in einem solchen Fall das staatliche Handeln auf ein „Momentum eigenverantwortlicher Lebensgestaltung zurückzuführen“.625 Dabei wird jedoch nicht eine „Entkoppelung“ im Sinne der vollständigen Trennung des Lebensrechts und der Würdegarantie vorgenommen.626 Der Zulässigkeit einer solchen staatlichen Tötung liegt vielmehr der Gedanke zugrunde, dass nicht jeder Eingriff in das Lebensgrundrecht auch unmittelbar eine Verletzung der Garantie der Menschenwürde verursacht.627 Es bedarf daher einer differenzierten Betrachtung, ob ein Eingriff in das Grundrecht auf Leben zugleich eine Verletzung der Menschenwürde darstellt. Dieser Ansatz ist jedoch nicht mit der angesprochenen „Entkoppelung“ der Menschenwürde und des Lebensschutzes gleichzusetzen. Er beruht vielmehr auf einer differenzierten Betrachtung des erfolgenden Eingriffs und der betroffenen Schutzbereiche. Denklogisch ist eine solche Entkoppelung schwer zu vollziehen. weiterhin die Auseinandersetzung von Sandkühler mit der Frage der Abwägbarkeit der Menschenwürde: Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, 2014, 303 ff. 623 Vgl. Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, JR 2003, 404 (408); Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaates?, BayVBl. 2003, 481 (484 f.). 624 Vgl. die Ausführungen dazu von Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, 2007, 87 (96 f.). 625 Sodan, in: Haratsch/Leisner/Schenke et. al. (Hrsg.), GG, 22011, Art. 1, Rn. 15. 626 Höfling, Wer definiert des Menschen Leben und Würde?, in: Depenheuer/Heintzen/ Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, 525 (529). 627 Höfling, Wer definiert des Menschen Leben und Würde?, in: Depenheuer/Heintzen/ Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, 525 (528 f.).
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Eine Entkoppelung würde dazu führen, dass die Verletzung des Lebensschutzes einer grundrechtlichen Rechtfertigung zugänglich gemacht würde und die in solchen Fällen durch die Modalitäten der Handlung möglicherweise zugleich vorliegende Verletzung der Menschenwürde ausgeschlossen würde. Dies würde den Funktionen der Menschenwürdegarantie als Wurzel der Grundrechte und strukturgebende Basis zuwiderlaufen, indem der Menschenwürdegehalt des Lebensschutzes negiert und die nichtkonsequentialistische Ausrichtung der Grundrechte einem utilitaristischen Verständnis weichen würde. Dies ist mit der Systematik des Würdeschutzes nicht vereinbar, denn jedes Grundrecht enthält einen durch die Menschenwürde geschützten Kernbereich, dessen Schutz absolut gewährleistet werden muss. Dabei ist kein Platz für eine utilitaristische, an der Maximierung des Nutzens der Allgemeinheit ausgerichtete Beurteilung der Handlung. Ferner läuft dies dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom menschlichen Leben als vitale Basis der Würde628 zuwider. Eine Entkopplung des Lebensrechts und der Würdegarantie sind somit mit den Vorgaben des Grundgesetzes nicht vereinbar.
II. Theoretische Absicherung der normativen Aussage der Menschenwürde – Schutzbereichs- und Eingriffsbestimmung 1. Ausgangslage Die im Zuge der Anwendung der Menschenwürdegarantie notwendige Konkretisierung erfolgt vor allem aus dem Kontext der Grundrechte und der übrigen Verfassungsnormen. Erachtet man die Menschenwürdenorm des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht sui generis mit Doppelcharakter, wie die vorliegende Darstellung annimmt, so stellt sich aus der grundrechtstheoretischen Perspektive die Frage nach dem schon angesprochenen spezifischen grundrechtlichen Schutz- und Verletzungsbereich der Würdenorm.629 Die klassische Differenzierung zwischen Schutzbereich und Eingriff bildet die wesentliche Struktur der Grundrechtsprüfung und wäre bei einer geltend gemachten Verletzung der Menschenwürde als Grundrecht auf die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG anzuwenden.630 Die Bestimmung des Schutzbereiches und des Eingriffsbegriffes in Bezug auf die Würdenorm ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich, da die Anwen628
BVerfGE 39, 1 (42). Vgl. zur Notwendigkeit der Differenzierung von Schutzbereich, Eingriff und Schranken hinsichtlich der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (35). 630 Vgl. Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (33). 629
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dung durch die besondere Offenheit der Norm, ihre sachliche Bedeutung und ihren spezifischen normativen Rang beeinflusst wird.631 Diese zeigen sich zum einen in der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG, der von der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde spricht. Die Menschenwürde wird damit im Sinne einer absoluten Garantie gewährleistet und zugleich jeglicher Abwägung entzogen. Diese Unabwägbarkeit der Menschenwürde führt dazu, dass der grundrechtsspezifische Mechanismus, wonach der Schutzbereich allgemein bestimmbar ist und nicht jeder Eingriff in den Schutzbereich per se eine rechtswidrige Verletzung darstellt, nicht unmittelbar angewendet werden kann. Jede Verletzung der Menschenwürde ist zugleich ein rechtswidriger, nicht zu rechtfertigender Eingriff. Die Argumentation erfolgt daher im Unterschied zur klassischen grundrechtsdogmatischen Strukturierung der Freiheitsrechte vielmehr von Eingriff her.632 Damit kommt es für die Anwendung der Würdegarantie nicht auf eine Festlegung einer „thematisch inhaltlichen Reichweite“633 an, sondern auf die Bestimmung möglicher Eingriffe, die die Erfassung des Schutzbereiches mit umfasst. Dies erfordert jedoch, dass ein Konsens über die Handlungen besteht, die als Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG zu erachten sind. Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Schutzbereiches zeigt sich unmittelbar ein auffälliger Unterschied der Würdegarantie zu anderen Grundrechten und damit eine ihrer Besonderheiten.634 Während sich die Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte zumeist auf spezifische Bereiche des menschlichen Daseins beziehen, verfügt die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG nicht über einen solchen sachlich geprägten Schutzbereich.635 Die Menschenwürdegarantie schützt ein breites Spektrum menschlichen Handelns. Es bedarf somit einer auf die Würdenorm abgestimmten Herangehensweise, um ihren Schutzbereich zu bestimmen. Dabei wirft die Frage der Bestimmung möglicher Eingriffe und damit zugleich des Schutzbereiches des Würdesatzes auf den ersten Blick erhebliche Probleme auf: eine klare Definition der Menschenwürde, die als Schutzbereichsbestimmung tauglich ist, scheint nicht möglich. Die Einzigartigkeit der Würdenorm führt dazu, dass keine vergleichbare Norm als Bezugspunkt herangezogen werden kann. Die Anwendung der Würdenorm erfordert es folglich, sich mit den Besonderheiten auseinanderzusetzen und anhand dieser normativen Besonderheiten die Struktur der Norm zu erfassen, um so eine Bestimmung möglicher Eingriffe und damit auch des Schutzbereiches zu erreichen. 631 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 8 f. Siehe zudem die Ausführungen bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 52 ff. 632 Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (35). 633 Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (35). 634 Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (35 f.). 635 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 9.
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Dies soll im Folgenden unter dem besonderen Blickwinkel der Funktionen der Menschenwürde im deutschen Recht erfolgen. 2. Konkretisierungsdilemma – Grundproblem im Umgang mit dem Inhalt der Würdegarantie Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Würdesatz werden unter den Begriff „Konkretisierungsdilemma“ gefasst, das eng mit der Problematik der spezifischen Normstruktur zusammenhängt.636 Das „Dilemma“ entsteht aus dem Wunsch und der Vorgabe heraus, der Normierung der Menschenwürde größtmögliche Relevanz in der Praxis einzuräumen und zugleich die absolute Unabdingbarkeit der menschlichen Würde hochzuhalten. Dabei stellen gerade die offene Formulierung und der nicht sachlich eindeutig geprägte Schutzbereich in der Anwendung der Würdenorm eine besondere Herausforderung dar. Aufgrund der „Offenheit“ der Menschenwürdegarantie und der Vielfältigkeit der relevanten Sachverhalte erachtet es das Bundesverfassungsgericht als notwendig, die Verletzung der Menschenwürde am Einzelfall zu prüfen und zu beurteilen; nur so könne auf aktuelle und zukünftige Entwicklungen und Herausforderungen reagiert werden.637 Die grundlegende Frage nach der konkreten Bedeutung der Abwehr- und Schutzpflicht des Staates in Bezug auf die Menschenwürde, kann nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht ein für alle Mal abschließend bestimmt werden.638 Das Bundesverfassungsgericht betont: „Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert […]. Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen […].“639
Die auf dieser Grundlage entwickelten Fallgruppen bilden den Ausgangspunkt der Anwendung der Menschenwürde.640 Das Gericht orientiert sich zur Herausbildung der Fallgruppen häufig an einer vom Verletzungsvorgang ausgehenden Definition: „[an]knüpfend an die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus standen in der Rechtsprechung zunächst Erscheinungen wie Misshandlung, Verfolgung und Diskriminierung im Zentrum der Überlegungen“.641 Als Grundlage dieser Beurteilung stellt das Bundesverfassungsgericht auf die „Vorstellung des 636 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 10; Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, 2007, 87 (95 f.). 637 BVerfGE 115, 118 (153). Vgl. auch die Ausführungen bei Baumann, Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitseinsatz der Streitkräfte, JURA 2006, 447 (452). 638 BVerfGE 115, 118 (153) mit Bezugnahme auf E 45, 187 (229); 96, 375 (399 f.). 639 BVerfGE 109, 279 (311 ff.) unter Bezugnahme auf E 6, 32 (36); 45, 187 (227); 72, 105 (115) und einen Verweis auf Art. 100 BayVerf. etwa BayVerfGH, BayVBl. 1982, 47 (50). 640 Vgl. dazu Hilgendorf, Recht durch Unrecht?, JuS 2008, 761 (766). 641 BVerfGE 109, 279 (312) mit Bezugnahme auf E 1, 97 (104).
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Grundgesetzgebers“ ab, „dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden“.642 Die Autonomie des Einzelnen und sein absolut zu achtender Eigenwert sind die zentralen Elemente, die den Schutz der Menschenwürde in der Vorstellung der Väter und Mütter des Grundgesetzes bestimmten und das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen leiten. Davon ausgehend muss der einzelne Mensch immer in seinem Eigenwert als autonome Rechtsperson geachtet und darf nicht seiner Subjektivität beraubt werden. Dies verbietet schlechthin jede Behandlung eines Menschen (durch die öffentliche Gewalt), die geeignet ist seine Subjektqualität und seinen Status als Rechtsperson und Rechtssubjekt in Frage zu stellen,643 indem sie die Achtung vermissen lässt, die „jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt“.644 Die von Dürig entwickelte „Objektformel“, die eben diese Subjektivität des Einzelnen betont, bildet den Ausgangspunkt der Abwehr- und Schutzpflichtbestimmung, indem sie festlegt, dass der einzelne Mensch als Rechtsperson nie zu einem „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns werden darf und der Eigenwert jedes Menschen zu achten ist.645 Dieser Ansatz wurde vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung als wesentlichen Maßstab aufgegriffen und im Weiteren an politische, gesellschaftliche und technische Entwicklungen angepasst, die es erforderten, sich mit neuen Gefährdungen der Menschenwürde auseinanderzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht betont dabei rückblickend die Notwendigkeit der Weiterentwicklungen der Würdegarantie durch diese an sie gestellten Anforderungen. So sei später „die Menschenwürdegarantie im Hinblick auf neue Gefährdungen maßgebend“ geworden, etwa „in den 1980er Jahren für den Missbrauch der Erhebung und Verwertung von Daten“.646 „Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Unrechts aus der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Verletzung von Grundsätzen der Menschlichkeit unter anderem bei der Beschaffung und Weitergabe von Informationen zum Gegenstand der Rechtsprechung. Gegenwärtig bestimmen insbesondere Fragen des Schutzes der personalen Identität und der psychisch-sozialen Integrität die Auseinandersetzungen über den Menschenwürdegehalt“.647 Diese Entwicklungsmöglichkeit ist ein notwendiger Aspekt im Zusammenhang mit der Würdenorm des Grundgesetzes, um einen umfassenden Schutz zu gewährleisten und ihrer Bedeutung gerecht zu werden. Ferner führt die normative Offenheit des Würdesatzes dazu, dass die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG zum Teil als Verfassungsrechtssatz von „umfassender Allge642 643 644 645 646 647
BVerfGE 115, 118 (153) mit Bezugnahme auf E 45, 187 (227 f.). Vgl. BVerfGE 30, 1 (26 f.). BVerfGE 115, 118 (153), mit Bezugnahme auf E 30, 1 (26); 109, 279 (312 f.). Dürig, Der Grundsatz der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (127 f.). BVerfGE 109, 279 (312) unter Bezugnahme auf E 65, 1. BVerfGE 109, 279 (312) unter Bezugnahme auf E 65, 1 sowie E 93, 213 (243).
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meinheit“648 und als „modal ausgerichtete Generalklausel“649 bezeichnet und eine praktische Anwendbarkeit in Frage gestellt wird. Die Ausrichtung als Generalklausel in Kombination mit der kategorischen Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG als unantastbar, erschwert die Konkretisierung und interpretatorische Erschließung des Inhalts der Würdenorm erheblich.650 So könne entweder der Normtext ernst genommen werden, wodurch die praktische Relevanz weitgehend verloren gehe, oder die Menschenwürde werde zum „Spielball“, zur „kleinen Münze“ der alltäglichen Rechtsarbeit und büße auf diesem Wege ihre Absolutheit zugunsten einer Relativierung und der damit verbundenen Aufweichung ein.651 Der Menschenwürdenorm wird vorgeworfen durch ihre strukturelle Ideologieoffenheit beliebigen Deutungen offen zu stehen und damit konkurrierenden und kollidierenden Vorstellungen die Möglichkeit der Einflussnahme zu eröffnen.652 Die Menschenwürde als Rechtsnorm ist jedoch auf „Sinnidentität“ angelegt, nur ein einheitliches Begriffsverständnis kann ihr als solche zugrunde liegen.653 Die Menschenwürde wäre anderenfalls als Maßstab für staatliche Entscheidungen nicht geeignet und böte nichts als „eine Projektionswand für fromme Wünsche jeden Inhalts“.654 Die an der offenen Struktur der Würdegarantie geübte Kritik veranschaulicht in treffender Art und Weise das bestehende Spannungsverhältnis, das die Anwendung der Menschenwürde prägt. Die grundlegende Bedeutung des absoluten Schutzkonzeptes des Würdesatzes auf der einen Seite, steht der interpretationsoffenen Formulierung auf der anderen Seite gegenüber. Diese Kritik verkennt insgesamt die grundlegende Struktur des Würdesatzes, der durch seine Funktionen nicht nur inhaltlich bestimmbar, sondern auch operationalisierbar wird. Es ist notwendig, sich auf die spezifischen Funktionen des Würdesatzes zu konzentrieren und dadurch den Würdesatz zu einer konkreten Verfassungsnorm zu machen. Ferner sind diese Annahmen insbesondere vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Judikatur nicht haltbar. Das „Dilemma“ der Konkretisierung der Menschenwürde ist – wenn auch nicht auf einfachem Wege – trotz entgegenstehender Annahmen möglich. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts weisen eine Basis des Würdeverständnisses aus, die die wesentlichen Funktionen des Würdesatzes aufzeigt und dadurch die 648
Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, JZ 1964, 337 (342). Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 9. 650 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 10. 651 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 10. 652 Vgl. zur Problematik der strukturellen Offenheit der Würdenorm die Ausführungen von Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, JuS 1983, 93 (95 f.). Siehe dazu auch die Darstellung bei Isensee, Menschenwürde: Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 173 (183 ff.). 653 Vgl. dazu Isensee, Menschenwürde: Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 173 (183). 654 Isensee, Menschenwürde: Die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 173 (183). 649
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Bestimmung des Schutzbereiches ermöglicht. Der Schutzbereich ist dabei zwar weder eindeutig bestimmt noch wissenschaftlich abschließend geklärt, und der gefundene Konsens trägt (erhebliche) Schwierigkeiten in sich.655 Dennoch kann im Wege der Analyse der Funktionen der Würdenorm ein Konzept gezeichnet werden, das den Schutz der Würdenorm umfassend aufzeigt. Dabei muss die grundsätzliche Bedeutung des Würdesatzes als absolutes Schutzkonzept, Basis der Werteordnung und kategorische Grenze dessen, was dem Menschen als Rechtssubjekt angetan werden darf, respektiert werden. Es verbietet sich daher jeglicher Ansatz einer Abwägung in der Bestimmung des Schutzumfanges der Würdegarantie, die den absoluten Achtungs- und Schutzanspruch des Würdesatzes sowie den Sinn und die Bedeutung der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG in Frage stellen würde. Die mögliche Einbeziehung des Einzelfalls und die Annäherung vom Verletzungsvorgang her stehen dem jedoch nicht entgegen, vielmehr wird dadurch versucht und zum Teil auch erreicht, die größtmögliche Geltung und Wirkkraft des Würdeschutzes herbeizuführen. Dies betonte auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich. Demnach dürfe „[b]ei alledem […] nicht aus den Augen verloren werden: Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares. Die Erkenntnis dessen, was das Gebot, sie zu achten, erfordert, ist jedoch nicht von der historischen Entwicklung zu trennen. […] Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben“.656
Im Rahmen der Konkretisierung sind folglich die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umstände zu berücksichtigen. Diesem Anspruch der Anpassungsfähigkeit trägt der Würdesatz durch seine normative Offenheit Rechnung und ermöglicht so die Reaktion und Angleichung des Schutzumfanges an neue Problemfelder. Dieser Aspekt des Wandels der Gegebenheiten und Anforderungen verschärft zu einem gewissen Grad das Konkretisierungsdilemma indem immer neue Konfliktbereiche in der Diskussion hinzutreten. Aus diesem Grund werden zur konkreteren Bestimmung des Schutzbereiches verschiedene Ansätze verfolgt, die eine hinreichende Bestimmung ermöglichen sollen. Zwei Ansätze, die sich zum Teil noch in einzelne Konzepte ausdifferenzieren, sind dabei von besonderem Interesse. So wird zum einen ein positiver, von der normativen Aussage ausgehender Ansatz verfolgt und zum anderen eine negative Annäherung vom Verletzungsvorgang her, die Schutzbereich und Eingriffstatbestand zusammen erfasst. Die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Bestimmung des Schutzbereiches des Art. 1 Abs. 1 GG sollen im Folgenden näher erläutert werden. 655
Vgl. Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (457 f.); Kohl, Menschenwürde: Relativierung oder notwendiger Wandel?, 2007, 45 ff.; Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 1993, 353 (355 ff.). Vgl. auch die Ausführungen von Enders, Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 101 ff. sowie zum Begriff der Würde bei Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 22 ff. 656 BVerfGE 45, 187 (229).
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3. Schutzgrund und Schutzbereichsbestimmung der Menschenwürde Die verschiedenen Ansätze, die hinsichtlich der Absicherung der normativen Aussage und zur Bestimmung des Schutzbereiches der Menschenwürde herangezogen werden, versuchen, unter Betonung der besonderen Bedeutung der Menschenwürde als „tragenden Konstitutionsprinzips“657 einen umfassenden Begründungszusammenhang zu liefern. Die unterschiedlichen Blickwinkel der Ansätze zeichnen dabei ein umfassendes Bild der Menschenwürde und ihrer Funktionen im deutschen Recht und weisen damit die Würdegarantie operationalisierbar aus. a) Positive Versuche der Begriffsbestimmung – säkulare Versuche inhaltlicher Konkretisierung zwischen Religion und Philosophie Die Ansätze einer positiven Begriffs- und Inhaltsbestimmung der Menschenwürde gehen im Wesentlichen von drei Grundkonzepten aus, die basierend auf der Annahme der Menschenwürde als Wert, Leistung bzw. Akt der Kommunikation des Menschen suchen zu begründen, was die menschliche Würde ausmacht und wie sie sich darauf aufbauend inhaltlich konkretisieren lässt. Ausgehend von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen verfolgen die einzelnen Konzepte die Zielsetzung, den Umfang der Menschenwürde als Rechtsbegriff zu erfassen. Im Folgenden werden die Ansätze dargestellt und hinsichtlich ihres Nutzens für die Beantwortung der Frage der Funktionen und der Struktur der Würde im deutschen Recht analysiert. (1) „Mitgifttheorie“ Einen wesentlichen Ansatz bieten die „Mitgifttheorie“658, die gelegentlich auch als „Statustheorie“659 bezeichnet wird. Unter dieser Begrifflichkeit werden die Ansätze zusammengefasst, die von der Menschenwürde als einer dem Menschen von außen mitgegebenen, unverfügbaren Qualität ausgehen, welche teils auf Gott, teils auf naturrechtlichen Annahmen begründet wird.660 Die Menschenwürde wird dabei als naturgegebener Wert des Menschen und unabdingbarer Status begriffen.661 Hiernach ist die menschliche Würde etwas, das der Mensch einfach hat; sie ist keine Eigenschaft des Menschen und hängt auch nicht von seiner Leistung oder seinen 657
So etwa BVerfGE 50, 166 (175); 72, 105 (115); 87, 209 (228). Vgl. die Darstellung bei Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 5 und dazu ebenso bei Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (357, 361 ff.) und Pieroth/ Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 312015, § 7 II, Rn. 379. 659 Vgl. die Darstellung bei Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG?, 2005, 41 f. und 45 f. 660 Vgl. hierzu die Darstellung bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 57. 661 Vgl. Braun, Kapitulation des Rechts vor der Innovationsdynamik, KJ 33 (2000), 332 (338). 658
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Fähigkeiten ab, sondern kommt dem Menschen als Status um seiner Existenz willen zu.662 Diese Qualität ist als solche unwandelbar und unverfügbar. Sie wird als „Mitgift“ gesehen, die dem Menschen ohne eigenes Zutun zukommt. Gedanklicher Ursprung dieser Theorie ist neben der christlichen Naturrechtslehre im Wesentlichen die moralphilosophische Lehre Kants, die vom Eigenwert jedes Menschen als Person ausgeht:663 „Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Wert) […].“664
Nipperdey sieht daran anknüpfend die Würde des Menschen als „de[n] Eigenwert und die Eigenständigkeit, die Wesenheit, die Natur des Menschen schlechthin“.665 Auf der Basis einer solchen vorstaatlichen Grundlage ist es möglich die Menschenwürde gegen gesellschaftlichen Wandel und Entwicklungen der Moral- und Wertvorstellungen zu verteidigen und dadurch – eigentlich erforderliche – Änderungen abzuwenden. Die christlich oder naturrechtlich-idealistisch basierte Mitgifttheorie mit ihrer inneren Geschlossenheit begegnet solchen Tendenzen, ohne die durch sie geschützten Grundsätze gefährdet zu sehen. Jedoch erweist sich diese starre Veranlagung gerade im Hinblick auf notwenige Entwicklungen und geänderte Anforderungen als problematisch: Sie erschwert eine zeitgemäße Anwendung der Mitgifttheorie erheblich und verhindert sie in bestimmten Bereichen gar ganz.666 Es entsteht schnell der Eindruck der Veralterung. Zudem ist der starre Begründungszusammenhang auf eine Bezugnahme christlicher oder naturrechtlich-idealistischer Argumente angewiesen und kann für die Menschenwürde als Rechtsbegriff nur begrenzt herangezogen werden. Darüber hinaus steht die Zweck- und Zielbestimmung des Parlamentarischen Rates, die die Abgeordneten bei der Normierung der Würdegarantie vor Augen hatten, insoweit in einem Widerspruch zu den Annahmen der Mitgifttheorie als es damals gerade auf die Betonung des Menschen als zur autonomen Selbstbestimmung fähigen Individuums ankam. Die Mitgifttheorie legt hingegen die Betonung auf das vorstaatlich „Mitgegebene“ der menschlichen Würde. Als etwas „Vorgegebenes“ führt dies zu einer Bevormundung des Menschen als Träger dieser unverfügbaren 662
Braun, Kapitulation des Rechts vor der Innovationsdynamik, KJ 33 (2000), 332 (338). Vgl. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 312015, § 7 II, Rn. 379; Luf, Der Grund für den Schutz der Menschenwürde – konsequentialistisch oder deontologisch, in: Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2008, 43 (47 f.). 664 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, zitiert nach: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von Weischedel, 182008, 569. 665 Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 2, 1954, 1. 666 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 55. 663
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und unverzichtbaren Würde dahingehend, dass durch die Annahme der Würde als etwas „Vorbestimmten“ die Gefahr „der Vernachlässigung des dem Menschen Aufgegebenen und der Selbstbestimmung des freien Individuums“ besteht.667 Die Mitgifttheorie knüpft an die Annahme, dass es sich bei der Würde um eine Qualität des Menschen handelt, gegen die sich der Einzelne nicht wehren kann und die ihm Pflichten auferlegt. Die damit einhergehende Bevormundung steht in einem Spannungsverhältnis zur Ausrichtung der Rechtsordnung auf den Menschen als selbstbestimmtes, freies Individuum. Es stellt sich die Frage, wie diese theoretischen Annahmen, auch wenn sie zur Absicherung des normativen Gehalts der Menschenwürde durchaus nützlich sein können, mit der Grundannahme des Grundgesetzes von der personellen Autonomie des Menschen „als eigenverantwortliche Persönlichkeit“ vereinbar sind.668 Eine Bevormundung des Menschen und die Auferlegung von Würdepflichten stehen im Widerspruch zur Autonomie des Einzelnen, die seine selbstbestimmte Entscheidungsfähigkeit gegenüber staatlichem (drittem) Einfluss sichern und sind mit der grundlegenden Ausrichtung des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Folglich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Zuerkennung der Freiheit des Einzelnen bezogen auf die Würde Maßstab zur Beurteilung des Schutzbereiches der Menschenwürde sein kann. Scheint es nicht vielmehr geboten, im Hinblick auf die Menschenwürde eine Selbstbestimmung des Menschen auszuschließen und eine Aberkennung, Aufgabe oder Akte der Selbstentwürdigung zu verbieten? Die grundsätzliche Prämisse, dass jeder Mensch „von Natur aus“, aufgrund christlicher oder naturrechtlich-idealistischer Zugeständnisse Würde besitzt, steht der Autonomie des Menschen zunächst nicht entgegen. Die Frage, ob die Würde dem Einzelnen die Pflicht auferlegen kann, sich würdevoll zu verhalten oder ob es in Bezug auf die Würde einen Schutz des Einzelnen vor sich selbst geben muss, ist zu verneinen.669 Aus Sicht der Mitgifttheorie als Begründungszusammenhang der Menschenwürde zeigt sich deutlich das Problem einer christlichen oder naturrechtlich-idealistischen Begründung, insbesondere in der Gefahr der Vermischung rechtlicher und theologischer bzw. metaphysischer Argumente. Dadurch können 667
Vgl. die Darstellung bei Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 5; ebenso ders., Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, 313 (315). 668 BVerfGE 32, 98 (107); ähnlich auch schon BVerfGE 6, 32 (40). 669 Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen unter C. II. 2. b). Weitergehend zu der damit in Zusammenhang stehenden Frage, ob der Mensch vor sich selbst geschützt werden muss Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992. Hillgruber beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven die Frage der Reichweite der menschlichen Autonomie und einer möglichen Pflicht des Staates, den Menschen in bestimmten Situationen vor sich selbst zu schützen. Er geht dabei im Hinblick auf zulässigen Staatspaternalismus auf höchstrichterliche Rechtsprechung und grundrechtsdogmatische Problembereiche ein. Vgl. außerdem Schwabe, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1998, 66 (66 ff.). Ferner eng mit dem Gedanken der möglicher Würdepflichten verbunden, ist die Frage der Zulässigkeit staatlichen Paternalismus. Denn der Aspekt der Autonomie des Einzelnen steht in einem Spannungsverhältnis zu einem staatlichen Paternalismus. Zur Frage der Grenzen staatlichen Paternalismus siehe Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 236 ff.
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partikulare Wertvorstellungen auf den Inhalt der Würde Einfluss nehmen, was für die Menschenwürde als Begriff des Rechts nicht akzeptiert werden kann. Der Rechtsbegriff der Menschenwürde muss unabhängig von partikularen Wertvorstellungen gewährt werden und bedarf in dieser Eigenschaft als Rechtsbegriff eines entsprechenden Begründungszusammenhanges. Somit ist die Mitgifttheorie in ihren Grundsätzen nicht zur Begründung der Menschenwürde geeignet, da sie den Vorgaben eines säkularen Staates nicht angemessen ist. Außerdem steht die Neutralitätspflicht des Staates und der Verfassung, die mit der Ablehnung einer naturrechtlichen ebenso wie einer religiösen Begründung der Menschenwürde und der Grundrechte durch den Parlamentarischen Rat einhergeht, gegen die Annahme der Mitgifttheorie als Begründungszusammenhang.670 Dennoch wird die Mitgifttheorie noch vereinzelt zur Begründung der Menschenwürde herangezogen. Dabei ist jedoch stets zu bedenken, dass eine Bestimmung der Menschenwürde über die Mitgifttheorie für den rechtlichen Begriff der Würde nicht oder nur sehr begrenzt möglich ist und nur unter äußerster Vorsicht vorgenommen werden sollte. Bedenkt man dies, kann aus der Mitgifttheorie zumindest der Gedanke der Würde als etwas jedem Menschen eigenes, unverlierbares und unabdingbares gefolgert werden, der die Absolutheit des Würdeschutzes des Art. 1 Abs. 1 GG widerspiegelt. (2) „Leistungstheorie“ Einen weiteren Ansatz zur Begründung der Menschenwürde liefert die so genannte Leistungstheorie.671 Sie stellt stärker als die Mitgifttheorie auf die Vernunftnatur des Menschen ab und greift im Gegensatz zur ihr die Problematik der Selbstbestimmung und freien Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen als zentralen Bestandteil der Menschenwürde auf.672 Die Annahme einer von Anfang an mitgegebenen Würde des Menschen wird dagegen vehement abgelehnt. Der Mensch erhalte die Würde hiernach nicht aufgrund seines Menschseins und somit seines Daseins per se, sondern vielmehr wird die menschliche Würde als „eigene Her-
670 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 63 ff. und Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/2, 2009, 1289 ff. Siehe dazu auch Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, JZ 1981, 457 (457 f.). 671 Vgl. hierzu die Darstellung bei Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 6; Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (362 f.); Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 312015, § 7 II, Rn. 380 und ebenso Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG?, 2005, 42 und 47 f. 672 Vgl. die Darstellung bei Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (34).
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vorbringung, als Leistung menschlicher Subjektivität“ wahrgenommen.673 Indem der Einzelne seine Würde durch Leistung erlangen müsse, werde er in seiner Individualität in der pluralistischen Gesellschaft anerkannt, wobei mit der besonderen Betonung der Autonomie und der eigenen Verantwortlichkeit des Menschen für sein persönliches Glück einer der Grundgedanken der Aufklärungsphilosophie aufgegriffen wird.674 Die Rechtsordnung muss es dem Menschen demnach ermöglichen, so Häberle, die Fähigkeiten, die seine Personalität ausmachen, frei zu betätigen und dadurch „Person zu werden, zu sein und zu bleiben“.675 Der Grundannahme der Leistungstheorie folgend erlangt der Mensch Würde durch eigene Handlungen, also durch eine Leistung.676 Er muss sie „im gelingenden Prozess individueller Identitätsbildung und Selbstdarstellung erst gewinnen“.677 Fraglich ist dabei jedoch, wann der Prozess der Identitätsbildung und Selbstfindung, oder vielmehr was als solcher bezeichnet wird, abgeschlossen ist. Ab wann genau kann davon gesprochen werden, dass ein Menschen Würde besitzt? Insbesondere im Hinblick auf Kleinkinder und Menschen, die nicht dazu im Stand sind, sich ihrer Würde – aufgrund von Krankheit, Alter o. ä. – bewusst zu sein und zu einer entsprechend erforderlichen Leistung nicht im Stande sind, können nach diesem Ansatz keine Würde erlangen. Gerade deshalb ist dieser Begründungsansatz, der zur Erlangung der Würde eine Leistung des Menschen vorsieht, mit dem Verständnis der Menschenwürde als Rechtsbegriff nicht in Einklang zu bringen. Die Menschenwürdegarantie gewährt einen absoluten Schutz der Autonomie des Einzelnen und eine egalitäre Basisgleichheit aller Menschen.678 Dies muss absolut gelten – unabhängig von den Möglichkeiten des Einzelnen, seine Würde wahrzunehmen oder sich ihrer bewusst zu sein. Hinge die Würde des Menschen von der Leistung des Einzelnen ab, so käme nicht allen Menschen Würde und schon gar nicht die gleiche Würde im Sinne einer egalitären Basisgleichheit zu. Dies ist jedoch eine der es-
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Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (34). 674 Vgl. dazu die Darstellungen bei Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (432) und Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (34). 675 Vgl. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR II, 32004, § 22, Rn. 47 ff. 676 Vgl. zur Leistungstheorie auch die Darstellungen bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 58; Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 6 sowie den Ansatz bei Stein/Frank, Staatsrecht, 212010, § 29 III, 235 f. 677 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 58. 678 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (27).
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sentiellen Funktionen des rechtlichen Würdebegriffes, da daraus im Weiteren die Subjektivität und die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstzweckhaftigkeit folgt.679 Vordenker dieser Richtung aus rechtssoziologischer Perspektive ist Niklas Luhmann.680 Er bezeichnet sowohl die Freiheit als auch die Würde als „Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit“.681 Nur durch Interaktion und Kommunikation mit anderen gewinne der Mensch seine Individualität und Persönlichkeit.682 Die Würde ist nach Luhmann keine Ausstattung des Menschen von Natur aus, sie ist nicht einfach ein „Wert“ oder etwas, was ein Mensch habe, sondern müsse konstituiert werden.683 Dies erfolge durch teils bewusste, teils unbewusste Darstellungshandlungen des Menschen; erst durch Handlung erlange der Mensch demnach Würde. Insbesondere besteht nach Luhmann auch die Möglichkeit, die Würde durch eigenes Verhalten zu verlieren.684 Er eröffnet damit die Möglichkeit der Differenzierung zwischen Personen, die in seinem Verständnis Würde erlangt haben, und solchen, die keine Würde haben. Das dadurch entwickelte Exklusionspotential setzt die Würde in ein Abhängigkeitsverhältnis von inneren wie äußeren Einflüssen und Bedingungen. Gerade diese Annahmen Luhmanns im Kontext seiner Leistungstheorie stehen der Tauglichkeit als Begründungszusammenhang der menschlichen Würde als Begriff des Rechts entgegen. Denn es handelt sich dabei nicht um eine mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben und Interpretationen zu vereinbarende Begründung. Eine von der eigenen Darstellung und Leistung abhängige Würde ist mit dem in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten kategorischen Schutzkonzept nicht vereinbar. Durch eine solche Abhängigkeit ließe sich zum einen ein Stufenverhältnis in der Zuerkennung von Würde begründen, zum anderen könne dadurch eine Würdelosigkeit des Einzelnen durch persönliche Verfehlung der entsprechenden Leistung oder Darstellung begründet werden.685 Es würde eine Abstufung bis hin zur Aufspaltung der Gesellschaft in Personen mit Würde und Personen ohne Würde drohen, die der vorgegebenen Grundausrichtung entgegensteht. Dies widerspricht dem Gedanken unantastbarer und gleicher Würde aller Menschen, wie ihn Art. 1 Abs. 1 GG festgelegt und ist somit mit der grundgesetzlichen Werteordnung nicht vereinbar. Das starke Exklusionspotential dieses Ansatzes, insbesondere hinsichtlich geistig Erkrankter und Kleinkinder, ist mit der Funktion des Würdesatzes als Garantie gleicher Würde und absoluter Gleichheit aller Menschen unvereinbar. Luhmanns Ansatz stieß daher auch 679
Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 391 f. Vgl. auch Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (312). 680 Vgl. zum Folgenden insgesamt Luhmann, Grundrechte als Institutionen, 52009, 53 ff. 681 Luhmann, Grundrechte als Institutionen, 52009, 61. 682 Vgl. Luhmann, Grundrechte als Institutionen, 52009, 61 f. 683 Luhmann, Grundrechte als Institutionen, 52009, 68. 684 Vgl. Luhmann, Grundrechte als Institutionen, 52009, 68 ff., 73 f. 685 Vgl. dazu die Darstellung bei Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (432).
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auf entschiedene Ablehnung.686 Als Begründungszusammenhang der Menschenwürde im Sinne des Grundgesetzes als Rechtsbegriff kann die Leistungstheorie folglich nicht herangezogen werden. Seelmann hat sich mit dem Spannungsverhältnis des Exklusionspotentials der Leistungstheorie auf der einen Seite und der Absolutheit des Würdeschutzes für alle Menschen auf der anderen Seite näher befasst.687 Die Verknüpfung des Würdeschutzes mit einer Darstellung in Form einer Leistung des Einzelnen, wie Luhmann sie vornimmt, erachtet Seelmann als nicht sinnvoll. Er modifiziert den von Luhmann gewählten Ansatz dahingehend, dass er den Würdeschutz nicht von einer Leistung des zu Schützenden abhängig macht, sondern vielmehr den Würdeschutz mit dem Begriff der Repräsentation verbinden.688 Repräsentation meint dabei die Komplexität des im Personbegriff angelegten Darstellungsverhältnisses: „Die Person spielt eine Rolle, und in der Tat treten ihre individuellen Eigenschaften dahinter zurück. Und doch hat sie nicht nur als jeweils die Person-Rolle spielendes Individuum dessen individuelle Eigenschaften, sondern zum Person-Sein gehört paradoxer Weise offenbar grundsätzlich auch eben diese individuelle Fähigkeit, im Spielen der Rolle von den individuellen Eigenschaften zu abstrahieren. Und zu den Vorstellungen jenes speziellen Darstellungsverhältnisses, um dass es bei der Person geht, gehört auch, dass das Recht als das, was dargestellt wird, überhaupt nur Rechtssubjekten, also Personen, seine Präsenz erhält. Schon das dürfe es geraten erscheinen lassen, statt des von Luhmann verwendeten eher auf ein einseitiges Vertretungsverhältnis anspielenden Begriff der Darstellung lieber den älteren Begriff der Repräsentation zu verwenden, der in seiner gesamten Tradition schon die angedeutete Komplexität stärker in sich enthält.“689
Mit dem Begriff der Repräsentation, der im Ansatz Seelmanns die Darstellung ersetzt, umfasst er nicht nur das Selbstbild und die vom Selbstbild abweichende Darstellung, sondern auch das bloße Auftreten „ohne jede gewillkürte Darstellung“.690 Dadurch wird auch der rein passive Vorgang der Repräsentation, losgelöst von einem Willen des Einzelnen, erfasst und in den Schutz der Würde einbezogen. Die Würde wird damit an die menschliche Gestalt und die Einzigartigkeit des Menschen geknüpft und von der Frage einer Leistung oder Leistungsfähigkeit gelöst. Nach diesem Verständnis von „Würde als individueller Repräsentation bestünde dann der Schutz der Würde in der Nichtbeeinträchtigung und in der Gewährleistung der je individuell möglichen Form und des je individuell möglichen Ausmaßes der (Selbst-)Repräsentation“.691 Seelmann bezeichnet den gewählten Ansatz, in Abgrenzung zu Luhmann, nicht als Leistungs- sondern als Leistungsermöglichungs686 Vgl. dazu die Ausführungen bei Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127 (127) m.w.N. 687 Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127 ff. 688 Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127 (128). 689 Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127 (129). 690 Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127 (131). 691 Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127 (133).
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theorie.692 Diese Modifikation der Leistungstheorie durch Seelmann bietet einen Ansatz zur Bestimmung des Würdeschutzes, ohne das Exklusionspotential der Leistungstheorie. Sie bieten eine Möglichkeit sich dem Umfang des Würdeschutzes zu nähren und erweist sich dabei – insbesondere bezogen auf die Autonomie des Einzelnen – nutzbar. (3) „Kommunikationstheorie“ Die unter die Bezeichnung „Anerkennungs-, Kommunikations- bzw. Rollentheorie“693 gefassten Ansätze erfassen im Wesentlichen – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Ausrichtung – die Grundgedanken von Hofmann694, Gröschner695 und Habermas696. Das daraus entwickelte Konzept stellt primär auf eine soziale und interaktive Komponente der Menschenwürde ab. Die Würde des Menschen wird dabei nicht als etwas Christliches, Naturrechtlich-idealistisches oder durch Leistung zu Erwerbendes begriffen, sondern vielmehr als etwas, dass aus der Natur des Menschen als Gattungswesen in seiner Kommunikation mit anderen Menschen entstehe.697 Die menschliche Würde sei keine Eigenschaft, die dem Menschen von Geburt an zukomme, die er „besitzt“, wie seine Augen- oder Haarfarbe.698 Sie erwachse aus der gegenseitigen Achtung der Menschen in kommunikativen, zwischenmenschlichen Momenten und dem sozialen Geltungsanspruch des Einzelnen.699 Sie kennzeichne diejenige „Unantastbarkeit“ des Menschen, die aus der reziproken Anerkennung in interpersonellen Beziehungen, im egalitären Umgang der Individuen miteinander entstehe.700 Dabei ist die wechselseitige Zu692
(133).
Vgl. Seelmann, Repräsentation als Element von Menschenwürde, ZRPh 2004, 127
693 Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (364 ff.). Vgl. dazu auch die Darstellung bei Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (458) und zudem bei Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 7; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 312015, § 7 II, Rn. 381 und Zaar, Wann beginnt die Menschenwürde nach Art. 1 GG?, 2005, 48 f. 694 Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (364 ff.). 695 Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 33 ff. 696 Vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 62 ff. 697 Vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 62. 698 Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 62. 699 Vgl. die Darstellung bei Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (35). 700 Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 62.
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schreibung von Würde im Verständnis Habermas’ ein zwingend notwendiger Akt.701 Nur durch die interpersonellen Beziehungen, durch – mit anderen Worten – die Intersubjektivität, erlange der Einzelne demnach Würde und werde zum individuellen Selbst; diese Interaktion mit Anderen bilde, so Habermas, die Grundlage der Anerkennung von Würde.702 Hofmann hingegen erachtet die wechselseitige Zuschreibung von Würde als einen historisch kontingenten Umstand, der als Kern mitmenschlicher Solidarität nicht losgelöst von einer Anerkennungsgemeinschaft gedacht werden kann.703 Er sieht die Würde als eine „Kategorie der Mitmenschlichkeit des Individuums“,704 die sich die Individuen im Rahmen des Aufbaus einer Solidargemeinschaft als Fundament gegenseitiger Anerkennung versprechen.705 Grundlage für die Zuerkennung von Würde nach der Kommunikationstheorie ist stets, dass das Recht dem Einzelnen ermöglichen müsse, sich im Verhältnis und im Kontakt zu anderen selbst darzustellen und zu verwirklichen.706 Dies wird durch den Ansatz Gröschners bestärkt, der die Würde des Menschen als „Fähigkeit zum Entwurf einer Lebensform“ begreift, die nicht auf die Realisierung als Leistung, sondern auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung gründet.707 Der Einzelne muss seinen eigenen Lebensentwurf gestalten können und damit zugleich auch Teil der „gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung“ sein.708 Die Selbstbestimmung des Menschen und die menschliche Interaktion sind demnach Grundlagen der menschlichen Würde, die nach diesen kein Substanz- oder Leistungsbegriff ist, sondern sich in sozialer Anerkennung durch positive Bewertung sozialer Achtungsansprüche konstituiert.709 Nur in einem solchen Netz interpersoneller Beziehungen und Interaktionen sowie legitimer Anerkennungsverhältnisse, so Habermas, kann der Mensch als Person eine individuelle Identität entwickeln und mit physischer Integrität auf701 Vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 63. 702 Vgl. insgesamt Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 62 f. 703 Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (364). 704 Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (364). 705 Vgl. dazu die Ausführungen von Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (369 f.). 706 Vgl. dazu auch die Darstellung bei Seelmann, Menschenwürde: Ein Begriff im Grenzbereich von Recht und Ethik, in: Fischer/Strasser (Hrsg.), Rechtsethik, 2007, 29 (33 f., 36 f.). 707 Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 33. 708 Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 34. 709 Vgl. auch die Ausführungen dazu bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 3 2013, Art. 1 I, Rn. 59; Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (35 f.).
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rechterhalten.710 Im Vordergrund stehen dabei die Grundsätze der menschlichen Solidarität und Sozialität sowie die Selbstbestimmung des Einzelnen. Gleichwohl ergeben sich dadurch, dass die Würde nicht ohne eine konkrete Anerkennungsgemeinschaft gedacht werden kann, erhebliche Schwierigkeiten. Eine Loslösung von einem Umfeld, das die Würde des Menschen anerkennt, ist nicht möglich. Würde bestünde folglich nur innerhalb dieser Anerkennungsgemeinschaft, hinsichtlich eines vorgeburtlich gewährten Schutzes wäre daher keine Aussage möglich.711 Ebenso würde in Bezug auf einen vorstaatlichen Charakter der menschlichen Würde keine Aussage getroffen. Die Reichweite des Würdeschutzes nach der Kommunikationstheorie wäre folglich im Vergleich zum Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt. Die Menschenwürdegarantie als Fundamentalnorm wäre hiernach als ein gegenseitiges Versprechen der Teilhaber verfassunggebender Gewalt, den Staat auf die gegenseitige Anerkennung prinzipiell freier und gleicher Mitglieder zu gründen, zu verstehen.712 Die Kommunikationstheorie wird selten als Begründungszusammenhang der Menschenwürde herangezogen, dennoch muss ihr in diesem Zusammenhang mit einer gewissen Skepsis begegnet werden. Die Grundannahmen der Kommunikationstheorie stehen nicht in einem unmittelbaren Widerspruch zu den Funktionen der Menschenwürde als Rechtsbegriff und ermöglichen so zumindest eine teilweise Heranziehung als Begründungszusammenhang. So kann die Kommunikationstheorie in Grundzügen oder als zusätzliches Argument für die Begründung des Schutzes der Menschenwürde und den rechtlichen Würdebegriff herangezogen werden.713 Aber die Reichweite der Kommunikationstheorie ist begrenzt, der für Art. 1 Abs. 1 GG notwendige umfassende Schutz ist dadurch nicht zu begründen. (4) Fazit Jeder der im Vorhergehenden dargelegten Ansätze definiert Aspekte, um eine positive Bestimmung des Begriffes der Menschenwürde vorzunehmen, dabei weisen alle diese Ansätze Schwachstellen auf und operieren zum Teil (notwendigerweise) auf einer hohen Abstraktionsebene, sodass zur Anwendung auf den Einzelfall eine 710 Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2005, 64. 711 Vgl. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (375). 712 Vgl. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 (369). Vgl. auch die Darstellung bei Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004), 1216 (1220 f.). 713 Eine Heranziehung dieses Ansatzes zeigt sich in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Großen Lauschangriff“ (BVerfGE 109, 279). Hier stellt das Gericht auf den Menschen als kommunikatives und soziales Wesen ab, dessen Privatsphäre und Rückzugsraum in Form der Wohnung ebenso geschützt werden muss, wie seine Möglichkeit der sozialen Interaktion und der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung, vgl. BVerfGE 109, 279 (312 f.). Dazu auch Gusy, Lauschangriff und Grundgesetz, JuS 2004, 457 (457 f.).
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Konkretisierung notwendig ist.714 Keiner der theoretischen Ansätze bietet die notwendigen „Werkzeuge“, um die Strukturelemente der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG vollumfänglich zu erfassen. Jedoch ermöglicht eine Zusammenschau der einzelnen Theorien die weitgehend konsentierten Elemente des Schutzkonzeptes der Menschenwürde, die das deutsche Begriffsverständnis prägen, zu erfassen. Auch wenn die einzelnen Ansätze sich nicht dazu eignen den Begründungszusammenhang selbst zu bieten, werden wesentliche Funktionen des Würdesatzes zum Teil als Gegensätze der theoretischen Aspekte deutlich. Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass sich durch die unterschiedlichen Ansätze das differenzierte Konzept der Menschenwürde mit seinen Strukturelementen erfassen und zum Teil auch begründen lässt. Dennoch ist bei der Heranziehung der einzelnen Ansätze immer Vorsicht geboten, nicht über den theoretischen Ansatz in einen Konflikt mit den wesentlichen Elementen der Menschenwürde – der Achtung des Einzelnen als Rechtsperson und -subjekt, seiner Autonomie und Selbstdetermination sowie ihre Ausrichtung als Grundrecht und Fundamentalnorm – zu geraten. Gerade die Mitgift- und Leistungstheorie weisen Bereiche auf in denen eine Zuerkennung der Würde nicht erfolgt, obwohl dies geboten wäre, so etwa im Bereich des Schutzes des ungeborenen Lebens oder von Menschen, die sich ihrer Würde etwa aufgrund von Krankheit nicht bewusst sein können. Diese Ansätze bergen dadurch ein Exklusionspotential, das dem Anspruch elementarer Basisgleichheit und universeller Achtung jedes Menschen entgegensteht. b) Nicht- bzw. Negativdefinition der Menschenwürde und die Bedeutung der Objektformel – Lösungsansätze des Konkretisierungsdilemmas? (1) Nicht- bzw. Negativdefinition Die am häufigsten gewählte Form der Annäherung an den Inhalt der Menschenwürde erfolgt jedoch nicht durch eine positive Begriffsbestimmung, sondern im Wege einer Nicht- bzw. Negativdefinition über eine generalisierte Identifikation vom Verletzungsvorgang her.715 Die herrschende Meinung nimmt an, dass eine allgemeingültige, abstrakte Erfassung des Gehalts der Menschenwürde aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit der Würdegarantie zwar notwendig, aber nur schwer darstellbar ist.716 Eine Annäherung an den Gehalt der Würdegarantie wird 714 Vgl. Will, Die Menschenwürde: Zwischen Versprechen und Überforderung, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat. Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, 29 (35 f.). 715 Vgl. Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 (202); Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 20 ff. und ebenso die Ausführungen bei Bayertz, Menschenwürde, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2, 2010, 1553 (1556). 716 Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 53 ff.
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daher vielfach einzig über den Verletzungsvorgang – gewissermaßen ex negativo – als möglich und sinnvoll erachtet.717 Argumentativer Ausgangspunkt einer solchen Herangehensweise ist zumeist der Hinweis auf den Ausspruch Heuss‘, der – als einer der Väter des Grundgesetzes – die Menschenwürde als „nicht interpretierte These“718 verstanden wissen wollte.719 Während Heuss sich mit dieser Aussage im Wesentlichen auf einen allgemeinen Konsens der Väter und Mütter des Grundgesetzes hinsichtlich des Inhaltes und der Bedeutung der Menschenwürde berief, die seines Erachtens keiner weiteren Erläuterung bedurfte, wird heute zum Teil mit einem Verweis darauf die Möglichkeit einer Bestimmung gar nicht erst weiter in Betracht gezogen.720 Die Aussage Heuss‘ wird teilweise dahingehend verstanden, dass eine positive Bestimmung der Menschenwürde als nicht notwendig und nicht gewollt gesehen und daher die Annährung vom Verletzungsvorgang her als richtigen Ansatz im Umgang mit der Würdenorm erachtet wird. Dieser Vorgehensweise bedient sich im Wesentlichen auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Entscheidungen.721 Durch Bildung einzelner Fallgruppen unter Einbeziehung der Einzelfallproblematiken wird eine Verletzung der unmittelbaren subjektiven Rechtsposition aus der Menschenwürdegarantie – meistens in Verbindung mit anderen Grundrechten – festgestellt und erfasst.722 Ein Vorteil dieser Herangehensweise besteht darin, dass sie nicht „der Gefahr der Versteinerung“ durch definitorische Festlegungen unterliegt und auf neue Bedrohungen und Entwicklungen flexibel im Rahmen der Verfassungsinterpretation reagieren kann.723 Der Nachteil einer solchen Nicht- oder Negativdefinition besteht hingegen darin, dass in den konkreten Fällen der Anwendung stets Konsens und Evidenz gegeben sein müssen, um eine Verletzung festzustellen.724 Dies ist in offensichtlichen Fällen wie Folter, Ächtung und schwerer Diskriminierung (meist) 717 Vgl. die Darstellung bei Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 53; Riedel, Gentechnologie und Embryonenschutz als Verfassungs- und Regelungsproblem, EuGRZ 1986, 469 (474). 718 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72. 719 Matz, Artikel 1, JöR 1 n.F. (1951), 48 (49). Vgl. dazu die Ausführungen bei Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 28 f. 720 Vgl. dazu die Ausführungen bei Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (430 f.). 721 BVerfGE 1, 97 (104); 30, 1 (25); 72, 105 (115 ff.); 109, 279 (312). Vgl. auch BVerfGE 27, 1 (6 f.). Vgl. zudem Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (430). 722 Riedel, Gentechnologie und Embryonenschutz als Verfassungs- und Regelungsproblem, EuGRZ 1986, 469 (474). Vgl. auch Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 (204). 723 Vgl. BVerfGE 45, 187 (229) und zudem Vitzthum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, JZ 1985, 201 (202). 724 Vgl. Dreier, Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch/Kemper/Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, 201 (204).
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unproblematisch und zeichnet die von weltanschaulichen, politischen oder religiösen Vorgaben unabhängige Basisfunktion der Menschenwürde aus. In kontrovers diskutierten und nicht eindeutig zu beurteilenden Fällen gerade in Grenzbereichen des Würdeschutzes, wie sie sich aufgrund neuer Entwicklungen ergeben, kann diese Herangehensweise jedoch zu erheblichen Schwierigkeiten führen und nur bedingt eine Lösung aufzeigen. Dadurch sind Fälle denkbar, in denen nicht eindeutig bestimmbar wäre, was als Verletzung zu erachten ist. Gerade im Hinblick auf neue Entwicklungen bestünde die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Würde annähme, ohne das dies vorab ersichtlich ist. Die Bestimmung der Menschenwürde allein im Wege der Negativdefinition bietet folglich ebenfalls keine vollumfänglich zufriedenstellende Lösung. (2) Die „Objektformel“ als Konkretisierungsansatz Im Zusammenhang mit der Inhaltsbestimmung der Menschenwürde wird oftmals die sogenannte Objektformel angeführt, die ihre Basis in der kantischen Moralphilosophie findet und von Dürig im Wesentlichen aus dem kantischen Instrumentalisierungsverbot entwickelt wurde.725 Die Objektformel basiert im Wesentlichen auf der Methode der Negativdefinition: Sie verlangt anknüpfend an die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs, dass der Mensch niemals bloßes Mittel ist, sondern immer auch Zweck an sich selbst bleibt.726 Sie klassifiziert damit negativ solche Handlungen als Verletzungen der menschlichen Würde, die die Subjektqualität des Menschen in Frage stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Objektformel vielfach in Entscheidungen herangezogen, um eine Verletzung der Menschenwürde festzustellen, beispielhaft sei nur auf die Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes verwiesen. Danach schließt „die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde […] generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen“.727 Das bedeutet mit anderen Worten, dass „jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt [verboten ist], die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt“.728 Es verbietet sich schlechthin die Herabwürdigung des Menschen zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe.729 725 Vgl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (127 ff.) und ebenso Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 28. 726 Vgl. dazu die Darstellung bei Bayertz, Menschenwürde, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 2, 2010, 1553 (1556) und ebenso die Ausführungen bei Jakl, Recht aus Freiheit, 2009, 158 f. 727 BVerfGE 115, 118 (153) mit Verweis auf E 27, 1 (6); 45, 187 (228); 96, 375 (399). 728 BVerfGE 115, 118 (153) mit Verweis auf E 30, 1 (26); 87, 209 (228); 96, 375 (399). 729 Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (127) und ebenso Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 28.
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Gleichwohl ist die Eignung der Objektformel zur eindeutigen Identifikation von Verletzungen der Menschenwürde umstritten.730 So zeige sich bei wortwörtlicher Anwendung schnell die (vermeintliche) Grenze der Tauglichkeit der Objektformel als Mittel zur Bestimmung von Menschenwürdeverletzungen, denn dass ein Mensch als bloßes Mittel und nicht auch als Zweck von anderen Menschen behandelt werde, sei teilweise unvermeidlich.731 Eine eindeutige Benennung eines Verletzungstatbestandes sei dadurch nicht möglich. Die Objektformel weise insoweit ähnliche Identifikationsschwächen auf wie der abstrakte Definitionsversuch vom Verletzungsvorgang und die positiven Inhaltsbestimmungen. Durch die unbestimmte Formulierung sei die Objektformel vage und sehe sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei lediglich Leerformel oder leere Hülse und damit kaum brauchbar.732 Dass grundsätzlich Schwierigkeiten im Rahmen der Anwendung des Art. 1 Abs. 1 GG und damit verbunden auch der Objektformel bestehen, ist nicht zu bestreiten. Nicht ohne Grund bezeichnet Hufen die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG als das vielleicht „schwierigste“ Grundrecht.733 Es ist daher ein differenzierter Umgang mit dem Würdesatz notwendig, der die Besonderheiten des Art. 1 Abs. 1 GG beachtet und dem Schutz der Menschenwürde die gebotene und seiner Bedeutung nach entsprechende Durchsetzung und Anwendung ermöglicht. In diesem Rahmen bietet die Objektformel eine Grundlage, die zwar nicht allein, aber als Anknüpfungspunkt in Verbindung mit anderen Überlegungen zur Konkretisierung des Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen werden kann. In der Form, die die Objektformel durch die Verschärfungen des Bundesverfassungsgerichts erfahren hat, bietet sie eine Basis für den Umgang mit Fällen mit Menschenwürdebezug.734 Die Grundlagen der wechselseitigen Anerkennung der Menschen als Rechtspersonen vermag die Objektformel „hinreichend genau und operationalisierbar“ zu erfassen.735 Der Kritik an der Objektformel, eine hohe Anfälligkeit für subjektive Wertungen aufzuweisen, denen sie durch die vage Formulierung ein Einfallstor biete, kann damit hinreichend entgegen Vgl. außerdem von Münch/Kunig-Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 62012, Art. 1, Rn. 22 ff. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 20 f. 730 Vgl. dazu Jakl, Recht aus Freiheit, 2009, 158 f. m.w.N. 731 Vgl. Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, JuS 1983, 93 (94 f.). 732 So auch schon die Kritik bei Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, 3 1859, in: Lütkehaus (Hrsg.), Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, Bd. 1, 1988, 452 f. Vgl. auch Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, JuS 1983, 93 (94, 96); Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 (775); Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373 (380). 733 Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (1). 734 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (314). 735 Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (314).
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getreten werden. Das Gebot der restriktiven Auslegung der Menschenwürde,736 das aufgrund ihrer interpretatorischen Offenheit besteht und die Verantwortung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahrung des Grundgesetzes, wirken einer solchen ideologischen Einflussnahme ausreichend entgegen. Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass es durch einen Rückbezug auf die Funktionen der menschlichen Würde möglich ist, ein eindeutiges Schutzkonzept der Würde auszuweisen, das den Gehalt der Würdenorm eindeutig erfasst. 4. Der Verletzungsbegriff in Bezug auf den Schutz der Menschenwürde Neben der Bestimmung des Schutzgrundes und des Schutzbereiches der Menschenwürde stellt sich im verfassungsrechtlich dogmatischen Sinn die Frage nach dem Verletzungsbegriff. Grundsätzlich sollte sich nach der Bestimmung des Schutzbereiches diese Frage recht leicht beantworten lassen. Denn Gewährleistungsbereich und Verletzungsgrenze sind identisch.737 Dennoch zeigen schon die Schwierigkeiten hinsichtlich der Schutzbereichserfassung, dass es durchaus berechtigt ist, die Frage nach einer Definition des Verletzungsbegriffes zu stellen. Die definitorischen Schwierigkeiten und die strukturelle Besonderheit der Würdenorm zwingen in diesem Zusammenhang zu einer Abweichung von der üblichen Grundrechtsdogmatik. Auch wenn grundsätzlich Schutzbereich/Eingriff/(Rechtfertigung) als Differenzierungen auch für die Menschenwürdegarantie herangezogen werden können, ist durch die Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Zusammenschau von Schutzbereich und Eingriff unter Einbeziehung der Besonderheiten des Einzelfalls zu sehen. Dies zeigen sowohl die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als auch des Bundesverwaltungsgerichts.738 Im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung des Schutzgrundes und des Schutzbereiches werden vielfach Vermischungen von Schutzbereich und Eingriff deutlich. Durch den absoluten Anspruch der Würdegewährleistung wie der Unabwägbarkeit ist zwar jede Eröffnung des Schutzbereiches zugleich eine Verletzung. Aber die Bestimmung solcher Verletzungen des Schutzbereiches, die zumeist im Wege der Negativdefinition erfolgen, birgt gleichwohl erhebliche Schwierigkeiten. Denn es reicht nicht, dass vereinzelt eine Handlung als menschenwürdewidrig eingestuft und dieser Vorgang als Verletzung der Menschenwürde angesehen wird. Vielmehr muss der in Frage stehende Tatbestand, die konkrete Handlung, konsentiert und ganz allgemein als Verletzung der Menschenwürde erachtet werden. Nur im Falle eines „breiten 736
Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 18. Vgl. Schwarz, „Therapeutisches Klonen“ – ein Angriff auf Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos?, KritV 84 (2001), 182 (199 f.). 738 Siehe zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Dreier, Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch/ Kemper/Lehmann-Grube (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, 201 (201 ff.). 737
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Konsenses und ein dem korrespondierendes hohes Maß an Evidenz“, ist eine plausible Erfassung als Verletzung der Menschenwürde möglich und praktikabel.739 Der von der Würdegarantie gewährte Schutzbereich umfasst einen absolut geschützten Bereich menschlichen Daseins. Zur Bestimmung dieses Bereichs sei es notwendig, so Dreier, einen absoluten Schutzumfang zu bestimmen der allgemein und allseits akzeptiert ist und der zu einer Umgrenzung des Schutzbereiches und damit zur Festlegung des Eingriffsbegriffes auf einzelne Handlungen und Tatbestände führt. Bei der so erfolgenden Umgrenzung des Schutzbereiches handelt es sich um einen Freiheitsbereich des Einzelnen, der den absolut geschützten Bereich seiner persönlichen Entfaltung erfasst und schützt. Die Rechte, die diesen Bereich charakterisieren, hat Hilgendorf in einem Katalog elementarer Verletzungstatbestände der menschlichen Würde zusammengefasst, die – von Unrechtserfahrungen geprägt – einen Weg eröffnen, den Inhalt der Würdegarantie genauer zu fassen und verallgemeinerungsfähige Eingriffstatbestände zu formulieren.740 Die Menschenwürde lasse sich durch „ein Ensemble von mehreren subjektiven Rechten bestimmen“, so Hilgendorf.741 Er formuliert sieben Kategorien, die an elementare Unrechtserfahrungen anknüpfen: „1. Es verstößt gegen die Menschenwürde, einem Individuum existenznotwendige Güter wie Nahrung, Luft, Raum usw. vorzuenthalten (Recht auf das materielle Existenzminimum). 2. Es verstößt gegen die Menschenwürde, einem Individuum minimale Freiheitsrechte zu nehmen (Recht auf autonome Selbstentfaltung). 3. Es verstößt gegen die Menschenwürde, einem anderen (durch Tun oder Unterlassen) schweren und lang andauernden Schmerz, sei er physischer oder psychischer Art, aufzuerlegen (Recht auf Schmerzfreiheit). 4. Es verstößt gegen die Menschenwürde, die höchstpersönliche Privatsphäre eines anderen auszuleuchten und diesbezüglich Informationen Dritten zugänglich zu machen (Recht auf Wahrung der Privatsphäre). 5. Es verstößt gegen die Menschenwürde, das Bewusstsein eines anderen durch unwiderstehliche Mittel wie Drogen oder Gehirnwäsche dauerhaft oder tiefgreifend zu verändern (Recht auf geistig-seelische Integrität). 6. Es verstößt gegen die Menschenwürde, einem Menschen den Status als Rechtssubjekt zu verweigern. Dazu gehört auch die Möglichkeit, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen (Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit). 7. Ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist schließlich dann anzunehmen, wenn ein Mensch über die Verletzungsformen 1 bis 6 hinaus in extremer Weise gedemütigt oder seiner Selbstachtung beraubt wird (Recht auf minimale Achtung).“742 739
Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (35). 740 Hilgendorf, Recht durch Unrecht?, JuS 2008, 761 (766). 741 Hilgendorf, Recht durch Unrecht?, JuS 2008, 761 (766). 742 Hilgendorf, Recht durch Unrecht?, JuS 2008, 761 (766). Diese Kategorien benannte Hilgendorf bereits in einem 1999 veröffentlichten Aufsatz. Vgl. daher auch ders., Die miss-
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Diese von Hilgendorf aufgezeigten sieben Verletzungstatbestände bzw. Rechte weisen die wesentlichen Elemente eines Schutzkonzeptes des individuellen Selbst des einzelnen Menschen aus und sichern seine Wahrung und Achtung als autonome Rechtsperson zu. Dies spiegelt die Funktionen des Art. 1 Abs. 1 GG in der Systematik des Grundgesetzes wider und fasst die vom Bundesverfassungsgericht mit der Würde verbundenen Facetten zusammen. Einen ähnlichen Ansatz, wenn auch mit einer etwas anderen Schwerpunktsetzung, findet sich bei Hofmann. Ausgehend vom Problem des Umgangs mit der Menschenwürde in Grenzbereichen und Konfliktsituationen formuliert Hofmann fünf Fallkonstellationen, die die Problematik der Durchsetzung des absoluten Würdeschutzes aufzeigen.743 Dabei geht er von den Verletzungstatbeständen aus und entwickelt anhand dieser eine Umgrenzung des Schutzbereiches der Würde. Die gewählten Fallkonstellationen umfassen den gezielten Tötungsschuss, die Verabreichung von Brechmitteln, den Embryonenschutz in corpore und in vitro, den Einsatz von Zwangsmitteln (Rettungsfolter) sowie den möglichen Abschuss eines entführten Passagierflugzeuges und verweisen damit auf heftig diskutierte Spannungsfelder im Zusammenhang mit der Würdegarantie.744 Daraus wird deutlich, dass die in den Ausführungen Hofmanns aufgezeigten Verletzungstatbestände, durch die der Schutz der Würde zusammengefasst werden kann, die von Hilgendorf formulierten Rechte widerspiegeln. Während Hilgendorf positiv die Rechtspositionen des Individuums formuliert, die den Schutzbereich der Menschenwürde bestimmen, wählt Hofmann einen negativen Ansatz und geht von bekannten Fallkonstellationen aus.745 Dennoch zeigen sich vielfach Überschneidungen bis hin zur partiellen Deckungsgleichheit des so umfassten Schutzbereiches. Der Schutzumfang des Würdesatzes lässt sich in einem weitgehend konsentierten Katalog einzelner Rechte bzw. Gewährleistungen zusammenfassen, der die Funktionen des Würdesatzes aufzeigt und so die Operationalisierbarkeit der Menschenwürdegarantie in der Praxis ermöglicht.746 brauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik 7 (1999), 137 (148). 743 Hofmann, Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.) Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 225 (225). 744 Hofmann, Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.) Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 225 (225 f.). 745 Vgl. Hilgendorf bereits in einem 1999 veröffentlichten Aufsatz. Vgl. daher auch ders., Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik 7 (1999), 137 (148); ders., Recht durch Unrecht?, JuS 2008, 761 (766) und Hofmann, Die Menschenwürde in Grenzbereichen der Rechtsordnung, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.) Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 225 (225 f.). 746 Eine ähnliche Zusammenfassung der wesentlichen Elemente des Würdeschutzes findet sich bei Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 14. Dies zeigt, dass diese Elemente oder Rechte
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III. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen – Absolutes Konzept? Das Postulat der Unantastbarkeit in Art. 1 Abs. 1 GG ist ein wesentlicher Aspekt der verfassungsrechtlichen Garantie der menschlichen Würde. Als grundsätzliche Festschreibung von rechts- und staatspolitischen Vorgaben ist es ferner durchaus sinnvoll und – wenn man der dogmatischen Struktur der Würdenorm konsequent folgt – das einzig mögliche Verständnis.747 Das besondere Pathos des ersten Artikels des Grundgesetzes kommt gerade durch dieses Postulat der absoluten Unantastbarkeit zum Ausdruck.748 Die Garantie der Menschenwürde als Grundsatznorm prägt die gesamte Rechtsordnung und stellt das ganze Recht infolgedessen unter die Vorzeichen der Würde.749 Die unmissverständliche Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG entzieht die Würdegarantie jeglichen Abwägungsprozessen. Diese Ausrichtung macht das Bundesverfassungsgericht deutlich, in dem es unter anderem in Bezug auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht darauf hinweist: „Soweit das allgemeine Persönlichkeitsrecht […] unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde ist, wirkt diese Schranken absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs“.750 Die Menschenwürdegarantie prägt den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und entzieht einen absolut geschützten Bereich, der Ausdruck der Menschenwürde ist, jeglicher Abwägung. Die Menschenwürde wirkt als absolute Grenze für mögliche Eingriffe in die Interessen und Rechte des Einzelnen. Diese absolute Unabwägbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenwürde in besonderem Maße in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz hervorgehoben.751 Aufgrund des Absolutums in der Formulierung des Würdesatzes „ist unantastbar“, wird dieser auch als Leerformel kritisiert. Eine solche Unantastbarkeit der Würde könne nicht erreicht werden. Mit jeder Verletzungshandlung die festgestellt würde, wäre die Unantastbarkeit der Würde nicht mehr gegeben.752 In dem so entstehenden Spannungsfeld zwischen einem absoluten Schutzanspruch und der leeren Forderung nach etwas nicht Erreichbarem stehe der Würdeschutz zwischen „Illuals (ein möglicher) „Konsens“ dessen erachtet werden können, was die Menschenwürdegarantie ausmacht. 747 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (326). 748 Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33 f.). 749 Vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 62010, Art. 1 Abs. 1, Rn. 33. 750 BVerfGE 75, 369 (380). 751 Vgl. dazu die Ausführungen unter B. II. 2. a) (2). 752 Vgl. Jaber, Der mehrfache Sinn von Menschenwürdegarantien. Mit besonderer Berücksichtigung von Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz, 2003, 307 ff.
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sion“ und absolutem Konzept.753 Die These der Illusion erweitert dabei die Schwierigkeit der Fassung des Würdeschutzes um einen weiteren Aspekt. Der Vorwurf an den absoluten Schutz des Würdesatzes als Illusion verkennt seine Bedeutung als Verfassungsnorm und Basis der Rechtsordnung. Die Würde des Menschen ist etwas Unverlierbares und absolut Geschütztes.754 Sie kann nicht verloren gehen oder durch äußere Umstände zerstört werden.755 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, mit dieser präskriptiven (vorschreibend) und nicht deskriptiven (beschreibend) zu verstehenden Formulierung steht die Statuierung des Würdeschutzes am Beginn des Grundgesetzes und stellt eindrücklich klar, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und nicht nur sein sollte oder durch die Normierung wird.756 Dies wurde bereits durch die Ausführungen des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates im Zusammenhang mit der Normierung der Würde wie auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Unbestritten war in den Beratungen des Parlamentarischen Rates der präskriptive Charakter der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG; die Menschenwürde könne keinem Menschen genommen werden, sie sei etwas Vorstaatliches.757 In diesem Sinne formulierte auch das Bundesverfassungsgericht, dass die Menschenwürde keinem Menschen genommen werden könne, verletzbar sei aber der sich aus ihr ergebende Achtungsanspruch.758 Die Menschenwürde ist folglich etwas Unverzichtbares, das durch die Normierung des Art. 1 Abs. 1 GG geschützt wird. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut: Wenn man sich strikt auf die Funktionen und die Struktur des Würdesatzes beschränkt, kann der Würdeschutz nur als absolutes Konzept erachtet werden. Eine andere Einordnung ist mit der Struktur des Würdesatzes, der seine besondere Bedeutung und seine einzelnen Funktionen gerade aus der Struktur als absolutes Konzept gewinnt, nicht vereinbar. Dennoch führt die Einordnung des Würdesatzes immer wieder zu Debatten. Luhmann hat sich aus soziologischer Perspektive des Problems angenommen, ob es in unserer Gesellschaft so etwas wie unverzichtbare Normen, d. h. gänzlich „folgenindifferente Rechte“759 gibt oder nicht. Er fragt danach, „ob und mit welchen semantischen Mitteln das Rechtssystem die Unverzichtbarkeit von Normen be753
Vgl. Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar, 2002, 94 ff. Folkers, Menschenwürde, ARSP 87 (2001), 328 (335). 755 Vgl. Folkers, Menschenwürde, ARSP 87 (2001), 328 (335). 756 Zur überwiegenden Auffassung vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33 f.); Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 80; Giese, Das Würde-Konzept, 1975, 46. Ähnlich dazu Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 29;. Lembcke, Über die doppelte Normativität der Menschenwürde, in: Gröschner/ Lembcke (Hrsg.), Das Dogma der Unantastbarkeit, 2009, 235 (243). 757 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/1, 1993, 72. 758 BVerfGE 115, 118 (152) mit Verweis auf E 87, 209 (228). 759 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 2. 754
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gründen kann“.760 Bezogen auf die ausnahmslos garantierte Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG entwirft er dabei zu Beginn seiner Überlegungen als Fallbeispiel ein Szenario, in dem eine Gesellschaft oder ein einzelner Menschen als Entscheidungsträger in einer ausweglos erscheinenden Situation zur Lösung vor die Frage gestellt wird, soll ich foltern oder nicht? Bezogen auf den vermeintlichen Täter stellt sich nach Luhmann die Frage, ob dieser gefoltert werden darf, um beispielsweise Informationen zu erlangen, die eine Rettung Unschuldiger ermöglichen. Der Konflikt zwischen dem Wunsch, einen einzelnen oder eine Vielzahl Unschuldiger zu retten, und dabei den vermeintlichen Täter physisch oder psychisch zu verletzen, führt unter dem Blickwinkel des Art. 1 Abs. 1 GG zu der Frage, ob die Würde ein unverzichtbares, einer Folgenabwägung nicht zugängliches Recht ist.761 Oder kann es erlaubt werden, einen Terroristen zu foltern, um wichtige Informationen zu erhalten, die eine ganze Stadt oder auch das Leben eines einzelnen Menschen retten können? Gibt es eine Grenze der Umstände für den Entscheidungsträger, wann diese Entscheidung nicht mehr rechtlich sondern moralisch zu treffen ist? Wann ist diese Grenze erreicht? Welche Funktion erfüllt die Menschenwürde in diesem Zusammenhang? Luhmann entwirft diese „tragic choice“-Szenarien und eröffnet damit den Blick auf das Problem aus soziologischer Sicht.762 Er will mit seiner Analyse keine Handlungsempfehlung geben und auch kein Richtig oder Falsch definieren.763 Vielmehr will er einen Wechsel der Perspektive ermöglichen, um das Problem aus einer anderen Sichtweise zu betrachten und damit zu verdeutlichen. Dem juristischen Denken und Handeln ist regelmäßig die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht, zwischen erwartetem, gesetzlich vorgegebenem und tatsächlichem Verhalten eigen.764 Dieser Systemcode Recht/Unrecht ist paradox, die Entscheidung zwischen Recht und Unrecht wird in einer Doppelung selbst als rechtmäßig eingeordnet.765 Diese Auflösung zeigt, dass Rechtsgarantien nur durch ein Recht zur Rechtswidrigkeit erreichbar sind.766 Luhmann geht in seinen Überlegungen noch einen Schritt weiter, er sieht das „Problem der Unverzichtbarkeit angebbarer Normen oder Normbestände“ als aufgelöst an; die Unverzichtbarkeit der Norm ist für Luhmann die „Autopoiesis des Systems“, die in Form einer „entfaltungsfähigen Paradoxie“ als Grundlage das Rechtssystem prägt.767
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Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 8. Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 1. 762 Vgl. hier auch die Darstellung bei Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, JZ 2004, 756 (757). 763 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 2 f. 764 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 6. 765 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 2 f. 766 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 25. 767 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, 22 f. 761
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Das 1992 von Luhmann entworfene Szenario ist zu einem gewissen Grad mit dem Fall Daschner 2002 juristische Realität geworden. Die seit dem 11. September 2001 immer wieder und auch im Fall Daschner diskutierten Szenarien der möglichen Geiselrettung durch polizeiliche Folter des vermeintlichen Täters, um die Preisgabe des Aufenthaltsortes des Opfers oder einer Bombe zu erwirken, sind verfassungsrechtlich eindeutig; der Schutz des Lebensrechts der Geisel oder Unbeteiligter rechtfertigen solche Handlungen nicht.768 Dies ist aus Sicht des Opfers, dessen Rettung durch die mögliche Anwendung der Folter ermöglicht werden könnte, schwer nachzuvollziehen.769 Aber Folter als staatliches Zwangsmittel kann unter Geltung des Grundgesetzes nicht zugelassen werden. Folter laut Art. 1 UN-Antifolterkonvention terminologisch „jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden“770 würde als staatliches Zwangsmittel in die Integrität des Einzelnen in einem so massiven Maße eingreifen, dass dies mit den Grundrechten nicht vereinbar wäre.771 Die vorsätzliche Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen oder Leiden durch staatliche Stellen ist als Mittel zur Erlangung von Informationen nicht zulässig. Die Unabdingbarkeit der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde kann unter keinen Umständen außer Kraft gesetzt werden. Dadurch wird der Vernommene zum Objekt der Strafverfolgung, sein absoluter Anspruch auf Achtung seines Wertes und seiner individuellen und sozialen Existenz wird negiert.772 Diese Wertung kommt einfachgesetzlich in § 136a StPO zum Ausdruck, der bestimmte Verhörmethoden als
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So die herrschende Meinung, siehe stellvertretend Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (10); Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot – Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG, DÖV 2003, 873 (878); Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, 46; Poscher, Menschenwürde als Tabu, in: Beestermöller/Brunkhorst (Hrsg.), Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht?, 2006, 75 (86 f.). Zur Gegenposition gerade hinsichtlich des kontrovers diskutierten Entführungsfalles Metzler stellvertretend Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise Foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 (insb. 96 f.); ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165 (171 ff.). Ebenso Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321 (322 ff.); Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, 953 (957). Vorsichtiger dazu Miehe, Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot, NJW 2003, 1219 (1219 f.). Siehe zusammenfassend zu der damit eng verbundenen Diskussion um die „selbstverschuldete Rettungsbefragung“ Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung?, 2006. Trapp setzt sich in seinem Buch mit den verschiedenen Argumenten auseinander, die im Zusammenhang mit der so genannten Rettungsbefragung herangezogen werden. 769 Zur Frage des Vorliegens einer möglichen Würdekollision in einem solchen Fall vgl. die Ausführungen unter C. I. 3. 770 Wortlaut Art. 1 UN-Folterkonvention. 771 Vgl. Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, 689 (695). 772 BVerfG, NJW 2005, 656 (657). Vgl. zudem Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (314).
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unzulässig verbietet.773 Die Zulassung staatlicher Folter, auch zu einem moralisch guten und nachvollziehbaren Zweck, ist mit der Rechtsordnung nicht vereinbar, deren Grundlage die Menschenwürde bildet und zu der eine solche Handlung in klarem Widerspruch steht.774 Nur wenn die Moral über das Recht gestellt würde, wäre die Vornahme der notwendigen Handlung unter Missachtung des Rechts und mit Hinnahme der rechtlichen Konsequenzen möglich.775 So ist es auch im Ergebnis im Fall Daschner gesehen worden. Die sich daran anschließende generelle Diskussion hat gezeigt, dass die Zulassung von Folter als „selbstverschuldete Rettungsbefragung“ oder ausnahmsweise hinzunehmende Maßnahme durchaus in Betracht gezogen wird.776 Allen voran hat Brugger die ausnahmsweise Zulassung von Folter durch den Staat befürwortet und ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen, indem er nach einer Pflicht des Staates zur Anwendung von Folter fragte.777 Er überträgt in seinem Ansatz die bei allen Grundrechtseingriffen heranzuziehende Verhältnismäßigkeitsprüfung auf den unbedingte Geltung beanspruchenden Art. 1 Abs. 1 GG, der normalerweise von der Anwendung einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgenommen wird, da kein zu rechtfertigender Eingriff möglich ist.778 Die daraus folgende Relativierung, die Brugger in sogenannten „ticking bomb“-Szenarien zulassen will, bildet einen Widerspruch zu dem dogmatischen Verständnis des Würdeschutzes. Der Ansicht Bruggers ist daher mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Der Schutz der Menschenwürde als Fundamental773
Vgl. Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, JR 2003, 404 (406 f.); Roxin, Rettungsfolter, in: Griesbaum/Hannich/Schnarr (Hrsg.), Strafrecht und Justizgewährung. Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag, 2006, 205 (209). 774 Vgl. Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009, 689 (695 f.); Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331 (337); Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (10); Roxin, Rettungsfolter, in: Griesbaum/Hannich/Schnarr (Hrsg.), Strafrecht und Justizgewährung. Festschrift für Kay Nehm zum 65. Geburtstag, 2006, 205 (215 ff.). Differenzierend Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot – Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG, DÖV 2003, 873 (882). Siehe dazu auch die differenzierte Auseinandersetzung zur Problematik der Folter im Rechtsstaat bei Reemtsma, Folter im Rechtsstaat?, 2005. Andere Ansicht Peltzer, Das Kind Jakob und die Menschenwürde, ZRP 2013, 23 ff. Peltzer spricht sich ausdrücklich für den Einsatz staatlicher Folter aus und sieht es als „zwangsläufig und unvermeintlich“ an, dass die Menschenwürde im Einzelfall zurücktreten muss. Ebenso für die Zulässigkeit der Rettungsfolter argumentieren Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321 (322 ff.) und Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, 953 (956). 775 Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331 (338). Vgl. auch Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (10); Jäger, Das Verbot der Folter als Ausdruck der Würde des Staates, in: Putzke/Hardtung/Hörnle/Merkel/Scheinfeld/Schlehofer/Seier (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag am 14. Februar 2008, 2008, 538 (550 ff.). 776 Vgl. zur Diskussion um die „selbstverschuldete Rettungsbefragung“ die ausführliche Auseinandersetzung von Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung?, 2006. 777 Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise Foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 (96 f.); ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165 (170 f.). 778 Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise Foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 (78 ff.).
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norm des Grundgesetzes und Konstitutionsprinzip darf in keinem Fall umgangen oder außer Kraft gesetzt werden. Damit würde die grundlegende Bedeutung des Menschenwürdeschutzes im deutschen Recht missachtet.779
IV. Die Ewigkeitsgarantie – Bedeutung des Schutzes durch Art. 79 Abs. 3 GG Der normative Rang des Würdesatzes und die ihm zukommende Bedeutung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Dies kommt in besonderem Maße durch die Einbeziehung des Art. 1 Abs. 1 GG in den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG, der so genannten Ewigkeitsgarantie „als materielle Schranke der verfassungsändernden Gewalt“, zum Ausdruck.780 Art. 79 Abs. 3 GG legt fest, dass „eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche […] die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundätze berührt werden […] unzulässig“ ist. Diese „Festschreibung für die Ewigkeit“ des Art. 79 Abs. 3 GG bringt der Norm die Betitelung als „Ewigkeitsgarantie“ ein, da die so geschützten Grundsätze als unabänderlich festgelegt werden. Der spezielle Schutz, den Art. 1 Abs. 1 GG durch die Ewigkeitsgarantie erfährt, unterstreicht erneut die Beweggründe der Normierung des Würdeschutzes am Anfang der Verfassung als Reaktion auf die Geschehnisse von 1933 und den „positivrechtlichen“ Niedergang der Weimarer Verfassung. Mit der Regelung des Art. 79 Abs. 3 GG sollen vor allem die „demokratischen Grundgedanken“ geschützt und Änderungen entgegen gewirkt werden, die „die Identität der geschichtlich konkreten Ordnung“ des Grundgesetzes aufheben.781 Die Aufnahme der Würdegarantie in den Einzugsbereich der Ewigkeitsgarantie, die die als „Identität der Verfassung“782 erachteten Grundsätze schützen soll, ist insoweit von erheblicher normativer Konsequenz, als Handlungen und Maßnahmen, die als menschenunwürdig erachtet werden, vom verfassungsändernden Gesetzgeber weder zugelassen werden können noch dürfen.783 Es unterstreicht den absoluten Achtungs- und Schutzanspruch durch die unabänderliche Vorgabe der Würdegarantie, die auch durch eine Änderung der Verfassung nicht angetastet werden darf. Einzig eine völlige Neuordnung der Verfassung im Sinne des Art. 146 GG könnte eine Außerkraftsetzung bewirken. Jedoch wird bei gebotener restriktiver Auslegung des Art. 146 GG in Bezug auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG angenommen, dass nicht zwischen einem „strikt bindenden“ und einem „nur grundsätzlich verbindlichen“ Gehalt für die 779 Vgl. Poscher, Menschenwürde im Staatsnotstand, in: Bahr/Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006, 215 (225). 780 Stern, Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, 329 (329). 781 Vgl. dazu insgesamt Stern, Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, 329 (331). 782 Sachs-Sachs, GG-Kommentar, 72014, Art. 79, Rn. 38. 783 Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 45.
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Verfassungsänderung unterschieden werden kann.784 Änderungen des Grundgesetzes dürfen daher nie gegen die Menschenwürdegarantie verstoßen oder diese gar abschaffen. Dies spräche in letzter Konsequenz dafür, dass auch im Wege des Art. 146 GG der Würdeschutz nicht aus der Verfassung getilgt werden kann. Die Menschenwürde selbst ist insbesondere in ihrer Wirkung auf die Grundrechte der Art. 2 bis 19 GG aufgrund des Schutzes durch Art. 79 Abs. 3 GG zu einem gewissen Grad restriktiv auszulegen.785 Dabei darf jedoch nicht ihre Bedeutung als tragendes Konstitutionsprinzip außer Acht gelassen werden, dem eine Stärkung der Grundgehalte des Art. 1 Abs. 1 GG geschuldet ist.786 Die Menschenwürde muss immer in ihren Funktionen berücksichtigt werden. Nur dadurch kann das Konzept des Würdeschutzes im deutschen Recht operationalisierbar werden und bleiben. Die Menschenwürde als höchstes Gut an die Spitze der Rechtsordnung wird durch die Einbeziehung in Art. 79 Abs. 3 GG unter besonderen Schutz gestellt. Die Menschenwürde wird dadurch in einem Zusammenhang mit den bundesstaatlichen Grundsätzen, dem Demokratieprinzip, dem Sozial- und Rechtsstaatsprinzip und der Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt genannt, wodurch ihre Bedeutung als Fundamentalnorm verdeutlicht wird.787
D. Zusammenfassung – Die strukturellen Elemente des Art. 1 Abs. 1 GG Zusammenfassend lässt sich die normative Struktur der Menschenwürdegarantie aus den verschiedenen Aspekten im Rahmen eines Gesamtkonzept entwickeln, das die wesentlichen Grundlinien des deutschen Würdekonzeptes aufzeigt. Dieses umfasst die Funktionen und Elemente der Inhaltsbestimmungen der Menschenwürde, wie sie durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die Rechtswissenschaft entwickelt worden sind. So werden der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG verschiedene dogmatische Funktionen, von der primären Funktion des Abwehrrechts bis hin zu der eines Auffanggrundrechts und der Sicherung eines grundrechtlichen Kernbereichs zugesprochen. Konsentierter Kern ist die Anerkennung der „herausragenden“ Bedeutung der Würdegarantie als „oberstes Konstitutionsprinzip“788 und strukturbildender Grund784
Sachs-Sachs, GG-Kommentar, 72014, Art. 79, Rn. 50. Vgl. dazu die Ausführungen von Stern, Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, 329 (336 f.). 786 Vgl. Stern, Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, 329 (335). 787 Vgl. Jarass/Pieroth-Pieroth, GG-Kommentar, 132014, Art. 79, Rn. 10 f. Vgl. ebd., Art. 1, Rn. 2. 788 BVerfGE 61, 126 (137). 785
D. Zusammenfassung
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satz für die gesamte deutsche Rechtsordnung.789 Der Würdesatz gibt der Rechtsordnung eine nichtkonsequentialistische, nichtutilitaristische Struktur vor und sichert dadurch ein eben solches Verständnis der Grundrechte als Grundlage der Rechtsordnung. Ferner erkennt die herrschende Meinung den Grundrechtscharakter des Würdesatzes an. Der Würdesatz gewährt damit ein subjektives Recht des Einzelnen auf Achtung und Schutz seiner Würde. Bei der Auseinandersetzung mit den Funktionen der Menschenwürde ist gerade die spezifische Normstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten, die sich aufgrund der Besonderheit des nicht sachlich geprägten Schutzbereiches der Menschenwürdegarantie – der nicht einen spezifischen Bereich, sondern ein umfassendes Spektrum menschlichen Handelns erfasst – ergibt.790 Hiervon ausgehend muss die dogmatische Einordnung unter Würdigung der einzelnen Funktionen und Facetten des Schutzes erfolgen und die Komplexität der zu erfassenden Aspekte berücksichtigen, wobei eine Differenzierung derselben notwendig ist. Unumstritten dient die Menschenwürdegarantie heute nicht mehr primär nur der Abwehr totalitärer Gesellschafts- und Staatsformen, deren Gegenpol sie ursprünglich bildete.791 Vielmehr hat sich die Menschenwürde zu „eine[m] der letzten nahezu allgemein akzeptierten Werte unserer Gesellschaft“ entwickelt.792 Sie dient zentral der Anerkennung des Menschen als Rechtsperson und bildet das Fundament wechselseitiger Anerkennung der Menschen als Rechtspersonen.793 Zusammenfassend können aus der erfolgten Analyse fünf funktionale Strukturelemente der Menschenwürde als Rechtsbegriff und Grundrechtsgewährleistung nachgezeichnet werden, die das Würdekonzept des deutschen Rechts prägen. Diese Strukturelemente zeichnen das deutsche Konzept des Würdeschutzes aus und ermöglichen eine Operationalisierbarkeit der Menschenwürde im deutschen Recht. Sie dienen im Folgenden als Bezugspunkte im Vergleich zu einem möglichen europäischen Konzept. Ein direkter Vergleich der normativen Konzepte wird durch die Beantwortung der Frage ermöglicht, ob und wenn ja, welche Aspekte des deutschen Rechts in das europäische Recht übernommen worden sind oder diesem als Orientierungspunkt gedient haben. Im Folgenden werden daher die Strukturelemente des deutschen Würdekonzeptes noch einmal in einem Überblick zusammengefasst dargestellt. 789 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (18). 790 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 9. 791 Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik 7 (1999), 137 (138). 792 Vgl. Hilgendorf, Die missbrauchte Menschenwürde, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch Recht und Ethik 7 (1999), 137 (138). 793 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (18).
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I. Schutz des Individuums und Achtung des Menschen als Rechtsperson Mit dem Schutz des Individuums als wohl eines der wesentlichsten Strukturelemente der Menschenwürdegarantie werden verschiedene Bereiche erfasst. So ist jedem Menschen Würde eigen und ihm kommt um seiner selbst willen ein unbedingter, von aller staatlichen Gewalt zu achtender Wert- und Achtungsanspruch zu. Die Anerkennung des grundsätzlichen und gleichen Eigenwerts, der jedem Menschen kraft seiner Persönlichkeit zuerkannt wird, besteht „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status“.794 Der Mensch ist immer eigenständige Person und niemals Sache, er gehört niemandem und ist nur seiner autonomen Selbstbestimmung unterworfen.795 Er muss insofern stets als Person in seiner Rechtssubjektivität geachtet werden und im Zuge dessen auch immer Zweck an sich selbst sein und bleiben.796 Im Mittelpunkt des Schutzes der Würdegarantie stehen daher die personale Identität und Individualität des Menschen, ebenso wie die Achtung gerade dieser Einzigartigkeit seiner individuellen Persönlichkeit.797 Zum so umfassten Begriff der Rechtsperson gehört die Wahrung der körperlichen wie auch der seelischen Integrität, die durch Art. 1 Abs. 1 GG besonders in Verbindung mit den Grundrechten aus Art. 2 und 3 GG geschützt wird. Eine Verrechenbarkeit des Einen mit Anderen ist ebenso wenig möglich wie die Disposition des Einen zum alleinigen Wohl des Anderen, Mehrerer oder der Allgemeinheit.798 Das Verletzungsverbot auf der einen Seite geht auf der anderen Seite mit dem prinzipiellen Gebot der Hilfe und des Schutzes Hand in Hand.799 Jedoch ist im Verhältnis des Achtungs- und Schutzrechts das Primat der Achtung unverkennbar und wesentlicher Bestandteil der grundgesetzlichen Würdekonzeption. Ergänzend kommt die Wahrung eines „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Existenzminimums“800 hinzu, die dem Staat insoweit nicht nur eine passive Abwehrpflicht, sondern auch eine aktive Schutzpflicht auferlegt.801 Die Menschenwürde hat sich hierbei zur Grundlage eines auf ihr beruhenden Leistungs- und Teilhaberechts entwickelt. Dem Menschen ist die Grundsubstanz der lebensnotwendigen Güter zu gewähren, die als Grundlage eines men794 BVerfGE 87, 209 (228); 96, 375 (399). Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 14. 795 Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, 809 (811 f.). 796 Vgl. Epping/Hillgruber-Hillgruber, Grundgesetz Kommentar, 22013, Art. 1, Rn. 12; Seelmann, Menschenwürde: Ein Begriff im Grenzbereich von Recht und Ethik, in: Fischer/ Strasser (Hrsg.), Rechtsethik, 2007, 29 (35). So auch BVerfGE 115, 118 (153). 797 Vgl. Hufen, Die Menschenwürde, JuS 2010, 1 (2). 798 Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, 62014, § 12, Rn. 5. 799 Vgl. Seelmann/Demko, Rechtsphilosophie, 62014, § 12, Rn. 5 f. 800 Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 14. 801 Vgl. Schüttauf, Menschenwürde, Zur Struktur und Geschichte des Begriffs, in: Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2008, 25 (38).
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schenwürdigen Daseins erforderlich sind. Diese Grundlage ist als Existenzminimum auch durch staatliche Maßnahmen zu erhalten und zu schützen. Dadurch soll dem Einzelnen die Teilnahme und Zugehörigkeit zur Gesellschaft ermöglicht und die Achtung seiner Autonomie gewährleistet werden. Die primäre Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG liegt im Schutz des Individuums vor staatlichen Übergriffen, indes auch vor Verletzungen seiner Würde durch Dritte.802 Die Menschenwürdegarantie zeigt hierbei eine absolute Grenze dessen auf, was dem Menschen als Rechtsperson angetan werden darf. Besonders deutlich wurde diese Grenzziehung und absolute Wirkung der Menschenwürde in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz:803 Auch wenn aus quantitativen oder vielleicht sogar qualitativen Überlegungen die Zahl derer, die gerettet werden können, die Zahl der „Opfer“ einer staatlichen Abwehrhandlung übersteigen würde, ist der Abschuss eines Passagierflugzeuges und die damit verbundene Inkaufnahme des Todes der Insassen absolut indiskutabel. Eine Aufopferung des Einzelnen zu Gunsten des Staates oder der Allgemeinheit ist mit der grundgesetzlichen Werteordnung nicht vereinbar. Das Individuum darf weder in einer ZweckMittel-Relation noch im Weg einer Relativierung in seinem durch die Würde garantierten, fundamentalen Achtungsanspruch verletzt werden.804 Eine Verkennung der Subjektqualität hin zur Objektivierung des Einzelnen in verletzender Art und Weise ist nicht mit dem gewährten Schutz vereinbar. Ferner bildet die Gewährleistung des Art. 1 Abs. 1 GG die Basis der gegenseitigen Anerkennung der Menschen als Rechtspersonen.805 Die unverlierbare Würde des Menschen als Person zeigt sich eben gerade in dieser reziproken Anerkennung als selbstverantwortliche Persönlichkeiten.806 Die Normierung des Art. 1 Abs. 1 GG rückt den Menschen in seiner Eigenschaft als würdebegabte Persönlichkeit in den Vordergrund als zentralen Bezugspunkt der Verfassung und schützt ihn umfassend in seiner Individualität.
II. Schutz und Achtung der personellen Autonomie In engem Zusammenhang mit dem Schutz des Individuums stehen der Schutz und die Achtung der persönlichen Entfaltung und der Autonomie des Einzelnen. Diese nicht immer von einander zu trennenden Aspekte des Würdeschutzes sichern die Anerkennung des Individuums als Rechtsperson als zentrale Funktion der Men802
BVerfGE 115, 118 (152) = NJW 2006, 751 (759). BVerfGE 115, 118 = NJW 2006, 751. 804 Vgl. BVerfGE 109, 279 (313 f.). 805 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (18). 806 Vgl. Epping/Hillgruber-Hillgruber, Grundgesetz Kommentar, 22013, Art. 1, Rn. 12 f. 803
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schenwürdegarantie und zeichnen sie als „Grundnorm personaler Autonomie“ aus.807 Die Achtung der leiblich-seelischen Integrität und der Intimsphäre bilden die wesentlichen Pfeiler des Respekts vor der Würde des Einzelnen.808 Ein wesentlicher Aspekt der Würde des Menschen im Rechtssinn ist somit die grundsätzliche Freiheit des Einzelnen, über sich selbst als Person zu verfügen und sein Leben nach seiner Selbst- und Weltvorstellung eigenverantwortlich zu gestalten.809 Durch die aus der Würde erwachsene Autonomie des Menschen besteht eine strenge Begründungsbedürftigkeit eines jeden Eingriffs in die Selbstbestimmung des Einzelnen.810 Die Menschenwürde betont die Eigenständigkeit des Einzelnen in der Gestaltung und Bestimmung seines Lebens.811 Er soll selbst nach seinen „Überzeugungen und Vorstellungen“ in freier Selbstbestimmung über seinen „Lebensentwurf und seinen Vollzug“ entscheiden können.812 Diese Selbstbestimmung wird durch Art. 1 Abs. 1 GG in der Verfassung verankert. Das Bundesverfassungsgericht weist das „Prinzip der Selbstbestimmung als den (wesentlichen) Menschenwürdegehalt der Grundrechte aus“.813 Der Mensch wird in diesem Zusammenhang anknüpfend an das Vernunftrecht, als vernunftbegabtes, selbstbestimmtes Wesen erfasst, das selbst über seine Handlungen entscheiden kann. Diese Fähigkeit des Einzelnen über die eigene Lebensgestaltung autonom zu entscheiden, prägt die Ausrichtung des Grundgesetzes. Insbesondere in den aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit anderen Grundrechten abgeleiteten Rechten des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“814 und seinen Ausprägungen im Recht auf „informationelle
807 Vgl. BGHSt 44, 308 (317) „[…] dem Zweck des Art. 1 Abs. 1 GG gerecht. Denn dieser soll nicht der Einschränkung, sondern gerade dem Schutz der Würde des Menschen dienen, wozu die grundsätzliche Freiheit gehört, über sich selbst zu verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten zu können“. Vgl. auch BVerfGE 115, 118 (153) und weiterhin Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (27). 808 Vgl. Schüttauf, Menschenwürde. Zur Struktur und Geschichte des Begriffs, in: Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2008, 25 (38 f.). 809 Vgl. BVerfGE 49, 286 (298). 810 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, 42014, § 10, Rn. 14, 16. 811 Vgl. dazu die Ausführungen bei Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein, in: Gröschner/Kirste/Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, 2008, 159 (170 f.) und ebenso Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 31. 812 Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 1 (2010), 11 (20). 813 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (28). 814 Abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat sich aus dem Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als eigenständiges (Teil-)Recht entwickelt. Deutlich dazu BVerfGE 71, 183 (201); 95, 267 (303 f.). Vgl. zudem die Darstellung bei Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 2, Rn. 36 ff.
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Selbstbestimmung“815, und des „menschenwürdigen Existenzminimums“816 zeigen sich die grundlegende Achtung und Bedeutung der Autonomie des Einzelnen und der Schutz des Individuums durch die Menschenwürdegarantie. Die bestehende Verbindung der beiden Bereiche zeigt das eng zusammenhängende Schutzkonzept der Würdegarantie ebenso wie das Verhältnis zu anderen Grundrechten und Staatsprinzipien. Dies verdeutlichen in besonderem Maße die Entscheidungen des BGH zum Einsatz des Lügendetektors und die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Zulässigkeit von Peep-Shows.817 Der Einzelne muss selbst entscheiden können, ob er einen Eingriff in seine Rechte duldet; dies ist Teil seiner grundsätzlichen Freiheit, über sich selbst zu verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich zu bestimmen.818 Der Respekt vor der Entscheidung des Individuums ist zu wahren. Ein Spannungsverhältnis kann jedoch entstehen, wenn die Autonomie des Individuums auf entgegenstehende gemeinschaftliche Vorgaben trifft. Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Beschreibung des Menschen als „gemeinschaftsgebunden und -bezogen“819 kann in diesem Zusammenhang als missverständlich empfunden werden. Sie ist dahingehend zu verstehen, dass Einschränkungen der Rechte und Ansprüche des Einzelnen insoweit hinzunehmen sind, wie dadurch ein Zusammenleben ermöglicht wird. Der absolute Schutz der Würde des Einzelnen und damit verbunden die Achtung der Eigenständigkeit der Person bilden die Grenze dessen, was in diesem Zusammenhang hingenommen werden muss.820 Die Gemeinschaftsbezogenheit richtet sich mithin mehr auf die allgemeine Handlungsfreiheit im Spannungsverhältnis zu Interessen der Allgemeinheit und Rechten Dritter.821 Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit sind durch den Einzelnen bis zu einem gewissen Maße zu dulden, um so ein geregeltes Zusammenleben zu ermöglichen. Dies kommt insbesondere in strafrechtlichen Vorgaben zum Ausdruck. Der Kernbereich der persönlichen Freiheit des Einzelnen, der durch die Würde geschützt ist und die personale Autonomie umfasst, wird von der Gemeinschaftsbezogenheit jedoch nicht erfasst und kann von dieser nicht eingeschränkt werden. Hier besteht ein absoluter Schutz durch Art. 1 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht unterstreicht ausdrücklich, dass der Einzelne auch in der Gemeinschaft 815 Abgeleitet aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst es das Recht des Einzelnen, „selbst über die Preisgabe und Verwendung personenbezogener Daten zu entscheiden“. Vgl. dazu insbesondere BVerfGE 117, 202 (228); 118, 168 (184); 120, 274 (312); 128, 1 (42); 130, 1 (35) sowie die Darstellung bei Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 2, Rn. 42 ff. 816 Abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG. Vgl. dazu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Hartz IV-Regelsätze BVerfGE 125, 175. 817 Vgl. BGHSt 44, 308 sowie BVerwGE 64, 274 und E 84, 314. 818 BGHSt 44, 308 (317). 819 BVerfGE 45, 187 (227 f.) mit Bezugnahme auf E 33, 303 (334) zum „gemeinschaftsbezogenen und gebundenen“ Individuum sowie auf E 30, 1 (20) und 27, 1 (6) m.w.N. 820 BVerfGE 33, 303 (334). 821 Vgl. dazu BVerfGE 117, 71 (89).
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immer „als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt“ bleiben muss.822 Dies betont und verdeutlicht die Balance zwischen dem Menschen als selbstbestimmtes, autonomes Individuum und als soziales Wesen der Gemeinschaft.
III. Gewährung fundamentaler Basisgleichheit Ergänzt werden die dogmatischen Funktionen hinsichtlich des Schutzes des Individuums und der Autonomie durch die Gewährung einer fundamentalen Basisgleichheit.823 Zur Würde eines Menschen als Teil des Gemeinwesens gehört es zwingend, dass ihm ein nicht irgendwie abgewerteter oder abwertbarer Status zukommt. Alle Menschen unabhängig von ihren Eigenschaften, ihren persönlichen Leistungen, ihrem sozialen Status und auch „von der voraussichtlichen Dauer des individuellen […] Lebens“824 sind gleich und vor allem gleich an Würde.825 Es verbietet sich daher jegliche Diskriminierung, Sklaverei und demütigende Ungleichbehandlung nicht nur aus Gründen des Art. 3 GG, sondern auch angesichts der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG.826 Die Würde geht in ihrer Gewährleistung über die des Gleichheitssatzes des Art. 3 GG hinaus. Die Anerkennung des grundsätzlichen und gleichen Eigenwertes des Menschen kraft seiner Persönlichkeit, seines Personseins – unabhängig von sozialen und gesellschaftlichen Leistungen und Positionen – ist ebenso Zeichen des Schutzes des Individuums wie die damit verbundene Gewährung einer fundamentalen Basisgleichheit. So wird der Mensch zwar in seiner Individualität und Einzigartigkeit anerkannt und geachtet, aber dennoch wird die absolute Gleichheit aller Menschen in ihrer Vielfältigkeit durch ihre Gleichheit in der Würde begründet.827 Die Gleichheit der Menschen zeichnet sich in ihrer Verschiedenheit als Individuen aus.828 Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht – zu Recht – betont.829 Äußere Umstände haben folglich keinerlei Einfluss auf die Würde, es gibt keine unterschiedliche Wertigkeit des Lebens.830 Diese elementare Basisgleichheit aller Menschen folgt direkt aus Art. 1 Abs. 1 GG und ist unmittelbar Teil der Würdegarantie. 822
BVerfGE 45, 187 (228). Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HStR VIII, 32010, § 181, Rn. 51 ff. Vgl. auch Hartleb, Der neue § 14 III LuftSiG und das Grundrecht auf Leben, NJW 2005, 1397 (1398). 824 BVerfGE 115, 118 (152). 825 Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 1, Rn. 7. 826 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 35. 827 Vgl. Folkers, Menschenwürde, ARSP 87 (2001), 328 (336 f.). 828 Folkers, Menschenwürde, ARSP 87 (2001), 328 (337). 829 Vgl. BVerfGE 87, 209 (228). 830 Ein offener Dissens, insbesondere hinsichtlich der Rechtsgleichheit und der Achtung einer solchen, zeigte sich zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Qualifikation des „Kindes als Schaden“ und ob eine solche gegen Art. 1 Abs. 1 GG 823
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IV. Strukturbildende Basis der (Grund-)Rechtsordnung Zudem prägt Art. 1 Abs. 1 GG als wichtigste Wertentscheidung und Fundament des Grundgesetzes die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland.831 „Die Verfassung des Grundgesetzes findet ihren ideengeschichtlichen Ausgangspunkt und ihre zielgebende Grundstruktur in dem Gedanken der personalen Würde und Freiheit.“832 Die Würde des Menschen gründet sich – ausgehend von den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und der einschlägigen Literatur – in seiner (inneren) Autonomie, die sich in der Anerkennung (äußerer) Freiheit und Gleichheit der Menschen untereinander widerspiegelt und sich insofern auch in der rechtlichen Ordnung des Staates als Mittel autonomer Selbstorganisation freier und gleicher Menschen in gleichen Sphären äußerer Freiheit wieder finden muss.833 Ein durch die Würdegarantie geprägtes nichtkonsequentialistisches – und insbesondere nichtutilitaristisches – Verständnis der Grundrechte als Rechte des Einzelnen bildet somit die Basis.834 Die Würdegarantie begründet die „materielle Einheit“ der Verfassung.835 Sie kann nicht durch andere Verfassungsnormen beschränkt werden, sondern steuert als
verstoße. Während der Zweite Senat eine haftungsrechtliche Qualifikation in diese Richtung als Verstoß gegen die Menschenwürde sah, verneinte der Erste Senat einen Verfassungsverstoß. Eine Qualifikation des Kindes als Schaden geht dabei von der zivilrechtlichen Beurteilung aus, die nicht die Existenz des Kindes als Schaden annimmt, sondern die durch eine ungewollte Schwangerschaft nach einer fehlgeschlagenen Sterilisation oder Abtreibung entstehenden Unterhaltskosten. Somit wird nicht das Kind in seiner elementaren Basisgleichheit zu anderen Kindern betroffen, sondern es kommt auf die (arzt-)haftungsrechtliche Qualifikation an. Eine weitaus bedeutendere Frage ergibt sich in Bezug auf das so genannte genetische Screening, wobei durch Reihenuntersuchungen kategoriale Merkmale erfasst werden sollen, die eine bestimmte Status- oder Rollenzuschreibung ermöglichen, dies wird als Beeinträchtigung der elementaren Basisgleichheit und damit als Verletzung der Menschenwürde gesehen. Siehe dazu Maunz/Dürig-Di Fabio, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 1 (2001), Rn. 221 f.; SachsHöfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 35 f. 831 Vgl. Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 1, Rn. 2; Starck, Verfassungsrechtliche Grenzen der Biowissenschaft und Fortpflanzungsmedizin, JZ 2002, 1065 (1066 f.); Thomas, Würde als absoluter und relationaler Begriff, ARSP 87 (2001), 299 (302); Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 54 f. m.w.N. Vgl. zur Bedeutung der Menschenwürde als Element der Verfassung die Ausführungen von Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, 7 ff. 832 Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR II, 32004, § 21, Rn. 94. 833 Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde, 2007, 87 (92). 834 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (23); sowie Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 835 Thomas, Würde als absoluter und relationaler Begriff, ARSP 87 (2001), 299 (302).
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„tragendes Konstitutionsprinzip“836 die Auslegung der Normen des Grundgesetzes und reichert die nachfolgenden Grundrechte an.837 Auf diese Weise kann die Menschenwürdegarantie dem durch sie statuierten Schutz- und Achtungsanspruch umfassende Geltung und Wirksamkeit verschaffen. Art. 1 Abs. 1 GG bildet somit gewissermaßen den „Schlüssel zum Grundrechtskatalog“838. Durch die vielfältige Beeinflussung der Grundrechte durch die Menschenwürdegarantie fungiert Art. 1 Abs. 1 GG als Basis. Dies zeigt sich in der zum einen erweiternden und zum anderen begrenzenden Funktion der Würdegarantie bezogen auf die Schutzbereiche der einzelnen Grundrechte, die dadurch die Verfassungsinterpretation prägt und direkten Einfluss auf die Anwendung der Grundrechte in der Praxis nimmt, um den durch die Menschenwürde garantierten Funktionen die größtmögliche Geltung zu verschaffen.839 So ist unter diesen Vorgaben eine am Nutzen orientierte Auslegung oder Abwägung der Grundrechte nicht zulässig. Der Einzelne darf nie zu Gunsten des Kollektivs unverhältnismäßig benachteiligt oder gar geopfert werden, sondern muss immer Selbstzweck bleiben.840 Daneben fungiert die Menschenwürdegarantie im Rahmen der Grundrechtsdogmatik als Schranken-Schranke.841 Die Menschenwürde erfüllt durch ihre besondere Struktur und den Sonderstatus mehrere Kategorien und muss dies auch, um eben dieser gegebenen Struktur und dem ihr zugedachten Status gerecht zu werden. Dabei verschmelzen die Funktionen der Fundamentbildung und des Schutzes des Individuums miteinander, was die innere Geschlossenheit der einzelnen Funktionen zeigt. Der Einfluss der Menschenwürdegarantie wirkt somit auf eine durch Auslegung und Interpretation der Grundrechtsordnung geschaffene einheitliche, an eine strukturelle Basis gebundene Werteordnung hin. Diese Werteordnung steht im Zeichen der historischen Entwicklungen, die untrennbar mit dem Grundgesetz und der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind. Dadurch zeigt sich unmittelbar das im Vorstehenden nachgezeichnete Verhältnis der Menschenwürde zu den anderen Grundrechten. Diese Prägung führt zu einer Omnipräsenz der Men-
836 Vgl. BVerfGE 39, 1 (42); 87, 209 (228); 96, 375 (399); 102, 370 (389); 109, 279 (311); 115, 118 (152); 117, 71 (89). 837 Jarass/Pieroth-Jarass, GG-Kommentar, 132014, Art. 1, Rn. 2. 838 Vgl. Kahl/Waldhoff/Walter-Wernicke, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Grundrechte, Erläuterungen zum Abschnitt I (1995). 839 Vgl. dazu die Ausführungen von Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 53 ff. 840 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (313). Siehe dazu im Ansatz auch Epping/Hillgruber-Hillgruber, Grundgesetz Kommentar, 22013, Art. 1, Rn. 12 ff. Siehe zusammenfassend Kamm, Nonconsequentialism, in: La Follette (Hrsg.), The Blackwell Guide to Ethical Theory, 2000, 205 ff. 841 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, 153.
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schenwürdegarantie im Recht und verdeutlicht den erheblichen Einfluss der Menschenwürde als antiutilitaristische Basis der Rechtsordnung.
V. Deontologische Struktur der Rechtsordnung und „oberstes Konstitutionsprinzip“ Neben der Bedeutung für den Einzelnen und die Grundrechtsordnung kommt der Menschenwürde auch eine richtungsweisende Bedeutung im Rahmen der gesamten Rechtsordnung zu. So führt die Menschenwürde als Basisnorm zu einer deontologischen Ausrichtung der Rechtsordnung und Festsetzung bestimmter Grundwerte.842 Die nichtkonsequentialistische, nichtutilitaristische Struktur wird besonders in dem entstehenden Spannungsverhältnis zwischen den subjektiven Rechten und Ansprüchen des Einzelnen und den Interessen des Kollektivs deutlich.843 Der auf der Maximierung des gemeinschaftlichen Nutzens basierende Gedanke kollektiver Wohlfahrt und das Interesse des Einzelnen an der Wahrung und Verwirklichung seiner Rechte und Ansprüche können durch die unterschiedliche Ausrichtung auf das Kollektiv einerseits und das Individuum andererseits miteinander in Konflikt geraten. Eine utilitaristische Ausrichtung, die den Nutzen und die Interessen des Kollektivs in den Vordergrund stellt und das bestehende Spannungsverhältnis zugunsten des allgemeinen Nutzens löst, ist durch den Würdesatz für die gesamte Rechtsordnung ausgeschlossen.844 Der Würdesatz gibt vor, dass der Einzelne, das Individuum, immer Selbstzweck ist und bleiben muss. Eine Vereinnahmung oder Instrumentalisierung des Einzelnen für eine Maximierung des kollektiven Nutzens auf Kosten des individuellen Eigenwerts des Einzelnen ist nicht möglich.845 Dieses deontologische Verständnis von Rechten wird durch den Würdesatz vorgegeben und beruht im Grundsatz auf der „Getrenntheit der Personen“ und ihrem Eigenwert, der jeglicher Verrechenbarkeit entzogen ist.846
842
Vgl. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter? Straf-, verfassungs- und völkerrechtliche Anmerkungen zum Begriff „Folter“ im Spannungsfeld von Prävention und Repression, KritV 87 (2004), 24 (47). 843 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 844 Vgl. Fenner, Menschenwürde – eine „Leerformel“? Das Konzept der Menschenwürde in der Bioethik, AZP 32 (2007), 137 (142). 845 Vgl. Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (19). 846 Vgl. insgesamt Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). Vgl. außerdem Neumann, Die Tyrannei der Würde, ARSP 84 (1998), 153 (154 f.).
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Teil 1: Das Prinzip der Menschenwürde im deutschen Recht
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz847 hat dieses Spannungsverhältnis deutlich ausdifferenziert und den Vorrang der Interessen des Einzelnen vor dem Kollektivnutzen betont. Das Spannungsverhältnis des absoluten Achtungsanspruches des Einzelnen und dem Interesse des Kollektivs an der Rettung einer maximal möglichen Anzahl betroffener Personen kommt in dieser Entscheidung in einer seltenen Klarheit zum Ausdruck. Durch seine konsequent deontologische Argumentation erteilt das Bundesverfassungsgericht jeglichen Abwägungen quantitativer wie qualitativer Art zugunsten einer Entscheidungsoption für einen Abschuss eine radikale Absage und unterstreicht dadurch die grundsätzlich nichtkonsequentialistische Ausrichtung der Rechtsordnung, die durch den Würdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG vorgegeben wird. Das Gericht hat in seinen Ausführungen wesentliche Aspekte der Struktur des Würdesatzes und seiner Funktionen betont. Die Würde im Rechtssinn ist demnach kein kollisionsfähiges Gut und kann nicht gegen andere Schutzgüter der Verfassung abgewogen werden.848 Ferner ist das Verletzungsverbot dem Schutzgebot lexikalisch und normlogisch vorgeordnet, so dass eine „Würdekollision“ schon dadurch ausgeschlossen wird.849 Dieses Verständnis des Würdesatzes folgt aus seiner Dogmatik und unterstreicht seine Absolutheit, die in dieser Ausprägung eine Besonderheit des deutschen Rechts darstellt. Im deutschen Recht ist der Gedanke der Achtung des Einzelnen und seiner vorrangigen Bedeutung als Grundlage der Rechtsordnung vom Würdesatz ausgehend aufgebaut und konsequent umgesetzt.850 Dies ist Zeichen der Struktur der nichtkonsequentialistisch ausgerichteten Rechtsordnung, die durch die Würdegarantie geprägt wird.851
847
BVerfGE 115, 118. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (34). 849 Vgl. dazu Gutmann, Einige Überlegungen zur Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Weitin (Hrsg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, 2010, 17 (20). 850 Vgl. Dreier, Bedeutung und systematische Stellung der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, in: Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004, 33 (33 f., 35). 851 Vgl. Gutmann, Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff, in: Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2, 2011, 309 (316). 848
Teil 2
Die Menschenwürde im europäischen Recht – am Beispiel ausgewählter Rechtsnormen des Europarates sowie der Europäischen Union und der entsprechenden Rechtspraxis A. Strukturelle Entwicklungen – Ausgangslage Der Begriff der Menschenwürde wird seit einigen Jahren als „Exportschlager“ des deutschen Rechts gehandelt; seine Rezeption in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen sowie im trans- und supranationalen Recht ist zunehmend zu beobachten.1 Gerade auf europäische Ebene entwickelt sich die „Menschenwürde“ in immer stärkerem Maße zu einem Rechtsbegriff von zentraler Bedeutung, sei es im „Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin“ des Europarates oder in den neueren Verfassungsdokumenten der Europäischen Union, etwa Art. 1, 25 und 31 der Europäischen Charta der Grundrechte. Anknüpfend an die Analyse des Konzeptes der Menschenwürde im deutschen Recht, die sich in fünf wesentlichen Strukturelementen verdichten lässt (Teil 1, D.), stellt sich nun die Frage, was genau mit dem „Menschenwürdebegriff als Prinzip des europäischen Rechts“ rezipiert wird. Das Prinzip der Menschenwürde hat in der Form, in der es vom Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Interpretation in der deutschen Rechtswissenschaft verstanden wird, einen deontologischen, kategorischen Charakter, der in seiner, auf die Unantastbarkeit der Rechtsperson zielenden, ratio einen sehr starken Schutz des Einzelnen bietet.2 Dieses Konzept erweist sich jedoch fast als „deutscher Sonderweg“3 der Grundrechtstheorie. 1
So findet sich eine Normierung der Menschenwürde z. B. im Europäischen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin von 1997, der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und der UN Anti-Folterkonvention von 1984, um nur zwei zu nennen. Zudem prägt die Menschenwürde viele (Menschenrechts)Abkommen, die spezifische, eng mit der Menschenwürde verbundene Bereiche (insb. Verbot der Sklaverei, Zwangsarbeit, Folter, Rassendiskriminierung und Diskriminierung der Frau) schützen. Vgl. dazu auch Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 42 ff. 2 Vgl. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter? Straf-, verfassungs- und völkerrechtliche Anmerkungen zum Begriff „Folter“ im Spannungsfeld von Prävention und Repression, KritV 87 (2004), 24 (47).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Es stellt sich daher die Frage, was die Menschenwürde im europäischen Recht erfasst. Wie funktioniert die Menschenwürde im supranationalen Kontext? Umfasst der gegenwärtig zu beobachtende Export des Begriffes der Menschenwürde nur die Begriffshülse oder auch das normative Konzept, das der deutschen Dogmatik zu Art. 1 Abs. 1 GG zugrunde liegt?
B. Entwicklungslinien überstaatlicher Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer gemeinschaftlichen Rechtsordnung Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 zeichnete sich nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und auf internationaler Ebene eine entscheidende Änderung der rechtlichen Grundordnung und der Bedeutung von Grund- und Menschenrechten ab. Mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 und der Europäischen Gemeinschaften – bestehend aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), 1951 gegründet, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), beide 1957 gegründet – begann eine völkerrechtliche Epoche, die auf ein friedliches Miteinander demokratischer Staaten auf sozialer wie wirtschaftlicher Ebene ausgerichtet war.4 Neben den Bestrebungen, die transnationale Zusammenarbeit und die Gemeinschaft zu stärken, kam der Entwicklung eines umfassenden Menschenrechtsschutzes eine entscheidende Bedeutung zu.5 Auch wenn der Schutz grundlegender Menschenrechte schon seit zwei Jahrhunderten „zum ideengeschichtlichen und konstitutionellen Erbe der Völker beidseits des Atlantik“ gehörte,6 erreichte der Schutzumfang und die Intensität zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität. Die Entwicklung eines universellen europäischen Grundrechtsschutzes und einheitlicher Grundrechte durch supranationale Organisationen, insbesondere den Europarat, die Europäischen Gemeinschaften und später die Europäische Union, sind folglich ein „Phänomen“ der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und tatsächlich erst dieser Zeit, „die mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 begann“.7 Sie stehen in engem Zusammenhang mit den damaligen – zeitgleichen – Entwicklungen eines 3 Vgl. Kirste, Die Würde des Menschen im Recht, ARSP 95 (2009), 420 (421); Waldhoff, Menschenwürde als Rechtsbegriff und als Rechtsproblem, Evangelische Theologie 66 (2006), 425 (428 f.). 4 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 4, Rn. 1 ff. 5 Vgl. Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in europäischen und internationalen Menschenrechtsverträgen, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 22010, 83 (83). 6 Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen GrundrechteCharta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, Bd. 1, 2005, 13 (13). 7 Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in europäischen und internationalen Menschenrechtsverträgen, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 22010, 83 (83).
B. Entwicklungslinien überstaatlicher Zusammenarbeit
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internationalen Menschenrechtsschutzes.8 Geprägt durch die ganz Europa erfassten Geschehnisse und Schrecken des Zweiten Weltkrieges9 und bestärkt durch vielfältige völkerrechtliche Abkommen und Verträge, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948, die Europäische Menschrechtskonvention von 1950 und die 1961 erlassene Europäische Sozialcharta, rückte der Mensch als Subjekt des Rechts auf überstaatlicher Ebene in den Mittelpunkt. Dies spiegelt auch die zunehmende Bedeutung der Menschenwürde im Europaund Völkerrecht wider, die sich in diesem Zusammenhang langsam und sukzessive entwickelt hat.10 Auf überstaatlicher Ebene wurde die Menschenwürde erstmals in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowohl in der Präambel als auch in Art. 1 verankert. Die Präambel unterstreicht die Würde aller Menschen, die ihnen angeboren und unveräußerlich ist und als solches die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft bildet: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt, […] da die Völker der Vereinten Nationen in der Charta ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut bekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit zu fördern, […].“11
Damit bekannten sich die Vereinten Nationen zur angeborenen Würde jedes Menschen und dem Wert der Person sowie den Menschenrechten als Grundlage eines Miteinanders und der Rechte aller Menschen, die für die Gewährung von Frieden und Freiheit zwingend vorauszusetzen sind. In der Präambel wird dabei auf die grundlegende Würde und den Wert der menschlichen Person Bezug genommen, die im Angesicht der Weltkriege schlimmste Verletzungen erfahren hatte. Das direkte 8 Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 1, Rn. 1. 9 Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen GrundrechteCharta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, Bd. 1, 2005, 13 (14 f.). 10 Vgl. Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (112); Walter, Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: Bahr/Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006, 127 (133). Vgl. zur Entwicklung und Bedeutung der Menschenwürde auf internationaler und überstaatlicher Ebene McCrudden, Human dignity and judical interpretation of human rights, EJIL 19 (2008), 655 ff. 11 Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015).
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Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen und zur universellen unveräußerlichen Würde ist ein entscheidender Schritt – gerade auch auf überstaatlicher Ebene –, um eine Konsequenz aus den vorangegangenen Weltkriegen zu ziehen. Dies wird durch die Aufnahme der Würde in Artikel 1 der Erklärung unterstrichen: „Alle Menschen sind frei und gleich an Wu¨ rde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Bru¨ derlichkeit begegnen.“12
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte griff 1948 keineswegs nur alte Ideen der Menschenrechte als angeborene Rechte jedes Menschen auf, sondern ging mit der expliziten Nennung der Menschenwürde und der Rolle, der diesem Begriff zukommt, einen neuen Weg.13 Der Begriff der Menschenwürde fand in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht nur erstmals Eingang in eine Menschenrechtserklärung, sondern wurde dabei als Grundlage der Menschenrechte begriffen. Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vollzog sich auf internationaler Ebene insgesamt eine entscheidende Entwicklung des Schutzes der Menschenrechte, indem die Würde des Menschen als eigenständiger Teil des Rechtekataloges in Artikel 1 der Erklärung ausgestaltet wurde. Die ausdrückliche Formulierung eines umfassenden Kataloges subjektiver Rechte des Einzelnen war als Reaktion auf die alltäglichen Verletzungen der Menschenrechte durch totalitäre Regime ein wichtiger Schritt. Der Parlamentarische Rat führte aus der gleichen Motivation ein Jahr später 1949 einen ähnlichen Schutzstandard durch den Grundrechtskatalog bei der Schaffung des Grundgesetzes für Deutschland ein, dem die Menschenwürde als höchster Wert vorangestellt wurde.14 Das Grundgesetz griff dabei die Gestaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf und bekannte sich ebenfalls zur Bedeutung und der Schutzwürdigkeit der Menschenwürde, indem es ihr durch die Normierung in Art. 1 Abs. 1 GG Rechtsnormcharakter verlieh. Die verheerenden Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges und die durch Tyrannei und Unterdrückung erfahrenen Verletzungen fundamentaler Rechte des Menschen gaben Anlass, die Menschenrechte festzuschreiben und einen Schutz gegen zukünftige Verletzungen dieser Art zu errichten.15 Der Begriff der Menschenwürde sollte ein „Fanal und zugleich ein Programm für eine neue Weltordnung“ sein.16 Geprägt durch die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges, wurde die Menschenwürde verstärkt als unabdingbare Grundlage der Menschenrechte wahr12
Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, 32012, 129. 14 Vgl. dazu die Ausführungen im Teil 1, B. I. 15 McCrudden, Human dignity and judical interpretation of human rights, EJIL 19 (2008), 655 (664 f.); vgl. auch Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (27, 31). 16 Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (31). 13
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genommen. Die Menschenwürde und ebenso die Menschenrechte sollten nicht nur als Reaktion auf die Schrecken faschistischer Regime und die alltäglichen Missachtungen eben jener einen besonderen Schutz genießen, sondern auch neuen Entwicklungen und Herausforderungen gewachsen sein. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten ist die Verknüpfung von Menschenwürde und Menschenrechten „selbstverständliche Grundlage des weltweiten Menschenrechtsregimes geworden“.17 Der Gedanke der Menschenwürde als Basis der Menschenrechte war auch mit der Normierung der Menschenwürde in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbunden, die in dem Wunsch an der Spitze der Charta verankert wurde, gesellschaftlichen, medizinischen wie technologischen Entwicklungen und den daraus erwachsenden Gefahren für die Grundrechte und insbesondere die Menschenwürde angemessen zu begegnen.18 Die Analyse des auf europäischer Ebene gewährten Grundrechts- und vor allem Menschenwürdeschutzes bedarf zunächst einer differenzierten Betrachtung der verschiedenen Ebenen der überstaatlichen Gemeinschaften und der Struktur der einzelnen Organisationen. Dabei ist grundsätzlich zwischen dem Europarat auf der einen Seite und den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union auf der anderen Seite zu unterscheiden.19 Beide Zusammenschlüsse hatten den Schutz der Menschenrechte zur Aufgabe und entwickelten im Wege verschiedener Rechtsakte jeweils eigene Schutzmechanismen und Schutzstandards. Für die Frage eines europarechtlichen Schutzkonzeptes der Menschenwürde müssen die Entwicklungen im Recht beider Organisationen aufgrund der wechselseitigen Bezugnahme sowie des wechselseitigen Einflusses der Organisationen aufeinander, betrachtet und herangezogen werden. Darüber hinaus müssen die Entscheidungen sowohl des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) als auch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Hinblick auf die Auslegung und Konkretisierung der einzelnen Grundrechtsgewährleistungen beachtet werden. Gleiches gilt für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als einer der ersten umfassenden Grundrechtskataloge auf überstaatlicher Ebene und der ihr aus diesem Grund zukommenden Vorbildfunktion in bestimmten Bereichen. Insgesamt besteht der Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene aus einer „Gemengelage“ unterschiedlicher Quellen, „aus geschriebenem Recht, nicht rechtsverbindlichen Texten, ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen und Quasi-Präjudizienrecht“.20 Auf eine genaue Differenzierung dieser Quellen kommt es hier insoweit für die Betrachtung des Grundrechtsschutzes im Überblick und dem Schutz 17
Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, 32012, 130. Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (27). 19 Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wurde gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV die Existenz der Europäischen Gemeinschaft beendet. Rechtsnachfolgerin ist die Europäische Union, die mit dem Vertrag von Lissabon zudem eine eigene Rechtspersönlichkeit erhält. 20 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 61. 18
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der Menschenwürde im Speziellen nicht an. Daher soll im Folgenden auf die rechtstheoretische Erörterung und Einordnung (auch) aus Zwecken der Übersichtlichkeit verzichtet werden.
I. Institutionelle Gliederung des Europäischen (Menschen-)Rechtsschutzes Auf der „regionalen Ebene“ Europas entwickelten sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg internationale und überstaatliche Organisationen, die eine engere Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen ermöglichen und verbessern sollten.21 Vor allem der Europarat und die Europäische Gemeinschaften sowie später die Europäische Union sind dabei für die Entwicklung der Grundrechte auf überstaatlicher Ebene von besonderer Bedeutung.22 1. Ebene des Europarates Der Europarat wurde im Jahre 1949 als internationale Organisation mit Sitz in Straßburg gegründet und sollte die engere Verbindung seiner Mitgliedsstaaten „zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze“23 ihres gemeinsamen Erbes sowie den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt fördern.24 Dieses Ziel wird auch durch die grundsätzliche erklärte Ausrichtung der Mitgliedsstaaten in Art. 3 S. 1 der Satzung des Europarates deutlich: „Jedes Mitglied des Europarats erkennt den Grundsatz vom Vorrange des Rechts und den Grundsatz an, wonach jeder, der seiner Jurisdiktion unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden solle. Es verpflichtet sich, aufrichtig und tatkräftig an der Verfolgung des in Kapitel I gekennzeichneten Zieles mitzuarbeiten.“25
Dem Europarat gehören aktuell 47 Staaten und damit fast doppelt so viele wie der Europäischen Union als Mitglieder an.26 Durch die Mitgliedschaft nahezu aller Staaten des ehemaligen „Ostblocks“, einschließlich Russlands und weiterer Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion, kommt diesem Zusammenschluss besondere Bedeutung als „gesamteuropäisches Forum“ zu.27 Insbesondere der Schutz der 21
Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 1, Rn. 2 f. 22 Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 1, Rn. 2. 23 Art. 1 lit. a Satzung des Europarates. 24 Herdegen, Europarecht, 172015, § 2, Rn. 1. 25 Art. 3 Satzung des Europarates. 26 Siehe für weitere Informationen die Internetseite des Europarates: http://hub.coe.int/de/ (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). Vgl. ebenso: Herdegen, Europarecht, 172015, § 2, Rn. 2. 27 Herdegen, Europarecht, 172015, § 2, Rn. 3.
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Menschenrechte und die Behandlung sozialer Fragen wurden durch die Arbeit des Europarates auf eine überstaatliche Ebene gehoben und auf dieser vorangetrieben, wie beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention, die Antifolterkonvention ebenso wie die Europäische Sozialcharta verdeutlichen.28 2. Ebene der Europäischen Gemeinschaften Die zweite entscheidende Ebene im Bereich der überstaatlichen Zusammenarbeit bilden die Europäischen Gemeinschaften. Sie bestanden ursprünglich aus der EGKS, der EWG und der Euratom. Mit dem weiteren Zusammenwachsen Europas und der fortschreitenden Integration bildete sich aus diesen drei Gemeinschaften die erste Säule der Europäischen Union, die durch die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit in Strafsachen als zweite Säule und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als dritte Säule ergänzt wurde.29 Mit dem Vertrag von Lissabon sind die Säulenstruktur und die einzelnen Gemeinschaften aufgelöst und insgesamt zur Europäischen Union verschmolzen worden.30 Die Europäische Union trat gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon an die Stelle der Europäischen Gemeinschaften und agiert nun als völkerrechtliches Rechtssubjekt.31 Mit der Entwicklung der Grundrechtecharta ist zudem ein entscheidender Schritt im Europäischen Grundrechtsschutz vollzogen worden.32
II. Vorüberlegungen zu einem europäischen Menschenrechts- und Würdeschutz Die Frage nach dem Gehalt und der Bedeutung der Menschenwürde und gemeinschaft(srecht)licher Grundrechte ist unter dem Eindruck des Zusammenwachsen Europas, der Vielfältigkeit der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten, der gesellschaftlichen, wie medizinischen und technischen Entwicklungen sowie immer wiederkehrender Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen von zuneh-
28
Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 1, Rn. 7; ebd., § 2, Rn. 1. Herdegen, Europarecht, 172015, § 4, Rn. 12 ff. 30 Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 42011, Art. 1 EUV, Rn. 13. Siehe zur allgemeinen Entwicklung und zu den Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon Herdegen, Europarecht, 172015, § 4 Rn. 33 ff. 31 Vgl. Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (345); Herdegen, Europarecht, 172015, § 5, Rn. 1 f. 32 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 8, Rn. 24. Siehe speziell zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes Kingreen, Grundrechtsverbund oder Grundrechtsunion? – Zur Entwicklung der subjektiv-öffentlichen Rechte im europäischen Unionsrecht, EuR 45 (2010), 338 ff. 29
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
mender Dringlichkeit.33 Mit der ausdrücklichen Aufnahme der Menschenwürde und der Grundrechte in den neuen EU-Vertrag, der verbindlichen Geltung der Grundrechtecharta und dem geplanten Beitritt der EU zur EMRK wird diese Entwicklung entscheidend vorangetrieben. Die Menschenwürde als Grundlage eines gemeinsamen, verbindlichen Rechtekataloges bildet den Ausgangspunkt eines umfassenden supranationalen Schutzes der Grund- und Menschenrechte. Die Charta der Grundrechte (der Europäischen Union) bildet dabei mit der Festschreibung eines verbindlichen und umfassenden Grundrechtekataloges das Herzstück der neuen Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes.34 Die Entwicklung eines umfassenden Schutzes der Menschenwürde und eines damit verbundenen Konzeptes auf europäischer Ebene steht noch am Anfang. Mit der Normierung in den Eingangsbestimmungen des Verfassungsvertrages für Europa wurde die Menschenwürde erstmals als Grundwert jedes Menschen auf europäischer Ebene anerkannt, obwohl dadurch zunächst kein rechtlicher Anspruch auf Achtung oder Schutz statuiert wurde. Die Eingangsbestimmungen des Verfassungsvertrages zeigen insoweit nur Zielsetzungen auf, verfügen jedoch über keinen eigenen Regelungswert.35 Ungeachtet dessen setzte sich die Aufnahme der Menschenwürde in den meisten Präambeln nach dem Verfassungsvertrag entstandener Konventionen fort.36 Der Schutz der menschlichen Würde steht dabei „exemplarisch für die Eigentümlichkeiten in der dogmatischen Entwicklung und Differenzierung des europäischen gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes“ und bildet den Bezugspunkt und die Grundlage der „europäischen Wertegemeinschaft“.37 Sie ist der „Grundstein der Rechtsgemeinschaft ,Europäische Union‘“.38 Einen entscheidenden Schritt hat der Schutz der Menschenwürde jedoch mit dem Verbindlichwerden der Charta der Grundrechte 2009 gemacht, wodurch die Menschenwürde nicht nur zum Wert, sondern auch zu einem einklagbaren Grundrecht geworden ist.39 Die Normierung der Menschenwürde ist dabei jedoch nicht mit einer Einigkeit über den Umfang und den Inhalt der Menschenwürdegarantie gleichzu33 Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (112 f.). 34 Vgl. Kingreen, Grundrechtsverbund oder Grundrechtsunion? – Zur Entwicklung der subjektiv-öffentlichen Rechte im europäischen Unionsrecht, EuR 45 (2010), 338 (355). 35 Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (42). 36 Bielefeldt, Die Würde des Menschen. Fundament der Menschenrechte, in: Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, 105 (116). 37 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 1. 38 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 1. 39 Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 42011, Art. 1 GRCh, Rn. 2.
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setzten.40 Vielmehr muss bedacht werden, dass die Bedeutung des Begriffes der menschlichen Würde „kontextspezifisch“ ist und das Verständnis „significantly from jurisdiction to jurisdiction“ variiert.41 Der Begriff der Menschenwürde ist somit vor dem Hintergrund der jeweiligen Rechtsordnung zu betrachten, die ihn verwendet und in deren Kontext er sich entwickelt und verändert.42 Der Menschenwürde kommt und kam eine entscheidende Rolle in der Entwicklung eines umfassenden Schutzes der Menschenrechte verschiedener Staaten zu. Sie bildet als Grundnorm des Schutzes der inhärenten Würde der menschlichen Person als solche die Basis eines umfassenden Schutzes der Menschenrechte. Die Bestimmung des genauen Inhalts des Würdeschützes erweist sich jedoch sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene als schwierig.43 Das Herausbilden eines eigenständigen Konzeptes der Würde des Menschen ist daher von erheblicher Bedeutung für die rechtliche Entwicklung und die Rechtsprechung im Bereich der Menschenrechte.44 Dem ersten45 Bekenntnis zur Menschenwürde auf internationaler Ebene 1948 folgten auf europäischer Ebene verschiedene Rechtsakte, die die Menschenwürde aufnahmen.46 Doch erst mit der 2000 proklamierten, 2007 modifizierten und 2009 im Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft getretenen Charta der Grundrechte war eine umfassende europarechtliche Fundierung des Schutzes der menschlichen Würde zu verzeichnen.47 Insbesondere als Rechtssatz und damit als 40
Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 42011, Art. 1 GRCh, Rn. 17. McCrudden, Human dignity and judical interpretation of human rights, EJIL 19 (2008), 655 (655) – z. T. Übersetzung durch die Verfasserin. 42 Der vorliegend gewählte Ansatz ist mit Fateh-Moghadam als „operativ funktionale Rechtsvergleichung“ zu bezeichnen. Dieser Ansatz ermöglicht einen spezifischen Zugang im Wege der Rechtvergleichung nationale wie transnationale Rechtsordnungen zu betrachten und im Wege einer spezifischen Selbstreflexion einen Blick auf die inneren Funktionsweisen der verschiedenen Rechtsordnungen zu erlangen. Dadurch wird eine wertende Vergleichsperspektive geschaffen. Diesem Ansatz folgend liegt der Gedanke, dass die Menschenwürde auf transnationaler Ebene nur auf Basis der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen beruhen kann bzw. durch diese geprägt wird, der vorliegenden Analyse im Weiteren zugrunde. Vgl. FatehMoghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, 17 ff. und ebenso FatehMoghadam, Operativer Funktionalismus in der Strafrechtsvergleichung, in: Beck/Burchard/ Fateh-Moghadam, Strafrechtsvergleichung als Problem und Lösung, 2011, 43 (58 f., 62 f.). Vgl. außerdem Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 435. 43 Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (547). 44 McCrudden, Human dignity and judical interpretation of human rights, EJIL 19 (2008), 655 (655). Vgl. auch Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (547) und ebenso Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 430 ff. 45 Vgl. Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, 32012, 129. 46 Vgl. dazu auch Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 42 ff. 47 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union wurde zwar schon im Jahre 2000 als ausgearbeiteter Entwurf des Konvents dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs weitergeleitet (vgl. EuGRZ 2000, 554), trat aber dennoch erst 2009 zusammen mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft (vgl. EuGRZ 2007, 747). 41
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individuelles Recht hat die Menschenwürde durch die Charta der Grundrechte Eingang in das Recht der Europäischen Union gefunden.48 Eng verbunden mit der menschlichen Würde sind in der Systematik der Charta das Recht auf Leben und Unversehrtheit (Art. 2 und 3) sowie die Verbote der Folter (Art. 4), der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 5), die in den Art. 1 bis 5 der Charta festgeschrieben sind. Die damit anerkannte Bedeutung der Menschenwürde wird zudem durch ihrer Nennung an prominenter Stelle im Vertrag von Lissabon unterstrichen, der in Art. 2 EUV die Achtung der Menschenwürde als Element der gemeinschaftlichen Werteordnung normiert und damit auch „europäisiert“.49 Ferner finden sich in der früheren Rechtsprechung des EGMR und des EuGH immer wieder Ausführungen zur Menschenwürde, ihrer Bedeutung und dem ihr zukommenden Schutz. Die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften enthielten keine Grundrechtsgewährleistungen, der Schwerpunkt lag vielmehr auf einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten.50 Die Frage des Menschenrechtsschutzes und somit auch des Schutzes der menschlichen Würde war daher in Europa lange Zeit von nachrangiger Bedeutung und die Regelungen der einzelnen Mitgliedsstaaten insofern vorrangig, diesbezüglich ist – jedenfalls mit dem Vertrag von Lissabon – eine ausdrückliche Änderung im Bereich des Grundrechtsschutzes der EU eingetreten.51 Den ersten Schritt einer grundlegenden Änderung zeichnete sich mit dem Entwurf des Verfassungsvertrages für Europa ab, mit dem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) als Teil des Verfassungsvertrages Rechtsverbindlichkeit erlangen sollte.52 Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages wurden mit dem Vertrag von Lissabon die geplanten Änderungen weitgehend umgesetzt.53 Der Vertrag von Lissabon inkorporierte die Charta der Grundrechte zwar nicht in den Vertragstext, setzte sie jedoch in Art. 6 Abs. 1 EUV rechtlich mit den Verträgen gleich und verhalf ihr so zu rechtsverbindlicher Gültigkeit.54 Nachdem der Schutz der Grund- und Menschenrechte im europäischen Bereich bis zum Vertrag von Lissabon vorrangig auf ungeschriebenen Grundrechten und dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention beruhte, wird dies nun durch den ausdifferenzierten Katalog der Grundrechte der Europäischen Union, der noch durch die 48 Vgl. im Ansatz Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 1, 4 f. Ebenso Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 431. 49 Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110 (1112). 50 Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (346). 51 Vgl. Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110 (1111); Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (119). 52 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 4, Rn. 28. 53 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 4, Rn. 30. 54 Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (347).
C. Rechtsakte im Bereich des Grund- und Menschenrechtsschutzes
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in der Präambel und Art. 2 EUV festgesetzten Werte der Union ergänzt wird, verstärkt.55 Zwar zeigen sich bereits in verschiedenen Rechtsakten des Europarates und der Europäischen Union wesentliche Elemente und Funktionen des Schutzes der Menschenwürdegarantie, die im deutschen Recht unter den Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG gefasst werden und auch im Kontext des europäischen Rechts einen Würdebezug aufweisen, eine ausdrückliche rechtsverbindliche Normierung fehlte jedoch bis 2009. Das europäische Verfassungsrecht gewährleistet nun in erheblichem Umfang Grundrechte und die gesamte Gemeinschaftsordnung ist (auch) auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde ausgerichtet, die mit den Menschenrechten in engem Zusammenhang steht.56 Die Frage des genauen Gewährleistungsumfanges bleibt dabei jedoch zunächst offen. Im Folgenden soll zunächst ein Blick auf die wesentlichen Rechtsakte des Europarates (C.) sowie die Rechtsprechung des EGMR (D.) geworfen werden, bevor in einem weiteren Schritt der Umgang des EuGH (E.) mit der Menschenwürde und die Rechtsakte der Europäischen Union (F. und G.) näher beleuchtet werden.
C. Wesentliche Rechtsakte im Bereich des Grund- und Menschenrechtsschutzes auf Ebene des Europarates I. Die EMRK und insbesondere Art. 3 EMRK – indirekter Schutz der menschlichen Würde? Das wohl stärkste Instrument des Europarates zum Schutz der Grund- und Menschenrechte ist die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).57 Der Europarat hat mit der EMRK einen Katalog grundlegender Rechte vorgelegt, die eine gemeinsame Grundlage für einen einheitlichen Schutz der Menschenrechte aller Unterzeichnerstaaten bilden sollte. Die EMRK ist die erste rechtsverbindliche internationale Menschenrechtskodifikation und als solche das „älteste Vertragswerk seiner Art“.58 Sie bildet den wesentlichen Grundstein eines „regionalen Menschenrechtsschutz[es]“59 auf europäischer Ebene. Als multilateraler völkerrechtlicher Vertrag regelt die EMRK nicht nur die Beziehung einzelner Staaten zueinander, sondern vor allem das Verhältnis des Indi55
Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 42011, Art. 1 GRCh, Rn. 1. Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110 (1112). 57 Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 2, Rn. 1 f. 58 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 1, Rn. 1. Vgl. auch Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 22012, § 1, Rn. 2. 59 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 1, Rn. 1. 56
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
viduums zum Staat und statuiert diesbezüglich Rechte und Pflichten.60 Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der massiven Missachtungen grundlegender Menschen- und Grundrechte kam es in den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges auf überstaatlicher Ebene zu verschiedenen Bestrebungen den Schutz der Menschenrechte in internationalen Dokumenten mit bindender Wirkung zu verankern.61 Die EMRK sollte als universelles Menschenrechtsdokument im Rahmen eines verbindlichen Vertrages einen grundlegenden Schutzstandard bestimmen, um bestehende Defizite auszugleichen und darüber hinaus Ausdruck eines „Selbstbehauptungswillens der demokratischen Staaten Europas gegenüber dem totalitären Kommunismus sowjetischer Prägung“ sein.62 Die EMRK setzte 1953 mit ihrem Inkrafttreten einen neuen Maßstab im Bereich des überstaatlichen Grund- und Menschenrechtsschutzes und ist dabei wohl „das bis heute wertvollste Instrument für den Grundrechtsschutz auf völkerrechtlicher Ebene in Europa“.63 Ihr wurde in diesem Zusammenhang mehrheitlich Verfassungscharakter zugesprochen, so vor allem auch durch den EGMR, der die Konvention als „constitutional element“,64 als Verfassungselement, bezeichnete. Diese besondere Bedeutung der EMRK steht jedoch auf den ersten Blick in einem Spannungsverhältnis zu ihrem Schutzmechanismus. Denn der Schutz der EMRK ist subsidiär:65 Die Rechtsschutzmechanismen der EMRK greifen erst nachrangig zum nationalen Grundrechtsschutz ein. Dies wird auch in den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK deutlich, die in Abs. 1 die „Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe“66 fordert. Die Subsidiarität der EMRK als Rechtsschutzelement widerspricht jedoch nicht der besonderen Bedeutung, die der EMRK beigemessen wird. Denn die EMRK soll gerade durch ihren nachrangigen Schutz sicherstellen, dass eine Verletzung konventionsrechtlich garantierter Rechte unabhängig von nationalen Gerichten festgestellt werden kann. Ein Eingreifen des EGMR ist dabei solange nicht notwendig, soweit bereits durch nationale Gerichte eine entsprechende Handlung als Verletzung von Menschenrechten erfasst wurde. Gleichwohl fehlen bei genauer Betrachtung des umfangreichen Kataloges der EMRK – gerade im Vergleich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – bestimmte Bereiche und Begrifflichkeiten, die zu einem umfassenden Schutz gehören. So kommt der Begriff „Menschenwürde“ in der EMRK ebenso wie 60 Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen GrundrechteCharta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, Bd. 1, 2005, 13 (15 f.). 61 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 1, Rn. 1. 62 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 1, Rn. 1. 63 Gerards, Die Europäische Menschenrechtskonvention im Konstitutionalisierungsprozess einer gemeineuropäischen Grundrechtsordnung, 2007, 77. 64 Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 2, Rn. 3 m.w.N. 65 Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Krieger, EMRK/GG, 22013, Kap. 6, Rn. 70. 66 Wortlaut Art. 35 Abs. 1 EMRK.
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die „menschliche Würde“ oder die „Würde der Person“ – anders als in internationalen Konventionen und Pakten zum Schutz der Menschenrechte – nicht vor.67 Obgleich sich die EMRK an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte orientiert, nimmt sie den Begriff der Menschenwürde weder im Konventionstext selbst noch in der Präambel auf. Lediglich durch die Verweisung auf die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird auf die Achtung der Menschenwürde Bezug genommen.68 Dies bedeutet dennoch nicht, dass der damit durch die Konvention gewährte Schutz geringer ist.69 Ebenso wenig bedeutet das Fehlen der Begrifflichkeit, dass die EMRK als eines der wichtigsten Dokumente im Bereich des Schutzes der Menschenrechte auf überstaatlicher Ebene den Schutz der Menschenwürde völlig außer Acht lässt – wie auch die Entscheidungen des EGMR zeigen. Der Gerichtshof schützt über die einzelnen, aus der Menschenwürde hergeleiteten Konventionsnormen die Menschenwürde als Grundwert der Konvention.
1. Grundsätze der EMRK und rechtliche Bedeutung Die EMRK trat nach der Ratifikation durch zehn Staaten 1953 in Kraft. Mittlerweile sind 47 Staaten als Vertragsstaaten der Konvention beigetreten und insoweit als Mitgliedsstaaten an sie gebunden. Ergänzt werden die Gewährleistungen der Konvention durch eine Reihe von Zusatzprotokollen, die weitere Garantien enthalten. Die Mitgliedsstaaten müssen den Zusatzprotokollen einzeln beitreten und sind nur entsprechend ihres Beitritts an sie gebunden, dennoch entfalten die Protokolle grundsätzlich die gleiche Wirkung wie die Konvention selbst, sobald sie verbindlich geworden sind.70 Die EMRK setzt somit im europäischen Recht den Standard des Grundrechtsschutzes und bildet in der Gewährleistung von Menschenund Grundrechten eines der entscheidenden Dokumente.71 So erlangten nicht nur einzelne Rechte aus nicht verbindlichen, völkerrechtlichen Erklärungen durch sie Verbindlichkeit, sondern die Konvention gewährte erstmals auch die Möglichkeit eines wirksamen Überwachungsmechanismus hinsichtlich der Missachtung und Verletzung grundlegender Menschenrechte.72 Die EMKR bildete einen entscheidenden Schritt im Bereich des supranationalen Schutzes der Grundrechte.73 67 Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 981 (981). 68 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 65. 69 Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 981 (981) und vgl. weiterhin Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 65. 70 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 42. 71 Vgl. Rudolf/v. Raumer, Die Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Eine kaum genutzte Chance, AnwBl. 2009, 313 (313). 72 Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 981 (981).
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a) Grundsätze Die EMRK nimmt – sowohl aus inhaltlicher wie auch aus systematischer Perspektive – als multilateraler völkerrechtlicher Vertrag eine Sonderstellung im Rahmen des völkerrechtlichen Vertragsrechts ein.74 Die EMRK als Menschenrechtsvertrag bezieht sich inhaltlich im Gegensatz zu sonstigem Völkerrecht nicht auf das Verhältnis einzelner Staaten zueinander, sondern auf das Verhältnis zwischen Individuen, die sich auf die gewährleisteten Menschenrechte berufen und den vertraglich verpflichteten Staaten.75 Sie gewährte erstmals nicht nur elementare Menschenrechte und einen Bereich persönlicher Freiheit, sondern auch justizielle Grundund besondere Freiheitsrechte.76 Die von der Konvention gewährleisteten Rechte richten sich folglich nicht primär gegen Private, sondern gegen die Mitgliedsstaaten.77 Dadurch soll ein gemeinsamer Mindeststandard geschaffen werden.78 Die Rechtsprechung des EGMR hat ferner eine Pflicht der Mitgliedsstaaten zum Schutz der Gewährleistungen der Konvention gegen Gefährdungen durch Dritte und somit auch Privater entwickelt. Der Schutz der EMRK geht dabei so weit, dass die Wirkung nicht auf die territorialen Bereiche der Mitgliedsstaaten beschränkt ist, sondern die EMRK in ihrem Anwendungsbereich über das Territorium ihrer Mitgliedsstaaten hinaus reichen kann, wie die Anknüpfung an die Hoheitsgewalt als Kriterium für die Anwendbarkeit verdeutlicht.79 Die herausragende Bedeutung der Konvention liegt zudem in der erstmalig gegebenen Möglichkeit eines effektiven Durchsetzungsmechanismus eines Menschenrechtsschutzes auf internationaler Ebene im Rahmen eines justiziellen Verfahrens. Dies wird durch die wiederholte Bezugnahme des EuGH in seiner Grundrechterechtsprechung auf die EMRK als Auslegungshilfe trotz (bisher) nicht erfolgten Beitritts der Europäischen Gemeinschaften und jetzt der Europäischen Union zur EMRK unterstrichen. Der EMRK kam damit schon früh eine indirekte Bedeu-
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Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 42. 74 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 2, Rn. 1. 75 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 2, Rn. 1. 76 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 12 ff. 77 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 4 ff. 78 Vgl. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als „Konventionsgemeinschaft“: Praktische Wirkungen in der deutschen Rechtsordnung, in: Spenlé (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die nationale Grundrechtsordnung. Spannungen und gegenseitige Befruchtung, 2007, 53 (61). 79 Vgl. dazu insgesamt Klein, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Grundrechtsordnung: Zwei Seiten einer Medaille, in: Spenlé (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die nationale Grundrechtsordnung. Spannungen und gegenseitige Befruchtung, 2007,11 (15). Ebenso Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3 2011, Art. 1, Rn. 7.
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tung zu und diente dem EuGH als Ansatzpunkt für seine richterrechtliche Grundrechtsentwicklung.80 Mit dem Verfahren der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK besteht für natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen und Personenvereinigungen erstmals die Möglichkeit, offen auf „internationaler Ebene, im Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages, vor unabhängigen Organen Rechtsschutz selbst gegen seinen eigenen Heimatstaat zu suchen“.81 Somit erklären sich die jeweiligen Mitgliedsstaaten mit der vertraglichen Anerkennung dieser Beschwerdemöglichkeit einverstanden, durch zwischenstaatliche Organe zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Spruchpraxis des EGMR hat im Wege der Auslegung und sukzessiven Weiterentwicklung auf Grundlage der EMRK eine „Art gemeineuropäischen Grundrechtsstandard“ geformt.82 Dies prägt maßgeblich die besondere Bedeutung und Ausrichtung der Konvention, denn der EGMR konkretisiert die einzelnen Normen der EMRK und verleiht ihnen die notwendigen Konturen durch eine detaillierte Grundrechtsdogmatik, die einen umfassenden Grundrechtsschutz ermöglicht und gewährleistet.83 Darin zeigt sich eine entwicklungsoffene Tendenz, wie sie sich auch in der Fortentwicklung der Grundgesetzinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht widerspiegelt und durch die eine Reaktion auf gesellschaftlich, politische und kulturelle Veränderungen ermöglicht wird. Insoweit weisen die Grundrechtssysteme eine entscheidende Parallele auf. Durch die Entwicklungsoffenheit wird die Menschrechtskonvention zu einem „living instrument“84 des Grundrechtsschutzes, das nach dem EGMR unter Beachtung der aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert werden muss.85 Dies unterstreicht die besondere Dynamik der Konvention.86 b) Schutzumfang und -richtung Den grundsätzlichen Schutzumfang der EMRK gibt ihr Art. 1 vor: „Die Hohen Vertragsparteien sichern allen Ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu.“87 80
Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 5 f. Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 12. 82 Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 3. 83 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 43. 84 Vgl. EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (191) = NJW 2002, 2851 (2853). So auch der EGMR in seiner Entscheidung EGMR, Loizidou ./. Turkey, Nr. 15318/89, Series A Nr. 310, 1 (26). Vgl. dazu auch Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 43. 85 Vgl. EGMR, Loizidou ./. Turkey, Nr. 15318/89, Series A Nr. 310, 1 (26). 86 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 43. 87 Wortlaut Art. 1 EMRK. 81
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Damit wird allem voran die Gleichheit aller Personen unterstrichen, da allen Menschen die gleichen Rechte und Freiheiten zukommen. Dies wird nicht nur national, sondern für alle der Hoheitsgewalt der Vertragsparteien insgesamt unterstellten Personen festgelegt und reicht damit über den Bereich des einzelnen Mitgliedsstaats hinaus. Der zu leistende Schutz steht in direktem Zusammenhang mit der staatlichen Hoheitsgewalt und unterstreicht die Stellung der EMRK, die durch Beitritt entweder unmittelbar verbindlich88 oder durch die teilweise notwendige Umsetzung dem Rang einfachen nationalen Rechts gleichgestellt wird.89 Darüber hinaus betont Art. 1 EMRK das Nebeneinander von Rechten und Freiheiten und damit einen Kanon einer (primären) Achtungs- und (sekundären) Schutzpflicht: Neben die bloße Gewährleistungspflicht der einzelnen Mitgliedsstaaten, das klassische Abwehrrecht, tritt eine Schutzpflicht hinsichtlich der Konventionsrechte.90 Grundsätzlich dient die EMRK als „externes Instrument zur Verstärkung des innerstaatlichen Schutzstandards im Bereich der Menschenrechte“.91 Abhängig von der Intensität der nationalen verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeiten von gesetzgeberischen Akten tritt die EMRK in die Rolle einer Art „Ersatz-Verfassungsgerichtsbarkeit“92 und schließt damit Lücken im System eines umfassenden Grundrechtsschutzes. So gewährleistet die EMRK neben dem grundsätzlichen Rechtekatalog auch ein umfassendes System zur Überprüfung der Einhaltung dieser Rechte sowie der Verfolgung und Durchsetzung von Ansprüchen aus erfolgten Rechtsverletzungen.93 Mit der Konvention sollte ein einheitlicher staatenübergreifender Schutzstandard entstehen, der auf der Basis eines Konsenses der Mitglieder die grundlegenden Rechte festlegt und einen Bereich zum Teil absoluten Schutzes statuiert. Dies ist auch gelungen. Die Konvention verfügt über ein einzigartiges umfassendes Kontrollsystem, das die Einhaltung der Konventionsrechte überwacht und schützt. Problematisch waren in diesem Zusammenhang lange die fehlenden Zwangsmittel zur Durchsetzung der Urteile des Gerichtshofes. Dies wurde mit dem 14. Zusatzprotokoll 2010 dahingehend geändert, dass Art. 46 EMRK nun erstmals Durchset88 So etwa in Deutschland BVerfGE 82, 106 (120); 111, 307 (317). Vgl. außerdem Klein, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Grundrechtsordnung: Zwei Seiten einer Medaille, in: Spenlé (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die nationale Grundrechtsordnung. Spannungen und gegenseitige Befruchtung, 2007,11 (11); Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als „Konventionsgemeinschaft“: Praktische Wirkungen in der deutschen Rechtsordnung, ebd., 53 (54 f.). 89 Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 52 f. 90 Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 4. 91 Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als „Konventionsgemeinschaft“: Praktische Wirkungen in der deutschen Rechtsordnung, in: Spenlé (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die nationale Grundrechtsordnung. Spannungen und gegenseitige Befruchtung, 2007, 53 (61). 92 Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 5. 93 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 2, Rn. 1.
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zungsmechanismen vorsieht. Zuvor statuierte Art. 46 Abs. 1 EMRK lediglich die Verpflichtung der Vertragsparteien, die Urteile des Gerichtshofes zu befolgen, und sah in Abs. 2 die Überwachung des Vollzugs durch das Ministerkomitee vor. Nun sieht Art. 46 EMRK in den Absätzen 3 bis 5 eine Überwachung der Befolgung durch das Ministerkomitee vor und ermöglicht diesem die Auferlegung von Maßnahmen, um die Durchsetzung zu gewährleisten.94 So wurde mit der Schaffung eines Durchsetzungsmechanismus die Wirksamkeit der Konvention insgesamt verstärkt. 2. Menschenwürdegehalt der einzelnen Konventionsnormen Mit der Normierung einzelner fundamentaler Menschenrechte fasst die Konvention einen grundsätzlichen Schutzumfang zusammen, der jedoch hinter dem Standard einiger Mitgliedsstaaten – unter anderem auch Deutschland – zurück bleibt. Insbesondere die zentrale Gewährleistung der unantastbaren Würde des Menschen, die in Art. 1 Abs. 1 GG die Grundlage und Ausrichtung der Werteordnung bildet, fehlt.95 Der Begriff der Menschenwürde ist im Konventionstext nicht vorhanden. Ein autonomes Begriffsverständnis der Menschenwürde auf der Ebene der Mitgliedsstaaten der EMRK konnte sich daher bislang ebenfalls nicht etablieren.96 Gleichwohl wird auf die Menschenwürde mittlerweile in allen Verfassungen der Mitgliedsstaaten in irgendeiner Form Bezug genommen. Ein gemeinsames Verständnis kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden. Der EGMR war bei der Bestimmung des Schutzumfangs der Menschenwürde im Sinne der EMRK bisweilen zurückhaltend und bestimmte den Schutzumfang zumeist am Einzelfall.97 Dabei bemüht sich der EGMR jedoch zunehmend um die Entwicklung eines eigenen Würdebegriffs.98 Auch wenn die EMRK den Begriff der Menschenwürde nicht direkt verwendet, zeigen sich in dem durch sie gewährten Schutz eine Vielzahl – zum Teil wird sogar angenommen alle99 – Elemente und Funktionen des im deutschen Recht gewährleisteten Menschenwürdeschutzes.100 Mit dem absoluten Verbot der Folter in Art. 3, dem Recht, nicht in Sklaverei und Leibeigenschaft gehalten zu werden, aus Art. 4, dem Recht auf Freiheit und Sicherheit in Art. 5 und dem in Art. 8 verankerten Schutz der Privatsphäre wird ein weites Spektrum der menschlichen Subjektivität und In94
Vgl. dazu Art. 16 des 14. Zusatzprotokolls, der Art. 46 der EMRK erweitert. Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 132 ff. 96 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 132. 97 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 134. 98 Vgl. Pache, Vorgaben des Menschenwürdeschutzes in Europa, in: Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung, 2013, 23 (29 f.); Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 152 f. 99 Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 981 (982). 100 Vgl. Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (130); Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 981 (982). 95
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dividualität gewährleistet und geschützt, das „klassischer“ Weise dem Bereich der Menschenwürdegarantie zugesprochen oder in einer engen Verbindung zu ihr gesehen wird. Zudem wird mit der in Art. 9 EMRK verankerten Gewährleistung der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit ein Bereich geschützt, der in besonderem Maße die Identität und Individualität der menschlichen Person betrifft und damit eng mit der Menschenwürde verbunden ist.101 Diese Rechte werden zumeist aufgrund der Verbindung zur Menschenwürde „vorbehaltlos oder ,kategorisch‘“ gewährleistet.102 Die vielfältige Verankerung und Bezugnahme zur Würde des Menschen bekräftigte auch der EGMR, der in der Achtung der Menschenwürde und der Freiheit des Menschen die wesentliche Bedeutung der Konvention festmacht.103 Darin sieht er das Wesentliche der Konvention: „The very essence of the Convention is respect for human dignity and human freedom“.104
Mithin liegt die Achtung der menschlichen Würde allen menschenrechtlichen Garantien der Konvention zu Grunde und ist bei jeder Prüfung einer möglichen Verletzung zu beachten. Insbesondere Art. 3 EMRK wird als zentrale Norm gesehen, die nach herrschender Meinung mit dem Verbot der Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung alle staatliche Gewalt implizit auf die „Grundsätze der Menschlichkeit und damit [zur] Achtung der Menschenwürde“ verpflichtet.105 Zusätzlich wird in Art. 8 EMRK, der mit dem Schutz des Privat- und Familienlebens dem Schutzbereich des Art. 2 GG in der Schutzrichtung sehr ähnlich ist, eine besondere Nähe zur Menschenwürde und somit die Gewährung eines indirekten Schutzes dieser zuerkannt.106 In der Auslegung und Anwendung der Art. 3 und 8 EMRK zeigen sich – insbesondere mit dem Gebot des Schutzes und der Achtung der körperlichen und seelischen Integrität sowie der Unversehrtheit des Einzelnen – wesentliche Elemente, die durch die Achtung der Würde geboten sind.107 Das Hauptaugenmerk für die Frage des Würdeschutzes und der möglichen Begrifflichkeit der Menschenwürde in der EMRK liegt mithin auf Art. 3 und den dazu er101
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 22, Rn. 95. Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in europäischen und internationalen Menschenrechtsverträgen, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 22010, 99. 103 Vgl. Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (130); vgl. zur Entwicklung auch die Ausführungen von Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte, 2014, 183 ff. 104 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (194). 105 Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (640). 106 Rudolf/v. Raumer, Der Schutzumfang der Europäischen Menschenrechtskonvention – Individuelle Freiheitsrechte, Verfahrensgarantien und Diskriminierungsverbote im Vergleich zum GG, AnwBl. 2009, 318 (321). 107 Meyer-Ladewig, Menschenwürde und Europäische Menschenrechtskonvention, NJW 2004, 981 (982). 102
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gangenen Entscheidungen. Dieser ist daher von besonderem Interesse für einen Vergleich des Umgangs mit der Menschenwürde im deutschen Recht und soll daher im Folgenden als indirekter Schutz der Menschenwürde untersucht werden. Daran anschließend wird der Umgang des EGMR generell mit der Menschenwürde analysiert. Von besonderem Interesse ist dabei die Struktur des entwickelten Schutzes der Würde und dessen Umfang. 3. Die Bedeutung des Art. 3 EMRK als absolut geschütztes Recht – indirekter Schutz der Menschenwürde? Art. 3 EMRK statuiert, dass niemand gefoltert oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafen oder Behandlungen unterworfen werden darf. Dieser Schutz wird absolut gewährt, er unterliegt dem Wortlaut nach keiner Einschränkung oder Abwägungsmöglichkeit.108 Insoweit entsprechen sich Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 EMRK. Im „Mittelpunkt des Schutzbereichs“ des Art. 3 EMRK stehen der einzelne Mensch und die Gewährleistung seiner physischen wie psychischen Integrität.109 Durch Folter wird die Individualität des Menschen missachtet und seine soziale wie individuelle Existenz zerstört.110 Eine solche Behandlung ist daher unter keinen Umständen zu akzeptieren und zu rechtfertigen. Damit schützt Art. 3 EMRK insbesondere die Subjektivität und Selbstachtung des Betroffenen, dessen Wille durch Folter gebrochen werden soll und wird.111 Mit der Feststellung einer solchen Behandlung ist folglich unmittelbar die Feststellung einer Rechtsverletzung verbunden. In Bezug auf Art. 3 EMRK sind ebenso wie auf Art. 1 Abs. 1 GG Gewährleistungsumfang und Verletzungsgrenze nahezu identisch. Die Parallele der Schutzzwecke wird insbesondere durch die Ausrichtung auf die Wahrung der Fremd- und Selbstachtung deutlich.112 Zu beachten ist dabei jedoch, dass Art. 3 EMRK als reines Abwehrrecht formuliert und ausgestaltet ist und nicht wie Art. 1 Abs. 1 GG auch einen Schutzauftrag an den Staat formuliert.113 Der aus Art. 1 Abs. 1 GG unmittelbar folgende Anspruch auf staatlichen Schutz ist im Wortlaut des Art. 3 EMRK nicht angelegt. Dennoch enthält Art. 3 EMRK nicht nur ein absolutes Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat, sondern auch eine Verpflichtung des Staates, durch rechtliche Regelungen dem Verbot des Art. 3 EMRK größtmögliche Geltung zu
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Vgl. dazu auch im Einzelnen: Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 67 ff. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 101. 110 Hannich-Schädler/Jakobs, Karlsruher Kommentar zur StPO mit GVG, EGGVG und EMRK, 72013, Art. 3 EMRK, Rn. 2. 111 Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Bank, EMRK/GG, 22013, Kap. 11, Rn. 10. 112 Vgl. Morgenstern, Ein Recht auf Hoffnung aus Art. 3 EMRK: Lebenslange Freiheitsstrafe in Europa, RW 5 (2014), 153 (174). 113 Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Bank, EMRK/GG, 22013, Kap. 11, Rn. 10. 109
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verschaffen.114 Art. 3 EMRK bildet einen der grundlegendsten Werte der demokratischen Gesellschaft.115 Er unterstreicht die absolute „Unverrechenbarkeit der Menschenwürde“ und bringt die grundsätzliche Ausrichtung der demokratischen Rechtsordnung auf unveräußerliche Grundsätze zum Ausdruck.116 Also solcher entwickelt sich Art. 3 EMRK zunehmend hin zu einer allgemeinen Menschenwürdegarantie.117 Gleichwohl enthält die Normierung des Art. 3 EMRK den Begriff der Würde nicht ausdrücklich und stellt auch keinen unmittelbaren Bezug zur menschlichen Würde als Grund des von ihr absolut ausgesprochenen Verbotes her. Dennoch ist sie als indirekter Würdeschutz zu verstehen: Der „Postulat von der Unantastbarkeit“ der Menschenwürde steht in einem engen Zusammenhang mit Art. 3 EMRK und fungiert als Basis der Auslegung.118 Dies verdeutlichen die vielfältigen Anwendungsbereiche und Fallkonstellationen, die von Art. 3 EMRK erfasst werden. Durch die relative Offenheit des Begriffes der Menschenwürde kommt es für die Beurteilung einer Verletzung auf die Umstände des Einzelfalles an. Die dabei vorgenommene Differenzierung, eine Verletzung liege vor, wenn der Einzelne zum Objekt hoheitlichen Handelns unter Missachtung seiner Subjektivität zurück gestuft werde, erinnert an die Grundsätze der Objektformel des deutschen Rechts.119 Die Annäherung an den Begriff der Menschenwürde im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK erfolgt damit, ähnlich wie im deutschen Recht, negativ über den Verletzungstatbestand und die absolute Gewährleistung.120 Schon die Idee eines absoluten Schutzes und eines unverfügbar gewährten Rechts verweist auf wesentliche Grundgedanken des Würdeschutzes des Art. 1 Abs. 1 GG. Die Absolutheit des Würdeschutzes, der uneingeschränkt jedem menschlichen Wesen unabhängig von äußeren Bedingungen, Fähigkeiten oder Eigenschaften zukommt und die Achtung der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Integrität herzustellen sucht, zeigt sich in Grundzügen in dem
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Hannich-Schädler/Jakobs, Karlsruher Kommentar zur StPO mit GVG, EGGVG und EMRK, 72013, Art. 3 EMRK, Rn. 1; vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Bank, EMRK/GG, 22013, Kap. 11, Rn. 10, 102 ff. 115 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1855) = NVwZ 1997, 1093 (1094) und so auch schon im Soering-Urteil, EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 (390). Vgl. auch Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 102. 116 Vgl. Bielefeldt, Die Würde des Menschen. Fundament der Menschenrechte, in: Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, 105 (126). 117 Vgl. Morgenstern, Ein Recht auf Hoffnung aus Art. 3 EMRK: Lebenslange Freiheitsstrafe in Europa, RW 5 (2014), 153 (187). 118 Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Bank, EMRK/GG, 22013, Kap. 11, Rn. 5 ff.; Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995, 124 f. 119 Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Bank, EMRK/GG, 22013, Kap. 11, Rn. 10, 133 f. 120 Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (640 f.).
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durch Art. 3 EMRK absolut statuierten Folterverbot.121 Die bewusste und gewollte Zufügung erheblicher physischer wie psychischer Leiden, die in der konkreten Situation ungerechtfertigt erscheinen und das Opfer erniedrigen, demütigen und herabwürdigen, indem Gefühle der Angst, Ohnmacht und Minderwertigkeit erzeugt werden, verstoßen gegen Art. 3 EMRK und gegen die damit geschützte Menschenwürde.122 Der darin zum Ausdruck kommende Gedanke entspricht weitgehend dem Ansatz, den das Bundesverfassungsgericht in seinen frühen Entscheidungen im Bezug auf Verletzungstatbestände der Würde herangezogen hat.123 Die Würde schützt den Einzelnen vor massiven Eingriffen in seine Integrität und wahrt diese. Die Anerkennung der menschlichen Würde, als die eines eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Subjekts kommt in der substanziellen Gewährleistung menschenrechtlicher Integrität zu Ausdruck und bildet die Basis ausdifferenzierter Regelungen, die mögliche Beschränkungen und Eingriffe in die menschliche Freiheit ebenso wie in die körperliche und seelische Unversehrtheit auf ein schonendes und möglichst geringes Maß beschränken sollen.124 In Art. 3 EMRK spiegeln sich mithin der Würdeschutz per se und wesentliche Elemente eines weitergehenden Konzeptes des Würdeschutzes wider. In der besonderen „Unmittelbarkeit“ des Würdeschutzes zeigt sich zudem der Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde, der sich in besonderem Maße in absoluten Normen, wie dem Folterverbot des Art. 3 EMRK, ebenso wie in Art. 1 Abs. 1 GG widerspiegelt. In diesem Zusammenhang wird stets die Möglichkeit einer Abweichung vom absoluten Verbot der Folter diskutiert: Gerade in Grenzsituationen ist das absolut geltende Verbot des Art. 3 EMRK immer wieder in Frage gestellt und eine ausnahmsweise Zulassung von Foltermaßnahmen in Situationen befürwortet oder zumindest in Erwägung gezogen worden,125 die eine Anwendung von Folter „gerechtfertigt“ erscheinen lassen. Insbesondere im Rahmen der internationalen Terrorismusbekämpfung wurde dies wiederholt thematisiert; die Rettung (vieler) Unschuldiger durch die „Opferung“ des vermeintlichen Täters oder die Verletzung seiner Würde scheinen in den – auch im deutschen Recht – beschworenen „ticking bomb“-Szenarien durchaus in Betracht gezogen zu werden. Die vergleichsweise 121
Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Bank, EMRK/GG, 22013, Kap. 11, Rn. 10. Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (640); Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts. Grundrechtsschutz, 2006, 37. Zu dem Aspekt der Unangemessenheit der Gewaltanwendung in einer konkreten Situation, siehe die Ausführung des EGMR in seiner Entscheidung El-Masri ./. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 39630/09, RJD 2012-VI, 263 (317 ff.). Vgl. ebenfalls die deutschsprachige Veröffentlichung NVwZ 2013, 631 (635 f.). 123 So in BVerfGE 1, 97 (104). 124 Bielefeldt, Die Würde des Menschen. Fundament der Menschenrechte, in: Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, 105 (126). 125 Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405 (1405 f.). 122
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geringe Zahl der Opfer im Verhältnis zu den vermeintlichen Folgen erscheint hinnehmbar.126 Die in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen erinnern dabei stark an die Debatten im Falle Daschner auf deutscher Ebene.127 Befürworter einer Relativierung des Verbots sehen dabei die staatliche Sicherheit und den Schutz der Bevölkerung als in höherem Maße schützenswert als das Wohlbefinden eines vermeintlich feindlich gesonnen Terroristen. Hier tritt der Konflikt um die Absolutheit des Achtungs- und Schutzanspruches der Menschenwürde auf europäischer Ebene zu Tage.128 Auch wenn die in dieser Situation vorgebrachten Argumente für den Einsatz von Foltermaßnahmen moralisch wie menschlich – zum Teil – nachvollziehbar sein mögen, hat sich im Rahmen der geführten Debatten im deutschen Recht gezeigt, dass sie nicht mit dem Konzept der Menschenwürde und den gesetzlichen Vorgaben zu vereinbaren sind. Ob man diese Problematik aus deutscher Sicht betrachtet oder unter den Vorgaben des europäischen oder internationalen Rechts scheint unerheblich.129 Auch auf europäischer Ebene kann dies nicht anders beurteilt werden. Die schon geführten nationalen Debatten nehmen auf europäischer – und auch auf internationaler Ebene – nahezu die gleichen Dimensionen und Strukturen an.130 Die Frage einer möglichen qualitativen und/oder quantitativen Abwägung der Würde der Betroffenen zueinander wird in Zusammenhang mit Art. 3 EMRK ebenso erwogen, wie im Kontext des Art. 1 Abs. 1 GG. Daneben wird der Ansatz diskutiert, ein Mitverschulden des „Täters“ könne eine Anwendung von Folter in speziell gelagerten Einzelfällen rechtfertigen. Beiden Ansätzen steht Art. 3 EMRK eindeutig entgegen. Denn Art. 3 EMRK statuiert, ebenso wie Art. 1 Abs. 1 GG, ein absolut geltendes Verbot, das auch bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität und internationalen Terrorismus stets gewahrt werden muss.131 Art. 3 EMRK ist zudem per Gesetz notstandsfest, eine Abweichung ist nicht vorgesehen und somit absolut inakzeptabel.132 Diese Notstandsfestigkeit ist ausdrücklich in Art. 15 Abs. 2 EMRK normiert, der die in Art. 3, Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 EMRK gewährleisteten Rechte absolut schützt. So können weder hochrangige Belange des Opfers noch der Öf126 Vgl. zur Thematik der „ticking bomb“-Szenarien die Ausführungen zum Umgang des deutschen Rechts mit diesem Problem (C. I. 3. im ersten Teil). In der europäischen Debatte stellen sich insofern ähnliche Schwierigkeiten, die noch durch den Charakter der EU als Staatengemeinschaft und die eingeschränkten Befugnisse verstärkt werden. Vgl. vertretend für viele Isfen, Foltern, um Leben zu retten – gerechtfertigt?, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung. Strafrecht – Zivilrecht – Öffentliches Recht, 2004, 21 ff. 127 Vgl. die Ausführungen von Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 102 f. 128 Vgl. dazu auch die Ausführungen im ersten Teil unter C. II. 3. 129 Vgl. Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405 (1405 f.). 130 Vgl. Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405 (1406). 131 Siehe die Ausführungen von Frenz zu Art. 4 der GR-Charta, der wortgleich das Verbot des Art. 3 EMRK wiedergibt Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 987 ff. Vgl. ebenso Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 20, Rn. 32. 132 Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1078).
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fentlichkeit oder das Verhalten des Betroffenen eine Relativierung dieser Verbote rechtfertigen.133 Auch Regelungen anderer Abkommen, wie sie zum Beispiel die Genfer Flüchtlingskonvention im Falle der Gefährdung der staatlichen Sicherheit vorsieht, können die Vorgaben des Art. 3 EMRK nicht einschränken; der gewährte Schutz geht über diese Einschränkungen hinaus.134 Erschwerend tritt in diesem Rahmen die Frage hinzu, wem im Falle solcher „ticking bomb“-Szenarien die Entscheidungsbefugnisse bezüglich des weiteren Vorgehens zukommen. Die unterschiedliche Handhabung der einzelnen Mitgliedsstaaten könnte dazu führen, dass es wesentlich darauf ankommt, welcher Staat den Betroffenen in Gewahrsam hat. Die Entscheidungen des EGMR zeigen, dass die Sichtweise der Konventionsregeln zwischen den Mitgliedsstaaten variieren kann, insbesondere in der Frage, was als Folter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlung erfasst wird und was nicht. Dennoch bleibt auf überstaatlicher Ebene kein Raum für eine Relativierung des absoluten Folterverbots. Eine solche ist mit den rechtlichen Vorgaben nicht vereinbar.135 Gerade deshalb ist es von besonderer Bedeutung durch den EGMR und seine Rechtsschutzmöglichkeiten ein einheitliches Schutzniveau in Bezug auf alle Menschenrechte und insbesondere das Folterverbot zu schaffen und dessen Einhaltung zu überprüfen. Im Hinblick auf das Folterverbot stellt sich mithin stets die Frage, wann eine Verletzung vorliegt, wann der Einzelne durch die Handlung des Staates zu einem Objekt gemacht und in seiner individuellen Subjektivität missachtet wird. Denn Art. 3 EMRK ist nur anwendbar, wenn ein bestimmtes „Mindestmaß“ der Eingriffsintensität erreicht wird, also eine bestimmte Schwere körperlicher Verletzungen oder Intensität physischer oder psychischer Leiden hervorgerufen wird.136 Neben eindeutigen Fällen, wie der Genitalverstümmelung von Frauen und Mädchen,137 die immer durch Art. 3 EMRK erfasst und verboten wird, ist in den meisten Fällen eine relative Beurteilung des Einzelfalles notwendig.138 Auch insoweit zeigt sich eine Parallele zu Art. 1 Abs. 1 GG. Der EGMR beurteilt das Mindestmaß der Schwere und das Vorliegen eines Eingriffs vielfach an Hand einer Gesamtwürdigung der Umstände unter Berücksichtigung des verfolgten Zweckes und der Möglichkeit minder eingriffsintensiver Maßnahmen.139 Zur Bestimmung der Mindestschwelle zieht der 133
EGMR, Gäfgen ./. Deutschland, Nr. 22978/05, RJD 2010-IV, 247 ff. = EuGRZ 2008, 466 ff.; EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 61498/08, RJD 2010-II, 61 ff. 134 Vgl. Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1078). 135 Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405 (1405 f.). 136 Vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 32011, Art. 3, Rn. 19. 137 EGMR, Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland, Nr. 43408/08, NVwZ 2012, 686 (1. Leitsatz). 138 EGMR, Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland, Nr. 43408/08, NVwZ 2012, 686 (687). 139 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (317 f.) = NJW 2006, 3117 (3121).
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Gerichtshof dabei verschiedene Aspekte heran:140 Neben der grundsätzlichen Bewertung der Art der Behandlung oder Strafe, der Methoden, Dauer und Auswirkungen des konkreten Einzelfalles, zog er die Definition des Art. 1 Abs. 1 des UNÜbereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Antifolterkonvention) mit heran. Folter ist demnach gegeben, wenn: „einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden.“141
Anhand dieser Definition der UN-Antifolterkonvention bestimmt der EGMR in Zusammenhang mit den Einzelfallumständen, ob Folter vorliegt oder nicht. Er sieht danach Folter als die Zufügung erheblicher Schmerzen oder Leiden durch staatliche Stellen an, die sich der Gewaltanwendung als Mittel der Nötigung, Diskriminierung und Erniedrigung bedienen. Mit einbezogen werden in die Beurteilung, ob das erforderliche Mindestmaß gegeben war, bisweilen das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand des Opfers.142 Die Beurteilung erfolgt dabei stets unter Berücksichtigung der Gesamtsituation und der Person des Betroffenen. Für die Frage, ob eine unmenschliche Behandlung oder Strafe vorliegt, greift der EGMR zudem auf die Menschenwürde zurück, in dem eine Handlung danach zu beurteilen ist, ob sie den Betroffenen erniedrigt bzw. demütigt und damit entwürdigt.143 Eine Behandlung wird als „erniedrigend“ und „entwürdigend“ erachtet, wenn bei den Opfern Gefühle der „Angst, Beklemmung und Unterlegenheit“ hervorgerufen werden, die geeignet sind, sie „zu demütigen und herabzusetzen“ und dadurch zu entwürdigen, wobei beabsichtigt oder in Kauf genommen wird, ihren körperlichen Widerstand zu brechen und die Opfer dazu zu bringen, gegen ihren Willen oder ihr Gewissen zu
140 Vgl. dazu die Ausführungen in der Entscheidung EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (927 f.). 141 Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Die offizielle Übersetzung des Übersetzungsdienstes der Vereinten Nationen ist online verfügbar unter: http://www.un.org/ depts/german/menschenrechte/cat-c-3-rev4.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 142 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (306) = NJW 2006, 3117 (3119) = EuGRZ 2007, 150 (157). 143 Vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 32011, Art. 3, Rn. 22. Siehe weiterhin EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (306 f., 319) = NJW 2006, 3117 (3121) = EuGRZ 2007, 150 (157).
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handeln.144 Insbesondere körperliche Eingriffe und Androhung möglicher Eingriffe im Rahmen der Strafverfolgung wurden hierbei im Hinblick auf Art. 3 EMRK untersucht,145 ebenso wie Fälle einer möglichen Abschiebung oder Auslieferung.146 Die Achtung der Identität und (körperlichen) Unversehrtheit des Einzelnen ist dabei von zentraler Bedeutung und bildet die Grundlage der rechtsstaatlichen Ordnung auch auf der Ebene der Mitgliedsstaaten der EMRK, die mit ihrem Beitritt diese Ordnung als Grundlage der Zusammenarbeit anerkannt haben. Die Problematik der Vereinbarkeit einer möglichen Auslieferung von Straftätern sowie der Abschiebung von Ausländern mit den Vorgaben des Art. 3 EMRK war wiederholt Gegenstand von Verfahren vor dem EGMR. Die Frage, ob ein Mitgliedsstaat unter den konventionsrechtlichen Vorgaben einer Auslieferung zustimmen oder eine Abschiebung vornehmen darf, wenn dem Betroffenen in dem ersuchenden Staat oder in seinem Heimatland, in das er verbracht werden soll, eine menschenunwürdige Behandlung droht, ist dabei von zentraler Bedeutung.147 Maßgeblich sind sowohl die Bedingungen und Vorgaben des dortigen Sanktionssystems als auch die gegebenen Zustände im Strafvollzug des entsprechenden Staates.148 So können nicht nur die Verwendung bestimmter Verhörmethoden gegen eine Auslieferung aufgrund des Verbotes des Art. 3 EMRK sprechen, sondern auch die Bedingungen der Haft, wie eine zu erwartende lange und ungewisse Unterbringung in der Todeszelle. Auch wenn der jeweilige Mitgliedsstaat nicht selbst die entsprechenden Handlungen anordnet oder durchführt, kann er durch die Auslieferung bzw. Abschiebung dafür verantwortlich sein, dass der Betroffene solchen Handlungen ausgesetzt wird. Darin sieht der Gerichtshof ebenfalls einen Verstoß gegen das konventionsrechtlich verankerte Folterverbot und die damit verbundene Achtungs- und Schutzpflicht. Dies meint die Wirkung der Konvention über den räumlichen Bereich des Mitgliedsstaates hinaus. Von besonderem Interesse ist vor diesem Hintergrund die Frage der Möglichkeit und Wirkung staatlicher Zusicherungen menschenwürdiger Behandlungen im Falle gewährten Abschiebungsschutzes auf Basis des Art. 3 EMRK.149 Dabei wird vom Zielstaat eine Zusicherung gegeben, dass die betroffene Person im Falle der Abschiebung menschenwürdig behandelt werden wird. Problematisch ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage der Gewährleistungsmöglichkeit: Kann ein Staat umfassend die Einhaltung der zugesicherten Behandlung garantieren? 144 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (319) = NJW 2006, 3117 (3119) = EuGRZ 2007, 150 (157). 145 Siehe als Beispiel die Fälle EGMR, Gäfgen ./. Deutschland, Nr. 22978/05, RJD 2010-IV, 247 ff. = EuGRZ 2008, 466 ff. und EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (319 f.) = NJW 2006, 3117 ff. = EuGRZ 2007, 150 ff. 146 Vgl. hierzu im Folgenden die Ausführungen zur Rechtsprechung des EGMR. 147 Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 30 ff. 148 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 30. 149 So etwa in EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 ff. = NVwZ 1997, 1093 ff.
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Art. 3 EMRK verbietet im Falle eines real bestehenden Misshandlungsrisikos die Abschiebung der betroffenen Person.150 Dabei müssen stichhaltige Anhaltspunkte vorliegen, um ein solches reales Misshandlungsrisiko anzunehmen. Wobei es nicht nur auf staatliche Maßnahmen im Zielland, sondern auch auf unabhängig agierende Kräfte, wie privater Sicherheitskräfte oder Rebellengruppen, ankommen kann, durch die eine menschenunwürdige Behandlung droht.151 Ob eine solche Zusicherung die Entscheidung über die Vereinbarkeit der Abschiebung mit den Vorgaben der EMRK erleichtern kann oder nicht, hat nicht nur den EGMR, sondern auch das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahrzehnten beschäftigt.152 Während das Bundesverfassungsgericht von einer deutlich positiven Wirkung auf die vorzunehmende Prognose ausgeht, ist der EGMR zurückhaltender.153 Der Gerichtshof nimmt in solchen Fällen zumeist eine intensivere Einzelfallprüfung als die nationalen Gerichte vor und bezieht eine staatliche Zusicherung nur als einen Aspekt in seine Erwägungen mit ein.154 So kann nach Einschätzung des Gerichtshofes dennoch ein „reales Risiko“ einer unmenschlichen Behandlung gegeben sein, das auch durch die Zusicherung nicht ausgeräumt werden kann, da insoweit an den tatsächlichen Möglichkeiten der Regierung Zweifel bestünden, die Zusicherung zu erfüllen.155 Die Frage nach einer entwürdigenden oder menschenunwürdigen Behandlung im Zielland und die Bedeutung staatlicher Zusicherungen einer menschenwürdigen Behandlung verdeutlichen noch einmal den engen Bezug von Art. 3 EMRK zum Schutz der Menschenwürde. Die aus dem Verbot der Folter abgeleitete Verpflichtung, keinen Kausalbeitrag zu einer solchen Behandlung zu leisten, wird insofern durch den Schutzanspruch des Betroffenen ergänzt, ihn gegen Behandlungen solcher Art – sowohl durch staatliche Stellen als auch durch nicht staatliche Stellen – in einem fremden Staat zu schützen.156 Die damit verbundene Problematik der Ausweitung der Wirkung des Folterverbots zeigt sich in verschiedenen Aspekten: Insbesondere die Einschränkung der Mitgliedsstaaten in ihrer politischen Freiheit im Rahmen der nationalen Ausländerpolitik stand und steht dabei immer wieder zur Debatte. 150
Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1079). 151 Vgl. dazu EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 ff. = NVwZ 1997, 1093 ff. 152 BVerfGE 93, 248 (255 f.) = BVerfG, NVwZ-Beil. 1995, 50 (51). Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Nichtannahmebeschluss vom 9. 3. 2016 (Az. 2 BvR 348/16), BeckRS 2016, 43820. Danach seien „völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird“. 153 Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1079). 154 Vgl. dazu beispielhaft EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1856 ff.) = NVwZ 1997, 1093 (1095 f.). 155 So in EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1858 f.) = NVwZ 1997, 1093 (1095). 156 Vgl. Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts. Grundrechtsschutz, 2006, 35.
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Grundsätzlich muss es jedem Staat obliegen zu entscheiden, wann und nach welchen Grundsätzen er einer Auslieferung zustimmt oder eine Ausweisung vornimmt. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Souveränität. Ein durch die Grundsätze der EMRK vorgegebener Mindeststandard, der sowohl im eigenen Land als auch bei der Verbringung in einen Fremdstaat geachtet werden muss, führt zu einer indirekten Beschränkung der staatlichen Souveränität und somit zu erheblichen Schwierigkeiten. Zudem erachten es viele Staaten als zu weitgehend, dass aus Art. 3 EMRK abgeleitet ein Schutz vor Folter und unmenschlicher und erniedrigender Strafe zu gewähren ist, sowohl wenn die Gefahr staatlicher, aber gegebenenfalls auch einer nichtstaatlichen Verfolgung zu befürchten ist.157 4. Fazit Die EMRK enthält keine direkte Erwähnung der menschlichen Würde. Dies ist für ein Dokument zum Schutz der Menschenrechte sehr ungewöhnlich. Dennoch gewährt die EMRK über den Kanon der Art. 2 bis 4 EMRK einen indirekten Schutz der Menschenwürde. Diese „Fundamentalgarantien der EMRK“158 leiten sich aus dem Schutz der Menschenwürde ab.159 Die Menschenwürde ist nach der Rechtsprechung des EGMR jedoch Grundlage („very essence“) der Konvention160 und prägt als solche die Auslegung und Anwendung. Die Achtung des Einzelnen als Individuum und der Schutz seiner seelischen wie körperlichen Integrität, bilden dabei die zentralen Aspekte des Schutzumfangs. Der dadurch geschaffene Schutz kommt im Umfang dem Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG im deutschen Recht sehr nah. Eine eigene umfassende Begrifflichkeit auf der Ebene der EMRK entwickelt sich jedoch noch.161 Art. 3 EMRK kommt in diesem Rahmen eine besondere Bedeutung zu. Als „most fundamental value of democratic societies“,162 als höchster Grundwert einer demokratischen Gesellschaft, formuliert Art. 3 EMRK kategorisch ein Verbot, das notstandsfest (Art. 15 Abs. 2 EMRK) garantiert und ausdrücklich keinen Schrankenregelungen unterworfen ist. Dies entspricht dem Schutz und der Bedeutung, die 157 Vgl. zu der Problematik der Auslieferung, Ausschaffung und Ausweisung insgesamt Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts. Grundrechtsschutz, 2006, 34 f., 38 ff. 158 Rudolf/v. Raumer, Der Schutzumfang der Europäischen Menschenrechtskonvention – Individuelle Freiheitsrechte, Verfahrensgarantien und Diskriminierungsverbote im Vergleich zum GG, AnwBl. 2009, 318 (320). Ausführlicher zu den „Fundamentalgarantien“ der EMRK siehe Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 20. 159 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 22012, § 1, Rn. 15; ebd., § 7, Rn. 1. 160 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (194). Vgl. auch als Überblick die Zusammenfassung in der NJW 2002, 2851 (2854). 161 Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 359. 162 So die ständige Rechtsprechung des EGMR, der in unterschiedlich gelagerten Fällen immer wieder die Bedeutung der Konvention betont. Siehe etwa EGMR, Gäfgen ./. Deutschland, Nr. 22978/05, RJD 2010-IV, 247 ff. = EuGRZ 2008, 466 ff.
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Art. 1 Abs. 1 GG im Rahmen des Grundgesetzes zukommen. Der ebenfalls als Aussage formulierte Schutz der Menschenwürde („ist unantastbar“) wird schrankenlos gewährt und durch den Schutz der Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 GG) jeglichen Änderungen entzogen.163 Hier ist eine deutliche Parallele in der Ausgestaltung der Normierung und des Schutzes der jeweils höchsten Werte der EMRK und des GG zu sehen. Beide Bestimmungen sind so ausgestaltet, dass jeder Eingriff in den geschützten Bereich zugleich eine verbotene Verletzung darstellt. Im Unterschied zu Art. 1 Abs. 1 GG bildet jedoch Art. 3 EMRK nicht die Spitze des Rechtekanons der EMRK. Dies mag zu einem gewissen Grad der Struktur der EMRK als Menschenrechtsvertrag geschuldet sein. Die Konvention beginnt in Art. 1 mit der Zusicherung der im ersten Abschnitt verankerten Rechte und Freiheiten durch die Mitgliedsstaaten an alle ihrer Hoheitsgewalt unterstellten Personen. Im ersten Abschnitt der Konvention sind in den Art. 2 bis 18 die grundlegenden Rechte und Freiheiten normiert. Die Position des Art. 3 EMRK weist darauf hin, dass dieser nicht von Beginn an als höchster Wert konzipiert wurde. Vielmehr war er in den Kanon der fundamentalen Rechtsgarantien eingefügt, die die Basis des Schutzes der Menschenrechte bilden. Die Bedeutung als höchster Wert erlangte Art. 3 EMRK insbesondere durch die Rechtsprechung des EGMR. Mit der erfolgten Entwicklung in der Rechtspraxis schafft Art. 3 EMRK in Zusammenschau mit den weiteren Rechten der EMRK einen Schutz, der dem des Art. 1 Abs. 1 GG bezüglich der Menschenwürde entspricht, wobei die unterschiedliche Gewichtung und Ausgestaltung den Besonderheiten der EMRK als supranationaler Menschenrechtsvertrag Rechnung trägt. Die Entwicklung des Würdeschutzes aus Art. 3 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR soll im Folgenden analysiert werden. Die zentrale Frage dabei ist, wie der Schutz der Würde auf dieser Ebene funktioniert und ob mit ihm ein spezifisches Konzept verbunden wird.
II. Die Antifolterkonvention – spezifische Ergänzung des in Art. 3 EMRK angelegten Schutzes Im Einklang mit dem grundsätzlichen Schutz der EMRK insgesamt und speziell mit Art. 3 EMRK steht das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung des Europarates („Europäische Antifolterkonvention“) von 1987, das von allen Mitgliedsstaaten der EMRK ratifiziert worden ist. Die Antifolterkonvention differenziert ausgehend und anknüpfend an die Vorgaben der EMRK das Verbot der Folter und der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und Strafe weiter aus und unterstreicht die grundlegende Bedeutung des Folterverbots.164 Mit der Möglichkeit der 163 164
Vgl. Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Art. 1 I, Rn. 45 f. Vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 32011, Art. 3, Rn. 5.
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Kontrolle der Haftunterbringung und -bedingungen ist die Schutzrichtung der Antifolterkonvention jedoch eine andere. Während die Vorgaben der EMRK einen repressiven, also nachträglichen, im Verletzungsfall eintretenden Schutz gewähren, enthält die Antifolterkonvention präventive Schutzmechanismen.165 Auf Grundlage der Bedeutung des absoluten Verbots der Folter, das in Art. 3 EMRK ausgesprochen wird, und der Überzeugung, „daß der Schutz von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe durch nichtgerichtliche Maßnahmen vorbeugender Art, die auf Besuchen beruhen, verstärkt werden könnte“166 und muss, haben sich die Mitgliedsstaaten des Europarates auf die Antifolterkonvention verständigt. Die präventive Ausrichtung auf Verhütung von Folter ist gedanklich der Regelung der EMRK – und auch der Charta der Grundrechte, die ebenfalls in Art. 4 ein absolutes Verbot der Folter enthält – vorgeschaltet. Die von der Konvention vorgesehenen Maßnahmen sollen verhindern, dass es überhaupt zu Folterhandlungen kommt. Dafür sieht die Konvention nicht nur die Einrichtung eines Ausschusses unabhängiger Experten zur Begutachtung und Überprüfung aller Einrichtungen vor, in denen Menschen ihre Freiheit entzogen wird, sondern auch eine genaue Dokumentation der Haft- und Unterbringungsbedingungen sowie die Zusammenfassung der Ergebnisse in einem abschließenden Bericht. Die rechtlichen Grundlagen zur Einrichtung eines solchen (Kontroll-)Ausschusses, der die Haft- und Unterbringungsbedingungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten untersucht, bilden die Regelungen der Art. 2 bis 6 als Kernstück der Konvention und des durch sie geschaffenen Schutzes.167 Die Überwachung und Überprüfung kann sowohl im Wege regelmäßiger Besuche als auch durch „ad-hoc-Besuche“ erfolgen, sofern der Verdacht nahe liegt, dass ein erhöhtes Risiko der Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gegeben ist.168 Diese Besuche erfolgen zumeist durch zwei Mitglieder, begleitet von Sachverständigen und Dolmetschern (Art. 7 Abs. 2 der Antifolterkonvention).169 Dadurch werden die jeweiligen Bedingungen von einem unabhängigen Gremium beurteilt und den Staaten konkrete Defizite und Veränderungsbedürfnisse aufgezeigt. Gleichwohl bleibt, wenn es zu einem Verstoß gegen das absolute Verbot der Folter gekommen ist, kein Raum mehr für die Anwendung der
165 Vgl. Dobin, Migration und Schutz der inneren Sicherheit. Rechtliche Fragen der Bekämpfung islamischen Terrorismus, 2008, 108. 166 Wortlaut der Präambel des „Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“, http://conventions.coe.int/ Treaty/ger/Treaties/Html/126.htm (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 167 Zimmermann, Erste praktische Erfahrungen mit dem Europäischen Übereinkommen zur Verhütung von Folter, NStZ 1992, 318 (318). 168 Dobin, Migration und Schutz der inneren Sicherheit. Rechtliche Fragen der Bekämpfung islamischen Terrorismus, 2008, 108. 169 Dobin, Migration und Schutz der inneren Sicherheit. Rechtliche Fragen der Bekämpfung islamischen Terrorismus, 2008, 108.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Antifolterkonvention, vielmehr kommt es dann auf die Sanktionsmöglichkeiten an, die in der EMRK und der Charta der Grundrechte zur Verfügung gestellt werden. Mit diesem umfänglich angelegten präventiven Schutz vor Folter und dem absoluten, notstandsfesten Verbot in Art. 3 EMRK sowie in Art. 4 GR-Charta wird nicht nur unterstrichen, dass Folter unter keinen Umständen und in keinem Zusammenhang zu dulden ist, sondern es wird darüber hinaus betont, dass durch die Gefahr des Eingriffes durch Folter in den Kernbereich der Menschenwürde ein solcher präventiver Schutz zwingend geboten ist. Der enge Zusammenhang zwischen dem absoluten Schutz der Menschenwürde und dem absoluten Verbot der Folter bilden ein aufeinander bezogenes Konzept. Die Folter, die bewusste Gewalteinwirkung auf den Körper oder die Psyche des Betroffenen, um eine Aussage zu erlangen, führt zu einer Verobjektivierung des menschlichen Körpers und somit des Menschen selbst, die mit der menschlichen Würde und dem absoluten Gebot, den Menschen stets als Subjekt zu sehen, nicht vereinbar ist.170 Die Menschenwürde wird durch diesen umfassenden Schutz in ihrer besonderen Bedeutung auf europäischer Ebene unterstrichen.
D. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR)171 Der EGMR als „spezialisiertes europäisches Grundrechtegericht“172 setzt sich bereits aufgrund seiner Ausrichtung im Vergleich zum EuGH wesentlich häufiger mit Fragen der Menschen- und Grundrechte auseinander. Gemäß Art. 19 EMRK hat der EGMR die Aufgabe, „die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, 170 Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, JR 2003, 404 (406); Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405 (1406). 171 Die Zitierung der Entscheidungen des EGMR erfolgt im Weiteren jeweils unter Angabe der Parteien sowie der Fallnummer und – soweit verfügbar – der Nennung einer Veröffentlichung in einer amtlichen Sammlung oder einer deutschsprachigen Fachzeitschrift. Nicht alle Entscheidungen des EGMR werden in der amtlichen Sammlung veröffentlich. Zunächst wurden nur ausgewählte Entscheidungen in der „Serie A“ veröffentlicht. Seit 1998 heißt die amtliche Sammlung der Rechtsprechung des EGMR „Reports of Judgements and Decisions/ Recueil des arrêts et décisions“ („RJD“), dort werden weiterhin ausgewählte Entscheidungen des Gerichtshofes in englischer und französischer Sprache veröffentlicht. Vgl. http://www.echr. coe.int/Pages/home.aspx?p=caselaw&c =#n1367580026604 _pointer (zuletzt abgerufen 18. 9. 2015). Deutsche Übersetzungen sind zum Teil verfügbar und als Sammlung EMRK-E veröffentlicht. Vgl. http://www.eugrz.info/html/egmr.html (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). Alle Entscheidungen des Gerichtshofes sind als Volltextveröffentlichungen auf der Webseite des Gerichtshofes abzurufen (http://www.echr.coe.int/Pages/home.aspx?p=home&c= [zuletzt abgerufen am 29. 9. 2015]). 172 Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012, 10.
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welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention [der EMRK] und den Protokollen dazu übernommen haben“.173 Gestützt auf die EMRK wacht der EGMR über die Einhaltung des grundsätzlichen Schutzes der Menschenrechte. Zielsetzung ist, einen allgemeinen „Mindeststandard“174 sichern. Der Gerichtshof untersucht dabei ausschließlich die Einhaltung der Konventionsverpflichtungen. Die Einhaltung nationalen staatlichen Rechts oder anderer völkerrechtlicher Vorgaben beurteilt er nicht; alleiniger Entscheidungsmaßstab des Gerichtshofes sind die Konventionsrechte.175 Die Rechtsprechung des EGMR folgt mithin dem Katalog der Konvention, die den Schutz- und Gewährleistungsumfang fixiert, und zeigt in seiner Praxis ein umfassendes Bild dieses Schutzes der Menschen- und Grundrechte. Die Entwicklung des EGMR spiegelt die Fortentwicklung des völkerrechtlichen Schutzes von Grund- und Menschenrechten wider und unterstreicht seine Bedeutung. So wurde der Gerichtshof sukzessive „vom fakultativen Wahrer eines menschenrechtlichen Mindeststandards zum ,Europäischen Verfassungsgericht‘“.176 Im Unterscheid zu nationalen Verfassungsgerichten ist der EGMR jedoch nicht in ein festes Verfassungsgefüge eingebunden. Er steht als spezialisiertes Gericht außerhalb solcher Bindungen. Er muss daher in seinen Entscheidungen keine Rücksicht auf organisatorische oder kompetenzrechtliche Strukturen nehmen und kann insoweit „frei“ entscheiden. Dennoch steht diese „Freiheit“ des Gerichtshof in einem Spannungsverhältnis mit seiner Aufgabe im Rahmen des völkerrechtlichen Überwachungsmechanismus dahingehend, dass er um die Akzeptanz seiner Entscheidungen zu sichern, das nötige Maß an Zurückhaltung gegenüber der staatlichen Souveränität der Mitgliedsstaaten und ihren politischen Systemen wahren muss.177 Die Frage der Anerkennung und Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen erwies sich in diesem Zusammenhang lange als problematisch. Den Urteilen des Gerichtshofes kommt formal nur eine feststellende Wirkung zu, für die Anerkennung und Durchsetzung eines wirksamen Menschenrechtsschutzes bedurfte es der Akzeptanz und der Mitwirkung der Vertragsstaaten.178 Dies ist durch das 14. Zusatzprotokoll geändert worden. Gemäß Art. 46 EMRK besteht nun die Möglichkeit, durch geeignete Maßnahmen auf die Umsetzung der Urteile des Gerichtshofes hinzuwirken.
173
Wortlaut Art. 19 EMRK, klarstellende Ergänzung durch die Verfasserin. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 22012, § 2, Rn. 1. 175 Vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 32011, Art. 19, Rn. 1. 176 Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012, 14. 177 Vgl. dazu insgesamt Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?, 2007, 220. 178 Vgl. Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?, 2007, 220 f. 174
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Die Kompetenz bezüglich dieser Maßnahmen liegt bei dem Ministerkomitee, das entsprechende Vorschläge bezüglich zu treffender Maßnahmen machen kann.179 Im Umgang des Gerichtshofes mit dem Schutz und der Achtung der Menschenwürde stellt sich das Problem, dass die EMRK eine ausdrückliche Bestimmung der Garantie der Würde des Menschen nicht enthält und somit eine direkte schriftliche Fixierung als Bezugspunkt nicht gegeben ist. Die Rechtsprechung des EGMR zeigt in seiner Entwicklung, dass der Menschenwürdeschutz als „objektivrechtliche Grundlage und durchgehendes Motiv der EMRK zu erachten“ ist.180 In seiner Rechtsprechung zieht der EGMR immer wieder die Begriffe der Erniedrigung, Entwürdigung und Herabsetzung sowie der Missachtung der Menschenwürde im Zusammenhang mit dem Verbot der Folter und erniedrigenden Behandlung heran und beruft sich auf die Menschenwürde als einen der wichtigsten Grundsätze des Art. 3 EMRK.181 Dabei nährt sich der Gerichtshof ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht dem Begriff der Menschenwürde im Wege der Negativdefinition. Vom Verletzungsvorgang im Einzelfall ausgehend, beschäftigt sich das Gericht mit den Facetten und dem Umfang des Würdeschutzes. Dabei treten bestimmte Fragestellungen immer wieder im Zusammenhang mit der Frage des Schutzes der Würde auf; insbesondere Verfahren zu Haftbedingungen und Ermittlungsmaßnahmen ebenso wie Fragestellungen des Asyl- und Auslieferungsrechts weisen häufig einen Bezug zum Schutzbereich des Art. 3 EMRK auf.182 Hinzu kommen markante Einzelentscheidungen, die den Umgang und die Bedeutung der Würde in der Rechtspraxis des EGMR zeigen. Im Folgenden werden die wichtigsten Entscheidungen des EGMR in Bezug auf den Schutz der Menschenwürde dargestellt und bezogen auf das Begriffsverständnis untersucht. Die Darstellung der Entscheidungen im Folgenden ist an thematischen Gesichtspunkten ausgerichtet und folgt keiner historisch-chronologischen Ordnung. Die Auswahl der Entscheidungen orientiert sich dabei an der jeweiligen Relevanz für die Frage des Umgangs des Gerichtshofes mit der Menschenwürde.
179
Vgl. dazu Art. 16 des 14. Zusatzprotokolls, der Art. 46 der EMRK erweitert. Vgl. außerdem die Ausführungen unter Teil 2, C. I. 1. b) zum Schutzumfang und der Schutzrichtung der EMRK. 180 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 103. 181 Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (640 f.). Vgl. weiterhin die Ausführungen zur EMRK unter C. 182 Vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 32011, Art. 3, Rn. 1 f.
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I. Drohende Todesstrafe und der Schutz des Art. 3 EMRK Die Frage, ob die Auslieferung eines Menschen, dem im Zielstaat die Todesstrafe droht, gegen Art. 3 EMRK verstößt, ist vielfach kontrovers diskutiert worden und hat den EGMR wiederholt beschäftigt. Ein explizites Verbot der Todesstrafe war zu Beginn – in der 1953 in Kraft getretenen Fassung – konventionsrechtlich nicht verankert. Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK sah lediglich ein besonderes Rechtfertigungserfordernis für die Verhängung der Todesstrafe vor.183 So begründete anfänglich der EGMR über die Regelung des Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK, die Auslieferung könne trotz drohender Verurteilung zur Todesstrafe erfolgen und verstoße insoweit nicht gegen Konventionsrecht, wenn die Todesstrafe in einem justizförmigen Verfahren aufgrund eines Gesetzes verhängt worden sei. In diesem Falle käme eine Ausnahme von dem in Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK normierten Verbot der absichtlichen Tötung in Betracht, die in Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK auch ausdrücklich vorgesehen ist.184 Ein Bezug zu Art. 3 EMRK und einer möglichen Verletzung durch die Begleitumstände der Inhaftierung in der Todeszelle wurde zunächst nicht hergestellt. Der Aspekt, dass die Gefangenen im Todeszellentrakt über eine lange Zeit auf die Vollstreckung der Todesstrafe warten und während dieser Zeit durch die Haftbedingungen schweren Stresssituationen ausgesetzt sein können, kann jedoch dazu führen, dass die Strafe als nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar erachtet wird. Besonders im Rahmen von Auslieferungsgesuchen spielen diese Erwägungen eine entscheidende Rolle. Auch wenn das Rechtssystem des ersuchenden Landes weder willkürlich noch unangemessen handelt, können die Begleitumstände der verhängten Strafe, insbesondere im Falle der Todesstrafe mit den Konventionsvorgaben unvereinbar sein und einer Auslieferung entgegenstehen. Die Rechtspraxis der Mitgliedsstaaten hat sich dahingehend entscheidend gewandelt, dass – zumindest in Friedenszeiten – eine Zunahme der grundsätzlichen Ächtung und des Verbots der Todesstrafe in der Staatenpraxis Europas zu beobachten ist. Bereits das 6. Zusatzprotokoll (in der Fassung des Protokolls Nr. 11) von 1983 schaffte die Todesstrafe in Art. 1 grundsätzlich ab. Die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe wurde verboten. Das Verbot als solches war gemäß der Art. 3 und 4 des 6. Zusatzprotokolls notstandsfest und vorbehaltslos garantiert. Es wurde jedoch eine eingeschränkte Anwendung dahingehend zugelassen, dass „[e]in Staat […] in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen [kann], die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden; diese Strafe darf nur in den Fällen, die im Recht vorgesehen sind, und in Übereinstimmung mit dessen Bestimmungen angewendet werden. […]“.185
183
Uerpmann-Wittzack, Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot, in Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 3, Rn. 56 f. 184 Dobin, Migration und Schutz der inneren Sicherheit. Rechtliche Fragen der Bekämpfung islamischen Terrorismus, 2008, 114. 185 Wortlaut des Art. 2 des 6. Zusatzprotokolls zur EGMR.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
So die ausdrückliche Regelung des 6. Zusatzprotokolls. Diese Ausnahme für Taten in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr bildete noch eine Lücke in einem vollständigen Verbot der Todesstrafe. Dennoch war durch diese Regelung ein weiterer Schritt für einen umfassenden Grundrechtsschutz hinsichtlich des Rechts auf Leben und, damit verbunden, auch der Menschenwürde erfolgt. Nach Erlass des 6. Zusatzprotokolls urteilte der Gerichtshof 1989 im Verfahren Soering ./. Vereinigtes Königsreich186, dass eine Auslieferung gegen die Konventionsrechte verstoßen kann, wenn dem Betroffenen im Zielstaat die Todesstrafe drohe und die Vollstreckung mit einer mehrjährigen Haftdauer im Todeszellentrakt verbunden sei. Das 6. Zusatzprotokoll war von Großbritannien zu diesem Zeitpunkt noch nicht ratifiziert worden. Ein absolutes Verbot der Todesstrafe in Friedenszeiten war folglich zu diesem Zeitpunkt nicht umfassend anerkannt. Die Entscheidung basierte auf der Anerkennung der unterschiedlichen Rechtspraxis der Mitgliedsstaaten und trug diesen Rechnung. Die Annahme Großbritanniens, auch unter Achtung der Konventionsrechte sei eine Auslieferung möglich, wurde seitens des Gerichts durchaus hinsichtlich der angestellten Bemühungen zur Achtung der Konventionsvorgaben gewürdigt. Der Gerichtshof verdeutlichte in seiner Entscheidung, dass es immer auf die genauen Umstände des Einzelfalles ankomme und diese für die Beurteilung eines Verstoßes gegen die Konvention heranzuziehen seien. Ein grundsätzliches Verbot der Todesstrafe wollte der Gerichtshof hier ausdrücklich nicht in Art. 3 EMRK hineingelesen wissen. Dies stände in einem Widerspruch zu der Lesart der Konvention im Ganzen: „Die Konvention ist als Ganzes zu lesen, und Art. 3 ist daher im Einklang mit den Bestimmungen des Art. 2 auszulegen […]. Demzufolge können die Autoren der Konvention gewiss nicht die Absicht gehabt haben, in Art. 3 ein allgemeines Verbot der Todesstrafe hineinzunehmen, da sonst der eindeutige Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 außer Acht gelassen worden wäre. Die nachfolgende Praxis der nationalen Strafrechtspolitik, die Todesstrafe generell abzuschaffen, könnte dahingehend gewertet werden, eine Vereinbarung der Vertragsstaaten zu begründen, die Ausnahme nach Art. 2 Abs. 1 abzuschaffen und somit die Wortlautgrenze für die evolutive Auslegung von Art. 3 zu beseitigen. Das 6. ZP-EMRK als später niedergelegte Übereinkunft zeigt jedoch, daß die Vertragsstaaten erst 1983 die übliche Methode der Wortlautänderung anwenden wollten, um die neue Verpflichtung einzuführen, die Todesstrafe in Friedenszeiten abzuschaffen. Darüber hinaus sollte dies durch eine fakultative Übereinkunft geschehen, die es jedem Staat überließ, den Zeitpunkt seiner Verpflichtung zu wählen. Trotz des besonderen Charakters der Konvention […] kann unter diesen Umständen Art. 3 nicht dahingehend interpretiert werden, daß er generell die Todesstrafe verbietet.“187
Im Weiteren führt das Gericht jedoch aus, dass die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe dennoch in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK fallen kann: 186 EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 ff. = NJW 1990, 2183 ff. 187 EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 (396 f.).
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„Das heißt jedoch nicht, daß Umstände im Zusammenhang mit der Todesstrafe niemals den Schutzbereich des Art. 3 berühren könnten. Die Art und Weise, wie sie auferlegt oder vollstreckt wird, die persönlichen Umstände der verurteilten Person und die Unverhältnismäßigkeit zur Schwere der Tat sowie die Bedingungen der Haft im Vorfeld der Strafvollstreckung sind mögliche Faktoren, die die Behandlung oder Bestrafung der verurteilten Person in den Schutzbereich des Art. 3 bringen. Die heutige Einstellung in den Vertragsstaaten zur Todesstrafe ist für die Beurteilung maßgebend, ob das zumutbare Maß an Leiden und Erniedrigung überschritten worden ist.“188
Der Aspekt des Maßes der Leiden und der Erniedrigung des Betroffenen sind folglich ausschlaggebend. Im Einzelfall ist genau zu prüfen, ob das erforderliche Maß an Schwere, das für eine Verletzung des Art. 3 EMRK erforderlich ist, überschritten worden ist oder nicht. Der Gerichtshof führte dazu aus: „Für jeden zum Tode verurteilten Strafgefangenen sind Verzögerungsmomente zwischen Verhängung und Vollstreckung der Strafe sowie die Erfahrung schwerster Streßsituationen unter den für die strenge Inhaftierung notwendigen Umständen unausweichlich. Der demokratische Charakter des Rechtssystems von Virginia und die positive Ausgestaltung von Straf- und Berufungsverfahren stehen außer Zweifel. Der Gerichtshof stimmt mit der Kommission überein, daß der Justizapparat, dem der Bf. in den Vereinigten Staaten unterworfen sein würde, weder willkürlich noch unangemessen ist, sondern daß er Rechtsstaatlichkeit respektiert und dem Angeklagten im Mordprozeß erhebliche prozessuale Garantien gewährt. Psychologische und psychiatrische Dienste stehen als Hilfestellungen für die Insassen des Todeszellentrakts zur Verfügung […]. Nach Ansicht des Gerichtshofs würde der Bf. durch die Auslieferung an die Vereinigten Staaten dem realen Risiko einer Behandlung ausgesetzt, die über die durch Art. 3 gezogene Grenze hinausgeht. Die Meinung des Gerichtshofs stützt sich dabei auf die sehr lange Zeitspanne, die unter derart extremen Verhältnissen im Todeszellentrakt verbracht werden muß, mit der immer gegenwärtigen und wachsenden Furcht vor der Vollstreckung der Todesstrafe und mit den persönlichen Umständen des Bf., insbesondere seinem Alter und Geisteszustand zum Tatzeitpunkt. Eine weitere Erwägung von Bedeutung ist, daß im konkreten Fall die legitimen Ziele der Auslieferung auch durch andere Maßnahmen erreicht werden könnten, die keine Leiden solch außergewöhnlicher Intensität und Dauer nach sich ziehen würden.“189
Der Gerichtshof hat in dieser Entscheidung zusätzlich die Haftbedingungen sowie das Alter und den Gesundheitszustand des Betroffenen ausführlich dargelegt und in die Beurteilung mit einbezogen. So „bleiben Alter und geistige Verfassung eines bestimmten zum Tode verurteilten Menschen für die Vereinbarkeit des ,Todeszellentrakt-Syndroms‘ mit Art. 3 von besonderer Relevanz. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, Fragen strafrechtlicher Schuld und angemessener Strafe zu präjudizieren. Dennoch müssen das jugendliche Alter des Bf. zum Tatzeitpunkt und sein damaliger Geisteszustand nach der derzeitigen psychiatrischen Beweislage in
188 189
EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 (397). EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 (400 f.).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Erwägung gezogen werden, um im vorliegenden Fall die Behandlung im Todeszellentrakt in den Anwendungsbereich von Art. 3 zu bringen.“190
Es kommt darin erneut zum Ausdruck: Eine Beurteilung des konkreten Einzelfalles unter Abwägung aller relevanten Umstände ist für die Frage einer Verletzung des Art. 3 EMRK grundlegend. In diesem Kontext ist ebenfalls die Frage zu beantworten, ob der für eine Verletzung von Art. 3 EMRK erforderliche Schweregrad erreicht wurde. Dies wurde in der Entscheidung Soering seitens des Gerichts eingehend erörtert. Dabei wurden die vom Beschwerdeführer wie auch die seitens Großbritanniens, Deutschlands und der Europäischen Kommission vorgebrachten Argumente mit einbezogen. Die durchschnittliche Dauer der Inhaftierung im Todeszellentrakt sowie die dortigen Haftbedingungen und die Versorgung der Inhaftierten wurde bei der Beurteilung mit berücksichtigt. Im Ergebnis sah das Gericht aufgrund der Umstände und der Haftdauer eine Verletzung des Art. 3 EMRK als gegeben an. Es wurde im Rahmen der Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Art. 3 EMRK nur dann eingreife, wenn dem Auszuliefernden, wie im Fall Soering, im Zielstaat ein jahrelanger mit der Menschenwürde nicht zu vereinbarender Aufenthalt in der Todeszelle drohe. Erschwerend trat im konkreten Fall hinzu, dass „die legitimen Ziele der Auslieferung auch durch andere Maßnahmen erreicht werden könnten, die keine Leiden solch außergewöhnlicher Intensität und Dauer nach sich ziehen würden“.191 Mit dem Erlass des 13. Zusatzprotokolls 2002 ist die Ausnahme der Zulassung der Todesstrafe für Kriegszeiten entfallen und die vollständige Ächtung erfolgt. Art. 1 des Zusatzprotokolls besagt: „Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden.“192 Zudem wird in den Art. 2 und 3 des Zusatzprotokolls das Verbot der Todesstrafe notstandsfest und vorbehaltslos gewährt. Insoweit wird der Schutzstandard, der bereits durch das 6. Zusatzprotokoll geschaffen wurde, aufrechterhalten. Der erklärende Bericht des 13. Zusatzprotokolls betonte die Bedeutung des Schutzes für das Recht auf Leben und die daraus folgende Inakzeptanz der Todesstrafe: „1. The right to life, ,an inalienable attribute of human beings‘ and ,supreme value in the international hierarchy of human rights‘ is unanimously guaranteed in legally binding standards at universal and regional levels.“193
Damit wurde der Stellenwert des Rechts auf Leben in der Hierarchie der Menschenrechte besonders hervorgehoben. Der Schutz dieses Rechts, auch in Kriegs190
EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 (399). EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 (401). 192 Art. 1 des Protokolls Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, bezüglich der Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen vom 3. 5. 2002. 193 Protocol No. 13 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning the abolition of the death penalty in all circumstances, Explanatory Report, ETS No. 187. 191
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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zeiten, ist im Kontext der Entwicklungen des Rechts auf Leben auf europäischer Ebene und der Bedeutung der Menschenrechte unumgänglich. Dies geht aus den weiteren Ausführungen des erklärenden Berichts des 13. Zusatzprotokolls hervor: „6. This fundamental objective to abolish the death penalty was also affirmed by the Second Summit of Heads of State and Government of member states of the Council of Europe (Strasbourg, October 1997). In the Summit‘s Final Declaration, the Heads of State and Government called for the ,universal abolition of the death penalty and [insisted] on the maintenance, in the meantime, of existing moratoria on executions in Europe‘. For its part, the Committee of Ministers of the Council of Europe has indicated that it ,shares the Parliamentary Assembly’s strong convictions against recourse to the death penalty and its determination to do all in its power to ensure that capital executions cease to take place‘. […] 7. In the meantime, significant related developments in other form had taken place. In June 1998, the European Union adopted, Guidelines to EU Policy Toward Third Countries on the Death Penalty‘ which, inter alia, state its opposition to this penalty in all cases. Within the framework of the United Nations, a Second Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, aiming at the abolition of the death penalty, was adopted in 1989. For a few years, the UN Commission on Human Rights has regularly adopted Resolutions which call for the establishment of moratoria on executions, with a view to completely abolishing the death penalty. It should also be noted that capital punishment has been excluded from the penalties that the International Criminal Court and the International Criminal Tribunals for the Former Yugoslavia and Rwanda are authorised to impose. 8. The specific issue of the abolition of the death penalty also in respect of acts committed in time of war or of imminent threat of war should be seen against the wider background of the above-mentioned developments concerning the abolition of the death penalty in general. It was raised for the first time by the Parliamentary Assembly in Recommendation 1246 (1994), in which it recommended that the Committee of Ministers draw up an additional protocol to the Convention, abolishing the death penalty both in peace- and in wartime. […] 10. A significant further step was made at the European Ministerial Conference on Human Rights, held in Rome on 3 – 4 November 2000 on the occasion of the 50th anniversary of the Convention, which pronounced itself clearly in favour of the abolition of the death penalty in time of war. […]“194
Zudem wurde der Bedeutung des Art. 3 EMRK und den gerichtlich aufgestellten Grundsätzen hinsichtlich der unwürdigen Haftbedingungen, die mit der Verhängung der Todesstrafe verbunden sind, Rechnung getragen.195 Damit erstarkte die Ächtung der Todesstrafe mehr und mehr zu einem anerkannten Grundsatz auch über den Bereich der Konventionsstaaten hinaus, der Ausnahmen und Einschränkungen nicht zulässt.196 194 Protocol No. 13 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning the abolition of the death penalty in all circumstances, Explanatory Report, ETS No. 187. 195 Protokoll Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, bezüglich der Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen. 196 Vgl. im Ansatz: Dobin, Migration und Schutz der inneren Sicherheit. Rechtliche Fragen der Bekämpfung islamischen Terrorismus, 2008, 114 f.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Obwohl das 13. Zusatzprotokoll bislang nur von 43 der 47 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden ist,197 handelt es sich dabei um die große Mehrheit der Mitgliedsstaaten. Dadurch steht die Abschiebung und Auslieferung bei drohender Todesstrafe mit den Vorgaben der EMRK im Widerspruch. Dies zeigt sich in den nach Erlass des 13. Zusatzprotokolls ergangenen Entscheidungen des EGMR bezüglich dieser Problematik. Der Gerichtshof war zwar zunächst noch verhalten in der Änderung seiner Rechtsprechung, da der Verweis auf die Annahme einer (nahezu) allen Mitgliedsstaaten gemeinsamen Verbotsnorm der Todesstrafe als nicht ausreichend erachtet wurde.198 Er nahm jedoch im Folgenden an, dass in der Auslieferung oder Abschiebung bei drohender Todesstrafe eine Verletzung des Art. 3 EMRK zusehen sei, auch und insbesondere, da die Todesstrafe immer mit einer menschenunwürdigen (jahre)langen Haft und einer besonderen psychischen Belastung des Betroffenen in der Todeszelle verbunden sei. So entschied der Gerichtshof 2010 in einem Verfahren gegen Großbritannien, dass die Auslieferung zweier irakischer Häftlinge an die irakischen Behörden gegen Art. 3 EMRK verstoße, da durch die Überstellung ein solch hohes Maß psychischer Belastung auf die Betroffenen einwirke, dass die Grenze des Art. 3 EMRK – auch unabhängig einer möglichen Verhängung der Todesstrafe – überschritten sei.199
II. Auslieferung und Abschiebung bei drohender Folter oder erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung Die Grundsätze, die bei einer Auslieferung oder Abschiebung im Falle der drohenden Todesstrafe diskutiert und mittlerweile verfestigt wurden, können – verallgemeinert – auf die Situation der Abschiebung oder Auslieferung im Falle drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung übertragen werden. Die besondere Schwierigkeit in Fällen der Abschiebung oder Auslieferung aufgrund der Ablehnung eines Asylgesuches des Betroffenen oder der Verweigerung des Flüchtlingsstatus‘ liegt (zumeist) in der Prognose der zu erwartenden Behandlung im Zielland – sowohl durch die Regierung als auch durch Dritte – und der dadurch drohenden Gefahren. So muss im Falle einer Auslieferung oder Abschiebung, gerade in Nichtkonventionsstaaten, im Einzelfall die Frage beantwortet werden, welchen Bedingungen, Behandlungen und gegebenenfalls auch Strafen der Betroffene im Zielland ausgesetzt sein wird und ob diese Strafen in einem Widerspruch zum Konventionsrecht und insbesondere zum Verbot des Art. 3 EMRK stehen. 197 Vgl. zum Ratifikationsstand http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig. asp?NT=187&CM=8&DF=18/09/2015&CL=ENG (zuletzt abgerufen am 27. 9. 2015). 198 Dobin, Migration und Schutz der inneren Sicherheit. Rechtliche Fragen der Bekämpfung islamischen Terrorismus, 2008, 115. 199 EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 61498/08, RJD 2010-II, 61 ff.
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Das aus Art. 3 EMRK resultierende Verbot der menschenunwürdigen Behandlung hat dahingehend in der Rechtsprechung des EGMR besondere Bedeutung erlangt, dass insbesondere in Bezug auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen spezifische Anforderungen an das Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten gestellt werden.200 Der Schutz des Art. 3 EMRK gewährt dabei unabhängig vom Verhalten der Betroffenen einen Abschiebeschutz. Dies betonte der Gerichtshof ausdrücklich 2011 im Fall Sumi und Elmi ./. Vereinigtes Königreich201, dem die Frage der möglichen Ausweisung zweier somalischer Staatsangehöriger aufgrund erheblicher strafrechtlicher Handlungen aus dem Vereinigten Königreich zugrunde lag. Der Gerichtshof stellte ausdrücklich fest, dass die Straftaten der Betroffenen eine Ausweisung nicht rechtfertigen können, unabhängig davon, welche Art von Tat dem Betroffenen dabei zur Last gelegt wird: „Weil das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung absolut ist und unabhängig vom Verhalten des Betroffenen gilt, hat es für Art. 3 EMRK keine Bedeutung, welche Straftaten den Betroffenen vorgeworfen wurden […]. Das Verhalten der Bf., so unerwünscht und gefährlich es auch sein mag, kann deswegen nicht berücksichtigt werden […].“202
Folglich kann auch bei erheblichen Straftaten oder der Gefährdung der nationalen Sicherheit eine Abschiebung oder Auslieferung konventionsrechtlichen Vorgaben zuwiderlaufen, wenn dem Betroffenen im Zielland eine unmenschliche Behandlung droht. Diese Beurteilung habe immer ex nunc zu erfolgen, da es jeweils auf die tatsächliche Situation im Zielland ankomme und somit auch Entwicklungen zu berücksichtigen seien, die im Zweifel nach der Entscheidung der nationalen Behörden und Gerichte erfolgt sind.203 Dies müsse zudem immer unter Ansehung der Situation im Zielland allgemein und der Umstände des Betroffenen im Besonderen erfolgen.204 So stellte der Gerichtshof im Weiteren bezüglich einer beabsichtigten Abschiebung der Beschwerdeführer nach Somalia fest, dass unter Berücksichtigung der angespannten Situation in Somalia eine Ausweisung nicht mit der Konvention vereinbar wäre, da „die Gewalt in Mogadischu ein solches Maß erreicht, dass jeder in der Stadt, möglicherweise mit Ausnahme von Personen, die gute Beziehungen zu ,mächtigen Akteuren‘ haben, wirklich der Gefahr einer Art. 3 EMRK widerspre200
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 20, Rn. 40. EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681. Die Entscheidung ist nicht in einer der amtlichen Sammlungen veröffentlicht worden. Eine entsprechende Fundstelle liegt mithin nicht vor. Über die Webseite des Gerichtshofes ist die Entscheidung als Volltext in englischer Sprache abrufbar. Vgl. http://hudoc.echr.coe.int/ eng?i=001 – 105434 (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). 202 EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681 (682). 203 EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681 (682). 204 EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681 (682). 201
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
chenden Behandlung ausgesetzt ist“.205 Unter diesen Umständen erachtet der Gerichtshof die Situation im Falle einer Rückkehr als äußerst problematisch und sah ein reales Misshandlungsrisiko als unausweichlich. Denn „[e]in Zurückgeführter ohne jüngere Erfahrungen mit den Lebensverhältnissen in Somalia würde in einem von den al-Shabaab kontrollierten Gebiet der Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Handlung ausgesetzt sein. Wenn sein Heimatgebiet in einer solche Region liegt oder wenn es nicht ohne Reise durch ein solches Gebiet erreicht werden kann, kann er sich in Somalia nicht niederlassen, ohne wirklich der Gefahr von Misshandlungen unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.“206
Aufgrund dieser Gesamtsituation als Beurteilungsgrundlage nahm der Gerichtshof im Falle einer Abschiebung eine Verletzung von Art. 3 EMRK an. Dies zeigt zum einen die intensive Auseinandersetzung des Gerichtshofes mit den Umständen des Einzelfalles und zum anderen, dass die politische und sicherheitspolitische Situation eines Landes so schwierig sein kann, dass sie einer Abschiebung entgegensteht und einen Mitgliedsstaat in seinen Entscheidungsmöglichkeiten und seiner staatlichen Souveränität begrenzt. Auch wenn hier ebenso wie bei der Frage einer Auslieferung von Strafgefangenen, denen die Todesstrafe droht, jedem Staat die originäre (Letzt-)Entscheidung zukommt, ob er die Auslieferung oder die Abschiebung vornimmt, sind die Mitgliedsstaaten durch das Konventionsrecht in ihrer Entscheidung an die Vorgaben der Konvention gebunden. Die Mitgliedsstaaten dürfen nicht durch ihre Handlungen das Konventionsrecht verletzen oder zu einer solchen Verletzung beitragen. Zwar kann aus Art. 3 EMRK ebenso wie aus den anderen Konventionsnormen kein direkter Anspruch auf Gewährung von Asyl- oder Aufenthaltsrechten abgeleitet werden; dennoch erlangt eine solche aufenthaltsbeendende Maßnahme konventionsrechtliche Relevanz, wenn der Betroffene im Zielland Behandlungen ausgesetzt ist oder sein wird, die gegen die Konventionsrechte verstoßen, insbesondere indem sie die Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Strafe überschreiten. Daher prüft der Gerichtshof „[i]n Abschiebefällen […], ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernsthafte Gründe für die Annahme nachgewiesen sind, der Beschwerdeführer laufe im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden“.207 Anhand dieses Maßstabes wird jeder Einzelfall intensiv geprüft und abgewogen. Eine entgegen diesen Grundsätzen vorgenommene Abschiebung oder Ausweisung stellt eine Verletzung des Konventionsrechts durch den handelnden Mitgliedsstaat dar. Durch die Abschiebung oder Ausweisung in einem solchen Fall übergibt der Mit205 EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681 (684). 206 EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681 (685). 207 EGMR, Sufi u. Elmi ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 8319/07, 11449/07, NVwZ 2012, 681 (2. Leitsatz des Bearbeiters).
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gliedsstaat den Betroffenen in die Gewalt des entsprechenden Staates und setzt ihn einer solchen Behandlung aus; darin ist eine aktive Handlung zu sehen, die eine Verantwortlichkeit nach den Grundsätzen der EMRK begründet.208 Das Spannungsverhältnis in solchen Fällen besteht zwischen der Schutzpflicht des Mitgliedsstaates, der zu treffenden Prognose und der originären staatlichen Entscheidungsmacht. Dies verdeutlichte der EGMR erneut in seiner 2011 ergangenen Entscheidung im Verfahren Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland209. In dieser Entscheidung wehrt sich die Beschwerdeführerin gegen die geplante Abschiebung für sich selbst und ihre beiden Töchter (die Beschwerdeführerinnen zu 2 und 3) aus Irland nach Nigeria. Sie macht geltend, im Falle einer Abschiebung nach Nigeria bestehe die tatsächliche Gefahr für die Beschwerdeführerinnen zu 2 und 3, Opfer einer Genitalverstümmelung zu werden. Der Gerichtshof sieht in der Vornahme einer Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, die gegen Art. 3 EMRK verstößt. Dies ist unstreitig. Entscheidend war vorliegend jedoch die anzustellende Prognose hinsichtlich einer möglichen Gefährdung. Der Gerichtshof betonte im Hinblick auf die notwendige Gefahrenprognose in dieser Entscheidung erneut: „Die Konventionsstaaten haben nach anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen vorbehaltlich ihrer Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen einschließlich der Konvention das Recht, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern zu regeln. Die Ausweisung kann aber Fragen nach Art. 3 EMRK aufwerfen und die Verantwortung des Staates nach der Konvention begründen, wenn ernsthafte Gründe dafür nachgewiesen sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Behandlung ausgesetzt zu werden, die gegen Art. 3 EMRK verstößt […]. Eine Misshandlung muss ein bestimmtes Maß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Ob das so ist, ist relativ und hängt von den Umständen des Falls ab. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts kann Art. 3 EMRK auch anwendbar sein, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen von Personen ausgeht, die nicht Vertreter des Staates sind. Es muss aber nachgewiesen sein, dass die Gefahr tatsächlich besteht und dass die Behörden des Aufnahmestaats sie nicht durch angemessenen Schutz abwenden können […].“210
Der Gerichtshof verdeutlicht zunächst die originäre Entscheidungsmacht des jeweiligen Mitgliedsstaates, hebt jedoch zugleich die umfassende Bindung an das Konventionsrecht hervor. Die entscheidende Frage im vorliegenden Fall war mithin, ob die Beschwerdeführerinnen zu 2 und 3 im Falle einer Abschiebung nach Nigeria tatsächlich der Gefahr ausgesetzt sind, Opfer einer Genitalverstümmelung zu wer208
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 20, Rn. 40. EGMR, Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland, Nr. 43408/08, NVwZ 2012, 686. Die Entscheidung ist nicht in einer der amtlichen Sammlungen veröffentlicht worden. Eine entsprechende Fundstelle liegt mithin nicht vor. Über die Webseite des Gerichtshofes ist die Entscheidung als Volltext in englischer Sprache abrufbar. Vgl. http://hudoc.echr.coe.int/ eng?i=001 – 105081 (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). 210 EGMR, Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland, Nr. 43408/08, NVwZ 2012, 686 (687). 209
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
den. Die Erwägungen im Hinblick auf diese Frage machten deutlich, dass der Gerichtshof neben der Rechtslage in Nigeria als Zielland die tatsächliche Situation in den einzelnen Regionen Nigerias sowie die persönliche Situation der Familie mit einbezog. Entscheidend kam es dabei darauf an, dass nicht in allen Regionen Nigerias die gleiche Gefährdung besteht und daher die Möglichkeit eines Umzuges innerhalb des Landes und Inanspruchnahme vorhandener Hilfs- und Schutzmöglichkeiten zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes für die Beschwerdeführerinnen zu 2 und 3 durchaus in Betracht kam: „Die Bf. räumen ein, dass ihre Familie in Nigeria in finanziell und sozial privilegierten Verhältnissen lebt. Der Ehemann der Bf. zu 1 ist ein Geschäftsmann, der regelmäßig in das Ausland reist, auch in das Vereinigte Königreich. Die Bf. zu 1 hat eine höhere Schulbildung und berufliche Erfahrungen. Die Familie hat ausreichende Mittel für ein großes Haus, Autos, Hilfe im Haushalt und Auslandsreisen […]. Der Ehemann der Bf. zu 1 und ihre Mutter sind gegen Genitalverstümmelungen, ebenso ihr Vater, der Angehöriger des öffentlichen Dienstes ist. Die Bf. zu 1 und ihr Ehemann haben nie versucht, sich wegen ihrer Töchter und der Genitalverstümmelung an die Polizei zu wenden. Sie haben auch keinen Versuch unternommen, die Unterstützung des Vaters der Bf. zu 1 zu gewinnen, ihrer Brüder oder einer in Nigeria gegen Genitalverstümmelung aktiven internationalen Organisation oder Nichtregierungsorganisation oder des Gesundheitsministeriums oder Ministeriums für Frauen und soziale Angelegenheiten. Wesentlich ist, dass die Bf. trotz ihrer Familien und finanziellen Ressourcen nicht versucht haben, notfalls unter Zurhilfenahme staatlicher oder staatlich unterstützter Hilfsmechanismen, nach Nordnigeria umzuziehen, was von Lagos weit entfernt ist. Dort ist die Zahl von Genitalverstümmelungen wesentlich geringer als in anderen Gebieten und nigerianischen Staaten und wird sehr selten durchgeführt. Deswegen ist anzunehmen, dass die Bf. zu 1 und ihr Ehemann die Bf. zu 2 und 3 vor einer Genitalverstümmelung schützen könnten, wenn sie nach Nigeria abgeschoben würden. Die Bf. haben also nicht bewiesen, dass die Bf. zu 2 und 3 bei einer Rückkehr nach Nigeria tatsächlich einer konkreten Gefahr ausgesetzt würden, auf eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Weise behandelt zu werden.“211
Im Ergebnis wurde eine Verletzung des Art. 3 EMRK abgelehnt, da eine tatsächliche Gefährdung verneint wurde. Auch wenn die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen gegen Art. 3 EMRK verstößt, war es der Beschwerdeführerin zu 1 und ihrem Ehemann möglich, im Falle einer Rückkehr nach Nigeria ihre Töchter durch Maßnahmen wie einen Umzug in den Norden des Landes und Hinzuziehung ihrer Familie vor einer Genitalverstümmelung zu schützen. Damit standen konventionsrechtliche Vorgaben einer Abschiebung nicht entgegen.212 211
EGMR, Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland, Nr. 43408/08, NVwZ 2012, 686 (688). Der vorliegende Fall beruht auf einer 2008 erhobenen Beschwerde, der ein nationales Verfahren vorausging. Die Entscheidung des EGMR erging im Jahr 2011 und bot Anlass zu heftigen Debatten über die Situation von Frauen in Nigeria, insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Aktivität der als terroristisch eingestuften Gruppe „Boko Haram“. Zum Ausgangszeitpunkt des Verfahrens war bereits eine Aktivität der „Boko Haram“ zu beobachten, diese kann jedoch nicht mit der aktuellen Sicherheitslage in Nigeria verglichen werden, die durch die zunehmende Aktivität von Boko Haram sehr angespannt. Läge dem EGMR ein dem Verfahren Enitan Pamela Izevbekhai u. a. ./. Irland (Nr. 43408/08) vergleichbarer Fall zum 212
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Die sich aus der EMRK ergebende Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Einzelnen begründet in Fällen der realen Gefährdung eine Pflicht, das betroffene Rechtsgut, hier die Menschenwürde, zu schützen und einen wirksamen Schutz vor Folter und erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung zu gewähren und durch Abwendung bestehender Gefahren aufrechtzuerhalten. Dennoch kann daraus nicht ein absolutes Verbot erwachsen, eine Person abzuschieben oder auszuweisen. Die Einzelfallprognose muss neben der Rechtslage im Zielland immer auch die politische und ethnische Situation sowie die persönlichen Verhältnisse und Möglichkeiten des Betroffenen berücksichtigen. Dies kann dazu führen, dass aufgrund der politischen und der sicherheitspolitischen Lage in einem Land eine Rückkehr nicht möglich ist. Dabei sind vor allem auch eigene Schutzmöglichkeiten des Betroffenen in die Erwägungen einzubeziehen. In weiteren Entscheidungen hat der Gerichtshof zudem den Schutz vor drohender Gefahr durch Verfolgung durch privat agierende Personen, hier konkret rivalisierender Clans in Somalia,213 ebenso in die Beurteilung der Zulässigkeit einer möglichen Abschiebung unter Art. 3 EMRK mit einbezogen wie die Frage der medizinischen Versorgung eines an einer tödlichen Krankheit im Endstadium leidenden Betroffenen.214 Dies unterstreicht den umfassenden Schutz der Menschenwürde durch die Vorgaben des Art. 3 EMRK und des gesamten Konventionsrechts.
III. Die Bedeutung eines mutmaßlichen Terrorismusverdachts im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung 1. Das Chahal-Urteil des EGMR In engem Zusammenhang mit der bereits erörterten Problematik einer Abschiebung, Ausweisung oder Auslieferung an einen anderen Staat unter den Vorgaben der EMRK steht die Entscheidung des EGMR in der Sache Chahal ./. Vereinigtes Königsreich.215 Zu den bereits schon für sich genommenen schwierigen jetzigen Zeitpunkt erneut vor, würde dies bei der Beurteilung der Schutzmöglichkeiten und der Zumutbarkeit der Rückkehr berücksichtigt werden müssen. 213 EGMR, Ahmed ./. Österreich, Nr. 25964/94, RJD 1996-IV, 2195 ff. = NVwZ 1997, 1100; insbesondere zu Art. 3 EMRK vgl. EGMR, Ahmed ./. Österreich, Nr. 25964/94, RJD 1996-IV, 2195 (2205 ff.) = NVwZ 1997, 1100 (1101). 214 Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1080). Vgl. auch EGMR, Dragan u. a. /. Deutschland, Nr. 33743/03, NVwZ 2005, 1043. Die Entscheidung ist nicht in einer der amtlichen Sammlungen veröffentlicht worden. Eine entsprechende Fundstelle liegt mithin nicht vor. Über die Webseite des Gerichtshofes ist die Entscheidung als Volltext in deutscher Sprache abrufbar. Vgl. http://hudoc.echr.coe.int/fre?i=001 – 138687 (zuletzt abgerufen am 27. 9. 2015). 215 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 ff. = NVwZ 1997, 1093 ff.
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Bereichen des Verbots der Folter im Zusammenhang mit bestehendem Terrorismusverdacht und dem Schutz der nationalen Sicherheit tritt hier die Frage hinzu, welche Bedeutung einer Zusicherung menschenwürdiger Behandlung durch den Zielstaat zukommt. Die Beschwerdeführer zu 1 und zu 2 im vorliegenden Fall sind indische Staatsangehörige und halten sich seit 1974 bzw. 1975 erlaubt im Vereinigten Königreich auf. Die weiteren Beschwerdeführer sind die Kinder der Beschwerdeführer zu 1 und 2. Alle gehören der Gruppe der Sikhs an, die sich in großer Zahl 1947 im indischen Bundesstaat Punjab für die Teilung Indiens und die Gründung eines eigenen unabhängigen Staates Khalistan eingesetzt hatte. Der Konflikt eskalierte in gewaltsamen Auseinandersetzungen, denen bis zu 20.000 Menschen zum Opfer fielen. Im Jahre 1984 besuchte der Beschwerdeführer zu 1 Punjab und nahm dort am passiven Widerstand teil. Er wurde in diesem Zusammenhang von der indischen Polizei festgenommen und während seiner 21-tägigen Haft misshandelt. Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien organisierte er verschiedene Protestaktionen gegen die indische Regierung im Großraum London und wurde zu einem Führer der dortigen SikhGemeinschaft. Im Folgenden wurde er mehrfach unter dem Verdacht, Attentate und Ermordungen zu planen, festgenommen, jedoch jeweils ohne Anklageerhebung wieder freigelassen. Der gegen ihn bestehende Terrorismusverdacht veranlasste die britische Regierung ferner, eine Gefahr für die nationale Sicherheit zu sehen, weswegen die Abschiebung der Beschwerdeführer nach Indien erfolgen sollte. Der Beschwerdeführer zu 1 beantragte zunächst politisches Asyl, da er sich der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt sah. Dieser Antrag wurde abgewiesen. Nach gerichtlicher Überprüfung wurde diese Entscheidung aufgehoben. Hinsichtlich einer erneuten Entscheidung musste berücksichtigt werden, dass mittlerweile eine Erklärung der indischen Regierung vorlag, die formell zusicherte, der Beschwerdeführer „would enjoy the same legal protection as any other Indian citizen, and that he would have no reason to expect to suffer mistreatment of any kind at the hands of the Indian authorities“,
wenn er nach Indien abgeschoben würde.216 Der Beschwerdeführer zu 1 befürchtete dennoch, nach seiner Rückkehr nach Indien gefoltert zu werden, und sah damit seine Abschiebung als mit Art. 3 EMRK nicht vereinbar an.217 Zunächst stellte sich die Frage, ob auch bei (mutmaßlichem) Terrorismusverdacht Art. 3 EMRK einer Abschiebung entgegensteht. Grundsätzlich unterliegt die Kontrolle der Ein- und Ausreise ebenso wie Entscheidung über Ausweisung und Aufenthalt den Mitgliedsstaaten. Ein Recht auf politisches Asyl folgt aus den Bestim216
EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1844) = NVwZ 1997, 1093 (1093). 217 Zum Sachverhalt vgl. insgesamt EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/ 93, RJD 1996-V, 1831 ff. = NVwZ 1997, 1093; siehe weiterhin die Besprechung des Falles bei Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1078).
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mungen der EMRK nicht.218 Jedoch ist Art. 3 EMRK bei der Beurteilung einer Ausweisung oder Abschiebung zu beachten, wenn „stichhaltige Gründe für die Annahme aufgezeigt worden sind, dass die fragliche Person im Falle ihrer Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt wäre, im aufnehmenden Staat einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Behandlung unterworfen zu werden“.219 Dann kann nach Art. 3 EMRK eine Verpflichtung bestehen, die betreffende Person unter keinen Umständen abzuschieben. Dennoch sah die britische Regierung vorliegend keinen Fall eines realen Misshandlungsrisikos gegeben: „Die Regierung trug vor, daß für Herrn Chahal kein reales Mißhandlungsrisiko bestehe, wenn die Abschiebungsanordnung vollzogen würde, und betonte, daß er in jeden beliebigen Teil Indiens seiner Wahl zurückgeführt werden würde, nicht notwendig ins Punjab. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin, daß sie die Lage in Indien regelmäßig durch die Hohe Kommission des Vereinigten Königreiches in Neu Delhi überwache. Aus ihren Informationen ergebe sich, daß im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen positive konkrete Schritte ergriffen worden seien und auch weiterhin ergriffen werden würden. Besondere Gesetze seien hierzu erlassen worden; die Nationale Menschenrechtskommission, welche eine wichtige Funktion erfülle, werde kontinuierlich gestärkt und weiterentwickelt. Sowohl die Exekutiv- als auch die Justizbehörden hätten Schritte eingeleitet, um sich mit dem verbleibenden Machtmißbrauch auseinanderzusetzen. Die allgemeine Situation in Indien stütze daher die oben geäußerte Auffassung der Regierung.“220
Durch die Größe Indiens als Zielland und die Möglichkeit des Beschwerdeführers, das Ziel seiner Abschiebung zu wählen, könne ein Misshandlungsrisiko weitgehend ausgeschlossen werden. Er sei nicht zu einer Rückkehr nach Punjab verpflichtet. Zudem greife hier keine absolute Garantie aus Art. 3 EMRK ein, da es sich um einen Fall der Abschiebung handelte, in der die Gefahren der nationalen Sicherheit gegen die Gefahren für die betroffene Person abzuwägen seien:
218 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1853) = NVwZ 1997, 1093 (1093); EGMR, Vilvarajah u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 13163/87; 13164/87; 13165/87; 13447/87; 13448/87, Series A Nr. 214 = NVwZ, 1992, 869 (869). 219 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, NVwZ 1997, 1093, (1094). Vgl. auch die ausführliche Argumentation des Gerichtshofes im Volltext der Entscheidung EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1859 ff.). 220 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1857) = NVwZ 1997, 1093, (1095). Deutsche Übersetzung zitiert nach NVwZ. Im englischsprachigen Text der Entscheidung heißt es: „The Government contended that there would be no real risk of Mr. Chahal being ill-treated if the deportation order were to be implemented and emphasised that the latter was to be returned to whichever part of India he chose, and not necessarily to Punjab. In this context they pointed out that they regularly monitored the situation in India through the United Kingdom High Commission in New Dehli. It appeared from this information that positive concrete steps had been taken and continued to be taken to deal with human rights abuses. Specific legislation had been introduced in this regard; the National Human Rights Commission, which performed an important function, continued to strengthen and develop; and steps had been taken by both the executive and judical authorities to deal with the remaining misuse of power.“
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
„Auch wenn die Regierung sich in erster Linie darauf stützte, daß kein reales Mißhandlungsrisiko festgestellt werden könne (vgl. unten Tz. 88 u. 92), betonte sie darüber hinaus, daß der Grund für die beabsichtigte Abschiebung die nationale Sicherheit sei. In diesem Zusammenhang stützte sie sich vorrangig auf die Ansicht, daß die Garantien des Art. 3 EMRK in Fällen, in denen ein Vertragsstaat eine Person von ihrem Staatsgebiet entfernen will, nicht absolut seien. Stattdessen sollten in solchen Fällen, die eine unsichere Vorhersage zukünftiger Ereignisse im aufnehmenden Staat erforderten, unterschiedliche Faktoren einschließlich der Gefahr, die die fragliche Person für die Sicherheit des Gastlandes darstellt, berücksichtigt werden. Art. 3 EMRK enthalte also eine implizite Begrenzung, die einen Vertragsstaat berechtige, eine Person sogar dann in den aufnehmenden Staat abzuschieben, wenn ein reales Mißhandlungsrisiko besteht, sofern eine solche Rückführung aus Gründen der nationalen Sicherheit erforderlich sei. […] Hilfsweise sei die Bedrohung, die eine Person für die nationale Sicherheit des Vertragsstaates darstelle, ein Faktor, der im Rahmen der Prüfung nach Art. 3 EMRK in die Abwägung einbezogen werden müsse. Dieser Ansatz berücksichtige, daß in solchen Fällen unterschiedlich große Mißhandlungsrisiken bestünden. Je größer das Mißhandlungsrisiko, desto weniger Gewicht sollte der Bedrohung der nationalen Sicherheit beigemessen werden. Wenn jedoch erhebliche Zweifel hinsichtlich des Mißhandlungsrisikos bestünden, könne der Bedrohung der nationalen Sicherheit bei der Abwägung, die zwischen dem Schutz der Rechte des Individuums und den allgemeinen Interessen der Gemeinschaft getroffen werden müsse, großes Gewicht zukommen. Dies sei hier der Fall: es bestünden zumindest erhebliche Zweifel, ob das behauptete Mißhandlungsrisiko sich realisieren würde; folglich rechtfertige der Umstand, daß Herr Chahal eine ernsthafte Bedrohung der Sicherheit des Vereinigten Königreichs darstelle, seine Abschiebung.“221
Die Regierung knüpfte in ihrer Argumentation für die Abschiebung der Beschwerdeführer an den Gedanken der Genfer Flüchtlingskonvention an. Dort ist in 221 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1854) = NVwZ 1997, 1093 (1094). Deutsches Zitat entnommen aus NVwZ 1997, 1093 (1094). Im englischsprachigen Text der Entscheidung heißt es: „Although the Government’s primary contention was that no real risk of ill-treatment had been established (see paragraphs 88 and 92 below), they also emphasised that the reason for the intended deportation was national security. In this connection they submitted, first, that the guarantees afforded by Article 3 (art. 3) were not absolute in cases where a Contracting State proposed to remove an individual from its territory. Instead, in such cases, which required an uncertain prediction of future events in the receiving State, various factors should be taken into account, including the danger posed by the person in question to the security of the host nation. Thus, there was an implied limitation to Article 3 (art. 3) entitling a Contracting State to expel an individual to a receiving State even where a real risk of ill-treatment existed, if such removal was required on national security grounds. […] In the alternative, the threat posed by an individual to the national security of the Contracting State was a factor to be weighed in the balance when considering the issue under Article 3 (art. 3). This approach took into account that in these cases there are varying degrees of risk of ill-treatment. The greater the risk of ill-treatment, the less weight should be accorded to the threat to national security. But where there existed a substantial doubt with regard to the risk of ill-treatment, the threat to national security could weigh heavily in balance to be struck between protecting the rights of the individual and the general interests of the community. This was the case here: it was at least open to substantial doubt whether the alleged risk of ill-treatment would materialise; consequently, the fact that Mr. Chahal constituted a serious threat to the security of the United Kingdom justified his deportation.“
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Art. 33 Abs. 3 GenfKonv. vorgesehen, dass Flüchtlinge abgeschoben werden können, auch wenn ihnen eine Verfolgung im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GenfKonv. droht, wenn von ihnen eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit des Staates ausgeht. Eine solche Argumentation lehnte der Gerichtshof gleichwohl ab. Wenn ein reales Misshandlungsrisiko bestehe, so der Gerichtshof ausdrücklich, sei eine Abschiebung mit Art. 3 EMRK unvereinbar, unabhängig vom Verhalten des Betroffenen.222 Art. 3 EMRK lasse keine Ausnahmen zu und gehe in seiner Gewährleistung auch über die Vorgaben des Art. 33 GenfKonv. hinaus: „Art. 3 EMRK bildet einen der grundlegendsten Werte der demokratischen Gesellschaft […]. Der Gerichtshof ist sich der immensen Schwierigkeiten wohl bewußt, denen sich die Staaten heute beim Schutz ihrer Bevölkerung vor terroristischer Gewalt gegenübersehen. Jedoch verbietet die Konvention sogar unter diesen Umständen in absoluter Weise Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, ungeachtet des Verhaltens des Opfers. Die Vorschrift des Art. 3 EMRK unterscheidet sich von den meisten materiellrechtlichen Bestimmungen der Konvention und der Protokolle 1 und 4 dadurch, daß sie keine Ausnahmen vorsieht und nicht einmal im Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, nach Art. 15 Abweichungen zuläßt […]. Das Verbot, wie es von Art. 3 EMRK gegen Mißhandlung vorgesehen ist, gilt gleichermaßen absolut in Abschiebungsfällen. Wann immer folglich stichhaltige Gründe für die Annahme aufgezeigt worden sind, daß eine Person im Falle ihrer Überstellung an einen anderen Staat einem realen Risiko ausgesetzt ist, einer mit Art. 3 EMRK unvereinbaren Behandlung unterworfen zu werden, ist für den Fall der Abschiebung die Verantwortlichkeit des Vertragsstaates, sie gegen solche Behandlung zu schützen, begründet […]. Unter solchen Umständen können die Aktivitäten der fraglichen Person, so unerwünscht oder gefährlich sie auch sein mögen, kein relevanter Gesichtspunkt sein. Der von Art. 3 EMRK gebotene Schutz geht insoweit über denjenigen nach Art. 32 und 33 GenfKonv. hinaus.“223
222 Alleweldt, Schutz vor Folter, Terrorismusverdacht, Zusicherung menschenwürdiger Behandlung: das Chahal-Urteil des EGMR, NVwZ 1997, 1078 (1078). Vgl. dazu auch die Ausführungen im Folgenden zum Fall EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich und zur Entscheidung EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/ 08, 36742/08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 ff. Die Entscheidung ist nicht in einer der amtlichen Sammlungen veröffentlicht worden. Eine entsprechende Fundstelle liegt mithin nicht vor. Über die Webseite des Gerichtshofes ist die Entscheidung als Volltext in englischer Sprache abrufbar. Vgl. http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001 – 110267 (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). 223 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1855) = NVwZ 1997, 1093 (1094). Deutsches Zitat entnommen aus NVwZ 1997, 1093 (1094); in der englischsprachigen Fassung der Entscheidung heißt es: „Articel 3 (art. 3) enshrines one oft he most fundamental values of democratic society […]. The Court is well aware of the immense difficulties faced by States in modern times in protecting their communities from terrorist violence. However, even in these circumstances, the Convention prohibits in absolute terms torture or inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the victim’s conduct. Unlike most of the substantive clauses of the Convention and of Protocols Nos. 1 and 4 (P1, P4), Article 3 (art. 3) makes no provision for exceptions and no derogation from it is permissible under Article 15 (art. 15) even in the event of a public emergency threatening the life of the nation […].
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Damit hält der Gerichtshof an der Linie seiner Rechtsprechung fest, die bereits in der Entscheidung im Fall Soering224 deutlich wurde. Die Unabwägbarkeit und Notstandsfestigkeit des Art. 3 EMRK wird erneut betont. Zudem wird deutlich, dass der Schutz des Art. 3 EMRK unabhängig von der Situation und dem Verhalten des Betroffenen gewährleistet werden muss. In besonderem Maße interessant im Zusammenhang mit diesem Fall ist darüber hinaus die Zusicherung einer menschenwürdigen Behandlung seitens der indischen Regierung. Der Gerichtshof befasste sich im Folgenden erstmals mit der Frage, ob eine solche Zusicherung ausreicht, um die Sicherheit des Betroffenen im Fall einer Abschiebung zu gewährleisten und somit der Schutzpflicht des Mitgliedsstaates aus Art. 3 EMRK genügt wird. Der Gerichtshof führt dazu grundsätzlich aus, dass die Frage, ob eine Zusicherung des Zielstaates, die betroffene Person menschenwürdig zu behandeln, eine adäquate Sicherheitsgarantie darstellt, Gegenstand seiner freien Überprüfung sei und die Feststellungen der Kommission ihn diesbezüglich nicht binden.225 Ob eine solche Zusicherung für die Beurteilung des Falles überhaupt von Bedeutung ist und ob die Einhaltung der zugesicherten Bedingungen erwartet werden kann, obliegt somit allein der Beurteilung der zuständigen Kammer des Gerichtshofes. Denn eine solche Zusicherung kann ein tatsächlich festgestelltes Misshandlungsrisiko und die damit verbundene Gefahr nicht automatisch beseitigen. Nur wenn die Gefahr tatsächlich beseitigt werde, könne die Zusicherung als eine Garantie für die Einhaltung der konventionsrechtlichen Vorgaben erachtet werden. Eine Bindung des Gerichts durch eine solche staatliche Zusicherung kann jedoch nicht angenommen werden. Der Gerichtshof stellt damit erneut klar, dass das Verbot des Art. 3 EMRK und der daraus bestehende Schutz der Menschenwürde von besonderer Bedeutung ist und es daher auf eine Gesamtprognose anhand aller zur Verfügung stehenden Materialien ankommt, um die Verpflichtung des Staates hinsichtlich des Betroffenen zu bestimmen. Der EGMR ist in Bezug auf eine solche Zusicherung entsprechend zurückhaltend und unterstreicht damit seine Position zum unabwägbaren Schutz vor Folter und unwürdiger Behandlung. Zudem hebt der Gerichtshof die Bedeutung der Umstände des Einzelfalls hervor. Insbesondere bei der Beurteilung des drohenden The prohibition provided by Article 3 (art. 3) against ill-treatment is equally absolute in expulsion cases. Thus, whenever substantial grounds have been shown for believing that an individual would face a real risk of being subject to treatment contrary to Article 3 (art. 3) if removed to another State, the responsibility of the Contracting State to safeguard him or her against such treatment is engaged in the event of expulsion […].In these circumstances, the activities of the individual in question, however undesirable or dangerous, cannot be a material consideration. The protection afforded by Article 3 (art. 3) is thus wider than that provided by Article 32 and 33 of the United Nations 1951 Convention on the Status of Refugees […].“ 224 EGMR, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, EGMR-E 4, 376 = NJW 1990, 2183. 225 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1861 ff.) = NVwZ 1997, 1093 (1095 f.).
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Misshandlungsrisikos ist die Prüfungsdichte des Gerichtshofes nicht beschränkt und umfasst sowohl rechtliche als auch tatsächliche Gegebenheiten.226 Ein solches reales Risiko war im Falle des Beschwerdeführers zu 1 anzunehmen. Allein aus diesem Umstand war ein Abschiebungsverbot auf Grundlage der Vorgaben des Art. 3 EMRK gegeben; daran konnte die Zusicherung der indischen Regierung, die eine gute Behandlung versprach, nichts ändern. Aufgrund seiner Position in der Protestbewegung als Sikh-Führer und der von der britischen Regierung vorgenommenen Einstufung als mutmaßlicher Terrorist war die Wahrscheinlichkeit, dass er bei einer Rückkehr nach Indien Ziel von Angriffen durch Vertreter einer harten Linie in den Sicherheitskräften der Regierung werden würde, anzunehmen. Somit bestand ein reales Verfolgungsrisiko, dass einer Abschiebung entgegenstand.227 2. Weitere Entwicklungen Die im Zusammenhang mit dieser Thematik entwickelten Grundsätze bestätigten den EGMR erneut in der 2012 ergangenen Entscheidung Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich228. Zudem verdeutlicht diese Entscheidung das Spannungsverhältnis zwischen der Auslieferung bei drohender Todesstrafe bzw. langjährigen Haftstrafen in Einzelhaft und dem Bestreben nach effektiver Terrorismusbekämpfung. Der Gerichtshof wiederholte dabei zunächst seine Ausführungen aus vorangegangenen Entscheidungen dahingehend, dass Art. 3 EMRK „einen der Grundwerte der demokratischen Gesellschaft schützt“ und ein absolutes, vom Verhalten des Betroffenen unabhängiges Verbot statuiert.229 Er betonte jedoch auch, dass für eine Verletzung des Art. 3 EMRK ein besonderes Mindestmaß an Schwere erforderlich ist und die maßgebliche Beurteilung von den Umständen des Einzelfalles abhängt. Für die Frage der Beurteilung einer Maßnahme als Verletzung sei dabei entscheidend: „– ob Vorsatz gegeben war […], – ob die Maßnahme eingesetzt wurde, um den Widerstand oder Willen des Bf. zu brechen […], – ob beabsichtigt war, den Bf. zu erniedrigen oder zu demütigen, oder, wenn nicht, ob die Maßnahme auf eine Weise angewendet worden ist, die Gefühle der Angst, Pein oder Unterlegenheit verursacht hat […], 226 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1859 ff.) = NVwZ 1997, 1093 (1095 f.). 227 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 (1862) = NVwZ 1997, 1093 (1096). 228 EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/ 08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925. 229 EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/ 08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (928).
224
Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht – ob es keine besondere Rechtfertigung für die Maßnahme gab […], – ob die Maßnahme eine willkürliche Bestrafung war […], – ob die Maßnahme längere Zeit angewendet worden ist […] und
– ob die Maßnahme ein Maß von Leid oder Härte verursacht hat, das über das bei einer Haft Unvermeidbare hinaus ging […]“.230
Der Gerichtshof führte aus, dass diese Gesichtspunkte maßgeblich für die Beurteilung seien und immer von den Umständen des Falles abhingen; so habe die Beurteilung vor einer Auslieferung oder Abschiebung vorausblickend zu erfolgen.231 Dies entsprach im Wesentlichen den Ausführungen in den vorangegangen Entscheidungen und zeigte noch einmal die entwickelten Kriterien auf, anhand derer die Umstände des Einzelfalles zu messen sind. Interessant war in diesem Fall jedoch der hinzutretende Aspekt des Terrorverdachts, der bereits in der Entscheidung Chahal ./. Vereinigtes Königreich232 eine Rolle spielte. Die Beschwerdeführer waren aufgrund des Vorwurfs terroristischer Handlungen in den USA angeklagt und im Vereinigten Königreich festgenommen worden. Die USA begehrten daher im Folgenden die Auslieferung der Beschwerdeführer, die sich jedoch aufgrund der zu erwartenden Inhaftierung in einem Hochsicherheitsgefängnis und der besonderen Haftbedingungen gegen die Auslieferung wehrten.233 Der Gerichtshof machte in seinen Ausführungen deutlich, das in einem solchen Fall der mutmaßlichen Gefährlichkeit der Betroffenen, diese nicht – wie von der britischen Regierung beabsichtigt – gegen die Gefahr einer drohenden menschenunwürdigen Behandlung abgewogen werden kann. Vielmehr habe die Beurteilung der Prognose der Misshandlungsgefahr gesondert zu erfolgen. Es sei nicht anzunehmen, dass „bei der Prüfung, ob der Staat nach Art. 3 EMRK verantwortlich ist, Raum sei für eine Abwägung der Gefahr von Misshandlungen gegen die Gründe für die Auslieferung“.234 Die Gefahrenprognose erfolgt somit immer unabhängig vom Grund der Entfernung aus dem Mitgliedsstaat, um die Rechte des Betroffenen zu wahren. Das Verhalten des Betroffenen kann nicht als Rechtfertigung dienen, ihn durch Auslieferung möglichen Misshandlungen auszusetzen.235 Die absolute Geltung des Verbots des Art. 3 EMRK, die sich hier zeigt, verdeutlicht eine
230
Vgl. EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (927 f.). 231 Vgl. EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (927 f.). 232 EGMR, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93, RJD 1996-V, 1831 ff. 233 EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/ 08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (925). 234 EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/ 08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (927). 235 EGMR, Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/ 08, 66911/09, 67354/09, NVwZ 2013, 925 (927).
D. Die Rechtsprechung des EGMR
225
weitere Parallele zum Schutz der Menschenwürde im deutschen Recht, der ebenfalls absolute Geltung beansprucht. In besonderem Maß kommt in dieser aktuellen Entscheidung die mittlerweile gefestigte Rechtsprechungspraxis in Bezug auf die Grundsätze des Schutzes des Art. 3 EMRK und seiner Bedeutung in der Konvention zum Ausdruck, die zugleich einen konventionsrechtlichen Schutz der Menschenwürde belegt. Die Menschenwürde zieht hier über das Verbot des Art. 3 EMRK eine Grenze dessen, was dem Menschen als Rechtssubjekt angetan werden darf, und statuiert so eine absolute Achtung des Individuums, ebenso wie Art. 1 Abs. 1 GG.
IV. Fragen zulässiger Haftbedingungen, Strafverfolgung und -vollstreckung Ein großer Teil der Fälle, in denen sich der EGMR ferner mit der Frage der Menschenwürde beschäftigte, befasste sich mit Fragen der Zulässigkeit von Haftbedingungen sowie Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung. Eines der ersten Verfahren in diesem Bereich ist die Entscheidung Tyrer ./. Vereinigtes Königreich236 aus dem Jahre 1978, in dem der Gerichtshof über die Frage der Anwendung und Zulässigkeit der Prügelstrafe als gerichtlich verhängte Sanktion und Strafvollstreckungsmaßnahme zu befinden hatte. In diesem Zusammenhang stellte der EGMR eindeutig klar, dass die richterlich angeordnete Prügelstrafe, auch wenn sie keine ernsten oder länger wirkenden physischen Beeinträchtigungen nach sich ziehen werde, dennoch eine „erniedrigende Strafe“ i.S.d. Art. 3 EMRK darstelle und der Beschwerdeführer durch die Ausführung der Bestrafung zum Objekt der Gewalt der Behörde werde. Dies stelle ein Angriff auf „einen der wichtigsten Zwecke des Art. 3 dar, nämlich die Würde und physische Integrität der Person zu schützen“.237 Mit dieser Bezugnahme wurde die Menschenwürde erstmals explizit in das Schutzsystem der EMRK aufgenommen und, trotz fehlender positiver Normierung, als Grundsatz verankert.238 In der Formulierung des Gerichtshofes zeigt sich dabei, dass der Menschenwürde vorrangig eine Funktion als „teleologischer Wertungsgrundsatz“ und Interpretationsmaßstab zukommt, der eng mit dem Schutz des Art. 3 EMRK verbunden ist.239 Im Zusammenhang mit den Ausführungen zur Men236
EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, EGMR-E 1, 268 ff. = NJW 1979, 1089 ff. EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, EGMR-E 1, 268 (274) = NJW 1979, 1089 (1090). 238 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 104. Vgl. dazu im Ansatz auch Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 160 ff. 239 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 104 . 237
226
Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
schenwürde ist besonders der Bezug zur Verobjektiverung des Beschwerdeführers interessant, der nach Ansicht des Gerichtshofes durch die Strafe „zum Objekt in der Gewalt der Behörden wurde“.240 Mit dem Kriterium der Verobjektiverung zeigt sich eine Parallele zum Ansatz der Dürig’schen Objektformel, die im deutschen Recht die Anwendung des Würdeschutzes zentral bestimmt und deren Grundgedanke sich hier auf europäischer Ebene ebenfalls in der Interpretation wiederfindet, in der er als Anwendungskriterium verwendet wird.241 Dies verweist auf eine über die Ebene des deutschen Rechts hinausgehende Anwendungsrelevanz und Tauglichkeit des Ansatzes der Objektformel in Bezug auf den Schutz der Menschenwürde. Die Wahrung und Achtung der Subjektivität des Menschen sind demnach wesentliche Elemente des Würdeschutzes, die in besonderem Maße dadurch geschützt werden müssen, eine Verobjektivierung des Einzelnen zu verhindern. Neben den Fragen zulässiger Maßnahmen der Strafvollstreckung, die sich im Zusammenhang mit den Vorgaben des Art. 3 EMRK stellen, sind gerade in der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofes Fragen zur Zulässigkeit von Strafverfolgungsmaßnahmen von zentraler Bedeutung. So wurde die Frage der zulässigen, zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei Betäubungsmitteldelikten zum Zwecke einer effektiven Strafverfolgung vielfach kontrovers unter den Vorgaben der EMRK diskutiert. Ausgehend von einem Verfahren gegen Deutschland (Jalloh ./. Deutschland)242 wurde die Frage der Zulässigkeit einer solchen Verabreichung von Brechmitteln im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des Art. 3 EMRK, ebenso wie des Rechts auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK betrachtet. Dabei galt es die widerstreitenden Interessen der Selbstbestimmung des Individuums sowie des Schutzes seiner Privatsphäre und seiner Menschenwürde auf der einen und der staatlichen Interessen der Strafverfolgung auf der anderen Seite entsprechend ihrer Bedeutung zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Grundlage des Verfahrens war eine Beschwerde wegen der Verletzung von Konventionsrechten durch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln. Der Beschwerdeführer war 1993 von zivilen Beamten der Polizei dabei beobachtet worden, wie er kleine Plastikbeutel („Bubbles“) aus dem Mund nahm und gegen Geld an eine andere Person gab. Darauf gründete der Verdacht des Handeltreibens mit Betäubungsmittel gegen den Beschwerdeführer. Jedoch konnten bei der Festnahme keine Betäubungsmittel bei ihm gefunden werden. Es bestand daher der Verdacht, er habe die Betäubungsmittel in „Bubbles“ verpackt geschluckt. Daraufhin ordnete die Staatsanwaltschaft die ärztliche Verabreichung eines Brechmittels an, um die Untersuchung nicht durch eine weitere Verzögerung zu gefährden. Aufgrund der Weigerung des Beschwerdeführers, das 240 EGMR, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, EGMR-E 1, 268 (274) = NJW 1979, 1089 (1090). 241 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 105. 242 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 ff. = NJW 2006, 3117 (deutschsprachige Veröffentlichung).
D. Die Rechtsprechung des EGMR
227
Brechmittel einzunehmen, wurde ihm dieses durch eine Nasen-Magen-Sonde verabreicht. Im Folgenden erbrach der Beschwerdeführer einen Beutel mit 0,22 Gramm Kokain. Der Beschwerdeführer gab an, in den folgenden zwei Wochen habe er als Folge der Untersuchung wiederholt Nasenbluten gehabt und drei Tage nur Flüssignahrung zu sich nehmen können. Zudem trat eine Entzündung des unteren Bereichs der Speiseröhre auf, die auf einen erhöhten Rückfluss von Magensäure zurückzuführen sei.243 In wieweit dies mit dem verabreichten Brechmittel in Zusammenhang steht, war nicht festzustellen.244 Der Beschwerdeführer rügte die Verletzung seiner Konventionsrechte aus Art. 3, 6 und 8 EMRK. Zunächst führte der Gerichtshof noch einmal die Grundsätze seiner Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK und dessen Bedeutung aus.245 Er betonte abermals die grundlegende Stellung des Art. 3 EMRK für die demokratische Rechtsstaatlichkeit und zählte die Kriterien für die Beurteilung des Einzelfalles auf. In der Frage zwangsweiser Durchführung medizinischer Eingriffe bei Personen in Haft sei insbesondere die staatliche Verpflichtung der Gewährleistung körperlicher Unversehrtheit und die Notwendigkeit der medizinischen Behandlung zu beachten. Die Maßnahme müsse nach anerkannten ärztlichen Maßstäben therapeutisch notwendig sein und dürfe nicht als erniedrigend oder entwürdigend angesehen werden.246 Hier erwies es sich jedoch als Problem, dass die Maßnahme nicht therapeutisch notwendig, sondern vielmehr als Maßnahme der Beweiserlangung und -sicherung dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse diente.247 Grundsätzlich sei nicht jeder zwangsweise medizinische Eingriff zur Aufklärung einer Straftat verboten, es gelte jedoch ein strenger Maßstab zur Prüfung der Art der Durchführung und des Umfangs: „Jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit einer Person zur Erlangung von Beweisen muss aber genau geprüft werden, wobei folgende Gesichtspunkte besonders wichtig sind: Die Notwendigkeit des zwangsweise vorgenommenen medizinischen Eingriffs zur Erlangung von Beweisen, die Gesundheitsgefahren für den Verdächtigen, die Art, wie der Eingriff vorgenommen worden ist und die dadurch verursachten physischen und psychischen Leiden, inwieweit eine ärztliche Aufsicht bestand und die Auswirkungen auf die Gesundheit des Verdächtigen.“248
243 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (291 f.) = NJW 2006, 3117 (3117). 244 Zum Sachverhalt siehe insgesamt EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (291 f.) = NJW 2006, 3117 ff. 245 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (315) = NJW 2006, 3117 (3119). 246 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (306 f.) = NJW 2006, 3117 (3120 f.). 247 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (307) = NJW 2006, 3117 (3121). 248 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (309) = NJW 2006, 3117 (3120).
228
Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Ein staatlicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Einzelnen unterliegt folglich engen Voraussetzungen. Die gerichtlich vorgegebenen Anforderungen stecken einen Rahmen ab, in dem ein Eingriff möglich ist, ohne dass es zu einer Verletzung der Grundrechte des Einzelnen kommt. Die weiteren Ausführungen im Rahmen der Entscheidung zeigen, dass gerade die Art, wie der Eingriff durchgeführt wurde, und die dadurch hervorgerufenen Leiden des Beschwerdeführers zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK geführt haben. Das Gericht führte dazu aus: „Was die Art angeht, in der Brechmittel angewendet wurden, ist der Bf., nachdem er sich geweigert hatte, das Präparat freiwillig einzunehmen, von vier Polizeibeamten festgehalten worden, was auf die Anwendung von Zwang auf nahezu brutale Art schließen lässt. Eine Nasen-Magen-Sonde musste dann eingeführt werden, um seinen physischen und psychischen Widerstand zu überwinden, was für ihn mit Schmerzen und Furcht verbunden gewesen sein muss. Danach musste er sich einem zusätzlichen körperlichen Eingriff gegen seinen Willen unterziehen, weil ihm ein weiteres Brechmittel injiziert wurde. Auch das psychische Leid des Bf. ist zu berücksichtigen, als er darauf wartete, dass der eingenommene Stoff wirkte. Während dieses Zeitraums wurde er festgehalten und von Polizeibeamten und einem Arzt beobachtet. Es muss für ihn demütigend gewesen sein, unter diesen Umständen zum Erbrechen genötigt zu werden. […] Angesichts der Gesamtumstände des vorliegenden Falles ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die umstrittene Maßnahme das Mindestmaß an Schwere erreicht hat, das erforderlich ist, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Behörden haben gegen den Willen des Bf. einen schwerwiegenden Eingriff in seine physische und psychische Unversehrtheit vorgenommen. Sie haben ihn zum Erbrechen gezwungen, und zwar nicht aus therapeutischen Gründen, sondern um Beweismittel zu erlangen, die sie auch durch weniger einschneidende Methoden hätten erlangen können. Die Art, in der die gerügte Maßnahme durchgeführt wurde, war dazu angetan, bei dem Bf. Angst, Furcht und das Gefühl der Unterlegenheit hervorzurufen, geeignet, ihn zu demütigen und zu entwürdigen. Außerdem war sie gesundheitsgefährdend, insbesondere wegen des Fehlens einer vorherigen angemessenen Anamnese. Die Durchführung des Eingriffs hat, auch wenn das nicht beabsichtigt war, beim Bf. physische Schmerzen und psychische Leiden hervorgerufen. Deswegen ist er unter Verletzung von Art. 3 EMRK unmenschlich und erniedrigend behandelt worden.“249
Der Beschwerdeführer wurde durch die Gabe von Medikamenten dazu gezwungen, sich zu erbrechen. Dadurch sollte erreicht werden, dass die von ihm verschluckten Bubbels als Beweismittel sichergestellt werden können. Der Gerichtshof stellte unter Bewertung der Gesamtumstände des Falles fest, dass hier das für Art. 3 EMRK vorausgesetzte Mindestmaß der Schwere des Eingriffs erreicht worden war und im Ergebnis eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung vorlag, die dem Beschwerdeführer erhebliche physische Schmerzen ebenso wie psychische Leiden zufügten.250 Die medizinisch nicht notwendige Behandlung, die 249
EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (310 f.) = NJW 2006, 3117 (3121 f.). 250 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (311) = NJW 2006, 3117 (3121 f.).
D. Die Rechtsprechung des EGMR
229
sich über Stunden hinweg zog und erhebliche Verletzungen verursachte, habe demnach zu einer Demütigung des Beschwerdeführers geführt. Ein natürliches Ausscheiden der Betäubungsmittel wäre aufgrund der notwendigen Beaufsichtigung ebenfalls ein Eingriff in die Privatsphäre des Beschwerdeführers gewesen und sei von ihm vermutlich ebenfalls als demütigend empfunden worden. Im Vergleich zu der erfolgten zwangsweisen Verabreichung des Brechmittels hätte es sich dabei jedoch um die mildere Maßnahme gehandelt. Hinzu trat der Umstand, dass der Beschwerdeführer aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse einer Voruntersuchung nicht unterzogen wurde und sich auch im Rahmen der Durchführung der Maßnahme erheblich zur Wehr setzte, so dass er unter Hinzuziehung von vier Beamten fixiert werden musste. Die erfolgte Maßnahme verletzte das Verbot des Art. 3 EMRK. Es wurden Gefühle der Angst, Beklemmung und Unterlegenheit beim Beschwerdeführer hervorgerufen, die geeignet waren ihn zu demütigen und zu erniedrigen und in seiner Individualität und Würde zu verletzen.251 Eine Verletzung des Art. 8 EMRK wurde in diesem Zusammenhang durch das Gericht nicht weiter erörtert. Jedoch wurde durch die Verwertung der erlangten Beweise zusätzlich eine Verletzung des Art. 6 EMRK angenommen.252 Ein weiterer Bereich, der den EGMR wiederholt beschäftigt hat, sind Fragen zulässiger Haftbedingungen, insbesondere der Umgang mit Terrorverdächtigen und den Herausforderungen, die sich durch die wachsende Bedrohung durch den internationalen Terrorismus stellen.253 Art. 3 EMRK fungiert in Rahmen des Strafvollzuges als klassisches Abwehrrecht gegen verletzende staatliche Eingriffe in die körperliche oder seelische Integrität.254 Er schützt damit wesentliche Elemente der Menschenwürde. Der Staat wird demnach angehalten, eine menschenwürdige Behandlung derer, denen die Freiheit durch staatliche Einrichtungen entzogen wird, sicherzustellen. Die Modalitäten des Strafvollzuges müssen ebenso wie die Maßnahmen der Strafverfolgung unter Beachtung und Wahrung der Integrität und Würde des Einzelnen erfolgen. Der Staat ist verpflichtet, die Menschenwürde in jeder Handlung zu beachten und ihren Schutz zu gewährleiten; auch nicht beabsichtigte Verletzungen der Menschenwürde müssen vermieden werden.255 Die so erwachsende Verpflichtung aus Art. 3 EMRK ist umfassend. Konkret wurden in diesem Zusammenhang die Frage der Zulässigkeit einer lang andauernden Einzelhaft und der dadurch hervorgerufenen Einwirkungen auf den Betroffenen thematisiert. Diese Problematik stellte sich im Zusammenhang mit der Unterbringung mutmaßlicher und verurteilter Terroristen bereits 1978 im Bezug auf die in Stuttgart-Stammheim 251 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (311) = NJW 2006, 3117 (3121 f.). 252 EGMR, Jalloh ./. Deutschland, Nr. 54810/00, RJD 2006-IX, 281 (320) = NJW 2006, 3117 (3125 f.). 253 Irmscher, Einzelhaft und Folterverbot – Die Carlos-Entscheidung des EGMR, EuGRZ 2007, 135 (135). 254 Vgl. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 122 f. 255 Vgl. Krammer, Menschenwürde und Art. 3 EMRK, 2012, 123.
230
Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
inhaftierten RAF-Mitglieder und wurde zu diesem Zeitpunkt bereits der Europäischen Kommission als damaliger Beschwerdeinstanz vorgelegt.256 Die Beschwerde der RAF-Mitglieder Ensslin, Baader und Raspe wurde durch die Kommission als unzulässig abgewiesen. Dennoch bildet die Entscheidung einen wichtigen Bezugspunkt für die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Einzelhaft.257 Die Kernfrage war, ob eine lang andauernde Einzelhaft eine Verletzung des Verbots des Art. 3 EMRK darstellt; als solche war die Unterbringung in Einzelhaft 1978 durch die RAF-Mitglieder als „Isolationsfolter“ gerügt worden.258 Die Beschwerdeführer „haben geltend gemacht, daß sie außergewöhnlichen Haftbedingungen unterworfen waren, die bei ihnen erhebliche physische, psychische und seelische Leiden hervorgerufen hätten, deren Umfang und Auswirkungen von anerkannten medizinischen Sachverständigen festgestellt worden seien. Diese Haftbedingungen, insbesondere die lange Isolation [durch die Einzelhaft], würden somit eine Folter oder zumindest unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 der Konvention darstellen“.259 Die Kommission führte damals aus, dass die Unterbringung in Einzelhaft durchaus durch eine „Sinnes-Isolation“ verbunden mit sozialer Abschottung geeignet sein könne, die Persönlichkeit zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören und eine unmenschliche Behandlung darstelle, die durch Sicherheitserwägungen nicht zu rechtfertigen sei.260 Im Fall von Ensslin, Baader und Raspe war eine solche Sinnes-Isolation nach dem Dafürhalten der Kommission jedoch nicht anzunehmen.261 Die Kommission stellte lediglich eine „relative soziale Isolation“262 fest. Die Beschwerdeführer seien von den Gemeinschaftsveranstaltungen der Anstalt ausgeschlossen gewesen und hätten auch insoweit keinen Kontakt zu anderen Häftlingen. Der Kontakt untereinander sowie die Nutzung von Radio- und Fernsehgeräten und eines Plattenspielers seien den Beschwerdeführern jedoch erlaubt gewesen. Darüber hinaus sei der Ausschluss der Beschwerdeführer aus der Gemeinschaft als Straf- oder Disziplinarmaßnahme, wie auch aus Sicherheitsgründen geboten gewesen. Eine solche Maßnahme stelle nicht per se eine unmenschliche Behandlung dar, es komme für die Beurteilung auf die Umstände des Einzelfalles
256
EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314. Irmscher, Einzelhaft und Folterverbot – Die Carlos-Entscheidung des EGMR, EuGRZ 2007, 135 (135). 258 EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314 (318 f.). 259 EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314 (318 f.); Ergänzung zur Klarstellung durch die Verfasserin. 260 EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314 (321). 261 EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314 (321). 262 EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314 (322). 257
D. Die Rechtsprechung des EGMR
231
und die persönliche Konstitution des Betroffenen an.263 So zog sich die Kommission ebenso auf die vom Gerichtshof angelegten Maßstäbe der Beurteilung anhand der Bedingungen des Einzelfalles zurück. Für die Verletzung des Art. 3 EMRK bedürfe es demnach eines Mindestmaßes an Schwere des Eingriffs: Eines besonderen Ausmaßes der Isolation, der Dauer der Abschottung, des verfolgten Zweckes und der Auswirkungen auf die Betroffenen.264 Diese Grundsätze beschäftigten den EGMR erneut in der 2006 ergangenen Entscheidung Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich265. Der Beschwerdeführer Ilich Ramirez Sanchez, bekannt unter dem Namen „Carlos“, wurde 1949 in Caracas geboren und ist venezolanischer Staatsbürger. 1994 wurde er in Khartum im Sudan festgenommen und nach Frankreich überstellt, wo er sich seit dem 15. August 1994 in Untersuchungshaft befand. 1997 wurde er wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Sowohl während der Untersuchungs- als auch der Strafhaft war er in einer – kleinen und gering ausgestatteten – Einzelhaftzelle untergebracht, insgesamt über eine Dauer von acht Jahren und zwei Monaten. In beiden Haftanstalten, in denen er während dieser Zeit untergebracht war, hatte er keinen Kontakt zu anderen Insassen. Er konnte jedoch Zeitung lesen, fernsehen und sich zwei Stunden täglich im Innenhof an der frischen Luft aufhalten. Zudem erhielt er in dieser Zeit Besuch von insgesamt 58 Anwälten und von seiner Ehefrau (über 640mal), zweimal wöchentlich erfolgte eine ärztliche Visite. Lediglich zwei Journalisten wurde der Besuch verwehrt. Die Anordnung der Einzelhaft wurde alle drei Monate überprüft und erneuert. Dazu wurde auch jeweils ein ärztliches Attest seines Zustandes hinzugezogen. Die Einzelhaft wurde mit der Notwendigkeit einer Kontaktsperre zu anderen Inhaftierten aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen und Kontakten zum internationalen Terrorismus begründet. Die Möglichkeit des Beschwerdeführers, Kontakt zu seiner Terrorzelle oder anderen Terrorismusverdächtigen innerhalb der Anstalt aufzunehmen, sollte dadurch unterbunden werden. Bis Juli 2000 bestanden medizinisch keine Bedenken gegen die Einzelhaft des Beschwerdeführers, trotz der geringen Ausstattung der Zelle. In der Folgezeit fielen die ärztlichen Begutachtungen jedoch zunehmend kritischer hinsichtlich der Unterbringung in Einzelhaft aus. Die physische wie psychische Konstitution des Beschwerdeführers sei zwar gut, jedoch bestanden Bedenken gegen die Fortsetzung dieser Unterbringung. Zum Oktober 2002 wurde dann die Einzelhaft aufgehoben, jedoch 2004 aufgrund seines Verhaltens und seiner öffentlichen Äußerungen erneut angeordnet. Gegen die Unterbringung in Einzelhaft legte der Beschwerdeführer wiederholt Beschwerde ein, die von der jeweils zuständigen Stelle zurückgewiesen wurde. Im Jahre 2000 wandte er sich mit einer Beschwerde an den EGMR, der 2005 darüber entschied. Auf Antrag des Be263
(321). 264
EKMR, Ensslin, Baader und Raspe ./. Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, 314
Irmscher, Einzelhaft und Folterverbot – Die Carlos-Entscheidung des EGMR, EuGRZ 2007, 135 (136). 265 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 ff. = EuGRZ 2007, 141 ff. (deutschsprachige Veröffentlichung).
232
Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
schwerdeführers wurde die Entscheidung danach zudem der Großen Kammer des Gerichtshofes (,Grand Chamber‘) – als 2. Instanz – vorgelegt, die 2006 zu einer Entscheidung kam.266 Im Rahmen seiner Entscheidung betont der Gerichtshof erneut die absolute Geltung des Verbots des Art. 3 EMRK, dessen Aufweichung auch unter dem Eindruck terroristischer Gefahren und Bedrohungen nicht akzeptabel ist. Denn „Art. 3 EMRK verankert einen der grundlegendsten Werte demokratischer Gesellschaften. Selbst unter den schwierigsten Umständen, wie beispielsweise im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, enthält die Konvention ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.“267
Weiterhin wurde die enge Verbundenheit der Grundsätze des Art. 3 EMRK mit der Menschenwürde noch einmal besonders hervorgehoben: „Damit eine Strafe oder eine damit zusammenhängende Behandlung ,unmenschlich‘ oder ,erniedrigend‘ ist, muss das damit verbundene Leiden oder die damit verbundene Demütigung jedenfalls über die zwangsläufig sich aus jeder Art legitimer Behandlung oder Bestrafung ergebenden Leiden oder Demütigungen hinausgehen […]. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof an, dass Maßnahmen des Freiheitsentzuges häufig ein solches Element des Leidens und der Erniedrigung innewohnt. Gleichwohl zwingt Art. 3 EMRK den Staat sicherzustellen, dass Gefangene unter solchen Bedingungen inhaftiert sind, die mit der menschlichen Würde vereinbar sind, dass Art und Weise der Vollstreckung die Betroffenen keiner Notlage oder Belastung aussetzen, deren Intensität das mit der Inhaftierung unvermeidlich verbundene Maß überschreiten, und dass angesichts der praktischen Notwendigkeiten der Inhaftierung Gesundheit und Wohlergehen des Gefangenen angemessen gewährleistet sind […].268
Der Respekt für die Würde des Menschen muss nach den Ausführungen des Gerichtshofes jede Handlung des Staates bestimmen und mit jeder Maßnahme, der eine inhaftierte Person unterworfen wird, vereinbar sein. Diese ausdrückliche absolute Bindung und Verpflichtung der staatlichen Gewalt, in ihren Handlungen die Menschenwürde zu respektieren und die mit einer Inhaftierung verbundenen Leiden und Demütigungen auf das unvermeidliche Maß zu reduzieren, betont zum einen die umfassende Ausstrahlung der Menschenwürde in alle Bereiche des Grundrechtsschutzes hinein und zum anderen das Erfordernis einer gewissen Schwere, die für das Vorliegen einer Verletzung gegeben sein muss. Die ausdrückliche Anerkennung der Achtung und des Respekts der Menschenwürde als prägender Wert ist ein wesentlicher Schritt in der Rechtsprechung des Gerichtshofes, der den umfassenden Schutz der Menschenwürde stärkt und ein Schutzkonzept entwickelt – auch wenn sich in der Konvention keine geschriebene Grundlage dafür findet. 266 Zum Sachverhalt siehe insgesamt EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 ff. = EuGRZ 2007, 141 ff. 267 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, EuGRZ 2007, 141 (143). 268 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, EuGRZ 2007, 141 (143).
D. Die Rechtsprechung des EGMR
233
Bei der Entscheidung Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich269 hat sich der Gerichtshof, ebenso wie die Kommission in ihrer Entscheidung bezüglich der RAFMitglieder, zu diesen Fragestellungen auf eine Gesamtabwägung aller Umstände gestützt, die die Besonderheiten der einzelnen Fälle berücksichtigte und in einer Art Verhältnismäßigkeitsprüfung die Haftbedingungen untersuchte, um festzustellen, ob die noch als zulässig erachtet werden können, oder ob die Schwelle des Art. 3 EMRK im konkreten Fall überschritten ist. Wird das erforderliche Mindestmaß an Schwere und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK festgestellt, so ist das Verbot des Art. 3 EMRK absolut und keiner Abwägung oder Einschränkung zugänglich. Dennoch lehnte der Gerichtshof im Fall Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich im Ergebnis eine Verletzung des Art. 3 EMRK ab. Der Gerichtshof zeigte zu Beginn seiner Entscheidung unter Bezugnahme auf zurückliegende Entscheidungen die allgemeinen Prinzipien im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK auf und betonte dabei besonders die Verbindung zur Menschenwürde. Er ging speziell darauf ein, wann Einzelhaft eine unwürdige und erniedrigende Behandlung darstellt. Insbesondere die gegen die Persönlichkeit und Selbstbestimmung des Individuums gerichteten Maßnahmen, die mit dem Ziel verhängt werden, tatsächliche körperliche Verletzungen herbeizuführen, intensive physische wie psychische Leiden zu verursachen und „Gefühle der Angst, Verzweiflung oder Unterlegenheit“270 hervorrufen, verstoßen offensichtlich und unstreitig gegen den gebotenen Schutz der Würde des Einzelnen.271 Unter Berücksichtigung der körperlichen und psychischen Konstitution des Beschwerdeführers und der gesamten Umstände des Falles sei vorliegend in der angeordneten und vollzogenen Einzelhaft keine erniedrigende und unmenschliche Behandlung zu erkennen gewesen.272 Die Isolation des Beschwerdeführers sei „partiell und relativ“273 gewesen. Der Beschwerdeführer sei nicht vollständig jeglicher sozialer Kontakte beraubt und sei in regelmäßigen Abständen von seinen Anwälten und seiner Ehefrau besucht worden. Zudem hätte er die Möglichkeit zum Hofgang erhalten und sich über verschiedene Medien zu informieren. Die äußeren Umstände seiner Inhaftierung waren daher nach Ansicht des Gerichtshofes angemessen. Die Umstände der Einzelhaft, insbesondere die Trennung und Kontaktsperre zu anderen Häftlingen, erreichte nicht das von Art. 3 EMRK vorausgesetzte Mindestmaß an Schwere, um
269 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 ff. = EuGRZ 2007, 141 ff. (deutschsprachige Veröffentlichung). 270 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 (216 ff.) = EuGRZ 2007, 141 (143). Vgl. auch Irmscher, Einzelhaft und Folterverbot – Die CarlosEntscheidung des EGMR, EuGRZ 2007, 135 (139). 271 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 (216 ff.) = EuGRZ 2007, 141 (143). 272 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 (219) = EuGRZ 2007, 141 (146). 273 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 (221) = EuGRZ 2007, 141 (145).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung darzustellen.274 Die durch den Gerichtshofes gewählte Formulierung erinnert stark an die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Schutzes von Art. 1 Abs. 1 GG. Auch dort wird eine Beeinträchtigung der Menschenwürde angenommen, wenn das Gefühl der Angst, Verzweiflung oder Unterlegenheit bei dem Betroffenen hervorgerufen wird.275 Dies verdeutlicht erneut die Nähe des Schutzes des Art. 3 EMRK zu Art. 1 Abs. 1 GG und die Ähnlichkeit des – sich anhand der EMRK entwickelnden – Schutzkonzepts. Leider betont der Gerichtshof lediglich die absolute Geltung des Art. 3 EMRK, eine ausführliche Begründung, die richtungsweisend den Zusammenhang zur Menschenwürde weiter ausführt, fehlt.276 In engem Zusammenhang mit dieser Thematik steht ferner eine Entscheidung des EGMR aus dem Jahr 2012. In der Entscheidung El-Masri ./. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien277 geht es um die geheime Überstellung eines Terrorverdächtigen an die CIA und die Duldung einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung und Verbringung außer Landes durch die mazedonischen Behörden. Der Beschwerdeführer ist deutscher Staatsangehöriger. Nach seinen Angaben wurde er im Rahmen einer Busreise nach Skopje 2003 an der serbisch-mazedonischen Grenze festgenommen und in ein Hotel in Skopje verbracht. Dort sei er 23 Tage festgehalten und zu möglichen Verbindungen mit terroristischen Organisationen befragt worden. Kontakt zu deutschen Behörden und der deutschen Botschaft sei ihm verwehrt worden. Im Weiteren sei er auf dem Flugplatz von Skopje in Anwesenheit mazedonischer Sicherheitskräfte misshandelt und vergewaltigt worden. Im Anschluss habe man ihn in einer Maschine der CIA über Bagdad nach Kabul gebracht und dort erneut inhaftiert. Während des Fluges sei er an den Boden der Maschine gefesselt und mit Injektionen ruhig gestellt gewesen. In Kabul habe man ihn in einer kleinen schmutzigen Zelle mit Betonwänden festgehalten und wiederholt geschlagen, getreten und bedroht. Seine Bitte, einen Vertreter der deutschen Regierung zu sprechen, habe man ignoriert. Erst 2004 sei er nach Deutschland zurückgebracht worden.278 Der 274 EGMR, Ilich Ramirez Sanchez ./. Frankreich, Nr. 59450/00, RJD 2006-IX, 171 ff. = EuGRZ 2007, 141 (144, 145). 275 BVerfGE 1, 97 (104). Das Bundesverfassungsgericht formulierte in dieser sehr frühen Entscheidung die Ausrichtung des Würdeschutzes dahingehend, dass die Menschenwürdegarantie, unter dem Blickwinkel der Erfahrungen im Zusammenhang mit dem totalitären Regime der Nationalsozialisten, gerade vor solchen Behandlungen schützen sollte. Mit der Wahl dieses Ansatzes zeigt sich in dem vom EGMR entwickelten Konzept, ein ähnlicher Gedankengang, der den Schutz der Menschenwürde gerade gegen solche Behandlungen auch auf supranationaler Ebene gewährleistet. 276 Irmscher, Einzelhaft und Folterverbot – Die Carlos-Entscheidung des EGMR, EuGRZ 2007, 135 (141). 277 EGMR, El-Masri ./. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 39630/09, RJD 2012-VI, 263 ff. = NVwZ 2013, 631 ff. 278 Verkürzte Darstellung des Sachverhaltes. Siehe zum Sachverhalt insgesamt EGMR, ElMasri ./. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 39630/09, RJD 2012-VI, 263 ff. = NVwZ 2013, 631 ff.
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Beschwerdeführer rügt im vorliegenden Fall die von den mazedonischen Behörden geduldete Behandlung durch die CIA. Eine umfassende Untersuchung der mazedonischen Behörden sei im Bezug auf die ihm widerfahrene Behandlung nicht erfolgt. Der Gerichtshof unterstrich in dieser Entscheidung ausdrücklich seine ständige Rechtsprechung zu den Grundsätzen des Schutzes des Art. 3 EMRK. Darüber hinaus nahm der Gerichtshof eine aus Art. 3 EMRK erwachsende Untersuchungspflicht an. Ein Staat sei demnach verpflichtet, eine mutmaßlich gegen Konventionsrecht verstoßende Behandlung einer seiner Hoheitsgewalt unterstellten Person zu untersuchen, wenn die Behandlung vom Betroffenen glaubhaft gemacht worden sei.279 Damit wird der Schutz des Art. 3 EMRK um einen Aspekt erweitert. Die Verpflichtung eines Staates, Ermittlungen im eigenen Land und gegen eigene Kräfte anzustellen, geht über die bisher angenommene Reichweite des Art. 3 EMRK hinaus. Durch diese Untersuchungspflicht wird den Mitgliedsstaaten auferlegt, selbstständig Untersuchungen anzustellen und bei einer festgestellten Verletzung des Konventionsrechts gegen diese Handlungen einzuschreiten, so der Gerichtshof: „Wenn jemand vertretbar geltend macht, dass er in einer Art. 3 EMRK verletzenden Weise durch Polizisten oder ähnliche andere Bedienstete des Staates behandelt worden ist, verlangt diese Vorschrift in Verbindung mit der allgemeinen Verpflichtung der Staaten aus Art. 1 EMRK, ,allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in (der Konvention) bestimmten Rechte und Freiheiten‘ zuzusichern, auch ohne ausdrückliche Regelung wirksame amtliche Ermittlungen, die geeignet sein müssen, die Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen. Anderenfalls wäre das allgemeine Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung trotz seiner grundlegenden Bedeutung praktisch unwirksam und staatliche Bedienstete könnten die Rechte von Personen unter ihrer Kontrolle in einigen Fällen praktisch straflos verletzen […].“280
Im Weiteren verdeutlichte der Gerichtshof die Verantwortlichkeit des Staates und kritisiert das Ausmaß der Gewalt gegen den Beschwerdeführer als nicht gerechtfertigt. Durch das enorme Ausmaß erachtete der Gerichtshof die Gewaltanwendung als Folter im Sinne des Art. 3 EMRK und sah damit verbunden eine Verletzung der Menschenwürde: „Jeder Rückgriff auf physische Gewalt, die nicht wegen des Verhaltens des Bf. absolut notwendig ist, beeinträchtigt die Menschenwürde und ist grundsätzlich ein Eingriff in das nach Art. 3 EMRK garantierte Recht […]. Die gegen den Bf. angewendete Gewalt war übermäßig und nach den Umständen nicht gerechtfertigt. Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass ein gewaltsames Entkleiden durch Polizisten eine aggressive und möglicherweise erniedrigende Maßnahme sein kann, die nicht ohne zwingende Gründe angewendet werden darf […].
279
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 20, Rn. 33. EGMR, El-Masri ./. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 39630/09, RJD 2012-VI, 263 (330 f.) = NVwZ 2013, 631 (633). 280
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Die beschriebenen Maßnahmen sind kumulativ und absichtlich ergriffen worden, mit dem Ziel, starke Schmerzen oder Leiden zuzufügen, um vom Bf. Informationen zu erhalten, ihn zu bestrafen oder einzuschüchtern. Das ist Folter i. S. von Art. 3 EMRK. Die Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien war für die Verletzung der Rechte des Bf. verantwortlich, weil ihre Bediensteten die Behandlung aktiv unterstützten und dann keine Maßnahmen ergriffen haben, die nach den Umständen notwendig gewesen wären, sie zu verhindern […].“281
In dieser Entscheidung wird noch einmal die Bedeutung des Art. 3 EMRK als Schutz eines Grundwertes der demokratischen Gesellschaft betont und durch die expliziten Ausführungen die Absolutheit des Schutzes unterstrichen. Mit seltener Deutlichkeit hat der Gerichtshof in diesem Fall das Vorliegen von Folter angenommen und einen Mitgliedsstaat für sein Verhalten gerügt. Dies unterstreicht die besondere Bedeutung der Menschenwürde, die hier zu einer Ausweitung des Schutzes des Art. 3 EMRK führt. Diese Ausweitung trägt der Notwendigkeit eines umfassenden und absoluten Schutzes der Menschenwürde Rechnung. Insgesamt zeigen die verschiedenen Entscheidungen des Gerichtshofes, dass gerade durch die Bedrohung durch internationalen Terrorismus und organisierte Kriminalität nicht nur die nationalen Rechtsordnungen vor neue Herausforderungen gestellt werden. Auch der EGMR musste und muss sich wiederholt mit diesen Fragestellungen beschäftigen. Dabei hält der Gerichtshof in seinen Entscheidungen eindeutig an den von ihm selbst entwickelten grundsätzlichen Werten fest; nur so kann die Rechtsordnung und der Schutz der Menschenrechte auch auf überstaatlicher Ebene erreicht werden. Beim Vollzug staatlicher Maßnahmen jeglicher Art muss der Staat immer gewährleisten, dass die Bedingungen der Maßnahme mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind.282 Denn diese darf unter keinen Umständen, erst recht nicht unter dem Eindruck einer Bedrohungssituation aufgegeben werden, da sie die Grundlage der Gemeinschaft und der demokratischen Struktur bildet.
V. Die Menschenwürde als Motiv und Grundlage der EMRK Daneben befasste sich der EGMR im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenwürde und deren Verletzung immer wieder mit der Bedeutung der Menschenwürde als Motiv und Grundlage der Konvention. Einzelne Entscheidungen zum Schutz der Menschenwürde wie zu den Grundsätzen und der Systematik der Konvention, heben die Bedeutung der Menschenwürde für die Konvention besonders deutlich hervor. So sind die Entscheidung in der verbundenen Rechtssache S.W. ./. 281
EGMR, El-Masri ./. Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 39630/09, RJD 2012-VI, 263 (337 f.) = NVwZ 2013, 631 (636). 282 Hannich-Schädler/Jakobs, Karlsruher Kommentar zur StPO mit GVG, EGGVG und EMRK, 72013, Art. 3 EMRK, Rn. 9.
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Vereinigtes Königreich und C.R. ./. Vereinigtes Königreich283 sowie die Entscheidung Pretty ./. Vereinigtes Königreich284 in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Diese Entscheidungen haben aufgrund des ihnen zugrunde liegenden Sachverhalts Diskussionen über die fundamentale Bedeutung der Menschenrechte und der Verbürgung der Konvention zu ihrem Schutz ausgelöst, vor allem hinsichtlich der Höchstpersönlichkeit der betroffenen Rechtsgüter. In den verbundenen Entscheidungen S.W. und C.R. gegen das Vereinigte Königreich ging es um die strafrechtliche Beurteilung einer Vergewaltigung in der Ehe.285 Die Frage, ob erzwungener Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe anders zu beurteilen sei als außerhalb einer solchen, war dabei der zentrale Aspekt des an den EGMR herangetragenen Sachverhalts. Jeweils der Ehemann trat dabei als Beschwerdeführer auf und machte geltend, innerhalb einer Ehe sei erzwungener Geschlechtsverkehr nicht als Vergewaltigung anzusehen und sei aufgrund dieser besonderen Verhältnisse nicht strafrechtlich zu sanktionieren. In einer solchen strafrechtlichen Sanktionierung des erzwungenen Geschlechtsverkehrs liege eine Verletzung des Rechts aus Art. 7 EMRK, des Grundsatzes nulla poena sine lege. Es sei von einer konkludenten Zustimmung der Frau zum Geschlechtsverkehr mit der Eheschließung auszugehen, daher sei gegen ihren Willen vollzogener Geschlechtsverkehr nicht als strafbare Handlung zu bewerten, so die Beschwerdeführer.286 Dieser Ansicht folgte der Gerichtshof nicht. Der Gerichtshof sah in dieser Argumentation einen Widerspruch zu den fundamentalen Grundsätzen der Konvention, deren Wesen der Schutz der menschlichen Würde und Freiheit ist („the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom“287). Hier stellte der Gerichtshof erstmals nicht die Verbindung zwischen Art. 3 EMRK und dem Schutz der Menschenwürde in den Vordergrund, sondern bezog eine andere Konventionsnorm mit ein und qualifizierte die Menschenwürde und deren Schutz als fundamentales Ziel der Konvention.288 Der Gerichtshof hob dabei hervor, dass Vergewaltigung und erzwungener sexueller Kontakt in der Ehe nicht nur gegen die Vorstellungen und Grundzüge einer zivilisierten Ehe 283 EGMR, S.W. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20166/92, Series A Nr. 335-B, 28 ff. und C.R. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20190/92, Series A Nr. 335-C, 56 ff. 284 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 ff. Deutschsprachige Veröffentlichung: NJW 2002, 2851 ff. 285 Vgl. EGMR, S.W. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20166/92, Series A Nr. 335-B, 28 ff. und C.R. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20190/92, Series A Nr. 335-C, 56 ff. 286 EGMR, C.R. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20190/92, Series A Nr. 335-C, 56 (60). 287 Vgl. EGMR, S.W. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20166/92, Series A Nr. 335-B, 28 (45). Vgl. auch Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 107; Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 159 f. 288 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 107; vgl. außerdem EGMR, S.W. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20166/92, Series A Nr. 335-B, 28 (45).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
verstoßen, sondern und vor allem gegen die Grundsätze der Konvention und fundamentalen Werte: „What is more, the abandonment of the unacceptable idea of a husband being immune against prosecution for rape of his wife was in conformity not only with a civilised concept of marriage but also, and above all, with the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom.“289
Eine Art eheliche Immunität für solche Taten stehe dabei nicht nur in einem offenkundigen Widerspruch zu den gesetzlichen Regeln, sondern auch zu den Grundwerten der Konvention und damit der an sie gebundenen Mitgliedsstaaten. Mit dieser Entscheidung erfuhr der Menschenwürdeschutz durch den EGMR eine entscheidende Ausdehnung. Der Schutz und die Gewährleistung der Menschenwürde wurden als interpretationsleitendes Argument herangezogen, um als Wertungsgrundsatz und „teleologische Argumentationsstütze“ eklatanten Widersprüchen zu den Grundsätzen der Konvention zu begegnen und diese zu beseitigen.290 Der Schutz der Autonomie des Einzelnen als wesentliches Element der Menschenwürde wird in dieser Entscheidung unterstrichen. Ausdrücklich hat der Gerichtshof darüber hinaus keine Ausführungen zu dem Inhalt der Menschenwürde getroffen. Was genau von der Menschenwürde umfasst ist, welche strukturellen Elemente und Rechte dazu gehören, wird nicht weiter erörtert. Die Menschenwürde erfährt durch diese Entscheidung des Gerichtshofes gleichwohl eine feste Verankerung und Bestätigung ihrer richtungsweisenden Bedeutung in der Werteordnung der Konvention. Auch wenn keine Rückschlüsse auf inhaltliche Aspekte gezogen werden können, ist die Anerkennung der Bedeutung für die gesamte Konvention dieser Entscheidung zu entnehmen. Die Menschenwürde wird damit explizit als Teil der konventionsrechtlichen Werteordnung bestätigt. In der 2002 ergangenen Entscheidung in der Sache Pretty ./. Vereinigtes Königreich291 hat der Gerichtshof sich noch intensiver mit dem Schutz der Menschenwürde und deren Bedeutung beschäftigt. Die Beschwerdeführerin Diane Pretty litt an einer unheilbaren, stetig fortschreitenden neurodegenerativen Krankheit der motorischen Zellen im zentralen Nervensystem (MND), die mit einer progressiven Muskelschwäche verbunden ist, in deren Folge sie vom Hals abwärts gelähmt war. Ihre Erkrankung hatte bereits ein so weitfortgeschrittenes Stadium erreicht, so dass sie nicht mehr in der Lage war verständlich zu sprechen und zu schlucken. Daher musste sie durch eine Sonde künstlich ernährt werden. Aufgrund des Krankheitsverlaufs sah sie einem Tod durch Ersticken in Folge der Lähmung der Atemmuskulatur entgegen. Um diesem qualvollen Tod zuvorzukommen, entschloss sie sich, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen. Seit 1961 war Selbstmord im Vereinigten Königreich nicht mehr strafbar. Jedoch war sie aufgrund ihrer Lähmung nicht in der Lage, ihre 289 290
107. 291
EGMR, S.W. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20166/92, Series A Nr. 335-B, 28 (45). Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 ff.
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Selbsttötung ohne fremde Hilfe durchzuführen. Daher versuchte sie durch alle Instanzen der britischen Gerichtsbarkeit, die Straffreiheit ihres Ehemannes im Falle seiner Beihilfe zu ihrer Selbsttötung zu erreichen. Dies lehnten die britischen Gerichte jedoch ab, woraufhin sich Diane Pretty an den EGMR wandte und die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter), 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) rügte.292 Die von der Beschwerdeführerin gerügte Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK ist dabei im Hinblick auf die Gewährung und den Schutz der Menschenwürde von besonderem Interesse. Die Beschwerdeführerin sah in ihrer Erkrankung und ihrem Leiden verbunden mit der Verweigerung ihrem Ehemann hinsichtlich der Beihilfe zu ihrem Selbstmord Straffreiheit zuzusichern, eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK. Auch wenn die Regierung nicht für diese Behandlung direkt verantwortlich sei, bestehe doch eine Verpflichtung und Verantwortung der Regierung, sie vor einer solchen Behandlung zu schützen.293 Diese Verpflichtung sei zudem auch aufgrund des absoluten Charakters des Art. 3 EMRK zwingend und stehe nicht zur Disposition der Regierung.294 Die Regierung hielt dem entgegen, Art. 3 EMRK sei hier nicht anzuwenden, da er nicht einschlägig sei, denn Art. 3 EMRK gewähre kein Recht zu sterben, sondern statuiere zuvörderst eine Unterlassungspflicht im Sinne eines Abwehrrechts.295 Der Gerichtshof betonte in diesem Zusammenhang zunächst die grundlegende Bedeutung der Art. 2 und 3 EMRK als Grundwerte der demokratischen Gesellschaft, die insbesondere auch in der absoluten, vorbehaltslosen Fassung des Verbots in Art. 3 EMRK zum Ausdruck kommen.296 Danach diskutierte er, ob Art. 3 EMRK grundsätzlich einschlägig sein könnte. Problematisch war dabei zunächst, ob überhaupt eine „Behandlung“ i.S.d. Art. 3 EMRK vorliege, im Weiteren kam es darauf an, ob es sich auch um eine „erniedrigenden Behandlung“ handele.297 Art. 3 EMRK werde ganz überwiegend in Fällen angewendet, in denen staatliche Repräsentanten oder Behörden bewusst und willentlich Handlungen vornehmen, die eine verbotene Behandlung nach Art. 3 EMRK seien. Die Staaten sind in solchen Fällen verpflichtet, Personen, die ihrer Hoheitsgewalt unterstehen, vor einer solchen Behandlung zu 292 Zum Sachverhalt siehe insgesamt EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 ff. Deutschsprachige Zusammenfassung: NJW 2002, 2851. 293 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (187 f.) = NJW 2002, 2851 (2852). 294 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (187 f.) = NJW 2002, 2851 (2852). 295 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (188 f.) = NJW 2002, 2851 (2852). 296 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (189 f.) = NJW 2002, 2851 (2852 f.). 297 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 108.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
schützen. Darin liegt eine Schutz- und Abwehrpflicht, die zugleich auch eine Unterlassungspflicht des Staates und seiner Organe statuiert. In der Krankheit der Beschwerdeführerin sei jedoch schon keine Behandlung erkennbar, die von der staatlichen Gewalt ausgeht. Sie sei keiner verbotenen Behandlung oder Misshandlung ausgesetzt, denn in der Verweigerung der Straffreiheit für den Ehemann kann nur schwerlich eine solche erkannt werden. Gleichwohl läge, auch wenn dies als eine der staatlichen Gewalt zurechenbare Handlung zu bewerten sei, keine verbotene Behandlung i.S. des Art. 3 EMRK vor.298 Die Beurteilung der Handlung richtet sich vielmehr danach, dass „[w]enn eine Behandlung eine Person erniedrigt oder entwürdigt, indem sie es an Achtung für die Menschenwürde fehlen lässt oder diese angreift oder Gefühle der Angst, des Schmerzes oder der Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, den moralischen und körperlichen Widerstand der Person zu brechen, kann die Behandlung als erniedrigend angesehen werden und damit unter das Verbot von Art. 3 EMRK fallen.“299
Hinsichtlich des Begriffes der „erniedrigenden Behandlung“ bezog sich der Gerichtshof in seinen Ausführungen zur Definition ausdrücklich auf die Würde des Menschen und konkretisierte damit seinen Menschenwürdebegriff. Auch eine natürlich ausgebrochene körperlich und geistige Erkrankung und das durch sie verursachte Leid könne von Art. 3 EMRK erfasst werden, jedoch nur, wenn es durch eine Behandlung, Haftbedingungen, Ausweisung oder sonstige Maßnahmen verschlimmert wird oder zu werden droht. Dies sei vorliegend nicht anzunehmen. Die Beschwerdeführerin sei ausreichend medizinisch versorgt, und ihr drohe keine fehlende oder mangelnde ärztliche Versorgung.300 In anderen Fällen wie etwa im Fall Dragan u. a. ./. Deutschland301 wurde eine solche Gefahr durch die Abschiebung kranker Staatenloser nach Rumänien erwogen. Vorliegend war jedoch keine vergleichbare Gefahr oder Behandlung gegeben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie der Fall von Diane Pretty im Geltungsbereich des Grundgesetzes und damit des Art. 1 Abs. 1 GG zu beurteilen wäre. Dies erfordert es, sich mit der Frage auseinandersetzen, ob unter Anwendung der Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG ebenso eine würdeverletzende Handlung abgelehnt werden könnte, wie dies unter der Anwendung des Art. 3 EMRK erfolgt ist. Durch diese hypothetische Betrachtung wird ein direkter Vergleich der Konzepte der Menschenwürde ermöglicht, wie sie unter der Geltung des Grundgesetzes und der EMRK entwickelt worden sind.
298
Vgl. EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (189 f.) = NJW 2002, 2851 (2853). 299 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, NJW 2002, 2851 (2853). 300 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (191) = NJW 2002, 2851 (2853). 301 EGMR, Dragan u. a. ./. Deutschland, Nr. 33743/03, NVwZ 2005, 1034.
D. Die Rechtsprechung des EGMR
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Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, die Würde jedes Menschen zu achten und sie vor Verletzungen zu schützen.302 Der Einzelne darf nicht durch Erniedrigung oder eine andere den Achtungsanspruch des Einzelnen verletzende Handlung in seiner Subjektqualität in Frage gestellt werden.303 Das Zulassen, dass ein schwererkrankter Mensch, wie etwa Diane Pretty, nicht nur nicht über sein Leben selbst entscheiden kann, weil die Krankheit ihm jegliche physische Handlungsfähigkeit genommen hat, sondern auch einen qualvollen Tod erleiden muss, steht dazu im Widerspruch. Die Entscheidung, in Würde zu sterben, also selbstbestimmt den Zeitpunkt des eigenen Todes und die Umstände zu bestimmen, ist Teil des Würdeanspruches.304 Dies umfasst nach wohl herrschender Meinung jedoch nicht das Recht auf aktive Sterbehilfe,305 die als Tötung auf Verlangen durch § 216 StGB mit Strafe bedroht ist. Gleichwohl ist das Erleiden lassen eines qualvollen Todes als eine erniedrigende, grausame und damit unwürdige Behandlung zu sehen, die losgelöst von der Frage der Strafbarkeit zu beantworten ist. Unabhängig von der Frage einer möglichen Rechtsdurchsetzung und einer strafrechtlichen Beurteilung damit verbundener Verhaltensweisen, ist die Behandlung die Diane Pretty erfahren hat als erniedrigen zu erachten. Im Ergebnis würde danach eine entwürdigende Behandlung von Diane Pretty im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG und damit ein Verstoß gegen diesen anzunehmen sein. Die Frage, ob die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen gemäß § 216 StGB in diesem Zusammenhang als verfassungsgemäß zu erachten wäre, kann hier für die vorliegende Erörterung der Menschenwürdekonzepte dahinstehen.306 Auch wenn der EGMR im Fall von Diane Pretty keine Verletzung des Art. 3 EMRK annahm, da in der Verweigerung keine „erniedrigende Behandlung“ läge, sind die Ausführungen zur Menschenwürde durch den Gerichtshof richtungsweisend. Der Gerichtshof betont erneut den Charakter der Konvention als „living instrument“, als lebendes Instrument“307, das dynamisch und flexibel auszulegen und an den Grundsätzen der grundlegenden Zielsetzungen der Konvention und der Kohärenz als System zum Schutz der Menschenrechte zu messen ist.308 Der Schutz der Menschenwürde ist nicht mehr nur Ziel und Grundwert der Konvention, sondern 302
So etwa BVerfGE 88, 203 (288). Vgl. BVerfGE 102, 347 (367); 107, 275 (284). 304 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 89. 305 Vgl. Maunz/Dürig-Herdegen, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (2009), Rn. 89 m.w.N. 306 Die aktuell im Bundestag geführten Debatten zur Zulässigkeit der Sterbehilfe bzw. des assistierten Suizids zeigen, dass diese Problematik bekannt ist und eine Lösung angestrebt wird. Auf diese sei insoweit verwiesen. Vgl. dazu den Bericht auf www.bundestag.de: http://www.bun destag.de/dokumente/textarchiv/2014/kw46_ak_sterbebegleitung/339432 (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). 307 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (191) = NJW 2002, 2851 (2853). 308 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (191) = NJW 2002, 2851 (2853). Vgl. auch Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 24. 303
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
auch „das Wesentliche“ der EMRK.309 Dem Schutz der Menschenwürde kommt damit der Charakter einer objektiv-rechtlichen Gewährleistung zu, und es wird zudem ein Menschenwürdegehalt in jeder einzelnen Konventionsgarantie erachtet.310 Die Menschenwürde erstarkt somit zu einem festen, wenn auch ungeschriebenen Gehalt der Konvention, die im engen Zusammenhang mit der Freiheit und Integrität des Menschen verbunden ist und zwischen denen ein enger inhaltlicher Zusammenhang besteht.311
VI. Fazit Der EGMR hat durch seine Rechtsprechung die Menschenwürde zu einem – wenn auch ungeschriebenen – Grundrecht entwickelt. Mit der gewählten Interpretation der einzelnen Konventionsnormen, allen voran der Fundamentalgarantien der Art. 2 bis 4 EMRK, wird der Schutz des Einzelnen, seiner Person, seines Lebens und seiner physischen wie psychischen Integrität in den Mittelpunkt der Konvention gerückt. Es fehlt jedoch der originäre Schutz der Menschenwürde per se. Auch wenn gerade durch Art. 3 EMRK und die in der Rechtsprechung ausdifferenzierten Aspekte des Schutzumfanges, der Schutz der Menschenwürde auf dieser Ebene gegeben ist, fehlen die ausdrückliche Normierung und die damit verbundene starke Präsenz. Die Menschenwürde ist implizit geschützt und als ungeschriebenes Recht und Wert gewährleistet, es fehlt im Vergleich zur Dogmatik des Art. 1 Abs. 1 GG dennoch die deutliche Prägung durch eine normative Garantie. Durch die gewählte Formulierung, die Position im Katalog der Grundrechte des Grundgesetzes sowie die Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts Rechtsakte oder Akte der staatlichen Gewalt, die gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen aufzuheben, ist der Schutz der Menschenwürde im Grundgesetz stärker ausgeprägt. Zudem beeinflusst die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG die Auslegung und Anwendung des gesamten Grundrechtskataloges sowie die Rechtsordnung insgesamt. Dies fehlt im Hinblick auf die Rechtsordnung im Rahmen der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR. Die Menschenwürde prägt zwar die EMRK in ihrer Anwendung, hat aber keine darüber hinausgehende Wirkung. Hinzutritt die einzelfallgebundene Rechtsprechung des Gerichtshofes, der die Nuancen des Schutzes der Menschenwürde, die Reichweite und den Umfang immer anhand der Umstände des jeweiligen Falles entwickelt. In diesem Zusammenhang zeigt gerade der Fall von Diane Pretty im Vergleich des Schutzes des Art. 3 EMRK und des Art. 1 Abs. 1 GG die unterschiedliche Reich309 EGMR, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, RJD 2002-III, 155 (191) = NJW 2002, 2851 (2854). Vgl. ebenso Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 109. 310 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 109. 311 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 167 f.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 109.
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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weite des durch diese Normen gewährten Schutzes. Die Erfassung des ohnehin schwer fassbaren Schutzes der Menschenwürde wird durch die starke Einzelfallbindung zusätzlich erschwert.
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) – Ansätze eines Konzeptes? Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes im europäischen Gemeinschaftsrecht erfolgte lange Zeit in Ermangelung geschriebener Rechtsquellen im Wesentlichen durch die Rechtsprechung des EuGH.312 Dieser durch den Gerichtshof entwickelte Schutz gewährleistet und schützt die Grundrechte in besonderem Maße, was sich auch in der Bedeutung der Rechtsprechung für den Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene widerspiegelt.313 Die Grundrechtsentwicklung folgt daher (auch heute noch) primär den Sachverhaltskonstellationen, die dem Gerichtshof zur Entscheidung vorliegen, und ist in ihrer Ausgestaltung stark durch die Rechtsprechung geprägt.314 So hat sich der EuGH anhand einzelner Sachverhalte entsprechend mit der Frage der Gewährleistung subjektiver Rechte auseinandergesetzt und einen Grundrechtskatalog entwickelt. Dies führt insoweit zu erheblichen Schwierigkeiten, als sich der EuGH nur zu solchen Bereichen geäußert hat, mit denen er bislang befasst war und es folglich zur „Fortentwicklung und Ausdifferenzierung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes […] entsprechender grundrechtsrelevanter Sachverhalte“315 bedarf, die jedoch keine umfassende Abdeckung der relevanten Bereiche gewährleisten. Insbesondere hinsichtlich der im Titel I der Charta der Grundrechte verankerten Rechte ist bisher nur eine geringe Anzahl einschlägiger Fälle zum EuGH gelangt, so dass dieser nur wenig Möglichkeit hatte, sich nach der Festschreibung eines umfassenden Rechtekataloges zu diesem zu äußern.316 Das Bundesverfassungsgericht erkannte den richterrechtlich entwickelten europäischen Grundrechtsschutz bereits in seiner 1986 ergangenen Solange II-Entscheidung317 als einen dem Grundgesetz im We312
Manhart/Maurer, EU-Verfassungsvertrag und Grundrechtscharta: Welche Auswirkungen hat die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag auf den Grundrechtsschutz in Europa?, MRM 2005, 160 (161). 313 Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 32007, Art. 1 GRCh, Rn. 2 ff. 314 Calliess, 60 Jahre Grundgesetz – ein Jubiläum im Lichte der Europäisierung, AnwBl. 2009, 478 (483). 315 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 2. 316 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 2. 317 BVerfGE 73, 339.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
sentlichem vergleichbaren Schutzstandard an.318 Die Übersichtlichkeit und damit die Fassbarkeit der so entwickelten grundrechtlichen Gewährleistungen wurden jedoch durch die rein richterrechtliche Festlegung erheblich erschwert. Dies führte schließlich – zumindest zum Teil – zu der Festschreibung in der Charta der Grundrechte als geschriebenem Grundrechtskatalog, wie auch die Präambel in der 2000 proklamierten Fassung deutlich machte: „Zu diesem Zweck ist es notwendig, angesichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden.“319
Die ersten Grundzüge eines Grundrechtsschutzes auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft gehen auf eine Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1969 zurück. In der betreffenden Entscheidung in der Sache Stauder320 hielt der Gerichtshof erstmals fest, dass aus den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts „Grundrechte der Person“321 abgeleitet werden können.322 Im weiteren Verlauf seiner Tätigkeit hat der EuGH eine Reihe von gemeinschaftlichen Grundrechten entwickelt, die als entwicklungsoffene und nicht abgeschlossene allgemeine (richterrechtliche) Rechtsgrundsätze die Grundrechtsentwicklung für die Europäische Gemeinschaft prägen.323 Die Menschenwürde als eigenständiges Schutzgut und Grundrecht hat dabei bisher selten eine Rolle in den Entscheidungen des Gerichtshofes gespielt.324 Die grundrechtliche Rechtsprechung des Gerichtshofes hat im Ergebnis dazu beigetragen, dass 1992 im Vertrag von Maastricht in Art. 6 Abs. 2 EUV explizit ein Grundrechtsbezug hergestellt wurde:325 „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 318 Mayer, Der Vertrag von Lissabon und die Grundrechte, EuR 2009, Beiheft 1, 87 (87). Vgl. zum Verhältnis des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes und dem europäisch gewährten Schutz Calliess, 60 Jahre Grundgesetz – ein Jubiläum im Lichte der Europäisierung, AnwBl. 2009, 478 (482 f.). 319 Präambel der Charta der Grundrechte, in der Fassung der feierlichen Proklamation 2000, online verfügbar mit weiterführenden Erläuterungen des Chartertextes unter: http://www.europ arl.europa.eu/charter/pdf/04473_de.pdf (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). 320 EuGH, Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419. 321 EuGH, Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (425). 322 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 27. 323 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 27. 324 Vgl. Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 5. 325 Vgl. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, Bd. 1, 2005, 13 (19).
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“326
Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung bei der Entwicklung ungeschriebener Grundrechtsstandards als Teil allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgrundsätze immer wieder auf die EMRK Bezug genommen.327 Diese gegenseitige Einflussnahme der EMRK und des Grundrechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof fand zudem Eingang in die Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV a.F., wodurch sie zwar nicht Teil des Unionsrechts, jedoch der Einfluss der EMRK als allgemein hinzuzuziehende Rechtsgrundsätze deutlich wurde.328 Zudem zog der EuGH seit 2006 die (zu diesem Zeitpunkt noch nicht verbindliche) Charta der Grundrechte als weitere Rechtserkenntnisquelle heran.329 Daneben spielen auch die Verfassungsüberlieferungen der einzelnen Mitgliedsstaaten in die Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts mit hinein.330 Nachdem die Charta der Grundrechte mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon 2009 rechtsverbindlich geworden ist, tritt sie als Rechtsquelle neben die vom EuGH entwickelten Grundrechte aus allgemeinen Grundsätzen.331 Im Gegensatz zu den unverbindlichen Rechtserkenntnisquellen, wie der EMRK im Bezug auf die Entscheidungen des EuGH, die keine strikten Vorgaben für die Inhalte der Grundrechte aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen liefern und „nur die Gewinnung von Rechtssätzen unterstützen“, bilden die Rechtsquellen, wie die Charta der Grundrechte und grundrechtsbezogene Verträge, den „Geltungsgrund des Rechts“ und „liefern unmittelbar die Rechtssätze“.332 Dadurch erlangte die Charta als Rechtsquelle eine stärkere Stellung im europäischen Normkontext, wodurch ihre 326
Wortlaut Art. 6 EUV in der Fassung des Vertrages von Maastricht von 1992. Vgl. Lenz/Borchardt-Wolffgang, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 6 EUV, Rn. 2; Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 58; Geiger/Khan/Kotzur-Geiger, EUV/AEUV, 52010, Art. 6 EUV, Rn. 21. 328 Vgl. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, Bd. 1, 2005, 13 (19). 329 Vgl. Lenz/Borchardt-Wolffgang, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 6 EUV, Rn. 2. 330 Herdegen, Europarecht, 172015, § 3, Rn. 58; Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (123). 331 Hinsichtlich der Begrifflichkeit „Grundsätze“ ist hier besondere Vorsicht geboten. Der Begriff der Grundsätze oder Rechtsgrundsätze im Zusammenhang der Entwicklung europäischer Grundrechte durch den EuGH stimmt nicht mit dem Begriff der „Grundsätze“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GR-Charta überein. Die in Art. 6 Abs. 3 EUV angesprochenen allgemeinen Grundsätze, auf denen die Europäische Union basiert, sind strikt von den in Art. 52 Abs. 5 GRCharta angesprochenen Charta-Grundsätzen zu unterscheiden. Vgl. dazu Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 27. 332 Vgl. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 40 f. 327
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Bedeutung per se und die Bedeutung der Grundrechte insgesamt unterstrichen wurden.
I. Ausgangssituation – Der Fall Stauder und die Anfänge des Grundrechtsschutzes durch den EuGH Der EuGH hat sich relativ früh in seiner Rechtsprechung mit der Frage der Gewährleistung subjektiver Rechte befasst. Angestoßen durch die Positionen der Mitgliedsstaaten zum fehlenden Grundrechtsschutz – wie sie insbesondere auch in der Solange I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich wird333 – sah sich der EuGH veranlasst, sich mit der Möglichkeit und Notwendigkeit der Gewährleistung eines entsprechenden Schutzes subjektiver Rechte auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene auseinanderzusetzen.334 Nachdem den Verträgen ein fester Grundrechtskatalog fehlte, entwickelte der EuGH im Wege richterlicher Rechtsfortbildung Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung.335 Die Entscheidung in der Rechtssache Stauder336 bildet insoweit den entscheidenden Ausgangspunkt der Entwicklung europäischer Grundrechte.337 Ausgehend von einer Vorlage des Verwaltungsgerichts Stuttgart nahm der EuGH die Entscheidung zum Anlass, sich grundsätzlich zur Bedeutung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht zu äußern. Das anhängige Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart betraf die Gültigkeit einer EG-Entscheidung, die den Mitgliedsstaaten die Zuteilung vergünstigter Butter an Bedürftige ermöglichte. Herr Stauder fühlte sich durch die namentliche Erfassung, die die deutsche Fassung der Entscheidung zur Überprüfung der Berechtigung verlangte, in seinen Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Das Verwaltungsgericht teilte diese Auffassung und legte die Frage infolge dessen dem EuGH zur Entscheidung vor. Der Gerichtshof sah in der deutschen Fassung der Entscheidung grundsätzlich keine Schwierigkeiten und stellte fest, dass die Wahl der Individualisierungsmöglichkeit Sache der Mitgliedsstaaten sei und die EG-Entscheidung weder eine namentliche Erfassung vorschreibe noch verbiete. Vielmehr enthalte die durch das deutsche Recht gewählte Auslegung der Vorschrift nichts, was die in den „allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, ent333
BVerfGE 37, 271. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 32007, Art. 1 GRCh, Rn. 1. 335 Vgl. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, 1033 (1035 f.). 336 EuGH, Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419. 337 Borowsky, Die Grundrechtecharta als normatives Fundament der Europäischen Union, in: Leiße (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 147 (148); Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK, 2015, 153 ff. 334
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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haltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte“.338 Auch wenn sich der EuGH in diesem Zusammenhang weder konkret mit der Frage der Menschenwürde noch mit dem Schutz einzelner Grund- und Menschenrechte befasste, stellte er die grundsätzliche Existenz und Bedeutung subjektiver Rechte klar. Ferner betonte Generalanwalt Römer in seinen Schlussanträgen ausdrücklich die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die durch wertende Rechtsvergleichung zu ermittelnde gemeinsame Wertvorstellungen der nationalen Rechte und insbesondere der nationalen Grundrechte seien und als ungeschriebener Teil des Gemeinschaftsrechts beachten werden müssen.339 Davon ausgehend entwickelte der EuGH in den folgenden Jahren in einer langen Reihe von Entscheidungen eine detaillierte Rechtsprechungspraxis zu den Grundrechten, wobei er sich in späteren Urteilen zunehmend auch auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle bezog, die neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten die Grundlage der Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz bildete und als Basis der gemeinsamen Strukturen und Ziele der Gemeinschaft zu sehen ist.340 So schuf der EuGH auf der Grundlage der Regelung des Art. 164 EGV a.F., dem heutigen Art. 220 EGV, den Grundstein eines umfassenden Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene, der die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anerkennt, gewährleistet und schützt.341 Dabei berief sich der Gerichtshof auf die gemeinsame Wertvorstellung der Mitgliedsstaaten und die Verfassungstraditionen der einzelnen nationalen Verfassungsrechte, insbesondere die darin enthaltenen Grundrechte. Die verschiedenen kulturellen und geistesgeschichtlichen Einflüsse der Mitgliedsstaaten spiegeln sich in der Auslegung der einzelnen Grundrechte wider und finden dadurch insgesamt Eingang in die Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte.342 Dies war insbesondere dem Umstand geschuldet, dass die Grundrechte nicht in allen mitgliedsstaatlichen Verfassungen im gleichen Maße verankert waren. Der EuGH betonte in seinen Entscheidungen immer wieder die Bedeutung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht und der Rechtserkenntnisquellen, auf deren Grundlage der europäische Grundrechtsschutz aufbaut: „Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährleistung dieser Rechte hat der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen. Er kann keine Maß-
338
EuGH, Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (425). EuGH, Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (428). Vgl. auch Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 32007, Art. 1 GRCh, Rn. 2. 340 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 22013, Einleitung, Rn. 27 ff.; Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 32007, Art. 1 GRCh, Rn. 1 f. 341 Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 32007, Art. 1 GRCh, Rn. 2. 342 Vgl. dazu ebenfalls die Ausführungen unter B. II. 339
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
nahmen als Rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten.“343
Ausgehend von der Heranziehung der EMRK – und nach ihrer Proklamation auch der Charta der Grundrechte – als Rechtserkenntnisquellen entwickelte der EuGH einen Katalog gemeinsamer Werte, Strukturen und Ziele, die der Gemeinschaft zugrunde liegen und allen Mitgliedsstaaten gemeinsam sind und die Identität der Europäischen Union in ihrem Selbstverständnis als Wertegemeinschaft entscheidend beeinflussen.344 Diese Werte wurden mit dem Vertrag von Maastricht in Art. 6 EUV verankert und erfuhren insofern nicht nur eine ausdrückliche Normierung, sondern auch besondere Betonung und Bestätigung.345
II. Entwicklungen post Stauder Der EuGH hatte sich mit der Frage der Menschenwürde bisher nur in begrenztem Maße in wenigen Entscheidungen auseinandergesetzt und sie nach der Entscheidung Stauder – mit Ausnahme einzelner Entscheidungen – eher am Rande erwähnt, ohne auf einzelne Aspekte des Menschenwürdeschutzes einzugehen. Weitere Entwicklungen zeigten sich jedoch im Bereich der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft. So wurde im Zusammenhang mit der Frage der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und der entsprechenden Verordnung (VO [EWG] 1612/68) die Menschenwürde thematisiert. In der Begründung der Verordnung heißt es: „Damit das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann, muß sich die Gleichbehandlung tatsächlich und rechtlich auf alles erstrecken, was mit der eigentlichen Ausübung einer Tätigkeit im Lohnoder Gehaltsverhältnis und mit der Beschaffung einer Wohnung im Zusammenhang steht; […].“346
Gestützt auf die Menschenwürde wurde damit der besondere Schutz der Familie des Arbeitnehmers begründet, die durch diese Bezugnahme als objektiver Maßstab und Grundsatz des Gemeinschaftsrechts betont wird.347 Die Bestrebung, gleichmä343
EuGH, J. Nold, Kohlen- und Baustoffgroßhandlung ./. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (491 – 2. Leitsatz) = NJW 1975, 518 (518, Leitsatz b). 344 Vgl. Calliess/Ruffert-Kingreen, EUV/AEUV, 42011, Art. 6 EUV, Rn. 6 f. 345 Vgl. Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 1, Rn. 33; Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/EGV, 32007, Art. 1 GRCh, Rn. 3. 346 VO (EWG) Nr. 1612/68, ABl. L 257 vom 19. 10. 1968, 2. Online verfügbar unter: http:// www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/InternePolitikfelder/Sozial/Pdf/VO_1 612_68.pdf (zuletzt abgerufen am 18. 9. 2015). 347 VO (EWG) Nr. 1612/68, ABl. L 257 vom 19. 10. 1968, 2. Vgl. auch Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 6 f.
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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ßige Bedingungen für die Freizügigkeit von Arbeitnehmern im Bereich der Union zu schaffen, verbunden mit der bestmöglichen Integration der gesamten Familie und der Verpflichtung der einzelnen Staaten, nicht nur Hindernisse der Integration zu beseitigen, sondern auch die Mobilität des Arbeitnehmers und seiner Familie zu fördern, wird durch die Bezugnahme zur Menschenwürde auf eine grundsätzliche Wertebasis gestellt. Dieser Bezug ist auch mit den Änderungen, zuletzt durch die Freizügigkeitsrichtlinie 2004,348 erhalten und ausdrücklich weitergeführt worden.349 Neben der Rechtssache Stauder, als Ausgangspunkt der europäischen Grundrechtsprechung, sind die Entscheidungen zu Diskriminierung eines Transsexuellen, zur Biopatentrichtlinie und in Sachen Omega-Spielhallen zur Zulässigkeit von Tötungsspielen für die Entwicklung des Menschenwürdeschutzes von besonderer Bedeutung. Diese sollen im Folgenden unter dem Blickwinkel der Analyse der Funktionen, die die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH übernimmt, erfolgen. Dabei soll untersucht werden, ob aus der Entscheidungspraxis des Gerichtshofes ein Konzept der Menschenwürde nachgezeichnet werden kann.
III. „Transsexuellen“-Entscheidung Die Bedeutung der Rechte der Person und dabei in besonderem Maße das Recht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde wurden in der 1996 ergangenen „Transsexuellen“-Entscheidung des EuGH hervorgehoben und bestärkt.350 Das Industrial Tribunal Truro (Vereinigtes Königreich) ersuchte den Gerichtshof in einer Vorabentscheidung zur Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 hinsichtlich der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bezug auf den Zugang zu Beschäftigung, Berufsbildung und beruflichem Aufstieg sowie bezüglich der geltenden Arbeitsbedingungen. Die im Ursprungsverfahren anhängige Klage eines geburtsgeschlechtlichen Mannes gegen seine Kündigung aufgrund der geplanten und auch durchgeführten Geschlechtsumwandlung beschäftigte sich eingehend mit der Frage der Selbstbestimmung der Person und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen unabhängig der Vornahme geschlechtsändernder Eingriffe.351 Die Klägerin war als Mann Geschäftsführer einer Bildungseinrichtung. Nach Mitteilung ihrer Absicht, eine Geschlechtsumwandlung operativ vornehmen zu 348
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates „über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG“. 349 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 7. 350 EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143. 351 EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (I-2159 f.).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
lassen, wurde ihr zunächst eine offene, tolerante Haltung entgegengebracht, die sich jedoch im Folgenden änderte und nach Vornahme des ersten operativen Eingriffs zur Kündigung führte.352 Das Industrial Tribunal Truro sah in diesem Vorgehen eine Diskriminierung, für die im englischen Recht jedoch keine entsprechenden Vorgaben bestanden und wandte sich mit dieser Frage an den EuGH.353 Sowohl der Gerichtshof als auch der Generalanwalt sahen eine gewisse Schwierigkeit in der Anwendung der Richtlinie auf den vorliegenden Fall, da die grundsätzliche Ausrichtung der Richtlinie an die traditionellen Dichotomie Mann/Frau anknüpft.354 Jedoch stellte der Gerichtshof fest, dass eine solche Diskriminierung nicht nur gegen Art. 5 der Richtlinie, sondern auch gegen die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts verstoße. Das Tolerieren einer solchen Diskriminierung laufe darauf hinaus, dass gegen die Achtung der Würde der Person und die grundsätzliche Freiheit verstoßen werde, auf die jeder einen Anspruch habe und die durch den Gerichtshof zu schützen sei. Der EuGH nimmt in seinen Ausführungen nur am Rande Bezug auf die Menschenwürde, ohne weiter darauf einzugehen,355 und stellt lediglich fest, dass die Diskriminierung eines Transsexuellen aufgrund seines Geschlechts „gegen die Achtung der Würde und der Freiheit“ verstößt.356 Damit stellt der Gerichtshof dennoch die Bedeutung der Menschenwürde und der Freiheit als Grundwerte der Union ausdrücklich heraus. Er unterstreicht zudem die Bedeutung des Gleichheitssatzes über den traditionellen Bereich hinaus: „Zunächst ist zu bemerken, daß, wie der EGMR festgestellt hat, ,unter „Transsexuellen“ gewöhnlich solche Personen zu verstehen sind, die, obwohl sie körperlich dem einen Geschlecht angehören, das Gefühl haben, sie gehörten dem anderen Geschlecht an; sie versuchen häufig, zu einer kohärenteren und weniger zweifelhaften Identität zu gelangen, indem sie sich einer ärztlichen Behandlung und chirurgischen Eingriffen unterziehen, um ihre körperlichen Merkmale ihrer Psyche anzupassen. Die in dieser Weise operierten Transsexuellen stellen eine recht gut bestimmte und definierbare Gruppe dar‘ […]. Die Richtlinie ist somit nur eine Ausprägung des Gleichheitsgrundsatzes, der eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts darstellt, in dem betreffenden Bereich. Wie der Gerichtshof außerdem bereits wiederholt festgestellt hat, stellt das Recht, nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden, eines der Grundrechte des Menschen dar, deren Einhaltung er zu sichern hat […]. Unter diesen Umständen kann der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht auf die Diskriminierungen beschränkt werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu dem einen oder dem anderen Geschlecht ergeben. In Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die
352
Siehe zum Sachverhalt im Einzelnen EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (I-2146 ff.). 353 EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (I-2159). 354 EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (I-2152 f.). 355 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 80 f. 356 EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (I-2165).
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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sie schützen soll, hat die Richtlinie auch für Diskriminierungen zu gelten, die ihre Ursache, wie im vorliegenden Fall, in der Geschlechtsumwandlung des Betroffenen haben.“357
Ebenso wie in der Entscheidung in der Rechtssache Stauder ist diese 1996 ergangene Entscheidung im Hinblick auf den Begriff der Menschenwürde im europäischen Recht rein textlich wenig ergiebig. Dennoch betont der EuGH in seinen Ausführungen ausdrücklich den Anspruch auf Achtung und Schutz der Menschenwürde auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene, auch wenn er dabei nicht weiter auf den genauen Schutzumfang eingeht. Dadurch wird gleichwohl das grundsätzliche Bestehen eines Würdeschutzes auf europäischer Ebene geklärt sowie die Funktion der Menschenwürde als subjektives Recht des Einzelnen und objektiv zu wahrender Grundsatz der Rechtsordnung klargestellt. Der EuGH greift damit zwei Aspekte auf, die eng mit dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG verbunden und in der Normierung der Menschenwürde in Art. 1 S. 2 GR-Charta ebenfalls festgehalten sind.358 Der Anspruchscharakter des Menschenwürdeschutzes wird neben der grundsätzlichen Bedeutung als Wert und Auslegungsgrundsatz eindeutig anerkannt, auch wenn die Entscheidung inhaltlich wenige Anhaltspunkte liefert.359 Offen bleibt das Problem der Konturenbestimmung des Würdeschutzes, das weit schwieriger und von besonderer Bedeutung für den Umgang mit der Menschenwürde im europäischen Recht ist.
IV. Entscheidung zur Biopatentrichtlinie Mit der Entscheidung zur Biopatentrichtlinie 2001360 ist eine grundlegende Veränderung im Umgang des EuGH mit der Menschenwürde zu beobachten. Die Bezugnahmen auf die Menschenwürde waren bis zu dieser Entscheidung gering; eine allgemeine Anerkennung der Menschenwürde als Rechtsprinzip war nicht allen mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen bekannt, wodurch eine Bezugnahme im Gemeinschaftsrecht nur verhalten erfolgte. Dies hat sich mit der ausdrücklichen Anerkennung der Menschenwürde als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts in Rahmen dieser Entscheidung des EuGH geändert.361 In der Entscheidung zur EG-Richtlinie 98/44/EG (Biopatentrichtlinie) hatte der EuGH im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EG über deren Geltung zu
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7079.
EuGH, P. ./. S. und Cornwall County Council, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (I-2165). Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 817. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 817 ff. EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-
361 Vgl. dazu insgesamt Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 8 f.
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entscheiden.362 Im Rahmen der Entscheidung ging es um die grundsätzliche Zulässigkeit der Richtlinie per se. Die Richtlinie regelte die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, biotechnologische Erfindungen durch nationale Patente zu schützen, und gab zu diesem Zweck vor, welche Erfindungen, die Tiere, Pflanzen oder den menschlichen Körper zum Gegenstand haben, patentierbar sind und welche nicht.363 Die Niederlande wehrten sich gegen diese Vorgabe des Unionsrechts dahingehend, dass die Patentierung solcher gentechnischer Veränderungen von Tieren und Pflanzen sowie der Produkte dieser Verfahren grundsätzlich abzulehnen und eine solche unionsrechtliche Verpflichtung nicht gewünscht sei.364 Die Biopatent-Richtlinie ermöglichte es grundsätzlich, verschiedene Ergebnisse technischer und wissenschaftlicher Forschung des biotechnologischen Bereichs durch Patente zu schützen, unter anderem eben auch Ergebnisse, die unter Verwendung des menschlichen Körpers und seiner Teile erzielt worden sind. Die Richtlinie legt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit und den genauen Umfang der Verwendung pflanzlicher, tierischer und menschlicher Materialien in „Erfindungen“ für die Patentierbarkeit fest. Die Niederlande rügten im Zusammenhang der von Ihnen erhobenen Klage unter anderem die Verletzung des „Rechts auf Menschenwürde“, das als Grundrecht des Gemeinschaftsrechts anerkannt sei, durch die gebotene Möglichkeit des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie, isolierte Bestandteile des menschlichen Körpers oder damit verbundene Forschungsergebnisse, die unter Verwendung menschlicher Materie entstanden sind, zu patentieren.365 Der menschliche Körper als Mittler der Menschenwürde werde dadurch zum Objekt gemacht.366 Darin liege eine Kommerzialisierung und mithin Verobjektivierung durch eine Nutzung des Menschen, die mit der menschlichen Würde nicht vereinbar sei und somit die Nichtigkeit der Richtlinie nach sich ziehen müsse.367 Der EuGH kam im Rahmen dieser Entscheidung nicht umhin, sich mit der Gewährleistung und dem Schutz der Menschenwürde auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts auseinanderzusetzen und in diesem Kontext die Schutzdimension differenzierter als bisher erfolgt zu erfassen. Die Grundzüge des Würdeschutzes und Aspekte des Schutzumfangs waren dabei von zentraler Bedeutung.368 Obwohl die Klage im Ergebnis 362 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7085). 363 Vgl. EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7085 f.). 364 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7087) = EuZW 2001, 691 (691 f.). 365 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7139). Vgl. auch Rau/Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448 (2448). 366 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7139). 367 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7140 ff.). 368 Vgl. dazu Rau/Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, 2448.
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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abgewiesen wurde, da der EuGH in den Vorgaben der Richtlinie und gerade in Art. 5 einen ausreichenden Schutz der Menschenwürde sah, und damit die Vorgaben der Richtlinie insgesamt als angemessen und mit den Grundrechten in Einklang stehend erachtete, stellt diese Entscheidung für den Schutz der Menschenwürde auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene in der Rechtspraxis einen entscheidenden Eckpunkt der Entwicklung dar. Grundsätzlich sollte mit der Biopatentrichtlinie ein weiterer Schritt der gemeinschaftlichen Rechtsangleichung vollzogen werden, der die grundlegende Bedeutung technologischen Fortschritts für die Industrie betont und dieser mit dem Schutz biotechnologischer Erfindungen Rechnung trägt. Jedoch gehen gerade im Bereich der Biotechnologie die mitgliedsstaatlichen Regelungen und Vorstellungen des rechtlich und moralisch Zulässigen weit auseinander, wodurch auch die Funktionsfähigkeit des Transfers im Rahmen des Binnenmarktes beeinträchtigt wurde. Somit sollte durch die Schaffung einheitlicher Rahmenbedingungen die Harmonisierung im Sinne des Art. 100a EGV gefördert und zugleich Investitionen im Bereich der Biotechnologie ermöglicht werden. Auf dieser Grundlage sah die Richtlinie die Patentierbarkeit von Erfindungen vor, deren Gegenstand Pflanzen, Tiere oder eben auch der menschliche Körper sind.369 In besonderem Maße rief dabei Art. 5 der Richtlinie erheblichen Widerstand hervor, der die Patentierbarkeit isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers vorsah.370 Die maßgeblich in Frage stehende Regelung des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie erlaubte die Patentierbarkeit isolierter Bestandteile des menschlichen Körpers insofern als: „Ein isolierter Bestandteil des menschlichen Körpers oder ein auf andere Weise durch ein technisches Verfahren gewonnener Bestandteil, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, kann eine patentierbare Erfindung sein, selbst wenn der Aufbau dieses Bestandteils mit dem Aufbau eines natürlichen Bestandteils identisch ist.“371
Die damit ermöglichte „Nutzung“ menschlichen Materials und darüber hinausgehend die wirtschaftliche Verwertung durch Patentierung rief die Befürchtung hervor, der Mensch werde dadurch instrumentalisiert und seiner Subjektivität beraubt. Er werde im weiteren Verlauf zum Objekt der Forschung und viel schlimmer der Wirtschaft. Dies bedrohe die Selbstbestimmung des Spenders bzw. des Emp-
369 Vgl. dazu die Ausführungen bei Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 82 f. 370 Die von den Niederlanden eingereichte Klage ging in ihrer Argumentation zwar noch weiter und stütze sich auf andere Aspekte, die ihrer Ansicht nach zur Nichtigkeit der Richtlinie führen müssen. Jedoch standen diese in keinem weiteren Zusammenhang mit der Menschenwürde und sind folglich nicht weiter interessant für die vorliegende Betrachtung. So wurde unter anderem die irrtümliche Wahl des Art. 100a EGV als Rechtsgrundlage der Richtlinie, der Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip ebenso gerügt, wie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und die Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen. Vgl. EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 = EuZW 2001, 691. 371 Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 der Biopatentrichtlinie, Abl. L 213/13 vom 30. 7. 1998.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
fängers des Materials, das im Wege biotechnologischer Erzeugungsprozesse entstanden sei oder verwertet werde.372 Der EuGH führte in seiner Entscheidung zu den vorgebrachten Bedenken zunächst aus, Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie gewährleiste grundsätzlich die Achtung der menschlichen Integrität und Individualität, indem es dort heiße: „Der menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung sowie die bloße Entdeckung eines seiner Bestandteile, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens, können keine patentierbaren Erfindungen darstellen.“373
Dadurch werde der menschliche Körper in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien geschützt und einer Verwendung und Patentierung entzogen. Gegenstand der Patentierung können insoweit „nur Erfindungen sein, die einen natürlichen Bestandteil mit einem technischen Verfahren verknüpfen, durch das dieser im Hinblick auf eine gewerbliche Anwendung isoliert oder reproduziert werden kann“.374 Somit sei es zwar grundsätzlich möglich, dass Material menschlichen Ursprunges als Teil einer Erfindung in ein Patent mit einbezogen werde, der Mensch selbst könne jedoch nicht als Objekt verwertet oder nutzbar gemacht werden, so der Gerichtshof. Die Richtlinie diene somit nur dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Zudem sei Art. 6 der Richtlinie insoweit zu berücksichtigen, als dadurch das Patentrecht in Bezug auf die menschliche Materie so streng gefasst sei, dass der menschliche Körper tatsächlich unverfügbar und unveräußerlich bleibe, wodurch die Menschenwürde gewahrt sei.375 Art. 6 der Richtlinie verbietet ausdrücklich die gewerbliche Verwertung von Erfindungen, die gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen und zählt dazu exemplarisch in Absatz 2 als nicht patentierbar auf: „a) Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen; b) Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens; c) die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken; d) Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität von Tieren, die geeignet sind, Leiden dieser Tiere ohne wesentlichen medizinischen Nutzen für den Menschen oder das Tier zu verursachen sowie die mit Hilfe solcher Verfahren erzeugten Tiere.“376
372 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7142 ff.) = EuZW 2001, 691 (695). 373 Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 der Biopatentrichtlinie, Abl. L 213/13 vom 30. 7. 1998. 374 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7169) = EuZW 2001, 691 (695). 375 Vgl. dazu insgesamt EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/ 98, Slg. 2001, I-7079 (I-7168 ff.) = EuZW 2001, 691 (696). 376 Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 der Biopatentrichtlinie, Abl. L 213/13 vom 30. 7. 1998.
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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Durch dieses ausdrückliche Verbot, solche Erfindungen gewerblich zu nutzen, und die Auflistung des Kataloges in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie sieht der Gerichtshof eine ausreichende Achtung der Identität und Integrität des Menschen gegeben. Art. 6 schließe eine Nutzung menschlichen Materials zu gewerblichen Zwecken weitgehend aus und schütze vor einer Nutzung des Menschen als Objekt der Erfindung.377 In seinen Ausführungen greift der Gerichtshof zwei wesentliche Attribute auf, die im deutschen Rechtsdenken mit der Menschenwürdegarantie eng verbunden sind: Die Unverfügbarkeit und die Unveräußerlichkeit des Einzelnen.378 Ohne Bezugnahme auf einen konkreten Rechtstext stellt das Gericht die Menschenwürde als unveräußerlich und unverfügbar dar und entwickelt eine Art „Objektformel“ auf europäischer Ebene. Der Mensch kann aufgrund seiner Würde nicht Objekt, nicht „Gegenstand“ wirtschaftlicher Erwägungen sein und seine Würde steht im unabdingbaren Widerspruch zur „Nutzung“ des Menschen. Damit wird ein Gedanke aufgegriffen, der auch in der deutschen Menschenwürdedogmatik in der Dürig’schen Objektformel zum Ausdruck kommt. Der von Dürig gewählte Ansatz knüpft dabei an die moralphilosophischen Ausführungen Kants an, der im Rahmen seiner „Selbstzweckformel“, die Subjektqualität des Vernunftwesens unterstrichen hat.379 Die europäische Geistesgeschichte der Menschenwürde, die sich eigenständig und unabhängig von den nationalen Mitgliedsstaaten entwickelt hat, schließt die Ansätze Kants für die Entwicklung einer Dogmatik im Bezug auf die Menschenwürde ebenfalls mit ein. Aufgrund der Anforderungen des europäischen Rechts, ein Recht der Gemeinschaft zu sein, das die heterogene Struktur der Gemeinschaft widerspiegelt, ist jedoch eine strikte Trennung von partikularen ethisch-religiösen Konzepten notwendig; dennoch können diese im Rahmen der Auslegung und Anwendung als Ausgangspunkt herangezogen werden, wie diese Entscheidung verdeutlicht.380 Darüber hinaus zeigt sich die besondere Bedeutung und der Stellenwert dieser Entscheidung darin, dass der EuGH erstmals die Menschenwürde als eigenständiges Schutzgut und „allgemeinen Rechtsgrundsatz“381 des Gemeinschaftsrechts anerkannt und auf die Stufe des Primärrechts erhebt. Der Gerichtshof überwacht die Einhaltung der allgemeinen Grundsätze und als solchen auch der Menschenwürde durch die Mitgliedsstaaten und prüft die Vereinbarkeit ihrer Handlungen mit diesen 377 Vgl. dazu EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7168 ff.) = EuZW 2001, 691 (695 f.). 378 EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7168 ff.). 379 Vgl. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (127 ff.) und ebenso Maunz/Dürig-Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 28. 380 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 34. 381 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 83. Vgl. auch EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7170).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Grundsätzen, um die Beachtung der Menschenwürde und des Grundrechts der Unversehrtheit der Person sicherzustellen.382 Ferner wird durch die vorgenommene Verknüpfung der Menschenwürde mit dem Grundrecht auf Unversehrtheit der Person ein weiterer Aspekt im Schutzumfang des europäischen Rechts zur Menschenwürde hinzugefügt, der richtungsweisend für die Sicht der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht ist und auch im deutschen Recht zu den Kerngedanken des Würdeschutzes gehört. Die Menschenwürde ist nicht nur die Basis der Grundrechte des Gemeinschaftsrechts, sondern vielmehr Voraussetzung und Maßstab der Rechtmäßigkeitsanforderungen an die Rechtsakte der Europäischen Union.383 Indes lässt die Entscheidung trotz der ihr zukommenden Bedeutung keine Bezugnahme zu völkerrechtlichen Übereinkommen oder gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten erkennen. Der Gerichtshof nimmt die Menschenwürde wie selbstverständlich als Teil und vielmehr noch als grundsätzlichen Wert des Gemeinschaftsrechts an, und dies, obgleich ein staatsübergreifendes Verständnis nicht gegeben ist. Gleichwohl ist zu beachten, dass diese Entscheidung in der von ihr gewählten Deutlichkeit eine Ausnahme bildet. Der EuGH greift im Hinblick auf die Frage der Menschenwürde viele Aspekte unkommentiert auf und bringt sie in die Entscheidung ein, ohne weitere Erläuterungen oder Definitionen zu bieten, die die Begrifflichkeit in das Recht der Europäischen Union einführen würde. Ein Bezug zur Charta der Grundrechte, die zu diesem Zeitpunkt als unverbindliche Rechtsquelle zur Verfügung stand, wird ebenso außer Acht gelassen wie eine nähere Ausführung zu den Verbindungen der Menschenwürdebegrifflichkeit zu mitgliedsstaatlichem Recht oder Aspekten des Lebensschutzes und der körperlichen Integrität. Dennoch zeigt sich hier der Ansatz eines eigenständigen Würdekonzeptes im europäischen Recht. Ergänzend ist die Entscheidung des Gerichtshofes im Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV Brüstle ./. Greenpeace384 als eines von mehreren Vorabentscheidungsverfahren im Zusammenhang mit der Auslegung der Biopatentrichtlinie zu betrachten. In diesem Verfahren ging es um eine Vorlagefrage des BGH an den EuGH betreffend die Auslegung der EG-Richtlinie 98/44/EG hinsichtlich des Verständnisses des Art. 6 der Richtlinie, insbesondere der Begriffe „menschliche Embryonen“ und „Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken“.385 Im Rahmen dieser Entscheidung war das genaue Verständnis der Vorgaben der Richtlinie und der Grenzen der Nutzung menschlicher Stammzellen zu Forschungszwecken von zentraler Bedeutung. Das Spannungsverhältnis zwischen medizinischer Forschung und dem absoluten Schutz der menschlichen Würde, die auch im Rahmen des Unionsrechts die Grenze der zulässigen Forschung setzt, tritt dabei besonders deutlich hervor. Der EuGH erörterte zunächst 382
Vgl. EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7168). 383 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 83. 384 EuGH, Brüstle ./. Greenpeace, Rs. 34/10, Slg. 2011, I-9821 = GRURInt 2011, 1045. 385 EuGH, Brüstle ./. Greenpeace, Rs. 34/10, Slg. 2011, I-9821 (I-9822 f., I-9867).
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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die Notwendigkeit einheitlicher Definitionen im Unionsrecht und betonte in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts. Die Richtlinie selbst enthält zwar keine Definition des Begriffes des menschlichen Embryos. Aber ohne eine einheitliche Definition „bestünde die Gefahr, dass die Urheber bestimmter biotechnologischer Erfindungen versucht wären, deren Patentierung in denjenigen Mitgliedsstaaten zu beantragen, die die engste Konzeption des Begriffes des menschlichen Embryos verwenden und somit in Bezug auf die Möglichkeit der Patentierung am großzügigsten sind, weil die Patentierung dieser Erfindung in den anderen Mitgliedsstaaten ausgeschlossen wäre“386, so der Gerichtshof. Dem Ziel der Harmonisierung und Angleichung der rechtlichen Vorgaben der Mitgliedsstaaten würde eine solche Handhabung zuwiderlaufen. Daher sei für die Anwendung der Richtlinie der Begriff als „autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen, der im gesamten Gebiet der Union einheitlich auszulegen ist“.387 Für die Auslegung eines solchen Begriffes des menschlichen Embryos sei auf den Zusammenhang und die Ziele der Regelung abzustellen. Der Gerichtshof greift daher für die Auslegung auf die Begründung der Richtlinie zurück. Dabei stützt er die Notwendigkeit einer weiten Auslegung des Begriffes auf den Umstand, dass nur dadurch jede Möglichkeit einer Patentierung ausgeschlossen werden könne, die die Achtung der menschlichen Würde verletzt: „Insoweit ist der Begründung der Richtlinie zu entnehmen, dass diese zwar Investitionen auf dem Gebiet der Biotechnologie fördern soll, bei der Verwertung biologischen Materials aber die Grundrechte und vor allem die Menschenwürde gewahrt werden müssen. Insbesondere unterstreicht der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass das ,Patentrecht […] unter Wahrung der Grundprinzipien ausgeübt werden [muss], die die Würde und die Unversehrtheit des Menschen gewährleisten‘. […] Der 38. Erwägungsgrund stellt klar, dass diese [des Art. 6 der Richtlinie] Aufzählung nicht abschließend ist und dass alle Verfahren, deren Anwendung gegen die Menschenwürde verstößt, ebenfalls von der Patentierbarkeit auszunehmen sind […]. Der Zusammenhang und das Ziel der Richtlinie lassen somit erkennen, dass der Unionsgesetzgeber jede Möglichkeit der Patentierung ausschließen wollte, sobald die der Menschenwürde geschuldete Achtung dadurch beeinträchtigt werden könnte. Daraus folgt, dass der Begriff des menschlichen Embryos im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. C der Richtlinie weit auszulegen ist.“388
Neben den Grundlinien der Auslegung des Begriffes des „menschlichen Embryos“, wird noch einmal die Bedeutung des Schutzes der Menschenwürde auf unionaler Ebene deutlich. Jegliche die Menschenwürde verletzende Handlungen sind danach zu unterlassen und durch die Mitgliedsstaaten in der Anwendung der Richtlinie auszuschließen. Dies unterstreicht den umfassenden Schutz der Menschenwürde sowie seine absolute Geltung. 386
EuGH, Brüstle ./. Greenpeace, Rs. 34/10, Slg. 2011, I-9821 (I-9869). EuGH, Brüstle ./. Greenpeace, Rs. 34/10, Slg. 2011, I-9821 (I-9869). 388 EuGH, Brüstle ./. Greenpeace, Rs. 34/10, Slg. 2011, I-9821 (I-9871) = GRURInt 2011, 1045 (1047). 387
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Eine ähnliche Diskussion wurde ebenfalls im Zusammenhang mit dem „Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin“ (Bioethik-Konvention) des Europarates vom 4. April 1997 geführt, wodurch ein Mindeststandard im Bezug auf verschiedene Bereiche medizinischer Therapien und biomedizinischer Forschung festgelegt werden sollte. Das mit der Bioethik-Konvention verbundene Spannungsverhältnis von Menschennutzung und Menschenrettung durch die Indienstnahme und vermeintliche Instrumentalisierung des Betroffenen als (bloßes) Objekt rief massive Kritik an der Konvention hervor.389 Der bestehende Widerspruch einer solchen „Indienstnahme“ des Menschen zugunsten eines medizinischen Fortschritts zu den Grundwerten der Gemeinschaft wurde dabei wiederholt gerügt. Die Möglichkeit der Nutzung nicht einwilligungsfähiger Menschen für fremdnützige Zwecke stieß dabei auf heftigste Bedenken.390 Gleichwohl ist mit der Bioethik-Konvention eine einheitliche Regelung für ein höchst umstrittenes Feld geschaffen worden, deren Entwicklung weiterhin aufmerksam zu beobachten ist. Eine ähnliche Debatte schloss sich an die Entscheidung zur Biopatentrichtlinie hinsichtlich einer möglichen Nutzung embryonaler Stammzellen unter Zerstörung des Embryos für kommerzielle und industrielle Zwecke und der Zulässigkeit einer solchen Nutzung, an.391 Die Frage, ob auch Erfindungen patentierbar seien, die unter Nutzung von menschlichen Erzeugnissen entstanden sind und mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergehen, hat der Gerichtshof jedoch eine klare Absage erteilt.392 Damit hat er seine Rechtsprechung in diesem Bereich bestätigt und ausgeweitet. Die Nutzung des Menschen unter Inkaufnahme seiner Zerstörung und damit eine „Indienststellung“ für die Forschung ist mit den Grundsätzen der Union und den Grundwerten, wie der Menschenwürde, nicht vereinbar. Die Menschenwürde als absoluter Schutz der Individualität und Subjektivität des einzelnen Menschen kommt damit deutlich zum Ausdruck.
V. Entscheidung in der Sache Omega Spielhallen- und Automaten-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn In diesem Kontext ist noch eine weitere Entscheidung des EuGH hervorzuheben, die sich in die Reihe der (wenigen) Entscheidungen einreiht, in der die Menschen389
Vgl. Picker, Menschenrettung durch Menschennutzung?, JZ 2000, 693 (695). Vgl. zum Spannungsfeld Menschenrettung vs. Menschennutzung Picker, Menschenrettung durch Menschennutzung?, JZ 2000, 693 ff. 391 Siehe dazu im Einzelnen Straus, Zur Patentierung humaner embryonaler Stammzellen in Europa, GRURInt 2010, 911 ff. m.w.N. 392 Straus, Zur Patentierung humaner embryonaler Stammzellen in Europa, GRURInt 2010, 911 (921 f.). 390
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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würde nicht nur am Rande gestreift wurde, sondern eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Menschenwürde aus Sicht des europäischen Rechts erfolgte. Die Entscheidung in der Rechtssache Omega Spielhallen- und Automaten-GmbH gegen die Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn393 aus dem Jahre 2004 bot dem Gerichtshof eine weitere Möglichkeit, den Schutz und die Achtung der Menschenwürde auf europäischer Ebene zu konkretisieren. Grundlage dieses Verfahrens war die Entscheidung der Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn als zuständige Ordnungsbehörde, das „gespielte Töten“ im Rahmen von Laserspielen zu untersagen, da durch die Spielabläufe eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliege, indem Tötungshandlungen simuliert und Gewalt verharmlost würde. Die Omega Spielhallen- und Automaten-GmbH (im Folgenden Omega GmbH) als Veranstalter dieser Laserspiele wehrte sich gegen die ergangene Ordnungsverfügung und legte, nach erfolglosem Instanzenzug, Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein.394 Sie rügte dabei unter anderem auch die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 14 GG in Form des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und ihres Rechts auf freie Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 GG. Ein Entgegenstehen des Art. 1 Abs. 1 GG gegen das betriebene Spielformat sei nach Ansicht der Betreiber nicht ersichtlich. Das Bundesverwaltungsgericht erwägte die Revision nach den Grundsätzen des deutschen Rechts abzuweisen, legte jedoch die Entscheidung hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht dem EuGH vor, der das Verbot einer bestimmten betrieblichen Betätigung aufgrund entgegenstehender Wertentscheidungen mit der Waren- und Dienstleistungsfreiheit zu beurteilen hatte.395 Im Ergebnis sah der Gerichtshof die ergangene Verbotsverfügung als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar an und lehnte eine Rechtsverletzung zu Lasten der Bertreiber ab. Dem Gemeinschaftsrecht stehe das nationale deutsche Verbot der simulierten Tötung nicht entgegen.396 Bereits die Schlussanträge in diesem Verfahren sind für das Verständnis der Menschenwürde von besonderem Interesse. Die Generalanwältin Stix-Hackl würdigte ausführlich die Sachvorträge der Ordnungsbehörde und der Omega GmbH und ging insbesondere auf die Bedeutung der Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht ein. Sie widmete sich dabei speziell den Konturen der Menschenwürde als Rechtsbegriff.397 Besonders ins Auge fällt, dass sie zu Beginn der Ausführungen auf 393 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609. 394 BVerwGE 115, 189. 395 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9613 ff.). 396 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Leitsatz). 397 Vgl. dazu insgesamt EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9630 ff.).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
die Komplexität des Begriffes der Menschenwürde hinwies und die Schwierigkeit der Konturfassung den „Versuchen“ einer solchen voranstellt: „[k]aum ein Rechtsbegriff ist wohl juristisch schwieriger zu erfassen als jener der Menschenwürde. Im Folgenden soll versucht werden, wenigstens einige Konturen dieses Konzepts anzudeuten.“398
Ferner fügt sie im Weiteren ihrer Ausführungen hinzu: „[…] Der Begriff der Menschenwürde selbst ist nämlich – ebenso wie der Begriff des Menschen, auf den er unmittelbar verweist – ein Gattungsbegriff, der als solcher keiner klassischen juristischen Definition oder Auslegung im eigentlichen Sinne zugänglichen ist; vielmehr kann er vor allem durch richterliche Feststellungen im Einzelfall inhaltlich konkretisiert werden.“399
Damit wird auch im gemeinschaftsrechtlichen Kontext auf die (notwendige) Begründungsoffenheit der Menschenwürdegarantie verwiesen, ohne die die Anwendung der Menschenwürde nicht ihrer Bedeutung gerecht erfolgen könne. Zu erheblichen Anwendungsschwierigkeiten führe insofern, dass die Konturen des Würdebegriffes anhand von Einzelfallgestaltungen und Negativerwägungen bestimmt werden müssen. An diesen Gedanken anknüpfend wählt die Generalanwältin den auch im deutschen Recht zu findenden Weg der Annährung über die negative Eingrenzung und zieht darüber hinaus die grundsätzlichen Erwägungen der Objektformel mit heran.400 Allen voran stellt sie zunächst den Grundsatz heraus, „die Menschenwürde“ bringe „den obersten Achtungs- und Wertanspruch zum Ausdruck, der dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen soll“.401 Den Schutz der Natur des Menschen um seiner selbst Willen sieht sie einem anthropologischen Verständnis der Menschenwürde folgend auch im Gemeinschaftsrecht als eine Art „tragendes Konstitutionsprinzip“, das sich auf die Wahrnehmung des Menschen in seiner „Substanz“ stützt.402 Dabei betont sie die vorstaatlichen Wurzeln der Menschenwürde ebenso wie die außerrechtlichen Begründungszusammenhänge. Diese Gedanken finden sich in gleicher Weise im deutschen Menschenwürdediskurs wieder. Die Rückbesinnung auf die Würde als Reflektion des Menschen selbst und die Betonung seiner Individualität sind zentraler Ausdruck des Art. 1 GG. Die Generalanwältin führt aus, die Menschenwürde sei „Substrat und Ausgangspunkt aller Menschenrechte“, die sich „aus ihr heraus differenzieren“, 398
EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9630). 399 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9633). 400 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 93. 401 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9631). 402 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9631).
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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gleichzeitig sei „sie perspektivischer Fluchtpunkt der einzelnen Menschenrechte, auf den hin diese zu verstehen und zu deuten sind“.403 In diesem Zusammenhang nimmt sie Bezug auf die deutsche Rechtsdogmatik der Menschenwürde, in der von der Menschenwürde als tragendes Konstitutionsprinzip die Rede sei.404 Gleichwohl sieht sie in der Menschenwürde kein eigenständiges Grundrecht und grenzt damit die Gemeinschaftsrechtsordnung explizit vom deutschen Art. 1 GG ab. Diese Ablehnung der Grundrechtsqualität folge im Wesentlichen aus der Verbindung der Menschenwürde zu den Grundrechten, die sie erst ausformen und ausformulieren. Dadurch gewinne die Menschenwürde erst in den einzelnen Grundrechten eine „konkrete inhaltliche Gestalt“ als Wertungs- und Auslegungskriterium, fungiere jedoch nicht selbst als justiziable Rechtsnorm.405 Dies werde vom Gerichtshof jedoch, wie sie im Weiteren anführt, anders gehandhabt; das Gericht sehe die Menschenwürde in einem dem Art. 1 GR-Charta vergleichbaren weiten Verständnis und erfasse die Menschenwürde sowohl als Grundrecht als auch als Verfassungsprinzip und orientiere sich damit zum Teil wieder am deutschen Vorbild:406 „Das Gemeinschaftsrecht steht einem nationalen Verbot einer in der gewerblichen Veranstaltung von Spielen mit simulierten Tötungshandlungen an Menschen bestehenden wirtschaftlichen Tätigkeit, das zum Schutz der öffentlichen Ordnung wegen einer in dieser Tätigkeit gesehenen Verletzung der Menschenwürde ergeht, nicht entgegen. Diese Maßnahme kann nämlich nicht als eine Maßnahme angesehen werden, die den freien Dienstleistungsverkehr ungerechtfertigt beeinträchtigt, da zum einen der Grundrechtsschutz in Anbetracht dessen, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes abzielt, ein berechtigtes Interesse darstellt, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie des freien Dienstleistungsverkehrs, bestehen, und da zum anderen die fragliche Maßnahme dem Grad des Schutzes der Menschenwürde entspricht, der mit der nationalen Verfassung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats sichergestellt werden sollte, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich ist.“407
Interessant sind dabei in den Ausführungen der Generalanwältin, auf die im Folgenden der Gerichtshof in seinen Entscheidungsgründen Bezug nimmt, die Betonung der Bedeutung des Individuums und der Selbstbestimmtheit des Menschen. In diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung sind die religiösen, philoso403
EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9631). 404 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9631). 405 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9633). 406 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9635). 407 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Leitsatz).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
phischen und weltanschaulichen Begründungen, die die Grundlage dieser Werte bilden.408 Während die Generalanwältin noch weiter die Bedeutung der Menschenwürde als Fundament und Grundausrichtung betont und dabei explizit sowohl die EMRK als auch weitere völkerrechtliche Übereinkommen heranzieht, die der Konturenbildung zuträglich sind, verzichtet der Gerichtshof auf solch umfangreiche Ausführungen und verweist lediglich auf einen Teil der Ausführungen der Generalanwältin, insbesondere bezogen auf die EMRK und weitere völkerrechtliche Übereinkommen sowie die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten: „Damit hat der Gerichtshof die Achtung der Menschenwürde jedenfalls als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts und als Maßstab und Voraussetzung der Rechtmäßigkeit von Gemeinschaftsakten anerkannt. […] Die Annahme, dass der Gerichtshof die Menschenwürde – als allgemeinen Rechtsgrundsatz im Sinne eines Wertungsprinzips –, jedoch nicht als selbstständige Anspruchsgrundlage anerkennt, scheint zunächst auch mit der Unterscheidung in der deutschen Urteilsfassung zwischen ,Beachtung‘ (der Menschenwürde) und ,Grundrecht‘ (auf Unversehrtheit) nahe liegend, jedoch findet diese Auffassung keine Stütze in den übrigen Sprachfassungen einschließlich der Verfahrenssprache (Niederländisch), in denen durchweg ohne diesbezügliche Unterscheidung vom ,Grundrecht‘ auf Achtung der Menschenwürde die Rede ist. Der Gerichtshof scheint damit der Menschenwürde ein vergleichbar weitgehendes Verständnis zugrunde zu legen, wie es in Artikel 1 der Charta der Grundrechte der EU zum Ausdruck kommt. Dieser Artikel lautet wie folgt: ,Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.‘“409
Wie diese Ausführungen der Generalanwältin zeigen, ist die Menschenwürde im Gemeinschaftsrecht von erheblicher Bedeutung. Auch wenn in dieser Entscheidung die Äußerungen des EuGH eher kurz gehalten sind, stellt der Gerichtshof einen ausdrücklichen Bezug zur Menschenwürde und zu den Ausführungen der Generalanwältin her, wodurch sich der Rückschluss eröffnet, dass der Gerichtshof diese Äußerungen auch inhaltlich teile.410 Er macht sich die Ausführungen der Generalanwältin durch die Bezugnahme zu Eigen und unterstreicht die Bedeutung der Menschenwürde im europäischen Recht. Insofern kann auf die Ausführungen der Generalanwältin verwiesen werden. Hervorzuheben sind aus dem Urteil selbst noch die Erwägungen des Gerichtshofes zur Bedeutung mitgliedsstaatlicher Grundwerte und zur Menschenwürde direkt. So stellt der Gerichtshof ausdrücklich heraus: „In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Grundrechte nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat; dabei lässt er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über 408 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9631 f.). 409 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9634 f.). 410 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9653).
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedsstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind.“411
Und fügt im Weiteren bekräftigend noch hinzu: „Wie die Generalanwältin in den Nummern 82 bis 91 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, zielt die Gemeinschaftsrechtsordnung unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ab. Somit ist das Ziel, die Menschenwürde zu schützen, unzweifelhaft mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, ohne dass es insoweit eine Rolle spielt, dass in Deutschland dem Grundsatz der Achtung der Menschenwürde die besondere Stellung eines selbstständigen Grundrechts zukommt.“412
Diese Ausführungen des Gerichts zeigen, dass die Menschenwürde auch auf der Ebene des Europarechts durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt ist. Die Frage, ob die Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht anzuerkennen ist, bleibt jedoch offen. Er folgt zwar weder explizit noch implizit der Ansicht der Generalanwältin, die die Menschenwürde gerade nicht als Grundrecht erachtet, tritt dieser aber auch nicht entgegen. Er macht deutlich, dass die Anerkennung des Grundrechts der Menschenwürde, wie sie im deutschen Recht ausgestaltet ist, bekannt ist, betont jedoch, dass dies „keine Rolle“ spiele für das gemeinschaftsrechtliche Ziel, die Menschenwürde zu schützen.413 Diese Formulierung zeigt bewusst, dass der Gerichtshof die Einordnung der Menschenwürde als selbstständiges Grundrecht nicht vornimmt und auch insoweit eine Entscheidung dieser Frage dahinstehen lässt. Die Ausführungen der Generalanwältin weisen darauf hin, dass eine Anerkennung der Menschenwürde als eigenständiges Grundrecht nicht unumstritten ist. Sie führte dazu aus, dass im Gemeinschaftsrecht eine „Regelung wie sie etwa nach deutscher Verfassung besteht, wonach – zumindest nach wohl überwiegender Auffassung – die Achtung und der Schutz der Menschenwürde, wie sie in Artikel 1 des Grundgesetzes verankert ist, nicht nur ein ,tragendes Konstitutionsprinzip‘, sondern auch ein eigenständiges Grundrecht darstellt, […] als Ausnahmefall gelten [muss].“414
Als wesentlichen Grund für diese Annahme sieht die Generalanwältin den Umstand, dass „die Menschenwürde erst über ihre Ausformungen und Ausformulierungen in den einzelnen Grundrechten konkretere inhaltliche Gestalt gewinnt und im Verhältnis zu diesen als Wertungs- und Auslegungskriterium fungiert“.415 Der Be411
EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9652 f.). 412 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9653). 413 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9653) = NVwZ 2004, 1471 (1472). 414 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9633). 415 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9633).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
griff der Menschenwürde sei ebenso wie der Begriff des Menschen, auf den er unmittelbar Bezug nehme, ein Gattungsbegriff und als solcher keiner klassisch juristischen Definition oder Auslegung im eigentlichen Sinne zugänglich.416 Die darin zum Ausdruck kommenden Bedenken gegen die Fassbarkeit des Begriffes der Menschenwürde spiegeln die Diskussion um die Anerkennung des Würdesatzes als eigenständiges Grundrecht im deutschen Recht wider.417 Im deutschen Recht ist jedoch durch die ausdrückliche Normierung der Menschenwürde ein entscheidender Unterschied zum Gemeinschaftsrecht gegeben. Das Gemeinschaftsrecht kannte die Menschenwürde – bis zum Inkrafttreten der Charta der Grundrechte – nur als richterrechtlich entwickelten Grundsatz, der als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht verankert war. Es stellt sich daher trotz der grundsätzlichen Äußerungen des Gerichtshofes zur Menschenwürde und den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts die Frage, ob das vom Gerichtshof zu Grunde gelegte Menschenwürdeverständnis von einer absoluten Gewährleistung der Menschenwürde ausgeht. Dies kann der vorliegenden Entscheidung nicht entnommen werden. Gegenstand des Verfahrens war eine Vorlagefrage zur Vereinbarkeit einer auf die Verletzung der Menschenwürde gestützten ordnungsbehördlicher Verbotsverfügung mit der Dienstleistungsfreiheit. Die Frage des Schutzes der Menschenwürde durch das Gemeinschaftsrecht wurde daher nur am Rande berührt, war jedoch nicht selbst Gegenstand des Verfahrens. Vielmehr ging es dem EuGH darum, dass die ergriffenen Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu den Rechten des Betroffenen stehen müssen.418 Eine Abwägung der Menschenwürde oder Relativierung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist nicht vorgenommen worden und war auch seitens des Gerichtshofes nicht beabsichtigt. In den Ausführungen der Parteien und der Generalanwältin zum Verfahren zeigen sich jedoch die kulturell und historisch begründete Achtung der Menschenwürde im deutschen Recht, die kein gemeinsames europäisches Gut darstellt. Der Umgang des Gemeinschaftsrechts und seiner Organe mit der Menschenwürde weist deutliche Unterschiede zum deutschen Recht auf, was hinsichtlich der Gewährleistung des Schutzes insofern als bedenklich erachtet werden muss, als die Gefahr besteht, dass der gewährte Schutz hinter dem durch das deutsche Recht gewährten zurück bleiben kann.419 Dies könnte im Extremfall dazu führen, dass Handlungen, die 416 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9633). 417 Vgl. dazu die Ausführungen im ersten Teil unter C. I. 1. a). 418 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (I-9653 f.). 419 In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht zu beachten. Gerade mit der Solange-IIRechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht einen ausreichenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene anerkannt, der zwar z. T. hinter den deutschen Regelungen zurück bleibe, jedoch ein ausreichendes Maß an Schutz gewährleiste. Aus diesem Blickwinkel ist eine kritische Betrachtung der einzelnen Fälle zwar durchaus geboten, jedoch kein direkter Grund zur Sorge gegeben. Vgl. BVerfGE 37, 271 (Solange-I); 73, 339 (Solange-II).
E. Die Menschenwürde in der Rechtsprechung des EuGH
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die Menschenwürde verletzen, auf Ebene der Union nicht als solche erfasst und folglich nicht geahndet würden. Hinzu kommt noch das hier auftretende Spannungsverhältnis innerhalb der Union durch unterschiedliche Bewertung einer Handlung, die einzelstaatlich aufgrund der Verletzung grundlegender Werte verboten wird, obwohl sie in einem anderen Mitgliedstaat erlaubt und dort auch mit einem umfassenden Franchisekonzept betrieben wird. Dies wirft die Frage eines einheitlichen Schutzkonzeptes im Gemeinschaftsrecht auf: Inwieweit kann in einem solchen Fall von Gemeinschaftswerten ausgegangen werden, die allen Unionsstaaten gemeinsam sein sollen? Der Gerichtshof stellt in solchen Fällen einen Mindeststandard auf der Grundlage der richterrechtlich entwickelten und gemeinschaftsrechtlich anerkannten Grundrechte her. Dieser Mindeststandard entspricht dabei jedoch vielfach nicht dem nationalen Schutzniveau, wie die vorliegende Entscheidung zeigt. Gleichwohl war zum Zeitpunkt der Entscheidung die Charta der Grundrechte noch unverbindlicher Katalog und hat erst fünf Jahre nach der Entscheidung Rechtsverbindlichkeit erlangt, so dass die Frage, ob sich dadurch ein gemeinsamer Schutzstandard der Menschenwürde ergeben wird, offen blieb. Mittlerweile kann die Frage bejaht werden. Mit der Entscheidung der Mitgliedsstaaten die Charta der Grundrechte als rechtsverbindlichen Grundrechtskatalog durch den Vertrag von Lissabon auszugestalten, ist die Entscheidung für einen gemeinsamen Schutzstandard erfolgt. Dabei wurde die Menschenwürde als oberster Wert und Grundrecht in Art. 1 der Charta der Grundrechte verankert.420 Abzuwarten bleibt jedoch im Folgenden die genau Ausformung der Reichweite und Grenzen dieses Schutzes.
VI. Fazit In der Rechtsprechung des EuGH zeigt sich in der vorgenommenen Auslegung der einzelnen Rechtsakte zum einen eine Bezugnahme auf eine gemeinschaftliche Werteordnung, zum anderen die Einbeziehung von Grundrechten in die Auslegung, seit ihrem Inkrafttreten auch aus der Charta der Grundrechte.421 Der EuGH als oberster Gerichtshof der Europäischen Union wacht über den Erhalt und die Sicherung eines gemeinsamen Schutzstandards der Mitgliedsstaaten. An dem Schutz der Menschenwürde durch die Rechtsordnung der Union besteht kein Zweifel (mehr). Auch vor Inkrafttreten der Charta der Grundrechte zeichnet sich dieser Schutz bereits deutlich in der Rechtsprechung des EuGH ab. Gleichwohl hat die Menschenwürde als „Metagrundrecht“ in den Entscheidungen des Gerichtshofes
420
Vgl. Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 358. 421 Vgl. Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110 (1113).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
keine klare und eindeutige Struktur erlangt, es besteht kaum eine fassbare Kontur.422 Die Entscheidungspraxis des EuGH zeigt jedoch, dass die Menschenwürde einen festen Bestandteil der Rechtsprechung und der daraus entwickelten Grundrechte bildet.423 Sie ist Teil der europäischen Rechtsordnung sowohl als objektiver Wert als auch als subjektives Recht.424 Diese besondere Bedeutung der Menschenwürde als hochrangiger Wert und zum Teil als individuelle Anspruchsgrundlage wird in der Normierung im Rahmen der Charta der Grundrechte deutlich. Auch wenn die Ausführungen des Gerichtshofes immer fallbezogen die Frage des Schutzes und der Achtung der Menschenwürde thematisierten, zeigen sich die grundsätzlichen Aspekte eines umfassenden Würdeschutzes, ähnlich dem des Art. 1 Abs. 1 GG. Auf unionaler Ebene ist – spätestens seit Inkrafttreten der Charta der Grundrechte ausdrücklich – die Menschenwürde absolut garantiert und keiner Abwägung zugänglich.425 Dies zeigten bereits die Entscheidungen zur Biopatentrichtlinie und zur Zulässigkeit von Laserspielen (Omega Spielhallen- und Automaten-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn)426. Diese Entscheidungen können die vielfach geäußerten Bedenken entkräftet, die Menschenwürde sei auf europäischer Ebene ein abwägbares Gut und habe keinen eigenen Rechtscharakter.427 Diese unter anderem im Rahmen der Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgebrachten Bedenken gründen auf eine Reihe von Entscheidungen des EuGH und sind nicht als völlig unzutreffend abzuweisen.428 Jedoch zeigt der Umgang des EuGH mit der Menschenwürdegarantie, dass die Menschenwürde insgesamt als absolut geschütztes Rechtsgut gesehen wird und dem in der Charta der Grundrechte verankerten Schutz entspricht. Die bestehenden Unsicherheiten beziehen sich dabei zum Teil auf die unterschiedlichen Konzepte der Menschenwürde in den Mitgliedsstaaten, die das gemeinsame europäische Konzept beeinflussen.429
422 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 88. 423 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 823. 424 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 358. 425 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 93. 426 EuGH, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH ./. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609. 427 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 95. 428 Vgl. BVerfGE 123, 267 und weiterhin Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 93. 429 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 94 ff.
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
267
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon als ablösender Kompromiss – Entscheidende Entwicklungen (auch) im europäischen Grundrechtsschutz? I. Regelungsgehalt und Zielsetzung des Verfassungsentwurfs und die Modifikationen des Vertrages von Lissabon Mit dem „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ (Verfassungsentwurf) sollte nach dem Vertrag von Nizza die Erweiterung der Europäischen Union ermöglicht werden und ein weiterer Schritt in der europäischen Integration erfolgen, durch den „mehr demokratische Legitimation, Transparenz und Effizienz“ herbeigeführt werden sollte.430 Die nahezu zwanzigjährige Entwicklung einer engen Zusammenarbeit der europäischen Staaten, die mit der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahre 1987 begonnen hatte, sollte mit dem Verfassungsvertrag einen Abschluss finden.431 Die Zusammenarbeit der europäischen Mitgliedsstaaten sollte intensiviert und ausgeweitet werden, um das Zusammenwachsen Europas zu fördern und voranzutreiben. In diesem Zusammenhang sollte der Verfassungsentwurf die Strukturen der Europäischen Union greifbarer und verständlicher machen.432 Dieses Bestreben stieß jedoch auf einigen Widerstand, der auch durch verschiedene Kompromisse nicht gelöst werden konnte. Obgleich eine gesamteuropäische Verfassung ein großer Schritt im Zuge der europäischen Zusammenarbeit gewesen wäre, wurde stetig Kritik und Zweifel an dem Konzept einer Verfassung für Europa laut.433 Die Konnotation, die der Begriff „Verfassung“ in vielen Mitgliedsstaaten hervorrief, schürte die Sorge einer zu weitgehenden Aufgabe der nationalen Eigenständigkeit. Es schien, als löse der Begriff der „Verfassung“ eine Assoziation mit einem Streben nach „Quasi-Staatlichkeit“ der Europäischen Union aus, der sich einige Mitgliedsstaaten zu widersetzen suchten.434 Nach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden war ein unverändertes Festhalten am Verfassungsentwurf nicht mehr möglich. Es folgte 430
Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (9). 431 Vgl. Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Vorbemerkungen. Vgl. auch Geiger/Khan/Kotzur-Geiger, EUV/AEUV, 52010, Präambel EUV, Rn. 8 ff. 432 Vgl. Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (28). 433 Vgl. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 (14). 434 Herdegen, Europarecht, 172015, § 4, Rn. 29. Siehe zu dieser Problematik und zum gesamten Entstehen des Verfassungsentwurfs auch die kurze Zusammenfassung bei Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (28 ff.).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
eine Phase des „Nachdenkens“435, durch die eine Lösung der institutionellen Krise gefunden werden sollte. Da ein Inkrafttreten des Verfassungsentwurfs in absehbarer Zeit nicht mehr möglich erschien, sollte ein Reformvertrag eine möglichst weitgehende Beibehaltung der geplanten Neuerungen ermöglichten, um so die vorgegebene Richtung weiter zu verfolgen.436 Dahingehend beschloss der Europäische Rat auf einer Tagung in Brüssel im Juni 2007 die Erarbeitung eines inhaltlich weitgehend identischen Vertrages, der als Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist.437 Der Vertrag von Lissabon bildete damit den Abschied von einem Verfassungsvertrag für Europa und ist formell in seiner Konzeption auch so ausgerichtet. Inhaltlich stützt er sich jedoch in vielen Bereichen auf die Ausrichtung des Verfassungsvertrages und greift die geplanten Änderungen in einem aus zwei Teilen zusammengefügten Reformvertrag auf und führte so zu grundlegenden Änderungen an den bestehenden Verträgen.438 Neben den Regelungen zur Kompetenzabgrenzung und zu institutionellen Veränderungen wurden mit dem Vertrag von Lissabon auch die allgemeinen Werte und Grundsätze der Union (erneut) festgeschrieben. Mit Art. 2 EUV enthält der Vertrag einen zusammenhängenden Katalog der Werte und Grundsätze, denen sich die Europäische Union verpflichtet sieht und die als Grundlage der Gemeinschaft allen Mitgliedsstaaten gemeinsam sind.439 Dieser Katalog umfasst neben Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit, auch die Menschenwürde als zentralen verpflichtenden Wert, der im Weiteren die Grundlage für die Achtung der Menschenrechte auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts bildet.440 Zudem nimmt Art. 6 Abs. 1 EUV Bezug auf die Charta der Grundrechte, die dadurch zwar nicht originärer Teil des Vertrages wird, wie dies ursprünglich im Rahmen der Verfassung geplant war, deren Status sich aber mit der Bezugnahme von einer bloß unverbindlichen Rechtserkenntnisquelle zu einer „primärrechtliche[n] Grundrechtsquelle“ wandelt.441
435 Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Vorbemerkungen. Zum Vertrag von Lissabon als Lösung der Krise Weidenfeld, Der Vertrag von Lissabon als historischer Schritt der Integration Europas – Aufbruch aus der Krise, in: ders. (Hrsg.), Lissabon in der Analyse. Der Reformvertrag der Europäischen Union, 2008, 13 ff. 436 Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (9). Zum zeitlichen Ablauf der Entstehung des Vertrages von Lissabon siehe Polsfuß, Chronologie der Entstehung des Vertrages von Lissabon, in: Weidenfeld (Hrsg.), Lissabon in der Analyse. Der Reformvertrag der Europäischen Union, 2008, 255 ff. 437 Herdegen, Europarecht, 172015, § 4, Rn. 30 f.; Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Vorbemerkungen. 438 Vgl. Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Vorbemerkungen. 439 Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (11). 440 Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 42011, Art. 2 EUV, Rn. 8 f. 441 Ludwig, Zum Verhältnis zwischen Grundrechtecharta und den allgemeinen Grundsätzen – die Binnenstruktur des Art. 6 EUV n.F., EuR 46 (2011), 715 (715).
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
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Durch die in Art. 2 EUV erfassten Werte sind die Leitlinien des Gemeinschaftsrechts festgelegt, die die Auslegung und Anwendung zukünftig prägen. Die Menschenwürde findet damit erstmals Eingang in einen Rechtsakt des Gemeinschaftsrechts und bildet als ausdrücklicher erstgenannter Wert des Kanons einen der höchsten Werte, der allen Staaten gemeinsam sein soll.442 Außerdem nimmt er ausgehend von dem früheren Art. 6 Abs. 2 EUV a.F./Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. im Zusammenwirken mit den Werten des Art. 2 EUV die wesentlichen Merkmale eines „gemeinsamen Gesellschaftsbildes“ der Gemeinschaft und der Mitgliedsstaaten auf und entwickelt diese weiter.443 Die Achtung der Grundwerte und damit auch der Menschenwürde gehört somit nicht nur zum Maßstab für den Beitritt zukünftiger Mitglieder (Art. 49 EUV), sondern kann im Falle einer Verletzung durch Sanktionen geahndet werden (Art. 260 AEUV).444
II. Menschenwürdeverständnis im Verfassungsentwurf und dem Vertrag von Lissabon – Die Charta der Grundrechte, die Bezugnahme in Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 2 EUV 1. Entstehung der Charta der Grundrechte – Neuland in der Entwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts Die Frage einer normativen Verankerung der Grundrechte im System des Gemeinschaftsrechts für die Europäischen Staaten wurde bereits seit den siebziger Jahren immer wieder thematisiert. Mit der stetigen Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts und der damit verbundenen Ausweitung der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten sowie der Kompetenzen der Europäischen Union bzw. der Gemeinschaften kam es nicht nur zu einer Erweiterung des Aktionsradius, sondern es zeichnete sich auch eine erhöhte Gefahr von Grundrechtsverletzungen ab.445 So gab es immer wieder Ansätze, einen geschriebenen Grundrechtskatalog für das Gemeinschaftsrecht zu entwickeln. Vielfach waren diese Bemühungen mit weiteren Reformvorschlägen verbunden, die in der Umsetzung jedoch meist hinter dem Gewünschten zurückblieben und eine Festschreibung des Grundrechtsschutzes nicht durchzusetzen vermochten.446
442 443
Rn. 1. 444
Vgl. Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62010, Art. 2, Rn. 1. Vgl. dazu insgesamt Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62010, Art. 2,
Vgl. Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 2, Rn. 2. v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 85. 446 Vgl. dazu im Einzelnen v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 85 ff. m.w.N. 445
270
Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
1999 beschloss der Europäische Rat die Errichtung eines Europäischen Grundrechtskataloges und reagierte somit auf die immer wieder gerügte Regelungslücke im europäischen Gemeinschaftsrecht. Er erteilte mithin das Mandat für die Erarbeitung der Charta der Grundrechte, die den richterrechtlich entwickelten Grundrechten den Rahmen eines gemeinsamen (verbindlichen) Grundrechtskataloges verleihen447 und die auf der Ebene der Europäischen Union gegenwärtig geltenden Grundrechte zusammenfassen und sichtbar machen sollten.448 Der Charta sollte dabei zunächst kein rechtsverbindlicher Charakter zukommen. Dieser Schritt folgte erst 2009. Sie stellte zunächst vielmehr eine politische Absichtserklärung dar. Dennoch entfaltete sie bereits im Zeitraum zwischen ihrer Proklamation 2000 und 2009 Wirkung.449 Indirekt diente die Charta bereits zu dieser Zeit als Auslegungshilfe und Rechtserkenntnisquelle. Die Erarbeitung der Charta wurde im Oktober 1999 einem Gremium, dem „Grundrechte-“ oder auch „Charta-Konvent“ übertragen.450 Er setzte sich aus 62 Mitgliedern zusammen, die den früheren deutschen Bundespräsidenten und Richter am Bundesverfassungsgerichts a.D. Roman Herzog zum Vorsitzenden wählten.451 Im Laufe der Beratungen entstand nach anfänglich geführten Generaldebatten und daran anknüpfenden Diskussionen über Textentwürfe innerhalb von sieben Monaten ein umfassender Textentwurf, der die Basis der abschließenden Beratungen des Konvents bildete. Nach neun Monaten intensiver Beratungen unter Beteiligung ver-
447
Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 20. Vgl. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, 21; de Burca, The drafting of the European Union Charter of fundamental rights, E.L.Rev. 26 (2001), 126 (130); Manhart/Maurer, EU-Verfassungsvertrag und Grundrechtscharta: Welche Auswirkungen hat die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag auf den Grundrechtsschutz in Europa?, MRM 2005, 160 (160). 449 Vgl. dazu insgesamt Manhart/Maurer, EU-Verfassungsvertrag und Grundrechtscharta: Welche Auswirkungen hat die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag auf den Grundrechtsschutz in Europa?, MRM 2005, 160 (160 f.). Vgl. außerdem Walter, Menschenwürde im nationalen Recht, Europarecht und Völkerrecht, in: Bahr/Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006, 127 (136 f.). 450 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 12 f. Die genauen Vorgaben zur Zusammensetzung und zur Arbeitsweise legte der Europäische Rat auf einem Sondergipfel zum Thema Justiz und innere Angelegenheiten am 15. und 16. Oktober 1999 im finnischen Tampere fest. Aufgrund der engen zeitlichen Vorgaben, die an die Entstehung des Grundgesetzes 1948/ 49 erinnerten, waren alle Mitglieder des Konvents dazu angehalten, möglichst zeitnah mit den Beratungen zu beginnen. So trat der Grundrechtekonvent bereits zwei Monate später am 17. Dezember 1999 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Vgl. auch v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 88 ff. 451 Vgl. insgesamt zur Zusammensetzung und zum Arbeitsverfahren die Ausführungen von Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 13 m.w.N. Ebenfalls zur Entwicklungsgeschichte der Charta ausführlich, vgl. v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 88 ff. 448
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
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schiedener gesellschaftlicher Gruppen,452 der damalig zu erwartenden Beitrittsländer und weiterer Institutionen legte der Konvent am 2. Dezember 2000 einen Entwurf der Charta der Grundrechte vor, der im Folgenden gebilligt und am 7. Dezember 2000 unterzeichnet und feierlich proklamiert wurde.453 2. Ziel- und Zwecksetzung der Charta Mit der Ausarbeitung der Charta sollten die vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelten Rechte zusammengefasst und damit für alle sichtbar gemacht werden. Die in entsprechenden Fallkonstellationen konkretisierten Rechte der Rechtsprechungspraxis sollten als umfassender Katalog zukünftig einen Handlungsmaßstab für die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedsstaaten bilden und durch ein höheres Maß an Transparenz Rechtssicherheit schaffen.454 Es ging dabei vorrangig nicht um die Konzeption neuer Rechte, sondern vielmehr um eine systematische Durchsicht und Erfassung der in der Rechtsprechung des EuGH enthaltenen Rechte. Die bestehenden Lücken sollten im Wege der Konzeption eines harmonischen und vollständigen Kataloges durch den Konvent geschlossen werden, um die immer wieder bemängelte Schwäche des Gemeinschaftsrechts,455 den fehlenden Grundrechtsschutz, zu schließen.456 Weiterhin bestand die Hoffnung, dass durch einen einheitlichen Katalog eine eigene Dogmatik des europäischen Grundrechtsschutzes entstehen könnte.457 Bei der Ausarbeitung der Charta sollten gemäß dem erteilten Mandat sowohl wirtschaftliche als auch soziale Rechte berücksichtigt werden, „wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind […], soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen“.458 Darüber hinaus waren Aspekte der Konkretisierung und Legitimierung ebenso wie eher politisch motivierte Ansätze der Integration mit der Entwicklung der Charta verbunden.459 452 Vgl. zu den einzelnen Gruppen und zu den hinzugezogenen Faktoren der Meinungsbildung des Konvents insgesamt v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 99 ff. m.w.N. 453 Vgl. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, 21 f. 454 v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 93. 455 Vgl. dazu insbesondere auch die „Solange I“ und „Solange II“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 37, 271; 73, 339) und die entsprechende Literatur. 456 v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 93 f. 457 Vgl. v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 94. 458 Vgl. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, 2010, 25. 459 Zur grundsätzlichen Legitimations-, Identitäts- und Integrationsfunktion und den in diesem Zusammenhang bestehenden Schwierigkeiten Sagmeister, Die Grundsatznormen in der
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Die Grundrechte, als wesentliche Werte des Gemeinschaftsrechts, sollten sowohl die Grenzen als auch die Grundlagen des hoheitlichen Handelns festschreiben und die Identifikation der Mitgliedsstaaten mit diesen Grundwerten fördern.460 Ihr primärer Zweck war folglich die Bekräftigung bestehender Rechte.461 Dies verdeutlichte der Europäische Rat auf einer Tagung in Köln in einem in diesem Rahmen gefassten Beschluss:462 „Die Wahrung der Grundrechte ist ein Gründungsprinzip der Europäischen Union und unerlässliche Voraussetzung für ihre Legitimität. Die Verpflichtung der Union zur Achtung der Grundrechte hat der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bestätigt und ausgeformt. Im gegenwärtigen Entwicklungsstand der Union ist es erforderlich, eine Charta dieser Rechte zu erstellen, um die überragende Bedeutung der Grundrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu verankern.“463
Die Grundrechte sind demnach von essentieller Bedeutung für die Europäische Union. Sie ist verpflichtet, diese zu wahren und zu achten. Im Rahmen dieses Grundrechtsschutzes umfasst die Charta der Grundrechte nicht nur die bestehenden richterrechtlich entwickelten Rechte und die Grundrechte der EMRK, sondern formt einen systematischen Katalog und „konkretisiert die Grundrechte nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen bis zu einer für Grundrechtskataloge üblichen Stufe“.464 Die damit verbundene besondere Betonung der Grundrechte sollte ihre fundamentale Bedeutung hervorheben und durch die klare Benennung allen Staaten und Bürgern der Gemeinschaft als gemeinsame Werte dienen.465 Zudem sollte mit dem entstehenden Grundrechtskatalog ein am Menschen orientierter, „für die Würde des Menschen eintretende[r] Geist in der Union“ verwirklicht werden.466 Damit wurde ein Maßstab für künftige Mitgliedsstaaten bezüglich der Anforderungen für ihre Aufnahme bzw. die Zustimmung zu ihrem Beitritt gesetzt, der entscheidend durch die Grundrechte und die Menschenwürde bestimmt wird.
Europäischen Grundrechtecharta, 2010, 25 ff. (27) m.w.N.; v. Arnim, Der Stand der EUGrundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 94 ff. 460 Vgl. v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 94 f. 461 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 83. 462 Vgl. dazu v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 92 ff. 463 Europäischer Rat von Köln, Anhänge zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anhang IV, Beschluß des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Bulletin der Europäischen Union, 1999/1, Bull. EU 6 – 1999, 39 f. 464 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 83. 465 Vgl. v. Arnim, Der Stand der EU-Grundrechtecharta in der Grundrechtsarchitektur Europas, 2006, 95 f. 466 Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1, Rn. 1.
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
273
3. Europäischer Grundrechtsschutz post Verfassungsentwurf – Fortschreibung im Vertrag von Lissabon Nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden stand das Inkrafttreten einer Europäischen Verfassung auf der Kippe. Der Europäische Rat wollte zunächst nicht die Idee des Verfassungsvertrages aufgeben und daher vorerst keine direkten Konsequenzen aus den Referenden ziehen.467 Der daraufhin ausgearbeitete europäische Reformvertrag, der als Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, griff inhaltlich die Grundlinien des Verfassungsentwurfs auf, übernahm jedoch nicht die von ihm ausgehende Symbolik.468 Neben dem Eintritt der Europäischen Union in die Rechtsnachfolge der Europäischen Gemeinschaft und der Ausgestaltung als einheitliches, mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattest Rechtssubjekt sowie dem Wegfall der Drei-Säulen-Struktur sieht der Vertrag von Lissabon gerade hinsichtlich des europäischen Grundrechtsschutzes zwei wesentliche Veränderungen vor.469 Zum einen sollte die Charta der Grundrechte mit dem Vertrag von Lissabon Rechtsverbindlichkeit erlangen – auch wenn sie nicht in den Vertragstext inkorporiert wurde – und zum anderen sollte die notwendige Grundlage für einen möglichen Beitritt der Union zur EMRK geschaffen werden.470 a) Verfassungsentwurf, Vertrag von Lissabon und die Charta der Grundrechte – Menschenwürdeschutz als Novum des Gemeinschaftsrechts Der Verfassungsentwurf sah vor, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Teil 2 vollständig zu inkorporieren. Dadurch wäre die Charta der Grundrechte direkter Bestandteil der europäischen Verfassung geworden, wodurch ihre Bedeutung unterstrichen worden wäre.471 Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages stellte sich die Frage der Inkorporation der Charta in den nun als Fortschreibung verstandenen Vertrag von Lissabon erneut. Im Ergebnis wurde die Inkorporation abgelehnt und nur die Festschreibung der Geltung der Charta in Art. 6
467
Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 16. Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (344). 469 Zur Änderung des europäischen Grundrechtsschutzes durch den Vertrag von Lissabon Pache/Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon – die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, EuZW 2008, 519 (519); Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (345). Vgl. ebenso die knappe allgemeine Darstellung bei Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 17 f. 470 Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (345). 471 Vgl. Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (347 ff.). 468
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
EUV aufgenommen.472 Insgesamt erlangte die Charta mit dem Vertrag rechtliche Gleichrangigkeit mit den Verträgen und somit rechtsverbindlichen Charakter.473 Damit bildete sie einen entscheidenden Schritt im europäischen Grundrechtsschutz, denn obgleich die Charta der Grundrechte schon am 7. Dezember 2000 feierlich proklamiert worden war, kam ihr zunächst keine Rechtsverbindlichkeit zu.474 Dies erfolgte erst mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon 2009. Die Gemeinschaftsgerichte zogen in diesem Zeitraum die Charta der Grundrechte lediglich als „Bekräftigung“ anderweitig festgestellter Rechtsgrundsätze heran oder berücksichtigten sie insoweit, als ein Sekundärrechtsakt in seiner Begründung Bezug auf sie nahm.475 Im Hinblick auf die Anwendung der Charta der Grundrechte stellt sich jedoch insofern ein Problem, als gemäß Art. 51 Abs. 1 GR-Charta der Anwendungsbereich auf die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips“476 begrenzt ist und für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Zudem haben sich das Vereinigte Königreich und Polen in einem Zusatzprotokoll (Nr. 30) zusichern lassen, dass weder der EuGH noch ihre nationalen Gerichte dazu befugt sind, die innerstaatlichen Vorschriften hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Charta zu überprüfen und gegebenenfalls eine Verletzung festzustellen, womit auch auf die Charta gestützte Individualklagen ausgeschlossen werden (sog. Opting-out-Regelung).477 Dies führt zwar zu einer Schwächung der Wirkung der Charta, aber nur begrenzt. Die Frage, ob und in welchem Maße von einer solchen Regelung Gebrauch gemacht werden wird, ist nicht klar und bleibt abzuwarten. Deutlich wird jedoch mit dem Inkrafttreten der Charta der Bestand eines festen Katalogs europäischer Grundrechtsgewährleistungen, die einen Schutz des Einzelnen und seiner Interessen auf europäischer Ebene bieten. Die Frage der Bedeutung und Stellung der Menschenwürde kann zunächst auf die Auseinandersetzung mit dem ersten Titel der Charta der Grundrechte und dabei speziell mit Art. 1 GR-Charta beschränkt werden, in dem sich die ausdrückliche Normierung des Würdeschutzes findet. In einem weiteren Schritt wird dann ein Blick auf die Normen des Art. 2 EUV, Art. 6 EUV und die Ausführungen der Präambel 472 Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (17). 473 Vgl. Lenz/Borchardt-Wolffgang, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 6 EUV, Rn. 1 ff.; Bielefeldt, Die Würde des Menschen. Fundament der Menschenrechte, in: Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, 105 (116). 474 Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (29). 475 Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (17). 476 Siehe den Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GR-Charta. 477 Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (17).
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
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geworfen, die den Schutz der Würde im europäischen Recht unterstreichen und bestärken. b) Die Würde des Menschen – Titel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ein umfassender Katalog? „Die Menschenwürde ist Leitgedanke und Fundament der Grundrechte.“478 Als solche ist die Menschenwürde in ihrer Bedeutung und ihrer Schutzbedürftigkeit unstreitig.479 Die Charta der Grundrechte beginnt nicht nur mit der Normierung des Schutzes der menschlichen Würde in ihrem Eingangsartikel, sondern stellt darüber hinaus das gesamte erste Kapitel unter die Überschrift „Würde des Menschen“. Damit unterstreicht die Charta die Bedeutung der Menschenwürde als Leitgedanken und grundlegenden Anspruch und versteht im weitesten Sinne alle Grundrechte als Konkretisierung dieses umfassenden Anspruches.480 Der erste Titel der Charta umfasst nicht nur den Schutz der Würde des Menschen. Art. 1 GR-Charta normiert die unantastbar gewährleistete Würde des Menschen, der Achtung und Schutz gebührt. In den folgenden Artikeln werden weiterhin das Recht auf Leben (Art. 2), das Recht auf Unversehrtheit (Art. 3) sowie das Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung (Art. 4) und der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 5) als wesentliche Rechte im Rahmen des Schutzes der Würde normiert. Damit fasst die Charta unter dem Oberbegriff der menschlichen Würde ein Spektrum verschiedener Rechte zusammen, die über die bloße Würdegarantie hinausgehen und vielmehr den unbestimmten Begriff der Würde weiter ausdifferenzieren. Den verschiedenen höchstpersönlichen Rechten des Menschen wird dadurch ein umfassender Schutz gewährt. Betrachtet man die Normierungen in den Art. 2 bis 5 GR-Charta wird deutlich, dass die dort gewährten Rechte zu einem großen Teil Elemente des deutschen Würdekonzeptes sind und insoweit eine Art Konzept auf europäischer Ebene – angelehnt an das Vorbild des Art. 1 GG481 – darstellen. 478 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 358. 479 Vgl. die Ausführungen von Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (543 f.); Groeben/Schwarze/Hatje-Augsberg, Europäisches Unionsrecht, GRC, 72015, Art. 1 Rn. 2. 480 Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 42011, Art. 1 GRCh, Rn. 2 f.; Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 359; Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen GrundrechteCharta, 2006, Art. 1, Rn. 14 ff. 481 Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (633). Diese Verbindung wird vielfach bejaht und z. T. sogar dahingehend ausgedehnt, dass der EuGH sich in seiner Rechtsprechung auch an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde orientieren könnte, wenn er mit einer Fragestellung zum Schutz der Würde befasst wird. Vgl. dazu zusammenfassend Jones, „Common Constitutional
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Die Artikel des ersten Titels der Charta stützen sich in ihrer Normierung auf vielfältige Vorbilder. Vorbild des Art. 1 war den Erläuterungen zufolge die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; daneben stützte sich der Konvent im Wesentlichen auf Art. 1 Abs. 1 GG und die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom 12. April 1989. Die Art. 2, 4, 5 und 6 GR-Charta lehnen sich an die entsprechenden Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention an. Art. 2 GR-Charta stützt sich demnach auf Art. 2 EMRK, Art. 4 GR-Charta auf den wortgleichen Art. 3 EMRK, Art. 5 GR-Charta bildet zumindest zum Teil Art. 4 EMRK ab und Art. 6 GR-Charta basiert weitgehend auf Art. 5 EMRK. Art. 3 GR-Charta beruht im Wesentlichen auf der Bioethikkonvention des Europarates sowie dem Zusatzprotokoll zum Verbot des reproduktiven Klonens.482 Dies verdeutlicht den Einfluss der EMRK auf die durch den EuGH entwickelten Grundrechte. Im Rahmen der richterrechtlichen Entwicklung diente sie als Rechtserkenntnisquelle und wurde hier zur Ausformulierung der Rechte in einem eigenständigen Katalog ebenfalls herangezogen. Art. 1 GR-Charta normiert nahezu wortlautgetreu den Schutz und die Achtung der Menschenwürde entsprechend Art. 1 Abs. 1 GG: „Art. 1 Würde des Menschen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“483
Diese „prioritäre Verankerung“ des Schutzes und der Achtung der menschlichen Würde ist gleichwohl nicht aus deutscher, wohl aber aus europäischer Sicht ein „revolutionärer Fortschritt“.484 Mit dem in diesen Sätzen enthaltenen Bekenntnis stellt auch die Europäische Union die ihr übertragene Hoheitsgewalt „in den Dienst des Menschen“ und betont dessen Individualität und „Selbstzweckhaftigkeit“.485 Art. 1 GR-Charta statuiert damit erstmals auf europäischer Ebene ein Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde. Auch wenn dieses in der Rechtsprechung schon vorher als Teil des Unionsrechts anerkannt war,486 findet es hier erstmals eine rechtsverbindliche Verankerung.487 Die damit geschaffene Gewährleistung richtet
Traditions“: Can the Meaning of Human Dignity under German Law Guide the European Court of Justice?, Public Law 2004, 167 (181 ff.). 482 Zum gesamten Abschnitt siehe Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, 70 ff. 483 Wortlaut Art. 1 GR-Charta vom 12. 12. 2007. 484 Alber/Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, 497 (500); Pache, Vorgaben des Menschenwürdeschutzes in Europa, in: Hilgendorf (Hrsg.), Menschenwürde und Demütigung, 2013, 23 (32 f.). 485 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 4. 486 So etwa in EuGH, Niederlande ./. Europäisches Parlament und Rat, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (I-7168). 487 Vgl. Calliess/Ruffert-Calliess, EUV/AEUV, 42011, Art. 1 GRCh, Rn. 1 ff. Vgl. weiterhin Mückenberger, Eine europäische Sozialverfassung?, EuR 2014, 369 (385).
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
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sich gegen jede Beschränkung der Menschenwürde.488 Herzog betonte ebenfalls ausdrücklich anlässlich der Diskussion um mögliche Grundrechtsschranken, dass die Unverletzlichkeit der Würde ein nicht einschränkbares Grundrecht ist und einen fundamentalen Wert bildet.489 Mit der Normierung eines umfassenden Rechtekatalogs und absoluter Rechte wird dieses Verhältnis auf eine neue Basis gestellt. Bezogen auf die besondere Bedeutung des Würdeschutzes bestand insoweit Einigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten. Der genaue Inhalt und die Konturen des Menschenwürdeschutzes bereiten jedoch Schwierigkeiten:490 Was genau von dem gewährten Schutz umfasst wird, ist aufgrund der Offenheit und der vielfältigen Einflüsse und Vorstellungen in der Union nur schwer fassbar und wird weiterer Annäherungen bedürfen.491 Dennoch wird deutlich, dass nach der Charta der Grundrechte ein uneingeschränkter Schutz der Würde des Menschen besteht, der schon dem Wortlaut des Art. 1 GR-Charta nach „unantastbar“ ist und damit bereits eine deutliche Absage an jede mögliche Einschränkung der Menschenwürde erteilt.492 Die „Unverfügbarkeit der Menschenwürde“ wird auch nicht durch den allgemeinen Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GR-Charta beschränkt.493 Dies verdeutlichen die durch das Präsidium beigefügten Erläuterungen zu Art. 1 GR-Charta, in denen ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass keines der Rechte der Charta zur Einschränkung der Menschenwürde verwendet werden oder eine Verletzung der Würde eines Menschen rechtfertigen kann und darf.494 Die Menschenwürde gehört zum Wesensgehalt der Konvention und der in ihr festgelegten Rechte und darf daher auch nicht durch Einschränkungen durch die Rechtsordnung verletzt werden.495 Die Würdegarantie ist ein grundlegender Wert und ein subjektives Recht zugleich.
488 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 361. 489 Vgl. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, 71. 490 Vgl. die Ausführungen von Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (547 f.). 491 Vgl. Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 361. 492 Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (641 f.). 493 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 98. 494 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 98 f. 495 Schmidt, Der Schutz der Menschenwürde als „Fundament“ der EU-Grundrechtscharta unter besonderer Berücksichtigung der Rechte auf Leben und Unversehrtheit, ZEuS 5 (2002), 631 (642).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
c) Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 EUV (n.F.) – trotz Verbindlichkeit der Charta notwendig? Art. 6 EUV n.F. bildet fast wortgleich die Regelung des Art. I-9 des Verfassungsvertrages ab und ist die Basis des Grundrechtsschutzes des unionalen Rechts.496 Er nimmt durch das in ihm zum Ausdruck kommende Anerkenntnis die Position eines „Grundrechtsanerkennungsartikel“497 ein und führt in seinen Absätzen die Rechtserkenntnisquellen der vom EuGH entwickelten Grundrechte auf. Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. bestimmt die grundsätzliche Achtung der Grundrechte durch die Europäische Union. Der Bezug der Grundrechte auf die Gewährleistung der EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten geht weitgehend auf die Rechtsprechung des EuGH zurück, der sich in seiner Grundrechtsprechung auf diese Quellen bezog.498 Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. stellt dabei, ebenso wie es zuvor Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. tat, klar, dass „die Grundrechte […] als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“499 sind. Vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon und damit dem Eintritt der Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte stützte sich der Grundrechtsschutz in Ermangelung geschriebener Rechtssätze auf Art. 6 Abs. 2 EUV a.F. und insbesondere die dort festgehaltenen Quellen.500 Mit dem Verbindlichwerden der Charta der Grundrechte erscheint die Beibehaltung der Regelung nun in Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. jedoch unnötig und wird zum Teil sogar dahingehend bemängelt, dass durch die damit geschaffene Generalermächtigung der Rechtsprechung die Möglichkeit eingeräumt wird, die Charta zu übergehen.501 Der durch die Charta gebotene Rechtsschutz sollte umfassend sein und eben die bisher aus der Rechtsprechung gebildeten Grundrechte zusammenfassend kodifizieren. Damit sollte nicht nur ein geschriebener Grundrechtskatalog für die Europäische Union entstehen, sondern auch die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelten Grundrechte transparent und verständlich erfasst werden. Dennoch lässt sich das Festhalten an Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. neben der Charta der Grundrechte rechtfertigen. Nach der Begründung des Europäischen Konvents kommt Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. die Funktion eines Auffangtatbestandes zu, der den umfassenden Schutz der vorrangig geltenden Charta ergänzen und so die Möglichkeit eröffnen soll, die Grundrechte der Charta in ihrer Interpretation an gesell496 Vgl. Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (345 f.). 497 Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (346); Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 (7). 498 Vgl. Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 61. 499 Wortlaut Art. 6 Abs. 3 EUV. 500 Vgl. Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 61 f. 501 Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (356 f.).
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
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schaftliche und politische Entwicklungen anzupassen.502 Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. kommt somit eine Ergänzungsfunktion zu, die die notwendige Flexibilität der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Schutz der Grundrechte gewährt. Dabei dürfen jedoch die festgeschriebenen Rechte und Regelungen der Charta nicht umgangen oder übergangen werden. Die Regelung des Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. ermöglicht es, die Wurzeln der Grundrechte, wie sie in der Charta verankert sind, zu dokumentieren und den starken Bezug zur Rechtsprechung des EuGH herzustellen und zu verfestigen.503 Jedoch ist aus Art. 6 Abs. 1 EUV n.F. (i.V.m. Art. 7 EUV n.F.) wohl kein direkter individuell durchsetzbarer Anspruch abzuleiten, er enthält keine Grundrechtsposition Einzelner.504 In diesem Zusammenhang sind die rechtliche Wirkung und Zielsetzung der Charta und der in Art. 6 EUV n.F. normierten Grundsätze verschieden. Dennoch ist Art. 6 EUV n.F. für den Grundrechtsschutz durch die aus ihm erwachsende Achtungs- und Schutzpflicht und die Auslegung von erheblichem Gewicht.505 Art. 6 Abs. 2 EUV n.F. bindet die Grundrechte der EMRK ausdrücklich in die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union unmittelbar mit ein und „normiert eine dreifache Säule des Grundrechtsschutzes der Union“.506 Der „Disput um die mittelbare und unmittelbare Achtung der Grundrechte der EMRK“ in der Europäischen Union wird damit nicht gelöst, jedoch wird die Bedeutung der EMRK als Erkenntnisquelle unstreitig unterstrichen.507 Darüber hinaus ist die erwähnte Entwicklungsoffenheit nach Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. ein entscheidender Bestandteil eines umfassenden Grundrechtsschutzes. Die im deutschen Grundgesetz geschaffene Offenheit durch Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und die damit gewährleistete Interpretations- und Entwicklungsmöglichkeit durch die Rechtsanwendung zeigt sich hier in der Ergänzung durch Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. Gerade im Hinblick auf den komplexen und stark entwicklungsbetonten Bereich des Schutzes der Menschenwürde, den Teil I der Charta der Grundrechte durch die Aufgliederung in einzelne Rechte und Bereiche einer gewissen Festlegung unterwirft, ist diese Möglichkeit der Reaktion auf Veränderungen ohne eine formelle Änderung der Normen, wichtig. Obgleich damit ein Nebeneinander der Charta der Grundrechte und der Regelung des Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. besteht und die vorrangige Geltung der Charta feststeht, ergeben sich gerade im 502 Vgl. Calliess/Ruffert-Kingreen, EUV/AEUV, 42011, Art. 6 EUV, Rn. 15 f.; Lenz/Borchardt-Wolffgang, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 6 EUV, Rn. 12. 503 Vgl. dazu insgesamt die Ausführungen von Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (357). 504 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 87. 505 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 87. 506 Borowsky, Die Grundrechtecharta als normatives Fundament der Europäischen Union, in: Leiße (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 147 (154). 507 Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union. System und allgemeine Grundrechtslehren, 2006, 69.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Hinblick auf die Wirksamkeit der Charta einige Fragen. So heißt es in den den Verträgen beigefügten Erklärungen: „Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die rechtsverbindlich ist, bekräftigt die Grundrechte, die durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert werden und die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben.“508
Danach bekräftigt die Charta lediglich die Grundrechte, wäre jedoch nicht primäre Rechtsquelle des Grundrechtsschutzes. Es wäre zudem eine Entwicklung von Grundrechten über die Charta hinaus möglich. Art. 6 Abs. 3 EUV n.F. käme dann zur Anwendung, wenn ein Sachverhalt nicht durch die Charta und die dort genannten Rechtsquellen abschließend geregelt ist. Dies führt zu der Frage, ob der Charta damit nur eine klarstellende und deskriptive Funktion zukommt. Dem steht der ausdifferenzierte Katalog der Charta entgegen, der über eine Klarstellung der richterrechtlich entwickelten Rechte hinausgeht. Obgleich noch viele Fragen und Details im Hinblick auf die Charta und die praktische Umsetzung offen sind, muss grundsätzlich der mit der Rechtsverbindlichkeit der Charta eingetretene Erfolg und der Fortschritt hin zu einem umfassenden Grundrechtsschutz auf Ebene der Union festgehalten werden. Die Entwicklung eines umfassenden Katalogs subjektiver Rechte des Einzelnen auf überstaatlicher Ebene zeigt die Bedeutung des Grundrechtsschutzes als Aspekt überstaatlicher Zusammenarbeit und unterstreicht die Position des Individuums auch im Verhältnis zur Europäischen Union. d) (Bindende) Werte und Prinzipien des Gemeinschaftsrechts? – Die Präambel und Art. 2 EUV Die Menschenwürde tritt mit der Normierung als grundlegender Wert des Gemeinschaftsrechts in Art. 2 EUV erstmals aus dem Grundsatzbereich heraus und gewinnt dadurch eine weiterreichende Bedeutung. Als Teil des Normtextes verlässt sie den Bereich der programmatischen Erklärungen der Präambel und erwächst als normativer Begriff. Art. 2 EUV entspricht im Wortlaut Art. I-2 des Verfassungsentwurfes, er nimmt die Grundsätze des Wertekatalogs des früheren Art. 6 Abs. 1 EUV a.F. auf und erweitert diesen.509 Nach Art. 6 Abs. 1 EUV a.F. in der Fassung des Vertrages von Maastricht gründete die Europäische Union auf den „Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“510, die allen Mitgliedsstaaten die gemeinsame Basis der Union 508
Schlussakte (Lissabon) mit Erklärungen, A. Erklärungen zu Bestimmungen der Verträge, 1. Erklärung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, EU-Vertrag, 62008, 341. 509 Vgl. Geiger/Khan/Kotzur-Geiger, EUV/AEUV, 52010, Art. 2 EUV, Rn. 1. 510 Wortlaut Art. 6 EUV in der Fassung des Vertrages von Maastricht.
F. Der Verfassungsentwurf für Europa und der Vertrag von Lissabon
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bilden.511 Im Rahmen der Fortentwicklung des Kataloges aus Art. 6 EUVa.F. wurden die „wesentlichen Eckpunkte des gemeinsamen Gesellschaftsbildes von EU und M[itgliedsstaaten] als qualifizierende Merkmale“512 zusammengeführt und als gemeinsame Basis festgeschrieben. Art. 2 EUV statuiert dabei in Verbindung mit der Präambel und den der Präambel beigefügten Erwägungsgründen, die grundsätzliche Ausrichtung der Europäischen Union auf einen einheitlichen – die Menschenwürde umfassenden – Wertekatalog, der die gemeinsamen fundamentalen Grundsätze bildet.513 Art. 2 EUV statuiert dabei die Menschenwürde als Grundwert der Union. Gerichtet ist Art. 2 EUV im Gegensatz zu Art. 1 GR-Charta stärker auf die Achtung der Würde des Menschen als Grundwert, der sich an den rechtshistorischen Ereignissen orientiert und darauf zurückzuführen ist. Die Charta der Grundrechte ist hingegen mehr auf eine gegenwärtige und zukünftige Entwicklung gerichtet, die einen Maßstab für Entwicklungen der Gesellschaft, Technologie und Medizin geben und Eingriffen zuvorkommen soll.514 Art. 2 EUV gewährt keinen vergleichbaren Rechtsschutz, sondern bildet nur die Festschreibung des Fundamentes der Gemeinschaft. Die Charta der Grundrechte geht gerade im Hinblick auf die Menschenwürde über Art. 2 EUV in der Bedeutung hinaus. Aufgrund der absoluten unantastbaren Geltung des Art. 1 GR-Charta ist Art. 2 EUV für einen umfassenden Würdeschutz nicht notwendig. Dennoch vervollständigt dieses Zusammenspiel der Charta und des Art. 2 EUV den Schutz der Menschenwürde auf unterschiedlichen Ebenen, der so die Bedeutung der Menschenwürde unterstreicht.
III. Fazit Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Grundrechtsschutz auf unionaler Ebene in verschiedener Hinsicht vorangebracht und eine „neue Phase des unionalen Grundrechtsschutzes“ eingeleitet.515 Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ist die Charta der Grundrechte verbindliches Primärrecht geworden. Die grundrechtlichen Gewährleistungen auf europäischer Ebene wurden damit endgültig zu einer objektiven Werteordnung zusammengefügt und erstmals in einem geschriebenen Grundrechtskatalog kodifiziert. Art. 1 GR-Charta, der im Wortlaut an das deutsche Grundgesetz anknüpft, bildet die Grundlage des Grundrechtekanons 511 Vgl. Gerards, Die Europäische Menschenrechtskonvention im Konstitutionalisierungsprozess einer gemeineuropäischen Grundrechtsordnung, 2007, 180 f. 512 Vgl. Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 2 EUV, Rn. 1. 513 Vgl. Lenz/Borchardt-Bitterlich, EU-Verträge Kommentar, 62012, Art. 2 EUV, Rn. 2. Vgl. auch Geiger/Khan/Kotzur-Geiger, EUV/AEUV, 52010, Art. 2 EUV, Rn. 1. 514 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 306. 515 Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (376 f.).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
und stellt die geschaffene Werteordnung auf die Basis der Menschenwürde, die der des deutschen Grundgesetzes vergleichbar ist.516 Der Begriff und die Formulierung des Menschenwürdeschutzes im unionalen Recht entsprechen nahezu dem deutschen Vorbild, was vor allem dem starken deutschen Einfluss im Chartakonvent geschuldet ist.517 Im Umgang mit dem Würdeschutz ist – soweit ersichtlich – ebenfalls eine Übernahme der deutschen Systematik in Ansätzen zu erkennen. Diese wird als Grundlage für die neugebildete Werteordnung auf unionaler Ebene genutzt um eine dem Charakter der Menschenwürde als gemeinschaftsrechtlicher Werte entsprechende Dogmatik herauszubilden. Die Rechtspraxis wird den spezifischen Bedürfnissen des Unionsrechts in der Anwendung der Charta insoweit gerecht, als die verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedsstaaten im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Charta berücksichtigt werden.518 Im Rahmen von Vorlageverfahren zu Richtlinienanwendung und -auslegung wird dem Grundsatz der Einheitlichkeit dahingehend Rechnung getragen, eine einheitliche Auslegung zu finden. Dies führt zu der Entwicklung eines eigenen Konzeptes der Grundrechte und insbesondere auch des Art. 1 GR-Charta, das als Konsens von allen Mitgliedsstaaten angenommen werden kann. Die in den weiteren Artikeln folgenden Rechte zeigen ebenfalls starke Parallelen zum deutschen Grundgesetz auf, gehen in ihren Einzelgarantien jedoch darüber hinaus. So werden das ausdrückliche Verbot der Folter in Art. 4 GR-Charta und das Verbot des Menschenhandels und der Sklaverei in Art. 5 GR-Charta im deutschen Grundgesetz in den Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG mit einbezogen und aus der Menschenwürdegarantie abgeleitet. In der Systematik der Charta der Grundrechte bilden diese Rechte anknüpfend an die EMRK eigenständige Grundrechte.519 Dies zeigt die Entwicklung der Charta der Grundrechte als eigenständiger Grundrechtskatalog und unterstreicht die Herausbildung einer eigenen europäischen Grundrechtsdogmatik. Darüber hinaus wird durch die Regelung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV n.F. der Beitritt der Union zur EMRK nicht nur ermöglicht, sondern sogar erwartet.520 Damit wird die lange völkerrechtliche Problematik des Beitritts dahingehend gelöst, dass die Union wie die anderen Mitgliedsstaaten beitreten kann, ohne dass sich dadurch die in den Verträgen statuierten Zuständigkeiten ändern (Art. 6 Abs. 2 S. 2 EUV n.F.). Der Vertrag von Lissabon eröffnet damit erstmalig eine vertragliche Grundlage, um einem Beitritt zur EMRK zu ermöglichen. Insgesamt erhebt der Vertrag von Lissabon die Charta zur wichtigsten Quelle des Grundrechtsschutzes der Union und ermöglicht einen Anschluss an die EMRK unter 516
Vgl. Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110 (1114). 517 Vgl. Herdegen, Europarecht, 172015, § 8, Rn. 24 f. 518 Vgl. dazu die Ausführungen von Herdegen, Europarecht, 172015, § 8, Rn. 15 ff., 24 ff. 519 Dorf, Zur Interpretation der Grundrechtecharta, JZ 2005, 126 (127). 520 Vgl. Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (360).
G. Weitere Maßnahmen der Europäischen Union
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Berücksichtigung der besonderen Strukturen der Union. Die Entwicklung eines umfassenden Konzeptes bleibt dabei abzuwarten, die Normierung hat insoweit die Grundlage dafür geliefert. Der unionale Grundrechtsschutz erreicht damit eine „neue Phase“ und schafft eine Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen des Grundrechtsschutzes in nationalen und internationalen Bereich.521
G. Weitere Maßnahmen der Europäischen Union Auf der Ebene der Europäischen Union sowie der darüber hinaus bestehenden Zusammenarbeit europäischer Staaten sind aufgrund der vielschichtigen Organisationsstrukturen der überstaatlichen Zusammenarbeit im Bereich des Schutzes der Grund- und Menschenrechte verschiedene Dokumente erarbeitet worden. Darauf soll ein kurzer Blick geworden werden. In vielen Bereichen findet sich in den Dokumenten der Union eine Bezugnahme zu Grund- und Menschenrechten, dennoch spielen nicht alle diese Dokumente für den Schutz dieser Rechte auf europäischer Ebene eine Rolle. Neben den vorrangig geregelten Bereichen des Arbeitsrechts, der Reise- und Dienstleistungsfreiheit sowie einzelner wirtschaftlicher Gebiete, sind auf europäischer Ebene auch vereinzelt Regelungen ergangen, die spezifisch den Schutz der Grund- und Menschenrechte insgesamt oder in bestimmten Bereiche betreffen, wie etwa das Verbot der Folter.522 Daneben treten Leitlinien der Europäischen Union, die den Schutz des Humanitären Völkerrechts unterstützen und einzelne Bereiche unter besonderen Schutz stellen. Ein Schwerpunkt liegt dabei neben dem Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten in der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und der Verhinderung von Folter und der Vollstreckung der Todesstrafe. Ziel dieser Leitlinien ist es, als verwaltungsrechtliche Hilfen über die Auslegung und Anwendung des Sekundärrechts523 „die Union mit einem Instrumentarium für die Praxis auszustatten“.524 Dadurch sollen schlimmste Verletzungen der Menschenrechte und der Menschenwürde, wie sie unter anderem durch Folter und Misshandlungen geschehen, verhindert werden. Die Leitlinien nehmen dabei immer wieder Bezug auf den grundlegenden Wert der Menschenwürde und die Bedeutung der Menschenrechte:
521 Vgl. dazu insgesamt Schulte-Herbrüggen, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, ZEuS 12 (2009), 343 (377). 522 Vgl. dazu die Darstellung bei Herdegen, Europarecht, 172015, § 8, Rn. 15 ff. 523 Vgl. den Überblick zu den Rechtsinstrumenten der Europäischen Union, zur Verfügung gestellt durch das Centrum für Europäische Politik. Online verfügbar unter: http://www.cep.eu/ eu-themen/eu-vertraege-institutionen.html (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 524 Die Zielsetzung wird zu Beginn der „Leitlinien für die Politik der Europäischen Union gegenüber Drittländern betreffend Folter und andere grausame unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ erläutert. https://www.consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/ 8590.de08.pdf (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
„Folter und Misshandlung gehören zu den verabscheuungswürdigsten Verletzungen der Menschenrechte und der Menschenwürde. Der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zufolge darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Das Völkerrecht erlaubt keinerlei Ausnahmen. Sämtliche Staaten sind verpflichtet, das bedingungslose Verbot aller Formen von Folter und Misshandlung einzuhalten. Trotz der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft bestehen Folter und Misshandlung in allen Teilen der Welt weiter. In vielen Ländern gehen diejenigen, die Folter und Misshandlung begehen, nach wie vor überwiegend straffrei aus. Das Eintreten für die Verhütung und die Abschaffung aller Formen von Folter und Misshandlung in der Europäischen Union und in der ganzen Welt ist fester Bestandteil der Politik aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Durchsetzung und der Schutz dieses Rechts gehören zu den vorrangigen Zielen der Menschenrechtspolitik der Union.“525
Ergänzt werden diese Bestrebungen in besonderem Maße durch die Verordnung (EG) 1889/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 zur Einführung eines Finanzierungsinstruments für die weltweite Förderung der Demokratie und der Menschenrechte.526 Damit wird die Grundlage der Europäischen Union, wie sie in den Art. 2, 6, 7 und 49 EUV festgelegt ist, unterstrichen und deren unionweite und auch darüber hinausgehende Förderung angestrebt. Ein direkter Bezug zur Menschenwürde ist zwar nicht gegeben, dennoch wird die Menschenwürde durch die Förderung der Demokratie und Menschenrechte und durch die in Bezug genommenen Vertragsnormen sowie die Charta der Grundrechte Teil dieser Entwicklung.527 Hinzutreten weiterhin Maßnahmen, die speziell der Förderung des Schutzes der Menschen- und Grundrechte in Drittländern dienen, wie die Verordnung (EG) Nr. 1236/2005 vom 27. Juni 2005 betreffend den Handel mit bestimmten Gütern, die zur Vollstreckung der Todesstrafe, zur Folter oder zu anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen oder Strafen verwendet werden können.528 Durch ein generelles Verbot des Handels mit Folterinstrumenten und -ausrüstung werden sowohl das Folterverbot der EMRK als auch der Charta der Grundrechte und die präventiven Vorgaben des Normgebers der Antifolterkonvention unterstützt. Dies zielt sowohl auf die Eindämmung der Verbreitung wie auch der Entwicklung und Erhaltung eines Marktes für solche Instrumente. In den Erwägungsgründen der Verordnung kommen diese Zielsetzung und die Bedeutung des absoluten und uneinschränkbaren Folterverbots deutlich zum Ausdruck:
525 Einleitung der Leitlinien für die Politik der Europäischen Union gegenüber Drittländern betreffend Folter und andere grausame unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. 526 VO (EG) Nr. 1889/2006, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uri serv:l14172 (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 527 Vgl. http://europa.eu/legislation_summaries/human_rights/human_rights_in_third_ coun tries/r10110_de.htm (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). 528 VO (EG) Nr. 1889/2006.
H. Fazit
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„Es ist daher angebracht, in Bezug auf den Handel mit Drittländern mit Gütern, die zur Vollstreckung der Todesstrafe, und Güter, die zum Zwecke der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe verwendet werden könnten, Gemeinschaftsregeln aufzustellen. Diese Regeln tragen maßgeblich zur Achtung des menschlichen Lebens und der grundlegenden Menschenrechte bei und dienen damit auch dem Schutz der öffentlichen Werteordnung. Mit diesen Regeln soll gewährleistet werden, dass die Wirtschaftsakteure der Gemeinschaft keinerlei Nutzen aus Handelsbeziehungen ziehen, die hinsichtlich Todesstrafe, Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe eine Politik fördern oder sonst erleichtern, die mit den einschlägigen Leitlinien der EU, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie mit internationalen Übereinkommen und Verträgen unvereinbar ist.“529
Die Bemühungen zeigen, dass aufgrund der anerkannten Bedeutung der Menschenrechte sowie der grundsätzlichen Achtung des Einzelnen und seiner Würde, die Gemeinschaft der Mitgliedsstaaten nicht nur jeweils auf nationaler und überstaatlicher, unionaler Ebene einen umfassenden Schutzstandard zu schaffen sucht, sondern darüber hinaus auch um eine Ausweitung auf internationaler Ebene bemüht ist. Obgleich keine einheitlichen Begrifflichkeiten der einzelnen Gewährleistungen in allen Bereichen vorliegen und wiederholt Verstöße gegen die zum Schutz der Menschenrechte normierten Verbote durch Nicht-Mitgliedsstaaten zu verzeichnen sind, ist die Zielrichtung der Bestrebungen deutlich erkennbar und eine zunehmende positive Entwicklung zu vermerken. Durch die Verfahren vor den europäischen Gerichten wird zusätzlich ein Bewusstsein für die Bedeutung und den notwendigen Schutz der Menschenrechte geschaffen und die Einhaltung der Vorgaben gewährleistet.
H. Fazit: Die Europäischen Union zwischen unverbindlichen Erklärungen und bindenden Rechtssätzen – Der Weg zu einem europäischen Grundrechtsschutz I. Grundrechte- und Menschenwürdetradition im europäischen Recht – Von der Wirtschaftszur Wertegemeinschaft Durch die „dunklen“ Zeiten Europas, die durch totalitäre Herrschaftssysteme, Missachtungen und massive Verletzungen der Menschenrechte und der Menschenwürde geprägt waren, bildete sich auf europäischer Ebene ein Bedürfnis nach
529 VO (EG) Nr. 1236/2005, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= OJ:L:2005:200:0001:0019:DE:PDF, Nr. 7 der Erwägungsgründe (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015).
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
allgemeinen Werten.530 Zu Beginn der europäischen Zusammenschlüsse waren neben der Entwicklung eines gemeinsamen Marktes die Schaffung und Erhaltung des Friedens, die Integration und die Bewahrung der gemeinsamen Ideale und Grundsätze angestrebte Ziele der Gemeinschaft.531 Die Gründung der EGKS und später der EWG sowie der Euratom waren die ersten Schritte hin zu einer europäischen Zusammenarbeit.532 Auch wenn dabei zunächst die wirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund stand, war die Wirtschaftsgemeinschaft nicht als Ziel festgeschrieben.533 In der weiteren Entwicklung hin zur Europäischen Union zeigte sich das Selbstverständnis der Europäischen Gemeinschaften als Wertegemeinschaften, was in den Konventionen und Verträgen deutlich hervortrat. Auch wenn ein fest geschriebener Grundrechtskatalog im EG-Vertrag fehlte, entstand die dadurch befürchtete und zunächst vom Bundesverfassungsgericht in seiner Solange-I Entscheidung534 bemängelte Lücke im gewährten Schutzumfang nicht. Der EuGH entwickelte in seiner Rechtsprechung beginnend mit seiner Entscheidung in der Sache Stauder535 im Jahre 1969 einen Kanon ungeschriebener allgemeiner Grundsätze, die der Gemeinschaftsrechtsordnung als Werte zugrunde liegen und die als ungeschriebene Grundrechte für die Gemeinschaft gelten.536 Er knüpfte dabei an die nationalen Verfassungen als Rechtserkenntnisquellen an und statuierte damit erstmals einen grundrechtlichen Schutz. In weiteren Entscheidungen bezog der EuGH zudem die EMRK und die Entscheidungen des EGMR als Quellen mit ein. Das immer weiter fortschreitende Zusammenwachsen Europas und die Erweiterung der Zusammenarbeit in vielen Bereichen führte zu einer Modifikation des Rechtssystems und damit verbunden des Grundrechtsschutzes.537 Die Grundrechte stehen dabei im Mittelpunkt der Entwicklung, auf sie sollte die Rechtsordnung ausgerichtet werden. Dies zeigt insbesondere der Schritt, einen geschriebenen 530 Meyer-Borowsky, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 42014, Vor Titel 1, Rn. 3 f. 531 Vgl. Herdegen, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 139 (141 f.). 532 Siehe zur Entwicklung von der EGKS zur Europäischen Union unter Geltung des Vertrages von Lissabon Knauff, Die Erweiterung der Europäischen Union auf Grundlage des Vertrages von Lissabon, DÖV 2010, 631 ff. 533 Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, 1033 (1034); Herdegen, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik. Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 139 (141). 534 BVerfGE 37, 271. 535 EuGH, Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419. 536 Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, 1033 (1036); Knauff, Die Erweiterung der Europäischen Union auf Grundlage des Vertrages von Lissabon, DÖV 2010, 631 (633). 537 Vgl. Weinzierl, Deutsche und Europäische Grundrechte um Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ZAR 2010, 260 (268).
H. Fazit
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Grundrechtskatalog als verbindlich aufzunehmen und damit der gemeinschaftlichen Rechtsordnung ein entscheidendes Element hinzuzufügen. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hat die Charta der Grundrechte rechtliche Verbindlichkeit erlangt. Dies ist ein entscheidender Schritt im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes. Ob sich dadurch auch eine Änderung in der Rechtsprechung vollzieht, ist abzuwarten. Gleichwohl ist mit der Charta ein Novum im europäischen Grundrechtsschutz hinzugetreten, als erste schriftliche Fixierung, die nun mit ihrem umfassenden Katalog das Herzstück des Schutzes bildet. Der im Jahre 1949 als internationale Organisation gegründete Europarat war im Gegensatz zu den Europäischen Gemeinschaften von Beginn an auf den Schutz und die Entwicklung der Menschenrechte ausgerichtet (Art. 1 lit. b der Satzung).538 Die Mitgliedsstaaten des Europarates verpflichteten sich zur grundsätzlichen Anerkennung des Vorrangs des Rechts und der Achtung der Menschenrechte als gemeinsame Werte. Die EMRK als Basis und die Rechtsprechung des EGMR hatten in diesem Zusammenhang einen umfassenden ausdifferenzierten Schutzstandard der Grundund Menschenrechte geschaffen. Der Europarat war mithin von Beginn an auf die Bildung einer Wertegemeinschaft ausgerichtet, die neben den wirtschaftlichen Zusammenschlüssen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften bestand.539 Eng mit dieser (sehr knapp skizzierten) Entwicklung des Grundrechtsschutzes im europäischen Recht ist die Entwicklung des Schutzes der Menschenwürde verbunden. Nachdem die Menschenwürde in den Anfängen nicht als expliziert normiertes Recht im europäischen Bereich zu finden war, entwickelten – wie schon ausgeführt – sowohl der EuGH als auch der EGMR in ihrer Rechtsprechung Schutzmechanismen, die dem Schutz der Menschenwürde dienen und einen ungeschriebenen Schutz gewährleisten. Dabei erfolgte die Auseinandersetzung der Gerichtshöfe eher punktuell auf den entsprechenden Fall bezogen.540 Zu beobachten ist, dass seitdem die Menschenwürde stärkere Bedeutung in der Rechtspraxis des europäischen Rechts erlangt hat und durch „die Europarechtspraxis entdeckt wurde“541, die Bezugnahmen auf die Menschenwürde, insbesondere in Rechtsakten erheblich zugenommen hat. Sie ist mehr und mehr zu einem Bezugspunkt der rechtsetzenden Organe geworden.542 Dabei wird die Menschenwürde sowohl als unmittelbar regelnde Norm, aber auch als Höchstwert, der durch einzelne Rechtssätze konkretisiert wird, verwendet.543 Ferner ist die Gewährleistung der Menschenwürde durch ihre 538
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 1, Rn. 2. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 52012, § 1, Rn. 2 ff. Vgl. auch Herdegen, Europarecht, 172015, § 1, Rn. 12 ff. 540 Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 4 m.w.N. 541 Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 10. 542 Vgl. dazu insgesamt Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 10. 543 Dies zeigte sich zum Beispiel in der Asyl-Richtlinie von 2003, die ausdrücklich die Wahrung der Menschenwürde und die Anwendung der Grundrechte der Charta zu gewähr539
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
Normierung in Art. 1 GR-Charta zum Fundament der EU-Rechtsordnung geworden.544 Damit werden der gemeinschaftlichen Rechtsordnung in ihrem ersten verbindlichen Grundrechtskatalog bewusst der Schutz und die Gewährleistung der Menschenwürde als erster Artikel vorangestellt. Dies unterstreicht die in der Rechtspraxis bereits richterrechtlich herausgearbeitete Bedeutung der Menschenwürde als höchster Wert und verweist auf ihre grundlegende Bedeutung.
II. Menschenwürdeschutz als „Exportschlager“ des deutschen Rechts? Die Frage, ob die verstärkt zu beobachtende Betonung der Menschenwürde auf einem „Export“ der deutschen Menschenwürdetradition beruht, kann dahingehend beantwortet werden, dass die deutsche Begrifflichkeit und das deutsche Konzept als Ausgangspunkt des gemeinschaftsrechtlichen Verständnisses erachtet werden können. Die Formulierung des Art. 1 GR-Charta lehnt offenkundig an Art. 1 Abs. 1 GG an.545 Das deutsche Menschenwürdeverständnis und das dahinterstehende ausdifferenzierte Konzept bilden die Quelle der Menschenwürdegarantien der europäischen Gemeinschaft, von dem aus ein eigenes Konzept entwickelt wird.546 Schon vor dem Ende des zweiten Weltkrieges waren vereinzelt Bezüge zur Menschenwürde in Verfassungen europäischer Staaten zu finden, so etwa in den Verfassungen Irlands und Portugals.547 Dennoch erlebte die Menschenwürde erst nach dem Ende des Krieges eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Die Bevölkerung Deutschlands war ebenso wie die Menschen in anderen Ländern Europas durch die terroristische Herrschaft totalitärer Regime und der von ihnen verübten Gräueltaten geprägt. Durch das Bekanntwerden des Ausmaßes der Taten des Regimes entstand der Wunsch nach festen Grundwerten und einer (rechtlichen) Ordnung. Dabei waren die deutschen Bestrebungen – neben denen auf supranationaler Ebene im Rahmen der Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte – am stärksten. Die Normierung von Werten und subjektiven Rechten rückte zunehmend in den Vordergrund. Das menschliche Individuum mit seinen Bedürfnissen und seinen Rechten trat in den Fokus vieler Rechtsordnungen, auch des Gemeinschaftsrechts.548 Die europäischen Gemeinleisten sucht. Vgl. RL 2003/9/EG; abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri Serv.do?uri=OJ:L:2003:031:0018:0025:DE:PDF (zuletzt abgerufen am 1. 11. 2015). Vgl. außerdem Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 10. 544 Vgl. Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 4. 545 Sachs-Höfling, GG-Kommentar, 72014, Art. 1, Rn. 4 m.w.N. 546 Vgl. die Ausführungen von Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (544 f.). 547 Vgl. so z. B. die irische Verfassung von 1937, die gemäß der Präambel nach Gewährleistung der Würde und Freiheit des Individuums strebt. 548 Vgl. Meyer-Borowsky, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 42014, Vor Titel 1, Rn. 1 f.; ders., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 42014, Artikel 1, Rn. 1.
H. Fazit
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schaften orientierten sich zunehmend am Menschen und entwickelten sich von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft, die zwingend ein „Denken vom Menschen her“ voraussetzte.549 Dies zeigt sich auch in einzelnen Rechtsakten, die sich mit dem Menschen befassen, wie der Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Zudem wiesen auch die Verträge mit der ausdrücklichen Normierung der Grundfreiheiten und der grundlegenden Ausrichtung in der Präambel einen zunehmenden Bezug zum Bürger auf. Die Charta der Grundrechte bildete dabei den entscheidenden Schritt zu einem unionalen Grundrechtskatalog und vollendete die Bemühungen, die auf der Konferenz von Nizza und mit dem Verfassungsvertrag begonnen worden waren. Mit der Erarbeitung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch den Charta-Konvent unter dem Vorsitz Herzogs zeigte sich der erhebliche Einfluss der deutschen Verfassung auf die Entwicklung des gemeinschaftlichen Grundrechtskataloges. Nicht nur die Übernahme der Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG in Art. 1 GR-Charta, sondern auch die Bezugnahme auf die Praxis der deutschen Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts und die Auslegung des Würdesatzes durch die Literatur, dienen als Vorbild des europäischen Begriffes.550 Dabei ist festzuhalten, dass der Begriff der Menschenwürde auf europäischer Ebene nicht immer im Sinne der deutschen Dogmatik verwendet wird oder in seiner Auslegung auf ihr beruht. Dies ist nicht zuletzt Übersetzungserfordernissen und verschiedenen ethischen und religiösen Bekenntnissen der nationalen Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Menschenwürde geschuldet.551 Dabei reichen die Ansichten von der Anerkennung als rechtlich verbindlicher Grundsatz bis hin zum absoluten Schutz als Grundwert und eigenständiges Grundrecht.552 Nach dem Inkrafttreten der Charta ist die Menschenwürde als Grundrecht nahezu unstreitig, jedoch ist die Definition des genauen Schutzumfangs problematisch. Dies zeigt sich auch in der europäischen Rechtspraxis. So beschäftigen die Gerichtshöfe auf europäischer Ebene ebenso die Fragen um die Bestimmung der Menschenwürde und des genauen Schutzumfangs wie das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG im deutschen Recht. Der nähere Umfang und die genauen Konturen des Begriffes und des Schutzumfangs der Menschenwürde sind auch im europäischen Recht nicht festgelegt, und es findet sich keine Definition der Menschenwürde.553 Die besondere und einmalige Struktur, die die Menschenwür549 Vgl. Borowsky, Die Grundrechtecharta als normatives Fundament der Europäischen Union, in: Leiße (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, 147 (158). 550 Meyer-Borowsky, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 42014, Artikel 1, Rn. 1 f. 551 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 97. 552 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV (2010), Rn. 97 f. 553 Meyer-Borowsky, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 42014, Artikel 1, Rn. 35.
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Teil 2: Die Menschenwürde im europäischen Recht
degarantie im deutschen Recht auszeichnet, ist ihr somit auch im europäischen Recht eigen. Die Einzigartigkeit der Menschenwürdeklausel, die auf der Ausrichtung als „modal ausgerichtete Generalklausel“554 und der „Absolutheitsanspruch der Unantastbarkeitsklausel“555 beruht, sind dabei die vornehmlichen Ursachen, die bei der Anwendung und Konkretisierung des Würdebegriffes zu Schwierigkeiten und Unsicherheiten führen.556 Die Menschenwürde hat sich auf europäischer Ebene als „prägender Elementargrundsatz“557 und „subjektiv einforderbares Grundrecht“558 zum „höchstem Rechtswert des Verfassungsverbunds der Union“ und „tragenden Konstitutionsprinzip“ entwickelt.559 Sie ist keine Leerformel und kein Auffanggrundrecht. Auch wenn durch die unterschiedlichen nationalen Einflüsse die Bestimmung des Inhalts gleichwohl schwieriger ist als in nationalen Rechtsordnungen, ist die Menschenwürde auch auf europäischer Ebene Grundrecht und objektivrechtliche Fundamentalnorm.560 Es deutet sich die Übernahme des deutschen Konzeptes an, auf die das europäische Recht im Bezug auf die Menschenwürde aufbaut. Darüber hinaus ist die Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe als weitere Quelle hinzugezogen worden, die die Entwicklung des Begriffes und des Schutzes auf europäischer Ebene geprägt haben. Die Menschenwürde kann mithin nicht als reiner „Exportschlager“ des deutschen Rechts verstanden werden. Sie ist das Ergebnis einer Dynamik, die sich im europäischen Raum aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderung der Staatengemeinschaft von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft entwickelt hat. Auch wenn der Grundgedanke der Gewährleistung der Menschenwürde und die Eckpunkte dieses Schutzes im europäischen Recht und speziell in der Charta der Grundrechte an Art. 1 Abs. 1 GG und dessen Interpretation und Auslegung anknüpfen, sind sie doch nicht „nur“ übernommen worden, sondern als eigener Rechtekatalog ausgestaltet. Der Schutz der Menschenwürde auf europäischer Ebene mag zu Beginn der Entwicklung ein „Exportschlager“ des deutschen Rechts gewesen sein, hat sich aber durch die europäische Rechtspraxis zu einem – wenn auch noch in der Entwicklung befindlichen – eigenständigen Konzept als Teil des Grundrechts-
554 Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1, Rn. 17. 555 Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1, Rn. 17. 556 Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1, Rn. 17 f. 557 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 815. 558 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 815. 559 Meyer-Borowsky, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 42014, Artikel 1, Rn. 43. 560 Vgl. Stern/Tettinger-Höfling, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1, Rn. 14; Schwarz, Die Menschenwürde als Ende der europäischen Wertegemeinschaft?, Der Staat 50 (2011), 533 (546 f.).
H. Fazit
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schutzes entwickelt. Dieses Konzept ist in Teilaspekten an das deutsche Konzept angelehnt, trägt jedoch auch den spezifischen Bedürfnissen der Zwischenstaatlichkeit Rechnung.
Abschließende Thesen I. Bedeutung der Menschenwürde im deutschen und im Gemeinschaftsrecht Es bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Menschenwürde neben der besonderen Bedeutung und zentralen Stellung im deutschen Recht in den letzten Jahren und Jahrzehnten sowohl auf internationaler als auch auf europäischer Ebene zunehmend an Bedeutung gewonnen und sich von einem in der Präambel statuierten Grundsatz zum rechtlichen Wert und eigenständigen Recht entwickelt hat. Sowohl in den Konventionen des Europarates als auch in den Abkommen der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union nimmt die Präsenz und die damit verbundene Bedeutung des Begriffes immer mehr zu. Mit dem Vertrag von Lissabon ist auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtsverbindlich und den Verträgen gleichgestellt geworden. Dies sind ein deutlicher Fortschritt und ein klares Zeichen in der Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzes, das die besondere Bedeutung und den hohen Stellenwert der Grundrechte und der Menschenwürde hervorhebt. Jedoch beschränkt sich das gemeinsame europäische Verständnis der Menschenwürde bislang auf einen „rechtshistorisch-evidenten Kernbereich“ und ein gesamteuropäischer Konsens ist (noch) nicht festzustellen.1 Ein eigenständiges Begriffskonzept muss sich noch entwickeln, erste Ansätze sind dabei bereits erkennbar.2
II. Entwicklung und Reichweite des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes Mit der Formulierung des Art. 1 GR-Charta knüpfte der Konvent an Art. 1 Abs. 1 GG, nicht jedoch an das dahinterstehende, die Normanwendung bestimmende Konzept an.3 Vielmehr zeigt sich in den absolut garantierten Rechten, die der Menschenwürde in Kapitel I der Charta der Grundrechte folgen, ein Ansatz eines eigenen gemeinschaftsrechtlichen Konzeptes. Indes steht die Entwicklung einer 1
310. 2
Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010,
Vgl. dazu im Ansatz Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 428 ff. 3 Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (40 f.).
Abschließende Thesen
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einheitlichen europäischen Grundrechtsdogmatik auf Basis eines unionweit geltenden Grundrechtsdokuments noch am Anfang, wobei die Entwicklungen der letzten Jahre deutlich zeigen, dass sich eine solche Dogmatik herausbildet.4 Mit der Statuierung fester Werte für die Europäische Union und auch für die Mitglieder des Europarates zeichneten sich das Bewusstsein einer Wertegemeinschaft und das Vertrauen auf gemeinsame Werte deutlich ab. Jedoch werden diese Werte, die auch in Art. 2 und 6 EUV vertraglich verankert sind, nicht bis in letzter Konsequenz durchgesetzt; mögliche Sanktionsverfahren nach Art. 7 EUV werden nicht immer durchgeführt, wodurch die Glaubwürdigkeit und Effizienz der Grundrechte in Frage gestellt wird.5 Gleichwohl gewinnen die Grundrechte und Grundwerte zunehmend an Bedeutung. Die Europäische Union betont diese in immer stärkeren Maße. Dies gilt, obwohl die Bezugnahme auf die Charta der Grundrechte in Art. 6 EUV und die begrenzte Anwendbarkeit für Polen und Großbritannien, wie sie mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, im Vergleich zu den Vorgaben des Verfassungsvertrages eine Verschlechterung und Verkomplizierung darstellt.6 Denn nichtsdestotrotz ist insgesamt eine Stärkung des Grundrechtsschutzes vorgenommen worden.7 Im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde ist festzuhalten: Auch wenn die Europäische Union die Menschenwürde – ausdrücklich – wesentlich stärker betont und als Wert hervorhebt, zeigen die EMRK, die Antifolterkonvention und die Bioethikkonvention des Europarates deutlicher die grundsätzlichen Schutzmechanismen eines Menschenwürde„konzeptes“, auch ohne Nennung des Begriffes. Auf der Ebene des Europarates ist eine Art Schutz„konzept“ gegeben, wenn auch ohne explizite Begrifflichkeit, während auf der Ebene der Europäischen Union zwar die Begrifflichkeit in der Charta der Grundrechte verankert ist, sich der Schutz der Menschenwürde und der Grundrechte jedoch mit vielfältigen Problemen konfrontiert sieht, die einem Konzept und umfassenden Schutz im Wege stehen. Indes ist weder auf der Ebene der Europäischen Union noch des Europarates eine ausgeprägte Menschenwürde- oder Grundrechtsdogmatik vorhanden, wie sie sich zum Teil in den Verfassungen der einzelnen Mitgliedsstaaten zeigt. Eine ausdifferenzierte Dogmatik, wie sie etwa das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Bestimmung und den Umfang der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt hat, fehlt noch. Dies ist zum einen anhand des zeitlichen Aspekts zu erklären; die Normierung der Menschenwürde auf europäischer Ebene ist noch relativ jung und der EuGH war 4 Vgl. Karl, Die Rolle der Menschenwürde in der EU-Verfassungsdebatte, in: Fischer (Hrsg.), Der Begriff der Menschenwürde. Definition, Belastbarkeit und Grenzen, 22005, 27 (45 f.); Dreier-Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 32013, Vorb., Rn. 47. Vgl. insgesamt zum Problem den Gesetzesvorbehaltes auf überstaatlicher Ebene Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in europäischen und internationalen Menschenrechtsverträgen, in: Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 22010, 83. 5 Vgl. Calliess, Europa als Wertegemeinschaft – Integration und Identität durch europäisches Verfassungsrecht?, JZ 2004, 1033 (1045). 6 Vgl. Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 (7 f.). 7 Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 (7).
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Abschließende Thesen
seit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon und dem Verbindlichwerden der Charta der Grundrechte noch mit keinem Fall befasst, in dessen Zentrum die Menschenwürde stand. Zum anderen unterscheidet sich die Europäische Union gerade in der Praxis der Rechtsprechung erheblich von den Mitgliedsstaaten. So sind nicht nur die Fälle aus verschiedenen Mitgliedsstaaten, sondern auch die Richter unterschiedlicher Nationalität, wodurch unterschiedliche Einflüsse und Grundsätze in die Rechtsprechung mit einfließen, die den nationalen Unterschieden im Schutz der Menschenwürde geschuldet sind. Ein effektiver Schutz der Menschenwürde in der Europäischen Union kann daher nur auf einer engen Kontrolldichte der Gerichte und der sich daraus entwickelnden Grundsätze beruhen, die über den engen Konsens historisch-evidenter Aspekte hinausgeht und ein eigenes Konzept bildet.8 Insbesondere im heftig umstrittenen Bereich biomedizinischer Forschung zeigen sich mitgliedsstaatliche Divergenzen, die einen einheitlichen Umgang mit der Menschenwürde nicht erkennen lassen. Auch unter dem Eindruck solcher Herausforderungen und Gefährdungen des 21. Jahrhunderts müssen der Schutz und die Achtung der Menschenwürde als Grundwert und Fundament der europäischen Wertegemeinschaft geachtet und geschützt werden. Ebenso darf durch Terrorismus, organisierte Kriminalität oder technisch-medizinische Entwicklungen die Bedeutung der erlangten Werte nicht Infrage gestellt, sondern vielmehr müssen diese Werte durch die Rechtspraxis fortentwickelt und gestärkt werden.9
III. Verhältnis des deutschen zum europäischen Begriff der Menschenwürde Auch wenn sich auf europäischer Ebene mit dem Vertrag von Lissabon und der Charta der Grundrechte eine grundlegende Weiterentwicklung der Grundrechtsarchitektur des Gemeinschaftsrechts vollzogen hat, unterscheidet sich das bei der Interpretation zugrunde gelegte Konzept gerade im Hinblick auf die Menschenwürde deutlich von dem des Grundgesetzes.10 Obgleich Art. 1 Abs. 1 GG für Art. 1 GRCharta und das deutsche Konzept für die in Titel 1 GR-Charta zusammengefassten Rechte als Vorbild diente, ist das Konzept des deutschen Rechts nicht uneingeschränkt mit in das gemeinschaftsrechtliche Verständnis übernommen worden. Ein näheres, umfassendes Konzept zur grundsätzlichen Begrifflichkeit und Struktur der Menschenwürde und zu einer möglichen Interpretation und Abwägung auf Ebene der 8 Vgl. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 428 ff.; Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 310. 9 Vgl. zum gesamten Absatz Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 311 f. 10 Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (129).
Abschließende Thesen
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Union fehlt noch (weitgehend).11 Es zeigen sich aber Entwicklungen eines solchen in der Rechtsprechungspraxis. Dabei kommt der deutschen Auslegungspraxis des Art. 1 Abs. 1 GG ein deutlicher Orientierungswert zu. Nicht nur der Charta-Konvent orientierte sich an der ausdifferenzierten Konzeption der Menschenwürde im deutschen Grundgesetz, auch in der Rechtsprechung kommt der Auslegung und Dogmatik in rechtsvergleichender Hinsicht ein besonderer erkenntnisleitender Stellenwert zu.12 Dabei bieten die Elemente des deutschen Würdeverständnisse, auf der einen Seite Höchstwert und Fundament und auf der anderen Seite Grundrecht, einen entscheidenden Ausgangspunkt. Der Mensch steht im Mittelpunkt, darauf soll jedes hoheitliche Handeln ausgerichtet sein. Es soll immer auf das Individuum ankommen, das auch hier der Union vorgeht und dem alle staatliche Gewalt verpflichtet ist.13 Im Rahmen der Weiterentwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Menschenwürdeverständnisses wird über ein universelles Konzept nachgedacht, das im Rahmen des Gemeinschaftsrechts entwickelt wird und die Eigenheiten und Besonderheiten des übernationalen Rechts aufgreift.14 Ein Ansatz ist dabei die Bildung eines neuen und universellen Menschenwürdeverständnisses, das die Spannungen der nationalen und gemeinschaftlichen Rechtsordnungen löst und die wesentlichen Elemente als eigene Konzeption zusammenfasst.15 Gerade die Unterschiede des jeweiligen nationalen Schutzes und die Entwicklung eines gemeinschaftlichen Schutzes, der für alle Mitgliedsstaaten gemein ist, bietet erhebliches Konfliktpotential, das anhand des Grundrechtskataloges und entsprechender Fälle in der Praxis gelöst werden muss. Auf diese Weise kann ein europäisches Konzept, eine eigene europäische Dogmatik der Menschenwürde entwickelt werden, das die wesentlichen Elemente der mitgliedsstaatlichen Verfassungsüberlieferungen aufgreift und die charakteristischen Funktionen miteinander verbindet. Die Ansätze eines solchen Konzeptes sind bereits in der Rechtspraxis sichtbar. Dabei ist der Einfluss des Art. 1 Abs. 1 GG und der damit verbundenen Dogmatik auf die Funktionen der Menschenwürde im unionalen Kontext deutlich sichtbar, jedoch zeigen sich auch Aspekte einer Weiterentwicklung, die den spezifischen Bedürfnissen der Gemeinschaft Rechnung trägt. 11 Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (132). 12 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 308 ff. 13 Vgl. Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 309. 14 Vgl. Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (142 ff.). 15 Ekardt/Kornack, „Europäische“ und „deutsche“ Menschenwürde und die europäische Grundrechtsinterpretation, ZEuS 13 (2010), 111 (142 ff.). In diesem Sinne ähnlich, jedoch kritisch Schorkopf, Würde des Menschen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 42014, § 15, Rn. 13 ff.; Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, JZ 2004, 1 (5 f.).
Schlusswort Die Entwicklungen zeigen ein zunehmendes Bewusstsein und eine verstärkte Betonung internationaler und europäischer Schutzstandards der Menschen- und Grundrechte und allen voran der Menschenwürde als wesentliches Element. Auch wenn die Umsetzung und die genaue Strukturierung eines gemeinschaftsrechtlichen Schutzes sich als schwierig erweisen und eine klare, gemeinsame Linie nicht immer direkt zu finden ist, ist mit dem Vertrag von Lissabon und dem Verbindlichwerden der Charta der Grundrechte eine Richtung eingeschlagen worden, die die Linie der vorangegangenen Rechtsakte fortsetzt. Durch die kulturellen Besonderheiten der einzelnen Mitgliedsstaaten ist gerade im Hinblick auf die Menschenwürde die Entwicklung eines „pragmatische[n] Menschenwürdebegriff[s]“ gestützt auf den (Minimal)Konsens der Mitgliedsstaaten notwendig.1 Die Entwicklung der Rechtspraxis und der Umgang mit den Normierungen der Charta zeigen die Orientierung an nationalen Verfassungstraditionen, darunter auch der grundgesetzlichen Dogmatik. Insbesondere die Entwicklung der Menschenwürdegarantie, die durch den Einfluss Herzogs im Grundrechtekonvent stark an das deutsche Grundgesetz angelehnt ist, erfährt in der Rechtsprechung des EuGH eine eigene Interpretation und damit auch eine Konkretisierung, die die Besonderheiten und Eigenarten des europäischen Rechts und der Europäischen Union würdigen und widerspiegeln. Dabei wird der EuGH wohl an seiner bereits gefestigten Grundrechtsprechung festhalten und an diese angeknüpft die ausdrücklichen Normierungen der Charta weiter ausdifferenzieren. Die Entwicklung des europäischen Rechts schreitet in großen Schritten voran, und die Dogmatik unterliegt einer steten Entwicklung, so dass die Rechtsprechung mit Blick auf die Menschenwürde und die Herausbildung eines europäischen Begriffsverständnisses gerade in Randbereichen aufmerksam beobachtet werden sollte. Die Identifizierung und das Vertrauen der Bürger in die Union als Rechtegarant muss bestärkt werden und die sich nun entwickelnde europäische Wertegemeinschaft darf nicht auf dem erreichten Stand stagnieren, sondern muss die Entwicklung vorantreiben und fördern. Nur dadurch kann eine Wertegemeinschaft auf der Basis der Menschenrechte, mit der Würde des Menschen als Leitwert bestärkt und erhalten
1 Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 304. Vgl. ebenso Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der Europäischen Union, 2012, 428 f.
Schlusswort
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werden, die sich auch den Herausforderungen und Schwierigkeiten des 21. Jahrhunderts stellen und sich gegen diese behaupten kann.2
2 Vgl. zum gesamten Absatz Wallau, Die Menschenwürde in der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, 2010, 310 f.
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Sachwortverzeichnis Abhör-Urteil des BVerfG (BVerfGE 30, 1) 44, 132 Abschiebung 199 f., 211 f., 212 ff., 217 ff., 224, 240 – s.a. aufenthaltsbeendende Maßnahmen Abwägung 43, 58, 72, 74, 76, 78 f., 101, 109 f., 120, 126 ff., 131 ff., 158, 160, 172 ff., 196, 210, 220, 233, 264 f., 294 Abwägungsfestigkeit 74 f., 76, 78, 92, 99, 101, 105, 158, 172, 265 Abwägungsmaßstab 120 Abwägungsverbot 101, 126 f., 158, 160 Achtungsanspruch – s. Wert- und Achtungsanspruch Achtungspflicht 28, 39, 50, 110, 127, 129, 130 f., 190, 279 allgemeine Handlungsfreiheit 70, 74, 125, 168 f. Anerkennung des Einzelnen – s. Anerkennung des Menschen als Rechtsperson Anerkennung des Menschen als Rechtsperson 48, 102, 119 f., 127, 154, 165, 167 – s.a. Rechtsperson Anerkennungsgemeinschaft 149 f. Antifolterkonvention – europäische 181, 202 ff., 284, 293 – der Vereinten Nationen (UN) s. UN-Antifolterkonvention antiutilitaristische Ausrichtung/Struktur 58, 61, 117, 172 f. Art. 3 EMRK 185 ff., 193 ff., 202 ff., 207 ff., 212 ff. Asylbewerberleistungsgesetz-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 132, 134) 96, 98, 112 f. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen 199 f., 212 ff., 240 – s.a. Abschiebung – s.a. Auslieferung – s.a. Ausweisung
Auslegung 19, 34, 36 ff., 42, 44, 58, 62, 91, 104, 106, 109 f., 126, 155, 163, 172, 179, 184 f., 188 f., 192, 194, 201, 208, 242, 246 f., 249 f., 255 ff., 259 f., 263, 265, 269 f., 279, 281 ff., 289, 294 f. Auslieferung 199 ff., 206 ff., 212 ff., 217, 223 f. – s.a. aufenthaltsbeendende Maßnahmen Ausnahmecharakter der Menschenwürde 24 Ausweisung 201, 212 ff., 217 ff., 240 – s.a. aufenthaltsbeendende Maßnahmen Autonomie 25, 37, 63 ff., 64 ff., 76, 82, 84, 86, 102, 120 f., 138, 143, 145, 148, 151, 167 ff., 238 Basisgleichheit 41, 52, 58, 99 f., 145, 151, 170 f. Begriff der Menschenwürde – s. Menschenwürde Begründungszusammenhang 19, 21, 30, 33 ff., 141 ff., 147, 150, 260 Bioethik-Konvention 258, 275 f. Biopatentrichtlinie (EG-Richtlinie 98/44/ EG) 249, 251 ff., 256 f., 265 f. Biopatentrichtlinie-Entscheidung des EuGH 251 ff., 258, 265 f. „Brüstle“-Entscheidung des EuGH 256 f. Carlos-Entscheidung des EGMR 231 ff. Chahal-Entscheidung des EGMR 196 ff., 217 ff. Charta der Grundrechte der Europäischen Union 19, 175 ff., 179, 181 ff., 186 ff., 203 f., 243 ff., 250, 256, 260 ff., 263, 265 f., 269 ff., 273 ff., 278 ff., 281 f., 284 f., 287, 289 f., 292 ff., 296 Daschner (Fall) 161 f., 196 deontologische Struktur 18, 21, 49, 51 f. 100, 117, 173 ff. Dragan-Entscheidung des EGMR 217, 240
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Sachwortverzeichnis
Eigenwert des Menschen 26, 52, 61, 68 f., 102, 117, 138, 142, 166, 170, 173 Einwilligung 58 ff., 65, 183, 257 f. Einzelhaft 223, 229 ff., 233 – s.a. Haftbedingungen El Masri-Entscheidung des EGMR 195, 234 ff. EMRK 185 ff., 193 ff., 202 ff., 204 ff., 207 ff., 212 ff., Entfaltung (der Persönlichkeit) 42, 51, 64, 74 f., 78, 82, 85, 93, 95, 100, 121, 144, 156, 167 – s.a. Persönlichkeit Europäische Gemeinschaften 176, 179 f., 180 f., 184, 188, 248 f., 286 ff., 291 Europäische Menschenrechtskonvention – s. EMRK Europäische Union 175 ff., 180 ff., 244 ff., 255 ff., 267 ff., 272 ff., 276, 278, 280 ff., 285 ff., 292 f. Europäischer Gerichtshof (EuGH) 19, 179, 184 f., 188 f., 204, 206, 242 ff., 271 f., 274 f., 277 ff., 286 f., 292 f., 295 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 19, 179, 184 ff., 204 ff., 242 f., 287 Europarat 175, 177 ff., 185 ff., 202 f., 257 f., 275 f., 287, 291 f. Ewigkeitsgarantie (Art. 79 GG) 163 f., 202 Existenzminimum 50, 87 ff., 90 ff., 93 ff., 97 f., 102, 115, 156, 166 f., 169 – s.a. Grundsicherung – s.a. „Steuerfreies Existenzminimum“Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 82, 60) „Exportschlager“ 18, 175, 288 ff., 290 finaler Rettungsschuss – s. gezielter Tötungsschuss Folter 102, 127 ff., 132 f., 152, 157, 160 ff., 181, 184, 191 ff., 193, 195 ff., 202 ff., 212 ff., 217 f., 221 f., 229 ff., 235, 238 f., 275, 282 ff., 292 Folterverbot 129 f., 194 ff., 197 ff., 202, 284 Freiheitsrechte 27, 30 ff., 105, 123 f., 125, 136, 156, 188
Gattungswesen (Mensch als Gattungswesen) 41, 148 geistig-seelische Integrität – s. Integrität, psychisch/seelische geistig-sittliches Wesen 64, 69 f. Gemeinschaftsbezogenheit 69 f., 121, 169 Gemeinschaftsgebundenheit 69 f., 169 gezielter Tötungsschuss 54 ff., 134, 157 Gleichheit 88, 99 f., 103, 123 ff., 268 – s.a. Basisgleichheit – aller Menschen 25 f., 41, 99 f., 102 f., 130, 145 f., 170 ff., 178 – der Person 25 f., 52, 58, 190 Gleichheitsgrundrechte 123 f. Gleichheitsrecht 125 Gleichheitssatz 105, 170, 250 Gottesbezug 30 ff. „Großer Lauschangriff“-Urteil des BVerfG (BVerfGE 109, 279) 47, 75 f., 77 ff., 84 ff., 150 Grundgesetz 17, 20 ff., 26 ff., 28 ff., 35 ff., 38 f., 41, 46, 49 f., 53 ff., 61, 64, 66 ff., 72 f., 77, 88 ff., 92, 96, 101 f., 103, 106, 107 ff., 111 ff., 117 f., 126, 135, 137 f., 143, 147, 152, 155, 157, 158 ff., 163 f., 166 ff., 171 f., 178, 189, 202, 240, 242 f., 263, 279, 281 f., 293 ff., 296 grundgesetzliche Struktur 20 ff., 26 ff., 28 ff., 39, 40, 49, 106, 152, 157, 163, 166 ff. grundgesetzliche Werteordnung 55, 71, 109, 112, 122, 140, 146, 167, 172, 191 – s.a. grundgesetzliches Wertesystem grundgesetzliches Wertesystem 20 f., 26 ff., 28 ff., 39, 41, 55, 68, 71, 73, 112 f., 117, 122, 146, 167 Grundrechte – abwehrrechtliche Funktion 26 f., 39, 50 f., 72, 112, 114 f., 127 ff., 164, 190, 193, 229, 239 – Dogmatik s. Grundrechtsdogmatik – Eingriff 39, 43, 55, 65, 70 f., 74 ff., 77 ff., 81 f., 85 ff., 124, 126, 130 ff., 135 ff., 155 f., 158, 162, 168 f., 195, 197, 202, 230 ff. – Kernbereichsschutz 43, 57, 70, 73 ff., 99, 105 f., 124, 126 f., 135, 164, 169 – Menschenwürdegehalt 57, 77 f., 105, 135, 138, 168
Sachwortverzeichnis – nichtkonsequentialistisches Verständnis 21 f., 42, 61, 135, 171, 173 f. – Schutzbereich 42 ff., 68, 73 ff., 80 f., 83 ff., 105, 114 f., 124 ff., 135 ff., 172, 192 – Wertesystem s. grundgesetzliches Wertesystem Grundrechtecharta – s. Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grundrechtsdogmatik – auf europäischer Ebene 189, 282, 292 f. – des Grundgesetzes 126, 155, 172 Grundrechtsentwicklung 188 f., 243 f. Grundrechtskatalog – des Grundgesetzes 29 f., 34, 37, 172 – europäischer 179, 243 f., 269 f., 272, 278, 281 f., 286 f., 289, 294 f. Grundrechtsqualität der Menschenwürde 109 f., 112 f., 115 f., 260 Grundrechtsschutz – im deutschen Recht 33 f., 124 – im europäischen Recht 176, 179, 181 f., 184, 186 f., 189 f., 207, 232, 242 ff.. 245 ff., 261, 267 ff., 269, 271 ff., 278 ff., 281 f., 285 ff., 292 f. Grundrechtstheorie 18 f., 25, 27, 71 f., 126 f., 175 Grundsicherung 93 ff. – s.a. Existenzminimum Haftbedingungen 102, 206 f., 209 ff., 224, 225 ff., 233, 240 – s.a. Einzelhaft Hartz IV – s. Existenzminimum – s. Hartz IV -Regelsätze Hartz IV-Regelsätze 87 f., 93, 97 Identität – des einzelnen Menschen 76, 102, 127, 138, 145, 149 f., 166, 192, 199, 254 – der Europäischen Union 247 f., 286 – des Grundgesetzes 127, 163 f., 171 – der Menschenwürde als Rechtsnorm s. Sinnidentität der Rechtsnorm der Menschenwürde – der Verfassung s. Identität des Grundgesetzes
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Identitätsbildung 145, 149 f. – s.a. Identität – s.a. Selbstdarstellung Individualität 64, 69, 145 f., 166 f., 170, 192 f., 229, 253 f., 258, 260, 276 Individuum 25 ff., 29, 39, 43, 49, 52, 59, 63 ff., 76, 100, 117, 121 f., 142 f., 147 ff., 156 ff., 166 ff., 172 f., 201, 220, 224 ff., 233, 261, 280, 288, 294 f. informationelle Selbstbestimmung 37, 84, 168 f. Integrität – der menschlichen Person 76, 99, 102, 118, 138, 149, 156, 161, 166 ff., 192, 194 f., 201, 225, 241 f., 253 f. – informationstechnischer Systeme 83 ff., 86 – physisch/körperliche 76, 102, 118, 166 ff., 192 f., 201, 225, 229, 242, 256 – psychisch/seelische 76, 99, 102, 118, 138, 156, 166, 168, 192 f., 201, 229, 242 Isolationshaft s. Einzelhaft „Jalloh“-Entscheidung des EGMR 197 f., 226 ff. kantische Moralphilosophie 102 f., 120, 142, 153, 254 f. – s.a. Moralphilosophie kantisches Instrumentalisierungsverbot 43 f., 153 Kernbereich 57, 70, 73 ff., 84 ff., 105, 124, 126 f., 135, 164, 169, 204 Kernbereichsschutz 43, 73 ff., 84 ff., 99 Kollektivnutzen 49 ff., 58, 173 ff. Kommunikationstheorie 24, 148 ff. Kompetenzabgrenzung auf europäischer Ebene 268 f. „Konkretisierungsdilemma“ 123, 137 ff., 140, 151 ff. Konsens (des Menschenwürdeverständnis) 25, 30, 136, 140, 152, 156, 190, 282, 292, 294, 296 Konsequentialismus 22, 49 f. – s.a. Nichtkonsequentialismus – s.a. nichtkonsequentialistische Ausrichtung Konturenbildung/-fassung 189, 251, 259 f., 262, 276 f., 289
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Sachwortverzeichnis
Konzeption der Menschenwürde 39, 101, 109, 166, 241, 294 f. „Lebenslage Freiheitsstrafe“-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 45, 187) 50, 69 Lebensrecht – s. Recht auf Leben Lebenswertindifferenz 99 f. Leerformel 118, 123, 154, 158, 290 Leistungsanspruch 89, 93 f., 96 ff. Leistungsrecht 87 ff., 93, 98 f., 100 f., 105, 115 Leistungstheorie 144 ff., 151 Lissabon-Vertrag – s. Vertrag von Lissabon Luftsicherheitsgesetz-Urteil des BVerfG (BVerfGE 115, 118) 51 ff., 61, 99 f., 127 f., 130, 153, 158, 167, 173 f. materielles Existenzminimum – s. Existenzminimum Mensch als Selbstzweck 49, 51 f., 146, 153, 172 f., 254, 276 – s.a. Objektformel Menschenbild 64 f. Menschenrechtskonvention – s. EMRK menschenunwürdige Behandlung 199 f., 217, 220, 222 Menschenwürde – Absolutheit 57, 103, 120, 122, 130, 134, 139, 144, 147, 174, 194, 196, 235 f., 289 f. – Ausstrahlungswirkung 74 f., 77, 127, 232 – als Basis der Rechtsordnung 29, 33, 41, 43, 52, 71, 100 f., 109, 112, 116, 121 f., 135, 139 f., 142, 153 f., 159, 167, 171 f. 179, 183, 190, 194 f., 202, 247, 255 f., 270, 276 f., 280 ff., 287, 292 f., 295 f. – als Basisgrundrecht s. Menschenwürde, als Grundrecht – als Basiswert 106, 116 ff., 122 s. a. Menschenwürde, Basis der Rechtsordnung – als Begriff des Rechts s. Menschenwürde, Rechtsbegriff – in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 1) 182, 185, 260 f., 274 ff., 281 f., 287, 288 f., 292, 294
– Definition vom Verletzungsvorgang her 43, 137, 140, 151 f. 206 – Doppelcharakter 122, 135 f. – in der EMRK 185 f., 188 ff., 191 ff., 193 ff., 201 ff., 207 ff., 210, 217 f., 222, 224, 228 f., 232 ff., 238 ff., 285 ff. – als Fundamentalnorm 28 ff., 32, 42, 71 ff., 88, 105 f., 111, 116 ff., 120 ff., 150 f., 162, 290 – als Grundrecht 18, 39, 94, 96, 102 f., 105 ff., 107 ff., 114 f., 122, 126, 135, 242, 252, 260 f., 264 f., 276, 289 f., 294 f. – als Konstitutionsprinzip 21, 40 f., 57, 68, 71, 73, 115 f., 125, 137, 141, 163 f., 172, 173 f., 260, 263, 290 – als Leerformel s. Leerformel – als Metagrundrecht 265 f. – als Mittelpunkt des Wertesystems 21, 39, 71, 73, 122 s.a. grundgesetzliche Werteordnung, grundgesetzliches Wertesystem – als nicht interpretierte These 23, 33, 152 – Rechtsbegriff 17 ff., 20 ff., 25, 104 f., 141 f., 144 f., 146 f., 150, 165, 175, 259 – als Schlüsselbegriff 35 – als Schranken-Schranke 172 f. – Schutzbereich 23 f., 42 ff., 68, 70 ff., 80 f., 83 ff., 87, 105 f., 114 f., 124 ff., 127, 131 ff., 135 ff., 137, 139 f., 141 f., 155 ff., 158, 165, 172, 192 – als Wert 40 f., 57, 67, 69, 71 ff., 93, 102 f., 106, 115 f., 118, 122 ff., 137, 141 f., 146, 153, 161, 178, 182, 187, 232, 241, 242, 250, 255, 265, 268, 276 f., 280 ff., 283, 287 ff., 291 ff., 294, 295 f. – als Wertungsmaßstab 124 f. – als Wurzel der/aller Grundrechte 42, 72, 99, 101, 105 f., 111 f., 125 f., 135, 278 f. – als Zweckverbot s. Zweckverbot Menschenwürdegarantie 21, 23, 25 ff., 37 ff., 42 ff., 49 ff., 54 ff., 62, 67, 70 ff., 76, 78 ff., 84, 86 f., 99, 101 f., 108 ff., 114, 116, 120, 122, 124 f., 129, 131, 133 ff., 138, 150 ff., 158 ff., 164, 166 f., 169 ff., 182, 185, 192, 242, 254 f., 259 f., 266, 288, 292 f., 296 Mikrozensus-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 27, 1) 74 f. Mindestmaß – der Eingriffsintensität 79, 86, 197 f.
Sachwortverzeichnis – der Schwere des Eingriffs (Art. 3 EMRK) 197 f., 223, 228, 230, 231 f. – der Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben 93 f., 97 f. Mitgifttheorie 141 ff. mitgliedsstaatliche Divergenzen 293 f. Moral, Moralität 33, 60 f., 103 f., 142, 160, 162, 196, 239 f., 252 f. moralisch s. Moral, Moralität Moralphilosophie 24, 103 f., 142, 153, 254 f. Naturrecht 24, 30, 32 ff., 39, 42, 104, 141 ff., 148 naturrechtliche Positivierung – s. Positivierung des Nachturrechts Neutralitätspflicht des Staates 25, 41 f., 104 f., 144 Nichtkonsequentialismus 21 f., 42, 48, 49 ff., 61, 101, 135, 165, 171, 173 f. – s.a. Konsequentialismus – s.a. nichtkonsequentialistische Ausrichtung nichtkonsequentialistische Ausrichtung 49, 61, 100 f., 135, 171 ff. Normstruktur der Würdenorm 17, 137, 165 „numerus clausus“-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 33, 303) 69 f. Objektformel 43 ff., 47, 138, 151 ff., 153 ff., 194, 225 f., 254 f. – s.a. Menschenwürde, Definition vom Verletzungsvorgang her Offenheit des Würdebegriffs 17 f., 22, 95, 135, 137 ff., 155, 194, 259 f., 276 f., 279 Omega-Entscheidung des EuGH 249, 258 ff., 265 f. „Online-Durchsuchung“-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 109, 279) 75 f., 82 ff. Operationalisierbarkeit 26, 104, 141, 154, 157, 164 f. Organallokation 99 f. Parlamentarischer Rat 23 f., 26 ff., 41, 71, 104, 118, 142, 144, 159, 178 Paternalismus 121, 143 Peep-Show-Entscheidungen des BVerwG – Peep-Show I (BVerwGE 64, 274) 67 f., 169
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– Peep-Show II (BVerwGE 84, 314) 67, 68 f., 169 Persönlichkeit 28, 51, 68 f., 73 ff., 78, 85, 117 f., 143 f., 146, 166 f., 170, 230, 233 Persönlichkeitsbegriff 117 f. Persönlichkeitsrecht 65, 74 ff., 78 ff., 83 ff., 86, 158 Persönlichkeitsschutz 82, 86 Person 41 f., 51, 54 f., 57, 59 ff., 66, 69 f., 76, 78, 81 ff., 103, 112 f., 117, 118 f., 130, 142, 144 ff., 161, 173 f., 183, 187, 189 f. 192, 198 ff. 225, 242, 244, 246 f., 249, 255 f. Personalität 145 personelle Autonomie s. Autonomie Personsein 45 f., 138, 153, 170 physische Integrität – s. Integrität, physisch/körperliche Positivierung des Nachturrechts 39, 104 „Pretty“-Entscheidung des EMRK 236 ff., 242 Privatsphäre 75 ff., 84 ff., 150, 156, 191, 226, 228 f.
RAF-Entscheidung der Europäischen Kommission 229 ff. Raummetaphorik 74, 105 Recht auf informationelle Selbstbestimmung s. informationelle Selbstbestimmung Recht auf Leben 42, 54 ff., 130, 134 f., 161, 184, 210, 238 f., 275 Recht auf Rechte (Arendt/Enders) 119 ff. Recht auf Selbstbestimmung 60, 63 f., 66 f., 69, 84, 86, 102, 142 ff., 166, 168 f., 226 – s.a. informationelle Selbstbestimmung – s.a. Recht auf informationelle Selbstbestimmung Rechtsbegriff der Menschenwürde – s. Menschenwürde Rechtserkenntnisquelle 245 ff., 268, 270, 276 ff., 286 Rechtsfähigkeit 119 f. Rechtsgleichheit 25, 156, 170 ff., 178, 190 Rechtsperson 25, 42, 45, 48 f., 51 f., 58, 60 f., 76, 89 f., 93, 101 f., 117 f., 120 f., 126 f., 138, 151, 154, 157, 165, 166 ff., 175 Rettungsfolter 128 f., 133, 157 – s.a. Folter
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Sachwortverzeichnis
Richterrecht 19, 188 f., 243 f., 263 ff., 269, 272, 275 f., 280, 288 Schutz vor sich selbst – s. Selbstentwürdigung Schutzpflicht des Staates 28, 34, 39 f., 49 f., 55 f., 67, 89 ff., 91, 94, 106, 108, 111, 114, 127 ff., 137, 166, 190, 199, 214 f., 217, 222, 279 Schutzstandard 178 f., 186, 190, 210, 243 f., 264 f., 285, 287, 296 seelische Integrität – s. Integrität, seelisch/psychische Selbstbestimmung 60, 63 f., 66 f., 69, 84, 86, 102, 142 ff., 149 f., 166, 168 f., 226, 233, 249, 253 Selbstdarstellung 76, 145 f. Selbstentwürdigung 65 ff., 143 Selbstverwirklichung 76, 150 Selbstzweck – s. Mensch als Selbstzweck Selbstzweckformel 153, 254 f. Selbstzweckhaftigkeit 51, 64, 146, 276 – s.a. Mensch als Selbstzweck Sinnidentität der Rechtsnorm der Menschenwürde 139 Soering-Entscheidung des EGMR 206 f., 209 f., 221 f. Solange-Rechtsprechung des BVerfG – Solange I (BVerfGE 37, 271) 246, 264, 271, 286 – Solange II (BVerfGE 73, 339) 243, 264, 271 Sozialstaat 22, 39, 50, 87 f., 90 ff., 94, 97 f., 169 – s.a. Sozialstaatsprinzip Sozialstaatsprinzip 50, 87 f., 90 status negativus 113 f. Stauder-Entscheidung des EuGH 244, 246 ff., 248 f., 250, 286 „Steuerfreies Existenzminimum“-Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 82, 60) 88 f., 90 ff., 95 ff. Strafverfolgung 47, 65, 76 f., 199, 225 ff., 229 Strafvollstreckung 208, 225 ff., Strafvollstreckungsmaßnahme 225 f. Struktur des Grundgesetzes – s. grundgesetzliche Struktur
subjektives Moment 44 ff. subjektives Recht des Einzelnen 110 f., 114 f., 122, 165, 250 f., 265 f., 277 Subjektivität 43 f., 48, 56, 102, 138, 145 f., 149, 166, 191, 193 ff., 226, 253, 258 Subjektqualität 41, 45 ff., 56 f., 113, 120, 138, 153, 167, 240 f., 254 f. Subsidiarität der EMRK 186 f. Teilhaberecht 87 ff., 99 ff., 166 Theorie der Grundrechte (Alexy) 27, 71 f., 126 „ticking bomb“-Szenarien 162, 195 f., 197 – s. a. „tragic choice“-Szenarien Todesstrafe 207 ff., 212, 214, 223, 283 ff. Tötung auf Verlangen 59, 240 f. Träger subjektiver Rechte 119 f. „tragic choice“-Szenarien 160 ff. – s.a. „ticking bomb“-Szenarien Transsexuellen-Entscheidung des EuGH 248, 249 ff. UN-Antifolterkonvention 161, 198 Unbestimmtheit s. Konkretisierungsdilemma Unverfügbarkeit – des Einzelnen 254 f. – der Menschenwürde 132, 277 – des Rechts 32 f. unverzichtbare Normen (Luhmann) 159 ff. Unverzichtbarkeit von Normen – s. unverzichtbare Normen Utilitarismus 49 f. – s.a. antiutilitaristische Ausrichtung/Struktur „verächtliche“ Gesinnung 44 ff. Verbot der Folter – s. Folterverbot Verfassung (deutsche) – s. Grundgesetz Verfassung (europäische) – s. Verfassungsentwurf für Europa Verfassungsänderung 35 f., 37, 45, 77, 164 Verfassungsentwurf für Europa 19, 267 ff., 269, 271 ff., 280 Verfassungsordnung – s. Verfassung Vernunft 32, 103, 142, 168, 178
Sachwortverzeichnis Vernunftnatur des Menschen 144, 168 Vernunftrecht 168 Vernunftswesen 103, 168, 255 – s.a. Vernunftnatur des Menschen Vertrag von Lissabon 19, 181, 183 f., 244 ff., 267 ff., 269 ff., 273 ff., 281 f., 292, 293, 296 Werteordnung – der EMRK 238 f. – der Europäischen Union 184, 265, 281 – des Gemeinschaftsrechts 184, 238, 265, 281, 284 f. – des Grundgesetzes s. grundgesetzliche Werteordnung Wertneutralität
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– s. Neutralitätspflicht des Staates Wert- und Achtungsanspruch 40 f., 50, 55, 61, 72 f., 89 f., 94, 108, 110, 124, 127, 130 f., 149, 159, 166 f., 172 f., 240 f., 260 Würde des Menschen – s. Menschenwürde „Würde gegen Würde“ 127 ff., 133 Würdekern 131 ff. Würdekonzeption – s. Konzept der Menschenwürde Würdepflicht 143 Zweck an sich selbst – s. Mensch als Selbstzweck Zweck-Mittel-Relation 58, 62, 132 f., 167