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German Pages [456] Year 2011
Sarah Zalfen Staats-Opern? Der Wandel von Staatlichkeit und die Opernkrisen in Berlin, London und Paris am Ende des 20. Jahrhunderts
Die Gesellschaft der Oper Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert Band 7 Wissenschaftlicher Beirat und Herausgeber der Buchreihe: Philipp Ther, Universität Wien (geschäftsführend) Moritz Csáky, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Heinz-Gerhard Haupt, Europäisches Hochschulinstitut Florenz und Universität Bielefeld Sven Oliver Müller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin Michael Walter, Universität Graz Michael Werner, École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris
Sarah Zalfen
Staats-Opern? Der Wandel von Staatlichkeit und die Opernkrisen in Berlin, London und Paris am Ende des 20. Jahrhunderts
Oldenbourg · Böhlau · 2011
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78650-4 (Böhlau Verlag) ISBN 978-3-486-70397-9 (Oldenbourg)
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, i nsbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Umschlaggestaltung: neuwirth+steinborn, www.nest.at Umschlagabbildung: P. Sträßer, mediapool : Oper für Alle, Berlin. Druck : Prime Rate Kft., 1047 Budapest
Vorwort
Sie singen wieder, aber sie singen auf einem Vulkan – so könnte man den berühmten Bericht aus Paris von Heinrich Heine abwandeln. Scheinbar ist die Zeit der Krisen und Reformen der renommierten Opernhäuser in Berlin, London und Paris vorbei. Doch die Internationalisierungs- und Privatisierungsprozesse der staatlichen Ebenen sind keinesfalls abgeschlossen ; der demografische Wandel und die damit einhergehende Überalterung der Gesellschaft, die wachsende Zahl der Bevölkerung mit einem wie auch immer gearteten ‚Migrationshintergrund‘ und die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich werden soziale Segregationsprozesse, Verteilungskämpfe und neue Grenzziehungen verschärfen ; die rasante Entwicklung der Medien wird gewohnte Ästhetik, Kommunikationsformen und kulturelle Märkte unvorhersehbar verwandeln. Die Opernhäuser werden daher nicht zum letzten Mal infrage gestellt worden sein ; nicht zum letzten Mal ihr Beharrungsvermögen demonstriert haben und sich nicht zum letzten Mal an neue politische und soziale Bedingungen angepasst haben. Deswegen hat die vorliegende Studie weniger eine Vorher-Nachher-Untersuchung von Reformen am Ende des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen, sondern den Prozess der Krisen und ihre politische, strategische, symbolische und diskursive Dynamik. Denn genau die werden sich mit Sicherheit wiederholen. In Abgrenzung vom hochsubventionierten Kulturpessimismus, der innerhalb wie außerhalb der Kunst- und Kulturlandschaft gern gepflegt wird, wendet sich das vorliegende Buch an alle an diesem kulturellen und kulturpolitischen Wandel Interessierten sowie diejenigen, die ihn mitgestalten. Es versteht sich aber auch als ein Beitrag für eine Fachöffentlichkeit von Politologinnen und Politologen, die mit thematischem und methodischem Interesse an der „Kultur“ diesen Rand der Disziplin streifen. Meine fast lebenslange Leidenschaft für die Oper hat mit diesem Buch glücklicherweise kein Ende gefunden. Zum Abschluss gekommen ist mit der Annahme der Studie als Dissertation am Fachbereich für Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin und der Verteidigung der Arbeit im April 2010 aber die lange Zeit der Promotion. In dieser Lebens- und Arbeitsphase haben mich zahlrei-
6 Vorwort
che Menschen und Institutionen unterstützt. Auch wenn dies mich nicht von der alleinigen Verantwortung für alles Gesagte und Nichtgesagte entlasten kann, wäre die Arbeit ohne sie alle nicht die gleiche geworden. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Ralf Rytlewski, der mich zu diesem Grenzgang der Politikwissenschaft ermutigt hat und den Arbeitsprozess mit Interesse, Vertrauen und Geduld intensiv begleitet hat. Dem Zweitgutachter Udo Bermbach danke ich vor allem für sein hilfreiches Engagement ganz zu Beginn und ganz am Ende der Arbeit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ‚Colloquiums Vergleichende Politikwissenschaft‘ von Prof. Rytlewski sowie die Mitglieder der Forschungsgruppe ‚Oper im Wandel der Gesellschaft‘, haben wiederholt verschiedene Stadien der Arbeit kritisch und konstruktiv diskutiert und damit zu ihrer Reifung beigetragen. Wertvolle ‚Vorabkritiken‘ in früheren Konzeptionsphasen verdanke ich auch Herfried Münkler, Klaus von Beyme und Gerd Rienäcker. Den Kolleginnen und Kollegen der ‚Akademie Musiktheater heute‘ danke ich dafür, mich immer wieder in die reale Welt der Oper zurückgeholt zu haben, wenn die Beschäftigung mit der Opernpolitik zu kunst- und lebensfern zu werden drohte. Ann-Christine Mecke und Pavel B. Jiracek haben die (fast) fertige Arbeit gelesen und mit zahlreichen finalen Ratschlägen verbessert. Iris Törmer und Karin Bengtson haben in mühsamer Kleinarbeit die Arbeit in Form gebracht und von zahllosen Fehlern befreit. Frau Ursula Huber vom Böhlau Verlag Wien hat mir als Lektorin bei der Publikation hilfsbereit und hilfreich zur Seite gestanden. Den Herausgebern der Buchreihe „Die Gesellschaft der Oper“ danke ich für die Aufnahme in die Reihe. Promotionen sind in der Regel kostengünstiger als Opern – doch ohne ‚Subventionen‘ kommen auch sie nicht aus. Die Freiheit zum Forschen, Entdecken, Denken, Verwerfen und Schreiben gewährleistete mir allen voran die Friedrich Ebert Stiftung durch ihre großzügige materielle und ideelle Graduiertenförderung. Adalbert Schlag und Gerda Axer-Dämmer sei für ihr Verständnis auch in schwierigen Zeiten gedankt. Das Deutsche Historische Institut Paris ermöglichte mir durch ein Forschungsstipendium die Archivrecherchen zum Fall der Opéra-Bastille. Das Europäische Hochschulinstitut Florenz nahm mich sechs Monate als Visitor Student auf und ließ mich von seinem einzigartigen Arbeitsklima profitieren. Insbesondere Heinz-Gerhard Haupt vom ‚Department of History and Civilization‘ danke ich herzlich für Rat und Tat, wann immer sie gerade wieder von Nöten war – auch weit über den Aufenthalt hinaus.
Vorwort 7
Mein besonderer Dank gilt Christiane Hille, die sich als Freundin und Strategin mit mir durch das akademische Minenfeld geschlagen hat, sowie Sven Oliver Müller, der die Arbeit von Anbeginn mit Enthusiasmus begleitet und bereichert hat. Last but not least hat mich meine Familie in differenzierter Aufgabenteilung aber einmütiger Unterstützung durch die Promotionszeit geführt. Von Herzen danke ich meinen Großeltern Ruth und Bernd Hering für deren moralischen und materiellen Rückhalt, meiner Mutter Sabine Hering für zahlreiche Lehrstunden in wissenschaftlicher Taktik, meinem Vater für die theateraffine Begeisterung, meinem Mann Matthias Rauer für das liebevolle und sichere Umfeld, das er mir bot, die Arbeit zu einem Ende zu bringen, und schließlich meinen Töchtern Emilia und Clara dafür, dass sie durch ihre nahende Ankunft die Abgabe der Arbeit enorm erleichtert und beschleunigt haben.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1. Thema und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politik und Oper – zum Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . 3. Staats-Opern – zum Forschungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kulturpolitik und kulturpolitische Analyse . . . . . . . . . . . 3.2 Staat, Staatlichkeit, Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Staatsopern als institutionelles, normatives und repräsentatives Konstrukt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorgehensweise und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15 23 30 31 40
. . 47 . . 55
II. Ökonomie und Ökonomisierung der Oper . . . . . . . . . . . . . . 67
1. Das Modell der Staatsoper und seine ökonomischen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das ‚Baumol’sche Gesetz‘ und die Dilemmata staatlicher Opernförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Hofoper – Bürgeroper – Staatsoper : Zum Erbe einer Institution 1.3 Kulturstaat, Kulturverwaltung oder regulierter Opernmarkt ? . . 2. Die Berliner Opernreform : Auf der Suche nach neuen Rechts-, Finanzierungs- und Steuerungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Berliner Opernlandschaft zwischen Sparzwängen und staatlicher Neuordnung – Opernkrise und Opernreform als Verarbeitungsprozess und Handlungsoption. . . . . . . . . . . 2.2 Formelle und informelle Entstaatlichungsprozesse und ihre Rückschläge .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Neue Rechtsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 69 . 69 .. 79 . 89 106
111 136 136
10 Inhaltsverzeichnis
2.2.2 Finanzquellen .. . 2.2.3 Akteure . . . . . . 2.2.4 Festivalisierung . . 3. Rückkehr zum Markt ? . . .
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III. Die gesellschaftliche Funktion der Oper – Elitismus, Demokratisierung, Pluralisierung . . . . . . . . . . 179
1. Die Oper als Anspruch und Leistung des demokratischen Wohlfahrtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Macht des sozialen Raums Oper . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Opernbesuch und Motivationsmuster . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Demokratisierung der Oper als politische Maxime . . . . 1.4 Das Demokratisierungsparadoxon der Opernpolitik . . . . . . 2. Die Londoner Opernkrise : Revolution und Reformation der Oper 2.1 Die ‚soziale‘ Evaluierung der Oper – Kritik, Konzepte, Klassenkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Öffnung der Oper – Öffnung der Gesellschaft ? . . . . . . . . 2.2.1 ‚Soziale Barrierefreiheit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Kleiderordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Oper als ‚Event‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Kulturpolitische Neujustierung .. . . . . . . . . . . . . 3. Multiplikation der Möglichkeiten – der Staat als kulturelle Integrationsinstanz ? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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184 184 195 200 209 215
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220
.
266
242 242 251 253 260
IV. Die Oper im Spiegel neuer Repräsentationsstrategien . . . . . 280
1. Die Oper als Repräsentation traditioneller und moderner Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Opernhäuser als monumentale und theatralische Orte . . . . . . 1.2 Die politischen Funktionen von Repräsentation . . . . . . . . .
284 284 298
Inhaltsverzeichnis 11
1.3 Die ästhetischen Neutralisierungsstrategien des demokratischen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Re-Ästhetisierung des Staates .. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Bau der Opéra de la Bastille in Paris : ‚moderne et populaire‘ .. 2.1 Die Oper als staatliche Modernisierungsstrategie und Symbol des politischen Neuanfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Macht über die Oper und die Macht im Staat . . . . . . . . 2.2.1 Wahl des Standortes und des Architekten . . . . . . . . . 2.2.2 Revisionen der Bauplanung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Künstlerische und administrative Leitung . . . . . . . . . 2.2.4 Die architektonische und räumliche Gestaltung . . . . . . 2.2.5 Das Inaugurationszeremoniell . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mit der Oper Staat machen ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
302 308 314 317 329 330 335 346 355 362 367
V. Fazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
1. Staatlichkeit im Wandel - Staatsopern im Wandel ? . . . . . . . . . . 379 2. Die Opernkrisen als Verarbeitungsstrategien des staatlichen Wandels . 382 3. Perspektiven .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
„Man kann aus dem offiziellen Opernleben mehr über die Gesellschaft lernen als über eine Kunstgattung.“ (Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie)
I. Einleitung
„The opera house (…) can be interpreted as a temple which serves to deify the social ethic of the state through a design reflecting the aspirations of the regime.“1
1. Thema und Fragestellung
Die Opernhäuser, um deren Krisen es in diesem Buch geht, haben alle hörbar staatstragende Namen : Ob Deutsche Staatsoper, Opéra National de Paris, Royal Opera House, English National Opera oder Deutsche Oper Berlin – stets verweist der Name auf einen hoheitlichen politischen Raum, den diese eigentlich der Kunst des Musiktheaters gewidmeten Gebäude bilden. Obwohl es sich bei ihnen zum Teil um Einrichtungen handelt, die auf eine jahrhundertealte Geschichte zurückblicken, trugen die Opern die genannten Bezeichnungen nicht immer. In der Regel wechselten Opernhäuser mit jedem herrschenden Regime auch ihren Namen. Ihre Benennungen bezogen sich dabei meist auf ihren rechtlichen und finanziellen Träger, der häufig zugleich das künstlerische Programm und mithin die Zielgruppe der Oper bestimmte sowie die Instanz bildete, welche das Opernhaus repräsentierte. Das führte in der gut vierhundertjährigen Geschichte der Kunstform Oper in ganz Europa zu vielfältigen Verbindungen :2 Opernhäuser entstanden als Hofopern an den zentralen Sitzen großer Kaiserreiche ebenso wie an kleinen Fürstenhöfen ; als Bürger- und Volksopern in der Hand freier Städte und als 1 Bereson, The Operatic State, 34. 2 Die moderne Oper – als Musik im unmittelbaren Bühnengeschehen – wurde, so die gängige Auffassung, im Jahre 1598 von der Künstlergruppe Camerata Fiorentina beim Versuch, die griechische Tragödie wiederzubeleben, erfunden. Die historischen Entwicklungen hinter dieser zur Legende gewordenen Entstehungsgeschichte stellen sich etwas vielschichtiger dar, vor allem durch eine parallele Entwicklung der Opern an den Höfen und in den Städten. Vgl. Gerhartz, Oper, 21ff.
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private Opernunternehmen, aufgebaut oder gepachtet und betrieben von Impresarios oder Gesellschaftern, die damit nicht selten ein Vermögen verdienten. Opernhäuser öffneten ihre Pforten Monarchen, Diktatoren und Putschisten, Demokraten des rechten wie des linken Spektrums. Ludwig der XIV. inszenierte seine eigene Göttlichkeit auf der Opernbühne ; die Belgische Revolution von 1830 wählte eine Opernaufführung zum Ausgangspunkt ihres Aufbegehrens ; der Nationalsozialismus nutzte Richard Wagners Opernhaus in Bayreuth als eigene künstlerische Weihstätte ; der real existierende Sozialismus ‚erfand‘ mit einer erneuerten Oper eine eigene politische Kunstform.3 Die Diskontinuität der Herrschaftsformen reflektiert vor allem die Kontinuität der Funktion, welche die Oper für Herrschaft spielte. Denn so sehr sich mit den Machthabern die Namen, manchmal auch die Spielregeln änderten, erscheint die Geschichte der Kultureinrichtung Oper als eine Geschichte der Beständigkeit von den Anfängen im 17. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit : „Aus der Abhängigkeit der (Opern)Theater von den Fürsten sind manche Gewohnheiten auf die Demokratie übergegangen“4, beobachtet Hans Engel die deutschen Operntraditionen. Für die der Pariser Oper hebt Frédérique Patureau hervor : „L’Opéra de Paris apparaît comme le modèle presque parfait de l’institution capable de traverser le temps sans dommage, au-delà des différences fondamental de régimes et d’idéologies.“5 Und auch Ruth Bereson hat in ihrem breit angelegten Opernvergleich die Annahme bestätigt, „in times of change, it is the opera, both the institution and the house, which remains constant, while constitutions, governments, ministries, the stock exchange and even the church are in flux“.6 Opernhäuser bildeten in der Vergangenheit eine kulturelle und kulturpolitische Konstante über fast alle Systeme und Epochen hinweg. Sie waren – bei Hofe ebenso wie in der bürgerlichen Gesellschaft, in totalitären Systemen wie im modernen Kapitalismus – stets dreierlei : zum einen ein Gegenstand hoheitlicher Patronage, zweitens kommunikative Treff3 Vgl. beispielhaft Walter, Die Oper ist ein Irrenhaus, 43f.; Bereson, The Operatic State ; Fulcher, The Nation’s Image ; Slatin, Opera and Revolution ; Panofsky, Protest ; Bacht, Music. 4 Engel, Musik und Gesellschaft, 23. 5 Patureau, L’Opéra de Paris, 83f. 6 Bereson, The Operatic State, 2.
Thema und Fragestellung
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punkte bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und schließlich die Bühne einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet ist entscheidend, dass ganz gleich, welchen Ursprungs diese Opernhäuser sind oder welche turbulente Geschichte sie erlebten, sie alle im 20. Jahrhundert zu Staatsopern wurden. Alle drei genannten Charakteristika der Operntheater setzten sie fortan in Beziehung zu Staat und Politik : Ab dem späten 19., vor allem aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gingen die zuvor höfischen oder privaten Opernunternehmen in den Besitz und die Kontrolle staatlicher Ebenen über, ihren Betrieb sicherten fortan hohe Subventionen, die der Staat aus dem Steueraufkommen umverteilte. Demokratische wie autoritäre Staaten betrieben kulturpolitische Steuerung, welche die Oper mit einem ‚Auftrag‘ ausstattete. In den meist nach 1945 konzipierten oder weiterentwickelten demokratischen Kulturpolitiken galt diese Steuerung vor allem der Sicherung von kultureller Vielfalt, einem musikalischen Bildungsauftrag und der Zugänglichkeit aller Schichten der Bevölkerung zur Oper. Schließlich machten aber auch die demokratischen staatlichen Vertreter Gebrauch von der ostentativen Pracht der Oper und führten bei Staatsbesuchen oder Galaabenden das vordemokratische Herrschaftszeremoniell relativ ungebrochen fort. Opernhäuser wurden zu einem Teil des kulturpolitisch agierenden Wohlfahrtsstaates und mithin auch zu einer kulturellen Repräsentation des modernen Staatsparadigmas. Doch die so entstandene Staatsoper durchlebte in den vergangenen Dekaden an zahlreichen Orten viel diskutierte Krisen. Die öffentlichen Zuschüsse wurden gekürzt, die Betriebe standen vor der Handlungsunfähigkeit, die Besucherzahlen waren rückläufig, Galaabende muteten anachronistisch an, die Kunstform schien plötzlich nicht mehr Ausdruck eines empfundenen gesellschaftlichen Selbstbildes zu sein. Diese Opernkrisen sind der Gegenstand der vorliegenden Studie. Vor dem Hintergrund der vielfachen Verbindungen zwischen Oper und Staat werden Opernhäuser und ihre Probleme gegen Ende des 20. Jahrhunderts untersucht und in Beziehung gesetzt zu einem Prozess, den die politikwissenschaftliche Forschung seit einigen Jahren als Wandel oder Transformation des Staates reflektiert.7 „Zeiten weitreichender Umstrukturierungen von Wirtschaft 7 Mit der Erforschung dieses Phänomens befassen sich aktuell zwei Sonderforschungsbereiche :
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und Gesellschaft sind zugleich Zeiten grundsätzlicher struktur- und ordnungspolitischer Umorientierungen in Staat und Verwaltung.“8 Umgekehrt hat dieser Orientierungswandel Rückwirkungen auf das gesellschaftliche und ökonomische Leben. Die Ausgangshypothese dieses Buches lautet mithin, dass die hier analysierten Opernkrisen nicht nur eine Krise der Institution und Kunstform Oper abbilden, sondern mindestens ebenso sehr eine Krise des Staates. Die Probleme der Opernhäuser, von den sinkenden Zuschüssen und steigenden Kosten über die nachlassende Publikumsnachfrage bis zur ‚altmodischen‘ Darbietungsform, berühren Themen und Handlungsfelder, in denen die Oper kein autonomes Kunstwerk bildet, sondern Einrichtungen und Ereignisse schafft, die eng mit den gesellschaftlichen und politischen Strukturen ihres Umfeldes zusammenhängen. Die Veränderungsprozesse dieser in der ‚westlichen‘ Welt Europas oder der O E C D stets staatlich konstituierten Ordnung beeinflussen und reflektieren auch die Veränderungen der in der gleichen Ordnung kulturell und organisatorisch verankerten Staatsopern. Dieser These zu Grunde liegt die Untersuchung dreier westeuropäischer Hauptstädte, die ihre kulturelle Strahlkraft nicht zuletzt ihrer traditionsreichen Opernlandschaft verdanken : Berlin, London und Paris. In allen drei Städten – wenngleich auch auf Grund sehr unterschiedlicher Ausgangssituationen und Auslöser – avancierten die Opernhäuser in den 1980er- und 1990er-Jahren zum Problem- und Präzedenzfall, waren Gegenstand konfliktreicher politischer Debatten und Reformkonzepte, die den Status quo dieser Häuser als Staatsopern grundlegend in Frage stellten. Worum ging es in den drei Städten ? Berlin wurde zuerst durch die Vereinigung der zwei Stadthälften und dann durch die neue Rolle als Hauptstadt vor Herausforderungen gestellt. 40 Jahre lang entwickelten sich im Ost- und Westteil der Stadt Kunst und Kultur thematisch und institutionell parallel. So auch drei Opernhäuser, von denen nach dem Fall der Mauer die Staatsoper unter den Linden im Osten und die Deutsche Oper im Westen jeweils den Status des führenden Hauses in der Stadt für sich Nummer 597 : ‚Staatlichkeit im Wandel‘ an der Universität Bremen sowie Nummer 700 : ‚Gouvernante in Räumen begrenzter Staatlichkeit‘ an der Freien Universität Berlin. Beide zeichnet eine exzellente Online-Dokumentation ihrer Forschungsergebnisse aus. Ausgewählte Literatur wird in der Erörterung der jeweiligen Annahmen, Konzepte und Begriffe zitiert. 8 Bogumil, Staatsaufgaben, 28.
Thema und Fragestellung
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beanspruchten (und das dritte Haus, die Komische Oper, seinen Platz dazwischen bestimmen musste). Zum dringlichen politischen Projekt avancierten die Opern, als mit dem Wegfall der Zuschüsse des Bundes aus Bonn die Finanznot des Landes Berlins und seine mit hohen Erwartungen aufgeladene Stellung als neue gesamtdeutsche Hauptstadt aufeinander stießen. Drei Staatsopern schienen nicht mehr finanzierbar. Bei allen Umstrukturierungs- und Sparprogrammen standen die Opernhäuser immer wieder im Mittelpunkt der Debatte. Beispielhaft wollte man hier abwickeln und fusionieren, rechtlich und ökonomisch modernisieren. Schließlich wurde die Opernsituation zum Anlass genommen, eine Debatte anzustoßen, in welcher die Stellung der Hauptstadt im Föderalismus neu definiert werden sollte. Im Spannungsfeld fehlender struktureller Reformen, ökonomischer und politischer Zwänge und einem öffentlich aufgeladenen Krisendiskurs auf der einen und einem neuen Repräsentationsbedarf, einer urbanen Neudefinition des hauptstädtischen Raumes und Stadtraumes sowie der kulturellen Selbstdefinition auf der anderen Seite schien die Lösung der Opernkrise immer wieder zum Scheitern verurteilt. In London gerieten die beiden großen Opernhäuser der Stadt ökonomisch bereits in den 1980er-Jahren in die Kritik, als die Regierung Thatcher von den Opern wie von allen Kultureinrichtungen mehr Markttauglichkeit verlangte. Manifest wurden die Probleme um das Management des Hauses und die Anerkennung seiner öffentlichen Subventionierung allerdings erst, als dem Royal Opera House im Jahr 1995 78 Millionen Pfund aus den Mitteln der neu geschaffenen National Lottery zum Zwecke der Renovierung zuerkannt wurden. Die Vergabe des Lotteriezuschusses und die Ausnahmesituation der zwei Jahre währenden Umbauphase bildeten den Anlass, die Bedeutung der Oper grundlegend zu hinterfragen und mit ihr das gesamte System der in Großbritannien ohnehin relativ schwach ausgeprägten öffentlichen Kulturpolitik. Im zähen Kampf um die Oper spiegelte sich auch jener Kampf einer Gesellschaft wider, die ihre prägenden Klassenstrukturen problematisierte. Ein organisatorisches Chaos und zwei Beinahe-Bankrotte des Hauses entfachten schließlich die Krise. Die zu diesem Zeitpunkt, 1997, gewählte New Labour Regierung wollte daraufhin an der Oper ein Exempel ihrer neuen Kulturpolitik ‚für das Volk‘ statuieren. Ein Untersuchungsausschuss des Parlaments und der Plan einer Fusion der Royal Opera mit der zweiten Oper Londons, der English National Opera, sollten
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die Einrichtung unter Kontrolle bringen. Die Kräfte für den Erhalt der exklusiven Oper einerseits und ein Publikum, das an dem sozialen Ereignis der herkömmlichen Oper überhaupt kein Interesse mehr hatte andererseits, entzogen sich dieser kulturpolitischen Steuerung immer wieder. Die Opernkrise in Paris erreichte ihren Höhepunkt rund ein Jahrzehnt früher. Unmittelbar nach dem ‚historischen‘ Wahlsieg der Sozialisten 1981 kündigte der neue Präsident François Mitterrand ein großes Städtebauprogramm an, darunter ein neues Opernhaus an der Place de la Bastille. Es handelte sich um ein Prestigeprojekt par excellence, das die Oper des Volkes werden und mit der kulturellen Dominanz der konservativen Eliten des alten Opernhauses im Palais Garnier symbolisch brechen sollte. Obwohl der Wille, die Macht und das Geld vorhanden waren, stand das Projekt mehrfach kurz vor dem Scheitern und blieb durchweg das umstrittenste der präsidialen Bauprojekte. Das neue Opernhaus bildete die symbolische Arena für den Machtwettbewerb zwischen den staatlichen Ebenen von Stadt und Hauptstadt sowie den politischen Lagern. Trotz allem kam es zur planmäßigen symbolischen Eröffnung am Vorabend des 14. Juli 1989. Wegen seines repräsentativen Charakters war das Haus jedoch mit mehr Erwartung beladen, als es einlösen konnte. Es dauerte fünf Jahre, bis ein ‚normaler‘ Spielbetrieb aufgebaut werden konnte. Gegen die alte, prachtvolle Opéra Garnier, die in den Köpfen der Menschen stets der Inbegriff der Oper blieb, vermochte sich das neue Haus nie wirklich durchzusetzen. So unterschiedlich die Gründe und der Verlauf der Opernkrisen in den drei Städten im Einzelnen zunächst erscheinen mögen, zeigen sie ähnliche und sogar verallgemeinerbare Merkmale, welche in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten die Situation von Opernhäusern in ganz Europa und zum Teil darüber hinaus bestimmten. Die Krisen vollziehen sich entlang dreier auseinander driftender und von zunehmend einander widersprechender axialen Prinzipien beherrschten Bereiche.9 Ihre Ursachen, Dynamiken und Folgen sowie der Zusammenhang zwischen den verschiedenen betroffenen Bereichen sollen in dieser 9 Ohne dessen kulturpessimistischem Impetus anheim zu fallen, folge ich hier Daniel Bells bereits in den 1970ern formulierten luziden These vom Auseinanderdriften einer vormals kongruenten Sozial- und Kulturstruktur und den zunehmenden Konflikten zwischen Wirtschaft, politischer Ordnung und Kultur ; Bell, Die kulturellen Widersprüche, insb. 10, 53. Vgl. auch Hobsbawm, Kunst und Kultur.
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Studie ergründet, analysiert und bewertet werden. Dabei stehen die folgenden Dimensionen und Fragen im Zentrum : Die offensichtlichste – weil am meisten diskutierte – Krise der Oper ist die finanzielle. Fast überall kämpfen Opernhäuser mit steigenden Produktionskosten und zugleich sinkenden Zuschüssen. Die Betriebe müssen darauf durch Umstrukturierungen, die Erschließung neuer Einnahmequellen und gegebenenfalls auch eine Anpassung des künstlerischen Programms reagieren. Gleichzeitig steigt der Legitimationsbedarf der Oper, da sie in eine verschärfte Konkurrenz mit anderen öffentlich finanzierten Gütern und Einrichtungen tritt.10 Warum trifft die ökonomische Entwicklung gerade Opern so hart ? Wie verändert sich dadurch das Strukturmodell der Staatsoper ? Welche Institutionen, Verfahren und Akteure stehen zur Disposition, verändern sich oder kommen neu hinzu ? Die zweite Dimension der Krise betrifft die soziale Rolle der Oper. Der kulturelle Status der elitären und bildungsintensiven Oper ist seit der Erweiterung des Kunst- wie des Kulturbegriffs nicht mehr klar definiert. Die Demokratisierung der Kultur und eine Pluralisierung der Kulturlandschaften in der „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) entziehen der Oper den Publikumsnachwuchs. Rückläufige Auslastungszahlen und ein alterndes Stammpublikum, das den kulturellen Wandel nicht mehr mit trägt, sind die Folge.11 Welche gesellschaftliche Rolle und Funktion nimmt die Oper heute überhaupt noch ein, und welche Anpassungsleistungen erbringt sie an den sich verändernden sozialen Kontext ? Warum wird ein vermeintlich angestaubtes Randgruppenphänomen noch immer zum umstrittenen Politikum ? Welche Reichweite hat angesichts der beobachteten gesellschaftlichen Ausdifferenzierung eine ‚soziale Steuerung‘ der Oper durch einen sich als kulturell und sozial verantwortlich zeigenden Staat ? Der dritte Aspekt der Krise betrifft die repräsentative Rolle der Oper, die durch die Auflösung kohärenter Bilder und Deutungen infrage gestellt wird. Durch neue 10 Vgl. Saint-Pulgent, Le Syndrome ; Evers u.a., Trotz knapper Kassen ; Brumlik, Der Vorhang fällt ; Ebker, Politische Ökonomie ; Hoffmann, Kultur und Wirtschaft ; Renan, In Search of a Magic Flute ; Jochum/Schmid-Reiter, Teure Kunstform ? 11 Patureau, Les pratiquants ; Meyer, Taste Formation ; Rössel u.a., Die soziale und kulturelle Differenzierung ; Bittlingmayer, Zwischen Oper und Internetcafé.
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Medienformen und ihre rasante Verbreitung verliert die opulente Kunstform Oper nicht nur ihr Monopol auf das multimediale Liveerlebnis, sondern auch auf die kulturelle Verkörperung der hoheitlichen Instanz, die sie trägt. Die in der Alltagswelt veränderten Sehgewohnheiten und öffentlichen Darstellungsformen machen nicht zuletzt die repräsentative Funktion der Oper für Staat und Politik überflüssig.12 Es interessiert, ob und wie das ehemals Oper und Politik wesentlich verbindende Element der prächtigen Repräsentation in die Mechanismen der modernen Medienwelt transformiert wird und wo es zu Kollisionen zwischen den ästhetischen Traditionen der Oper und den Mitteln moderner Politikinszenierung kommt. Die Frage ist aber auch, ob eine geschlossene Ereignisform wie die Oper überhaupt noch den offenen Deutungansprüchen der Gegenwart gewachsen ist. Diese drei Entwicklungsebenen zeigen, dass die historische Kontinuität der Beziehung von Oper und Staat bzw. Politik in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart in den wesentlichen Punkten gebrochen scheint, ohne dass bislang deutlich benannt worden wäre, was an deren Stelle getreten ist. Die zentrale Frage dieser Studie ist daher, welche neue Qualität das Verhältnis von Oper, Staat und Politik erreicht, wenn die Parameter, die es traditionell bestimmen, sich fundamental wandeln. In dieser Untersuchung soll gezeigt werden, wie die Beziehung zwischen Staat und Oper auf den skizzierten Wandel reagiert, bzw. inwieweit deren Veränderungen und Krisen in den vergangenen 30 Jahren selbst Ausdruck eines Wandels sind. Dieses Erkenntnisinteresse öffnet das Thema Oper einer politikwissenschaftlichen Analyse und Begriffen, Kategorien und theoretischen Setzungen, die von einem Untersuchungsprogramm abweichen, das auf die Kunst der Oper ausgerichtet ist. Denn deutlich ist bereits, dass diese Opernkrisen keinesfalls rein künstlerische Gründe haben. In ihrem Zentrum stehen nicht musikalische Ausdrucksformen oder neue und kontroverse Entwicklungen von Inszenierungen, welche sie zum Thema der Musik- oder Theaterwissenschaft machen würde. Es sind auch keine Phänomene, die sich allein auf die betriebliche und mithin betriebswirtschaftliche Dimension der Opernhäuser beschränken und daher am besten von einer Managementanalyse erklärt werden könnten. Als facettenreiche und breit diskutierte Krisen verweisen sie vielmehr auf Umbrü12 Vgl. Tambling, A Night ; Vieira de Carvalho, Dialectic ; Jensen-Petersen, Theatre.
Politik und Oper – zum Forschungsstand
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che der politischen und gesellschaftlichen Funktion der Oper, auf einen sich auflösenden Konsens und die schwierige oder fehlende strukturelle und kulturelle Anpassung der Opern an sich möglicherweise verändernde Rahmenbedingungen. Und dies macht wiederum deutlich, dass es jene drei Bereiche sind, die in die Krise geraten sind bzw. die als Krisenerscheinung diskutiert werden, welche zu Beginn als die von vergangenen politischen Systemen geerbten Berührungspunkte zwischen Opernhaus und Staat vorgestellt wurden : Finanzierung, Steuerung der sozialen Reichweite und Repräsentation. Die Leistung dieser Untersuchung besteht darin, die Reformen und Veränderungen der Opernlandschaften in den drei europäischen Hauptstädten als Zusammenspiel struktureller, finanzieller, sozialer, kultureller und, wenn auch nur am Rande, künstlerischer Bedingungen zu betrachten.
2. Politik und Oper – zum Forschungsstand
Oper ist zweifelsfrei weder ein selbstverständlicher noch ein etablierter Gegenstand der Politikwissenschaft. Dennoch existiert eine beachtliche Bandbreite von politologischen oder sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema Oper, die im Folgenden überblickt und auf ihre konzeptionelle Erklärungskraft für die hier untersuchten Krisen geprüft werden soll. Das Erkenntnisinteresse der Literatur zur ‚Politik der Oper‘ gilt überraschenderweise fast ausschließlich der inhaltlichen Reflexion gesellschaftlicher oder politischer Entwicklungen in Opern. Dieses eigentlich musik- oder literaturwissenschaftlich begründete Vorgehen, der Analyse von Bedeutungszusammenhängen der Oper in erster Linie das Werk selbst zu Grunde zu legen, erfreut sich ironischerweise gerade unter Politikwissenschaftlern großer Beliebtheit. Zahlreiche politische Operndeutungen, mit denen allen voran Udo Bermbach das Genre überhaupt für die Politikwissenschaft gewonnen hat, belegen etwa die politischen Dimensionen der Mythen in den Musikdramen Richard Wagners oder das subversive Spiel der Mozart/Da-Ponte-Opern, das die herrschende Ständeordnung der Entstehungszeit in Frage stellt.13 Dieser Ansatz verbleibt 13 Vgl. Leibowitz, Les fantômes ; Krippendorf, Politische Interpretationen ; Arblaster, Viva la Li-
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dabei aber keinesfalls immer bei einer reinen Auswertung der Opernstoffe als politische Erzählungen. Die ganze Kunstform Oper wird (in der Vergangenheit) als das repräsentative Abbild der Gesellschaft untersucht, in der diese entstanden und produziert worden ist – „als Kommentar und Gegenwelt zur Realität, aber selbst da noch auf die Realität bezogen, wo sie diese zu transzendieren sucht“.14 Beispielhaft dafür stehen die Zusammenhänge etwa zwischen dem ritualisierten höfischen Leben und dem formalisierten Spiel der Barockopern, zwischen der Herausbildung der Nationalstaaten und der in ‚Nationalopern‘ reflektierten kulturellen Identitätssuche oder zwischen dem Selbstverständnis des Bürgertums des 19. Jahrhunderts und dessen Interesse am Individualschicksal auf der Opernbühne.15 Die auch hierin gewählte Konzentration allein auf die Werke illustriert die These vom Abbild der Gesellschaft in der Oper aber nur zu einem Teil. Die institutionellen Rahmenbedingungen, derentwegen die Aufführung von Opern überhaupt funktioniert, die Rezeption, das heißt das Publikum und sein Verhalten gegenüber dem Ereignis, sowie die Funktion einer Oper als Bühne des Hofes oder sozialer Raum, bleiben bei einer werkzentrierten Analyse außen vor. Infolgedessen kapitulieren diese Beobachtungen spätestens vor den Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Denn Neukompositionen, die sich dauerhaft im Repertoire behaupteten, die Identifikation eines breiten Publikums erreichten und damit eine Verankerung in der Gesellschaft beanspruchen könnten, gibt es in der Welt der Oper der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum noch. Die Möglichkeit, durch die Opernwerke, ihre Musik oder Libretti, etwas über die politische Bedeutung der Oper oder ihre Rolle im kulturellen Raum aussagen zu können, fällt somit weitgehend weg. In Hinblick auf die beobachteten Opernkrisen veranschaulichen diese Überlegungen höchstens, dass es einmal eine immanente inhaltliche ‚politische‘ Beziehung zwischen Gesellschaft und Oper gab und dass es ohne Frage zur Destabilisierung der
berta ! ; Bermbach/Kunold, Gesungene Welten ; Bermbach, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht ; Bokina, Opera and Politics ; Fischer, Vom Wunderwerk. 14 Bermbach/Kunold, Überlegungen, 28. 15 Schläder, Oper und Demokratie ; vgl. auch die weiteren Beiträge in diesem Heft sowie Bermbach, Oper und Politik ; Bermbach/Kunold, Abglanz ; Frevel, Musik und Politik.
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Gattung beiträgt, dass diese in der ehemals dichten Form nicht mehr existiert.16 Doch welche politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen nicht nur Opern, sondern auch Opernhäuser darüber hinaus entscheidend prägten und prägen, bleibt zunächst unklar. Damit setzen sich andere Forschungsrichtungen auseinander. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext der Oper verfolgt vor allem die Musiksoziologie. Ihre Untersuchungen lösen sich häufig von der Partitur und Textvorlage und konzentrieren sich im Rahmen kultursoziologischer Fragestellungen zuvörderst auf das komplexe Wechselverhältnis von Künstler, Kunstwerk und Gesellschaft. Sie fragen nach den Funktionen der Oper im Verständigungsprozess einer Gesellschaft und befassen sich somit – häufig mit Tendenz zur psychologischen und psychosozialen Argumentation – mit der Deutung kultureller bzw. musikalischer Formen und gesellschaftlichen Handelns.17 Die Oper entsteht in diesem Sinne „als kulturelle Symbolik (…) aus der Kultur, die den Rahmen dieses Handelns bildet – und reiht sich dann selbst in diesen Rahmen ein“.18 Das heißt, die Oper steht in einem doppelten Zusammenhang mit der Welt, in der sie existiert. Als Kunstwerk entwickelt sie sich unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ; als kultureller Kanon (Repertoire) und Institution wird sie selbst eine Rahmenbedingung für das Wissen und die kulturelle Praxis einer Gesellschaft. Die hier angestellte Analyse knüpft an die kultursoziologische Feststellung an, dass Musik oder Opern als Werk wie Aufführung soziale Produkte bzw. sozial produktiv sind. Dies erlaubt, sich gegenüber einem Verständnis abzugrenzen, das die Beziehung von Politik oder Staat und Oper als Form des Missbrauchs 16 Zweifelsohne gibt es die ‚politischen‘ Opern noch – im zeitgenössischen deutschsprachigen Raum zeigen dies zahlreiche Werke, etwa von Hans-Werner Henze, Helmut Lachenmann, Udo Zimmermann oder Olga Neuwirth. Viele von ihnen werden auch als solche rezipiert. Doch eine Verankerung in der Gesellschaft, wie sie beim Theater, aber auch bei Musicals durchaus gegeben ist, fehlt ihnen ; eine Identifikation erfolgt nur durch einen geringen, hochspezialisierten Teil des ohnehin nicht sehr breiten Opernpublikums. 17 Engel, Musik und Gesellschaft ; Martorella, The Sociology of Opera ; Adorno, Einleitung ; Blaukopf, Musik im Wandel ; Evans, Phantasmagoria ; Kaden, Musiksoziologie ; ders./Mackensen, Soziale Horizonte ; Lipp, Gesellschaft und Musik. 18 Nolte, Die Welt, 16.
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der Oper durch politische Akteure begreift. Zu gern wird der Komplex ‚Kultur‘, bzw. im Fall der Oper häufig auch ‚Musik und Politik‘, in die Schubladen des ideologischen und affirmativen Gefälligkeitsbetriebs oder des zum Zwecke politischer Machtdemonstration missbrauchten oder andernfalls hart zensierten musikalischen Opfers gesteckt. In jedem Fall stehen sich die Sphären der Musik und Politik als separate bzw. normativ separierte Einheiten gegenüber. Viel häufiger als etwa im Fall der bildenden Kunst oder des Theaters wird die ‚absolute‘ und daher per se unpolitische Musik auch in der Forschung als Normalfall und Norm angesehen.19 Der Mangel an analytischen Grautönen zwischen den Extremen einer ‚reinen‘ und autonomen Kunst am einen und einer als Propaganda missbrauchten am anderen Ende der Skala, lässt Darstellungen von Prozessen der Politisierung nur unzureichende Tiefenschärfe gewinnen. Denn sowenig der ‚reine‘ Ausdruck der Musik neutral – unbeeinflussbar und ohne Einfluss auf ihre Umgebung – ist, so unzulänglich ist ein Verständnis der Institution Oper als Tempel jenseits aller machtpolitischen Prozesse. Die Oper als eine Institution und ein gesellschaftliches Ereignis ist von ihrer Finanzierung und Intendantinnenbesetzung über die Zugangschancen und -grenzen und die Zusammensetzung des Publikums bis zum Geschmacksurteil über eine Aufführung, Teil politischer Verfahren und gesellschaftlicher Kommunikation. Wie dies im Einzelnen aussieht, haben wiederum historische Studien gezeigt, denn mit der Frage nach der Funktion der Oper hat sich in jüngeren Jahren auch die Geschichtswissenschaft zunehmend der Musik- und Musiktheatergeschichte gewidmet und haben einige Musikwissenschaftler ihren Forschungsgegenstand auch einer sozial- oder kulturgeschichtlichen Perspektive unterzogen. Jenseits reiner Werkanalysen haben Arbeiten die politische und gesellschaftliche Funktion der Oper herausgestellt, vom Repertoire über die Organisationsstruktur bis zum sich wandelnden Verhalten des Publikums und kulturellen Transfers zwischen einzelnen Opern und Ländern.20 Diese Studien sind insofern äußerst 19 Vgl. Stephan, Über Musik ; Eisel, Politik und Musik ; Gießler/Demuth, Musik, Macht, Missbrauch ; vgl. Heister, Politische Musik ; Brüstle u.a., Musik. Politik ; Canaris, Musik/Politik ; Brown/Volgsten, Music and Manipulation. 20 Vgl. etwa Fulcher, Nation ; Patureau, Le Palais Garnier ; Gerhard, Die Verstädterung ; Johnson, Listening ; Weber, Music ; Ther, In der Mitte ; Toelle, Oper als Geschäft ; Müller/Toelle, Bühnen ; Stachel/Ther, Wie europäisch ist die Oper ?
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hilfreich, da sie gemeinsam ein vielschichtiges Bild davon zeichnen, wie sich jene Opernlandschaft herausgebildet hat, die im 20. Jahrhundert die Vorstellung von dem, was Oper ist, prägt. Sie machen bekannt, welche institutionelle Entwicklung Opernhäuser in verschiedenen Ländern typischerweise durchlaufen und wie sich bestimmte Traditionen und eine spezifische kulturelle Praxis entwickelt haben, und erlauben so Schlussfolgerungen auf die Auswirkungen, die diese historischen Prozesse für die Existenz und Anerkennung der modernen Staatsopern haben. Für die jüngere Vergangenheit und Gegenwart fehlen diese Blickwinkel auf gesellschaftliche und politische Funktionen der Oper allerdings fast vollständig. Auseinandersetzungen mit der Oper von heute zielen vor allem auf den komplexen Betrieb eines Opernhauses. Häufig sind es praxisnahe Handbücher, welche die Rahmenbedingungen, Strukturen und Arbeitsfelder des Musiktheaters erklären. Sie ermöglichen einen Blick in das ‚Innenleben‘ eines Opernhauses, dessen Erkenntnisse aber bislang kaum Eingang in sozialwissenschaftliche Überlegungen fanden.21 Nicht zuletzt die finanziellen Nöte der Opernhäuser in den vergangenen zwanzig Jahren haben eine wachsende Zahl von management orientierten Studien hervorgebracht, die sich aber fast ausschließlich auf die wirtschaftlichen Betriebsstrukturen im engeren Sinne fokussieren.22 Aspekte der politischen Steuerung und Verantwortung berühren sie nur am Rande als Fragen der Subventionen und ihrer Kontrolle ; die gesellschaftliche Einbettung der Oper spielt höchstens in der Analyse von Auslastungszahlen und der Zusammensetzung des Publikums eine Rolle. Diese nicht musik-, theater- oder literaturwissenschaftlichen sondern sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zum Komplex Oper und Politik erlauben zunächst, den Forschungsgegenstand differenzierter zu benennen : Was ist ‚Oper‘ als Thema einer politologischen Studie ? Die Literaturauswahl zeigt, dass 21 Eine Ausnahme bildet der knappe Einblick von Erd, Oper als organisierter Arbeitsprozess. Vgl. ansonsten Werner-Jensen, Oper intern ; Chatfield-Taylor, Backstage ; Bermbach/Kunold, Oper von Innen ; darin insbesondere Ruzicka, Administrative Probleme ; Hoegl, Die Ökonomie ; Jacobshagen, Praxis Musiktheater. 22 Vgl. Europäische Musiktheater-Akademie, Musiktheater-Management, I und II ; Auvinen, Unmanageable Opera ? ; Renan, Magic Flute ; Jochum/Schmid-Reiter, Kunstform ; Agid/Tarondeau, L’Opéra (2006).
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die unterschiedlichen Perspektiven auch auf unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs Oper zielten : Zunächst bezeichnet eine Oper das, was in Form einer Partitur als Werk aus Noten und Text erscheint und das als Kunstform mit Musik, Gesang und Bühnengeschehen aufgeführt wird. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich hier zusätzlich der Begriff des Musiktheaters etabliert. Als kritischer Gegenbegriff zur Oper soll er zum einen die Vielfalt der musiktheatralen Formen, die sich entwickelt haben, berücksichtigen, zum anderen den Stellenwert der Aufführungspraxis gegenüber dem musikalischen Werk betonen.23 Oper bedeutet zum Zweiten aber auch den Rahmen, in dem dieses Werk gespielt wird, das heißt, eine Oper ist stets auch ein Opernhaus und zwar zugleich als Gebäude wie als Institution. Die dritte Bedeutung von Oper bezeichnet den abstrakten kulturellen Typus, der als kollektive Errungenschaft eine Projektionsfläche für Identifikation und Ablehnung schafft sowie als Ereignis spezifische Praktiken der Rezeption und Formen der Kommunikation hervorbringt.24 Schließlich lässt sich vor dieser Unterscheidung auch die Differenz zum Theater deutlich machen : Von Herbert Lindenberger stammt die hilfreiche Differenzierung zwischen ‚operatic‘ und ‚dramatic‘ – welche die Oper als eher ostentativ, extravagant, gestisch, zeremoniell und performativ charakterisiert, während das Theater mehr literarisch, beherrscht, referenziell und mimetisch sei. Eine ähnliche Unterteilung traf Friedrich Nietzsche, der das Ideal der Oper im Dionysischen sah, einer rauschhaften, kollektiven Identität zwischen Bühne und Zuschauern, die im Gegensatz stand zum apollinischen Geist der Komödie. Diese Trennungen beschränken sich mit Blick auf die soeben getroffenen Abgrenzungen keinesfalls nur auf die Oper als Kunstform, sondern kennzeichnen auch das Ereignis Oper und sogar die institutionellen Strukturen.25 23 Der Begriff wurde maßgeblich von dem Regisseur Walter Felsenstein und seinen Schülern geprägt ; vgl. Eckert, Von der Oper ; Beyer, Warum Oper ? 24 Vgl. den Artikel Oper in MGG, 635–642 ; der Artikel ist, da eine Definition nicht möglich sei, nur eine knappe Spalte lang ; es erfolgt der Verweis auf die ausführlicheren Erörterungen zu den verschiedenen Gattungen (Opera Seria, Opera Buffa, Musikdrama, Operette, Musiktheater etc.) ; auch Bereson, The Operatic State, 14 ; Fischer, Zur Problematik. 25 Vgl. Lindenberger, Opera, sowie Oliver, The Mystique ; Nietzsche, Die Geburt.
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Eine Krise der Oper kann sich in allen Bereichen dieses vielschichtigen Komplexes finden, und häufig zeigen sich diese auch miteinander verschränkt. Gerade ihre Wechselwirkungen verleihen dem Gegenstand die Fähigkeit, das ganze kulturelle, soziale und politische Spektrum seiner Umwelt zu reflektieren. Eine präzise Analyse muss sich jedoch der unterschiedlichen Bedeutungen stets bewusst sein, um zu wissen und zu benennen, welches der sich daraus ergebende Untersuchungsgegenstand ist. Die Übersicht der Forschung zu den politischen Dimensionen der Oper hat auch gezeigt, dass eine explizite und differenzierte Behandlung der Oper als Staatsoper nicht existiert. Ganz wenige, über die verschiedenen genannten Disziplinen verstreute Arbeiten haben sich überhaupt mit der Beziehung von Oper und Staat beschäftigt. Allein Ruth Bereson hat mit ihrem Buch ‚The Operatic State‘ gezielt die Oper als staatliche Einrichtung im weiteren Sinne ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt. Sie vertritt darin die These, dass über nationale Grenzen und die Epochen der Operngeschichte hinweg die Oper die vor allem zeremoniell ausgeübte Funktion erfüllte, die Macht des Staates zu legitimieren. Daraus sei wiederum eine irritierende Nähe von großen Opernhäusern zur nationalen Politik dieser Staaten entstanden, welche vor allem eine hervorstechende Bevorzugung und Stabilität dieser Staatsopern gegenüber anderen Kultureinrichtungen erkläre.26 Diese Staatsoper bildet mithin ein Modell, das sich vor allem durch Stabilität und Kontinuität auszeichnet und dessen ideelle und institutionelle Stärke sich unmittelbar aus der des Staates ableitet. Was diese Stabilität von Staat und Staatsoper aber einzuschränken vermag, untersucht Bereson gerade nicht. Diese Problematisierung bleibt auf einige Skizzen und Überlegungen begrenzt, in denen Fragen der finanziellen Souveränität des Staates angesichts einer Globalisierung der Märkte oder die Legitimationsprobleme der Oper durch konkurrierende kulturelle Entwicklungen angerissen werden.27 An anderer Stelle beschränken sich die Thesen dazu auf eine wiederholte nor26 Vgl. Bereson, The Operatic State, 11. Ähnlich argumentiert auch David Littlejohn in seinem Essay The Ultimate Art, 109 : „The prestige value of opera, and more particularly the symbolic value of opera houses and companies, have become such established articles of political faith that local, state and national government (or groups of wealthy individuals) insist on maintaining them at almost any cost.“ 27 Vgl. Bermbach, Die Oper ; ders., Oper und Politik.
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mative Verpflichtung des Staates gegenüber der Oper, sie weiter zu finanzieren – selbst und gerade in Zeiten seiner Schwäche.28
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Oper als Staatsoper zu begreifen, eröffnet ein Feld, das im Rahmen der vorgestellten Literatur und Forschung nicht abgedeckt wird. Gerade die Verschränkungen zwischen dem institutionellen und normativen Rahmen eines öffentlich subventionierten Opernhauses, den sozialen und kulturellen Funktionen eines Opernbesuches und den Prämissen, die sich aus der staatlichen Zuordnung ergeben, weisen über die dargestellten Aspekte hinaus. Das heißt wiederum, Oper als Staatsoper zu betrachten, verlangt nach einem erweiterten theoretischen und methodischen Instrumentarium, das die Besonderheit der Beziehung von Politik, Staat und Oper zu fassen vermag. Ein analytischer Zugriff oder Ansatz ist notwendig, der den unterschiedlichen Dimensionen, welche die Krise der Staatsoper beinhalten, gerecht wird bzw. sie zu strukturieren erlaubt.29 Er muss eine Staatsoper zugleich als Gegenstand politischer Prozesse sowie als Teil des kulturellen Selbstverständnisses moderner demokratischer Staaten und Gesellschaften berücksichtigen, das heißt, an die Schnittstelle von politik- und kulturwissenschaftlicher Forschung rücken. Im Kunstwerk Oper vereinen sich Musik, Text, Spiel und Bild mit Hilfe eines gewaltigen künstlerischen, technischen und verwaltenden Apparates allabendlich zum Kunstwerk. Ein Opernhaus, das dies durchzuführen vermag, ist eine komplexe und komplizierte Institution, die sich ‚leisten zu können‘ nicht nur ökonomische Potenz erfordert, sondern auch politisches Steuerungsvermögen. Zwischen Träger und Opernhaus bedarf es daher eines Systems, das die gültige 28 Vgl. Klinger, Braucht der Staat die Oper ? ; Zimmermann, Staat und Oper. 29 „Ein analytischer Ansatz ist ein der Erfassung und Ordnung empirischer Tatbestände dienendes Gerüst relativ allgemeiner Kategorien, die in der Regel auf einen bestimmten Typ von Erklärungsgegenständen zugeschnitten sind. (…) Dabei ist zu bedenken, dass Ansätze zwar orientieren und auch theoretische Prämissen enthalten, aber selbst keine gegenstandsbezogene inhaltliche Theorie darstellen.“ Mayntz/Scharpf, Der Ansatz, 39.
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politische Programmatik auf die Opern überträgt und zu deren gewünschten Resultaten führt – sei es die Verherrlichung des Souveräns oder der Zugang aller Menschen zu höchstem Kunstgenuss. Dieses System bildet die Kulturpolitik, bzw. in Bezug auf die Oper die Opernpolitik, als Summe jener Normen, Verfahren und Akteure, die auf die ideellen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Oper einwirken. Die Analyse einer Staatsoper ist daher in erster Linie stets eine kulturpolitische Untersuchung, die aber ein besonderes Augenmerk auf die Prozesse des Regierens und Steuerns und die sich dahinter verbergenden Dimensionen von Ordnung, Macht und Legitimation richtet. Es kommt im Folgenden darauf an zu bestimmen, wer oder was dieser Staat ist, auf den sich die Staatsoper bezieht, inwieweit dessen Veränderungen auch die Opern in die Krise stürzen, bzw. Probleme und Konflikte der Opern Ausdruck dessen sind, was auch einen Wandel von Staat und Staatlichkeit erkennen lässt. Dabei steht die Benennung von Begriffen und Beziehungen im Mittelpunkt – von Kultur und Kulturpolitik, Staat und Staatlichkeit, von Politik, Steuerung und Regieren und deren theoretischer Neukonzeption als Governance und Gouvernementalität. Entsprechend kann es nicht um die Exegese einzelner Autoren oder die Rekonstruktion ganzer Forschungsrichtungen gehen. Auch versteht sich diese Untersuchung dezidiert nicht als eine ‚Governance-Studie‘ oder ‚Analyse kulturpolitischer Gouvernementalität‘. Das heißt, es soll kein theoretisch kohärenter Rahmen erarbeitet und dessen Erklärungsvermögen im Anschluss an empirischen Fallstudien überprüft werden. Vielmehr gilt es, im Rahmen der Konzeptionalisierung der Studie nach den geeigneten Begriffen und Kategorien zu suchen, die erlauben, das diagnostizierte Staatsopernproblem zu analysieren, zu benennen und infolgedessen weitreichend zu erklären und zu verstehen. 3.1 Kulturpolitik und kulturpolitische Analyse
Was ist und wer betreibt Kulturpolitikforschung ? Innerhalb der Politikwissenschaft ist die Kulturpolitik kein unbekanntes, aber ein vernachlässigtes Gebiet. Die Feststellung, dass es sich bei ihr offensichtlich um eine „besonders eigenartige Policy“ (Hans J. Lietzmann) handele, reflektiert die Komplexität des Begriffs ‚Kultur‘ bzw. die Menge der Gedankengänge, die über lange Zeit in die-
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sem Begriff zusammengeflossen sind,30 und verhindert die Einbindung in die Untersuchungsweisen anderer Politikfelder. Dennoch existieren zahlreiche explizite kulturpolitische Studien und auch Handbücher,31 an eigens dafür eingerichteten Instituten wird Kulturpolitik erforscht, und mit den ‚cultural policy studies‘ hat sich sogar eine internationale Forschungssubdisziplin etabliert und professionalisiert. Einen gemeinsamen Gegenstand, Methodenkanon oder ein einvernehmliches theoretisches Gerüst gibt es dabei jedoch nicht – „cultural policy research exists in many contexts, asks many different kinds of questions and adopts a wide repertoire of research methodologies from a raft of academic discourses“.32 Man mag angesichts dieser Diversität daran zweifeln, ob es überhaupt mehr gibt, das diese Forschungen eint, als sie trennt,33 doch spiegelt sich auch in der Vielfalt der Ansätze letztlich jene ‚Eigenartigkeit‘ des Gebietes wider, die es zu bestimmen gilt. Um diese zu verdeutlichen und sich dem kulturpolitischen Fall der Staatsoper zu nähern, werden im Folgenden drei verschiedene Ansätze Kulturpolitik zu untersuchen idealtypisch unterschieden, die sich in ihren Grundzügen in der deutschen, englischsprachigen und französischen Literatur gleichen. Dies sind 1. policy-orientierte, 2. normative und 3. kulturalistische Ansätze der Kulturpolitikforschung. 1. Kulturpolitik lässt sich zunächst als ein Politikbereich unter anderen betrachten. Ganz im Sinne der klassischen Definition von Thomas Dye, die Politik-/ policy-Analyse frage danach, „what governments do, why they do it, and what difference it makes“,34 kann Kulturpolitik als die Einflussnahme politischer Akteure und Verfahren auf die Produktion, Verbreitung und Rezeption von Kunst und Kultur untersucht werden. Kulturpolitik bedeutet in diesem Verständnis die Summe der institutionellen Mittel und Handlungen des 30 Vgl. Bauman, Culture ; sowie Williams, Keywords ; Konersmann, Kultur, 352. 31 Vgl. Langenbucher u.a., Kulturpolitisches Wörterbuch ; Cummings Jr./Katz, The Patron State ; Mundy, Cultural Policy ; Seelwood, The UK-Cultural Sector ; La Documentation Française, Institutions. 32 Scullion/García, What is Cultural Policy Research, 113. 33 Vgl. ebd.; Fuchs, Gesellschaft und Kultur, 62 ; Rytlewski, Kulturpolitik. 34 Dye, Policy Analysis ; Schubert/Bandelow, Politikdimensionen.
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Regierens, die eingesetzt werden, um einerseits Kultur als gesamtgesellschaftliche Kategorie zu prägen und andererseits die Kulturproduktion zu ermöglichen und zu steuern. Das Erkenntnisinteresse so angelegter Kulturpolitikanalysen zielt auf alle Prozesse, die sich im Zusammenhang von politischen Zielvorgaben, den dafür eingesetzten Ressourcen und den damit erzielten Ergebnissen vollziehen.35 Die oftmals evaluativ oder konsultativ angelegten Studien beschreiben die jeweiligen politischen, gesetzlichen, administrativen, finanziellen und institutionellen Rahmenbedingungen von Kulturpolitiken und ihre Wechselwirkungen mit dem jeweiligen politischen System. Zunehmend vergleichend werden einzelne nationale oder auch regionale Strukturmerkmale auf ihre potenziellen Gemeinsamkeiten und Besonderheiten geprüft. Konzeptionell besteht die Leistung dieses Ansatzes darin, kulturpolitische Kategorien zu benennen und zu klassifizieren. Dazu gehören maßgeblich die zentralen Handlungsprinzipien und Handlungsstrukturen eines Landes, das heißt, ob etwa Staatsferne oder starke staatliche Verantwortung gegenüber der Kultur proklamiert oder Kulturpolitik als zentrale oder dezentrale, hoheitliche oder geteilte Aufgabe betrieben wird und welche Akteursgruppen und verschiedenen Finanzierungsformen und Institutionentypen daraus hervor gehen.36 2. Von solchen Studien, die ihr Interesse auf die ordnende Dimension von Kulturpolitik richten, sind Abhandlungen zu unterscheiden, die sich auf ihre inhaltliche Dimension konzentrieren.37 In deren Fokus steht die grundsätzliche Frage danach, welche Rolle Kultur für eine Gesellschaft spielen soll und welche Form von Kulturpolitik dieser Rolle am besten gerecht werde. Diese normative Perspektive entwickelte sich länderübergreifend vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren, als das traditionelle Bild von der Kultur als dem Wahren, Schönen und Guten Risse bekam.38 Durchaus vergleichbare pro35 Vgl. Nagel, Policy Theory, xvii, oder darin Schneider/Ingram, Policy Design, 80 ; als kulturpolitische Studie : Gau, Kultur als Politik. 36 Vgl. exemplarisch Nielsen, Critical Public Agent ; Benedict, Public Money ; Becker, Kulturfinanzierung ; Heinrichs, Kulturpolitik ; ders., Kulturbetrieb ; Söndermann, Zur Empirie ; Klein, Kulturpolitik ; die Beiträge in Katz/Cummings, The Patron State ; Dubois, La politique. 37 Diese Unterscheidung trifft Heinrichs, Kulturpolitik, 48f. 38 Exemplarisch ausgeprägt fand sich diese Haltung in Deutschland, wo der kulturelle Absturz in den Nationalsozialismus mit einer demonstrativen Rückkehr zu den uneingeschränkt aner-
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grammatische Schriften, wie in Deutschland etwa von Hilmar Hoffmann, in Frankreich von André Malraux und in Großbritannien von Roy Shaw (um nur die Bekanntesten zu nennen – sie alle waren selbst kulturpolitisch wie wissenschaftlich aktiv), konzipierten als Antwort auf eine beschleunigte soziale Mobilität, die kulturelle Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtstaates und weitreichende Demokratisierungsbestrebungen eine ‚Neue Kulturpolitik‘.39 Für diese galt ein ‚erweiterter‘ bzw. ‚inklusiver‘ Kulturbegriff, der Partizipation statt Repräsentation, Kreativität statt Konsum proklamierte. Erst diese begrifflichen Verschiebungen machten aus Kunstpolitik im feudal-aristokratisch geprägten Sinne, Kulturpolitik als Kristallisationspunkt demokratietheoretischer Überlegungen für den Kulturbereich.40 Dieser Wandel ist maßgeblich für den normativen Duktus, mit dem Kulturpolitik bis heute formuliert und als Verständigungsprozess einer Gesellschaft mit sich selbst verstanden wird. Während an anderer Stelle die These vertreten wird, dass Kulturpolitik „im Sinne einer Umsetzung politischer Ziele mit Hilfe von Kultur (…) obsolet geworden“ sei,41 beanspruchen Autoren des normativen Ansatzes wieder und mit verstärktem Interesse seine Aktualität.42 Der Topos der ‚Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik‘ bzw. des tout culturel oder der cultural democracy, ist durch keine neue Narration der Kulturpolitik ersetzt worden und insofern weit lebendiger und vor allem im kulturpolitischen Alltag präsenter, als das der Wandel kulturpolitischer Arbeitsfelder seit dem Aufkommen dieses Ansatzes zunächst nahelegen mag. kannten Errungenschaften der deutschen Kultur beantwortet wurde. Vgl. Kinsky-Weinfurter, Sturz der Denkmäler, 37ff.; Glaser, Deutsche Kultur. 39 Vgl. nur Hoffmann, Kultur für alle ; Schwencke/Sievers, Kulturpolitik ; Wagner, 20 Jahre ; Wangermée, Programme Européen, 35f., 183ff.; Malraux, La politique ; Djian, Politique culturelle ; Shaw, The Arts ; Ridley, Tradition. 40 Begriffe wie ‚Soziokultur‘ ‚démocratie culturelle‘ oder ‚cultural democracy‘ sind im Zuge dessen entwickelt worden. Sie betonen die Aufwertung der Alltagskultur gegenüber klassischen Institutionen der Hochkultur und bereiteten Dezentralisierungsprozessen und Programmen für die bislang unterprivilegierten Gruppen den Weg auf die kulturpolitische Agenda. Kulturpolitik in diesem Sinne bedeutet Kultur als Politik – Kultur wird zu einem politischen Instrument (auch wenn der instrumentelle Charakter prinzipiell streng abgelehnt wird). 41 Heinrichs, Kulturbetrieb, 9. 42 Vgl. Tusa, Art Matters ; Mundy, Cultural Policy ; Sievers/Wagner, Jahrbuch für Kulturpolitik 2006, insbesondere die Einleitung ; Schneider, Legacy.
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3. Ein dritter Bereich kulturpolitischer Forschung, der im deutschsprachigen Raum kaum ausgeprägt ist, macht diesen normativen ‚Überbau‘ der Kulturpolitik gleichsam zum Thema. Ihm zu Grunde liegt die Annahme, dass sich Kulturpolitik von den meisten anderen Politikfeldern durch die enge Verbundenheit mit fundamentalen Wertvorstellungen, Traditionen und der ‚Identität‘ einer Gesellschaft unterscheidet.43 Zugespitzt heißt das, „to understand the cultural politics of a country, one must first understand its political culture“.44 Damit verschiebt sich das Verständnis von Kulturpolitik als Politikbereich maßgeblich ; mit Murray Edelman lässt sich reformulieren : „A ‚policy‘, then, is a set of shifting, diverse, and contradictionary responses to a spectrum of political interests.“45 Aus dieser Perspektive geht es daher bei Kulturpolitik weniger um Probleme politischer Administration, sondern „about the clash of ideas, institutional struggles and power relations in the production and circulation of symbolic meanings“.46 Die Konzeption dieser Studie orientiert sich in wesentlichen Merkmalen an einem solchen Verständnis. Diese Perspektive soll daher eingehender betrachtet werden, denn sie spiegelt zugleich auch einen allgemeineren thematischen und methodischen Wandel innerhalb der Politikwissenschaft im Sinne des ‚cultural turn‘.47 Wenn es um Fragen der ‚Kultur‘ ging, galt in der Politologie lange die politische Kulturforschung als zuständig. Die 1963 von Gabriel Almond und Sidney Verba veröffentlichte Studie „The Civic Culture“ bereitete ein Forschungsfeld, auf dem international bald 50 Jahre die politische Kultur verschiedener Länder und Bevölkerungsgruppen beobachtet, ausgewertet und vor allem verglichen wird. Im Fokus 43 Vgl. Bennet, Putting Policy ; McCuigan, Culture ; ders., Cultural Methodologies ; Beyme, Kulturpolitik ; Rothfield, Cultural Policy Studies ; de Franz, KulturPolitik ; Mulcahy, Cultural Policy. 44 Ridley, Tradition, 225. 45 Edelman, Constructing, 16. 46 McGuigan, Culture, 1f. 47 Als Initialzündungen des Cultural Turn gelten gemeinhin die beiden Arbeiten von White, Metahistory ; und Geertz, The Interpretation. Vgl. zum kulturellen Paradigmenwechsel und den Konzepten und Methoden (vor allem in Soziologie und Geschichtswissenschaft), Kultur als ein symbolisches, linguistisches und repräsentatives System zu begreifen, die Übersicht von Bonell/ Hunt, Beyond the Cultural Turn, sowie von Reckwitz, Die Transformationen ; Musner, Cultural Turn.
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der politischen Kulturforschung steht die Analyse der subjektiven Dimensionen politisch-gesellschaftlicher Grundlagen. Mit Hilfe der Methoden der empirischen Sozialforschung werden die politischen Prädispositionen, die Einstellungen, Meinungen und Werte von Individuen erfragt und zu einem Gesamtbild – eben der politischen Kultur – einer ganzen Gesellschaft geknüpft.48 Kritik an diesem Ansatz traf und trifft vor allem dessen methodische Engführung durch eine rein quantitative Auswertung von Umfragen und die fehlende Anschlussfähigkeit an einen erweiterten Kulturbegriff.49 Statt der mentalen ‚Einstellungen‘ gegenüber einer politischen Ordnung interessieren diese Kritiker die ‚Vorstellungen‘ innerhalb einer Gesellschaft, von ihnen werden „keine subjektiven Meinungen, sondern intersubjektiv geltende, teilweise latente, ideelle Deutungsmuster und ihre Vernetzung in komplexen Weltbildern untersucht“.50 In Deutschland forderte zuerst Karl Rohe, die Aufmerksamkeit auch auf jene äußerlichen, sinnfälligen bzw. ästhetischen Dimensionen des Politischen zu richten, die etwa das politische Weltbild ausdrückt, und somit die Vorstellungswelt der politischen Kultur als eine autonome Ebene politischer Wirklichkeit zu untersuchen.51 Trotz dieser symboltheoretischen Erweiterung hat erst der explizite Ansatz, Politikwissenschaft (auch) als Kulturwissenschaft zu betrachten und zu betreiben, endgültig mit der Dominanz der politischen Kulturforschung als kompetenter Instanz zur Untersuchung kultureller Phänomene gebrochen.52 In den vergangenen Jahren haben sich politische und soziologische Studien vermehrt auf die Suche nach konzeptionell neuen Wegen der Erforschung von Kultur in der Politik gemacht.53 Das ge48 Almond/Verba, The Civic Culture ; Ellis/Thompson, Culture Matters. Einen aktuellen Überblick bieten Pickel/Pickel, Politische Kultur- und Demokratieforschung. 49 Vgl. v.a. Schirmer, Vom schwierigen Verhältnis, 19 ; Berg-Schlosser/Schissler, Politische Kultur, 18ff. 50 Stachura, Zwischen nationaler Identität, 292. 51 Vgl. zu seiner Unterscheidung zwischen einer Inhaltsseite, die normativ und kognitiv geprägt ist, und einer Ausdrucksseite, die affektiv und ästhetisch ist : Rohe, Politische Kultur, sowie ders., Politische Kultur und ihre Analyse. 52 Vgl. Schwelling, Politikwissenschaft ; Müller u.a., Der Sinn ; Soeffner/Tänzler, Figurative Politik. 53 Allerdings hat manch Theoretiker, neben Max Weber etwa Ernst Cassirer oder Erich Voegelin, im Zuge dessen eine Renaissance erfahren und dadurch zugleich bereits vorhandene Verbindungen zwischen Sozial- und Kulturwissenschaften belegen können.
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meinsame Ziel dieser Ansätze ist dabei, disziplinäre Grenzen zu überwinden und kulturwissenschaftliche Kategorien und Methoden54 für die politische Analyse fruchtbar zu machen. Dabei kommt dem Kulturbegriff, „der Status einer Fächer übergreifenden Orientierungskategorie zu, die den etablierten Fächerkanon einer kritischen Revision unterziehen soll“.55 Drei Merkmale eint diese Ansätze : Erstens verschieben sich das Erkenntnisinteresse und dessen theoretische Basis. Ins Zentrum rückt die Konzeption gesellschaftlicher Realitäten, die nicht als Tatsache sondern als Deutung von Akteuren zu begreifen sind. An die Stelle der Rekonstruktion einer empirisch nachweisbaren Wirklichkeit ist eine postpositivistische Analyse ihrer geteilten oder konkurrierenden Wahrnehmung getreten. Das Interesse richtet sich daher vornehmlich auf soziale Ordnungen und ihre kommunikativ geteilten Vorstellungen von dem, was sie herstellt, verbindet und trennt. Für den Blick auf die Politik heißt das, anstatt er schöpfende gesellschaftstheoretische, philosophische oder auch ideologische Definitionen des Politischen zu destillieren, „geht es darum, die Formung der gesellschaftlichen und politischen Alltagswirklichkeit durch symbolisch kommunizierte Sinnhorizonte aufzuzeigen, aber auch umgekehrt den ‚Widerhall‘ struktureller Veränderungen im Selbst- und Weltverständnis politisch Handelnder zu fassen“.56 Das heißt, das Ziel ist nicht allein, etwa legitimitäts- oder steuerungstheoretische Verfahren um einen ‚kulturellen Überbau‘ zu erweitern, sondern nach den Voraussetzungen einer politischen Gemeinschaft, ihren Identitäten und ihrer Wahrnehmung der Welt zu fragen, vor deren Hintergrund Legitimitäts- und Steuerungsprobleme überhaupt erst entstehen. Die zweite Gemeinsamkeit bilden die bevorzugten Gegenstände kulturwissenschaftlich ausgerichteter Untersuchungen. Erforscht wird, was sich im Sinne des genannten Erkenntnisinteresses als von Akteuren gedeutet und umgedeutet, angeeignet, verstanden oder verinnerlicht betrachten lässt – mithin jene Gegenstände und Prozesse, welche die soziale und politische Wirklichkeit konstituieren und repräsentieren : Bilder, Symbole und Sprache, Normen, Rituale und Prakti54 Vgl. Nünning, Grundbegriffe ; Kittsteiner, Was sind Kulturwissenschaften ; Aleksandrowicz, Die beiden Probleme. 55 Schwelling, Der kulturelle Blick, 15. 56 Ebd., 9 ; vgl. auch Zifonun, Politisches Wissen ; Reckwitz, Die Politik der Moderne.
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ken etc. Insbesondere die Bestimmung und Analyse ‚symbolischer Politik‘57, der ‚Inszenierung‘ und ‚Theatralisierung‘58 von Politik sowie politischer ‚Mythen‘59 und ‚Rituale‘60 haben sich dabei als politologische Themenfelder etabliert. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt den sogenannten neuen Medien, die mit neuen Hör- und Sehgewohnheiten andere Rezeptions- und Deutungsformen und somit eigene schnelllebige gesellschaftliche und politische Wirklichkeiten schaffen.61 Ins Blickfeld rücken alle Komponenten der Deutung und Bedeutung der gesellschaftlichen Welt – sowohl die kognitiven, das heißt das Wissen, die Sozialisation und die Wertehorizonte der Individuen und Kollektive, als auch die affektiven, etwa Emotionen aber auch ästhetische Ausdrucksformen.62 All diese symbolischen Formen werden nicht mehr als falsche Verschleierung einer ‚wahren‘ Politik, sondern als konstitutive Momente der Her- und Darstellung politischer Wirklichkeit begriffen. Drittens schließlich zeichnet diese kulturalistischen Ansätze auch eine methodische Wende aus. Die breite Kritik an der quantitativ standardisierten Sozialforschung hat die Entwicklung eines heterogenen Feldes qualitativer Methoden mit sich gebracht. Dazu gehören vor allem die (post)strukturalistische Analyse von Texten als Zeichen, sowie die Hinwendung zur Interpretation, die das (hermeneutische) Verstehen ins Zentrum der Analyse rückt und nicht das objektivierende Lösen von Sachverhalten und Zusammenhängen. Bildanalysen erörtern die Mechanismen politischer Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit oder die Politisierung von Bildern ; Diskursanalysen unterziehen politische Texte und Reden einer kritischen ‚zweiten‘ Lektüre, etc. Die verschiedenen (linguistic, iconic, spatial, performative etc.) ‚turns‘, die mit steter Regelmäßigkeit ausge57 Buchstein u.a., Politik der Integration ; Göhler, Politische Symbole ; Sarcinelli, Symbolische Politik. Vgl. auch schon das Theorem, den Menschen als ein ‚symbolisches Wesen‘ zu begreifen, bei Cassirer, Theorie. 58 Willems/Jurga, Inszenierungsgesellschaft ; Früchtl/Zimmermann, Ästhetik ; Münkler, Die Theatralisierung ; Meyer/Kampmann, Politik als Theater ; Sarcinelli, Machtdarstellung ; FischerLichte, Politik als Inszenierung. 59 Dörner, Politischer Mythos ; Münkler, Die Deutschen. 60 Edelman, Politik als Ritual ; Rytlewski, Die Rückkehr. 61 Sennet, The Fall ; Dörner, Politainment ; Meyer, Mediokratie. 62 Göhler, Institutionen ; auch v. Beyme, Warum gibt es keine Kunstpolitologie ? ; Ullrich, Mit dem Rücken zur Kunst ; Vorländer, Zur Ästhetik.
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rufen werden, verweisen vor allem auf die methodischen Kategorien, mit denen kulturalistische Analysen operieren.63 Im Rückgriff auf die Untersuchung von Kulturpolitik bedeutet diese kulturalistische Erweiterung, nicht das institutionalisierte Politikfeld Kultur zu betrachten, das den kulturpolitischen Status quo darstellt, sondern Prozesse kulturell motivierter politischer Interaktion, die sich mit diesem Bestand auseinandersetzen. Das Besondere oder eben ‚Eigenartige‘ an der Kulturpolitik ist dann ihre unmittelbare Verknüpfung mit der Ausdrucksseite der Politik. In den Kunstformen, im Kulturkonsum oder im kulturellen Erbe, welche Teile des kulturpolitischen Aufgabenfeldes bilden, sind Symbole, Repräsentation und Emotionen zu Hause. Die politikfeldorientierte Analyse von Kulturpolitik kann diese nicht greifen, weil sie sich darauf beschränkt, politische Prozesse im Rahmen bestimmter institutioneller Strukturen zu untersuchen, in den Worten Rothfields, darauf „to deal with measurable aggregates rather than aesthetic particularities ; costs and benefits rather than pleasures and values ; objective fact and figures rather than subjective experiences and meanings ; institutions rather than texts or images“.64 Es sind aber genau ästhetische Merkmale und Repräsentationen, Werte und Emotionen, Erlebnisse und Deutungen, die im kulturpolitischen Bereich sowohl dessen Handlungsfeld bilden als auch deren politisches Handeln determinieren. Ist Kultur im Rahmen einer policyorientierten Betrachtung in erster Linie ein Gegenstand politischer Entscheidungen und Verfahren, lösen sich Kultur und Politik in einer ‚kulturalistisch informierten‘ Untersuchung als essentialistische Kategorien auf. (Kultur)politische Weltbilder, Wirkungsräume und Handlungsspielräume werden erst als kulturell vermittelt verstanden. Untersucht werden mithin weniger die konkreten Akteurskonstellationen, die Höhe von Subventionen oder Sponsoringanteilen, sondern vielmehr, welche Gemeinschaftsbilder in bestimmten kulturpolitischen Programmen und Projekten zum Ausdruck kommen, welches Machtpotenzial in dem Betreiben von Kulturpolitik steckt, welche Konflikte innerhalb 63 Vgl. etwa die Ergebnisse der von Claus Leggewie gegründeten Arbeitsgruppe an der Universität Gießen BiPolAr, außerdem Holert, Imagineering ; Keller u.a., Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, darin insb. Nullmeier, Politikwissenschaft. 64 Rothfield, Cultural Policy Studies, 2.
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ihrer Strukturen zustandekommen, wie sie ausgetragen oder gelöst werden. Der Blick richtet sich auf die tradierten kulturellen Muster, die Kulturpolitik und Kulturbetrieb zu Grunde liegen und welche die Kommunikation über Kultur prägen. Welche Beziehungen lassen diese verschiedenen Analyserahmen von Kulturpolitik zwischen Politik und Oper erkennen, und vor allem, welche Rolle spielt dabei der Staat als hoheitliche Instanz der Kulturpolitik ? Was und wer ist überhaupt dieser Staat ? Kurzum : Was macht die Oper zur Staatsoper ? 3.2 Staat, Staatlichkeit, Steuerung
Der Staat ist zunächst definierbar als ein anerkannter politischer Herrschaftsverband und als solcher als eine Institution, die darauf spezialisiert ist, auf einem bestimmten Staatsgebiet für ein bestimmtes Staatsvolk kollektive bzw., weil diese Gemeinschaft sie für sich als Ganzes für zentral erachtet, normative Güter zu erbringen.65 Die dazu notwendigen Kompetenzen, das heißt die Fähigkeit und das Recht zu entscheiden, zu organisieren, das damit geschaffene verbindliche Regelwerk auch durchzusetzen und dafür die ‚Letztverantwortung‘ zu tragen, hat sich der Staat in einem historischen Prozess angeeignet und sie ehemaligen hoheitlichen Instanzen wie Kirche, Adel oder Hof abgenommen. Diese Kompetenzen der Herrschaftsausübung umfasst die Staatlichkeit, deren Monopol der Staat gewann. Seine moderne Legitimationsgrundlage dafür erwarb dieser Staat in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts als demokratischer Nationalstaat, das heißt, indem er „zum Ausdruck der demokratischen Selbstbestimmung der Nation“ wurde. Damit entwickelte er sich nicht nur zur zentralen Steuerungs- und Sanktionsinstanz, sondern auch zum Brennpunkt der Integration und Identifikation seiner Staatsbürger.66 Als solches Erfolgsmodell 65 Vgl. Genschel, Zerfaserung. Handbücher und Lexika der Politikwissenschaft definieren den Staat im weitesten Sinne etwa als „die Gesamtheit der öffentlichen Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen in einem Gemeinwesen gewährleistet bzw. gewährleisten soll ; traditionellerweise definiert durch drei Elemente : (1) Staatsgebiet, (2) Staatsvolk und (3) Staatsgewalt“, so in Nohlen/Schultze/Schüttemeyer, Lexikon, 606. 66 Genschel, TransState Working Paper, 45 ; vgl. auch Anderson, Imagined Communities ; Gellner, Nations.
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wurde er im 20. Jahrhundert schließlich sowohl Kern des totalen und totalitären Staates mit seinem mithin katastrophalen Destruktionspotenzial. Er wurde aber auch für die Lenkung und Korrektur seines letzten großes Gegenpols, des Marktes, in die Verantwortung genommen, womit er als demokratischer Interventions- und Wohlfahrtsstaat seine Blüte erreichte. Diese Zeit, deren Zentrum die 1950er- bis 1970er-Jahre bilden, in der der Staat für die Gewährleistung von Frieden und individueller Freiheit, sozialer Sicherheit, materiellem Wohlstand und kultureller Vielfalt stand, wird auch als ‚goldenes Zeitalter‘ des Staates bezeichnet.67 Der Staat wurde als Garant für die Gesamtheit der Aktivitäten zur Herstellung und Durchsetzung einer verbindlichen und/oder am Gemeinwohl orientierten Ordnung auch die höchste politische Autorität.68 Die Leistungen des Staates manifestierten sich als Rechtstitel der Bevölkerung und diese mithin zur staatlich gelenkten Gesellschaft.69 Damit entwickelte sich der Staat auch zu einer Art Gravitationszentrum, auf das sich vielfältige Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, Territorialität und Gemeinschaft, Macht, Legitimität und Recht beziehen. Andrew Vincents „Theories of the State“ bestimmen den Staat im Sinne dieser Vielfalt als „a complex of ideas and values, some of which have an institutionally reality. These ideas are diverse in texture and diverse in interpretation“.70 Die Kompetenz und Anerkennung, diese Diversität zu ordnen, erfolgreich multiple Realitäten zu kompatibilisieren, mit Sinn zu versehen und einem kollektiven Deutungsrahmen zu unterwerfen, lässt sich als symbolische Macht bezeichnen, die durch Pierre Bourdieu definiert wurde als „the power to construct reality“.71 Staatlichkeit umfasst also neben dem Monopol zu entscheiden, zu organisieren sowie die Letztverantwortung zu tragen, auch das Monopol auf die symbolische Macht, diese Kompetenzen als Realität des Staates zu repräsentieren. Ihr eigen sind all 67 Vgl. Leibfried/Zürn, Transformationen ?, 34 ; Senghaas, Der Leviathan. Die Länder der OECD gelten als jene, in denen sich die ‚klassische‘ Form der Staatlichkeit entwickelt hat, in der die modernen westlichen Demokratien zusammen mit den Nationalstaaten entstanden und, wie Gerhard Göhler betont, „geradezu exklusiv nationalstaatlich codiert“ sind ; Göhler, Weiche Steuerung, 22. 68 Vgl. zum Begriff der Politik die Übersichten bei Meyer, Was ist Politik ; Rohe, Politik. 69 Vgl. Bell, Die kulturellen Widersprüche, 33. 70 Vincent, Theories, 11. 71 Bourdieu, Language, 166 ; vgl. auch Edelman, Constructing ; Vincent, Le Pouvoir, 83.
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jene „rituels et les symboliques, qui sont associés à la perpétuation du pouvoir dans les mises en scène de la légitimité“.72 Dieser als Norm und Normalfall der O E C D -Welt geltende Typus des Staates, so hat es die jüngere Forschung konstatiert, unterliegt einem paradigmatischen Wandel.73 In vielen Teilen der Welt kommt er gar nicht mehr zu Stande oder zerfällt zu anderen Kräften ; doch auch in der westlichen Welt, wo der steuernde und sanktionierende Staat prinzipiell noch intakt ist, wird ein Bedeutungsverlust des neuzeitlichen und modernen Staatsparadigmas festgestellt. Allerdings bedeutet dies kein Scheitern oder sich Auflösen des Staates, sondern bezeichnet vielmehr einen – vielfach vom Staat selbst induzierten – Prozess, in dem der Staat sein Monopol auf Staatlichkeit und mithin auf die Formen, wie er sanktioniert, steuert und regiert, verliert : „Nach wie vor ist der Staat die einzige wirklich anerkannte Institution, in der Herrschaft demokratisch verfaßt und durchgeführt werden kann. (…) Hingegen entpuppen sich politische Programme einer Entstaatlichung, Privatisierung oder Deregulierung in aller Regel als Veränderung der Art und Weise, wie Aufgaben erfüllt werden.“74 Die in der Staatlichkeit gebündelten Kompetenzen der Herrschaftsausübung, so das Bild, das von dem Bremer Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ gezeichnet wurde, ‚zerfasern‘ durch zwei Entwicklungen : zum einen, auf einer räumlichen Achse, durch Internationalisierung und Globalisierung, das heißt die Übergabe einzelner vormals nationalstaatlich monopolisierter Rechte und Pflichten der Staatlichkeit an meist europäische oder globale Instanzen. Zum anderen auf einer modalen oder funktionalen Achse, durch Liberalisierung und Privatisierung, das heißt die Verlagerung von Komponenten staatlicher Verantwortung in private Strukturen und die Zunahme von Funktionsäquivalenten staatlicher Leistungen. „Staat und Staatlichkeit entwickeln sich auseinander, weil das, was im 20. Jahrhundert weitgehend beim Staat konzentriert und vom Staat monopolisiert war, nämlich Staatlichkeit, sich bei anderen Institutionen
72 Abélès, Anthropologie, 8. Weiter heißt es hier : „On peut interpréter le phénomène de la représentation en termes de dessaisissement, d’aliénation des volontés à un tiers qui s’érige en pouvoir unificateur et en garant de l’harmonie collective.“ (101) 73 Zürn u.a., Transformations ? 74 Benz, Der moderne Staat, 231, 285. Vgl. auch schon Mayntz, Gesellschaftliche Modernisierung.
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jenseits des Staates anlagert.“75 Doch in den vorläufigen theoretischen Bilanzen stellen die Studien, die diesen Wandel untersuchen, immer wieder fest, dass keinesfalls jede funktionale Auflösung auf eine vollständige Erosion staatlicher Souveränität und Steuerung des Staates verweist oder hiermit ein unwiederbringlicher Niedergang des Politischen einhergeht. Vielmehr wird gezeigt, dass eine dynamische und umfassende Restrukturierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse stattfindet, bzw. durch neue Strukturen und Akteure zwar einzelne staatliche Entscheidungs- und Organisationskompetenzen abgegeben werden, diese aber die Zentralität des Staates für die politische Letztverantwortung nicht in Frage stellen. Was sich bei diesem Transformationsprozess ändert, sind in erster Linie die Formen der Herrschaftsausübung – des Regierens, Steuerns oder der Politik –, die zum entwickelten Typus von Staat und Staatlichkeit gehörten : die Herstellung von Ordnung durch vertikale Steuerungsverfahren und Hierarchien, ein bestimmter Normenkanon, ein relativ geschlossenes Repräsentationssystem, die Durchsetzung und Garantie von Recht durch Sanktionierungen oder das Gewaltmonopol sowie die deutliche Identifizierbarkeit des Staates, kurzum : die Merkmale von und Beziehungen zwischen Steuerungssubjekten und Steuerungsobjekten.76 Überlegungen, was an deren Stelle getreten ist, gehören überwiegend zwei unterschiedlichen, sich mitunter ergänzenden oder korrigierenden Forschungszweigen an : Die erste ist die der Governance-Forschung. „Als intentionale Bereitstellung kollektiv verbindlicher Regeln bzw. kollektiver Güter für eine bestimmte soziale Gruppe“77 umfasst der Begriff der Governance durchaus auch die Charakteristika rein staatlichen Regierens ; er zielt aber gerade darauf, dies mit anderen Formen der Steuerung gleichzusetzen. In der von Czempiel und Rosenau getroffenen Unterscheidung von ‚governance by government‘, ‚governance with government‘ und ‚governance without government‘78 umfasst der Begriff alle möglichen Spielarten des Regierens und keinesfalls mehr nur die der vertikalen hoheitlichen Steuerung. Damit hat Governance eine kritische bzw. korrektive 75 Genschel, TransState Working Paper 62, 1 ; Leibfried/Zürn, Transformation, 41. 76 Vgl. Mayntz, Politische Steuerung. 77 SFB-Governance, Working Paper, 8. 78 Zit. in Ladwig u.a., Governance, 5.
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Wirkung auf das Prinzip staatlich monopolisierten Regierens und eröffnet neue Perspektiven auf die Frage, wie Regierungsformen und Steuerungsprozesse aussehen, wo Staatlichkeit ‚zerfranst‘, erodiert oder gar nicht erst zu Stande kommt.79 Governance-Studien beobachten Veränderungen des Regierens, weg von staatlicher Konzentration hin zur horizontalen Mehrebenenkoordination, abnehmende formelle und wachsende informelle Strukturen, die Auflösung von Hierarchien in Netzwerken, den Funktionsverlust von Sanktionen und Gesetzen und die steigende Bedeutung von Selbstverpflichtungen. Zentral für das Verständnis von Governance als ausdifferenzierte Form des Regierens bleibt dabei die Intentionalität, eine bestimmte für eine Gemeinschaft gültige Ordnung herzustellen. Dem gegenüber stehen Überlegungen und Untersuchungen zu einem Wandel der Gouvernementalität. Dies auf Michel Foucault zurückgehende Konzept zeichnet sich zum einen durch sein genealogisches Interesse aus – das heißt eine Aufmerksamkeit für jene umfassenden (historischen) Entstehungsprozesse, die sich in bestimmten Steuerungsbeziehungen ausdrücken. Dies erweist sich gerade für einen Untersuchungsgegenstand wie die Oper relevant, bei der vom Repertoire über die Betriebsabläufe und die Gebäude bis zu den markanten Rezeptionsritualen so vieles der Tradition geschuldet, aber zugleich auch in der Gegenwart hoch wirksam ist. Weiterhin ist für die Erforschung der Gouvernementalität die Frage der Intentionalität zweitrangig gegenüber der Frage von Macht ; sie grenzt sich mit dem Vorwurf der ‚Machtblindheit‘ von der Governance-Forschung ab. Macht wird dabei nicht wie im klassischen, an Max Webers Herrschaftsbegriff angelehnten politologischen Sinne allein als repressives Element konzipiert, sondern als produktiv. Nicht als etwas Unterdrückendes, sondern Hervorbringendes, das „Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert ; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht“.80 Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse werden als durch Machtbeziehungen und ihre jeweiligen, wandelbaren Subjekte, Objekte und Praktiken bestimmt verstanden. Das ‚Goldene Zeitalter der Staatlichkeit‘ lässt sich in diesem Sinne als eine völlige „Etatisie79 Risse/Lehmkuhl, Governance. 80 Foucault, Dispositive, 35 (vgl. auch 188).
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rung der Machtbeziehungen“ begreifen, das heißt, dass der demokratische Rechts- und Interventionsstaat „nicht bloß eine der Formen oder einer der Orte der Machtausübung ist, sondern sich alle anderen Arten von Machtausübung in gewisser Weise auf ihn beziehen“.81 Der Staat bildet dabei keine natürliche Einheit, sondern, nach Foucault, eine „zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mystifizierte Abstraktion“.82 Entsprechend beschreibt und bewertet diese Forschung die diagnostizierten Veränderungen von Staatlichkeit und Regieren. Der staatliche Rückzug und ein dominierender Markt werden dabei etwa selbst als politische Programme dechiffriert, deren Transformation sich im Rahmen einer ‚neoliberalen Gouvernementalität‘ vollzieht. Dieser Prozess zeichnet sich nicht allein in Haushalten, Gesetzen, Richtlinien und Zuständigkeitsbestimmungen ab, sondern in einem reichen Dispositiv, das auch Legitimationsstrategien, gesellschaftliche und soziale Nivellierung und Ausdifferenzierung, künstlerische Strömungen und technologische bzw. mediale Entwicklungen umfasst. In diesem breiten Spektrum entwickeln oder verschieben sich Praktiken der Macht und Machtausübung, positionieren sich Subjekte als mächtiger oder weniger mächtig und verändert sich, wer als Akteur, was als Problem oder was als eine Lösung dafür positioniert werden kann.83 Annäherungen zwischen diesen beiden theoretischen Konzeptionen der Untersuchung eines Wandels des Staates, die hier nur in grober Form skizziert werden konnten, bleiben nicht aus. Sie bestehen vor allem in der Verknüpfung der Intentionalität des Governance-Begriffs mit dem produktiven und strategischen Machtbegriff der Gouvernementalität. Beispielsweise die theoretische Konzeption ‚weicher‘ Steuerungsformen hat hier mit Offenheit für interdisziplinäre analytische Kategorien einen Weg bereitet, der erlaubt, den Begriff der Steuerung und mithin des Regierens entscheidend zu erweitern.84 Anreize und Normen, Diskurse oder Symbole werden zu gleichwertigen Strategien der Steuerung. Das bedeutet, auch Formen der Konformisierung, etwa im körperlichen 81 Foucault, Subjekt und Macht, 291. 82 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, I, 163. 83 Lemke, Eine unverdauliche Mahlzeit ?, 59 ; bei Angela Oels heißt es daher : „Ein Weniger an hierarchischem Regieren geht noch lange nicht mit weniger Machtausübung (verstanden im produktiven Sinne) einher.“ Oels, Von Governance, 23. 84 Vgl. Göhler u.a., Weiche Steuerung.
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Verhalten von Menschen, können als Arten der Selbstregulierung und somit auch der Steuerung betrachtet werden, denn „durch die Verinnerlichung bestimmter Inhalte oder Ziele (…) werden hierarchische Formen der Machtausübung entweder überflüssig oder abgesichert“.85 Es gilt mithin auch nach den steuernden Mechanismen hinter der Erzeugung oder Perpetuierung bestimmter Identifikationen und Bedeutungen zu fragen. Schließlich bleibt die Frage nach einer Abgrenzung der gewonnenen Kategorien von Staat, Staatlichkeit und den Prozessen ihres Wandels vom Begriff des Politischen. Überraschenderweise meidet sowohl die Forschung zum Wandel der Staatlichkeit als auch zur Governance, obwohl in der politikwissenschaftlichen Disziplin verankert, den Umgang mit dem Begriff des Politischen. Staat, Steuerung und die verschiedenen Spielarten des Regierens präzisieren zwar den Bereich des Politischen, der hier verhandelt wird, machen ihn selbst damit aber scheinbar überflüssig, bzw. reduzieren ihn auf eine essentialistische oder zumindest technische Kategorie. Doch damit geht das Handlungsmoment im Politischen, wie es Karl Rohe hervorgehoben hat, verloren, das aber auch für den Wandel von Staat und Steuerung entscheidend bleibt.86 Regieren als die Fähigkeit, Macht über Staatlichkeit zu generieren, wird nicht allein aus institutionellen, rechtlichen oder finanziellen Verschiebungen gewonnen oder verloren. Sie bleibt eingebunden in einen politischen Prozess, der von divergierenden, mitunter konkurrierenden Handlungen und Konstruktionen durch eine (mit dem konstatierten Wandel sogar größer werdende) Anzahl von Akteuren, Vorstellungen und Verfahren bestimmt wird. Die Konzentration auf den Staat reduziert die Aufmerksamkeit für die Kommunikation, welche eine Ordnung ebenso wie ihre Veränderung kennzeichnet, beschreibt, stimuliert oder bewertet. Das Politische bleibt in diesem Wandel das auf Staat und Staatlichkeit bezogene Handeln oder Reden im Zuge der Herstellung und Legitimation übergreifend verbindlicher Entscheidungen und der sich daraus konstituierenden Machtverhältnisse.87 85 Arndt/Richter, Steuerung, 67. 86 „Ein Begriff wie ‚Politisierung‘ macht deutlich, dass Sachverhalte nicht einfach ‚von Natur aus‘ politisch oder unpolitisch sind, sondern dazu gemacht werden können.“ Rohe, Politik, 11 ; vgl. auch Ladwig u.a, Governance, 8. 87 Vgl. zur konstruktivistischen und kommunikativen Dimension des Politikbegriffs Weisbrod,
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3.3 Staatsopern als institutionelles, normatives und repräsentatives Konstrukt
Das ‚Goldene Zeitalter des Staates‘ war auch jenes der Staatsopern. In den drei Hauptteilen des Buches wird im Einzelnen zu verfolgen sein, wie sich die Opernhäuser aus privater oder höfischer Trägerschaft lösten, von staatlichen Verwaltungen übernommen und folglich durch nicht grundsätzlich in Frage gestellte Zuschüsse finanziert wurden ; wie sich aus Orten des Vergnügens für eine elitäre Oberschicht oder des Volkstheaters durch kulturpolitische Steuerung ‚demokratisierte‘ Bildungs- und Kultivierungseinrichtungen entwickelten ; wie aus Inszenierungsplateaus der Herrscher und Distinktionsräumen der Eliten integrative Symbole der Gemeinschaft werden sollten. Doch zunächst soll vor dem aufgespannten Hintergrund der verschiedenen Analyseformen von Kulturpolitik als Regierungsfeld eines ehemals starken, sich nun verändernden Staates die gewonnene begriffliche Klarheit auf die Staatsoper angewendet werden. Was ist eine Staatsoper, welche Formen der Steuerung wirken vom Staat durch Kulturpolitik auf sie ein ? Und welche Bedeutung haben dementsprechend die Opernkrisen ? In Anlehnung an die herausgestellten Unterschiede der Untersuchung von Kulturpolitik sowie zwischen den neu untersuchten und bewerteten Formen des Regierens mit und ohne Staat lässt sich die Staatsoper in verschiedener Weise betrachten. Die unterschiedlichen im Folgenden herausgestellten Formen sind dabei weder exklusiv noch synonym, vielmehr verweisen sie auf die jeweiligen Dimensionen und Praktiken der Beziehung von Staat, Kulturpolitik und Oper, die es bei einer Untersuchung der Opernkrisen in Berlin, London und Paris zu berücksichtigen gilt. In dem, was als politikfeldorientierte Kulturpolitikanalyse bezeichnet wurde, sind es vor allem Prinzipien und Verfahren, welche die Oper zur Staatsoper machen. In anderen Worten, sie schlüsselt die Entscheidungs- und Organisationskompetenz des Staates gegenüber der Oper im Einzelnen auf und hilft, die Begründungszusammenhänge der staatlichen Letztverantwortung für sein Kulturgut Oper zu benennen. Die Politik ; Beck, Die Erfindung ; Preuß, Umrisse ; zur Äquivalenz von Sprache und Handeln schon Dieckman, Sprache.
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Eine Oper ist mithin eine Staatsoper, wenn sie institutionell ein Teil der staatlichen Strukturen selbst ist oder durch staatliche Leistungen und Bestimmungen gewährleistet wird. Die Fragen, die sich aus diesem Ansatz für die Untersuchung von Staatsopern ergeben, zielen auf die Kriterien, nach denen Opernhäuser Titel in öffentlichen Haushalten werden, wie die Kontrolle durch parlamentarische Gremien und staatliche Verwaltungen erfolgt, wie sich Trägerschaften von Opernhäusern und Formen ihrer staatlichen Finanzierung kategorisieren lassen. Die Akteure des kulturpolitischen Feldes Oper sind zu benennen, ihre Beziehungen und Abhängigkeiten sowie die Denk- und Strukturmodelle, in deren Rahmen sie handeln. Die Krisen der Opern entstehen in diesem Kontext vor allem auf Grund eines Rückgangs der staatlichen finanziellen Mittel, der Ausdruck einer Prioritätenverschiebung der staatlichen Ausgaben zu Lasten der Oper ist, sowie der Unfähigkeit der etablierten beteiligten Institutionen und Verfahren, darauf kompensierend zu reagieren. Die Krise fordert von dieser Forschungsperspektive vor allem eine problemlösungsorientierte Analyse : Wie werden neue Finanzierungsquellen jenseits der staatlichen gewonnen, welche Verschiebungen von Organisationskompetenz oder gegebenenfalls Verantwortung in private Instanzen finden statt, erlangen private Akteure kulturpolitische Autorität, und werden dadurch Grundprinzipien oder Ziele der Kulturpolitik verschoben ? Das heißt, hier werden zugleich jene Verschiebungen sichtbar, die im Sinne der Governanceforschung als neue Spielarten des Regierens bezeichnet werden. Entsprechend ist bei den Opern danach zu suchen, wie und wo an die Stelle vormals hoheitlich staatlicher Einflussbereiche, Verknüpfungen aus mehreren Ebenen privater und staatlicher Strukturen und Akteuren treten (die Verlagerung auf die internationale Ebene ist im Fall der Oper an dieser Stelle zu vernachlässigen88). Weiterhin ist zu fragen, auf welche Weise alte Steuerungsfor88 Die zwei Dimensionen des Wandels von Staatlichkeit im Fall der Staatsopern lassen sich auf die der Liberalisierung bzw. Privatisierung reduzieren. Die Oper war stets ein inter- wie transnationales Gebilde, deren Agieren als Hofoper wie Staatsoper in europäischen, wenn nicht globalen Netzwerken stattfand, lange bevor der moderne Warenverkehr dies zur ständigen Gewohnheit machte. Komponisten, Agenten und Impresarios, Primadonnen und Virtuosen waren schon im 18. und 19. Jahrhundert wörtlich Weltstars. Dem ‚nationalen‘ Image einer hauptstädtischen
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men, wie Weisungen zur Spielplangestaltung, gesetzliche Verpflichtungen zur Preisstaffelung oder im staatlichen Haushalt festgeschriebene Einzelausgaben, um neue Mechanismen, wie etwa Anreize für Spenden und Sponsorengelder, Selbstverpflichtungen zu einer bestimmten künstlerischen und wirtschaftlichen Führung eines Opernhauses ergänzt oder ersetzt werden. Der zweite vorgestellte, normative Ansatz der Kulturpolitikanalyse passt sich in diese Verschiebung ein, zielt aber weniger auf die einzelnen Verfahren und Strukturen der Opernpolitik und mithin der Steuerung einer Oper, sondern auf ihre Integrationsleistung zwischen Staat und Gesellschaft. Seine Kategorien verweisen auf die gültigen Normen und Tabus des Transformationsprozesses, etwa die Grenzen der Steuerung, die durch das in der westlichen Welt verankerte Selbstverbot des Staates, inhaltlichen Einfluss auf die Autonomie der Kunst zu nehmen, gesetzt ist. Die normative Betrachtung von Kulturpolitik macht vor allem deutlich, warum die Oper in den Bereich der normativen Güter fällt, für die der Staat eine Letztverantwortung trug oder trägt, obwohl ihr Gütercharakter keinesfalls dem eines klassischen öffentlichen oder kollektiven Gutes entspricht (Nicht-Rivalität des Konsums und keine preisliche Ausschlussfunktion89). Ihr kommt im Rahmen eines „Rechtfertigungskonsens – Kulturpolitik ist gut“90 eine ‚meritorische‘, weil reflexive, korrigierende oder gar transzendierende Rolle gegenüber Politik und Gesellschaft zu. Eine Oper ist in diesem Sinne eine Staatsoper, wenn sie als staatlich verantwortetes Gemeinwohl anerkannt wird, als eine mit einem öffentlichen Auftrag versehene ‚moralische Anstalt‘, die Teil eines internen gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses ist.91 Zu einer Krise kommt es aus dieser Perspektive dann, wenn der Konsens über die Oper zerbricht – etwa weil der Staat einseitig von seiner auch finanziellen Verantwortung zurücktritt, wenn er seine neutrale Schutzfunktion überschreiStaatsoper oder der Darbietung einer volkstümelnden Nationaloper taten internationale Künstlerensembles selten Abbruch. Daher ist hier weniger die territoriale als vielmehr die funktionale Veränderung des Staates und seiner Staatsopern von Interesse. 89 Vgl. die ausführlichere Erklärung in Teil II, Abschnitt 1.3. (Kulturstaat, Kulturverwaltung oder regulierter Opernmarkt ?). 90 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft ; Mulcahy, Cultural Policy, 2. 91 Vgl. Schreiber, Staatstheater.
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tet oder aber wenn die Normen des Gemeinwohls sich so sehr verschieben, dass die staatliche Konstruktion der Oper als ein öffentliches Gut nicht mehr tragfähig ist. Eine Opernkrise in diesem Sinne ist vor allem eine Legitimationskrise. Beide kulturpolitischen Analyserahmen erweisen sich als anschlussfähig an die genannten Bestimmungen von Staat und Staatlichkeit sowie deren in anderen Bereichen diagnostiziertem Wandel und helfen mithin die Bedeutung von Opern als ‚Staatsopern‘ zu präzisieren. Sie geben vor allem Hinweise darauf, nach welchen Symptomen in den Fallstudien zu suchen ist, welche Kriterien hinzugezogen werden müssen, um ein vollständiges Bild der jeweiligen Opernpolitiken zu erhalten und welche Veränderungen auf eine Beziehung zwischen den Opernkrisen und dem Wandel von Staatlichkeit verweisen könnten. Doch beide dringen lediglich begrenzt zu den Brennpunkten der gewählten Fälle vor, denn die Oper bleibt hier (ob als geschützte Kunstform, finanzierte Institution oder Kulturgut) stets nur ein Gegenstand kulturpolitischer Steuerung und Normen. Als Ereignis, das eigene Mechanismen der Steuerung hervorbringt und selbst einen Raum der Machtausübung darstellt, wird sie dabei nicht berücksichtigt. Die hinzugezogene dritte Perspektive auf Kulturpolitik weist über die Beziehungen von Staat und Oper durch staatliche Zuschüsse, Verfahren, Institutionen oder Normen hinaus. Sie lenkt das Augenmerk von dem reinen kulturpolitischen Objektcharakter auf die politische Funktion der Oper, die in den beiden vorangehenden Ansätzen ausgeblendet blieb. Die kulturalistische Erweiterung verweist auf die spezifischen Praktiken und Diskurse, die eine Staatsoper auszeichnen und auch Aspekte ihres Zerfalls deutlich machen, bevor institutionelle oder finanzielle Umstrukturierungen überhaupt greifen. Staat und Staatlichkeit erscheinen in diesem konzeptionellen Kontext, wie oben dargelegt, als Zusammenhang der sich im Monopol über symbolische Macht und die Fähigkeit, eine Realität dieses Staates zu schaffen, ausdrückt. Folglich wird eine Oper zur Staatsoper, wenn sie in Grenzen als ein Verweisungssymbol des Staates funktioniert,92 als Repräsentation einer staatlich formierten Ordnung der Gesellschaft. 92 „Insofern die symbolische Repräsentation von Politik den rationalen Nachvollzug von komplexen Zusammenhängen und Problemlagen, von Verläufen der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung nicht versperrt, spricht (man) von ‚Verweisungssymbolen‘.“ Klein, Einleitung.
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Sie ist als vom Staat übernommenes kulturelles Erbe auch Teil des kulturellen kollektiven Gedächtnisses, das ebenso Subjekte und Objekte der Steuerung hervorbringen kann wie Institutionen und Verfahren. Die Staatsoper wird als solche durch ihre „institutionell bedingte Geformtheit“ und eine bestimmte Form der Zeremonialität charakterisiert,93 etwa indem sie innerhalb eines bestimmten, staatlich konnotierten Ereigniskontextes „in besonderer Weise Faszinationspotenzial entfalte(t), wenn dieser Kontext immer wieder und regelmäßig durch Rituale hergestellt wird“.94 Dies kann durch eine Form des ‚offiziellen‘ Zeremoniells erfolgen, etwa bei Staatsbesuchen in der Oper oder Premierenempfängen, auf denen sich Politiker als Vertreter des Staates in Szene setzen, bzw. mit dem Verweis auf diese Oper als ‚kulturellem Leuchtturm‘, ‚Kultur für alle‘, ‚gemeinsames kulturelles Erbe‘ etc. die Prinzipien ausdeuten, denen die Staatsoper als solche unterliegt. Die Formung und Geformtheit erfolgt aber auch durch eine staatlich positiv sanktionierte Rezeptionspraxis. Denn ein Opernbesuch ist zwar zunächst etwas rein Privates und seine Sinnlichkeit und Emotionalität eine individuelle Erfahrung, doch unterliegt er einer hochgradig ritualisierten Form, welche die Gruppe der Zuschauer bis in ihre Körperlichkeit hinein steuert. Ohne dass dies hoheitlich vorgegeben wird, folgt das Publikum einem tradierten Selbstdisziplinierungsakt, zu dem bestimmte Redens- und Verhaltensformen gehören, durch die sich eine Ordnung ausdrückt. Der Staat, der die Oper zum hochkulturellen Bildungsgut erklärt, in der schulischen Ausbildung verankert und die Teilhabe aller seiner Bürger daran wünscht, wird zum Bezugspunkt dieser Ordnung.95 Die Kunst der Oper ist durch ihre individuelle Erfahrbarkeit darum gerade kein Schutzraum gegenüber staatlichen Interventionen, sondern Ausdruck einer Lebensform, die staatlich sanktioniert und gefördert wird. Die Vorstellung eines Kulturstaates oder einer Kulturnation wird in diesem Sinne zu einer strategischen Machtausübung über die Art und Funktion der Oper. 93 Vgl. Münkler, Die Deutschen, 126. 94 Cohen/Langenhan, Steuerung, 149. 95 Die normative Frage, ob ein moderner demokratischer Staat, der diese Kunstform jenseits ihres repräsentativen Glanzes respektiert und für schützens- und förderungswürdig erklärt, über diese Privatheit überhaupt Hoheitsrechte ausüben dürfe, lässt sich mittels des Steuerungsbegriffs analytisch umgehen.
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Ein Wandel der Staatsoper – hier lässt sich wiederum an die Kategorien der Gouvernementalität anschließen – zeichnet sich entsprechend etwa darin ab, wie sich Praktiken des Opernbesuches verändern, aber auch darin, dass neue Rezeptionsformen möglicherweise nicht mehr positiv seitens des Staates sanktioniert werden. Wenn der Staat wiederum im kulturellen kollektiven Gedächtnis als Kontext der Oper verloren geht, verliert auch die Oper als Symbol ihren eindeutigen Bedeutungszusammenhang. Die ‚Zerfaserung‘ der Staatlichkeit liegt in diesem Sinne in einer Aufspaltung oder Ausdifferenzierung des Symbols Staatsoper und somit der symbolischen Macht des Staates. Sie wird ein Repertoire von Bedeutungen, dessen sich auch andere, nichtstaatliche Akteure und Gruppen bedienen können. Die Horizontalität der Beziehungen, welche die vertikalen Hierarchien der klassischen Staatlichkeit auch in der Oper ablösen, besitzen zugleich eine für die gedankliche Einheit des Staates gefährliche Mehrdeutigkeit.96 Das heißt, die Opernkrisen implizieren nicht zuletzt einen Konflikt um Macht und eine Neuordnung von Machtbeziehungen – zwischen staatlichen Ebenen oder aber zwischen privaten und staatlichen Akteuren. Die Staatsoper wird eine Arena, in der die in ihrem Status verkörperten Machtbeziehungen, die staatliche Hoheit darüber und nicht zuletzt der diese Hoheit stützende Konsens verhandelt werden. Insbesondere die Topoi der Opernkrise und der Opernreform verweisen auf die grundsätzlich zur Disposition stehenden Strukturen und Verfahren. Die Reichweite dieses Krisendiskurses lässt sich auf der einen Seite der Omnipräsenz der Krisendiagnosen in den kulturpolitischen und feuilletonistischen Debatten oder den Klagen der Kulturbetriebe entnehmen. Darüber hinaus hat die Krise der Bühnen bereits analytische Kategorisierungen erfahren und ist somit zu einem zentralen Begriff geworden, die sich wandelnden Bedingungen zu begreifen und zu bewerten. So schlug der deutsche Kulturpolitikforscher Bernd Wagner resümierend vor, eine finanzielle und eine konzeptionelle Krise der Theater und Opern in den 1990er-Jahren zu unterscheiden ; erstere sei durch Steuerrückgang, Arbeitslosigkeit und Umverteilung, die auf den Kommunen lasteten, bedingt. Die zweite sei Ausdruck einer inneren Neuausrichtung der darstellenden Künste. Beide kulminierten in einer strukturellen Krise, in der rückläufige Zuschüsse 96 Göhler/Höppner/de la Rosa, Einleitung.
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und geringere künstlerische Qualität im Wechselverhältnis den Abwärtstrend der Bühnenlandschaft markierten und auf eine grundlegende Degeneration des deutschen Kulturstaates verwiesen.97 So sehr diese Definition zahlreiche kulturelle Entwicklungen der vergangenen Jahre abzudecken vermag und sich die finanzielle Krise an sinkenden Zahlen feststellen lassen mag (schon deren Bewertung unterliegt divergierenden subjektiven Maßstäben) – so deutlich ist, dass sich hinter dem Krisendiskurs eine normative Bewertungsstrategie verbirgt, die den ausdifferenzierten Realitäten der Moderne, die sich klaren Bewertungskriterien entziehen, schillernd und variabel entgegentritt. Die Analyse der Krise ist daher für diese Untersuchung grundlegend. Jüngere Krisentheorien haben die funktionale Dimension der Krise herausgestellt, das heißt, ihre Bedeutung als analytische Kategorie von der Bewertung eines bestimmten Zustandes auf die Untersuchung einer kommunikativen Strukturierung und Steuerung dieser Zustände ausgedehnt.98 In dieser Studie wird diese Konzeption auf das kulturell sensible Gebiet der Opernpolitik übertragen : Die Krise dient in der Analyse der Staatsopern als Gegenpol zum Wandel. Ihre Analyse verschafft einen Zugriff auf spezifische Strategien des Umgangs mit weitreichenden Umstrukturierungen und Neuorientierungen, deren geeignetes Exempel die Staatsopern sind – „‚Scenarios of cultural crisis‘ call for ‚theatres of cultural war‘.“99 Die ‚Opernkrise‘ bildet einen, den drei hier zu untersuchenden Fällen gemeinsamen semantischen Fluchtpunkt. Sie ist ein normativ aufgeladener Begriff und bildet entsprechend dem gerade diskutierten konzeptionellen Rahmen keine Tatsache, sondern eine Deutung von Akteuren. Sie ist ein Dispositiv im Foucaultschen Sinne, das heißt ein diskursives Machtfeld voller ausgesprochener und unausgesprochener Beziehungen und Strukturen, ohne wirklich konkreten Inhalt.100 Der Begriff der Krise und jede seiner Adjektivierungen bezeichnet mithin eine bestimmte Form der Wahrnehmung im Kommunikationsprozess, die nur eine mögliche Reaktion auf finanzielle Engpässe, 97 Wagner, Kommunale Kulturpolitik, 140. 98 Vgl. Boin u.a., The Politics, 25 ; Witozek/Trägårdh, Culture and Crisis, sowie bereits Holten, The Idea of Crisis ; O’Connor, The Meaning. Vgl. auch die begriffsgeschichtliche Erörterung von Koselleck, Krise. 99 Zalfen, The Crisis, 283. 100 Vgl. Foucault, Dispositive, 126, 210.
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das Versagen eingeschliffener Strukturen oder unbefriedigende künstlerische Leistungen ist. Somit hat die Krise die Funktion eines Mythos, verstanden als „ein Versuch der Reorganisation der Bedeutungselemente der Ordnung, der nicht ausschließlich aus der bestehenden Ordnung hervorgeht“.101 Weniger die Veränderungen selbst sind die Krise als vielmehr die Krise ein Umgang mit dem Wandel, der erlaubt, Handlungsspielräume zu gewinnen und Stärke zu behaupten. Die Interpretation der Gründe für die Krise und die Definition einer Lösungsstrategie werden selbst Elemente der Bewältigung des Handelns und nicht zuletzt der Steuerung. Das heißt wiederum, wie Murray Edelman in anderem Zusammenhang deutlich macht, dass jeder Akteur, der sich durch die Bewältigung einer Krise bestätigen kann, eine zu managende Krise finden wird.102 Im Unterschied zu den chronischen Problemen, die in den hier untersuchten Opernstädten tatsächlich meist verhandelt werden, und die in ihrer komplexen meist verwaltungs- oder finanztechnischen Struktur nicht sehr attraktiv sind, oder Katastrophen (etwa der Brand einer Oper), die sich in der Regel menschlichem Handlungsvermögen entziehen, bildet eine Krise etwas Akutes, Handlungen Stimulierendes.103 Wer von der Krise spricht, der konstituiert, das heißt gestaltet, determiniert und motiviert, was sie ist und erlangt zugleich das Vermögen, sich Aufklärung über einen faktischen Befund zu verschaffen und dies auch öffentlich zu kommunizieren – gerade wenn die Gründe dafür die gegebenen Handlungsspielräume verschließen. Diese Instrumentalität der Krise findet, wie in der Definition von Bernd Wagner, in den Thematisierungen dieser Krise für gewöhnlich keine Berücksichtigung. Fasst man die hier erstmals explizit zusammengeführten Bedeutungen und Dimensionen von Oper und Staatlichkeit zusammen, so sind Staatsopern in die institutionellen Strukturen eines Staates und seines spezifischen politischen Systems eingebundene Einrichtungen und Güter, auf die spezifische, aus dem jeweils gültigen Kulturbegriff genährte normative Erwartungen wirken und deren Ereignisstruktur und Rezeption die gültige staatliche Ordnung formiert 101 Vgl. zu diesem Verständnis die an Laclau und Norval orientierte Bestimmung bei Arndt/ Richter, Steuerung, 59. Der Begriff unterscheidet sich von den vielfach von den Sozialwissenschaften verwandten Bedeutungen, vgl. Dörner, Politischer Mythos. 102 Edelman, Political Language ; ders., Spectacle. 103 Vgl. Edelman, Spectacle, 31.
Vorgehensweise und Aufbau
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und symbolisch repräsentiert. Opernkrisen und Opernreformen erweisen sich als in diesem Spektrum zu suchende diskursive Spannungsfelder, die durch einen Wandel von Staatlichkeit im weiteren Sinne determiniert werden : Auf deren einer Seite stehen traditionell verbriefte staatliche Hoheit, institutionelle Kongruenz, letztverantwortlich definiertes Gemeinwohl und damit übereinstimmende Repräsentation. Auf der anderen Seite wirken Veränderungen durch die Privatisierung der Akteure und Strukturen, Pluralisierung und Individualisierung von Rezeptionsformen und Geschmack sowie Fragmentierung von symbolischer Macht und Wirklichkeit.
4. Vorgehensweise und Aufbau
Die konzeptionelle Schärfung des Untersuchungsgegenstandes Staatsoper hat auch Implikationen für die Untersuchung selbst. Sie spiegeln sich in der Auswahl der methodischen Mittel sowie im Aufbau des Buches wider. Die kulturalistische Erweiterung der Perspektive auf das kulturpolitische Objekt Staatsoper erfordert auch eine Öffnung der Untersuchung für Merkmale und Phänomene, die in einer klassischen kulturpolitischen Analyse oder Suche nach Problemlösungsstrategien keine Berücksichtigung fänden. Eine Staatsoper als Arena der Konflikte zu betrachten, die im Zuge der veränderten Funktion und Fähigkeiten des Staates entstehen, verlangt vor allem einen anderen Blick auf das Quellenmaterial. Es bedeutet, nicht gezielt nach Kausalitäten und allgegenwärtigen ‚Sachzwängen‘ zu suchen – das heißt, weder zu akzeptieren, dass der Opernkonflikt zwangsläufig von finanziellen Engpässen oder einer ungerechten sozialen Zusammensetzung des Opernpublikums abhängt, noch, dass die Opernkrise notwendigerweise einen bestimmten Wandel dieser Verhältnisse hervorbringen muss, wie die Krisenmanager gern behaupten. Im Gegensatz dazu liegt dem Ansatz dieser Studie die Annahme zu Grunde, dass die Struktur und die Kraft der Opernkonflikte von diskursiven Dynamiken abhängen, die zwischen den kulturellen Funktionen der Oper und ihrem politischen, sozialen und repräsentativen Kontext oszillieren.104 Diese hängen gleicherma104 Vgl. die methodischen Erörterungen von Hajer, Ökologische Modernisierung.
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ßen von Normen und Traditionen wie akuten Strukturproblemen und Deutungen durch Akteure ab. Dies gegenüber den Untersuchungsfällen zu berücksichtigen, heißt, auch die empirischen Beobachtungen als Spektrum von in Frage gestellten Traditionen, strukturellen Grenzen bzw. Grenzüberschreitungen und Wahrnehmungen zu betrachten. Entsprechend gelten in jedem der drei Hauptteile des Buches die ersten Kapitel der Rekonstruktion der jeweiligen Traditionen der Staatsoper in dem fokussierten Bereich. Dabei bezeichnen die Traditionen ein Gefüge aus kulturellem Gedächtnis, gelebter Praxis und geltenden normativen Vorstellungen. Mit dem Begriff der Tradition werden Abschweifungen in historische Details oder chronologische Erzählungen vermieden, ohne die Bedeutung der historischen Entwicklung der Staatsopern (und ihrer Vorgänger) für aktuelle Prozesse und Konflikte zu vernachlässigen. Zugespitzt sind Traditionen Konstruktionen der Vergangenheit in der und für die Gegenwart ;105 sie sind nicht die Vergangenheit selbst, sondern Bezugnahmen der Gegenwart auf eine aktuell relevante Historizität. Aus ihnen erwächst die Ordnung einer als sinnhaft wahrgenommenen Welt, ganz unabhängig davon, ob die Ordnung in formal verrechtlichten Normen als kollektiv anerkannte geistige Grundlagen kulturpolitischer Entscheidungen oder als gelebte Praktiken des kulturellen Lebens erscheinen.106 Die Stärke solcher Traditionen hängt, vergleichbar mit sozialen Normen, von zwei Faktoren ab : zum einen der Menge der Akteure eines sozialen Systems, die sie teilen (Kommunalität), zum anderen von der Genauigkeit, mit der sie richtig und falsch, angemessen und unangemessen zu unterscheiden erlauben (Spezifizität).107 Das heißt umgekehrt, Traditionen verlieren ihre Gültigkeit, wenn sie diese beiden Merkmale verlieren ; wenn beispielsweise eine Kleiderordnung für einen Opernabend von der Mehrheit der Besucher nicht mehr befolgt wird und dadurch auch der Bewertungsmaßstab für den angemessen festlichen Auftritt beim Opernbesuch verloren geht. Neue Entwicklungen werden dagegen von intakten Traditionen vereinnahmt oder abgelehnt ; etwa kann die Tradition eines kulturpolitisch starken Staates mit neuen Finanzierungsformen ei105 Vgl. Edelman, Politik als Ritual, XV. 106 Vgl. Reckwitz, Transformation, 33 ; Kroeber/Kluckhorn, Culture. 107 Vgl. Boekle u.a., Soziale Normen.
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nes Opernhauses kollidieren und dadurch etwa Sponsoreninteressen die Legitimation entziehen. Den Traditionen gegenüber stehen die strukturgebenden Prinzipien und konkreten Bedingungen, die aus ihnen erwachsen sind. Sie werden vor allem durch das oben dargestellte Spektrum kulturpolitischer Untersuchungsbereiche abgedeckt : durch Handlungsstrukturen, Verfahren und Akteure sowie die Anpassungsleistungen der Opern an die kulturpolitischen Rahmenbedingungen der modernen demokratischen Staaten. In der Gegenüberstellung der dabei zu Tage tretenden Merkmale kann sich bereits das Konfliktpotenzial der Staatsopern offenbaren. Und zwar dadurch, dass in bestimmten Strukturen widersprüchliche Normen vereint sind – etwa distinktive Rituale und demokratische Partizipationsansprüche oder vertikale Verwaltungshierarchien und das Primat der künstlerischen Autonomie –, die zu ständiger Spannung und latenten Konflikten führen, die unter bestimmten sich verändernden Bedingungen aufbrechen können. Wie und warum aus diesen Spannungen neue Beziehungen zwischen Staat und Oper oder eben Krisen entstehen, lässt sich durch eine Auswertung der Deutungen und Bewertungen erkennen, denen diese Konflikte in der öffentlichen Diskussion der Opern unterliegen. Staatliche Entscheidungsträger und Politiker, Opernleitungen und Künstler, die interessierte oder auch desinteressierte Öffentlichkeit – sie alle sind an der Deutung der Staatsopern als Ort und Ausdruck des Staates beteiligt. Entsprechend tragen sie zur Auflösung dieser Verbindung durch Entzug von Anerkennung oder der Erzeugung von Mehrdeutigkeit bei. Dies bedeutet methodisch, vor allem die diskursive Dynamik der Opernkonflikte herauszufiltern, das heißt in einem diskursanalytischen Sinne, „in der Flut von Äußerungen, die uns in jedem Textmaterial überschwemmt, das wir zur Basis unserer Analyse machen, systematisch nach übergreifenden Regeln suchen, die das Zusammenspiel von Reden und Schweigen, von spontaner Äußerung und langfristig geltenden Aussagen strukturieren“.108 Je nachdem was in dem Diskurs Opernkrise sagbar oder gesagt wird, was verschwiegen oder ausgeblendet wird, worauf reagiert und was ignoriert wird, zeigen sich die 108 Kerchner, Wirklich Gegendenken, 161 ; Keller u.a., Handbuch, darin insb. Nullmeier, Politikwissenschaft.
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Stabilität oder Instabilität der Beziehung zwischen Staat und Oper, die Motivationen einzelner Akteure für Veränderungen und die Ansprüche auf Handlungsfähigkeit, die in diese Veränderungen gelegt werden. Die theoretische und methodische Erweiterung schlägt sich auch in der Materialbasis der Untersuchung nieder. In der vergleichenden Politikwissenschaft führt heute in der Regel die ansteigende Zahl der Untersuchungsfälle zu einer unter den hier konstatierten theoretischen und methodischen Prämissen problematischen Reduktion der Quellen : Die gewünschte Signifikanz des Vergleichs vieler Fälle und zahlreicher Variablen sowie nicht zuletzt die Vielfalt der Sprachen, mit denen solche globalen Vergleiche konfrontiert sind, erfordert eine Abkehr von Texten. Die Datenreihen etwa von EUROSTAT, der Weltbank oder der OECD sind zu einem hinreichenden Korpus für die Analyse der unterschiedlichsten Phänomene politischer Systeme und Gesellschaften geworden.109 Mit der möglichen Signifikanz der Erklärungen sinkt aber mitunter die Möglichkeit des Verstehens der analysierten Gegenstände. Diese Studie versteht sich daher auch als ein Plädoyer für die politologische Relevanz von Text und Sprache. Der Zugang über Begriffe und deren Bedeutungen erlaubt – gerade in einer komparatistisch angelegten Analyse – einen Zugang zu einem Untersuchungsfall oder -land, der sich nicht mit dem Erkennen begnügt, sondern auf ein analytisch tiefer eindringendes Verstehen zielt. Insbesondere wenn es um ein so komplexes und empfindliches Thema wie ‚Kultur‘ geht, verspricht ein solches Vorgehen auch komplexere Ergebnisse. Im Zuge der Analyse werden daher Texte hinzugezogen, die den Wandel nicht nur anhand von steigenden oder fallenden Zuschüssen, Zuschauern, institutionellen Bindungen etc. dokumentieren, sondern erlauben, die Verschiebungen von Wertmaßstäben und Deutungen von Zugehörigkeiten, Relevanz, Identifikation, Anerkennung etc. zu interpretieren.110 Es geht dabei um eine kulturpolitische Quellenanalyse, welche den oben diskutierten Merkmalen und Arten der Beziehung von Staat und Oper und ihrem möglichen Wandel gerecht wird.111 Dabei 109 Für den kulturellen Sektor steht hier vor allem zur Verfügung : European Commission, Directorate-General for Information. 110 Nullmeier, Interpretative Ansätze. 111 Vgl. Zemans/Kleingartner, Comparing Cultural Policy ; die methodische Einleitung von Ahearne, French Cultural Policy ; Vestheim, Cultural Policy.
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werden Verfassungstexte- und auslegungen, Schriften kulturpolitischer Autoritäten, kulturpolitische ‚Sonntagsreden‘ oder Parlamentsdebatten als Texte herangezogen, welche die normativen kulturpolitischen Grundlagen schaffen. Sie erzeugen, festigen oder verändern jene relevanten Kategorien, mit denen die Staatsopern öffentlich bewertet werden. Das heißt, sie liefern sozusagen das Vokabular der Diskurse, in dem bestimmte Begriffe, wie etwa ‚Demokratisierung von Kultur‘, ‚Exzellenz‘, ‚Freiheit der Kunst‘ etc. als gültige Maßstäbe geschaffen werden. Eine zentrale Textform aller hier untersuchten Opernkrisen bilden die zahlreichen Reform- oder Evaluierungspapiere, die von Kulturpolitikern, Kulturverwaltungen, Expertengremien oder externen Beratern verfasst wurden. Diese Dokumente enthalten zwar in den meisten Fällen auch viel ‚Material‘ an Zahlen, organisatorischen Zusammenhängen und Plänen zur institutionellen Veränderung – doch sind auch sie zusätzlich als Teile des Krisendiskurses zu behandeln. Sie kennzeichnen Begriffe und rhetorische Figuren, die einen Teil ihres sozialen, politischen und kulturellen Kontextes repräsentieren und damit auch dessen Wandel deutlich machen. Schließlich gehört zum Diskurs der Opernkrise die ‚Stimme der Öffentlichkeit‘, die durch eine Auswertung des Pressespektrums der drei Metropolen analysiert wird. Zeitungen ermöglichen nicht nur den Zugriff auf häufig informell herausgegebene Informationen, die sich später nicht mehr in offiziellen Dokumenten (der Opernhäuser oder Kulturverwaltungen) finden. Sie bilden vor allem in gewissen Grenzen den gesellschaftlichen, sozialen und politischen Hintergrund von Ereignissen und Diskursen ab ; sie reflektieren und konstituieren geteilte Anschauungen und deren Begriffe im öffentlichen Raum :112 „L’analyse de la presse est un bon moyen de repérer les pôles lyriques dynamiques. (…) Elle complète les analyses historiques et sociales. Elle est utile pour la mesure d’un espace perçu et-ou vécu.“113 112 Asymmetrien in der Auswahl der Quellen sind notwendig, um der Situation der Vergleichsfälle gerecht zu werden. So werden in London fast ausschließlich, in Paris überwiegend und in Berlin nur wenige überregionale Zeitungen herangezogen, da dies der jeweiligen Öffentlichkeit der Hauptstädte und auch ihrer Opern entspricht. Auch den unterschiedlichen Typologien – etwa den britischen Tabloids – ist Rechnung zu tragen. Vgl. Dijk, News Analysis, 27 ; Neidhardt u.a., Die Stimme der Medien ; Pürer/Raabe, Medien in Deutschland ; Tunstall, Newspaper Power ; Thogmartin, The National Daily Press ; Albert, La presse française. 113 Lamantia, L’opéra.
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Schwieriger als der offizielle und in Texten fassbare Diskurs, lassen sich jene Quellen greifen, die weder durch Literatur, Daten oder Sprache abgebildet werden – etwa Repräsentationsstrategien oder eine gültige soziale Praxis des Opernbesuchs. In der Regel wird nicht einmal zu klären sein, inwieweit bei den Akteuren die Kenntnis oder der Wille, Kontinuitäten oder Brüche solcher Praktiken zu betreiben, überhaupt besteht. An diesen Stellen wird die Analyse notwendigerweise ‚dichter‘.114 Die innere und äußere architektonische Gestaltung der Opernhäuser, Sitzplatzordnungen, Fernsehübertragungen von Galaabenden, Modediskussionen, die etwas über gültige ‚Dresscodes‘ verraten und weitere ‚anschauliche‘ Materialien, die zum Teil weit über das Spektrum üblicher sozialwissenschaftlicher Quellen hinausreichen, müssen Berücksichtigung finden, um die Merkmale der Oper etwa als Raum, Ritual oder Symbol untersuchen zu können. Die Untersuchung ist komparativ angelegt und umfasst die Krisen und Reformen der Staatsopern in drei westeuropäischen Hauptstädten : Berlin, London und Paris. Ein Vergleich wie dieser öffnet den Blick für die Unterscheidung spezifischer und allgemeiner Entwicklungen. Er verhilft gerade in einem traditionsabhängigen und durch Fragen kultureller Identitäten gekennzeichneten Feld wie der Oper zur Klarheit darüber, warum bestimmte Merkmale sich ‚so und nicht anders‘ entwickelt haben.115 Bei den vorliegenden Fällen handelt es sich um einen intrakulturellen Vergleich, der Länder und Gesellschaften umfasst, die einem gemeinsamen politischen und kulturellen Kontext angehören, aber in denen die behandelten Themen durchaus unterschiedliche Funktionen haben können.116 Deutsch114 Vgl. Geertz, Local Knowledge ; ders., Dichte Beschreibung ; auch Bihr/Pfefferkorn, Déchiffrer les inégalités. 115 Vgl. v. Beyme, Der Vergleich ; Kaelble/Schriewer, Vergleich und Transfer ; Berg-Schlosser/ Müller-Rommel, Vergleichende Politikwissenschaft ; Gray, Comparing Cultural Policy ; Cummings/Katz, The Patron State ; Zemans/Kleingartner, Comparing ; Rizzardo, L’évaluation ; v. Beyme, Kulturpolitik ; D’Angelo/Vespérini, Cultural Policies ; Heinrich, Instrumente ; Pelinka, Vergleich. 116 Für Kulturpolitik in (nicht von) Europa gilt dies, weil sie durch zentrale gemeinsame Parameter gekennzeichnet ist : Sie ist Teil einer politischen Ordnung, die demokratisch ist, die auf einer Gesellschaft basiert, in der Steuern erhoben und an öffentliche Güter wieder verteilt werden, in der Menschen genug verdienen, um mehr zu tun als zu überleben, und in der Regierungen den internationalen Konventionen der Menschenrechte folgen. Vgl. Mundy, Cultural Policy, 11.
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land, Großbritannien und Frankreich gleichen sich im Hinblick auf die Gestaltungsspielräume und Legitimationsbedürftigkeit ihrer Politik ; ihre Opernhäuser sind fest in einem europäischen Kulturverständnis und Institutionenmodell verankert – mehr noch, die Oper gilt gerade als eines der prägnantesten kulturellen Symbole Europas.117 Trotzdem bilden die drei Länder ein kulturpolitisch kontrastreiches Dreieck. Ihre Unterschiede im Verhältnis von Staat und Kultur werden deutlich, wenn man z.B. die Problematik des staatlichen Eingreifens in der Opernpolitik in den drei Ländern gegenüberstellt, die Bedeutung unterschiedlicher staatlicher Ebenen (national oder regional) ; traditionell verschieden geschichtete Gesellschaften, differenzierte Gewohnheiten oder Tabus ostentativer politischer oder sozialer Praxis etc. In allen diesen Bereichen unterscheiden sich die Fälle prägnant und erlauben somit, Sektoren und Faktoren zu benennen, welche die Bindungen zwischen Staat und Oper stabilisieren, sie auflösen oder verändern. Die Konzentration auf die Hauptstädte erlaubt es, zugleich die ‚ganzen Länder‘ zu betrachten als auch gezielt ‚Hauptstadtforschung‘ zu betreiben,118 denn die drei traditionsreichen europäischen Metropolen Berlin, London und Paris sind – mehr oder weniger – zugleich politisches wie kulturelles Zentrum ihres Landes. Auf Grund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie begleitet, gehen in allen drei Städten dort praktische und symbolische Bedeutung der Kulturförderung Hand in Hand. Hierin liegt die Konzentration auf Hauptstädte begründet ; sie sind „singuläre Zusammenballung menschlicher und materieller Ressourcen, Brennpunkt des Ehrgeizes einer Gesellschaft, Ort großer Zukunftsprojektionen der Individuen und der Kollektivität, Spiegelung der Idee dieser Gesellschaft von ihrer guten Ordnung und Bühne der Selbstdarstellung dieser Gesellschaft“ und damit Regel und Ausnahme eines Landes zugleich.119 Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen. Deshalb muss jeder Vergleich mit Unterschieden der untersuchten Fälle umgehen und den Grenzen dessen, was vergleichbar ist, gegebenenfalls durch analytische und empirische Asymmetrie 117 Müller/Raphael, Demarcation and Exchange. 118 Vgl. Süß/Rytlewski, Viele Baustellen. 119 Schwarz, zit. nach Siebenhaar, Kultur, 708 ; vgl. Süß/Rytlewski, Hauptstadt Berlin ; Charle, Introduction.
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Rechnung tragen. So wurde jeweils ein etwas anderer Zeitausschnitt gewählt, um in den drei gewählten Städten ähnliche Phänomene zu finden. In Berlin entstand die Diskussion um die Opern erst durch die Folgen der Wiedervereinigung im Jahr 1989 : Im gleichen Jahr wurde sie in Paris durch die Eröffnung des neue Opernhauses zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Die Ära Thatcher (1979–1990) stellte die britische Kulturlandschaft vor große Probleme, die Krisen, die dadurch angestoßen wurden, traten aber erst Mitte der 1990er-Jahre mit der Renovierung des Royal Opera House an die Oberfläche, nach dem Amtsantritt von New Labour. Damit wird ein Zeitraum betrachtet, der in der kulturpolitischen Periodisierung noch keinen abschließenden Platz gefunden hat. Er überschneidet sich teilweise mit der Phase, die Harry Hillman Chartrand als „cultural counter reformation“120 bezeichnet hat : Jene Zeit, in der zahlreiche Werte, welche die (sozio)kulturelle Revolution der 1960er- und 70er-Jahre in Frage gestellt hatte, restabilisiert wurden und außerdem ein verstärkter Wettbewerb um öffentliche Zuwendungen den Kultursektor prägte. Doch den Untersuchungszeitraum kennzeichnen daneben zwei Tendenzen, die diesen Merkmalen wiederum sogar entgegenwirken können : Eine Individualisierung der Wertemuster steht in einem ständigen Spannungsfeld zu den konservativen Orientierungen ; die in jüngeren Jahren vor allem durch die mediale Entwicklung verstärkte Tendenz zur politischen ‚Prachtentfaltung‘, entwickelte sich gerade bei repräsentativen Kulturformen wie der Oper an manchen Orten zu einem Korrektiv der allgegenwärtigen Sparpolitik. Weiterhin muss der Vergleich den unterschiedlichen Rahmenbedingungen der politischen Systeme Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs und ihren kulturpolitischen Ausprägungen Rechnung tragen. Anders als etwa in Frankreich, wo alle Staatsopern unmittelbar der Zentralregierung unterstehen, heißen in Deutschland jene Bühnen ‚Staatstheater‘ oder eben ‚Staatsoper‘, die sich überwiegend in Trägerschaft der Bundesländer befinden. Im deutschen Föderalismus haben die Länder verfassungsrechtlich Staatscharakter ; mehr noch, die Kulturförderbestimmungen in den deutschen Landesverfassungen 120 Vgl. die begriffliche Verwendung bei Hillman Chartrand, Cultural Economics, in : Collected Works of Harry Hillman Chartrand, http ://www.culturaleconomics.atfreeweb.com.
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richten sich in der Regel „allgemein an den ‚Staat‘, implizit also auch an die Kommunen und die Gemeindeverbände, soweit diese als Träger der mittelbaren Staatsverwaltung handeln“.121 Der deutsche ‚Normalfall‘ ist eine Oper im Rahmen eines Dreispartenhauses in Trägerschaft des Landes oder einer Stadt. Die drei Berliner Opernhäuser bilden insofern Ausnahmen – sie alle aber erfüllen von der Finanzierungsstruktur über den kulturpolitischen Auftrag bis zu ihrer Repräsentationsfunktion die Rolle von Staatsopern. In Großbritannien wiederum, wohingegen wie in Frankreich Opernhäuser im Regelfall Einzelinstitutionen sind, haben alle staatlichen Ebenen grundsätzlich nur indirekten Einfluss auf die Kultur, eine staatliche Oper im engeren Sinne gibt es in Großbritannien daher nicht. Trotzdem schritt hier ebenso wie in Deutschland und Frankreich regelmäßig der Staat ein, wenn es darum ging, ein Opernhaus in finanzieller Schieflage durch ‚supplement grants‘ zu entschulden, und setzte damit Zeichen für eine staatlich getragene Verantwortung. Die nationale und internationale Anerkennung der Opernhäuser als von staatlichen Instanzen, Normen und Akteuren gesteuerten Institutionen erlaubt, diese verschiedenen Konstellationen alle unter dem Titel Staatsopern zu bündeln und differenziert als solche zu vergleichen.122 Eine letzte, vor allem methodologische Schwierigkeit ergibt sich aus dem auszuwertenden statistischen Material und seiner oft mangelnden Vergleichbarkeit. Zahlen über die Zuschüsse an Opernhäuser, Kulturausgaben pro Kopf, den Prozentsatz der in die Oper gehenden Bevölkerung etc. demonstrieren einerseits immer wieder eindrucksvoll die nationalen Unterschiede. Allerdings ist bei einem Vergleich dieser Zahlen Vorsicht geboten, denn trotz europaweiter 121 Schlussbericht der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘, BT-Drucksache 16/7000, 11.12.2007, 71f. Außer durch indirekte Mitfinanzierungen existieren unter der Kulturhoheit der Länder im deutschen Föderalismus keine von der Bundesrepublik betriebenen oder geförderten Theater und Opernhäuser. 122 Begriffe und Bedeutungen von Staat und Staatsoper sind im Englischen und Französischen zum Teil durch andere Ausdrücke als im Deutschen belegt. Bestimmte Funktionen des Staates werden eher durch ‚nation‘ als durch ‚state‘ oder ‚État‘ ausgedrückt – weswegen die Staatsopern in Frankreich ‚Opéra National‘, und bis auf die Royal Opera die Opern in Großbritannien jeweils ‚English‘, ‚Welsh‘ oder ‚Scottish National Opera‘ heißen. In England wird darüber hinaus die steuernde Instanz seltener mit ‚state‘ als mit der direkten Exekutivmacht ‚government‘ bezeichnet. Vgl. zu den Übersetzungsproblemen von State, Politics und Government : Seck, Politische Kultur.
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Harmonisierungsversuche gibt es kaum einheitliche Erhebungs- und Berechnungsmethoden. Zudem sind – wie eben bereits in Hinblick auf das Quellenmaterial erörtert – die qualitativen Unterschiede der Kulturförderung und des Kulturkonsums im Detail häufig so groß, dass die Ergebnisse dieser vermeintlich objektiven Berechnungen die Wirklichkeit verzerrt abbilden. Beispielsweise sind die Kulturhaushalte zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mit ganz unterschiedlichen Ressorts verbunden (etwa Forschung, Sport, Medien, Bildung) und unterscheiden sich in ihrer regionalen Reichweite signifikant.123 Festzuhalten bleibt, dass auch präzise Zahlen zwar häufig nur Tendenzen beschreiben aber durchaus Hinweise auf Ursachen und Hintergründe ihrer Entstehungszusammenhänge liefern können – „Such comparisons provide a more interesting insight into the differing funding cultures of the respective countries than, necessarily, a guide to the relative cost-effectiveness of the individual organisations concerned.“124 Das Untersuchungsthema und seine vielfältigen Besonderheiten in den drei Beispielfällen werfen mehr Fragen und Aspekte auf, als in dieser Studie angemessen bearbeitet werden können. Lücken sind inhaltlich vor allem dort gelassen worden, wo künstlerische Aspekte im Vordergrund stehen, das heißt alle Entwicklungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der musikalischen und ästhetischen Arbeit der Opernhäuser, der Aufführungspraxis, dem Repertoire, der Zusammensetzung der Ensembles etc. Zudem mussten Einzelaspekte außen vor gelassen werden, für deren informierte Analyse kein ausreichendes Material zur Verfügung stand. Die Auswahl des Quellenmaterials spiegelt bereits wider, dass für zahlreiche behandelte Aspekte kein verlässlicher Literaturoder Quellenkorpus vorhanden ist und manches auf ‚Umwegen‘ rekonstruiert werden muss. Zum Teil darauf zurückzuführen ist auch die Ungleichgewichtung der verschiedenen Opernhäuser in den drei untersuchten Metropolen. Prinzipiell gilt die Untersuchung der generellen Opernpolitik und damit den ganzen Opernlandschaften, die sich in den drei Städten stets auf spezifische Weise zusammensetzen. Diese Opernpolitik kennzeichnet aber an vielen Stellen Phänomene und 123 Vgl. Becker, Kulturfinanzierung ; Myerscough, Funding ; Stewart, The Arts. 124 Warnock, Five-yearly Appraisal.
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Debatten, welche ein Opernhaus hervortreten lassen (vor allem in London die Royal Opera vor die English National Opera und in Berlin die Staatsoper vor die Deutsche Oper und die Komische Oper). An diesen Häusern spielen sich untersuchte Entwicklungen beschleunigt oder besonders prägnant ab ; die verstärkte politische und öffentliche Aufmerksamkeit bringt zudem mehr Informationen und Quellenmaterial hervor. Der Aufbau des Buches korrespondiert in folgender Weise mit den diskutierten thematischen, theoretischen und methodologischen Prämissen : Drei Hauptteile bilden die anfänglich festgestellten – ökonomischen (II), sozialen (III) und kulturellen bzw. repräsentativen (IV) – Dimensionen der Beziehung von Staat und Oper ab. Jeder Teil beginnt mit der komparatistisch angelegten Analyse der jeweiligen Traditionen und kulturpolitischen Rahmenbedingungen der Staatsopern. Hier werden sowohl die theoretischen Kategorien diskutiert, die diese Dimensionen kennzeichneten (der Gütercharakter der Oper, die Oper als sozialer Raum, Funktionen von Repräsentation etc.) als auch deren historische, strukturelle und normative Grundlagen erörtert. Vor diesem Hintergrund tritt hervor, vor welche Herausforderungen die Staatsopern durch die sich paradigmatisch verändernden Bedingungen von Staatlichkeit gestellt worden sind. In den mittleren Kapiteln werden daher die Prozesse, die innerhalb der jeweiligen Dimension die Opernkrisen gekennzeichnet haben, untersucht. Sie werden als die Ökonomisierung der finanziellen und rechtlichen Grundlagen der Staatsopern, die gesellschaftliche Pluralisierung ihres Publikums und die Orientierung von opernbezogener staatlicher Repräsentation an neuen Repräsentationsstrategien bezeichnet. Damit wird ein jeweils signifikanter Zugang zur Interpretation der Opernkrise in einer der drei ausgewählten Hauptstädte gewählt, der jedoch am Ende jedes Hauptteils wiederum unter vergleichender Perspektive resümiert wird. Der Aufbau jedes Hauptteils erfolgt also in drei Schritten : 1. Darstellung der Traditionen sowie der kulturellen und politischen Rahmenbedingungen aller drei Opernmetropolen im Vergleich. 2. Profilierung jeweils einer der drei Opernmetropolen und ihrer Opernkrise im Kontext ihrer signifikanten kulturpolitischen Rahmenbedingungen und deren Reformen.
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3. Integration der unterschiedlichen Profile und der darauf bezogenen empirischen Befunde in die komparatistische Perspektive. Den Abschluss (V) bildet die kritische Überprüfung des konzeptionellen Zugangs zu den Opernkrisen durch den Zugriff auf die Theorien der Transformation von Staat und Staatlichkeit im Kontext der drei untersuchten Dimensionen der Ökonomisierung, Pluralisierung und der Fragmentierung von Repräsentation. Daraus ergibt sich die abschließende Analyse der funktionalen Bedeutung, die den Krisen der Opern in diesem Zusammenhang zukommt.
II. Ökonomie und Ökonomisierung der Oper
„Il semblerait que l’opéra populaire ait comme une fâcheuse tendance à coûter beaucoup plus cher que l’opéra tout court.“1
Die Staatsoper ist eine moderne Erfindung und als solche in erster Linie Ausdruck einer finanziellen und rechtlichen Verzahnung von Staat und Opernhäusern, die sich während des 20. Jahrhunderts überall in Europa intensiviert hat. Zugleich verloren die ‚Gesetze des Marktes‘, denen die Oper in früheren Zeiten oft maßgeblich unterlag, an Geltung. Am Ende des Jahrhunderts aber entstand wieder ein gegenläufiger Prozess. Die ökonomische Schwächung der staatlichen Ebenen provozierte eine international zu beobachtende Transformation, welche die Ökonomie der Staats-Oper grundlegend zu verändern begann. Auch die Opernhäuser in Berlin, London und Paris wurden alle in den 1990er-Jahren Reformen unterzogen, welche eine Ökonomisierung der staatlich gesteuerten Opern bewirkt haben. Um diesen Prozess, seine Ursachen und Hintergründe sowie seine Bedeutung und Folgen geht es in diesem Teil des Buches. Wenn im Folgenden immer wieder von einer solchen Ökonomisierung der Oper die Rede ist, droht ein Missverständnis, denn es liegt auf der Hand, dass die Oper seit der Erfindung des Genres stets auch eine ökonomische Dimension hatte – die meiste Zeit war diese sogar weit bedeutender als heute. Den Untersuchungen und Überlegungen in diesem Teil liegt daher eine analytische Unterscheidung der Ökonomie von der Ökonomisierung der Oper zu Grunde : Die Ökonomie der Oper zu berücksichtigen bedeutet, Oper nicht allein als Gattung, Werk der darstellenden Künste oder soziales Ereignis zu betrachten, sondern die wirtschaftliche Dimension des Opernbetriebs, das heißt, sowohl den einzelnen nach spezifischen Funktionsweisen laufenden Kulturbetrieb als auch die Oper als Element der wirtschaftlichen Kreislaufbeziehungen in den
1 Le Canard enchaîné, 25.01.1989.
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Blick zu nehmen.2 Führt man sich in dieser Weise die Oper als Betrieb vor Augen, werden Perspektiven- und Prioritätenverschiebungen sichtbar, welche gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Balance zwischen künstlerischer und ökonomischer Leistung zu Gunsten der letzteren verändern, zu Interferenzen mit der Förderung des Staates führen sowie einen politischen Handlungsbedarf und Reformdrang stimulieren. Diese Prozesse, zu denen Schritte der Entstaatlichung und Privatisierung, neue, häufig kommerzielle Mittel der Finanzierung und neue Modelle der Trägerschaft gehören, werden als Ökonomisierung der Oper begriffen ;3 sie löst die Oper aus den Strukturen und Normengerüsten des staatlichen Kulturmonopols heraus. Die ökonomische Abhängigkeit der Opernhäuser von staatlichen Instanzen war nicht immer gegeben. Wie es überhaupt zu dieser staatlichen Hoheit über die Strukturen und Verfahren an Opernhäusern kam, welche kulturpolitischen und institutionellen Modelle sich daraus entwickelt haben und warum diese schließlich reformbedürftig wurden, ist daher Gegenstand der folgenden Kapitel. Zunächst werden der Opernbetrieb und die darin angelegten ökonomischen Prinzipien und strukturellen Probleme vorgestellt, die eine externe Finanzierung der Oper überhaupt notwendig machen. Anschließend werden in einem historischen Überblick die sich im Laufe der Geschichte der Kunstform entwickelten Beziehungen zwischen Oper und Obrigkeit dargestellt und daraus abgeleitet, welche tradierten Bedingungen die Staatsopern im späten 20. Jahrhundert prägen. Dem folgt die Darlegung der unterschiedlichen Modelle, die sich angesichts dieser ähnlichen Entwicklungen herausgebildet haben. Damit werden die spezifischen Zusammenhänge mit den verschiedenen politischen und insbesondere kulturpolitischen Systemen Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs sowie die unterschiedliche diskursive Dynamik, welche das Thema in Berlin, London und Paris besitzt, anschaulich gemacht. Am Beispiel Berlins erfolgt dann im mittleren Kapitel die Analyse der konkreten Entwick2 Vgl. Hoegl, Ökonomie ; Auvinen, Unmanageable Opera ; Jochum/Schmid-Reiter, Teure Kunstform Oper ? ; Bovier-Lapierre, Die Opernhäuser ; de Coster, Le statut socio-économique ; Heinrichsmeyer, Kultur ; Hummel, Die volkswirtschaftliche Bedeutung. 3 Vgl. Herdlein, Theater ; ders., An den Grenzen ; Jacobshagen, Praxis Musiktheater, 8f.; Hoegl, Ziele, hier : 172 ; Klinger, Braucht der Staat die Oper ?, 77, oder Ruzicka, Administrative Probleme.
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lungen, die aus der allgemeinen Problemstellung resultieren. Das heißt, die Art und Weise, wie sich die spezifische Problemlage in Berlin herausbildet und welche Veränderungen in Form von neuen Finanzierungsmodellen, rechtlichen Rahmenbedingungen und Umstrukturierungen formeller und informeller Beziehungen zwischen den beteiligen Akteuren stattgefunden haben. Abschließend kann der Vergleich mit Paris und London das Verhältnis von spezifischen kulturpolitischen Rahmenbedingungen und systemübergreifenden Entwicklungen zeigen, das heißt, welche Rahmenbedingungen der Staats-Oper warum und unter welchen Bedingungen neu verhandelt werden und welche Akzeptanz sie jeweils erfahren. Es gilt herauszuarbeiten, wie sich die Beziehung zwischen Staat, Politik und Oper in der ökonomischen Dimension im Zuge der analysierten Prozesse verändert und ob staatliche Hoheit auf der einen und politische Steuerung auf der anderen Seite gegenüber den Opernhäusern tatsächlich geschwächt oder vielmehr wieder gestärkt werden.
1. Das Modell der Staatsoper und seine ökonomischen Herausforderungen 1.1 Das ‚Baumol’sche Gesetz‘ und die Dilemmata staatlicher Opernförderung
Es heißt, Qualität habe ihren Preis – das trifft auf die Oper mit Sicherheit zu. Es ist ein oft wiederholter Topos, dass die Oper immer die teuerste aller Kunstformen, doch niemals so teuer wie heute war. Die private Oper, die in Format und Leistungsfähigkeit mit den großen staatlichen Opernhäusern konkurrenzfähig wäre, gilt als unmöglich geworden.4 Dem französischen Kaiser Napoléon wird die aphoristische Bemerkung zugeschrieben : „À l’Opéra il faut savoir jeter l’argent par la fenêtre pour le faire rentrer ensuite par la porte.“5 Diese Charakterisierung eines Opernbetriebs, der durch Investitionen in Prunk und Pracht einen lukrativen Rücklauf garantiert, war das Charakteristikum bestimmter Opernmetropolen des 19. Jahrhunderts, 4 Vgl. Engel, Musik und Gesellschaft, 24. 5 Zit. nach Saint-Pulgent, Le syndrome, 121.
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als „the Opera was a machine for creating pleasure, dreams and symbols, just as much as for producing a marketable commodity“ ;6 seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die grundsätzlich defizitäre Oper überall der Normalfall.7 Die Ausgaben jener hauptstädtischen Opern, die hier im Fokus stehen, liegen zwischen 35 Millionen (Komische Oper Berlin) und 175 Millionen Euro (Opéra National de Paris)8 und damit den Summen, die in Form verkaufter Eintrittskarten wieder „zur Tür hineinkommen“ und nur zwischen 13 % und 37 % der Kosten abdecken, unerreichbar fern. Sogar in einer ausverkauften Opernvorstellung wird jeder zahlenden Besucher mit durchschnittlich 50 (London, Royal Opera House) bis 190 Euro (Staatsoper Berlin) bezuschusst.9 Welche Bedingungen der eigentlich durch künstlerische wie institutionelle Kontinuität hervorstechenden Oper haben sich so grundsätzlich verändert ? Warum gilt die Kunstform, mit der sich im 19. Jahrhundert nicht nur Ruhm sondern auch Reichtum erwirtschaften ließ, heute als ein Inbegriff des Marktversagens von Kultur ? Die Ökonomie der Oper, wie oben definiert, ist ein zentraler Pfeiler der Beziehung von Staat, Politik und Oper. Und wenn auch die Opernprobleme der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit sicher nicht allein auf finanzielle Fragen zu reduzieren sind, so scheint es doch geboten, deren Untersuchung mit einem Blick auf ihre ökonomischen Parameter zu eröffnen. Sie verraten etwas über die prinzipiellen Gründe, warum Opern in Europa heute fast alle im weiteren Sinne Staats-Opern sind, über die ökonomischen und politischen Abhängigkeiten, in die sie als Kulturbetriebe eingebunden sind und gewähren Einblick in den ausdifferenzierten Mikrokosmos eines Opernhauses und die strukturelle Kontinuität, die dort herrscht, auch wenn sich seine Produktionsbedingungen ändern. Denn Opernhäuser waren nicht nur stets Orte des Kunstschaffens sowie politische Einrichtungen und an den Willen und Wandel der Herrschenden gebunden ; seit es sie gibt, waren sie immer auch Wirtschaftsunternehmen und wurden als solche geführt.10 Das Primärziel dieser Unterneh 6 Charlton, The Cambridge Companion, 39 ; vgl. auch Toelle, Oper als Geschäft ; Jourdaa, A l’opéra, 293. 7 Vgl. z.B. Ruzicka, Musiktheater, 261f. 8 In der Saison 2007/08. 9 Zahlen für das Jahr 2004 (London, rund 35 Pfund) bzw. 2002/03 (Berlin). 10 Vgl. Döhring, Teure Kunstform Oper ?, 9.
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men war in der Regel, und ist es noch heute, der künstlerische Erfolg, mitunter aber auch das persönliche Gewinnstreben eines Impresarios oder Theaterdirektors. Dass sie zuletzt alle in die mal strengere mal losere Obhut des Staates genommen wurden, liegt aber auch daran, dass sich die Wirtschaftsgeschichte der Oper à la longue als eine „Geschichte der Konkurse“ liest.11 Wie also funktioniert dieses Unternehmen Oper ? Ein Opernhaus ist ein hochgradig arbeitsteiliger Handwerksbetrieb und zugleich ein Produktionsort der Kreativität, deren Entfaltung einem auf Effizienz ausgerichteten Arbeitsprozess, der notwendig wäre, um die immer weiter steigenden Kosten zu bremsen, jedoch in vielen Punkten entgegensteht. Die Heterogenität des arbeitsrechtlichen, finanziellen und künstlerischen Status innerhalb eines Opernbetriebs und seine in hohem Maße hierarchisierten zugleich aber relativ unabhängigen Arbeitsabläufe schaffen ein ständiges Spannungsfeld, dessen Konflikte meist erst am Abend der Premiere in einem homogen scheinenden Kunstobjekt vor dem Publikum aufgehen. Die Aufgaben und auch die Spannungen, die innerhalb eines Opernhauses entstehen, sind in Ausmaß und Ausdifferenzierung so faszinierend, dass sie am treffendsten tatsächlich nicht in wissenschaftlicher sondern in belletristischer Literatur beschrieben worden sind. Petra Morsbach beispielsweise leitet ihren Opernroman mit einem Panorama ein, in dem sie in wenigen Zeilen bereits über ein Dutzend Aufgabengebiete und weit über hundert Beschäftigte einer Oper vorstellt, die alle Angestellte eines ganz normalen Betriebs sind und doch dessen wohl einmalige (und oft unbequeme) Vielfalt ausmachen : „Vor der Vorstellung summt das Theater wie ein Bienenstock. Der Bühnenmeister überprüft die Dekoration, kümmert sich darum, dass Falten in den Prospekten glattgezogen und Risse genäht werden. Der Requisiteur sieht die Requisiten durch (…) und ärgert sich, dass an Isoldes Fackel wieder zwei Zacken verbogen sind. Er findet, der Bühnenbildner hätte sich eine zackenlose Fackel ausdenken können, wenn die Regie schon vorsieht, dass Isolde die Fackel durch die Gegend schleudert. (…) In der Herrenschneiderei kürzt man immer noch das Kostüm für den Gast-Tristan, der zu spät zur Anprobe erschienen war. In der Maske wappnet man sich gegen die Wut der Chorsänger, die laut Regie 11 Suchy, Oper und Wirtschaft, 41 ; vgl. auch Agid/Tarondeau, L’Opéra (2003).
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im Gesicht kalkweiß geschminkt werden. Die Solisten singen sich warm. Im Stimmzimmer diskutieren Orchestermusiker das Fußballspiel des Nachmittags (…) nur der Konzertmeister ist schon eingespielt. Vor der nüchternen Atmosphäre und dem Lärm ist er mit seiner Geige in das verlassene Treppenhaus des Werkstättentrakts geflohen. (…) Vor Wonne sträuben sich ihm die Haare ; der pure Gedanke an den Tristan-Akkord macht ihn fertig. Der Oboist, der im dritten Akt das Englischhorn blasen wird, hat Zahnschmerzen. Er hätte absagen sollen ; wer schätzt sein Opfer ? Bestimmt nicht der Dirigent. Auf den hat er eine Wut. (…) Er vernachlässigt die Holzbläser und setzt viel zu sehr auf Blech und Streicher. (…) Die Fagotte haben sich inzwischen eingeblasen und verlassen das Studienzimmer, um in der Kantine eine letzte Runde Skat zu dreschen.“12 Die Notwendigkeit, in einer Oper vor wie hinter den Kulissen Hunderte von Menschen in fast ebenso vielen Aufgabengebieten, ein großes Orchester, verschiedene Chöre und gegebenenfalls Tänzer sowie ein Solistenensemble zu beschäftigen, birgt nicht nur literarisches Potenzial und organisationssoziologisch interessantes Material, sondern prägt vor allem die Ökonomie der Oper maßgeblich. Im Unterschied zu den relativ frei beweglichen Kosten für einzelne Produktionen oder Gäste, sind die durch festes Personal gebundenen Mittel eines laufenden Opernbetriebs nicht disponibel. Man spricht daher von fixen und variablen Kosten. Deren asymmetrische Verteilung von mindestens 3 :1 bedingt das Kostendilemma, das Opernhäuser in aller Welt in den vergangen Jahren an den Rand der Leistungsfähigkeit gebracht hat. Ihm zu Grunde liegt das auch als die Baumol’sche Kostenkrankheit berühmt und berüchtigt gewordene ökonomische Gesetz, das die amerikanischen Ökonomen William Baumol und William Bowen bereits 1966 aufstellten und das besagt, dass die allgemeine Entwicklung der Arbeitsprozesse und -preise die hohen Kosten des (Musik) theaterbetriebs relativ verstärkt hat, ohne dass ausgleichende Effizienzsteigerungen möglich wären.13 Die Steigerung der Produktivität von Arbeit hat im Laufe 12 Morsbach, Opernroman, 14ff. Vgl. aber auch Dorn, Ringkampf ; oder Süßkind, Der Kontrabass, sowie den Film von Szabó : Zauber der Venus. 13 Vgl. Baumol/Bowen, Performing Arts ; aktueller und zu einzelnen Aspekten und Ländern vgl. Abbing, Why are Artists poor ? ; Hoegl, Das ökonomische Dilemma ; Saint-Pulgent, Le syndrome.
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des 20. Jahrhunderts die Arbeitskosten, aber auch die Produktion von Waren generell steigen lassen. Inflationsbereinigt sind wegen dieser Erhöhung der Arbeitsproduktivität die meisten Produkte billiger geworden. Arbeit und Produktivität funktionieren jedoch in der Kunst anders. Verliefen die Produktivitätsentwicklungen in einem Kulturbetrieb wie in der Landwirtschaft, so hat es Hans Abbing pointiert zusammengefasst, würden heute nicht mehr vier Musiker ein Haydnquartett spielen, sondern nur einer, und das im doppelten Tempo.14 Diese ‚Unfähigkeit‘ zur Effizienzsteigerung gilt zumal für die arbeitsteilige und personalintensive Oper. Der Fidelio dauert heute noch genauso lange und ist mit gleichem Aufwand zu spielen wie vor 200 Jahren ; eine Bravourarie verlangt heute den gleichen Kraftaufwand der Sängerin oder des Sängers wie bei ihrer Uraufführung ; der Gefangenenchor für Verdis Oper Nabucco lässt sich nicht zur Hälfte wegrationalisieren ; auch ein moderner Schnürboden transportiert nur weitgehend handgefertigte Kulissen. Es gilt daher, dass die allgemeine Einkommensentwicklung, die Kosten des real-time personal service Oper weit mehr als um das Mittel der Inflationsrate erhöht, ohne dass nennenswerte Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung bestünden. Im Verhältnis zu industriellen Erzeugnissen und damit auch zur allgemeinen Kaufkraft (auch des Opernpublikums) wird ihre kulturelle Leistung immer teurer. Blickt man auf all die Orte, an denen heute Opern produziert werden, wird schnell deutlich, dass dieses Baumol’sche Gesetz der Differenzierung bedarf. In zahllosen kleinen und freien Theatern und Projekten wird Musiktheater heute zu weitaus günstigeren Konditionen geboten als das in früheren Zeiten der Fall war. Die anwachsende Fülle an Low- oder No-Budget-Opernproduktionen gleicht nicht nur die Reduktion des öffentlichen Opernangebots aus und ergänzt es in künstlerischer Hinsicht.15 Das Geflecht gewachsenen Wohlstands, 14 Abbing, Artists, 150. 15 Sowohl institutionalisierte als auch projekthafte Produktionen, die so zahlreich, verstreut und häufig kurzlebig und lokal verankert sind, dass es unmöglich ist, hier einen repräsentativen Überblick oder auch nur Querschnitt zu nennen. Gerade im urbanen Umfeld großer Opernbühnen gedeihen kleine Off-Betriebe, etwa in Berlin die Neuköllner Oper, die Kammeroper, die zeitgenössische Oper Berlin, Operone, das Unit-Theater der Universität der Künste sowie der Musikhochschule Hanns Eisler ; in London das Almeida Theatre, die London Contemporary Opera oder die Opera London ; in Paris die Péniche Opéra, nach der Wiederaufnahme des Spielbetriebs die Opéra Comique.
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mehr persönlicher Freizeit, vielfältiger Projektförderungen und sozialer Sicherungssysteme ermöglicht mehr Menschen – nötigt sie manchmal auch –, sich ehrenamtlich oder für unterdurchschnittliche Löhne zu engagieren, und verändert damit auch die Ökonomie der Oper. Von einer automatischen Kostensteigerung kann hier keinesfalls die Rede sein ; eher zeigt sich eine Kostenspirale nach unten, da Ausbildungsinstitutionen, aber auch einsparende oder gar schließende öffentliche Theater viele miteinander konkurrierende künstlerische und nicht-künstlerischen Opernschaffende auf den Markt entlassen, auf dem sie ihre Fähigkeiten anbieten, sich weiter qualifizieren oder für potenzielle Arbeitgeber sichtbar bleiben müssen. Darüber hinaus können auch kleine Theater große Oper herausbringen. Etwa das Théâtre des Champs-Élysées in Paris führt bedeutende Sänger, Dirigenten und Regisseure auf seiner Bühne zusammen und zeigt über 400 Vorstellungen im Jahr. Dabei erhält das Theater weder vom Staat noch der Stadt Paris Zuschüsse. Dieses private Operntheater wird trotzdem möglich, weil nur rund 40 Mitarbeiter an dem Haus beschäftigt sind, weitgehend Stücke für kleinere Ensembles gegeben werden und die meisten Kosten nicht aus dem laufenden Betrieb, sondern für einzelne Produktionen entstehen, die sich wiederum zum Großteil von Sponsoren finanzieren lassen.16 Auch dieser Betrieb scheint nicht unheilbar mit der Baumol’schen Krankheit infiziert zu sein. Schließlich haben sich in verschiedenen Ländern eigene Opernkulturen mit unterschiedlichen Spielsystemen entwickelt, die sich auf die Betriebs- und Kostenstruktur auswirken. Man trennt idealtypisch vier verschiedene Arten, einen Opernspielbetrieb zu organisieren :17 Zunächst das sich von Italien ausgebreitete ‚Stagione-System‘, das aus Saisons mit bis zu acht Produktionen besteht, die jeweils einstudiert und dann in Serie präsentiert werden. Ist ein Stück abgespielt, beginnen die Proben für das nächste. In der Spielpause werden Konzerte oder Ballette angeboten. Der Vorteil sind stets ‚frische‘ Produktionen mit einem eingespielten Ensemble und die bessere Planbarkeit ; der Nachteil : die geringen Variationen und das schmale Repertoire. Dem gegenüber steht das ‚Repertoire16 Vgl. Pereira/Meyer, Musiktheater ; Interview mit Dominique Meyer in : Der neue Merker (Ö), 18 (2007). 17 Vgl. Towse, Opera ; Candé, ‚opera furia‘.
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system‘, das sich in Deutschland entwickelt und vor allem nach Osteuropa ausgebreitet hat. Dieses Spielsystem hat genau gegensätzlich zum Stagionebetrieb eine große Anzahl an ‚fertigen‘ Produktionen parat, die bestenfalls täglich alternierend mit einem festen Ensemble und gegebenenfalls wechselnden Gastsängern aufgeführt werden können. Der Vielfalt und Abwechslung stehen nachteilig der hohe Betriebsaufwand und gegebenenfalls veraltete Produktionen gegenüber. Jenseits oder im Rahmen dieser beiden Modelle gibt es zusätzlich Festivals, die nur über einen kurzen Zeitraum und mit einem sehr spezifischen Programm laufen, und Tournee- oder Touring-Theater, also Gastspiele fester Häuser oder reisende Gruppen, die eine Produktion an verschiedenen Operntheatern oder alternativen Spielstätten zeigen. Tendenziell dominierte das Stagionesystem den privatwirtschaftlich geführten Opernbetrieb, das Repertoiresystem die staatlich getragene Oper. Bevor sich in jüngeren Jahren wieder verstärkt das Stagione- und Festivalprinzip als ökonomisch vorteilhaftere Spielweisen durchsetzen konnten, hat eine internationale Ausbreitung des Repertoiresystems stattgefunden – von den staatlich unterhaltenen oder geförderten Opern wurde auch erwartet, ein größtmögliches Opernangebot bereitzustellen. Somit teilen sich an den großen Staatsopern oft 500 bis über 1000 Angestellte18 den enormen Arbeitsaufwand einer ständigen Produktion. Das zahlreiche fest angestellte Personal, das für den geschilderten hoch differenzierten laufenden Opernbetrieb nötig ist, nicht die opulenten Inszenierungen oder teuren Gaststars, machen den größten Teil eines Opernetats aus, und sie sind die entscheidende Variable des Kostensteigerungsgesetzes. In den 1980er- und 90erJahren hat dieser Anteil in Europa durchschnittlich 75 % des Etats erreicht. Noch drastischer zeigte sich das Verhältnis an den Berliner Opernhäusern, in denen Anfang der 1990er-Jahre nur ca. 15 % der Mittel der Opernhäuser ‚frei‘ einsetzbar waren. Die Aufwendungen für planmäßiges Personal betrugen an der Deutschen Oper 78 %, an der Staatsoper 85 % und an der Komischen Oper sogar
18 Anfang der 1990er-Jahre ware an der Berliner Staatsoper fast 1300 Menschen beschäftigt, an der Komischen Oper gut 800, die Deutsche Oper beschäftigte um die 900 Personen. Covent Garden, London, hatte etwas mehr als 1000 Beschäftigte, die English National Opera nur gut 600. Die Lohnbücher der Pariser Opern listeten, bevor die neue Bastille-Oper entstand, 1100 Mitarbeiter. Überall wurden in den 1990er-Jahren massiv Stellen abgebaut und ausgelagert.
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88 %.19 Doch auch für die Royal Opera in London liegen Zahlen aus der Mitte der 1980er-Jahre vor, die fixe Kosten von 74 % zeigen,20 beim Nachbarhaus, der E NO, sind es 80 %, bei der Opéra National de Paris ca. 70 %.21 Der historische Rückblick zeigt, wie rasant diese Personalkosten im Laufe des 20. Jahrhunderts gestiegen sind : An der Pariser Oper hat sich das Budget für die Mitarbeiter zwischen den 1880ern und den 1980ern inflationsbereinigt mehr als verelffacht, obwohl um 1900 mit 1500 festen und über 400 freien Mitarbeitern die Zahl der Beschäftigten noch bedeutend höher war als mit etwas über 1000 am Ende des Jahrhunderts.22 Der Zuschuss des Arts Council an die Londoner Opern stieg ebenfalls unter Berücksichtigung der Inflation allein zwischen 1950 und 1987 fast um das Neunfache.23 Eine Übersicht von Beginn der öffentlichen Musiktheaterförderung in Deutschland überhaupt 1895 bis zum Jahr 1975 zeigt einen Zuwachs der Ausgaben für Operntheater um das 9000fache in Relation zum Lebenserhaltungsindex.24 Stieg die Teuerungsrate der Oper in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch langsam an, explodierte sie in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren und mit ihnen die öffentlichen Zuschüsse – denn die Subventionen verliefen stets parallel zum steigenden Anteil der Personalkosten. Allein in Deutschland ist der Anteil der selbsterwirtschafteten Einnahmen der Oper daher zwischen 1957 und 1990 von 40 % auf 16 % gefallen.25 So überzeugend allein Zahlen das Dilemma der ‚Kostenkrankeit‘ belegen, so wird durch die Idee des ökonomischen Automatismus doch ein staatlich sehr wohl steuerbarer Aspekt dieser Kostenspirale vernachlässigt. Denn vom Beleuchter bis zum Chorsänger ist die Arbeit an der Oper in der Regel tarifrechtlich organisiert, in Deutschland und Frankreich sogar Teil des öffentlichen Dienstes. Mit der demokratischen Aufwertung menschlicher Arbeit hielten 19 Der Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Materialien zum öffentlich geförderten Kulturangebot in Berlin, Anhang 1.2.1.ff. 20 Priestley, The Financial Scrutiny, 24. 21 Agid/Tarondeau, L’Opéra (2003), 158. 22 Vgl. Saint-Pulgent, Le syndrome, 47ff. und 136. 23 Vgl. Donaldson, The Royal Opera. 24 Vgl. die Materialiensammlung in : Forschungsinstitut für Musiktheater Universität Bayreuth, Strukturprobleme, 283. 25 Vgl. Wagner, Theaterdebatte – Theaterpolitik ; vgl. auch Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 236.
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Tariferhöhungen und Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelung und Sozialversicherungen Einzug in die Oper.26 Das heißt, zum ökonomischen Teuerungsmechanismus tritt hier eine genuin wohlfahrtstaatliche Dimension hinzu, welche die jährliche Kostensteigerung zugleich institutionell bedingt, gesellschaftspolitisch legitimiert und finanziell ausgleicht : Die Kollektivverträge der meisten Mitarbeiter sind an die öffentliche Rechtsform gebunden ; sie entsprechen der gesellschaftlichen Anerkennung der Leistung und der Notwendigkeit einer sozialen Sicherung. Die Tarifeffekte werden daher (zumindest in der Theorie) auch von der öffentlichen Hand kompensiert. Eine differenzierte Betrachtung der Teuerung zeigt folglich, dass sich die Kostensteigerung keinesfalls nur nach den Regeln eines ökonomischen Theorems ‚automatisch‘ vollzieht, sondern von sich reziprok beeinflussenden Faktoren geprägt ist, zu denen die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso gehören wie durch die staatliche Trägerschaft auf die Opernhäuser übertragene Prinzipien der demokratischen Staatsordnung und ihre gesellschaftlichen Wertevorstellungen. Zum politischen Dilemma wird diese Kostenkrankheit daher erst dort, wo das skizzierte, in der öffentlichen Trägerschaft vereinte Gleichgewicht zwischen Ursache, Legitimation und Ausgleich der Kosten verloren geht. Wenn der hoheitliche Träger der Staats-Opern im Zuge der Europäisierung der Politik und der Globalisierung der Märkte seine finanzielle Souveränität verliert, machen sich Steuermindereinnahmen und schrumpfende Wachstumsraten auch auf der Ausgabenseite bemerkbar. Der Liberalisierungs- bzw. Privatisierungsschub des Thatcherismus in Großbritannien, die sozial-ökonomische Reformpolitik im Frankreich der 1980er-Jahre und in Deutschland die erheblichen Kostenumschichtungen nach der Wiedervereinigung markieren die landesspezifischen Entwicklungen dessen, was nach dem kulturfreundlichen Klima des ‚goldenen Zeitalters‘ der 1960er- und 70er-Jahre zu mitunter großen Einschnitten im Kulturbereich führte. Der Staat zeigte sich nicht mehr in der Lage, die Dauertherapie seiner kostenkranken Opern ohne Weiteres zu zahlen, die Ausgabensteigerungen hatten keinen Platz in den Konsolidierungsprozessen öffentlicher 26 Vgl. zur historischen Entwicklung Walter, „Die Oper ist ein Irrenhaus“ ; für heute : Herdlein, Theater.
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Haushalte, die von einer strengen Sparpolitik beherrscht wurden und noch werden. Im Laufe der 1980er-und der 1990er-Jahre kam es daher zur Stagnation der staatlichen Zuschüsse an die Opern, die auf den nicht mehr geleisteten Ausgleich der Tarifeffekte zurückgehen und deren Folge ein schnell zunehmendes Ungleichgewicht in den Opernbudgets war.27 Denn ohne die mit der Preisspirale ansteigenden Zuschüsse vermindern sich die real zur Verfügung stehenden Mittel eines Opernhauses stets um mindestens den Betrag, den eine neue Tarifrunde bringt.28 Selbst ohne Kürzungen muss ein Opernbetrieb, der nur wenige Jahre keinen Ausgleich der Tariferhöhung von beispielsweise 2 %29 erhält, auf seine variablen Kosten zurückgreifen. Wenn nur 15 % des Gesamtetats für die künstlerische Arbeit im engeren Sinne zur Verfügung stehen, werden die Folgen – so dramatisch und zwingend wird zumindest seitens der Opernhäuser argumentiert – „schnell auf der Bühne hör- und sichtbar“.30 An dieser Stelle tritt das andere ökonomische Dilemma der Oper zu Tage – denn so unmittelbar sich die finanziellen Einschnitte auf die künstlerische Arbeit eines Opernhauses auswirken mögen, so gering ist die Kausalität zwischen seiner künstlerischen Qualität und seinem ökonomischem Erfolg ; ‚gute‘ Kunst verkauft sich nicht unbedingt auch gut.31 Dieser Konflikt resultiert aus der instabilen Position der Oper zwischen zwei konfligierenden Werte- bzw. Bewertungssystemen : einem, das sie als Kunst rein ästhetisch beurteilt, und einem, innerhalb dessen sie als Dienstleistung Teil eines ökonomisch funktionierenden Marktes ist.32 Eine rentable Spielplangestaltung (jeder Opernbetrieb verfügt in der Regel über eine eigene ‚Renner-Penner-Liste‘33) könnte gegebenenfalls mit 27 Vgl. die jährlich erscheinende Statistik mit Angaben über Besucherzahlen, Einnahmen und Ausgaben etc. : Deutscher Bühnenverein (DBV), Theaterstatistik. 28 Vergleiche vor allem zum deutschen Tarifdschungel am anschaulichsten die Beiträge in Herdlein, Theater, insb. 2. Ausgabe : Warum gibt es sieben verschiedene Tarifverträge am Theater ?, sowie in Bd. 2 das gesamte Kapitel 9 : Tarifpolitik. 29 Tariferhöhungen in Zahlen bei Saint-Pulgent, Le syndrome, 48 ; Quander/Staatsoper Unter den Linden, Da capo al fine, 172. 30 Salzmann, Die Oper, 35. 31 Wie schon Adorno spitz bemerkte, ist die Erkenntnis „dass das Bessere aus eigener Kraft sich durchsetze“, nicht mehr als „ein erbaulicher Lebkuchenspruch“ der Kulturpolitik : Adorno, Kultur und Verwaltung, 111. 32 Vgl. Hoegl, Ziele, 177f.; ders., Musik, 176f. 33 Eine solche Liste umfasst die gut und schlecht laufenden Stücke. Insgesamt ist eine Orientie-
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Stücken und Besetzungen, die eine hohe Auslastung garantieren, sinkende Zuschüsse ausgleichen. Diese Option unterliegt jedoch einer komplexen Normenstruktur, die mit der staatlichen Förderung der Oper einhergeht. Ihre Finanzierung ist öffentliche Pflichtaufgabe, gerade „damit sie von dem immensen Druck entlastet (wird), die Tarifbewegungen des öffentlichen Dienstes von allgemeinen Gehaltserhöhungen bis zur Arbeitszeitverkürzung im künstlerischen Etat auffangen zu müssen“,34 damit ihre künstlerische Entfaltung sich ungehindert von materiellen Pflichten vollziehen kann und damit sie unabhängig von Kasseneinnahmen das kulturelle Experiment und den künstlerischen ‚Fortschritt‘ wagen kann.35 Jedes mit öffentlichen Mitteln finanzierte Opernhaus ist an einen kulturpolitischen Auftrag gebunden, der gewisse meritorische Ansprüche an es heran trägt, die auf, ökonomisch betrachtet, diffuse Kategorien wie künstlerische Qualität, Bildungs- und Erziehungswerte zielen. Der Effizienzsteigerung, die mit nachlassender finanzieller Potenz des Staates notwendig wird, stehen historisch und politisch verwurzelte institutionelle Strukturen und gesellschaftlich internalisierte kulturelle Vorstellungen entgegen. Bevor die konkreten Schwierigkeiten und Lösungsstrategien der hier untersuchten Opernhäuser beurteilt werden können und sich benennen lassen, welche Veränderungen die Rolle des Staates im Zuge dessen erfährt, sollen im folgenden Abschnitt die kulturellen Determinanten der Oper aufgezeigt und die Entstehung der heute so selbstverständlich erscheinenden engen Bindung zwischen Staat und Oper erhellt werden. 1.2 Hofoper – Bürgeroper – Staatsoper : Zum Erbe einer Institution
Für den langjährigen Chef der Pariser Oper, Jacques Rouché, in dessen Amtszeit von 1913 bis 1945 der Eintritt seines Hauses in die Kulturpolitik des modernen Wohlfahrtstaates fiel, war vor allem eines an der Institution Oper charung am sogenannten Kernrepertoire von ca. 50 Stücken möglich, auf welche das Opernrepertoire von schätzungsweise 50.000 Kompositionen geschrumpft ist. 34 Herdlein, Theater, 82. In der Spielzeit 1998/99 wurden deutsche Theater (Sprech-, Tanz- und Musiktheater) mit rund 2 Mrd. Euro subventioniert, was einem durchschnittlichen Anteil von 85 % der Bühnenetats entspricht, vgl. Jacobshagen, Praxis, 382. 35 Vgl. Hoffmann, Geschichte ; ACGB, The Glory, iii ; Menger, L’opéra.
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rakteristisch – die Kontinuität einer politischen Kontrollinstanz : „Dans aucun temps, dans aucun pays, le théâtre lyrique n’a pu se passer d’une tutelle. À l’origine, le protecteur était le Prince. Il avait ses chanteurs, son théâtre, ses tournées, sa prison. Il possédait aussi une cassette. Plus tard, l’État s’est substitué au prince, ou bien le régime est dévenu celui de l’entreprise particulière independente.“36 Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Oper und Obrigkeit, in die zumal repräsentative hauptstädtische Opernhäuser eingebunden sind, weit älter als der moderne demokratische Nationalstaat und seine kulturpolitischen Instrumente. Auf der Institution Oper ruht ein Erbe von Traditionen, das mit jedem Anpassungsprozess an den politischen und gesellschaftlichen Wandel seit der Einführung des Genres weiter gespeist wurde und noch immer wird. Weit mehr noch als die stets transnationalen Kommunikations- und Konvergenzprozessen unterworfene Opernästhetik, unterliegen die kulturpolitischen und finanziellen Rahmenbedingungen einer Oper den spezifischen Entwicklungen innerhalb verschiedener Staaten. Deren jeweilige institutionelle Vergangenheit prägt das Funktionieren, die Probleme und den politischen wie gesellschaftlichen Status eines Opernhauses noch heute maßgeblich – strukturell wie normativ. Um die Funktionsmechanismen und staatlichen Beziehungen der Berliner Opernhäuser in der jüngeren Vergangenheit im kommenden Kapitel verständlich zu machen, aber auch, um Ursachen für Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Finanzierung, der Trägerschaft, den Betriebsstrukturen oder der politischen Kontrolle einer Oper zu erkennen, ist der historische Rückblick notwendig. Das auffälligste Beispiel für die tief in der Geschichte der Institution Oper verwurzelten Unterschiede ist die divergierende Anzahl der öffentlich finanzierten Opernhäuser in Deutschland, Großbritannien und Frankreich. So ist es allein angesichts der föderalen oder partikularen Struktur des in Kleinstaaten zersplitterten Deutschen Reiches während des Feudalismus zu verstehen, warum in Deutschland heute noch über 80 öffentliche Opernhäuser (bzw. Theater mit Opernbespielung) existieren, die um ungezählte Festivals und freie Musiktheaterproduktionen ergänzt werden. Nicht zufällig finden sich heute noch dort die wenigsten Opernhäuser, wo schon früh große Flächenstaaten 36 Rouché, L’Opéra.
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entstanden, wie in Bayern oder im Norden des Landes, und die meisten auf den Territorien des dichten Kleinstaatennetzes im Osten und Südwesten ; allein Sachsen hat mehr Opernhäuser als das ganze Mutterland der Oper, Italien.37 Die Oper war fester Bestandteil des höfischen Zeremoniells ; daher ließen sich, wie Friedrich II. in der Residenzstadt Berlin im Jahr 1742, die Fürsten allerorten ihre eigenen Hofopern erbauen. Trotz Ausnahmen in den reichsfreien Städten dominierte das Prinzip der seitens des Hofes erlaubten, erwünschten und geförderten Operntheater. Erst mit zunehmender bürgerlicher Emanzipation und nach Einführung der Gewerbefreiheit 1869 fiel der Konzessionszwang, der bislang königlich zugewiesene Monopole für Opern- und Theaterbetriebe vorsah, und es stiegen Anzahl und Ansehen der Operntheater der Städte als Konkurrenzinstitutionen zu den feudalen Schmuckstücken.38 Es entstand das für Deutschland so charakteristische Netz von Theatern in unterschiedlicher Trägerschaft. Ganz anders verlief die Entwicklung in Frankreich, wo die Alleinherrschaft des Königs Ludwig XIV. auch in einem institutionalisierten Monopol der sogenannten lyrischen Künste (also Tanz und musikalischem Theater) an seinem Hof sichtbar werden sollte. Mit zwei ‚lettres patentes‘ (königlichen Dekreten) 1669 und 1672 rief er die Académie Royal de la Musique ins Leben und schuf damit Frankreichs erstes Opernhaus, das ungeachtet der verschiedenen Gebäude, in welche die Oper danach zog, und der unterschiedlichen Namen, die auf deren Giebeln prangten, bis zum heutigen Tag die ‚Nummer eins‘ unter den rund zwanzig Opernhäusern der ‚Grande Nation‘ blieb. Die zentrale Oper der Franzosen stand stets in Paris und musste wie der Hof selbst von dort in das ganze Land und über seine Grenzen hinaus erstrahlen. Der Großteil der anderen Operntheater entstand erst im 20. Jahrhundert.39 In Großbritannien wiederum, wo bis heute der Minderwertigkeitskomplex des „Land without music“40 gepflegt wird und es nur fünf öffentlich finanzierte Opernhäuser gibt, vollzog sich schon früh eine Abkehr von der hoheitlichen 37 Vgl. Kunold, Deutsche Oper ; Deutscher Bundestag, Schlussbericht, 106 ; Zöchling, Opernhäuser. 38 Vgl. Ther, In der Mitte, 88ff.; auch Geißler, Die Geschichte. 39 Claudon, L’Opéra ; Lamantia, L’opéra. 40 Vgl. Blake, The Land.
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Kontrolle der Oper. Als die prägenden Parameter dieser Entwicklung gelten die puritanische Herrschaft infolge des Bürgerkriegs und deren Ablehnung aller darstellenden Kunst sowie die Entfaltung des Liberalismus, der die unmittelbare Steuerung durch den Staat ablehnte. Dem Verbot aller Bühnen durch Oliver Cromwells Long Parliament 1647 fiel zuallererst die junge Oper als sinnlichste und ‚unenglischste‘ aller Künste zum Opfer. Der Kulturbetrieb Oper wurde somit früh vom Hof in den privaten Rahmen wohlhabender gesellschaftlicher Gruppen verlagert. Der geschwächten absoluten Monarchie folgten nach der Revolution der Adel und die Gentry als Erben der Herrschaft. Die Oper hat sich, wenn auch nicht zeremoniell, zumindest institutionell vor allem außerhalb des königlichen Hofes und nicht als sein unmittelbarer Bestandteil entwickelt. Die Entwicklung einer zentralen öffentlichen Verantwortung für die Kunst der Oper, die der moderne Staat hätte übernehmen können, ist deswegen ausgeblieben. Opernaufführungen blieben bis auf wenige Ausnahmen semiprofessionelle Projekte des privaten Vergnügens oder zeitweilig lukrative Unternehmen internationaler Impresarios in der Metropole London, die bei ausbleibendem ökonomischen Erfolg eingingen.41 Im Einzelnen auf die Entwicklungen in den drei Ländern und Städten einzugehen, die verschiedenen Modelle der königlichen, aristokratischen, bürgerlichen oder gemeinschaftlichen Trägerschaft nachzuzeichnen, ginge hier zu weit. Entscheidend ist : Sie alle endeten im 20. Jahrhundert in der Obhut des Staates. Das finanzielle Risiko ihres Betriebs wurde von Impresarios und Fürsten auf die Gesamtgesellschaft umgelegt und durch die damit einhergehende kulturpolitische Regulierung in einen völlig neuen Legitimationszusammenhang gestellt.42 Die Königliche Hofoper in der preußischen Hauptstadt Berlin, Vorgängerin der heutigen Staatsoper, war eine „durch und durch feudale Angelegenheit“.43 41 Vgl. etwa Cummings/Katz, The Patron State, 6f.; Ridley, Tradition, 225 ; Bereson, The Operatic State, 70f.; Donaldson, Royal Opera House. 42 Vgl. Klinger, Braucht der Staat die Oper ? ; Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 248. 43 Zunächst waren die dortigen Veranstaltungen öffentlich und wurden mit folgendem Hinweis in der Presse bekanntgegeben : „Es wird sowohl Fremden als Einheimischen, wes Standes sie sind, verstattet seyn, ohne Entgeld, sich bey denen Opern, Comedien, und masquirten Bällen einzufinden.“ Berlinische Privilegirte Zeitung vom 21.11.1743, zit. in Engel, Das Forum Fridericianum. Dass der Besuch entgeltfrei war und der Verkauf von Karten zu Beginn bei Strafe
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Vollständig finanziert aus der königlichen Schatulle, waren der höfische Bürokratismus und die unmittelbaren Eingriffe des Königs in den Bühnenalltag von Friedrich II. bis Wilhelm II. Teil der Opernpolitik.44 Bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs blieb die Berliner Hofoper eine monarchische Institution, wurde aber bereits wenige Tage nach Kriegsende im November 1918 zur Staatsoper Unter den Linden. Die Länder übernahmen als Rechtsnachfolger der Landesherren alle höfischen Bühnen – aus Hofopern wurden Staatsopern. Das Opernhaus unter den Linden unterstand nun dem neu gebildeten Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, das fortan mit Zuschusszahlungen für die finanzielle Ausstattung der Oper verantwortlich zeichnete und die Verträge mit dem Leitungspersonal schloss.45 Die Zuwendungen aus dem Fiskus an das Opernhaus stiegen in den kommenden Jahrzehnten an, ganz gleich wie sehr sich die ökonomische Lage veränderte und in welcher staatlichen Hand das Opernhaus lag. Unterstand es während des Nationalsozialismus auch weiter dem Preußischen Ministerpräsidenten, ging die Oper nach der Zerschlagung Preußens 1947 in den Besitz der zentralstaatlich organisierten DDR über und trug fortan den Namen Deutsche Staatsoper. 1990 wurde sie in die föderale Ordnung des wiedervereinigten Deutschlands eingegliedert und, wieder als Staatsoper Unter den Linden, dem Land Berlin, bald Hauptstadt im Föderalismus, zugeordnet. Als Oper des Stadtstaates Berlin (Land und Kommune zugleich) genoss sie erstmals eine gleichwertige Stellung mit der Deutschen Oper im Westen der Stadt. Dieses, als Paradebeispiel eines modernen bürgerlichen Theaters 1911 von der Betriebs-Aktiengesellschaft Deutsches Opernhaus der Stadt Charlottenburg gegründete Haus, entstand als Konkurrenzinstitution zur Hofoper und in der Tradition der städtischen und bürgerlichen Theater. Deren Theaterdirektoren mussten, anders als die alimentierten höfischen Intendanten, Budget und Einverboten war, erlaubte aber auch bald zu reglementieren, wer wirklich Zugang zu dem Haus hatte. „Opernbesuche gehörten zum höfischen Pflichtprogramm und waren ausschließlich dem Adel, seinen Gästen und Favoriten, dem gehobenen Militär und bedeutenden Reisenden vorbehalten,“ korrigiert Susanne Geißler die idealisierte Erinnerung an das allen offenstehende Opernhaus Unter den Linden : Geißler, Geschichte. 44 Vgl. Otto, Die Lindenoper, 13 ; Scheurmann, Szenenwechsel. 45 Vgl. Knapp, Die Staatsoper Berlin ; Otto, Die Lindenoper, 220ff.; Asmussen, Die Geschichte, 70ff.; Schenk, Oper und Theater.
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kommen selbst erwirtschaften – ein enormes wirtschaftliches Risiko, da der Unterhalt sowie die Ausstattung ihrer Häuser (etwa der Fundus) meist im Privatbesitz der Direktoren lagen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg langsam der finanzielle Anteil der Städte und Gemeinden in Form von überlassenen Grundstücken, Übernahme der Heizkosten etc. und schließlich ausgezahlten Zuschüssen. Dem folgte die Kontrolle durch Theaterkomitees, bestehend aus Bürgermeistern, Stadtverordneten und Beamten sowie angesehenen Bürgern. Die autonome Aktiengesellschaft der neu gegründeten Charlottenburger Oper ging infolge der zuletzt inflationär steigenden Kosten 1925 Bankrott. Allein die öffentliche Hand war nun noch in der Lage ein Opernhaus zu unterhalten, und gemäß den neuen Besitzverhältnissen hieß dieses fortan Städtische Oper.46 Dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt, wurde es in der Zeit des Nationalsozialismus das Deutsche Opernhaus und schließlich als Oper im westlichen Sektor der geteilten Stadt zur Deutschen Oper Berlin. Somit steht sich in der Berliner Opernlandschaft der in Deutschland weit verbreitete Dualismus zwischen Staats- und Stadttheater gegenüber. Aufgrund der Auflösung Preußens und Berlins Sonderstellung als Stadtstaat, fallen die beiden Ebenen jedoch zusammen. Zwar konkurrierten in der Geschichte der Stadt Berlin stets mehrere Opernhäuser – neben der Komischen Oper, die erst 1947 gegründet wurde, aber mehrere Operntheater als Vorgänger hatte, etwa die Krolloper47 und verschiedene Operettenbühnen – doch erstmalig unterstanden sie nach 1990 alle dem gleichen Rechtsträger : dem Bundesland Berlin. In Frankreich war die Kontinuität einer absoluten Dominanz des Hofes bzw. des Staates keineswegs so deutlich, wie das auf Grund des ausgeprägten Etatismus zu vermuten wäre. Schon das königliche ‚privilège‘ von Ludwig XIV. war zwar eine Art Monopollizenz für die Aufführung von Opern (und Tanz), gab aber dem vom Monarchen eingesetzten Leiter der Oper größte Freiheit in der Gestaltung des künstlerischen Programms sowie in der wirtschaftlichen Führung des Hauses. Der König zahlte die Kosten für Kostüme, Dekoration, Bühne und Requisiten, doch hielt er sich aus den Angelegenheiten seiner Oper 46 Meyer zu Heringdorf, Das Charlottenburger Opernhaus ; Geißler, Geschichte. 47 Wieke, Vom Etablissement.
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weitgehend heraus. Allein Napoléon „fait de l’Académie impériale de musique une institution de l’État“.48 Er verstärkte ab 1802 die Bindung zwischen Staatsmacht und Opernkunst, machte die Académie Royal zur Académie Imperiale und übte mittels Zensur, eigener Auswahl der Künstler und häufig auch eigenmächtigen Gagen- und Vertragsverhandlungen einen erheblichen künstlerischen und organisatorischen Einfluss auf das Opernhaus aus. Die Académie wurde zu 55 % bis 61 % ihres Budgets mit Subventionen unterstützt und private Pariser Theater sogar dazu verpflichtet, zur Finanzierung des Opernhauses beizutragen. Die Revolution im Juli 1830, die den Aufschwung der Bourgeoisie verkörperte, stürzte den Hof wie die Hofoper und führte das privatisierte ‚régime de la concession‘ ein, das die Oper bis 1939 nach bürgerlichen Geschäftsregeln als Unternehmen führen ließ.49 Dies sah zwar Absprachen mit dem Zuschüsse gewährenden Staat, nicht aber dessen unmittelbare Aufsicht vor. Das neue System setzte also gewissermaßen die unmittelbare, aber lose Bindung der Monarchie fort. Durch jährlich festgelegte Rahmenvereinbarungen eines Pachtvertrags über die Anzahl und Art der aufzuführenden Stücke übertrug der Staat die Leitung der Oper einem ‚Directeur-Entrepreneur‘. Der Anteil der Subventionen überstieg selten 20 % am Gesamthaushalt des Opernhauses, die Kasseneinnahmen machten dagegen 50 % bis 80 % des Etats aus und füllten überdies die Taschen des Unternehmerdirektors, der sein Opernhaus auf eigenes künstlerisches und wirtschaftliches Risiko führte.50 Die politische Aufmerksamkeit und Kontrolle brach zwar nie ganz ab, doch zu napoleonischem Einfluss kam der Staat erst wieder, als die privatwirtschaftlich betriebene Oper ab den 1920erJahren an ihre ökonomischen Grenzen stieß und schließlich 1939 in der Réunion des Théâtres Lyriques Nationaux (RT L N) verstaatlicht wurde. Die Erneuerung und Modernisierung der rechtlichen und finanziellen Beziehung zwischen der Pariser Oper und dem Staat fand 1978 im Status des Théâtre National de l’Opéra de Paris statt,51 das bis 1994 gültig blieb.
48 Agid/Tarondeau, L’Opéra (2006), 26. 49 Vgl. Walter, Die Oper ist ein Irrenhaus, 52f. Nur kurzzeitig unter dem Second Empire 1853– 1866 unterstand die Oper noch einmal der unmittelbaren Administration des Hofes. 50 Gourret, Ces Hommes ; Charles, Histoire. 51 Boll, L’Opéra, 11 ; Gasquet, La Mediation ; Gourret, Histoire ; ders., Hommes.
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Zwar hat auch der Titel der Royal Opera in London seine Ursprünge in einem königlichen Patent, das der Hof vergeben und damit Monopolrechte an der Produktion von Opern und Theaterstücken zusprechen konnte. Doch sowenig der Monarch nach der Revolution noch die Quelle absoluter Macht war, sowenig ausschließlich gediehen die Künste unter ‚fürstlicher‘ Patronage.52 Die Opernlandschaft kennzeichnete die Konkurrenz mehrerer privat betriebener Operntheater und eine Vielzahl verschiedener Betriebsformen und künstlerischer Ausrichtungen warben um das Londoner Opernpublikum. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges bot in dem Prachtbau in Covent Garden, wie es in schlechten wirtschaftlichen Zeiten schon früher der Fall war, eine Dance Hall Zerstreuung und vor allem sichere Einnahmen. Doch während der letzten Kriegsjahre entstand genau an diesem Ort mit dem Bedürfnis, der demoralisierten Heimatfront kulturellen Halt zu vermitteln, etwas ganz Neues : öffentlich subventionierte Kultur. Ein Council for the Encouragement of Music and the Arts (C E M A) sollte den kulturellen Markt in diesen harten Zeiten künstlich funktionsfähig halten. Unter der Führung des Ökonomen John Maynard Keynes wurde diese Lösung des Übergangs das Modell für eine neue, nämlich staatliche Kulturpolitik, die im aus der C E M A hervorgegangenen Arts Council of Great Britain (ACGB) institutionalisiert wurde : „At last the public exchequer has recognised the support and encouragement of the civilising arts of life as a part of their duty“, verkündete Keynes.53 Ihren ersten Ausdruck fand diese neue Kulturpolitik in der als öffentliche Einrichtung wiederbelebten Covent Garden Opera Company – auch deren Vorsitz hatte zunächst Keynes inne. Die vom Arts Council verteilten öffentlichen Zuschüsse an das Opernhaus verdoppelten sich zu Beginn dieser neuen Ära fast jährlich. Den Titel des ‚Royal‘ Opera House erhielt das Haus erst 20 Jahre später durch die Zustimmung von Königin Elisabeth II ; er ist aber nicht mehr als Ausdruck einer Art Schirmherrschaft durch den Prince of Wales als ‚Patron‘ des Hauses, ohne Mitspracherechte oder Finanzierungspflichten.54 Der große Theatermarkt des Londoner Westends wurde weiterhin rein privat betrieben, doch in der kulturellen Aufbruchsstimmung entstanden zahlreiche 52 Harris, Government Patronage. 53 Keynes in einer BBC-Radioansprache vom Juli 1945, abgedruckt in : The Listener, 12.07.1945 33f. 54 Handley/Kinna, Royal Opera ; Bournsnell, The Royal Opera ; Donaldson, Royal Opera House.
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Initiativen, aus denen auch die vier weiteren Opernhäuser Großbritanniens hervorgingen. Die Sadlers Wells Company, die bereits in den 1930ern gegründet worden war, wurde dem Royal Opera House zwar nicht gleichgestellt, aber durch Zuschüsse des Arts Council enorm aufgewertet, die es ab 1968 erhielt. Die Oper sollte im Zuge dessen einen eigenen Neubau am Südufer der Themse erhalten. Doch zerschlugen sich diese Pläne, und die Operncompany zog in ein eigenes Haus im Westend, das Coliseum Theatre ; seit 1974 trägt die Institution den Namen English National Opera (E NO). Der Name betonte, äquivalent zu den vier anderen ‚nationalen‘ Opern in den Landesteilen des Vereinigten Königreiches, die ‚nationale‘ Reichweite und Bedeutung der Häuser. Anders als das ‚internationale‘ Royal Opera House, sollten die E NO und ihre Schwesterhäuser das Land durch Touring-Programme mit Opern versorgen und insbesondere das englische Repertoire und heimische Künstler präsentieren.55 Zieht man aus den Darstellungen der verschiedenen Entwicklungen von Opernhäusern hin von der Hofoper zur Staatsoper vergleichende Schlüsse, erweist sich die staatliche Oper im weiteren Sinne als ein relativ junges Modell. Zugespitzt kann man mit Bovier-Lapierre urteilen : „Die ersten 200 Jahre der Operngeschichte sind durch die gewinnorientierten Finanzierungsstrategien der Impresarios geprägt.“56 Erst im dritten Jahrhundert der Geschichte der Oper wird das mit der Produktion dieser Kunst verbundene finanzielle Risiko durch staatliche Besteuerung der Gesamtgesellschaft auferlegt. Zentral ist dabei, dass, gleich ob aus der hoheitlichen Versorgung und direkten Einflussnahme einer höfischen Administration oder vom freien Markt kommend, die Oper vor allem als ein Erbe vergangener Zeiten vom modernen Staat angenommen wurde. Aus diesem Status ergibt sich die allen Fällen gemeinsame, weitestgehend zwischen 1918 und 1945 vollzogene Transformation der Finanzierungsund Kontrollfunktionen. Seitdem oszillieren die Staatsopern zwischen den Polen eines deutlichen Modernisierungsdrucks und einer guten Anpassungsfä55 Zietz, Opera Companies, 82. 56 Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 246. In einer Übersicht zur Entwicklung der Betriebsformen deutscher Musiktheater stellt das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth „eine Tendenz von privat geführten Theatern in der Überzahl für das Jahr 1875 zu von öffentlicher Hand subventionierten und fast ausschließlich öffentlichen Häusern im Jahr 1975“ fest. Vgl. Forschungsinstitut für Musiktheater, Strukturprobleme, 282.
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higkeit auf der einen, stark bleibenden Traditionsbezügen und Beständigkeit auf der anderen Seite. Anders als es der Gemeinplatz von der Oper als schwerem unflexiblem Tanker nahelegt, erweist sich die Institution Oper im historischen Prozess als überaus wendig und flexibel. Hat es kein Regime zwischen der absolutistischen Monarchie und den liberalen Demokratien in Europa versäumt, sich mit prächtigen Opernhäusern zu schmücken,57 so heißt dies im Umkehrschluss, dass die Opernhäuser in der Lage waren, unter den unterschiedlichsten Bedingungen und auf verschiedenen Arten des Marktes zu funktionieren. Das Wechselverhältnis zwischen der anhaltenden Förderung der Oper über politische Epochen und Systeme hinweg, deren Übernahme neuer Rahmenbedingungen und Verfahren, gehört selbst zu den Konstanten der Operngeschichte. Die Eingliederung in die Strukturen der autoritären ebenso wie der demokratischen Staaten des 20. Jahrhunderts bildete keine Schwierigkeit für die machtwechselerprobte Oper. Auf der anderen Seite weisen die Opernhäuser, ganz gleich in die Strukturen welchen politischen Systems sie heute eingebettet sind, in ihren finanziellen und organisatorischen Strukturen noch bis in die Gegenwart unübersehbare und mitunter folgenschwere Reminiszenzen an ihre institutionellen Vorgänger auf, auch wenn sie alle mittelbar oder unmittelbar aus der Staatskasse finanziert und von politischen Gremien und Verwaltungen kontrolliert werden. So lässt sich argumentieren, dass die moderne demokratische Kulturpolitik bei ihrer Steuerung der Oper nicht allein die Rahmenbedingungen und deren Ausgestaltung für die Opernhäuser vorgibt, sondern diese zumindest zu einem Teil aus vorherigen Strukturen und Verfahren übernommen hat, die weit älter sind als sie selbst. Im Unterschied zu einer öffentlichen Straßenanlage, für die das in mancher Hinsicht sicher auch gelten mag, passen sich moderne kulturpolitische Prozesse und Prinzipien den mitunter atavistischen Setzungen eines Opernbetriebes nicht selten sogar an. In diesen Bereichen finden sich schließlich auch die Differenzen zwischen den einzelnen Ländern, weil es häufig spezifische 57 „It would be strange if the interests that modern government have in supporting the arts bore no relation to the interests of the patrons of earlier periods“, formuliert zugespitzt Abbing, Artists, 237. Vgl. auch Bereson, The Operatic State, 9ff.
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Traditionen sind, die wirkungsmächtig werden. Beispielhaft dafür stehen etwa die Präferenzen für Stagione- oder Repertoirebetriebe, Festival- oder Tourneesysteme, die unterschiedlichen Leitungsstrukturen für Opernhäuser, die Verfahrensformen der Finanzierung oder die sozialen Sicherungssysteme an den Opern. Auch die Betriebslogik des Subventionssystems ist nicht überall traditionell gleich stark verbürgt ; in Berlin etwa kennzeichnet sie eine eingeschliffene Kontinuität, in London war sie vor 1945 völlig unbekannt. Den gemeinsamen und unterschiedlichen Einflüssen, die hier in Form von kulturpolitischen Prinzipien und Verfahren sichtbar werden, gilt der folgende Abschnitt. 1.3 Kulturstaat, Kulturverwaltung oder regulierter Opernmarkt ?
Was hält die ökonomische Verbindung zwischen Staat und Oper in den drei untersuchten Ländern zusammen ? Welche organisatorischen und finanziellen Strukturen sowie Legitimationskonstruktionen prägen die Opernhäuser in Berlin, London und Paris – sind es wirklich alles in gleichem Maße Staats-Opern ? Bevor im kommenden Kapitel auf die Probleme und Reformen der Berliner Opernhäuser eingegangen wird, sollen zunächst die in den vergangenen Jahrzehnten etablierten kulturpolitischen Modelle staatlicher Opernpolitik und deren zu Grunde liegenden und später in Frage gestellten Prinzipien und Regeln geklärt werden. Die Gemeinsamkeit, welche die Opernhäuser in Deutschland, Großbritannien und Frankreich dabei aufweisen, liegt auf der Hand : Überall etablierte sich das vergleichsweise ähnliche Modell eines demokratischen Staats, der die Opernhäuser dem freien Markt entzieht und entweder einen Teil des Marktpreises der Ware Oper (Eintrittspreise) oder seiner Produktionskosten (Personal und Sachmittel) subventioniert. Dabei bilden Opernhäuser, unabhängig von dem absoluten Umfang der öffentlichen Zuschüsse und auch über die Veränderungen der vergangenen Jahre hinweg, stets den relativ größten Posten der öffentlichen Kulturhaushalte. Mehr als ein Drittel des Berliner Kulturetats floss in den vergangen drei Jahrzehnten stets in die Opernhäuser, die fünf öffentlich geförderten britischen Opernhäuser erhielten zusammen bis zu 40 % der Mittel des die Gelder verteilenden Arts Council und die Pariser Oper gehörte neben dem Centre Pompidou und der Comédie Française stets zu den Prestigeeinrich-
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tungen, die gut 30 % des nationalen Kulturetats verschlangen ; in Höchstzeiten erhielt das Opernhaus 77 % des Musikbudgets des Kulturministeriums.58 Die Grundlage dafür bildet die erklärte Bedeutung der Oper als förderungswürdiges öffentliches oder allgemeines Gut. Dabei gehört die Oper streng genommen gar nicht zu den öffentlichen Gütern, deren Charakter von der ökonomischen Theorie durch die Nicht-Rivalität ihres Konsums (der Konsum des Einen beschränkt oder mindert nicht den eines Anderen) und das Versagen der Ausschlussfunktion ihres Preises (niemand kann, auch nicht bei Zahlungsverweigerung, am Konsum gehindert werden) definiert wird.59 Beides trifft auf die Oper nicht zu. Auch ist die Kommodifizierung der Oper kein Unheil, das moderne wirtschaftliche Entwicklungen über sie gebracht hat, sondern ihr ureigener Charakter : An wenigen Orten trat das Verhältnis von Angebot und Nachfrage sich so physisch gegenüber wie bei der Oper des 18. und 19. Jahrhunderts, in der die Gunst des Publikums häufig den fast alleinigen Maßstab für Triumph oder Untergang eines Stückes, Sängers, Dirigenten, Impresarios oder ganzen Opernunternehmens bildete. Dennoch muss sich die Oper heute nirgendwo mehr auf einem wirklich ‚freien Markt‘ behaupten, ihr Vertrieb wird durch hohe Zuschüsse reguliert. Der Grund dafür liegt darin, dass die einzelne Opernaufführung zwar ihren Platz zwischen Angebot und Nachfrage finden mag, der ‚meritorische Charakter‘, welcher der Oper als gesamter Kunstform und kulturellem Typus zugesprochen wird, aber einen Maßstab des gesellschaftlich Erstrebenswerten bildet, den der Markt nicht zu befriedigen vermag. Der Markt verlangt einen höheren Preis, als ihn eine wünschenswerte Menge von Menschen zahlen könnte, hat keine wünschenswerte soziale wie geografische Reichweite und bildet keine wünschenswerte ‚gute‘ Ästhetik heraus ;60 daher wird er durch staatliche Allokationen im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung korrigiert.61 58 Vgl. D’Angelo/Vespérini, Cultural Policies, 220 ; Wagner, Theaterdebatte, 21 ; Renan, Magic Flute, 60 ; Andrault/Dressayre, Government, 27f. 59 Vgl. Bechler, Über den Gütercharakter, 50f. 60 „Der Staat finanziert so das Kulturgut Oper auf der Basis seines sozialen Wertes und reiht es in die anderen als Merit Goods bekannten Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Wohnung und Verteidigung ein.“ Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 249. Vgl. auch Abbing, Artists, 209ff. 61 Vgl. Ebker, Ökonomie, 16f.
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Das heißt, der staatlichen Förderung der Oper liegt mithin weniger die Unmöglichkeit, sie den Marktregeln zu unterwerfen, zu Grunde, als vielmehr eine bestimmte normative Leistungserwartung, die dem aufklärerischen Anspruch an Kunst als moralisches Korrektiv in der individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklung entspringt. Die Oper ist damit symptomatischer Teil einer Kulturpolitik geworden, deren markantes Zeichen seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Angebotsorientierung ist. Seitdem unterscheidet sie sich von anderen öffentlichen Infrastrukturleistungen wie Schulen, Personennahverkehr oder dem öffentlichen Gesundheitssystem, die nach wie vor mehrheitlich an der Nachfrage orientiert sind.62 Mit dem ‚unfreien‘ Kulturmarkt gehen mithin andere Unfreiheiten einher. Diese betreffen sowohl den kulturpolitischen Wertehorizont, vor dem die Opernhäuser operieren müssen, als auch ihre administrative Einhegung. Die rechtliche Stellung, die Finanzierung, der institutionelle Aufbau und dessen Kontrolle werden politisch ausgestalteten Idealen, Programmen und Institutionen unterworfen. Durch diese Einbindung treten zu den ähnlichen Grundbedingungen der staatlich erhaltenen Oper erhebliche Unterschiede hinzu, deren Ausmaß erst im kulturpolitischen Vergleich vollständig zu Tage treten : Kulturpolitikanalysen haben Modelle entworfen, mit denen sich die Bedingungen und Varianzen der Kultur- und auch Opernförderung verschiedener Länder im 20. Jahrhundert beschreiben lassen. Harry Hillman-Chartrand und Claire McCaughey differenzieren diese Rollen am deutlichsten anhand der unterschiedlichen protektiven, distributiven oder regulativen politischen Verfahren und Steuerungsformen des Staates gegenüber Kunst und Kultur und benennen sie als die Idealtypen ‚facilitator‘, ‚patron‘, ‚architect‘ und ‚engineer‘ :63 1. Der Staat als Vermittler (facilitator) sieht es nicht als seine Aufgabe an, in Angelegenheiten der Kunst und Kultur selbst einzugreifen. Seine Verantwortung gegenüber Kultureinrichtungen beschränkt sich auf die Bildung von Rahmenbedingungen, die Anreize schaffen, privatrechtliche Strukturen herauszubilden und mit gesellschaftlichem Engagement zu erhalten, überlässt 62 Vgl. Heinrichs, Kulturpolitik, 32. 63 Hillman-Chartrand/McCaughey, The Arm’s Length Principle ; vgl. aber auch Cummins/Katz, The Patron State, 31 ; Heinrichs, Kulturpolitik.
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die Kultur aber ansonsten dem Markt. Diesem Idealtyp am nächsten kommen die USA. 2. Der Staat als Mäzen (patron) fördert die Künste indirekt durch eine unabhängige Instanz. Er bestimmt die Summe des Geldes und die allgemeinen Ziele, denen sie dienen soll, verfügt aber über kein direktes Vergabe- und Kontrollrecht gegenüber einzelnen Kultureinrichtungen. Die Kriterien für die unmittelbare Vergabe werden in der Regel durch Expertengremien bestimmt. Als Beispiel für dieses Modell gelten Großbritannien und die Staaten des Commonwealth. 3. Der Staat als Architekt (architect) fördert und kontrolliert Kultureinrichtungen direkt durch ein Kulturministerium. Die Beziehung zwischen Staat und Kultureinrichtung ist von Kontinuität gekennzeichnet. Sie wird vor allem durch Bürokraten exekutiert und von Parlamenten kontrolliert. Die Auswahl der geförderten Kultur orientiert sich in der Regel an wohlfahrtsstaatlichen Kriterien. Verschiedene Ausformungen dieses kulturpolitischen Modells finden sich vor allem in Westeuropa. 4. Der Staat als Ingenieur (engineer) kontrolliert seine Kultureinrichtungen sowohl finanziell wie ästhetisch unmittelbar. Es herrscht ein offener politischer Einfluss auf Kunst und Kultur, der nötigenfalls mit Zensur oder sogar staatlichen Repressalien durchgesetzt wird. Dieser Typus orientiert sich an den autoritären europäischen Regimes des 20. Jahrhunderts sowie der Sowjetunion. Diese Blaupause kennzeichnet bereits die grundlegenden Unterschiede der finanziellen und organisatorischen Beziehungen zwischen Staat und Opernhaus in Deutschland, Großbritannien und Frankreich, wie sie sich als typische Modelle staatlicher Steuerung in der Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert haben. Der französische Staat entspricht dabei als zentraler kulturpolitischer Akteur mit einem mächtigen Kulturministerium – dem die Pariser Opern vollständig, andere Opern zum Teil und vor allem deren regionale Kulturverwaltungen unterstehen – fast dem Idealtypus des ‚Architekten‘. Der Opern fördernde Staat in Deutschland kann dagegen auf Grund des föderalen Aufbaus des politischen Systems eher als ein ‚Architektenverbund‘ bezeichnet werden. Das heißt, staatliche Ebenen fördern und kontrollieren zugehörige Opernhäuser dezentral, nicht immer gleich, aber nach zum Großteil gemeinsamen Prinzipien. Britische
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Kulturpolitik wird dagegen zwar auch vom Zentralstaat finanziert, die Distributions-, Steuerungs- und Kontrollfunktionen des Staates gegenüber den Opernhäusern werden jedoch an den Arts Council abgetreten, einen sogenannten quango (quasi autonomous non governmental organisation), der zwischen öffentliche politische Administration und Kulturinstitutionen geschaltet ist. Die verschiedenen Fördertypologien zeichnen sich nicht zuletzt durch signifikante quantitative Unterschiede aus. Allerdings kämpfen generell alle Studien, welche die Kulturförderung verschiedener Länder vergleichen, mit der unterschiedlichen Systematik, nach der gefördert, verteilt und nicht zuletzt, trotz der Versuche international zu harmonisieren, gerechnet wird. Zahlen, die dennoch miteinander verglichen werden – das gilt für die gesamten Staatsausgaben im Kulturbereich ebenso wie für den Etat eines einzelnen Opernhauses –, können daher selten mehr verdeutlichen, als Tendenzen oder Schwerpunkte. Etwa die Gegenüberstellung der öffentlichen Kulturausgaben in Prozenten des Bruttoinlandsproduktes ( B I P ) erlauben eine solche Draufsicht : Frankreich führt bei Zahlen, die zwischen 1985 und 1995 erhoben wurden, mit 0,22 % dicht vor Deutschland mit ca. 0,2 % ; weit dahinter rangiert Großbritannien mit zwischen 0,08 % und 0,14 % des B I P schwankenden Ausgaben.64 Diese quantitative Unterscheidung lässt sich mit vielen weiteren Zahlenreihen verfolgen und beweist in der Regel das höhere finanzielle Engagement der Staaten, die dem kulturpolitischen Typus des Ingenieurs oder Architekten angehören, und nur mäßiges bzw. geringes beim mäzenatischen bzw. vermittelnden Staat. Die qualitativen Gründe für diese offensichtlichen und in dem HillmanChartrand/McCaughey-Modell reflektierten Unterschiede lässt die Typologisierung jedoch offen. Denn Kulturpolitik, und Opernpolitik aufgrund ihres traditionsbeladenen Gegenstandes umso mehr, konstituiert sich nicht nur durch den, wie auch immer vollzogenen Transfer von staatlichen Geldern an Kulturinstitutionen. Sie unterscheidet sich von den meisten anderen Politikfeldern gerade durch die enge Verbundenheit mit fundamentalen Normen und Traditionen einer Gesellschaft. Sie bildet ein prozessuales und kommunikatives Verhältnis zwischen Macht, institutionalisierten Verfahren, geteilten Wertevorstel64 Vgl. die Übersicht bei v. Beyme, Kulturpolitik, 14ff.; vgl. auch Wiesand/Zentrum für Kulturforschung, Handbook. Wie diese Förderung auf unterschiedliche Sparten aufgeteilt wird, lässt sich bereits kaum mehr feststellen.
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lungen und demokratietheoretischen Prinzipien ab. Die kulturpolitische Institution Oper gleicht und unterscheidet sich an verschiedenen Orten folglich in dem Ausmaß, in dem sie von spezifischen etablierten Kulturbegriffen, kulturellen Traditionen und kulturpolitischen Prinzipien abhängt. Der Begriff, in dem alle auch für die Berliner Opern relevanten kulturpolitischen Normen gerinnen, ist der des föderalen Kulturstaates. Jedes kulturpolitische Handeln in Deutschland wird von dem Selbstverständnis des Landes als Kulturstaat geprägt. Wie die kleinteilige Opernlandschaft lässt sich die Idee des Kulturstaates historisch auf eine spezifische Entwicklung zurückführen. Sie diente, so hat es Klaus von Beyme formuliert, „im Deutschland der Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts als Tröstungsphilosophie in einem Land, das die fehlende Einheit kulturell substituierte“.65 Obwohl ein explizites Kulturbekenntnis originär nicht in den Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes enthalten ist, wurde die Geltung dieses Begriffs verfassungsrechtlich weitreichend ausgedeutet.66 Die kulturstaatliche Verfassungswirklichkeit gilt demnach als allgemein gültiges Ergebnis einer langen ideengeschichtlichen und politischen Tradition, auf Grund derer der Staat nicht nur als Kultur hervorbringend gedacht wird, sondern mindestens ebenso sehr als der Kultur selbst entspringend.67 Kultur umfasst alle geistigen Reflexionen einer Gesellschaft – Religion wie Kunst, Bildung wie Philosophie.68 Die Oper als Kulturgut und jedes einzelne Opernhaus ist damit in einen in den beiden Vergleichsländern ungekannten geistesgeschichtlichen Kontext eingebettet, der als ein Dispositiv die kulturpolitische Bedeutung und öffentliche Anerkennung der Oper entscheidend prägt. Als höchstes Gut gilt dem Kulturstaat die Freiheit der Kultur, die er auf zweierlei Weise schützt : Die erste ist die in Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes 65 Vgl. v. Beyme, Kulturpolitik, 3. 66 Erst im Einigungsvertrag Art. 35 wurde das Schweigen des Grundgesetzes zur Kultur um die Kulturstaatsklausel ergänzt. Vgl. Rothkegel, 158f., Maihofer, Kulturelle Aufgaben, 1202f.; Häberle, Das Kulturverfassungsrecht. 67 Vgl. zur der Berufung auf die ‚Großen‘ des deutschen Kulturstaatsverständnisses von Fichte und Herder bis Kant etwa Klein, Kulturpolitik, 36ff. Die deutsche Vorstellung von der gegenseitigen Bedingtheit von Staat und Kultur prägte vor allem Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 84ff., 120ff.; v. Beyme, Kulturpolitik, 10f., verweist auf die Fragwürdigkeit der heutigen Traditionskonstruktionen. 68 Vgl. Fuchs, Kulturpolitik ; Naumann, Die schönste Form, und Maihofer, Kulturelle Aufgaben.
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(GG) verbriefte Freiheit oder Autonomie der Kultur vom Staat, welche die Neutralität und Zurückhaltung der staatlichen Mittel gegenüber Kunst und Kultur garantiert. Der Schutz der Kultur vor dem Einfluss oder Eingriff des Staates in Form von Zensur oder konkreten Gestaltungsvorschriften ist dessen eigene verantwortungsvolle Pflicht. Die zweite Dimension ist die der Autonomie der Kultur im oder durch den Staat. Durch seine aktive Fürsorge soll der Staat eine Vielfalt der Kultur ermöglichen und sie von Abhängigkeiten jeglicher Art freihalten. Es gilt somit als die aktive Aufgabe des Staates, einen Kulturbetrieb wie die Oper auch vor dem restriktiven „Zwang zur Rentabilität“ zu bewahren.69 Die öffentlichen Zuschüsse sind das entscheidende Mittel des Kulturstaates, die Freiheit der Kunst nicht allein zu garantieren, sondern aktiv zu realisieren. Kunst und Kultur werden als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge betrachtet.70 Eine Privatisierung der Kultur und jedes Teils von ihr, wie ein Opernhaus, wird – obwohl die Kulturausgaben in der Regel zum freiwilligen Leistungsbereich gehören – sowohl im Sinne des obrigkeitlichen Kulturstaates, wie des wohlfahrtlichen Sozialstaates abgelehnt ;71 die staatliche Verantwortung ist keine fakultative Aufgabe, sondern eine von Haushaltslage und parteipolitischen Prioritäten losgelöste Pflicht. Seine Entsprechung findet dieses normative Geflecht von finanzieller Verantwortung und künstlerischer Freiheit im Fall der Oper in der Trägerschaftsform des Regiebetriebs.72 Dieser öffentliche Verwaltungsteilbetrieb ohne eigene Rechtspersönlichkeit und finanzielle Spielräume ist organisatorisch, rechtlich und fiskalisch vollständig in die staatlichen Trägerstrukturen eingegliedert. Die Zuständigkeit dafür verteilt sich in der Regel auf eine exekutive Verwaltung (in Berlin die Senatsverwaltung für Kultur) mit einem politisch besetzten Kopf (dem Kulturdezernenten oder in Berlin Kultursenator), welche die unmittelbare Kontrollfunktion übernimmt und einen parlamentarischen Kulturausschuss, 69 Maihofer, Kulturelle Aufgaben, 1203f.; vgl. Asmussen, Geschichte, 108ff. 70 Vgl. Griefahn, Investitionen. 71 Vgl. Maihofer, Kulturelle Aufgaben, 1206 ; Ebker, Politische Ökonomie, 189 ; Friedrich, Kultur und Markt. 72 Die Mehrheit der deutschen Theater und Opernhäuser war in der deutschen Nachkriegsgeschichte als Regiebetrieb gefasst. Vgl. Herdlein, Theater, 82 ; Jacobshagen, Praxis Musiktheater, 382 ; Mack, Zur Lage ; Strasser, Trägerschaftsformen, 99.
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der über Grundsatzfragen, den Etat, Personalbesetzungen, etc. berät, entscheidet und die politische Legitimation stiftet. Dem gegenüber agiert eine kleine Führungsspitze des Opernhauses, die nicht selten nur aus dem Intendanten besteht, bei dem die gesamte künstlerische, finanzielle, personelle und technische Verantwortung des Opernhauses zusammenläuft. Als Regiebetrieb verkörpert ein Opernhaus institutionell, was die Kunstform Oper ideell sein soll : ein unveräußerbarer Teil des Kulturstaates. Ein Opernregiebetrieb ist unmittelbarer an die Kameralistik öffentlicher Haushalte gebunden, mitsamt allen dafür gültigen Strukturen und Verfahren. Die Förderung erfolgt als zweckgebundene Fehlbedarfsfinanzierung, das heißt, die öffentlichen Mittel werden von vornherein als Personalkosten für die konkreten Beschäftigungs- und Tarifgruppen, als Sachmittel für eine bestimmte Produktion oder Verwaltungsleistung, als Gästeetat etc. in der Gesamthöhe des projizierten Defizits vergeben, das nach Kasseneinnahmen verbleibt. Letztendlich erschließt sich durch die Form des Regiebetriebs der Zusammenhang zwischen der im ersten Abschnitt dargestellten Höhe der Personalkosten und der staatlichen Finanzierungsverantwortung, macht er doch alle fest Angestellten eines Opernhauses zu Beschäftigen des öffentlichen Dienstes. Die Opernhäuser werden davon befreit, die tatsächlichen Preise ihres Produktes erwirtschaften zu müssen. Zugleich trägt die öffentliche Hand jene Kosten, die durch ihre Trägerschaft und die damit einhergehenden Pflichten für den Betrieb entstehen, allem voran die Tarifbewegungen des öffentlichen Dienstes von allgemeinen Gehaltserhöhungen bis zur Arbeitszeitverkürzung, damit ihre künstlerische Entfaltung sich ungehindert von organisatorischen Pflichten vollziehen kann. Die Höhe der staatlichen Zuschüsse entsprachen zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren also nicht zufällig stets ziemlich exakt der Höhe der Personalausgaben (die, wie dargelegt, bis zu 88 % ausmachten). Die zweite normative Dimension deutscher Kulturpolitik bildet das Prinzip der Kulturhoheit der Länder. Dieser wiederum nur in der Verfassungswirklichkeit existierende, rechtlich nicht verankerte Terminus beschreibt die Kultur als Zentrum des deutschen Föderalismus.73 Als Abgrenzung zu den stets zentralis73 In der konkurrierenden Gesetzgebung fällt die Kultur gemeinsam mit der Bildung bis auf rahmensetzende Regelungen den Ländern zu (Art. 30 in Verbindung mit Art. 70 und 83 GG) ;
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tisch aufgebauten Diktaturen Deutschlands gilt im Nachkriegsdeutschland der Grundsatz : Kulturpolitik ist Kommunalpolitik.74 Im Ausland häufig irreführende Begriffe wie Staatsoper oder Nationaltheater verweisen nicht auf ihren Unterhalt durch den Zentralstaat (das galt nur für die Deutsche Staatsoper Berlin zu DDR-Zeiten), sondern auf die Rechtsträgerschaft eines Bundeslandes. Ein Stadttheater in Deutschland erhält den größten Anteil seiner öffentlichen Zuschüsse von der Kommune, die auch der Rechtsträger ist. Ein Staatstheater dagegen wird zum überwiegenden Teil von der Landesebene getragen. Wie bereits die Deutsche Oper wurden nach dem Fall der Mauer die Staatsoper und die Komische Oper dem Land Berlin zugeordnet und damit formal zu Staatsopern in diesem Sinne. Erst der Vergleich macht deutlich, wie spezifisch diese Berliner bzw. deutsche Konstruktion ist und wie unmittelbar sie aus dem historischen Kontext hervorgegangen ist. So kontrastiert die juristische und ökonomische Verzahnung zwischen Staat und Oper in Berlin stark mit den Bedingungen, welche die britische Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg für die Oper geschaffen hat. Die normativen Vorgaben für die Rolle des Staates gegenüber der Kultur sind, obwohl ebenfalls nicht verfassungsrechtlich verankert, in Großbritannien deutlich ausgeprägt, und sie formulieren durchgehend ein Nichteinmischungsgebot. Vor 1940 existierte – mit Ausnahme der Museumsförderung – gar keine öffentliche Kulturpolitik im engeren Sinne. Nicht nur erhielten die Opern keine Subventionen, für sie galten auch die gleichen Pflichten wie für andere erwerbswirtschaftliche Betriebe, das heißt, sie mussten, wie andere Unternehmen des Unterhaltungsgenres auch, bis Mitte des 20. Jahrhunderts rund 15 % Vergnügungssteuer an den Staat abführen. Ein Umstand, der mit dem Witz quittiert wurde : „In other countries Opera has already been subsidised by the State. Here the State is subsidised by Opera.“75
dieser Aufgabenteilung entspricht auch die finanzielle Beteiligung : Auf den Bund entfallen ca. 10 %, auf die Länder ca. 50 % und auf die Gemeinden ca. 40 % der öffentlichen Kulturausgaben. Die verfassungsrechtliche Grundlage für ein Engagement in der Hauptstadt ist Art. 38, Abs. 8 GG, auf dessen Basis der Hauptstadtkulturvertrag gestaltet wird. 74 Vgl. Häberle, Kulturverfassungsrecht ; ders., Kulturpolitik. 75 Unbekannte Quelle aus den 1920er-Jahren, zitiert nach White, A History, 286.
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Die Einführung staatlicher Kulturförderung während und infolge des Zweiten Weltkriegs musste daher sowohl gänzlich neue Strukturen schaffen, als auch die in der Erfahrung von Kultur als etwas rein Privatem verankerte Skepsis berücksichtigen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die neue Kulturpolitik dem Denken des protestantischen Liberalismus verpflichtet blieb und Bedingungen schuf, welche, trotz ungekannter staatlicher Verantwortung für die Kultur, eine absolute inhaltliche und institutionelle Freiheit der Künste zum obersten Prinzip erhob, zu der auch die wirtschaftliche Selbstbestimmung gehörte. Die bestimmende Maxime, die sämtlicher Kulturpolitik zu Grunde liegt, ist daher die ideologisch wie praktisch zwischen dem Staat und in diesem Fall dem Kulturobjekt Oper liegende Distanz : das arm’s length principle, das, wörtlich genommen, stets eine Armeslänge Abstand zwischen Kunst und Staat sicherstellen soll.76 Zwar besteht die Anerkennung über die öffentliche Förderungswürdigkeit und -notwendigkeit von Kunst und Kultur, doch soll diese zum Schutze der künstlerischen Freiheit vor jedem politischen Einfluss bewahrt werden, wie er von England aus in den totalitären Regimes Deutschlands, Italiens und der Sowjetunion beobachtet werden konnte. Vor der autoritären Kontrastfolie entwickelte sich das arm’s-length principle zu einem geradezu „theologischen Bekenntnis“77, vor allem aber zu einem politischen und rechtlichen Fundament der britischen Kulturpolitik nach 1945.78 Es gehörte zur Pflicht jeder Regierung, sich zum arm’s-length principle zu bekennen79 und es herrschte ein breiter Konsens darüber vor, dass eine unmittelbare Förderung gerade einer prestigeträchtigen Kunstform wie der Oper durch den Staat zu Entscheidungen führen könne, die mehr unter politischen denn unter künstlerischen Gesichtspunkten gefällt werden. „In any case (…) I would prefer a private sponsor motivated by what people want to a public sponsor motivated by political priorities“80, hieß es noch 1999 in einer Unterhausdebatte um die Royal Opera, zumindest von konservativer Seite. 76 Vgl. Chartrand/Mc Caughey, Arm’s Length Principle ; Ridley, Tradition ; Gray, The Politics. 77 Pick, The Arts, 87. 78 Roy Shaw, zitiert nach Nissel, Financing the Arts, 70 ; vgl. auch Stewart, The Arts. 79 „The government paid the piper without calling the tune“, lautet die gängige Definition der eisernen Regel. Stewart, The Arts, 18f. 80 Ainsworth, HoC, 26.11.1999, 873.
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Seine institutionelle Reflexion findet das Prinzip im Arts Council, der seinen Ausgang an keinem geringeren Ort als dem Opernhaus in London Covent Garden nahm : „It was by the expressed will of the Government and Parliament that the Arts Council and the Royal Opera House were created inseparably in a single act and with parallel mission – to revive the nation.“81 Der Arts Council entstand wie geschildert als eine Förderanstalt der wieder zu erschaffenden Oper und dehnte sich von dort, unter dem engagierten Vorsitz des Ökonomen John Maynard Keynes auf die gesamte Kulturlandschaft Großbritanniens aus. Bis heute werden die öffentlichen Zuschüsse zwar als Haushaltstitel vom Parlament verabschiedet, über ihre Vergabe entscheidet aber der Arts Council mit Sachverständigengremien unabhängig.82 Die subventionierten Einrichtungen bleiben privatrechtlich als Stiftungen (Trust) oder GmbH (Ltd.) organisiert ; die beiden Londoner Opernhäuser etwa verschreiben sich als ‚registered charities‘ zwar dem öffentlichen Ziel der Gemeinnützigkeit, sind aber keine öffentlichen Einrichtungen im deutschen Sinne.83 Die zentrale Kontrollinstanz der Häuser ist das bei ihnen selbst angesiedelte Board, vergleichbar einem Aufsichtsrat, das seine Mitglieder selbst wählt und dem Arts Council per Jahresbericht Auskunft gibt und Rechenschaft ablegt. Der Chairman des Board ist die zentrale Figur, welche die Beziehungen der Oper zum Arts Council und zur Kulturpolitik verantwortet ; er wurde (bis 1993) als einziger Akteur der Oper vom für Kultur zuständigen Minister oder Staatssekretär ernannt. Die Opernhäuser als künstlerische Betriebe werden von einem Generaldirektor oder Chief Executive geführt. Ein Kulturauftrag oder steuernder Plan mit konkreten Vorstellungen über Form und Inhalt der Kulturproduktion und -distribution sollte mit dieser Konstruktion der Distanz vermieden werden. Die Vergabe folgte vielmehr einer Auffassung, wonach jeder Einzelne seine kulturellen Bedürfnisse hervorbringen dürfe und der Arts Council auf die reale Nachfrage reagieren sollte. Die Aufgabe der öffentlichen Kulturpolitik belief sich somit darauf, nur zu schützen und zu 81 Lebrecht, Covent Garden, 15 ; vgl. auch Harris, Government Patronage ; sowie Renan, Magic Flute, 92f. 82 Arts Council of England, The arts funding system ; Girard, The Choice ; White, The Arts Council. 83 Vgl. Renan, Magic Flute ; Auvinen, Unmanageable Opera ; auch Hannesson, Symphony Orchestras ; Myerscough, The Economic Importance.
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stützen, was die Mitglieder der Gesellschaft selbst als Kultur hervorbrachten. Diese Konstruktion hatte zur Folge, dass zwar Parlament und Regierung als staatliche Institutionen die Legitimation kulturpolitischer Ausgaben trugen, aber im Einzelnen nicht rechenschaftspflichtig für die konkreten Entscheidungen sein konnten, da sie außerhalb der üblichen demokratischen Legitimationszyklen erfolgen. Die Vermeidung eines kulturpolitischen ‚Plans‘ war so konsequent, dass auch keine Notwendigkeit gegeben war, eine politische wie gesellschaftliche Verständigung über die Bedeutung der Kultur zu führen, sowie darüber, welche Pflicht Staat und Gesellschaft ihr gegenüber haben. Es entstanden daher weder Förder- oder Kontrollregeln noch ein verbindliches Verständnis darüber, warum welche Kunst subventioniert werden müsse, während andere sich weiter auf dem Markt durchzusetzen habe.84 Das konnte auch das unter der ersten Labourregierung 1964 geschaffene Kulturministerium nicht maßgeblich ändern, das als genuin staatliche Institution errichtet wurde, um kulturpolitische Expertise, Diskussion, Ziele und Programme hervorzubringen. In Vereinbarungen zwischen Ministerium und Arts Council wurden zwar vage programmatische Ziele wie Exzellenz, Zugänglichkeit, Bildung und Diversität festgehalten.85 Die maximale Freiheit und Loslösung von kunstfernen bürokratischen Verfahren und politischem Kalkül zugunsten künstlerischer Expertise verursachte durch seine unbedingte Strenge politiktheoretisch betrachtet weiterhin ein Vakuum.86 Dass zumindest die Royal Opera und von da ausgehend die Opernhäuser generell meist als staatlich begriffen wurden,87 lässt sich auf die singuläre Rolle des Royal Opera House bei der Entstehung öffentlicher Kulturpolitik in Großbritannien zurückführen. Völlig anders wiederum präsentiert sich die französische Opernpolitik, die über eine lange und relativ stabile Förderung und Steuerung von Kunst und Kultur durch die zentralen politischen Autoritäten der jeweiligen Zeit verfügt. Im Rahmen dieser Kontinuität prägen drei zentrale Traditionslinien das Ver84 Der frühzeitige Versuch 1948 im Arts Council ein Opernpanel einzurichten, in dem Ziele und Verfahren der Opernförderung festgelegt werden sollten, scheiterte nach nur wenigen Sitzungen – „the ingredients proved to be too explosive“. Renan, Magic Flute, 45. 85 Creigh-Tate, Government, 184ff. 86 Vgl. Selwood, UK-Cultural Sector, 2. 87 Vgl. den Beitrag des langjährigen Chairman Sir Claus Moser, Interplay, 111.
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hältnis von Staat und Kultur in der französischen Kulturpolitik.88 Als mal konkurrierende, mal sich ergänzende Normengerüste bilden sie die Eckpunkte, zwischen denen sich das Verhältnis und der Diskurs von Staat und Kultur spannt, und konstituieren auch die politischen Vorstellungen und Strukturen, in welche die Pariser Opern eingebunden sind maßgeblich : Die erste ist die monarchische Tradition, der die starke Rolle des Staates gegenüber der Kultur an sich entspringt – „il est protecteur, ordonnateur et unificateur“.89 Vor allem im Zentralismus der Kulturpolitik und ihrer engen Bindung an den Präsidenten der Republik findet diese ihre spezifische Ausprägung : Bis zu zwei Drittel der zentralstaatlichen Kulturausgaben flossen während der V. Republik (seit 1959) allein nach Paris und die Hälfte davon in die großen Prestigeobjekte, wie das Centre Pompidou, die Comédie Française oder eben die Pariser Oper.90 Der weit mehr als nur metaphorische monarchische Charakter des Systems zeigt sich nicht allein in der repräsentativen Funktion der Oper, welcher der IV. Teil des Buches gewidmet ist, sondern gerade in seiner Dominanz der Strukturen und Verfahren zwischen Staat und Opernhaus. In diesen wird das Überleben quasi-monarchischer Praktiken sichtbar, auch wenn im Zuge der Demokratisierung und Dezentralisierung der Kulturpolitik inzwischen weitestgehend andere Prinzipien rechtliche Gültigkeit erlangt haben. Landesweit ist der oberste Dienstherr der meisten kulturellen Einrichtungen zwar das zentrale Kulturministerium, doch sind die auch finanziell dominierenden öffentlichen Ebenen eigentlich die Städte, die etwas über die Hälfte der gesamten Kulturaufwendungen ausgeben, während der Zentralstaat nur ein gutes Drittel zahlt.91 Diese Kofinanzierung zwischen Zentralstaat und Regionen gilt allerdings nicht für die Pariser ‚Großprojekte‘. So ist die Pariser Opéra National, zunächst Palais Garnier und Salle Favart und später die Bastille der einzige Opernbetrieb des Landes, der ausschließlich von der nationalstaatlichen Ebene unterhalten und gesteuert wird.92 Georges Pompidous Kulturminister 88 Ory, L’État ; de Waresquiel u.a., Dictionnaire. 89 Ory, L’État, 7. 90 Andrault/Dressayre, Government. 91 Vgl. D’Angelo/Vespérini, Cultural Policies, 25ff. 92 Anderswo dominiert die Förderung durch die städtischen Haushalte und sind die Angestellten unmittelbar Beschäftigte der Stadt. Barat, Frankreich ; Rohde, Oper in Frankreich.
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Olivier Duhamel soll im Jahre 1971 den dann langjährigen Intendanten des Palais Garnier, mit den Worten präsentiert haben : „François 1er s’était attaché le concours de Leonardo da Vinci ; Louis XIV, celui de Lully. J’ai choisi Rolf Liebermann.“93 Damit setzte er sich nicht nur wie selbstverständlich in eine Reihe mit den kunstsinnigen Königen, sondern zeigte auch die Kontinuität der engen Verbindung zwischen der zentralen Macht und der großen Kunst. Die Finanzierung und Steuerung der Pariser Oper erfolgte durch die zentralstaatliche Kulturverwaltung, seit 1959 durch das Kulturministerium, der Posten der Intendanten aber bedurfte der formellen Ernennung durch den Präsidenten selbst.94 Die notwendige Voraussetzung für den Erfolg war das Einvernehmen, der Einsatz und die Zusammenarbeit von Präsident und Kulturminister.95 Die zweite prägende Linie bildet die liberale Tradition, welche als Erbe der Aufklärung vor allem die Bedeutung der Freiheit der Kunst als Freiheit des künstlerischen Ausdrucks speist. Durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch gestalteten liberale Normen aber auch den kulturellen Markt. Das skizzierte Beispiel des fast einhundert Jahre erfolgreichen Konzessionsregimes der Oper, das heißt der Verpachtung des Opernbetriebs an einen privaten Unternehmer, ist nur ein Beispiel für die Dominanz einer weitgehend staatsfernen Kulturlandschaft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien sogar eine Trennung von Staat und Kultur nach dem Modell des Laizismus wahrscheinlich, da sich die Skepsis gegenüber dem Zensur und Kontrolle ausübenden Staat weit ausgeprägter zeigte, als der Bedarf nach dessen Förderung und Schutz.96 Zur Verstaatlichung der französischen Opern und damit dem Ende des Pachtsystems kam es daher auch erst 1939.97 Seitdem unterstand die Pariser Oper unmittelbar der ‚tutelle‘, das heißt der Weisungs- und Kontrollbefugnis der politischen Verwaltung ; die Oper erhielt nicht nur staatliche Subventionen, sondern ihre Mitarbeiter wur93 Gourret, Ces Hommes, 193. 94 Patureau, L’Opéra, 84. 95 Vgl. Dijan, Politique Culturelle, 32. 96 Dubois, La Politique. 97 Mit Gesetz vom 14.01.1939 wird das Éablissement Publique der R.T.L.N. gegründet, „chargé de la gestion artistique et financière de l’Opéra (…) dirigé, sous l’autorité du Ministre de l’Éducation nationale, par un administrateur nommé par décret pour trois années au plus, doté d’une subvention par l’État, laquelle, au surplus, garantissait les retraites des adhérents aux deux caisses existances“, vgl. Gourret, Ces Hommes, 167 (Gesetzsestext abgedruckt, 273–277).
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den vollständig in das Sozialsystem des öffentlichen Dienstes aufgenommen. Erst die in der V. Republik durch de Gaulles ersten Kulturminister, den Schriftsteller André Malraux, geschaffene Kulturpolitik brach mit den weniger interventionistischen Vorgängern und wurde als Gestaltungsmittel genuiner Teil des demokratischen Staates. Als dritte Linie prägt die demokratische oder, aufgrund ihres aus der Revolution geborenen Gleichheitsgedankens, republikanische Tradition die Kulturpolitik und das kulturelle Leben Frankreichs.98 Sie steht sowohl mit den feudalen Elementen der monarchischen wie auch dem bürgerlichen Individualismus der liberalen Tradition in ständigem Konflikt.99 Doch vor allem wegen ihres direkten Revolutionsbezugs ist diese Tradition essentiell für die Idee eines als Gemeingut gedachten kulturellen Erbes, in dem sich der Staat mit der Nation identifizieren kann. Sie ist die Quelle der französischen puissance culturelle, welche nach innen integrieren und nach außen repräsentieren soll.100 Der demokratische Duktus bildete zwar stets die Legitimationsgrundlage für hohe öffentliche Kulturförderung, stellte aber hinsichtlich der Oper zugleich die Kulturverwaltungen aller Regimes vor die schwere Aufgabe, die Maschinerie Oper mit ihren kulturpolitischen Imperativen ‚zwangszuvermählen‘.101 Bereits im Jahre 1878, einhundert Jahre bevor ein Bericht des Theatermachers Jean Vilar von der französischen Regierung forderte, eine riesige ‚populäre‘ Oper zu erbauen, worauf später der Plan der neuen Opéra Bastille zurückging, wurde der damalige Minister der schönen Künste gewarnt : „Une grande question préocuppe en ce moment Le Monde musical tout entier, et Paris en particulier, c’est l’opéra populaire.“102 Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Opernhäuser nicht nur stets Abbild der Strukturen und Normen des jeweiligen kulturpolitischen Systems waren und sind, sondern auch überall prominente Ausnahmen bildeten. Der dabei gewachsene Mechanismus, der für die Opern überall charakteristisch 98 Vgl. Ory, L’État ; Asholt, Kultur und Kulturpolitik. 99 Nur die IV. Republik berief sich auf eine Popularität der Kultur, die sich aus einem unmittelbaren Willen des Volkes speisen sollte und nicht aus der staatlichen Vermittlung. 100 Dijan, Politique Culturelle, 121. 101 Patureau, L’Opéra, 93. 102 Note à M. le Ministre des Beaux-Arts, 25.10.1878, zit. in Patureau, L’Opéra, 83.
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war, lässt sich als eine Ökonomie der Subvention, Supervision und Subversion resümieren – also als Wechselverhältnis zwischen öffentlichen Zuschüssen, der im Gegenzug ausgeübten Kontrolle und beidseitig entwickelten Strategien, dieses formale Verhältnis zu unterlaufen : Als „siamesischer Zwilling“ (Robert Hutchison) des Arts Council war das Royal Opera House in gewisser Weise die einzige Ausnahme und Teil eines kulturpolitischen Plans, den es eigentlich nicht gab oder geben sollte.103 Es blieb bis an das Ende des 20. Jahrhunderts eine ‚nationale Angelegenheit‘, die als solches immer wieder politische Sonderbehandlungen erfuhr, mit direkten Zuschüssen seitens der Regierung, ohne klare Beziehungen und Förderkriterien. Das Gleichgewicht dieser policy zwischen Entscheidungsfindung, Durchsetzung und Legitimation ist immer fragil geblieben.104 In Paris machten die langjährige Freizügigkeit seitens der staatlichen Verwaltung und die dichte Verflechtung durch Gefälligkeiten zwischen Politik und Opernhaus die Begründung oder Rechenschaft für Subvention über lange Zeit fast überflüssig. Zwar verabschiedete die Politik Bekundungen und Statute, in denen das Engagement für eine transparentere, weniger verschwenderische, streng kontrollierte Oper beteuert wurde, doch blieben dies in der Regel Lippenbekenntnisse.105 In Berlin – das wird in der folgenden Studie der Berliner Opernkrise noch ausführlicher behandelt – machte vor allem der repräsentative Status der Opern für die in Ost und West gespaltene Stadt sowohl Kontrolle als auch kulturpolitische Prinzipien ‚überflüssig‘. Trotz des Föderalismus‘ kam mindestens die Hälfte des Etats der Deutschen Oper Berlin aus dem Bonner Bundeshaushalt ; trotz der Einbindung in öffentliche Kontrollverfahren konnten die Opern stets mit Sonderzuwendungen zur Behebung der verursachten Defizite rechnen. Dieses Kapitel hat die Entstehung und Verankerung der Opern als Staatsoper in allen drei Untersuchungsfällen nachgezeichnet. Sie entstand überall als eine Staatsaufgabe, in dem Sinne, als sie im Rahmen bestimmter kulturpolitischer Rahmenbedingungen ein Aktionsfeld bildete, das „von staatlichen Akteuren unter Einsatz öffentlicher Mittel oder unter staatlicher Anleitung bearbeitet“ 103 Hutchison, The Politics. 104 So das kritische Resümee des Policy Studies Institute, New Study, 55. 105 Vgl. Barat, Frankreich, 84.
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wird.106 Es wurde argumentiert, dass dieses Modell zwar einer mitunter zwingenden ökonomischen Notwendigkeit unterliegt, diese aber allein nicht tragfähig ist, sondern ihm darüber hinaus eine bestimmte Auffassung des gesellschaftlichen Entscheidungsträgers zu Grunde liegt, welche die Oper als Teil der öffentlichen Kultur wünschenswert macht. Dabei zeigte genau diese Auffassung weit reichende Unterschiede. Während in Großbritannien die Oper eine relative Sonderstellung einnimmt innerhalb einer kulturpolitischen Konstruktion, die aus dem Privaten entwachsen ist und normativ auch immer wieder dort hinstrebt, in Frankreich die Verbindung zwischen Staat und Pariser Oper die kulturelle Einheit von Staat und Nation widerspiegelt, sind in Deutschland die Idee des Kulturstaats und sein föderaler Aufbau von konstitutiver Bedeutung für die Rolle der Staatsopern. Die Situation, die sich in den drei untersuchten Opernstädten gegen Ende des 20. Jahrhunderts darstellt, ist eine, in der der aufklärerische Gedanke vom Bildungsgut Kultur und der Oper als Spiegel der Gesellschaft von der Erkenntnis nicht endlosen Wachstums und mithin dem Aufstieg einer ökonomischen Perspektive auf Kultur herausgefordert wird. Aus dem vergleichenden Kontext herausgehoben, soll im Folgenden die Untersuchung der Opernkrise und -reform in Berlin zeigen, in welcher Form diese Probleme auf die Opern treffen, durch welche spezifischen Konstellationen sie greifbar werden und welche Lösungsstrategien dafür entwickelt wurden. All diese Aspekte umkreisen die Frage nach der ökonomisch motivierten Veränderung der Beziehung von Staat und Staatsoper. Durch die besondere geopolitische und finanzielle Situation der Stadt, aber auch als das kulturpolitische System mit der größten Nähe und dem (ehemals) größten Vertrauen in die kulturelle Wohlfahrt des Staates, ohne besonders ausgeprägte private Förder- und Verantwortungstradition oder die signifikante Erfahrung eines ‚régime de la concession‘, macht der Fall Berlin die Konfliktlinien, die technischen, interessengesteuerten und moralischen Probleme, die diesen Wandel prägen, am deutlichsten.
106 Grimm, Der Staat, 10.
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2. Die Berliner Opernreform : Auf der Suche nach neuen Rechts-, Finanzierungs- und Steuerungsformen „Nur um den Anstieg der Zinsausgaben auszugleichen, müssten wir jährlich sieben Opern schließen. Wir haben aber nur drei.“107
Anfang des Jahres 1993 verkündete das Magazin Der Spiegel : „Opernland Deutschland – noch ist es ein Schlaraffenland“108 – das bedrohliche „noch“ verwies auf die grundlegenden Veränderungen, die in den kommenden Jahren jenes Land mit den meisten Opern der Welt umstrukturieren sollten. Dass gerade die Berliner Opern, die eben noch als fester Bestandteil des deutschen Kulturstaates vorgestellt wurden, hier als Beispiel im Kontext von Privatisierungsprozessen und einer sich wandelnden Rolle des Staates angeführt werden, erscheint im Lichte dieser strukturellen Veränderungen wenig verwunderlich. Berlin eignet sich als Fallstudie für die Ökonomisierung der Oper, weil gerade hier, wo keine Wirtschaft und Industrie und nach dem Zweiten Weltkrieg auch kein Bürgertum mehr das Selbstverständnis, die Stärke und den Wandel der Stadt prägen, im kulturellen Bereich eine vieldimensionale Transformation begonnen hat. Berlin reflektiert als geteilte Stadt den Neufindungs- und -ordnungsprozess Deutschlands nach 1990,109 der bei weitem nicht nur ökonomischer Natur ist, aber dessen politische und symbolische Veränderungen sich stets im Prisma der ökonomischen Zwangslage brachen. Gerade der Berliner Kultursektor und hier die drei Opernhäuser als deren kulturell wie finanziell exponiertester Teil bieten dafür ein gutes Beispiel, denn hier traf nach der Wiedervereinigung dreierlei zusammen : erstens eine neue geopolitische und stadträumliche Situation, nicht nur weil aus zwei Staaten einer geworden war, sondern weil das substanzielle und immaterielle kulturelle Erbe auf dem Territorium zweier nun nicht mehr existenter Staaten (der D D R 107 Thilo Sarrazin (SPD), Berliner Finanzsenator 2002–2009, in DW, 29.11.2002. 108 Der Spiegel, 13/1993, 240. Der Deutsche Bühnenverein registrierte in diesem Jahr 90 staatlich getragene und finanzierte Opernhäuser. 109 Diese Annahme folgt frei dem Argument des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, in Berlin könne man am ehesten erfahren, was die Vereinigung für Handlungen und Veränderungen erfordere ; vgl. Dreher, Treibhaus Bonn, 222.
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und des 1947 formal aufgelösten Preußens) nach einem alltäglichen Umgang sowie nach Trägerschaft und Organisation verlangten. Zweitens die parallel in Ost- und Westberlin entwickelten Kulturbetriebe sowie das dahinter stehende Kulturverständnis. Und drittens schließlich die sich in Berlin besonders zuspitzende negative Finanzentwicklung in den 1990er-Jahren.110 Zur Bewältigung dieser Situation standen schwierige strategische Entscheidungen an, die zentral für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Wandel der Staatsopern als Ausdruck staatlicher Hoheitlichkeit im Kulturbereich sind : Wie in den kommenden Kapiteln dokumentiert wird, zeigte sich in Berlin zunehmend deutlich, dass die Kürzungen der mittelfristigen Budgetpläne von den drei Berliner Staatsopern nur dann ohne massive Beeinträchtigung ihres künstlerischen Angebots bewältigt werden konnten, wenn eine umfassende Reorganisation ihres Betriebes gelänge.111 Diese konnte die öffentliche Verwaltung aber nur begrenzt selbst vollziehen – sie musste zum entscheidenden Teil von den Bühnen selbst geleistet werden. Dazu fehlten ihnen als unmittelbarer Teil der Kulturverwaltung allerdings die rechtlichen Handlungsspielräume. Somit rückte die Frage nach einer Überführung der Staatsbühnen in private Rechtsformen in den Fokus, und es begann die Loslösung der Staatsopern vom kulturpolitischen Monopol des Staates. Dieser Prozess, in dem Grundsatzentscheidungen und -entwicklungen verschärft und beschleunigt auf die keinesfalls nur kulturpolitische Agenda gelangten, sowie die damit einhergehenden Veränderungen des öffentlichen Diskurses und dessen Konflikte, sind Gegenstand der folgenden Studie der Berliner Opernreform zwischen 1991 und 2008. Dafür gilt es zunächst die Kategorien, innerhalb derer der Prozess der Berliner Opernreform verortet werden kann, zu bestimmen und zu benennen, was sich – jenseits der abstrakten Vorstellung eines sich transformierenden und gegebenenfalls zurückziehenden Staates – hinter den die Berliner Debatte dominierenden Schlagworten der Ökonomisierung, der Privatisierung oder Entstaatlichung der Opern verbirgt. 110 Diese wird vor allem zunächst durch die Kürzungen der Bundeshilfen, später den Banken skandal gekennzeichnet. 111 Vgl. Ogrisek/Wagner für die Synthesis Forschungsgesellschaft, Berlin Bühnenconsulting ; Ogrisek u.a. für die Synthesis Forschungsgesellschaft, Kulturpolitische Strategien, 1.
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Was überhaupt Staatsaufgabe oder öffentliche Aufgabe ist und inwieweit sie nur von staatlichen Einrichtungen selbst erfüllt werden kann, darüber herrscht in Deutschland selbst verfassungsrechtlich Unklarheit.112 Den Maßstab für eine öffentliche Aufgabe bildet das öffentliche Interesse, dem sie dienen soll, das aber auch von gesellschaftlichen Trägern erfüllt werden kann, nicht allein von staatlichen ; Kirchen, Vereine, Medienanstalten, Rundfunk, etc. nehmen Aufgaben im Sinne eines öffentlichen Interesses wahr, ohne in dem Sinne öffentlich zu sein, auf der Basis gesetzlicher Verpflichtung zu deren Wahrnehmung verpflichtet zu sein oder allein durch öffentliche Mittel finanziert zu werden. Wie bereits festgestellt, passt die Oper nicht uneingeschränkt in die Kategorie des öffentlichen Gutes und ist somit auch nicht als genuin öffentliche Aufgabe zu betrachten. Sie wird durch einen Typus von Staatsaufgabe eingebunden, die sich vor allem in der Gewährleistung und der Aufsicht ausdrückt :113 Der Staat hat als Zuschussgeber, Rechtsträger und -sicherer die Erfüllung einer von ihm als öffentliche Aufgabe konzipierten Sache sicherzustellen, ohne vollständig selbst daran mitzuwirken. Anders als bei den klassischen Bereichen der Daseinsvorsorge, bei denen der Staat von der Leistungs- zur Gewährleistungspflicht überging,114 war der Staat im Fall der Oper von der unmittelbaren Aufgabenerfüllung stets durch das vorgestellte grundgesetzliche Primat der künstlerischen Autonomie vom und durch den Staat getrennt. Durch das staatliche Monopol ihrer (kulturpolitischen und personellen) Steuerung, Finanzierung und Aufsicht wird die Oper dennoch eine Institution zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe. Ökonomietheoretisch bzw. wirtschaftspolitisch bedeutet eine Privatisierung nun vereinfacht die Verlagerung von bisher öffentlichen Aufgaben in den privaten Bereich, oder präziser : „die Übertragung bisher staatlicher Aufgaben oder Leistungen oder die Übertragung der Durchführung bisher durch Behörden selbst vorgenommener Aufgaben oder Leistungen auf private Träger“.115 Da auch erwerbswirtschaftliche Unternehmen des Staates privatisiert werden kön112 Vgl. Ehlers, Aushöhlung, 62f.; Engartner, Privatisierung. 113 Vgl. ebd., 95 ; auch Wais, Privatisierung. 114 Für die Bereiche ÖPNV, Energie, Wohnen, Wasser, soziale Dienste etc. vgl. Schuppert, Der Gewährleistungsstaat. 115 Ehlers, Aushöhlung, 40.
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nen, ohne dass damit eine Entlassung aus dem staatlichen Verantwortungsbereich mit einhergeht, sind Privatisierung und Entstaatlichung nicht synonym zu verwenden. Ehemals staatlich erbrachte oder garantierte Leistungen können (teil)privatisiert werden, ohne dass der Staat seine ‚Letztverantwortung‘ für sie abgeben kann.116 Mehr noch, konzeptionell davon ausgehend, dass auch mit der ‚Zerfaserung‘ klassischer Staatlichkeit kein Ende ihrer politischen Gestaltung einhergeht, müssen auch Privatisierung und Entstaatlichung als zwei ‚Spielarten‘ oder ‚Strategien des Regierens‘ bewertet werden : entweder als „Unterwerfung unter die Warenform (die Umwandlung öffentlicher Güter in private Güter, die käuflich erworben werden können) oder [als] die Familiarisierung/Individualisierung (die Verschiebung von Verantwortung aus dem Öffentlichen und Kollektiven zur Familie und den Individuen)“.117 Das ‚Familiäre‘ kann im übertragenen Sinne auch in gesellschaftlichen Gruppierungen erscheinen, wie sie im Hinblick auf die Oper vor allem als Freundeskreis, Interessengemeinschaft, Mäzene usw. zu finden sind. Diese sind zwar im weitesten Sinne privatwirtschaftliche Akteure, aber ihre ökonomische Einflussnahme zielt nicht unbedingt auf den Warenwert der Oper in einem klassischen Sinne, sondern erscheint eher als sozialer oder persönlicher Wert. Das heißt, es ist im Folgenden bei den Veränderungen des Berliner Operngefüges nach zweierlei Tendenzen zu suchen : zum einen nach der finanziellen Verlagerung weg von staatlicher Subvention und unmittelbarer Haushaltskontrolle der Opern, hin zu einer stärkeren Betonung des Warencharakters der Opern und einer größeren wirtschaftlichen und rechtlichen Autonomie der Häuser. Ökonomisierung umfasst ebenso die Loslösung aus staatlichen Verfahren, wie verstärkte ‚kommerzielle‘ Orientierung an betriebswirtschaftlichen Kategorien, insbesondere der Nachfrage, der Kosten-Nutzen-Relation, des Marketings etc., die an die Stelle der meritorischen Argumentation treten oder diese ergänzen. Zum anderen gilt die Suche neuen Verantwortungs- und veränderten Legitimationsmustern, die sich jenseits des kulturstaatlichen Normenmonopols entwickeln, und den damit verbundenen neuen Akteuren.
116 Vgl. Leibfried/Zürn, Transformation ; Genschel u.a., Zerfaserung. 117 Brodie, Die Re-Formierung, 23 ; vgl. auch Lemke, Eine unverdauliche Mahlzeit.
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Diese Veränderungsprozesse sind mithin sowohl in den formalen Strukturen zu suchen – der Rechtsträgerschaft, arbeits- und haushaltsrechtlichen Pflichten und Rechten und Zuwendungsverhältnissen – als auch in den informellen Bindungen, die entweder an die Stelle formaler Beziehungen treten oder die sich den bisherigen Strukturen ‚anlagern‘. Dabei ist stets auch im Sinne der ‚Gouvernementalisten‘ zu prüfen, inwieweit der Staat als Ort der Machtausübung sowie als Gravitationszentrum anderer Machtbeziehung selbst an den Veränderungen beteiligt und somit Gestalter des Wandels ‚seiner‘ Opern ist oder sich eine eigene marktdominierte Dynamik entwickelt, welche die Opern langsam dem staatlichen Einfluss entziehen. Ebenso stellt sich die Frage, ob auch ein umgekehrter Weg möglich ist, in dem weiterhin staatlich getragene und/oder finanzierte Angebote in von den staatlichen Verantwortungs- und Legitimationszyklen unabhängige Formen übergehen können. Nach welchen Maßstäben aber können solche Veränderungen bestimmt und bewertet werden ? Unter den hier gesetzten methodischen Prämissen sind klare essentialistische Abgrenzungen von Staat, Staatlichkeit, Staatsaufgabe sowie deren gradueller Rückgang oder ihre ökonomischen Transformation im Bereich des Kulturstaates nicht festlegbar oder gar messbar. Um der weniger alltagsnotwendigen als geistesgeschichtlichen und wertegebundenen Dimension des Untersuchungsgegenstandes Oper (im Unterschied zu anderen sich transformierenden staatlichen Gewährleistungsaufgaben) gerecht zu werden, gilt es, neben den strukturellen Veränderungen die öffentlichen Debatten und kulturpolitischen Diskurse, die im Rahmen der Krise entstehen, in den Blick zu nehmen. Sie erst, nicht allein die eingeschliffenen Gefüge, konstituieren die Notwendigkeit zur Veränderung ; ihr Vokabular kann Legitimationsmuster, Anerkennung oder Ablehnung der Veränderungen dokumentieren. Die Untersuchung der Berliner Opernreform ist entsprechend diesen Vorüberlegungen wie folgt aufgebaut : Zunächst werden die strukturellen und diskursiven Dynamiken und Probleme erörtert, die sich zum Dispositiv der ökonomischen Opernkrise formen. Damit wird deutlich, welche Akteure, Verfahren und Strukturen als überholt erscheinen, welche Ursachen dies hat und warum ein Handlungs- und Veränderungsbedarf überhaupt entsteht. Im Anschluss werden die Befunde anhand der in Berlin zur Disposition gestellten Opernreformkonzepte seit 1991 vertieft. Die kurz dargestellten Konzepte zeigen die
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Strategien, mit denen das tradierte Verhältnis von Staat und Oper auf Grund der diagnostizierten Schwächen und neuen Bedingungen gelockert, verändert, reorganisiert oder gegebenenfalls auch beibehalten werden sollte. Von dem so erfassten Status werden formelle wie informelle Veränderungen, die sich tatsächlich infolge eines Reformkonzeptes oder parallel im Zuge der Debatte entwickelt haben, dargestellt. An die Ergebnisse schließt sich die resümierende Bewertung im Vergleich mit den Entwicklungen in Paris und London an. 2.1 Die Berliner Opernlandschaft zwischen Sparzwängen und staatlicher Neuordnung – Opernkrise und Opernreform als Verarbeitungsprozess und Handlungsoption.
Eine Untersuchung über Kulturpolitik oder Kulturförderung in Deutschland beginnt seit Anfang der 1990er-Jahre typischerweise so : „Unser gesellschaftliches Leben ist in der Krise. Die öffentlichen Kassen sind leer und weder durch Steuern noch durch Kredite aufzufüllen. (…) Kunst und Kultur sind in Entstehung, Vermittlung und Pflege von der Krise unmittelbar betroffen.“118 Die Krise ist Konsens in der deutschen Kulturlandschaft – was sie allerdings umfasst, ist es keinesfalls. Das gilt besonders dort, wo sich der politische, ökonomische, soziale und nicht zuletzt kulturelle Neuordnungsprozess des wiedervereinigten Deutschlands auf begrenztem Raum spiegelt : in Berlin und dem Hort seiner historische Kontinuitäten und Brüche dokumentierenden Kulturlandschaft, in dessen Zentrum die drei Berliner Opernhäuser ruhen. Die 1990erJahre stellten diesen Raum vor Herausforderungen, welche die drei Berliner Staatsopern und ihren Träger, das Land Berlin, bald einer entfremdenden Debatte aussetzten. Klang es noch uneingeschränkt nach einem gemeinsamen Aufbruch und der von dem Haus unter den Linden historisch bekannten Staatstreue, als der Intendant der noch Ostberliner Staatsoper, Günter Rimkus 1990 verkündete : „Wir fühlen uns heute stärker denn je als eine Deutsche Staatsoper. Wir haben uns wieder als eine einheitliche Kulturnation zu begreifen“,119 nahmen die Euphorie und uneingeschränkte Identifikation zwi118 Stachwitz/Toepler, Kulturförderung, 5. 119 Zit. in taz, 22.01.1990.
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schen Staat und Oper in den kommenden Jahren kontinuierlich ab. Die Gründe dafür lagen – je nach Perspektive – maßgeblich in der verminderten finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes gegenüber den Opern bzw. deren fehlender Bereitschaft und Kompetenz, sich betrieblich zu modernisieren. Während der Teilung der Stadt hatten sich die Opernhäuser weder im Ostnoch im Westteil als nach ökonomischen Grundsätzen disziplinierte Kulturbetriebe bewähren müssen. Als Repräsentationsobjekte der zwei deutschen Staaten waren sie künstlerische Angebote, die deren Internationalität in der jeweiligen Hälfte der Stadt markieren sollten.120 Der symbolträchtige Aufbau nach dem Krieg und die nicht minder bedeutende Rolle, welche die Kulturinstitutionen während der Teilung spielten, sowie die westdeutsche Berlinförderung haben gemeinsam eine strukturelle Abhängigkeit der Berliner Kulturlandschaft von Mitteln erzeugt, welche die Stadt nicht selbst erwirtschaftet hat. Finanzielle Sicherheit gewährleisteten – wie das für alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche galt – die Bundeszuschüsse aus Bonn und dem D D R -Hauptstadtfonds ;121 Defizite im Etat der Opernhäuser waren selten mehr als ein Kavaliersdelikt. Von diesem Brauch wollte und konnte man in den 1990ern so schnell nicht ablassen, zumal die 1991 vom Bundestag zur gesamtdeutschen Hauptstadt bestimmte Stadt sich zur international konkurrenzfähigen Metropole entwickeln sollte und finanziell zunächst weiter von den Zuschüssen des Bundes abhing. Einer Opernökonomie, in der mit fixen und variablen Kosten und wirtschaftlicher Kompetenz jenseits der staatlichen Kameralistik autonom kalkuliert wurde, fehlte die Grundlage. Es galten die noch immer tonangebenden Worte des bedeutenden (Frankfurter) Kulturpolitikers der 1970er- und 80er-Jahre Hilmar Hoffmann : „Wer eine Oper will, kann sie auch bezahlen“,122 – nach 1990 hoffte man eben, wer drei wolle, auch drei.
120 Vgl. Krause, Operntagebuch ; Deutsche Oper Berlin, 20 Jahre ; Krug, So viel Theater ; Geißler, Geschichte. 121 Seit dem 3. Überleitungsgesetz in der Fassung vom 11.05.1956 bis zum 31. Dezember 1994 galt die Bonner, d.i. die bundesdeutsche Fehlbedarfsfinanzierung Berlins und flossen insgesamt fast 250 Mrd. D-Mark in den Westteil der Inselstadt. Als Hauptstadt der DDR erhielt aber auch der Ostteil komfortable Zuschüsse. Vgl. Weinzen, Berlin ; Krüger, Die Finanzierung, 218ff.; Zschaler, Hauptstadtanspruch. 122 Zit. in FAZ, 07.02.2003.
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Aus dieser Situation heraus entstand das erste Reformkonzept für die Berliner Opernlandschaft. Das wegen der Beteiligung des Theatermachers Ivan Nagel unter dem Namen ‚Nagel-Gutachten‘ bekanntgewordene Papier „Überlegungen zur Situation der Berliner Theater“ entstand 1991 im Auftrag des Berliner Senats123 und sollte Strategien und politische Handlungsmöglichkeiten für die Berliner Staatsbühnen in Ost und West nach der Vereinigung aufzeigen. Ein Kernkapitel war der Zukunft der drei Opernhäuser gewidmet, die das Gutachten als selbstverständlichen und notwendigen Teil der städtischen Kulturlandschaft ansah. Ihre Unterschiede würden durch eine Trias von Charakteristiken gekennzeichnet – ihre historische Herkunft (inklusive der politischen Einbindung von 1949 bis 1989), die künstlerische Zielsetzung und ihre soziale Prägung, argumentierten die Autoren. Dieser konzeptionellen Grundausrichtung des Gutachtens entsprechend wurden für die Opern erstmals drei Profile gezeichnet, die den gewünschten zukünftigen Aufgabenbereich abbildeten. Die Staatsoper sollte demnach das „klassische und moderne Repertoire“ mit herausragenden Sängern und Regisseuren erarbeiten (es wurden sogar konkrete Namen genannt). Die Deutsche Oper blieb in dem Plan der Autoren „jene ‚Bürgeroper‘, als die sie entstand“ ;124 dem entsprächen vor allem das große Repertoire von 35 Produktionen (plus weiteren 30 im Magazin) und der Standort des Hauses im Westen der Stadt, aber auch die Abonnentenorientierung sowie die nicht zu hohen Preise. Auch die Programmatik der Komischen Oper sollte sich nach Meinung der Gutachter weitgehend an der gängigen Praxis orientieren. Das Singen in deutscher Sprache sei ein wahres Spezifikum, die Spielplangestaltung mit ‚leichten‘ Opern von Mozart bis Smetana vorzüglich und nur um etwas mehr neue Werke zu ergänzen. Auffällig ist nicht nur der fast ausschließlich inhaltlich ausgerichtete Bewertungsstil, der sich auf konkrete künstlerische Profilierung und Personalien einließ, sondern vor allem der Umstand, dass dabei wirtschaftliche, organisatorische, publikumsrelevante Faktoren noch weitgehend außen vor blieben. Eine auch finanziell hervorgehobene Rolle der Staatsoper, welche die Vergleichbarkeit 123 Überlegungen zur Situation der Berliner Theater, Berlin, 06.04.1991 (im Folgenden ‚NagelGutachten‘), seine Verfasser waren neben dem ‚Theater-Veteran‘ Ivan Nagel Friedrich Dieckmann, Michael Merschmeier und Henning Rischbieter. 124 Ebd., 9.
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mit den großen Opernhäusern der Welt erlauben sollte, leiteten die Autoren in erster Linie aus der historischen Bedeutung des Hauses ab (nicht beispielsweise aus der nachholenden Aufbauleistung, die eine ökonomische Angleichung an die Westberliner Deutsche Oper möglich machen sollte). Wenn überhaupt nur sekundäre Rollen spielten das Einnahmepotenzial (auf Grund von Größe, Lage und Programm), die Notwendigkeit veränderter Einnahmestrategien, die Rolle der Abonnenten und Besucherorganisationen, die Trägerschaft oder auch die zukünftigen Aufgaben der Geschäftsführer. Eine ökonomische Neuausrichtung jenseits der Umstellung der Ostbühnen auf das Westsystem wurde als rein „politisch-administrativer Akt“ nicht weiter berücksichtigt, eine auch ökonomische Neuausrichtung, wie die von dem 1991 frisch zum G M D der Staatsoper gekürten Dirigenten Daniel Barenboim vorgeschlagene Umstellung auf ein Semi-Stagione-System sogar als „kunstfremd“ und vor allem den internationalen Künstleragenturen angepasster Schachzug kritisiert.125 Das Gutachten blieb für die einzelnen Häuser rein konzeptionell. Das erstaunt umso mehr, als die zentrale Schlussfolgerung der Gutachter lautete : „Die Substanz Berlins kann nicht vom Land Berlin allein genährt werden“126 und dies sogar mit der Warnung untermalt wurde, es drohe als Alternative zu den vorgeschlagenen Schritten die Schließung von mindestens drei Theatern.127 Der sich an den genannten weitgehend historischen und inhaltlichen Kriterien orientierende Lösungsansatz der Gutachter lag mithin in einer umfangreichen und dauerhaften Übernahme von Finanzierung und Trägerschaft der Bühnen durch den Bund. Dafür wurden zwei Modelle vorgeschlagen : Entweder eine hälftige Bezuschussung der Berliner Kulturinstitutionen auf rechtlicher Grundlage des Hauptstadtvertrags ; oder alternativ die Gründung einer Stiftung Nationaltheater, der die Hälfte der Berliner Bühnen angehören sollten.128 Die Staatsoper und die 125 Ebd., 8. 126 Ebd., 5. 127 Ebd., 6. 128 Der nationalen Stiftung sollten neben der Staatsoper und der Komischen Oper das Deutsche Theater, das Berliner Ensemble und das Theater der Nationen (ein Modell, das sich aus der bisherigen Freien Volksbühne entwickeln sollte), das Theater der Freundschaft und die staatlichen Puppentheater angehören. In der Trägerschaft des Landes Berlin verblieben demnach die Deutsche Oper, das Theater des Westens, die Staatliche Schauspielbühnen (Schiller- und Hebbeltheater) sowie die Volksbühne, das Gorkitheater und das GRIPS-Theater, ebd., 6f.
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Komische Oper sollten in die Bundesverantwortung übernommen werden, die Deutsche Oper beim Land Berlin verbleiben. Somit provozierte die neue geopolitische Lage durchaus eine Neukonzeption der Staatsverantwortung für die Berliner Opern – diese lehnte sich jedoch weitgehend an die gängige Hauptstadtpraxis aus Bonn an, direkte Zuschüsse durch den Bund zu gewähren oder diese nach dem Modell des (bisherigen) preußischen Kulturbesitzes auch institutionell lose zu bündeln.129 Innerhalb dessen blieben die staatlichen Ebenen unhinterfragt stark und für die ausreichende Finanzierung, richtige ‚Profilbestimmungen‘ und angemessene Personalentscheidungen die maßgebliche Instanz. Die kulturpolitische Kompetenz der öffentlichen Verwaltung und mithin auch ihre Kontrollfähigkeiten sollten sogar verstärkt werden und der unternehmerische Charakter der Oper ganz in der Identität der Staats-Oper aufgehen, wenn es hieß, es sei die Aufgabe des „größten Theaterunternehmers der westlichen Welt“, des Berliner Kultursenators, dass die Bühnen zwar künstlerisch autonom, aber „nicht ohne kulturpolitische Koordination“ blieben.130 Das ‚Nagel-Gutachten‘ entstand im Bedürfnis, mit kompetenten Vorstellungen und Vorschlägen die Gestaltung der neuen städtischen Situation in Angriff zu nehmen, blieb aber ohne konkrete Folgen. Denn schon drei Jahre später hatte sich die Lage in Berlin erheblich verändert, und die kulturpolitischen Akteure unter der Leitung des Kultursenators Ulrich Roloff-Momin ( S P D , große Koalition) erklärten, „dass es die angespannte Lage des Landeshaushaltes unerlässlich macht, eine Finanzierungsstruktur für Theater und Orchester zu finden“.131 Die bundesdeutsche Alimentierung Berlins – die zeitweilig bis zu 50 % des gesamten Landeshaushaltes ausgemacht hatte – ging in diesen Jahren stückweise zurück. Als sie 1995 endgültig eingestellt wurde, erschien das Land Berlin in keiner Weise darauf vorbereitet und war vermeintlich plötzlich und viel zu spät mit der begrenzten eigenen ökonomischen Potenz konfrontiert. Im gleichen Jahr sank auch erstmals der bis dorthin kontinuierlich gestiegene Kulturetat.132 Hatte man bisher vor allem das kulturelle Potenzial der Stadt gelobt 129 Krüger, Die Finanzierung, 153ff. 130 Nagel-Gutachten, 20. 131 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 12/2871, 3. 132 Vgl. DIW, Studie, 5f.
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und höchstens über Aufgabenteilungen mit dem bald in der neuen Hauptstadt ansässigen Bund nachgedacht, machte der enorme finanzielle Anpassungsdruck bald ein Nachdenken auch über radikalere Lösungen notwendig. Wo und wie sollte gespart werden ? Nun kamen neue Wege in die Diskussion, die sich deutlich an Verfahren eines anderen ökonomischen Kontextes orientierten. Erstmals mischte sich der Begriff der Privatisierung in die kulturpolitische Debatte und erschien angesichts der Sparvorgaben und mangelnden Verlässlichkeit der öffentlichen Partner bald als adäquate Lösung. Als Vorbild und Experiment, ein Staatstheater in die Welt des Kapitalismus zu entlassen, sollten die beiden Bühnen der ‚leichten Muse‘, das Metropol-Theater und der Friedrichstadtpalast, dienen. Ein Jahr später lobte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „dass beide Häuser bis jetzt nicht geschlossen sind, verdankt sich der Idee, sie zu privatisieren“133, und der Schritt schien zum Erfolgsmodell geeignet. Auch für die Opernbühnen konsultierte der Senat 1993 eine Unternehmensberatung, die österreichische Forschungsgesellschaft Synthesis, welche die Kulturverwaltung (vertraulich) beriet134 und die Strukturen der staatlichen Berliner Bühnen und ihrer Beziehungen zur öffentlichen Verwaltung entflechten und damit effizienter und langfristig kostengünstiger machen sollte. Die Ideen und Veränderungspläne wurden in einem „Theaterfinanzierungskonzept“ (T F K) zusammengetragen.135 Das von den Beratern begleitete T F K verfolgte in Bezug auf die Opernhäuser eine Logik, wonach eine größere organisatorische Freiheit der Opern und mittelfristige Planungssicherheit bei den Zuschüssen gegen Einsparungen und interne Umstrukturierungen getauscht werden sollten. Das ‚Bühnenconsulting‘ wollte dabei eine kontinuierliche, sachliche Kommunikation schaffen, welche als Eckpfeiler einer von allen Akteuren gelebten Veränderung stabilisierend wirkte. ‚Kommunikationsdrehscheiben‘ wie Quartalsgespräche und Jours fixes sollten eine gut eingespielte und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung schaffen. 133 FAZ, 04.03.1994. 134 Ogrisek/Wagner, Berlin. Die Ergebnisse und Strategien sind allerdings nur zu Teilen eingeführt und durchgehalten worden. 135 Im engeren Sinne umfasst der Begriff die unten genannte allgemeine Verwaltungsvorschrift ; im weiteren Sinne standen hinter dem Begriff alle Ideen und Veränderungspläne, die im Vorfeld und in Nachfolge der Schließung des Schillertheaters im Herbst 1993 entstanden.
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Eine organisatorische Stärkung der Opernbühnen, begonnen bei der Umstellung auf das kaufmännische Rechnungswesen und mit dem Ziel der rechtlichen Umwandlungen in Anstalten öffentlichen Rechts, zielte darauf (Um)Gestaltungskraft und -willen zu schaffen, eigene Potenziale zu erkennen und zugunsten einer letztlich sogar verbesserten künstlerischen Leistung zu nutzen. Als Partnerin war ihnen dabei die Kulturverwaltung zugedacht, die mittels eines durchschaubaren und kooperativeren Berichtswesens an den Veränderungen der Opern teilhaben konnte. Für die Parlamentarier sollten diese Kommunikation und die Veränderungsprozesse transparent gemacht werden, um die widersprüchliche Entwicklung von budgetärer Stabilität und größeren wirtschaftlichen Handlungsspielräumen der Bühnen sachkundig begleiten zu können.136 In diesem akteursorientierten Dreiklang von Opernhäusern, Kulturverwaltung und Parlament, so der Anspruch der Berater, könnten die kulturpolitischen Ziele regelmäßig diskutiert, die Einhaltung kontrolliert und kommunikative wie strukturelle Störungen effektiv beseitigt werden. Im Mai 1993 wurden diese neuen Ideen und der Glaube, die Herausforderungen durch Formen der Privatisierung bewältigen zu können, in Form einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Finanzierung von Theatern und Orchestern in Berlin ins Abgeordnetenhaus eingebracht. Der Text sah für die Opern die Einführung des kaufmännischen Rechnungswesens nach Maßgabe von §26 der Landeshaushaltsordnung (l ho)137 zum 1. Januar 1995 vor. Damit verfolgte der Senat im Sinne des T F K die Vermittlung der Widersprüche zwischen dem Wahren alter Besitzansprüche und politischer Interventionsgewohnheit sowie dem Bedarf an einer Lösung der Opern aus den Zwängen der staatlichen Kameralistik. Einerseits sollte, so hieß es in dem Gesetz, das Zuwendungs-Rechtsverhältnis gegenüber den Opern so gestaltet werden, dass „deren Verantwortung und künstlerische Freiheit sowie marktgerechtes Handeln“ ge-
136 Ogrisek/Wagner, Berlin, 21. 137 Dies bedeutet, dass Betriebe Berlins, für die ein Wirtschaften nach Einnahmen und Ausgaben des Haushaltsplans nicht zweckmäßig ist, einen Wirtschaftsplan aufzustellen haben, der alle Ausgaben jenseits der Planstellen aus dem Haushaltsplan loslöst und somit eine zweite Ebene neben diesem schafft. Vgl. LHO Berlin in der Fassung vom 20. November 1995 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, 805).
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fördert würden.138 Andererseits müssten aber „die Aufwendungen Berlins für seine eigenen und für private Einrichtungen besser als bisher zu kontrollieren und begrenzen“ sein.139 Insofern sollte die neue Freiheit, die den „Ehrgeiz der Einrichtungen anregen (soll), höhere Einnahmen zu erzielen“140, direkt an eine umfassende und vergleichende Kontrolle des wirtschaftlichen Handelns der Opernhäuser (sowie auch der Theater und Orchester) gebunden sein, die zugleich als Informationsquelle und auch Entscheidungshilfe dienen konnte.141 Damit gliederten sich die Veränderungen an den Opernhäusern unmittelbar in die zeitgleich geplanten und vollzogenen Ziele und Prozesse der Reform der staatlichen Administration ein, die die öffentliche Verwaltung alten Typs zu ,,einem modernen, wirtschaftlich arbeitenden und an den Interessen ihrer Kunden, das heißt den Bürgern und Wirtschaft, ausgerichteten Dienstleistungsunternehmen“ entwickeln sollte.142 Der in dem Gesetzestext ebenso wie im Beratungsprozess geforderten strukturellen Entflechtung von öffentlicher Verwaltung und Opernhäusern stand der rein finanziell ausgerichtete Sparplan des Senats gegenüber. Zielten die Vereinbarungen vor allem auf mehr Planungssicherheit und Eigenständigkeit, sah die Realität in Berlin anders aus. Zwar hatte eine Generalklausel sichern sollen, dass die Bühnen durch die Umwandlung der Betriebsform in finanziellen Belangen nicht schlechter gestellt waren, als sie bei unveränderter Fortführung des kameralistischen Haushaltsvollzugs gestanden hätten,143 doch diese Vorsichtsmaßnahme sicherte im Zweifelsfall nicht die Existenz eines Theaters. Dies verdeutlichte in aller Schärfe die, unter den Akteuren der Berliner Kulturbetriebe den sogenannten ‚Schillerschock‘ auslösende Schließung der staatlichen Schauspiel138 So lautete der genannte parlamentarische Auftrag, Abgh, Drucksache 12/2871, 3,1. 139 Ebd., Begründung. 140 Ebd., zu II.6. 141 Denn deutlich heißt es in der detaillierten Begründung der Änderung : „Die perfekte Analyse der Kostenstruktur ist Voraussetzung jeder Rationalisierung.“ Ebd., zu II.1–II.3. 142 Presse und Informationsamt des Landes Berlin, „Unternehmen Verwaltung“, 7 ; Die Vorschrift orientierte sich zum Teil an den von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) erstellten und begutachteten neuen Steuerungsmodellen ; vgl. zur den Herausforderungen der Berliner Verwaltungsreform Rudolph, Ist Berlin noch zu retten ? ; zu den Einflüssen auf den Kultursektor Ebker, Politische Ökonomie, 188–211, sowie KuPoGe, Umbau. 143 Vgl. Kreise-Papier, 6 (siehe Fußnote 149).
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bühne im Schillertheater im Herbst 1993. Im Zuge der Debatte dazu im Abgeordnetenhaus kamen auch die Opern immer wieder zur Sprache. „Opfert eine, um die anderen zu retten“,144 war eine für den Kultursenator Roloff-Momin denkbare Möglichkeit, die auch von der Opposition Unterstützung fand : „Wer für den Erhalt der drei (Opern-)Häuser ist, muss hier zunächst Einsparungen fordern.“145 Die Schließung des Schillertheaters machte deutlich, dass auch im Opernbereich potenziell nun alles möglich war ; die offen ausgesprochene Garantie einer staatlich gewollten und gesicherten Existenz, unabhängig von den spezifischen politischen Parametern amtierender Regierungen, gab es nicht mehr. An eine langfristige Planung und Sicherheit für die Opern war angesichts dessen nicht mehr zu denken. Zwar wurde mit der Verwaltungsvorschrift zum 1. Januar 1995 die Kameralistik durch die kaufmännische Haushaltsführung ersetzt und die Häuser sowie die Kulturverwaltung dem erheblichen Aufwand der Neuorientierung ausgesetzt. Doch das Zusammenspiel von einem Abbau der Bundeszuschüsse an Berlin bis zu genau jenem 1. Januar, der mühsamen Neukonsolidierung der großen Koalition nach den Wahlen im Oktober 1995 und einem Nachtragshaushalt, der neue Sparforderungen formulierte, von denen auch die Opern nicht verschont blieben, bremste die Reform.146 Die Planungssicherheit, der Lohn, den die Opern für ihre Anstrengungen und Einbußen erhofften, blieb aus ; das Vertrauen zwischen den Akteuren der Opern, der Kulturverwaltung und der Politik erhielt eine fundamentale Störung. Die von den Akteuren in Oper und Verwaltung angesichts dessen kaum mehr mitgetragenen neuen Arbeits- und Kommunikationsmethoden kamen in den alten Strukturen bald zum Erliegen. Die am damaligen Prozess Beteiligten berichten, dass die Opern die freiere Betriebsform in erster Linie dazu nutzten, die Kontrollinstanzen so lange wie möglich von ihrer wahren wirtschaftlichen Situation abzuschirmen. Die Instrumente eines unabhängigeren Verhältnisses zwischen den Akteuren der Oper und der Kulturverwaltung stumpften in der Atmo144 Kultursenator Roloff Momin (SPD), Abgh, Protokoll 12/51, 4350 (C33). 145 Eckert (Bündnis90/Grüne), ebd., 4348 (D25f ). 146 Lediglich die Staatsoper hatte noch einen leichten Zuwachs an Zuschüssen zu verzeichnen, der aber den realen Preisentwicklungen und Tarifsteigerungen nicht standzuhalten vermochte. An der Deutschen Oper und der Komischen Oper war die Zuschusshöhe rückläufig.
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sphäre der Frustration und des Misstrauens ab, anstatt Sachlichkeit, Transparenz und Zutrauen zu schaffen ; durch die weiter schrumpfenden Haushalte wurde die nun für die §26 L H O Betriebe mögliche Übertragbarkeit von Defiziten in den Folgejahren eine wirtschaftliche und politische Zeitbombe. Die Probleme mit der notwendigen Kostenreduktion und dem damit einhergehenden Umbau der Berliner Bühnen- und insbesondere der Opernlandschaft blieben daher bestehen. Die finanziellen Fehlentwicklungen, die an den einzelnen Opernhäusern sichtbar wurden – wie zunächst im Januar 1994 an der Staatsoper, die ein Defizit in Höhe von 7–8 Millionen D-Mark meldete – mussten nach altem Modell mit einem Extrazuschuss ausgeglichen werden. Doch inzwischen war die Akzeptanz dem gegenüber gesunken. So protestierte der Berliner Landesverband des Bundes der Steuerzahler im November 1994 : „Es geht nicht an, dass die Staatsoper Jahr um Jahr diese Ansätze (zum Sparen, SZ) überschreitet und dann darum bittet, die Differenzen durch Zuschüsse auszugleichen“,147 und klagte die Aufsichtspflicht der Senatsverwaltung ein. Die Opernhäuser wie auch die Kulturverwaltung gerieten unter wachsenden Legitimationsdruck und erhielten eine zunehmend prominente Position im Berliner Spardiskurs. Schon jetzt gewann manch Opernfreund „den Eindruck, als sei die ganze Finanzmisere allein von den geldverschlingenden Operntheatern verursacht. Ein Milliardengrab, das es nunmehr in eine Sparkasse umzuwandeln gilt“,148 wie die Zeitschrift Opernwelt berichtete. Doch parallel dazu erfuhren auch die Privatisierungsbestrebungen, denen gegenüber sich der neue Kultursenator der wieder aufgelegten Großen Koalition, Peter Radunski (cdu), sehr aufgeschlossen zeigte, eine wachsende Skepsis. Denn das kurz zuvor noch gelobte MetropolTheater war infolge der Privatisierung tatsächlich nach finanziellen Problemen 1996 ungebremst in den Konkurs geschlittert, und den an Entstaatlichung und Privatisierung geknüpften Hoffnungen in der Berliner Opernfrage schienen nun neue Grenzen gesetzt. Die Berliner Kulturpolitik, von 1996 bis 1999 von Radunski angeführt, verfolgte daraufhin eine Reformstrategie, die in den kommenden 10 Jahren in ihrer Widersprüchlichkeit die gesamte ‚heiße Phase‘ der Berliner Opernkrise 147 Zit. in BeZ, 07.01.1994. 148 Rohde im Editorial der Opernwelt 1/1994, 2.
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prägen sollte : das Pendeln zwischen struktureller Entstaatlichung auf der einen und stärkerem, auch künstlerischen Kontrollwillen der Politiker auf der anderen Seite. Diese janusköpfige Kulturpolitik zeigte sich bereits in dem nächsten umfassenden, als ‚Kreise-Papier‘ bekannt gewordenen Spar- und Reformkonzept, das zu Beginn der Amtszeit Radunskis erarbeitet und als „Materialien zum öffentlich geförderten Kulturangebot in Berlin“149 im September 1996 vorgestellt wurde. Den Namen ‚Kreise-Papier‘ trug das Konzept, weil es die Berliner Kulturlandschaft in 16 thematische Kreise einzuteilen vorsah ;150 die Opernhäuser Berlins bildeten gemeinsam mit dem Tanz den 1. Kreis, der von einem Sparvolumen in Höhe von 27 Millionen D-Mark betroffen war. Diese Sparvorgaben machten, gemeinsam mit den nicht-managementbedingten Kostensteigerungen durch Tariferhöhungen, 25 bis 30 % der Opernhaushalte aus und lagen damit entschieden über dem Anteil an variablen bzw. disponiblen Mitteln. Ohne strukturelle Veränderungen also standen die Opern vor der Arbeitsunfähigkeit. Nach dem Grundsatz „Organisationsänderung statt Schließung“ wollte die Reform aber die „Vielfalt des Berliner Kulturangebots trotz einer Einsparung im Kulturhaushalt von 100 Millionen D-Mark in den folgenden drei Jahren“ erhalten.151 Die Legitimation zog das Projekt somit noch immer aus der für die Kulturszene durchaus traumatischen Schließung des Schillertheaters. Vor dieser negativen Kontrastfolie proklamierte das Konzept den Erhalt der Kulturlandschaft als explizit „politische Entscheidung“. Dabei lag der Fokus allerdings zunächst – anders als bei dem fünf Jahre früher formulierten ‚Nagel-Gutachten‘ – in erster Linie auf den Finanz- und Betriebsstrukturen der Bühnen : modernisierende Anpassungen an die Anforderungen einer Informations- und Warengesellschaft, Flexibilisierungen, Synergien sowie eine Überprüfung und Überführung der Rechtsformen sollten den Entstaatlichungsprozess fortsetzen, der 149 Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur (SenWissKult), Materialien, genannt ‚KreisePapier‘. 150 Die Kreise im Einzelnen : 1. Opernhäuser und Tanz ; 2. Leichte Muse ; 3. Privat/Off-Theater ; 4. Kindertheater ; 5. Sprechtheater ; 6. Kulturaustausch ; 7. Museen ; 8. Bildende Kunst ; 9. Literatur ; 10. Musik ; 11. Künstlerförderung ; 12. Archive/Zeitgeschichte ; 13. Bibliotheken ; 14. Film und Medien ; 15. interdisziplinäre Einrichtungen ; 16. bundesfinanzierte Einrichtungen und Maßnahmen. 151 Kreise-Papier, 1.
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mit der Umstellung der kameralistischen Regiebetriebe auf Betriebe nach der L H O §26 begonnen habe.152 Für die drei Opernhäuser benannte das Papier sieben zentrale Handlungsfelder, die bestimmte Zielsetzungen enthielten : Dies waren, 1. der Ausbau des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens mit dem Ziel „entscheidungsbezogene Steuerinstrumentarien“ zu finden (dessen hybrider Charakter nicht näher erläutert wurde) ; 2. die künstlerische Profilierung der Häuser sowie die Abstimmung der Spielpläne und Koordination der Neuproduktionen ; 3. eine Optimierung der Produktion durch die bessere Nutzung zusammengelegter Werkstätten ; 4. die Neuausrichtung und Professionalisierung des Marketings ; 5. die Überprüfung des jeweiligen Repertoires, das ein Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag von Produktionen verbessern sollte ; 6. die Rationalisierung des administrativen Bereiches durch „Reduktion von Verwaltungsfunktionen (und) Zusammenlegung gleicher Dienstleistungsfunktionen“ ; 7. eine Umstellung des Tarifgefüges auf einen „Berliner Operntarifvertrag“. Darüber hinaus sollten mittelfristig alternative Rechtsformen geprüft werden.153 Doch diese sachlich gefärbte Rationalisierungsprogrammatik, die unmittelbar den zeitgenössischen Diskussionen des ‚New Public Management‘ entstammte, ist bei näherem Hinsehen nur ein Teil der Reform. Ökonomisch konnotierte Effizienzkriterien wurden nicht nur an Betriebs- und Personalstrukturen angelegt, sondern erstmalig auch an die im weiteren Sinne künstlerischen Arbeitsabläufe (Input-Outcome-Relation einer Produktion) und künstlerischen Betriebsformen (Repertoire versus Stagione).154 Trotz der offensichtlichen ökonomischen Perspektive und des modernisierenden Duktus, mit denen das Reformkonzept glänzte, dominierte auch sprachlich eine steuernde Haltung, die sich durchweg auf genuine Aufgaben der Politik und Verwaltung berief. Alle aufgeführten Maßnahmen wurden als politische Instrumente oder Entscheidungen deklariert, an den Opern und Theatern zu vollziehende Prozesse als ‚Unterstützung‘ (der 152 Ebd., Kap. 0.1–0.3. 153 Ebd., 16. 154 Die ökonomische Sprache des Papiers dominierte derart, dass sie bisweilen Stilblüten trieb, die weit abseits des analysierten Betriebes lagen. Etwa sollten das Stagione-System am Wochenende ausgeweitet oder im künstlerischen Bereich Dienstleistungen abgebaut werden. Ebd., 15, 20.
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Bühnen) oder ‚Schaffung‘ (etwa von Möglichkeiten des Personalabbaus) etc. an die Akteure des Landes gebunden. Sie erst machten, so legte es das Kreise-Papier nahe, die Kulturbetriebe handlungsfähig. Das heißt, die zu erbringenden Sparmaßnahmen wurden nicht allein zu Umstrukturierungen umgedeutet, weil ein solcher Euphemismus sich politisch besser vertreten ließ, sondern weil sie politische bzw. staatliche Handlungsspielräume zu öffnen und zu besetzen erlaubten. Das bewusst eingesetzte betriebswirtschaftliche Vokabular, das eine Form der ‚Entlassung‘ der Kunst aus der Staatskontrolle verhieß, entsprach keinesfalls einem realen Rückzug des Staates. Mehr noch : Weit umfassender, als bei den anderen Kultureinrichtungen fanden sich in den Formulierungen zu den Opernhäusern auch inhaltliche Vorgaben und detaillierte Perspektiven für die einzelnen Häuser, die sich nur begrenzt an den zuvor selbst entworfenen politischen Zielsetzungen orientierten. Zu den rationalen ökonomischen Prioritäten trat eine parallele Argumentation hinzu, die beispielsweise für die Deutsche Oper wegen ihres „Grundverständnisses“ als Bürgeroper und der in der Architektur zum Ausdruck kommenden „sehr demokratischen Form des Kunstschaffens“ eine Spezialisierung auf zeitgenössische Stücke vorsah. Der Umstand, dass die Zuschauerkapazitäten zu groß für einen derartigen Spielplan wären – und das Haus bei entsprechenden Stücken mit Sicherheit kaum ausreichend besucht würde –, sollte durch höhere Zuschüsse ausgeglichen werden.155 Das heißt, im Rahmen der proklamierten „politischen Entscheidungen“ fand eine Profilzuordnung statt, deren Unwirtschaftlichkeit gesichert schien und die eine stärkere Abhängigkeit der Deutschen Oper vom Subventionssystem von vornherein mit einschloss. Die Versuche, das Konzept zu realisieren oder auch nur präzisere ökonomische Zielvereinbarungen mit den Opern zu schließen, ließen sich zwischen politischen Konflikten der Berliner Großen Koalition in den Jahren 1995–1997 155 Ebd., 19. Die Staatsoper sollte demgegenüber vor allem die repräsentative Funktion nahe dem künftigen Regierungs- und Parlamentssitz einnehmen und das ‚klassische‘ Opernrepertoire anbieten. Die teilweise Umstellung auf das Seriensystem wurde begrüßt, da das Haus einen Festspielcharakter erhalten sollte. Die Komische Oper erhielt eine Profilierung als Ort, an dem experimentiert statt repräsentiert werde und an dem vor allem der Nachwuchs eine Bühne fände. Das Orchester der Komischen Oper sollte mit dem Berliner Sinfonie-Orchester fusioniert werden und künftig die Oper und das Schauspielhaus bespielen. Ebd., 20ff.
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und der durch die höhere Betriebsautonomie gestärkten Fähigkeit der Opernintendanten, sich vor der eigenen Rechenschaftspflicht zurückzuziehen, nicht durchsetzen. „Droht eine Krise der Oper ?“, fragte Intendant Götz Friedrich sich und sein Publikum und beantwortet die Frage sogleich dahingehend, es handele sich dabei allein „um eine Verständniskrise im weitgefächerten politischen Bereich gegenüber der Oper. (…) Eine Krise könnte uns nur von außen auferlegt werden. Arbeiten und spielen wir dagegen an“.156 Die altbekannten Finanzierungsprobleme verschärften sich dabei aber weiter. Auch an der Deutschen Oper wurden nun Defizite bekannt : Das Haus stand 1998 mit 19 Millionen D-Mark Schulden da, von denen allein 11 Millionen D-Mark – mit der formal notwendigen Billigung der Kulturverwaltung – bereits aus dem vergangenen Haushaltsjahr übernommen worden waren ; öffentlich bekannt war darüber nichts.157 Es war weiterhin absehbar, dass sie bei den angenommenen Tarifsteigerungen bis 2002 auf 39,3 Millionen DMark wachsen würden, was zu diesem Zeitpunkt bereits 17,5 % des gesamten jährlichen Zuschussvolumens von 224,7 Millionen D-Mark entsprach. Bestehende Beschäftigungssicherungsvereinbarungen erlaubten bis 2004 keine weiteren betriebsbedingten Kündigungen. Zeitgleich knüpfte der künstlerische Leiter und G M D der Staatsoper Barenboim seine Vertragsverlängerung an eine Aufstockung der Mittel für künstlerische Gäste und sein Orchester in Höhe von 6,5 Millionen D-Mark.158 Um die Opernbühnen handlungsfähig zu halten und zugleich trotz eigentlich gescheiterter Gestaltungsbemühungen politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wurden schließlich die Schulden und mit ihnen die grundsätzlichen Probleme kurzfristig mit den durch die Schließung des Metropoltheaters frei werdenden Mitteln in Höhe von 23 Millionen D-Mark behoben.159 Damit unterminierte der Kultursenator seinen eigenen kurz zuvor noch geäußerten Aufruf, an den Opern „sofortige und verbindlich greifende konkrete Handlungen“160 zu vollziehen. Entsprechend erntete er öffentliche Kritik : Die vorgetragene „Empörung“ über die Verschul156 Schriftenreihe Deutsche Oper 95/96, 3f. 157 Vgl. Tgsp., 25.05.1998. 158 Stölzl-Papier I, 6. (Siehe Fußnote 164). 159 Helmig, Die Hauptstadt-Skandale. 160 SZ, 26.05.1998.
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dung sei „scheinheilig“ und „unredlich“ ; „das Frühwarnsystem für Finanzkatastrophen im Hause des Kultursenators (sei) mit Bedacht abgestellt worden“.161 Radunski zog sich auf die Durchhalteposition zurück, „die drei Berliner Opernhäuser sind so erfolgreich wie andere. Wir sollten aufhören, uns eine Krise einreden zu lassen“.162 Doch mit dem wiederholten Scheitern einer Reform manifestierte sich der Eindruck der Krise nur. Zunehmend schienen nicht mehr allein die neuen Sparvorgaben die Opernhäuser wieder ins Gespräch zu bringen, sondern ein sehr viel grundsätzlicheres Problem zu bestehen, das spezifisch an die Opern gebunden war. Das schnelle Scheitern der Radunski nachfolgenden Kultursenatorin Christa Thoben stärkte diese hervorgehobene Bedeutung der Opern noch. Die Berlin-fremde Politikerin trat nach nur vier Monaten Amtszeit mit dem besonderen Hinweis auf die festgefahrene Opernsituation, die sich gegenüber allen Veränderungsbestrebungen resistent zeige, zurück. Welche Gefahr für die Stabilität der Berliner Regierung darin bestand, verdeutlichte die wiederholte Aussage des Regierenden Bürgermeisters Diepgen, den der Rücktritt nötigte, schnell zu versichern : „Dieser ungewöhnliche Vorgang beinhaltet nicht gleichzeitig eine Krise für den Senat oder die Regierung in diesem Land.“163 Um das zu beweisen und zu verhindern, dass die Opern zum Symbol für die Schwäche und das Scheitern der Berliner Reformbemühungen insgesamt würden, musste zügig ein neues Reformkonzept auf den Tisch, welches das politische Durchsetzungsvermögen wiederherstellte. So legte im Juni 2000 der Nachfolger Christa Thobens, Christoph Stölzl (zunächst parteilos, später C D U ), das zweiteilige Dokument „Bericht zur Bühnenstruktur – Einleitung von Reformmaßnahmen und Maßnahmen zur Bühnenstrukturreform“164 vor, einen neuen ‚Masterplan‘ für die zukünftige Berliner Theater- und Opernlandschaft. Die Reformbemühungen sollten das 161 Vgl. die Übersicht in Der Spiegel, 24/1998, 201. 162 Zit. in taz, 16.04.1999. Damit ging das ‚System Radunski‘ äquivalent zum ‚System Diepgen‘ als Phase des kulturpolitischen Stillstandes und der unlauteren Rechenkünste in die Berliner Geschichte ein. 163 Abgh, Protokoll, 12/8, 335 (B). 164 SenWissKult, „Bericht“ (Stölzl-Papier I) ; SenWissKult, „Maßnahmen“ (Teil 2), 12.10.2000 (Stölzl-Papier II).
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Ausgangsdilemma von fehlender Kongruenz zwischen den strukturbedingten Kosten (vor allem die Tarifverträge an den Bühnen) und dem Einsparpotenzial, das im Rahmen eigener Anstrengungen von den Theatern nicht mehr ausbaufähig sei, beseitigen. Stölzl fundierte sein Reformkonzept auf der Erklärung, dass, „was sich heute als Krise der Berliner Bühnen darstellt, (als) Folge von politischen und kulturpolitischen Entscheidungen und Setzungen der letzten zehn Jahre“ entstanden ist.165 Den Kern der Opernreform bildete daher das Vorhaben, Abstand von der in den vergangenen Jahren verfolgten ‚Insellösung‘ dreier autonomer Häuser zu nehmen ; vorgesehen war die Zusammenlegung der Staatsoper und Deutschen Oper zu den Opernbühnen Berlin – Deutsche Oper/ Staatsoper zum 1. Januar 2002. Die Fusion der beiden großen Opernhäuser sollte umfangreiche Personaleinsparungen erlauben, die durch einen Stellenpool bzw. Abfindungsfonds betriebsbedingte Kündigungen zu umgehen möglich machten.166 Vor allem der Berichtsteil zielte auf klare Trennungen zwischen Opernbetrieb und staatlichem Träger – eine „starke Entstaatlichung“.167 Die GmbH wurde als geeignete flexible und staatsferne Rechtsform bevorzugt, der Abschluss von Haustarifverträgen sollte den flexiblen Einsatz aller Musiker in beiden Spielstätten erlauben und die Automatismen der Tarifsteigerung stoppen, die Werkstätten der Deutschen Oper sowie das umgebende Gelände gegebenenfalls für eine zentrale privatisierte Servicegesellschaft der Opern genutzt, bisherige Werkstattimmobilien veräußert werden. Im Parlament erklärte der Kultursenator deutlich, „dass Künstler rechnen und Bescheidenheit lernen müssen, ist unumgänglich !“168 Zugleich kündigte Stölzl den Umbau der Kulturverwaltung zu einer „Agentur des Ermöglichens und Ermutigens“ an.169 In einer Zeit, in der Arbeitsämter in Arbeitsagenturen und Jobcenter umgewandelt wurden, zeigte 165 Vgl. Stölzl-Papier II, 2. 166 Der Stellenpool sah die Aufnahme freigestellter Mitarbeiter vor, die bei der Wiederbesetzung von Stellen im Bereich der SenWissKult bevorzugt berücksichtigt wurden, der Fonds dagegen (extern zu finanzierende) Prämienzahlungen für Kündigungen. Bei den Chören sollten ca. 40 von 184 Stellen gestrichen werden, bei den Orchestern der beiden zusammengefassten Häuser 77 von 266, in den zentralisierten Werkstätten dagegen nicht mehr als 55 von 779. 167 Abgh, Kulturausschuss, Drucksache 14/20, 12.03.2001. 168 Abgh, Protokoll 14/17, 918 (C). 169 Abgh, Inhaltsprotokoll, Kulturausschuss 14/6, 08.05.2000.
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auch der Opernreformdiskurs die sprachliche Dynamik von mehr Service und weniger staatlich erbrachter oder garantierter Leistung. An den bestehenden Normen der staatlichen Gewährleistung von künstlerischer mittels finanzieller Autonomie gemessen, war dies auch sprachlich ein neues Terrain. Gerade erst hatte der Schauspieler Martin Wuttke mit der Feststellung, „Kunst ist ihrem Wesen nach unökonomisch“, aus Protest gegen die Sparvorgaben des Senats seinen Rücktritt von der Intendanz des Berliner Ensembles erklärt.170 Und noch galt die ausgerechnet vom Bundeswirtschaftsministerium für Künstler herausgegebene Parole : „Großes kann der Künstler nur leisten, wenn er seinem eigenen Denken und Fühlen verpflichtet ist. Künstlerisch steht das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im Vordergrund und nicht die Frage nach den Einkommensquellen.“171 Der finanzielle Gewinn der ‚Stölzl-Reform‘ erwies sich allerdings mit einer veranschlagten Kostenreduktion um 11,4 Millionen von 226 auf 214,6 Millionen D-Mark Gesamtzuschuss eher gering. Diese Kürzungen hätten die mit 2,4 % p.a. berechneten und bis 2002 nicht ausgeglichenen Tarifsteigerungen erwirtschaften können – über dieses Jahr hinaus aber musste es für den Tarifausgleich wieder eine staatliche Absicherung geben. Gleiches galt für die in den vorangehenden Jahren angesammelten Defizite :172 Da die Opernhäuser als Regiebetriebe und l ho -Einrichtungen über kein Eigenkapital verfügten, aber für die Überführung in eine eigenständigere Rechtsform hätten vollständig entschuldet werden müssen, waren zusätzliche Ausgaben in Form von ‚Anfangsinvestitionen‘ bzw. ‚finanziellen Altlasten‘ absehbar. Hinzu kam der finanzielle Aufwand für den langfristigen Personalabbau und die kostenintensive Sanierung der alten Werkstattgebäude, die zur Kostendeckung ihrer Zusammenlegung veräußert werden sollten. Da all diese Kosten weiterhin durch das Land Berlin hätten getragen werden müssen, waren damit nicht nur, wie das StölzlPapier zuletzt selbst festhielt, keine kurzfristigen finanziellen Verbesserungen zu erzielen, sondern hätte auch die staatsfernere institutionelle Fassung das Land nicht aus seiner kostenintensiven Verantwortung für die Opern entlassen. 170 Zit. in Brumlik, Der Vorhang fällt, 67. 171 Bundesministerium für Wirtschaft, Wirtschaftspolitik, 3. 172 Stölzl-Papier I, 7f.
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Ohne signifikante Einsparungen aber schien die Idee einer Reform und teilweisen Entstaatlichung der Berliner Opernlandschaft weder ausreichend legitimiert noch aus Sicht der öffentlichen Kontrollinstanzen attraktiv. Der zweite Teil der Reform, der das Maßnahmenpaket für die Bühnen schnürte, zeigt daher einen zunächst überraschenden argumentativen Ebenenwechsel. Hier wie in der öffentlichen Diskussion um das Konzept standen nun vor allem ‚sachliche‘ und ‚inhaltliche‘ Gründe für eine Reform im Vordergrund – der Sparerfolg war zu gering, um als handlungsstarker politischer Erfolg präsentabel zu sein. Nun wurde Wert drauf gelegt, bei bestehenbleibender Rechtsaufsicht des Zuwendungsgebers, die „Kontrollmöglichkeiten“ und auch „darüber hinausgehenden Einflussmöglichkeiten“, die für eine GmbH-Lösung extra per Gesetz oder Gesellschaftervertrag hätten erwirkt werden müssen, zu sichern.173 Und weil die Satzung einer Anstalt öffentlichen Rechts „eine weitere Handhabe, auf Struktur und Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Anstalt individuell einzugehen und sie den Bedürfnissen anzupassen“ erlaubte, fiel die Entscheidung für den Rechtsformwechsel schließlich auf diese.174 Von den fünf Posten des Aufsichtsrats sollten vier durch den Senat ernannt oder entsendet werden. Stand anfangs noch die Unabhängigkeit bei mehr Flexibilität der beiden großen Opernhäuser im Fokus, wurde im Maßnahmenteil offen mit der hoheitlichen Geste gedroht, im Falle eines Scheiterns der avisierten Haustarifverträge in den Verhandlungen mit der Deutschen Orchestervereinigung (D OV), die Staatskapelle und das Orchester der Deutschen Oper zu fusionieren.175 Hinzu kam die Formulierung von Profilleitlinien, die detaillierte künstlerische Aufgaben vorsahen. So sollte an der Staatsoper das vorklassische, klassische und frühe romantische Belcanto-Repertoire gegeben werden (wobei das musikalische Profil des amtierenden g m d und künstlerischen Leiters Barenboim keinerlei Berücksichtigung fand), wogegen die Deutsche Oper sich mit dem „großen Repertoire des 19. Jahrhunderts sowie (der) Moderne“ an der „legendären Krolloper“ orientieren sollte. Die Komische Oper konzipierte man als eigenständige Anstalt und als Bühne für junge Sängerensembles und neue 173 Ebd., 14. 174 Stölzl-Papier II, 5. 175 Ebd., 9f.
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Regieansätze, die auch die Spieloper und Operette ins Repertoire aufnehmen solle. Somit fand mit dieser Reform die strukturell paradoxe Anbindung einer staatsferneren Rechtsform an konkretere politische und also staatliche Einflussmöglichkeiten ihre Fortsetzung. Hatte der Reformansatz zunächst noch genau diese Einheit kritisiert und auch dem Unterausschuss Theater des Abgeordneten hauses den Wunsch zur künstlerischen Einflussnahme vorgeworfen, forderte und rechtfertigte Stölzl in dem Maßnahmenpapier „klare politische Vorgaben (…) für zukünftige inhaltliche, organisatorische und personelle Entscheidun gen“.176 Vor dem Abgeordnetenhaus bekräftigte er : „Die Demokratie, die über Sozialpläne und über Verkehrspolitik diskutiert, darf selbstverständlich auch über künstlerische Inhalte diskutieren.“177 Nicht zuletzt an diesem Anspruch orientierte sich die Kritik an der StölzlReform. Die zur Beratung der Berliner Opern gegründete Deutsche Opernkonferenz ( D O K ), ein Gremium aus erfolgreichen Opernintendanten des deutschsprachigen Raumes, demonstrierte in einem eigenen Papier, dass die Berliner Opern eigentlich überfinanziert seien, die formulierte Reform daher auf die völlig falschen Bereiche ziele und überführte den Kultursenator damit der inhaltlichen Einflussnahme und des politischen Tabubruchs : „Zum ersten Mal seit der Reichsmusikkammer, versucht der Staat die Kunst zu gängeln, indem er den Häusern vorschreibt, wer welche Stücke zu spielen hat,“178 bemühte der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Peter Jonas, den moralisch schwerwiegenden historischen Vergleich. Auch Staatsoperndirigent Barenboim sah „das Monstrum des Nazismus“ wieder auferstehen179, und drohte, im Fall der Realisierung der Pläne, Berlin zu verlassen. Stölzl verteidigte das staatliche Recht auf „sanften Zwang zur Harmonie. (…) Da der Auftraggeber immer die gleiche öffentliche Hand ist, sollte die auch durchaus darauf bestehen dürfen, dass eine vernünftige ästhetische Konkurrenz der drei Opernhäuser nicht dazu führt, dass an drei Dienstagen alle drei gar nicht oder aber das gleiche Stück
176 Ebd., 7. 177 Abgh, Protokoll 14/17, 26.10.2000, 91. 178 Peter Jonas zur Stölzl-Reform auf der DOK, zit. im Tgsp., 29.10.2000. 179 Vgl. taz, 31.07.2000.
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spielen,“180 doch es formierte sich ein breiter Widerstand gegen den Fusionsplan. Vor allem genährt durch die Erwartungshaltung an die neue Rolle Berlins als gesamtdeutsche Hauptstadt, die durch den Umzug der verschiedenen Bundesbehörden und politischen Organe an die Spree sich in diesen Jahren vollzog, entstand ein öffentlich verhandeltes Anforderungsprofil an die Opern als repräsentative Glanzpunkte der vereinigten Stadt. Damit einher ging eine neue Qualität von Aufmerksamkeit gegenüber den drei Häusern und dem Bemühen, sie an die veränderten finanziellen wie geopolitischen Bedingungen anzupassen, welche die Stimmung schließlich gegen Stölzl und seine Reform kippen ließ. Die Opernreform wurde nun zum „Hauptstadt-Skandal“181, zum weltweit gesehenen „peinlichen Anachronismus“182, und erhielt von der Gemeinschaft der deutschen Opernkritiker die zweifelhafte Ehrung des „Ärgernis des Jahres“183. Peter Jonas legte als Opernmann von Welt nach : „Das ist nicht die Politik einer Hauptstadt, sondern das, was man vielleicht erwartet – wenn man deprimiert ist – vom Gemeinderat einer kleinen, kleinbürgerlichen Stadt.“184 Die Idee einer metropolitanen Opernlandschaft brachte vor allem den Wunsch hervor, die Lösung der Opernfrage durch das finanzielle Engagement des Bundes zu erwirken. Immer wieder wurde die Forderung laut, die Staatsoper Unter den Linden direkt beim Bund anzusiedeln – aus der Oper selbst, wo man dadurch auf mehr Stabilität und Geld hoffte, beim Land, wo man im Zuge der Haushaltskonsolidierungen nicht die Kontrolle über das Haus, aber die Kosten gern abgegeben hätte, und seitens des Bundes, der mit dem Umzug nach Berlin sowie unter der neuen Regierung Schröder ( S P D ) seine kulturpolitischen Kompetenzen auszuweiten begann.185 Erstmals gab es nun einen Kulturstaatsminister (zunächst Michael Naumann), und zu den markantesten ersten Schritten, die dieses neue Amt prägten, gehörte die Erfüllung der Tarifforderungen der Staatsoper in Höhe 180 09.03.2001 im Interview der FAZ. 181 Oper und Tanz, 02/2000. 182 FAZ, 18.12.2000. 183 Opernwelt, Jahrbuch 2000. 184 Im Interview mit der SZ, 27.11.2000. 185 Vgl. die wiederholten Forderungen der Staatsoper etwa im Barenboim-Interview in DZ, 17.12.2003, sowie seitens des Bundes vor allem die Initiative der Gründung einer bundeseigenen Staatsopernstiftung : BT Drucksache, 15/1790.
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von 3,5 Millionen D-Mark im November 2000, denen die Berliner Kulturverwaltung sich so standhaft verweigert hatte. Mit der Zahlung erkannte der Bund nun de facto die Forderungen des Orchesters nach einer Tariferhöhung als legitim an und artikulierte zugleich sein Interesse am Erhalt der von der Fusion bedrohten Oper. Zwar weigerte er sich, sie vollständig zu übernehmen, aber mit der Millionenspende war eine Linie überschritten, hinter der neues unbekanntes kulturpolitisches Territorium begann, auf dem es zukünftig die noch nicht geregelten Beziehungen zwischen Bund und Hauptstadt aufzubauen galt. Nicht zuletzt durch diese Gabe des Bundes waren zentrale Passagen des ‚Stölzl-Papiers‘ bereits Makulatur, als die Intendantenkonferenz noch an seiner Widerlegung arbeitete. Eine umfassend korrigierte reduzierte Reformversion ohne Fusionsbestrebungen wurde zwar am 6. März 2001 vom Senat beschlossen, zur Umsetzung kam es aber nicht mehr. Die Verwicklungen des Senats in den Berliner Bankenskandal186 bedeuteten das Ende der großen Koalition und den Regierungswechsel.187 Weiterhin brachte sie eine weitere radikale Verschärfung der finanziellen Situation Berlins ; galt die Lage vorher schon als finanziell extrem angespannt, stand das Land nun vor der akuten Haushaltsnotlage. Es gelang schließlich dem von der SPD/PDS-Regierung gestellten Kultursenator Thomas Flierl ( PDS, später Die Linke), 2002/2003 ein Strukturkonzept für die Berliner Opernlandschaft zu erarbeiten, das erstmalig auch umgesetzt wurde und auf dessen Grundlage die heute gültige Organisation der alle drei Opernhäuser institutionell überdachenden Stiftung Oper in Berlin entstand.188 Der Konzeption voraus ging zunächst ein öffentlicher Diskussionsprozess mit den Intendanten, geschäftsführenden Direktoren, Personalvertretungen, der Deutschen Opernkonferenz, der Berliner Kulturpresse und prominenten Vertretern der deutschen Kulturpolitik, der (im Gegensatz zu den früheren Versuchen) auch die Gründe für ein vormaliges Scheitern der Vorgängerreformversu186 Der ‚Berliner Bankenskandal‘ bezeichnet die Vorgänge um die landeseigene Bankgesellschaft Berlin, deren wirtschaftlicher Zusammenbruch das Land finanziell in Milliardenhöhe belastete. Die Verwicklungen führender Politiker in den Bankenskandal führte 2001 zum Sturz des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen. Vgl. die (journalistische) Aufarbeitung von Rose : Eine ehrenwerte Gesellschaft. 187 Zunächst folgte eine durch die PDS tolerierte rot-grüne Minderheitenregierung, nach den Neuwahlen schließlich die rot-rote Koalition aus SPD und PDS, später die Linke. 188 SenWissKult, Oper in Berlin (Flierl-Konzept).
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che sowie die seit Jahren geführte öffentliche Debatte reflektierte. Damit sicherte sich Flierl nicht zuletzt dagegen ab, automatisch in der Krisenstimmung zerredet zu werden. Seine Handlungsoptionen leitete er von vorneherein daraus ab, in einer geerbten, augenscheinlich ausweglosen Situation Schadensbegrenzung zu betreiben : „Eingezwängt zwischen fiskalischen Zwängen und wirklichkeitsfremden Wachstumserwartungen haben Sie auch die Berliner Kulturlandschaft in eine Krise getrieben, deren Bewältigung Jahre brauchen wird.“189 Die verschiedenen Beiträge und Positionen wurden als Anhang der Senatsvorlage offizielle Teile des Reformkonzepts.190 Hatten die Konzept- und Strategiepapiere zu Beginn der Berliner Opernreformdebatte den Charakter reiner Arbeitspapiere, die intern in Verwaltungszirkeln und vom Senat diskutiert wurden, ohne dass eine transparente Beziehung zwischen Ursachen, Ideen und politischen Taten erkennbar wurde (das ‚Kreise-Papier‘ wie auch der gesamte Konsultationsprozess durch die Unternehmensberatung Synthesis wurden sogar streng vertraulich behandelt), entstand mit der Zuspitzung der Debatte mehr öffentlicher Diskurs. Nach den reinen Gutachten und externen Beratungspapieren ließ Stölzl die drei Opernhäuser eigene Selbstdarstellungen vorlegen ; es gelang ihm jedoch nicht, sie wirklich in sein Konzept zu integrieren – mit den geschilderten konfliktträchtigen Folgen. Flierl setzte den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg der diskursiven wie institutionellen Öffnung der Opernfrage konsequent fort und band die Interessen wie verschiedene Klientel zumindest diskursiv in den Reformprozess mit ein. Das im Anschluss an diesen Prozess vorgestellte Konzept ‚Oper in Berlin‘ sah vor, die drei Opern sowie ein gemeinsames Ballett und die Werkstätten als insgesamt fünf GmbHs unter einem gemeinsamen Stiftungsdach zusammenzufassen. Die künstlerische Eigenständigkeit der drei Opern sollte auf diese Weise bewahrt, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Es gelang, den Bund, der sich zumindest offiziell stets geweigert hatte in Form einer institutionellen Übernahme der Staatsoper in den Berliner Opernangelegenheiten mitzuwirken, in eine ‚strategische Partnerschaft‘ einzubinden, die kein direktes 189 An die CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses, Abgh, Protokoll 15/22, 1539 (D). 190 Vollmer/Eckardt, Oper in Berlin ; Weizsäcker, Kulturforum Mitte ; Hanssen, Der Kuss. Zahlreiche weitere Akteure hoher Arbeitsebenen haben vom Kultursenator erbetene Stellungnahmen abgegeben.
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Engagement mehr in der umstrittenen Opernfrage, aber eine Entlastung des Berliner Haushalts um 21,5 Millionen Euro durch die Übernahme anderer Einrichtungen vorsah.191 Der von zahlreichen Akteuren angestrebte ‚Insellösung‘ einer Bundes-Staatsoper wurde damit endgültig eine Absage erteilt. Neben der Entlastung des Berliner Kulturhaushaltes um die vom Bund übernommenen Einrichtungen sollten die Opern im Gegenzug zu fünfjährigen Zuwendungsverträgen, die den Häusern endlich Planungen jenseits des jährlichen Haushaltsrhythmus‘ ermöglichten, Einsparungen in Höhe von 16,4 Millionen Euro erbringen. Davon entsprachen 9,6 Millionen den 220,5 Personalstellen, die durch die Strukturreform freigesetzt würden und die durch Zusammenlegungen, Stellenpool und Abfindungen die Einsparungen möglich machen würden. Ein innerhalb des institutionellen Gefüges zu schließendes „Bündnis für die Bühnen“ zwischen den Tarifparteien sollte mit Haustarifen die finanzielle Autonomie der Stiftung sichern. Obwohl mit der rot-roten Koalition in einen völlig anderen politischen Kontext eingebettet, kündigte dieses Modell explizit die Staatsferne und mehr gemeinsame Verantwortung an.192 Statt einer „staatlich subventionierte(n) Verdrängungskonkurrenz um das selbe Angebot“,193 welche das von den Intendanten und der dok gewünschte „Freie-Markt“-Modell vorsehe, so Flierl, verbinde sein Vorschlag zur Opernneuordnung die Anforderungen der Sparpolitik mit der Notwendigkeit, eine Entstaatlichung der Bühnen voranzu bringen : „Es geht bei der Opernreform um den Einstieg in die Modernisierung großer Kultureinrichtungen, Stichwort : Hilfe zur Selbsthilfe bei einer Bühnenstrukturreform. (…) Der zentrale Modus zur Schaffung zukunftsfähiger Kulturbetriebe ist deren Entstaatlichung.“194 Damit herrschte weitreichende Übereinstimmung mit der Kulturpolitik des bürgerlichen Lagers, vertreten etwa durch die liberale Auffas191 Federführend war die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Christina Weiss. Der Bund übernahm bereits 2001 fünf Einrichtungen (Stiftung Jüdisches Museum, Berliner Festspiele, Haus der Kulturen der Welt, Martin-Gropius-Bau, Hamburger Bahnhof ) und nun die Akademie der Künste und die Deutsche Kinemathek – aber eben nicht die Opern – und schuf damit die Voraussetzung für die Gründung der Stiftung durch das Land. 192 Flierl-Konzept, 22. 193 Ebd., 34. 194 Thomas Flierl vor dem Kulturforum der Sozialdemokratie : „Perspektiven durch Kultur“ am 25. Juni 2003, abgedruckt auf http ://www.kultur-in-berlin.com.
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sung Norbert Lammerts ( cdu) : „Ein Staat, der Kunst und Kultur mit hoheitlicher Gebärde begegnet, ist sicher kein Kulturstaat.“195 Politisch polemisieren ließ sich nur noch mit der angesichts von Flierls Opernkonzept geäußerten Warnung vor „Staatssozialisten, die auf marktwirtschaftlich machen“.196 Konkrete konzeptionelle Vorgaben, wie jene, an denen sich der Streit um die Stölzl-Reform entzündet hatte, machte das Stiftungskonzept nicht, sorgte aber dennoch für Regulationsmechanismen, die einer bestehenbleibenden staatlichen Verantwortung entsprechen sollten. Nicht zuletzt den Befürchtungen seitens der Parlamentarier (die zunächst eigene Sitze in den Gremien beanspruchten) nach komplettem Kontrollverlust entgegenkommend, wurde mit der zentralen Rolle des Stiftungsrates eine Kontrollkontinuität der staatlichen Akteure geschaffen. Er garantierte Abstimmungsverhältnisse, mit denen das Land bei der Beschlussfassung über Wirtschaftspläne im Zweifelsfall die Mehrheit behielt. Nicht zuletzt gegen den Willen und Widerstand der Intendanten fand zum 1. Januar 2004 die Gründung der Stiftung statt. Dass es nach dieser umgesetzten Reform noch ein Opernkonzeptpapier gab, legt nahe, dass die Probleme, die bewältigt werden sollten, bestehen blieben. Und tatsächlich erwiesen sich die Einsparziele der Stiftungsreform weder im Ertrags- noch im Personalbereich als realistisch, da beim Übergang der lhonachgeordneten Bühnen in die Stiftung bereits ein wesentlicher Teil jener Stellen, die sie in Zukunft laut Opernstrukturkonzept hätten abbauen sollen, schon gar nicht mehr zur Verfügung stand. Die Reduktion um 16,4 Millionen Euro war unmöglich und ließ bereits eine neue Opernkrisenrunde erahnen. Doch dass das nächste Konzept nicht mehr aus der Feder eines Kultursenators oder im Auftrag des Senats entstand, zeigt, dass sich mit der Entstehung der Stiftung grundlegend etwas verändert hat. Es war nämlich Michael Schindhelm, 2004 bis 2006 erster Generaldirektor der Stiftung, der nun aus der internen Perspektive und nicht mit dem politischen Neutralitätsgebot gegenüber konzeptionellen Fragen der Kultur belegt, eine Neujustierung des Modells anregte.197 195 Lammert, Kulturstaat. 196 Plenarrede von Peter Gauweiler (CDU/CSU), BT, Protokoll 15/75, 6537. 197 Es fehle noch immer an entscheidenden Schritten hin zu einer deutlicheren Profilierung von Staatsoper und Deutscher Oper, konstatierte er und schlug vor, die Differenzierung zwischen
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Auch Schindhelms Anregungen wurden von den Intendanten der Opern scharf kritisiert, doch entscheidend dafür, dass sie nicht umgesetzt wurden, war eine ganz andere überraschende Wende in der Berliner Opernpolitik : Im 2007 neu ausgehandelten Hauptstadtfinanzierungsvertrag zwischen dem Land Berlin und dem Bund sicherte der Bund seine umfangreiche Beteiligung an der Sanierung der Staatsoper Unter den Linden mit 200 Millionen Euro zu. Im Gegenzug musste das Land sich verpflichten, diesem Opernhaus eine erhöhte Zuwendung zu sichern (ab 2008 jährlich 41 Millionen Euro) und, um das Gleichgewicht der Opernlandschaft nicht zu stören, den beiden anderen Opernhäusern und dem Ballett zusammen mindestens die gleiche Erhöhung zukommen zu lassen.198 Die Einsparungen, um deren Willen die Stiftung in manchen Augen überhaupt gegründet worden war, erschienen damit hinfällig. Ob die neuen Strukturen dennoch dauerhaft Bestand haben, bleibt abzuwarten. Was dafür spricht, gilt es in den nächsten Abschnitten anhand der spezifischen rechtlichen, finanziellen und betrieblichen Veränderungen abzuwägen, die sich im Zuge des Reformprozesses tatsächlich vollzogen haben. Doch die dargelegten Konzepte waren zunächst einmal nur Konzepte. Die Mehrheit der Überlegungen, Vorschläge und Maßnahmen blieb ohne Ausführung, allerdings nicht ohne Folgen. Denn sie alle dokumentierten und strukturierten die Reaktionen auf den Befund der Krise, die nachlassende finanzielle Potenz des Staates, die sich in der Haushaltsnot des Landes Berlin besonders dringlich zeigte, und die neue geopolitische Lage als gesamtdeutsche Hauptstadt. Inwieweit sich durch die erweiterten Vorstellungen und neuen Begriffe auch der konkrete kulturpolitisch gesetzte Handlungsrahmen der Opernhäuser strukturell gewandelt hat, ist der Gegenstand der folgenden Abschnitte.
den Häusern weniger durch die Beschränkung auf ein bestimmtes Repertoire zum Ausdruck zu bringen als durch eine „neue Physiognomie“. Die Deutsche Oper sollte ein SemistagioneBetrieb werden, in dem immer frische Ko- und Eigenproduktionen das traditionelle Repertoire ersetzen sollten. Vgl. Stiftung Oper in Berlin, Konzept zur Neujustierung des Opernstrukturkonzepts, 06.11.2006, sowie Schindhelm im Tgsp.-Interview, 08.11.2006. 198 Vgl. Hauptstadtfinanzierungsvertrag 2007, 30. November 2007, §2, sowie den Bericht zur Umsetzung seitens des Landes im Tgsp., 13.03.2008.
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2.2 Formelle und informelle Entstaatlichungsprozesse und ihre Rückschläge
Der Diskurs aus kulturpolitischen Konzepten und deren öffentlicher Diskussion stieß Veränderungen an, die zum Teil explizit durch staatliche Intervention – eben die Opernreformkonzepte – entstanden, sich zum Teil aber auch jenseits der direkten Steuerungs- und Verfahrenswege zwischen Staat und Opern entwickelten. Anhand der Finanzierungs- und Rechtsformen, Akteursbeziehungen und Produktionsweisen soll bewertet werden, welche strukturellen Veränderungen sich vollzogen haben, ob der Staat wirklich Kontrolle, Gestaltungs- und Definitionsmacht über seine drei Staatsopern abgegeben hat und wenn ja, an wen. Oder ob, äquivalent zum skizzierten Ringen zwischen formalem Entstaatlichungswillen und konzeptionellen Gestaltungswünschen, die Strukturveränderungen womöglich sogar zu einer „bürokratische(n) Überfrachtung, (welche) die Opern nicht beweglicher machen“199, geführt haben oder gar zu einer neuen „verkappte(n) Form intensiver Staatsaufsicht“200 und damit ‚Rückfällen‘ einer interventionistisch ausgerichteten Kulturpolitik Vorschub geleistet haben. 2.2.1 Neue Rechtsformen
Im Jahr 1992 – dem ersten, in dem der Deutsche Bühnenverein eine gesamtdeutsche Theaterstatistik veröffentlichte – waren von 158 Theaterunternehmen des Landes noch 108 in der Form eines Regiebetriebs verfasst. Zehn Jahre später waren es von 151 Bühnen nur noch 65 ; weitere fünf Jahre später, 2007, von 143 nur noch 37.201 Diese Abkehr vom Regiebetrieb ist eine Entwicklung, die ab Anfang der 1990er-Jahre eine enorme Beschleunigung erfuhr, war die alte Betriebsform in Ost wie West trotz vereinzelter privater Formen bis zur Wie-
199 Vierthaler (Geschäftsführender Direktor der Staatsoper), zit. in BeZ, 05.02.2003. 200 Hassemer (für das Forum Zukunft Kultur), in Wortprotokoll Kult 15/32, Anhörung vom 17.11.2003. 201 Vgl. DBV, Bühnenjahrbuch 1992/93 (bzw. 2001/02, 2006/07), Öffentliche Theaterunternehmen, Spielstätten, Rechtsträger, Rechtsform und Zahl der Plätze in der Spielzeit 1992/93 (bzw. 2001/02,2006/07), 166.
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dervereinigung doch konstant dominant geblieben.202 Die Umstrukturierung der Berliner Opernhäuser fand somit nicht isoliert oder als Ausnahme, sondern im Kontext einer sich landesweit wandelnden Bühnenlandschaft und ihres Verhältnisses zum Staat statt – mal war sie Modell, mal abschreckendes Beispiel, mal hinkte sie den Veränderungen andernorts hinterher, und mal drängte die drastische ökonomische Lage der bankrotten Hauptstadt zu gänzlich neuen Ideen. Doch stets nahm Berlin eine exponierte Rolle in dem Reformtrend ein und steht bis heute im Fokus der Fragen nach dem eigentlichen Charakter dieses Prozesses, seiner ökonomischen Notwendigkeit, den kulturellen Folgen und dem möglichen Ziel, dem er entgegenstrebt. Eigenverantwortliches ökonomisches Handeln von Opernhäusern setzt nicht allein den prinzipiellen Willen seitens der Politik, der öffentlichen Verwaltung und der Opern selbst voraus, sondern bedarf auch rechtlich-struktureller Vorgaben. Da die Rechtsform einer Kulturinstitution deren selbstständiges Wirtschaften maßgeblich begünstigen oder behindern kann,203 zählt die Wahl bzw. Reform der Rechtsform daher zu den wichtigsten Entscheidungen bei der Optimierung der Berliner Opernbetriebe. Welche rechtlichen Veränderungen wurden wirklich wirksam, und welche Folgen hatten sie für die Berliner Opern ? Rechtsformen lassen sich grundsätzlich in solche des öffentlichen Rechts (Regie- und Eigenbetrieb, Zweckverband, öffentlich-rechtliche Stiftung sowie AöR) und des privaten Rechts (GmbH), eingetragener Verein (e.V.), Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), Aktiengesellschaft (AG), Genossenschaft und Stiftung) unterscheiden. Rechtsformen des öffentlichen Rechts unterteilen sich wiederum in rechtsfähige und nicht rechtsfähige institutionelle Gebilde, das heißt, in solche mit und ohne eigene Rechtspersönlichkeit.204 Zu letzteren gehörte das Modell der deutschen Staatsoper par excellence, wie es auch Anfang 202 Vgl. Ebker, Politische Ökonomie, 197f.; ein prominentes dokumentiertes Beispiel einer der sehr wenigen schon früheren Umwandlungen ist das Opernhaus Hamburg, das 1981 eine GmbH wurde, vgl. Ruzicka, Administrative Probleme, 258ff. 203 Schlussbericht Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘, 96 ; Rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen des Betriebes von Theatern, Kulturorchestern und Opern in Deutschland, (‚Raue-Gutachten‘, Kommissionsdrucksache 15/285), 1. 204 Raue-Gutachten, 54ff.
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der 1990er-Jahre in Berlin bestand : der bereits vorgestellte Regiebetrieb, der durch gesicherte staatliche Zuschüsse seine Produkte nicht zu ‚echten‘ Preisen verkaufen muss und dadurch dem freien Markt entzogen wird. Dies erfolgte nicht nur auf der Kosten- sondern äquivalent auf der Habenseite, da jegliche Gewinne eines Opernhauses zumeist in den öffentlichen Gesamthaushalt zurückflossen, so dass praktisch keine Anreize bestanden, höhere Eigeneinnahmen zu erwirtschaften. Finanzielle Mittel, die an einem Posten eingespart wurden, konnten für einen anderen nicht ausgegeben werden. Ein Erfolg an der Kasse mochte die entscheidungspflichtigen Politiker milde stimmen, doch bedeutete er keine relevante ökonomische Differenz. Entsprechend fehlten in der idealtypischen Staatsoper des deutschen Wohlfahrtstaates auch Strukturen zur Einbindung privater Mittel vollständig. Entscheidungen über das leitende Personal wurden von staatlichen Akteuren gefällt, die Wirtschaftspläne von der staatlichen Verwaltung erstellt und kontrolliert. Die Berliner Opern vollzogen im Laufe des Reformprozesses einen Wandel vom kameralistischen, nicht rechtsfähigen Regiebetrieb hin zur öffentlichrechtlichen Stiftung mit privatrechtlichen Tochtergesellschaften. Formal war die erste umgesetzte Reform, die Umwandlung der Opern in landeseigene Betriebe nach §26 der lho noch kein Wechsel der Rechtsform, sondern nur eine Vorstufe, eine Veränderung der Betriebsform. Doch die erlaubte den Bühnen einen Schritt hinaus aus dem in Zeiten des Sparens offensichtlich werdenden Dilemma der unmittelbaren Staatsoper, einsparen zu müssen ohne ansparen zu können. Das heißt, den Opernhäusern war es fortan haushaltsrechtlich möglich, Rücklagen und Rückstellungen zu bilden und Einnahmen zum Teil nicht mehr als geringeren Fehlbetrag, sondern als eigenen Gewinn zu verbuchen. Dem entsprach die Freigabe der Eintrittspreisgestaltung, die den Opernbetrieben erlaubte, mit der ökonomischen Kategorie der Nachfrage zu kalkulieren (anstatt allein mit der kulturpolitischen Kategorie des ‚Wünschenswerten‘, die aber nach wie vor relevant blieb) und gegebenenfalls höhere Einnahmen zu erwirtschaften. Nach den Rechnungszeiträumen der mittelfristigen Finanzplanung durften nun Mittel, die über das EinnahmeSoll hinausgingen, nach eigener Entscheidung der Einrichtung im laufenden oder folgenden Haushaltsjahr verwendet werden ; im Haushaltstitel aufgeführte, aber nicht ausgegebene Mittel konnten gutgeschrieben werden, bei
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geringeren Einnahmen wurde der Gesamtbetrag im folgenden Haushaltsjahr gemindert.205 Eigentlich sollte der im Zuge der Reformen konzipierte kleine aber entscheidende semantische Unterschied zwischen einem Zuwendungsbescheid (jährlich ausgesprochen) und einem Zuwendungsvertrag (für mehrere Jahre auszuhandeln) große verwaltungsrechtliche und kulturpolitische Folgen haben und für die Opern eine Planung über die Zuschüsse mehrerer Jahre rechtlich möglich machen – politisch wurde er, wie geschildert, nicht umgesetzt. Dieser Vertrauens- und Vertragsbruch der Berliner Kultur- und Finanzpolitik hat die Bemühungen, die hinter diesem Wandel standen, deklassiert ; das vorgesehene Tauschgeschäft Freiheit und Planungssicherheit zugunsten von Einsparungen und Strukturreformen kam nicht zustande. Der Senat fiel in den von notwendigen Einsparungen getriebenen Interventionismus zurück und setzte damit jene Werkzeuge außer Kraft, die ihm frei werdende Gelder hätten sichern können. Erst durch die Stiftungsverfassung zum 1. Januar 2004 wurde der Prozess rechtlich realisiert. Einerseits blieb die Stiftung Oper in Berlin als Stiftung öffentlichen Rechts noch immer ein Teil der mittelbaren Staatsverwaltung und hatte damit den Zweck, „öffentliche Aufgaben von besonderem Interesse“ zu erfüllen ;206 das heißt, mit der Umwandlung in eine Stiftung öffentlichen Rechts fand formal keine Privatisierung statt. Der Einfluss der politischen Entscheidungsträger kann in einer Stiftungsverfassung auf vielfältige Weise gesichert, aber auch weitgehend zurückgefahren werden. Die Aufsicht über die Stiftung obliegt weiterhin der für Kultur zuständigen Senatsverwaltung, und die Stiftung existiert nur, solange das Land und seine Organe sie wollen ; sie kann per Gesetz und nur per Gesetz wieder abgeschafft werden. Die Wirtschaftspläne der Betriebe müssen noch immer dem Abgeordnetenhaus vorgelegt werden, und dem Kultursenator bleibt die Bestimmungsmacht über die entscheidenden Personalien weitestgehend erhalten. Andererseits jedoch sind zentrale Funktionen und Rechte, die der Staat über die Opern ausgeübt hat, auf die Stiftung übergegangen. Sie wurden aus dem Trägerschaftsmodell der klassischen Staatsoper herausgelöst. 205 Abgh, Drucksache 12/2871, II, a.a.ff. 206 Vgl. Schlussbericht Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘, 98f ; v. König, Kulturstiftungen.
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Die Konstruktion der Stiftung umfasst eine doppelte Entscheidungs- und Kontrollstruktur, welche diese Ambivalenz widerspiegelt : Im Stiftungsvorstand sitzen die Intendanten und Geschäftsführer der Opernhäuser sowie ein Generaldirektor, der die Koordination und Kooperation zwischen den Häuser lenken und verbessern sowie als Schlichter zwischen den opernpolitischen Akteuren agieren soll. Als ehemals hoheitliche Aufgaben hat der staatsfrei besetzte Stiftungsvorstand die Aufsicht über die Wirtschaftsführung der Betriebe, den Abschluss von Tarifverträgen und Dienstvereinbarungen, die Veräußerung von Vermögensgegenständen sowie Anteilen der Tochtergesellschaften und die Beleihung der Liegenschaften übernommen. Er besitzt nun die Dienstherrenfunktion, das heißt die Hoheit über sämtliche Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse sowie die Besitzstände, also alle vom Land für die Opern erworbenen beweglichen Vermögensgegenstände, Rechte und Verträge. Mit einem Vetorecht sichern die Intendanten in diesem Gremium auch die künstlerische Eigenständigkeit ihrer Opernhäuser. Demgegenüber übt der Stiftungsrat, unter dem Vorsitz des Kultursenators (oder einer von ihm ernannten Persönlichkeit), mit dem Finanzsenator, vier vom Abgeordnetenhaus gewählten, aber nicht aus den staatlichen und politischen Institutionen stammenden Mitgliedern sowie einem Vertreter der Arbeitnehmer die ehemals von der Kulturverwaltung eingenommene Kontroll- und Ernennungsfunktion (gegenüber den Intendanten und dem Generaldirektor) aus.207 Von der Senatsverwaltung für Finanzen übernimmt der Stiftungsrat die Ausführung des Haushaltsplans nach der lho. Als zentrale Organisationseinheit wirkt die Stiftung als Puffer zwischen den Opernbetrieben und den staatlichen Strukturen, deren Teil sie ehemals waren. Die Opernbetriebe sind damit Teil einer eigenen juristischen Person geworden (mit der Verantwortung und den dazugehörigen Rechten nach innen und nicht zuletzt dem Recht zu klagen nach außen). Erstmals sind sie in der Lage, den eigenen betrieblichen wie künstlerischen Modernisierungsprozess mitzugestalten und nicht nur auf der Basis weicher und veränderlicher Werte, wie ihrer Bedeutung durch Tradition und dem Glanz der Kunst, einen Status quo zu beanspruchen. 207 Flierl-Konzept, 20.
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Der vorsichtige partielle Rückzug aus den Kontrollgremien zugunsten externer Expertise und den zum Teil opernzugehörigen Interessengruppen, wie den Personalvertretungen aber auch den Freundeskreisen, lässt sich dabei durchaus als Transformation kulturstaatlicher Hoheit begreifen : Die zentrale Aufsicht und Verantwortung bleibt als staatliche Kernfunktion erhalten, die konkreten Aufgaben (Personalentscheidungen, Erstellung der Wirtschaftspläne etc.) aber, werden auf verselbständigte Einrichtungen und Gremien verlagert. Es hat somit kein einseitiger Abbau von staatlicher Präsenz und Kontrolle stattgefunden, sondern eine komplexe ‚Anlagerung‘ von mehreren staatlichen, staatlich beauftragten und privaten Akteuren, deren Entscheidungen und Handeln ineinandergreift. Zwar zeugt das Vetorecht des Kultursenators im Kontrollgremium Stiftungsrat (etwa in Personalfragen) von einem gezielten Bemühen, die Steuerung zu Gunsten der staatlichen Akteure zu sichern. Doch wird diese Konzentration von Entscheidungsmacht durch das Zusammenspiel der Gremien und der verschiedenen darin vertretenen Akteurstypen aufgefangen. Vor allem in Anbetracht der Lähmung der Berliner Opernpolitik, welche durch die im Senat wie im Abgeordnetenhaus immer wieder zu Tage getretene Angleichung zwischen administrativer Kontrollfunktion und künstlerischem Urteil entstand, kennzeichnet den Reformprozess eine positiv zu bewertende Form der Entstaatlichung. Der Gewinn der institutionellen Umwandlung liegt dabei weniger in der finanziellen Entlastung des Landes Berlin, als vielmehr in der Ausdifferenzierung vormals konvergenter strategischer/politischer und operativer/administrativer Steuerung der Ökonomie der Oper durch die Übertragung der verschiedenen Aufgaben auf staatsferne oder halbstaatliche Gremien.208 Der Umstand, dass konkurrierende Interessen nicht umgehend für ein reibungsloses Funktionieren der Stiftung Oper in Berlin sorgten und sorgen, stellt dabei nicht ihre Unabhängigkeit und Stabilität in Frage. Als die Wirtschaftspläne der Opern 2005 nicht ordnungsgemäß dem Unterausschuss Theater vorgelegt wurden, sahen sich die dort über Jahre die Operngeschicke der Stadt lenkenden Abgeordneten ungewohnt hilflos – die Berliner Zeitung hielt nach einer Sitzung der Kulturpolitiker fest : „Viele Möglichkeiten, in die Stiftungsin208 Mit der geplanten schlussendlichen Einsetzung der Aufsichtsräte in allen fünf ausgegründeten GmbHs wäre der Staat in der Steuerung der Opern dann weder politisch noch rechtlich vertreten gewesen ; aktienrechtliche hätten verfassungsrechtliche Gefüge abgelöst.
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terna einzugreifen, bleiben ihnen ja nicht.“209 Den immer wieder auf die politische Agenda gehobenen Wunsch, unter anderem des Regierenden Bürgermeisters und ab 2006 auch als Kultursenator verantwortlich zeichnenden Klaus Wowereit ( S P D ), die Staatsoper doch dem Bund zu übergeben, hat die Stiftungsstruktur ebenso überlebt wie die anhaltenden Abstimmungsschwierigkeiten der ihre Autonomie mit Ablehnung der Dachorganisation verteidigenden Intendanten und der wiederholten Erklärung, sie sei schlichtweg überflüssig.210 Dieser Beweis folgte in aller Konsequenz, als mit den oben dargestellten zusätzlichen Zahlung des Bundes an die Staatsoper und der Anhebung der Mittel an die beiden anderen Opernhäuser die ursprüngliche Existenzberechtigung der Stiftung, nämlich die Sparvorgaben, wegfielen. Die Stiftung funktionierte – nicht als Sparinstrument, sondern als zukunftsträchtiges Modell einer Loslösung der Opern aus den zunehmend beschränkten Handlungsfeldern der öffentlichen Hand. Mehr noch, es lässt sich sogar argumentieren, dass erst die institutionelle Stabilität und gesicherte Unabhängigkeit von den Berliner Verwaltungsstrukturen die Zahlungen des Bundes ermöglicht haben und somit neue Mittel für die Berliner Opern erfolgreich generiert werden konnten. Deutlich ist weiterhin geworden, dass Einsparungen öffentlicher Mittel und Entstaatlichungstendenzen im Fall der Berliner Opern keinesfalls gleichzusetzen sind – sosehr das die politische Rhetorik auch manchmal nahelegen mochte. Vielmehr zeigte sich in finanzieller Hinsicht durchweg eine verordnete Sparsamkeit oder Ermächtigung des Staates über die Mittel der Opern, in der mitunter kulturpolitische Steuerung und Erpressung der mächtigen Intendanten nahe aneinanderrückten. Zwar durften die Opern seit der Betriebsformreform Rücklagen bilden, doch die Verfügungsgewalt des Landes blieb dadurch unangetastet. Noch im Jahre 2000 hatte die Stiftung Deutsche Klassenlotterie den Berliner Opernhäusern 6 Millionen D-Mark bewilligt, die diese real aber nie 209 BEZ, 31.10.2005. 210 Risikofaktoren waren vor allem die Neubesetzung des Senats, in dem kein Kultursenator mehr vertreten war, sondern die Aufgaben von der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters übernommen wurden ; der aber stand der Stiftung eher ablehnend gegenüber. Hinzu kam der Regierungswechsel auf Bundesebene, wo unter CDU-Beteiligung ein einseitiges Engagement zugunsten der Staatsoper verstärkt wurde. Nicht zuletzt in der Presse wurde die Stiftung immer wieder totgeredet – von „Opernapokalypse“ im Jahr 2006/07 war die Rede (DW, 01.01.2006), vom „Placebo“ (taz, 16.09.2006) oder von einer „Milchmädchenstiftung“ (FAZ, 18.09.2006).
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bekommen haben. Zwar hatte die Kulturverwaltung, welche die Lotteriemittel für die Opern beantragt hatte, versprochen, damit Tarifsteigerungen und Defizite auszugleichen, doch senkte der damalige Senator Stölzl den Opernetat um den gleichen Betrag von 6 Millionen D-Mark ab – mehr als eine Umverteilung der Kosten hatte also nicht stattgefunden.211 Als zur gleichen Zeit die Empörung über die fehlenden Absprachen zwischen den drei Opern wuchs, erklärte Kultursenator Stölzl kurzerhand, alle nicht personalgebundenen Mittel zukünftig daran zu binden, dass die Intendanten sich einigen, was ihre Bühnen spielen.212 Auch 2003 wurden ersparte Rücklagen der Staatsoper (7,6 Millionen Euro) und der Komischen Oper (1,8 Millionen Euro) von Kultursenator Flierl einkassiert, um den Einsparungen im Nachtragshaushalt gerecht werden zu können.213 2.2.2 Finanzquellen
Weniger Staat heißt nicht nur im Fall der Oper in erster Linie weniger staatlich verteiltes Geld. Über die Chancen und Risiken des Sponsoring, neuen Formen des Mäzenatentums und Strategien lukrativen Marketings sowie deren Möglichkeiten, den sich finanziell zurückziehenden Staat zu ersetzen oder zu ergänzen, ist in den vergangenen zwei Dekaden eine wachsende und immer spezialisiertere Menge an Literatur erschienen. Neben praxisorientierten Ratgebern und Leitfäden analysieren und beurteilen auch ökonomische und kulturpolitische Studien das breite Feld dessen, was heute Kulturförderung bedeutet und wie sie zustandekommen kann ; eine ganze neue Disziplin, das Kulturmanagement, hat sich für die Behandlung dieser Fragen entwickelt.214 Eine vollständige Analyse neuer Finanzierungsinstrumente und Einkommensquellen von Opernhäusern ließe sich aus deren Perspektive weit umfangreicher ausführen. Hier soll allein im Rahmen des geschilderten Reformprozesses und vor dem 211 Vgl. taz, 05.05.2000. 212 Vgl. Tgsp., 05.12.2000. 213 Vgl. Mopo, 17.02.2003. 214 Vgl. etwa Loock, Kulturmanagement ; Heinze, Kulturfinanzierung ; Stachwitz/Toepler, Kulturförderung ; Heinrichs, Kulturpolitik ; Ebker, Politische Ökonomie ; Reichard, New Public Management.
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Hintergrund der davon herausgeforderten Traditionen die Bedeutung neuer Gelder für die Opern als ein Merkmal eines möglichen Privatisierungsprozesses betrachtet werden. Im Anschluss an die eingangs vorgestellte Typologie von Hillman-Chartrand und McCaughey nimmt die Bedeutung von privater Kulturfinanzierung im ‚Architekten-‘ oder ‚Ingenieurs-Staat‘ eine nur geringe Rolle ein, und entsprechend gilt zwar in Deutschland das bürgerschaftliche Engagement im Kultursektor als sehr ausgeprägt, die finanzielle Unterstützung – sowohl durch Privatpersonen als auch aus der Privatwirtschaft – jedoch als traditionell schwach.215 Nicht nur der erhöhte Bedarf in Zeiten knapper öffentlicher Kassen, sondern auch der sukzessive Wandel, sowohl der rechtlichen Rahmenbedingungen als auch des strategischen Interesses privat Kultur zu fördern, hat diese Sachlage verändert. Auch der traditionell staatlich versorgte Hochkulturbetrieb hat in den vergangenen 20 Jahren erlernen müssen, neue Gelder und Mittel zu generieren. Nun nahm Berlin in Hinblick auf neue Finanzierungsstrategien für den Kulturbereich wahrlich keine Vorreiterrolle ein, und gerade die Opern befreiten sich nur träge und meist passiv aus „vergangene(r) Versorgungsmentalität in Ost wie West“.216 Noch 1996 zeigte sich der Intendant der Deutschen Oper, Götz Friedrich, seit 1981 in diesem Amt, in der Zeitschrift Opernwelt skeptisch gegenüber allen neuen privaten Geldquellen und verkündete selbstsicher, für Sponsoren oder Bürgerinitiative interessiere er sich nicht und glaube nicht an deren Zukunft.217 An anderer Stelle rühmte er sich, bei ihm bekämen Spender und Sponsoren keinerlei Gegenleistung – sie „werden im Jahresprospekt und im
215 Vgl. etwa Becker, Kulturfinanzierung ; Naumann, Form, 81ff.; Mack, Lage, 35 ; Hoffmann, Einleitung, 9f.; auch Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Drucksache 16/7000 Kap. 3. Der häufig platzierte Topos von der fehlenden Tradition eines kulturfördernden Bürgersinns in Deutschland ist zumindest um die Feststellung zu ergänzen, dass die Finanzierungsstrukturen der Staats-Theater die Bedingungen dafür nicht geschaffen haben – das gilt umso stärker für Berlin, wo die Opern, wie dargestellt, nicht nur als Selbstverständlichkeit in kulturstaatlicher Verantwortung lagen, sondern eine bestimmte Form von Staatlichkeit zur Schau stellen sollten. 216 Kultursenator Thomas Flierl vor dem Kulturforum der Sozialdemokratie. 217 Interview in : Opernwelt 1/1996, 21–25.
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Almanach genannt, mehr nicht“.218 Es herrschte ein tiefes Vertrauen in die Netzwerke der (West)berliner Politik und in die Fürsorge des Staates ; der Wille, „der Staat muss in der Verantwortung bleiben“,219 war die alternativlose Vorstellung eines bedeutenden Intendanten einer zu Ende gehenden Ära. In Berlin exemplarisch neue Wege der Kulturfinanzierung aufzuzeigen, bedeutet die Dokumentation eines vergleichsweise schwerfälligen Prozesses, den etwa die Opern in München oder Hamburg konsequenter gegangen sind. Es lässt sich jedoch gerade hier gut zeigen, wie sich zwar langsam, aber unmittelbar mit der intensiven Diskussion um die Zukunft der Berliner Opernlandschaft sowie den beschriebenen Betriebs- und Rechtsformreformen zusammenhängend, neue Finanzierungsformen zu entwickeln beginnen konnten. Vor allem die Opern im Ostteil der Stadt, die schon der politische Systemwechsel ebenso schnell wie unerwartet vor neue ökonomische Denkmodelle gestellt hatte, zeigten unter dem Druck, sich auch als alte Oper reform- und modernisierungsfreudig zu zeigen, mehr Offenheit gegenüber neuen, nicht-staatlichen Finanzierungsformen und -quellen. Exotische Überlegungen, wie ein Crossborder-Leasing der Staatsoper, um ihre Sanierung finanzieren zu können, und Horrorfantasien von arabischen Scheichs, die die Berliner Opern in Besitz nehmen könnten, belebten zwar die Diskussion, allerdings nicht die finanzielle Lage.220 Denn trotz der Einsparungen ist der prozentuale Anteil der Landesmittel an den Haushalten der Opern seit Anfang der 1990er-Jahre insgesamt nur leicht gesunken (während deren Anteil am Kulturhaushalt von 18 % auf bis zu 26 % angestiegen ist).221 Die stärkste Umstrukturierung der Einnahmen hat die Staatsoper vollzogen, die 1992 noch zu 87 % aus Zuschüssen Berlins gefördert wurde ; 15 Jahre später speiste sich der Haushalt der Oper zu ‚nur noch‘ rund 70 % aus öffentlichen Landesmitteln. Auch an den beiden anderen Häusern fand ein schwankender Rückgang statt, der aber insgesamt geringer ausfiel : Der Anteil öffentlicher Mittel an den Einnahmen der Deutschen Oper, der bei über 85 % lag, ging zu218 Gespräch mit dem Spiegel, 35/1993, 182. 219 Vgl. SZ, 28.11.1998. 220 Vgl. die Berichte in der FAZ sowie der Tageszeitung Junge Welt vom 19.02.2003 sowie DW, 27.02.2003. 221 Vgl. Flierl-Konzept, 3.
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rück auf 80–82 %, der der Komischen Oper sank nur leicht von 86–88 % auf gut 84 %.222 Doch haben sich die Einnahmen qualitativ in einer Weise ausdifferenziert, die von diesen Zahlen nicht ausreichend reflektiert wird. Denn die an Opern übliche Kongruenz von Fixkosten und öffentlichen Zuschüssen sowie variablen Kosten und eigenen Einnahmen, hatte sich in Berlin bis über das Jahr 2000 hinaus immer weiter verschoben. Da vor allem durch Personalkürzungen gespart wurde, kam es tatsächlich zu einer Überdeckung der Fixkosten, das heißt, die öffentlichen Zuschüsse subventionierten nicht allein den institutionellen und personellen Rahmen, sondern auch die künstlerische Arbeit des laufenden Spielbetriebs der Opernhäuser.223 Im Zuge der Reformen hat dann wiederum eine langsame Umlage begonnen, um die künstlerische Arbeit der Opern wieder an deren unabhängige Einnahmen zu koppeln ; dazu gehörte es, die Bühnen in andere ökonomische Beziehungen einzubinden. Zwei zentrale Finanzierungsquellen, die dabei erschlossen wurden, unterscheiden sich zwar quantitativ in der Menge an zusätzlichen Geldern, die sie zu generieren vermochten, dokumentieren jedoch gleichermaßen die Veränderung, die sich in diesem Bereich vollzogen hat : die Kasseneinnahmen und die privaten Einnahmen aus Spenden und Sponsoring. Am deutlichsten lassen sich deren Auswirkungen dort beobachten, wo die größte Umschichtung stattgefunden hat, an der Staatsoper ; doch verlief die Entwicklung bei den beiden anderen Opernhäuser tendenziell gleich. Vor allem die Strategien der Opernhäuser, an der eigenen Kasse höhere Einnahmen zu erzielen, haben sich ausdifferenziert und den Einnahmen durch Kartenverkauf eine signifikante neue ökonomische Dimension gegeben. Die Eintrittspreise der Berliner Opern unterlagen bis 1995 der staatlichen Kontrolle, für jede Erhöhung und Veränderung der Kartenpreise hatte es der Zustimmung der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten sowie für Finanzen bedurft. Dann wurde die wachsende Rolle, die man im Zuge der oben dokumentierten Reformdiskussion der Nachfrage nach Oper beimaß, mit der 222 Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass Berlin hier der gesamtdeutschen Entwicklung hinterherhinkte. Vgl. Theaterstatistik des DBV, Opernvergleich – ausgewählte Eckdaten. Anlage zur Senatsvorlage Stölzl-Papier I ; Wegner, Musik, 128ff. 223 Vgl. DOK, Analysen.
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Umwandlung der Betriebsreform 1995 auch rechtlich umgesetzt. Fortan oblag die Gestaltung der Eintrittspreise, das heißt Höhe, Staffelung und Kriterien für die Ermäßigung der Preise, den Opern selbst.224 Die Strategien, die aus dieser formalen Änderung wirklich neue Einnahmen zu erzielen halfen, folgten nur langsam und vor allem durch Beratungen der dok sowie aus Konzepten der Opernreformen : Verfolgt wurden vor allem vorsichtige Preissteigerungen, Marketingstrategien mit Bemühungen, die niedrigen Auslastungszahlen zu heben, Überprüfung der Vorstellungszahlen, eine sensible Nutzung von ‚Renner-Penner-Listen‘ sowie eine darauf abgestimmte Preisstaffelung. So kosten inzwischen nicht mehr überall nur die Premierenabende mehr Eintritt, sondern an Deutscher Oper und Staatsoper auch Premierenproduktionen mehr als wiederaufgenommene Repertoirevorstellungen ; unter der Woche sind die Karten in der Regel eine Kategorie günstiger als am Wochenende, und Produktionen des Randrepertoires locken mitunter das Publikum mit geringeren Preisen. Ganze Produktionszyklen bedienen mit Preiszuschlägen das touristische Publikum, familiengerechte Vorstellungen oder Abende für Berliner Einwohner (etwa die Berliner Soirées der Staatsoper) tragen dagegen mit Vergünstigungen der noch immer geringeren durchschnittlichen Zahlungsfähigkeit des Berliner Publikums Rechnung. Ermäßigungen für Mehrfachbesucher jenseits der Verpflichtungen durch Abonnements oder an der Abendkasse sowie das institutionenübergreifende Marketinginstrument der Classic-Card, die allen Besuchern bis 30 Jahren bestplatzierte Restkarten für 10 bzw. 12 Euro ermöglicht, haben begonnen, die chronisch schlechten Auslastungszahlen der Opernhäuser und damit nicht zuletzt auch die Einnahmen zu heben. Der Anteil der Kartenerlöse an den Gesamteinnahmen stiegen an der Staatsoper von 9 % Anfang der 1990er-Jahre auf 15 % nach dem Jahr 2000 und liegt nach der Gründung der Stiftung bei rund 20 %. Die Spitze von 37 % erzielte die Staatsoper in der Saison 2002/2003 allerdings nur dank einer lukrative Gastspielreise. An der Deutschen Oper sank dieser Anteil nach der Wiedervereinigung von knapp 15 % auf 10 % ab, steigerte sich danach aber wieder auf bis zu 18 % nach der Gründung der Stiftung. Die Komische Oper bleibt mit 1200 Plätzen die kleinste, aber mit zeitweilig unter 60 % Auslastung (in den Jahren 2002– 224 Vgl. die Erörtungen zum TFK Abgh, Drucksache 12/2871.
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2006) auch die am schlechtesten besuchte Oper Berlins. Auf Grund der sinkenden Besucherzahlen stagnierten die Kasseneinanhmen zumindest bei gut 12 bis 13 %.225 Damit verglichen ist die zweite Art zusätzlicher Mittel, private Einwerbungen, quantitativ unbedeutend geblieben. Trotzdem haben hier Einzelleistungen neue Möglichkeiten sichtbar gemacht oder aber Rückschläge dokumentiert, die veranschaulichen, wo die Hindernisse der Entwicklung in Berlin möglicherweise liegen. Eine prominente und beispielhafte Rolle für beide Fälle nimmt der Berliner Unternehmer Klaus Dussmann ein, der zu den wenigen in Berlin ansässigen finanzstarken privaten Kulturförderern gehört. Er spendete bereits 1997 2 Millionen D-Mark an die Staatsoper, um den Aufbau eines eigenen Fundraisingsystems zu ermöglichen.226 Damit brachte er nicht nur eine beachtliche zusätzliche Summe ein, sondern auch einen Gedanken, welcher der Logik der staatlichen Zuschüsse fremd war : eine Investitionssumme gezielt dafür auszugeben, mehr Mittel einzunehmen. So schwer es ist, angesichts der vielfältigen Veränderungen in dem Zeitraum, Kausalitäten und mithin bestimmte Einnahmesteigerungen infolge der Spende festzumachen, so ist doch der professionelle Ausbau eines ausdifferenzierten Freundeskreises der Staatsoper darauf zurückzuführen. Diese Gruppe vermochte, wenn auch keinen markanten Beitrag zum Gesamthaushalt der Oper zu leisten, so doch Einzelprojekte zu ermöglichen, die aus dem allgemeinen Budget nicht finanzierbar gewesen waren. Beispielsweise die (Weiter-)Beschäftigung eines Musiktheaterpädagogen, den Ankauf bestimmter Instrumente oder kleinere Produktionen, die Nachwuchskünstler im Apollosaal oder im Magazin des Opernhauses zur Aufführung bringen, haben durch die Unterstützung des Freundeskreises stattfinden können. Diese Form des Ermöglichens durch private Zusatzmittel stieg aber keinesfalls kontinuierlich und reibungslos als Alternative zur staatlichen Unterstützung auf. Das Beispiel des der Staatsoper zugetanen Unternehmers Dussmann 225 Vgl. neben den oben erörterten Reformkonzepten, die jeweils für kürzere Zeitspannen Zahlen nennen : DBV, Theaterstatistik (1990–2006) ; Oper in Berlin, Zahlen und Fakten (regelmäßige online Aktualisierung : http ://www.operinberlin.de). 226 Vgl. Tgsp., 15.11.1997.
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zeigte auch die Probleme dieser finanziell nicht sehr ergiebigen partiellen Privatisierung der Opernfinanzierung. Im Jahr 1999 wollte der Spender das multimediale Bühnenbild der Staatsopern-Produktion der Giacomo-Meyerbeer-Oper Robert le Diable mit 360.000 D-Mark unterstützen. Ein Abteilungsleiter der Kulturverwaltung legte jedoch fest, dass nur 184.000 D-Mark von der gespendeten Summe für die entsprechende Produktion verwendet werden dürften – der Rest sollte anderen Premieren oder dem allgemeinen Haushalt der Staatsoper zukommen – und düpierte damit den Spender wie die gesamten Bemühungen, private Unterstützer zu finden. Daher mochte die Verwaltungsentscheidung, soweit durchschaubar, formal korrekt gewesen sein, da die Gabe (wiederum formal) nicht den bürokratischen Anforderungen an eine zweckgebundene Spende genügte – politisch aber war der Vorgang nicht haltbar. Die Presse skandalisierte das Ereignis, und dementsprechend legten die Parlamentarier nach : „Wie kann es nur möglich sein, dass einem potenten Sponsor in Berlin quasi untersagt wird, sich selbst auszusuchen, welches Kulturprojekt, welche Operninszenierung er unterstützt !“227 fragte die Kulturpolitikerin Alice Ströver im Abgeordnetenhaus. Die für nur wenige Monate im Amt befindliche Kultursenatorin Christa Thoben riss die kulturpolitische Notleine und ‚rettete‘ das Geld für die Opernproduktion.228 Das Beispiel offenbart, was auch die Beteiligten zugaben : dass durch die Adern der Senatskulturverwaltung noch immer kameralistisches Blut lief und eine massive Verunsicherung darüber herrschte, wie mit der 1995 reformierten Betriebsform umzugehen und die gewünschten Ziele daraus zu entwickeln sein sollten. Dieser Zwischenfall ist deswegen eine Erwähnung wert, weil er symptomatisch zeigt, dass weder die Staatsoper noch der Spender professionell zu handeln in der Lage waren, noch seitens der Kulturverwaltung die nötige Kenntnis bzw. Kommunikation über das probate Vorgehen geflossen war. Dem Ziel, mehr private Gelder für die Staatsbühnen zu generieren, standen mehr tradiertes Wissen und mithin strukturelle Hindernisse gegenüber, als es die Reformanhänger wahrhaben wollten.
227 Ströver (Grüne), Abgh, Protokoll 14/8, 331(A). 228 Vgl. den Bericht von Helmig, Hauptstadt-Skandale ; auch www.gf-kuehn.de.
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Das Vertrauen in die Stabilität der Opernlandschaft war wegen dieser und ähnlicher Ereignisse nur gering ausgeprägt. „Welcher Sponsor will schon Haushaltslöcher stopfen ? !“229 lautete damals die strategisch berechtigte Frage. Die zögerlichen Reformentwicklungen und anhaltende Rechtsunsicherheit haben sich daher auch auf die privaten Einnahmen ausgewirkt und, anders als prognostiziert und gefordert, zur Stagnation oder sogar zum Rückgang der Drittmittel auf dem ohnehin vergleichsweise niedrigen Niveau geführt.230 Die Stiftung Oper in Berlin brachte als eigene juristische Person für Spender und Sponsoren auch Sicherheit über die Verwendung ihrer Gelder. Mit dem Saisonsponsoren Volkswagen hat die Deutsche Oper und mit B M W die Staatsoper je einen antriebsstarken Motor gefunden, der als Großsponsor einzelne glanzvolle Projekte oder ganze Spielzeiten fördert. Die Komische Oper hat mit der Gründung einer Development-Abteilung die kleinteiligen SponsoringEinnahmen am besten vorangebracht.231 Blickt man allerdings über die Grenzen Berlins hinaus und schärft die Erwartungen an den aller Orten geführten kulturpolitischen Fachdebatten, an der Literatur und den Organisationen, Initiativen, Kreisen und Stiftungen, die neue Bündnisse zwischen privatem Geld und öffentlichem Kulturauftrag verkünden und fördern,232 lässt sich eines deutlich feststellen, auch ohne dass es dazu einer empirischen Aufschlüsselung von Haushaltsposten bedarf : Die Opern konnten davon kaum profitieren, es sind hier noch keine stabilen Beziehungen entstanden. Auch bleibt die nach wie vor machtvolle einseitige Auffassung der Wirtschaftlichkeit von Kultur, die eine Beziehung zwischen Kultur und Wirtschaft schwerpunktmäßig als zerstörerische Macht der Ökonomie begreift, in der Berliner Opernfrage dominant. Trotz des finanziellen Rückzugs der öffentlichen Hand und obwohl die Opernlandschaft (inklusive freier Projekte außer229 Helmig, Hauptstadt-Skandale ; vgl. auch allgemein Strasser, Sponsoring. 230 Die Erträge aus Sponsoring lagen vor der Gründung der Stiftung im Erfolgsplan 2003 der SenWissKult bei 400.000 Euro (Staatsoper), 255.700 Euro (Deutsche Oper) und 240.300 Euro (Komische Oper) und damit bei nur gut 0,5 % der Gesamtetats. 231 Mit einer Steigerung, ausgehend von 200.000 Euro im Jahr 2006 auf jährlich 700.000. Vgl. Stellungnahme des Vorstandes zum Schindhelm-Konzept zur Neujustierung der Stiftung Oper in Berlin, 16. 232 Eine gute, wenngleich etwas optimistische Übersicht vermittelt der Sammelband von Hoffmann, Kultur.
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halb der drei großen Häuser) ein zwischen populärem, klassischem und experimentellem Programm ausgeglichenes Angebot vorweist, blieibt die Auffassung Konsens, „Finanzierung mit allen Mitteln und um jeden Preis nötigt die Oper zur Prostitution.“233 Noch 2004, das heißt zum Zeitpunkt, als er Intendant der Deutschen Oper Berlin wurde, wehrte sich der Komponist Udo Zimmermann gegen die verderbende Macht privaten Geldes über die Oper : „Die private Hand wird immer nur das fördern, was populistisch und Aufsehen erregend ist.“234 Nicht nur die künstlerische Freiheit wurde nach wie vor als durch die Unterwerfung unter den Warencharakter der Opern korrumpiert begriffen, auch die Oper als unabhängiger Ort, an dem finanzielle und politische Interessen transzendiert würden, erschien gefährdet. Das zeigte pointiert ein Bericht der Berliner Zeitung über eine vom Stromkonzern Vattenfall gesponserte Gala an der Berliner Staatsoper im Jahr 2004, in dem davon ausgegangen wird, dass sich die Besucher „eine Meinung nicht nur über die Aufführung gebildet haben, sondern auch über den generösen Stromkonzern. Werden die Eingeladenen künftig freier über Vattenfall berichten, unabhängiger entscheiden ? Wird nun die Erhöhung der Strompreise im neuen Jahr begrüßt ? Wie Politiker und Konzerne dabei sind, mit dem Geld der Kunden eine Parallelgesellschaft zu etablieren, davon ist in diesen Tagen wieder zu lesen. Die Orte der Kunst sind ihrer Herkunft nach aber solche auch der gesellschaftlichen Utopie. Auf diesem Parkett ist eine solche Veranstaltung besonders unangenehm.“235 2.2.3 Akteure
Formen der Privatisierung müssen sich keinesfalls nur in großformatigen Veränderungen, wie dem Wandel der Rechtsform oder der Neuordnung von Zuschussverhältnissen, ereignen. Sie können sich auch auf eine Weise vollziehen, die mit dem ehemaligen Berliner Kultursenator Flierl als eine „Entstaatlichung durch Vergesellschaftung“236 bezeichnet werden kann, eine Form von gesell233 Befindet etwa Hoffmann, Musiktheater ; vgl. auch von Loeffelholz, Von der Gewinnorientierung, 75f.; Hampe, Die deutsche Oper, 86f. 234 Zimmermann, Staat und Oper, 334. 235 BeZ, 18.12.2004, 31. 236 Verstanden als „Rekonstruktion öffentlicher Trägerschaft in privatrechtlichen Formen, als
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schaftlicher Solidarität jenseits der formalen Strukturen, die „als Antwort auf die Sparwelle der öffentlichen Hand“237 neue Akteure und Verfahren in die Opernpolitik einbringt. Informalität238 gehört allerdings zum Verhältnis von Oper und Politik, seit es die Oper gibt, und auch in Berlin wurden lange vor den hier untersuchten Entwicklungen Entscheidungen der Opernpolitik hinter den Kulissen getroffen – doch galten sie eher als Teil des Problems denn als Weg zur Lösung : Nach der Wende war noch die finanziell wie sozial bevorzugte Deutsche Oper ein wichtiges Zentrum informeller Netzwerke in Berlin. Man traf sich auf exklusiven Galaabenden oder bei den ‚Dinner-Dance-Partys‘ des Förderkreises auf der Hauptbühne des Hauses, die in plüschigem Dekor und unter prominenter politischer Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ein perfektes Klima informeller politischer Strategien schufen. Hier wurde keinesfalls nur Kulturpolitik gemacht. Immer wieder erinnern einzelne Akteure der Berliner Opernpolitik diese Ereignisse als Treffpunkt des „Berliner Milieus“, einer politisch einflussreichen „Altherrenriege“ oder als „Westberliner Feucht biotop“.239 Diese Beziehungen standen in einem eklatanten Widerspruch zu den formalisierten Verfahren des Regiebetriebs, doch griffen die formellen und informellen Entscheidungswege zugleich so ineinander, dass eine Unterscheidung schwerfiel. Die ab 1995 geschaffenen Distanzen zwischen Staat und Oper verschoben die Balance zunächst Richtung Informalität, denn sie stärkten vor allem persönliche Verbindungen. Mit der Auflösung der geregelten Bahnen und Beziehungen zwischen Kulturverwaltung, Kulturpolitik und Opernhäusern gewannen vor allem die informellen Bindungen alter Kontakte an Kraft. Stabilität war an Stiftungen und/oder gemeinnützige GmbHs, ausgestattet mit mehrjährigen Zuwendungsverträgen, die Planungssicherheit garantieren und die wirtschaftliche Eigenverantwortung und öffentliche Kontrolle dieser Institutionen erhöhen“. Rede von Kultursenator Thomas Flierl vor dem Kulturforum der Sozialdemokratie. 237 Ders. im Interview, Opernwelt 2/1996, 23–25. 238 Vgl. den analytischen Überblick bei Alemann, der mit dem Begriff der „Schattenpolitik“ „diejenigen politischen Aktivitäten (beschreibt), die im Unterschied zur offiziellen Politik nicht oder nur teilweise in die formale Politikformulierung eingehen, obwohl sie Teil der gesamtgesellschaftlichen Politikproduktion sind“, Alemann, Schattenpolitik. 239 Abgh, Protokoll 14/8, 29.03.200, Ströver, 326 (D), sowie Künast (Grüne), 339 (D).
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personelle Kontinuität gebunden und herrschte dementsprechend dort am längsten, wo diese lange gesichert war – in den Leitungsebenen der Verwaltungen. Doch zeitgleich gewannen auch neue Akteure an Gewicht, die vor allem durch die Hauptstadtwerdung Berlins aber auch durch neugeschaffene Gremien und Opernexpertenkreise, wie die Deutsche Opernkonferenz, Teil der Opernpolitik wurden. Diese neuen Beziehungen sind durch eine schwer zu kategorisierende Ambivalenz gekennzeichnet – auf der einen Seite prägt sie häufig noch eine Nähe zu den ‚alten‘ Strategien der Informalität, ihr Handeln ist anschlussfähig an vorhandene Netzwerke, die Ausübung von oder Nähe zu politischen Ämtern rückt formale Ziele und informelle Prozesse bisweilen noch nah aneinander. Kurz : In den ‚Berliner Filz‘ passten „Förder- und Freundeskreise, von distinguierten Sponsoren, (die) gerne unter sich bleiben“240 gut hinein. Auf der anderen Seite lässt der Einfluss dieser neuen Akteure und Beziehungen sich als eine Form der Privatisierung im Sinne der ‚Familiarisierung‘ oder Individualisierung einer vormals öffentlichen Verantwortung begreifen. Sie sind Teil eines ‚Bürgerschaftlichen Engagements‘, das weder an die ‚Ämter‘ noch an deren ‚Ehrenhaftigkeit‘ des traditionellen Ehrenamtes oder alternativen Altruismus gebunden ist, sondern das sich vor allem von der „eigenen Motivation und (den) eigenen Befindlichkeiten anregen“ lässt. Es zeichnet sich weniger durch finanzielle und rechtliche Transfers als vielmehr durch neue Interessengemeinschaften, persönliche Verbindungen und gemeinsame Argumentationslogiken aus, die aber durchaus zu Verschiebungen von Macht und Verantwortung führen können.241 Und sie tun dies in der Berliner Opernpolitik eben dort, wo Prozesse der Entstaatlichung herkömmliche administrative Verfahren gestoppt und formale Verbindungen gekappt haben und neue ebenso formale wie informelle Kommunikationskanäle, Verhandlungsmodi und Verantwortungen entstehen konnten. Die prominenteste Form der privaten informellen Organisation der Berliner Opernpolitik sind die oben bereits als neue Geldquelle erwähnten Freundes-
240 Bermbach, Die Oper, 36. 241 Igl u.a., Ehrenamt, 30 ; vgl. auch den Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, BT Drucksache 14/8900, sowie. http ://www.freundeskreise-kultur.de.
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kreise der Opernhäuser.242 Der Förderkreis der Deutschen Oper Berlin wurde bereits 1982 als Gruppe prominenter und einflussreicher Unterstützer (auf persönliche Einladung des neuen Intendanten Götz Friedrich) gegründet ; gleich nach der Wende entstand der Förderkreis Freunde der Komischen Oper Berlin e.V., im September 1992 der Verein der Freunde und Förderer der Deutschen Staatsoper Berlin e.V. Zunächst war der Einfluss dieser Kreise vor allem durch die informelle Präsenz von Politikern gekennzeichnet und mithin eine Plattform der Überschneidung formal in Politik und Kulturpolitik agierender Akteure und den ‚Strippenziehern‘. Die ökonomische Notwendigkeit der Unterstützung durch einen Freundeskreis spielte in dem Fall noch eine völlig untergeordnete Rolle. „Neben dem Bedürfnis, das geographisch isolierte WestBerlin zu unterstützen, einte uns vor allem eine ganz besondere Liebe zur Deutschen Oper Berlin“, erinnerte sich das Gründungsmitglied und der langjährige Vorsitzende des Kreises, Edzard Reuter.243 Unter ähnlichen Vorzeichen entstand der Freundeskreis der Staatsoper, in dem meist westliche Politiker und Größen des kulturellen Lebens, allen voran der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, den Anspruch der Oper als gesamtstädtisches oder hauptstädtisches Haus dokumentierten und ihren Einfluss auf dessen Entwicklung jenseits der durch den Kulturföderalismus dem Land Berlin obliegenden Verantwortlichkeit geltend machten (beispielsweise in Form des Engagements Richard von Weizsäckers, den Dirigenten Daniel Barenboim als künstlerischen Leiter der Staatsoper zu gewinnen). Doch im Verlauf der Jahre wuchs nicht nur der wirtschaftliche Bedarf an zusätzlichen finanziellen Förderern, sondern ebenfalls deren eigenständige Kraft, sich auch gegen politische Gremien und Ziele zu formieren. Dieser zunehmende Einfluss ist insofern bemerkenswert und erklärungsbedürftig, da er sich kaum unmittelbar aus dem zusätzlich eingebrachten Geld speisen kann : Nach über 10jähriger Entwicklung trugen bei der letzten öffentlichen Feststellung durch die Kulturverwaltung 2004 die Freunde der Staatsoper nur 1,09 %, die der Komischen Oper 0,81 % und die der Deutschen Oper gerade einmal 242 Bericht über das Symposium des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI : „Wie man sich Freunde schafft …“, in : Neue Musik Zeitung, 56 (2007). 243 Im Grußwort des damaligen Vorsitzenden der Daimler Benz AG in Stuttgart in der Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Förderkreises, 9.
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0,03 % der Ausgaben der Opernhäuser.244 Insbesondere im Vergleich mit dem Finanzaufkommen der ‚Freunde‘ in London oder Paris245 oder mit anderen gemeinnützigen Bereichen, bei denen in Deutschland durchschnittlich immerhin 14 % der Etats durch Freundes- und Förderkreise getragen werden,246 kann das finanzielle Engagement der Berliner Opernfreunde nicht als relevanter Einflussfaktor gelten. Auch personell blieb die Größe der Vereine überschaubar : 2004 gehörten zum Freundeskreis der Komischen Oper 2400 Mitglieder, der mit großem Vorsprung vor dem der Staatsoper mit 885 und der Deutschen Oper mit 253 Mitgliedern rangierte – und selbst diese Zahlen sind erst seit dem Ende der 1990er-Jahre signifikant angestiegen.247 Insofern ist verständlich, warum die Freundeskreise wie auch das Publikum oder Sponsoren in den politischen Auseinandersetzungen im Gegensatz zu den „großen Strippenziehern“ in Politik, Verwaltung und den Opernhäusern der öffentlichen Meinung lange Zeit als die „Machtlosen“ erschienen.248 Doch zeigen sich bei näherer Betrachtung die Dynamik und der Einfluss, den diese Gruppen entfaltet haben. Ihrer Natur entsprechend, sind die dahinter stehenden informellen Mechanismen schwer zu finden und nur durch Indizien zusammenzufügen oder auf der Basis von Informationsflüssen zu rekonstruieren. Neben den Akzenten, die durch bestimmte geförderte Projekte gesetzt werden konnten, und den undurchsichtigen Einflussnahmen, die den Freundeskreisen ‚hinter vorgehaltener Hand‘ immer wieder bei der Personalpolitik zugesprochen werden, hat sich als ein Erfolgspfad der Freundeskreise die Mitentscheidung bei den Opernbauten erwiesen. Bei den Sanierungsplänen der Komischen Oper und der Staatsoper 244 Vgl. Kleine Anfrage der Abgeordneten Meister (FDP) und Antwort (Schlussbericht) der SenWissKult, Abgh, Drucksache 15/11612. 245 Die Friends of Covent Garden, wie der Freundeskreises der Royal Opera in London heißt, sind seit 1962 aktiv, und die über ihn koordinierten Fundraising-Erlöse belaufen sich auf bis zu 20 % der Gesamteinnahmen. In Paris wurde bereits 1980 die Association pour le Rayonne ment de l’Opéra National de Paris (AROP) gegründet, um gezielt nach amerikanischem Vorbild private Unterstützer der Aktivitäten des Hauses zu gewinnen. Sie unterstützen das Haus seit Jahren mit zweistelligen Millionenbeträgen. 246 Vgl. die vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft beim BDI im Januar 2007 vorgelegte Untersuchung zu Fördervereinen und Freundeskreisen von Kultureinrichtungen : www.kulturkreis.eu (Publikationen). 247 Vgl. Abgh, Drucksache 15/11612. 248 FAZ, 18.09.2006.
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wurden die ‚Freunde‘ als Geldgeber und Interessenvertreter unmittelbar mit in die Entscheidungsgremien geholt. Dort agierten sie als Akteursgruppe neben den Opern, der Bau- und der Kulturverwaltung, um Bedarfs- und Kostenprogramme abzustimmen. Nicht mehr Herren der Geister zu sein, die sie zu Hilfe gerufen hatten, glaubten die Akteure der Politik sowie der Oper selbst, als die Freunde 2008 eine Initiative gegen den geplanten Umbau des Staatsopernsaals gründeten. Diese setzte sich nicht nur gegen die Kampagne der Staatsoper und der Senatskanzlei für die modernisierende Sanierung durch, sondern auch gegen das formale Wettbewerbsverfahren. Sowohl die Leitung des Hauses als auch die Mehrheit des offiziellen Gremiums, das aus dem Architekturwettbewerb zur Sanierung der Oper einen Gewinner ermitteln sollte, entschieden zu Gunsten eines Entwurfes des Architekten Klaus Roth, der die vollständige Entkernung des Hauses und den Bau eines modernen Zuschauersaals vorsah.249 Mit der im Opernbereich beispiellosen Mobilisierung einer gegensätzliche politische Lager zusammenführenden Öffentlichkeit, einer zügig lancierten (und bezahlten) Umfrage unter den Berliner Bürgern und nicht zuletzt mit der Ankündigung, im Falle der Umsetzung dieses Entwurfs die gesammelten privaten Spenden in Höhe von 30 Millionen Euro zurückzuziehen, lehnte der Freundeskreis der Staatsoper sich gegen die Entscheidung auf und setzte eine Neuausschreibung der Sanierung, diesmal unter eindeutiger Berücksichtigung der Erhaltung des Saales, durch. In den politischen Gremien hat sich Misstrauen gegen diese Form der Teilhabe nicht nur an der Kunst der Oper, sondern auch an den hoheitlich organisierten Entscheidungsprozessen ausgebreitet. So musste sich bereits Kultursenator Stölzl anlässlich der Diskussion seines Reformkonzeptes 2001 im Kulturausschuss vorwerfen lassen, in Personalfragen zu einem „Spielball der Freundeskreise“ geworden zu sein.250 Und auch 2003 lautete die Kritik in einem Antrag – diesmal jener der Grünen mit einer Alternative zu Senator Flierls 249 Vgl. Sonderheft Theater der Zeit, 8 (2008), das die Ausschreibung, die Entwürfe sowie die in der Debatte zusammengekommenen Argumente dokumentiert und bewertet. 250 So Stöver im Kulturausschussprotokoll, 13/20, 12.03.01. Vgl. auch das Interview mit dem als Berater hinzugezogenen Gérard Mortier, der mahnte : „Der letzte Reformversuch von Herrn Stölzl ist gescheitert, weil sich die Lobbys der Herren Barenboim und Thielemann bekämpfen, wobei es da gar nicht nur um Kunst geht“, BZ, 30.06.2003.
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Stiftungsmodell –, dort sei „alles hineingeschrieben, was Interessengruppen in dem Gesetz gern lesen würden“.251 Als Multiplikatoren und Türöffner erfüllen die Freunde eine Mittlerfunktion, die schließlich in die Befürchtungen mündete, sie würden diesen Einfluss auch auf die konzeptionelle Arbeit der Opern geltend machen.252 Es haben sich im Zuge der Veränderungen der Berliner Opernlandschaft aber auch Beziehungen entwickelt, an denen zwar politische Akteure und staatliche Verwaltungen beteiligt waren, die aber mitunter ganz und gar nicht dem ‚rechten Weg‘, den Normen und Verfahren des deutschen föderalistischen Kulturstaates entsprachen. Was etwa die Berliner Staatsoper Unter den Linden und den Bundesstaat verbindet, ließ sich lange in keinem Gesetz und keiner offiziellen Vereinbarung nachlesen. Nach dem Ende der Berlin-Alimentierung im Jahr 1995 waren im Rahmen des Hauptstadtvertrages pauschale Zuschüsse und später in den Hauptstadtkulturverträgen Übernahmen einzelner Organisationen vereinbart worden – die Opern gehörten nicht dazu.253 Doch gab es neue Bündnisse, die diese Beziehungen zu knüpfen verstanden : Parallel zur Ausarbeitung von Strukturkonzepten des Berliner Senats verfolgten die Opernfreunde der Bundespolitik eigene Pläne. In den Räumen der Staatsoper verhandelten 2003 die Parteivorsitzenden der CDU und der f dp, die kulturpolitischen Sprecher der verschiedenen Bundestagsfraktionen und Mitglieder des Kulturausschusses mit der Führung der Staatsoper.254 Ähnliche Gesprächsrunden hatte es drei Jahre zuvor bereits im Kanzleramt gegeben, in denen Daniel Barenboim unmittelbar mit dem Kulturstaatsminister und dem damals sozialdemokratisch besetzten Kanzlerbüro verhandelte. Auf diese Weise wurden die bereits im letz251 Abgh, Protokoll 15/40, 3115(C). 252 Vgl. die kleine Anfrage Abgh,15/11612. 253 Im 2. Hauptstadtkulturvertrag wurde allein der Auftrag der Weiterleitung der 3,5 Millionen D-Mark jährlich an die Staatskapelle festgeschrieben ; im 3. schließlich die einmalige Zahlung von 200 Millionen Euro für die Sanierung der Staatsoper Unter den Linden. 254 Eckhardt Barthel, kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, berichtete von diesen neuen opernpolitischen Allianzen, die außerhalb der entsprechenden Gremien auf Landes- oder auch auf Bundesebene entstanden waren : „Sie haben die Diskussion also nicht hier geführt, sondern in der Staatsoper (…). Dort (saßen) auch die beiden Parteivorsitzenden (Angela Merkel und Guido Westerwelle, SZ). Herr Otto (kulturpolitischer Sprecher der FDP, SZ), und auch Herr Gauweiler (CSU, damals Stellvertretender Vorsitzender des SZ) saßen daneben.“ BT Protokoll 15/75, Debatte vom 13.11.2003, 6544 (A).
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ten Kapitel erörterten Sondermittel, ein Geschenk des Kanzlers Gerhard Schröder in Höhe von 3,5 Millionen D-Mark, für die Staatskapelle gesichert. Umgekehrt erbrachte das Opernhaus kulturelle Leistungen, mit denen es die Nähe zum Bund zeigte, etwa Konzerte zum nationalen Festakt am 3. Oktober vor dem Brandenburger Tor. Zu Bedeutung kamen diese Verbindungen, da sie auch seitens der Staatsoper als Vorstufe für eine zukünftige offizielle Regelung gedacht waren, die auf dem Weg einer vollständigen Übernahme der Oper durch den Bund vollzogen werden sollte. So verkündete der g m d des Hauses, Barenboim, wiederholt (im Streit) seine Weigerung, Gespräche mit den Berliner Kultursenatoren fortzusetzen ; zuletzt im Zuge der Verhandlungen im Vorfeld der Stiftungsgründungen 2003 war er sich seiner neuen Bündnispartner offenbar sogar so sicher, dass er Kultursenator Flierl explizit als „irrelevant für die Zukunft“255 abschrieb. Die Stiftungsgründung unterminierte diese informellen Beziehungen insofern, als sie den Bund als Mitinitiator und Investor einband, aber damit zugleich der Übergabe der Oper Unter den Linden oder anderen konkreten Bindungen zwischen Bund und Hauptstadtopern eine endgültige Absage erteilte. Diese Lösung, die einen beispielhaften Versuch abbildet, den Kulturföderalismus mit den neuen Anforderungen an die Hauptstadt zu versöhnen, muss sich seitdem jedoch nicht nur gegen die internen Konflikte der Opernlandschaft behaupten, sondern auch gegen die alltäglich gelebte Repräsentationspraxis der Hauptstädter, die genau jene Verbindungen darstellt, die formal eigentlich gar nicht existieren. Unterscheiden sich nun die in jüngeren Jahren in der Berliner Opernlandschaft wirkungsmächtigen informellen Strategien von den früheren, und haben sie etwas mit den Entstaatlichungsprozessen zu tun ? Es lässt sich zumindest vor den gerade geschilderten Beispielen die These vertreten, dass sie sogar ein zentraler Ausdruck dessen sind. Denn mit der Einheit von Staat und Oper ging auch die Einheit von informellen und formalen Strukturen einher, das heißt, die Akteure, die durch die staatlichen Institutionen das Geschick der Opern steuerten, waren (weitestgehend) dieselben, welche sich der informellen Angebote der Opern bedienten. Diese Kongruenz hat sich weitgehend 255 taz, 03.02.2003, nochmals im Interview in : DZ, 17.12.2003.
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aufgelöst. Bei der gängigen Metapher des ‚Filzes‘ bleibend – der eben ein nicht trennbares, übergangsloses und strukturloses Gewebe aus informellen und formalen Strategien versinnbildlicht –, sind aus diesem nun miteinander verflochtene oder sich umeinander windende Stränge geworden, die aber unterscheidbar bleiben und weitgehend mit unterschiedlichen Personen und Akteursgruppen besetzt sind. Was negativ als überlebter ‚Klüngel‘ und reformresistentes Gegengewicht neuer Strukturen gelten kann, lässt sich somit positiv auch als eine ‚Entfilzung‘ betrachten, die nicht nur eine Balance zwischen staatlichen und privaten, sondern auch zwischen formalen und informellen Kräften herstellt. Damit wurden nicht zuletzt die kultur- und gesellschaftspolitischen Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ausgebaut, die vormals in den innerbetrieblichen Prozessen staatlicher Verwaltungen verschlossen waren. 2.2.4 Festivalisierung
Ein weiteres Phänomen, das sich weit abseits politischer Reformkonzepte oder Instrumentarien staatlicher Steuerung vollzogen hat, aber das deutsche Modell der staatlich gelenkten großen Oper mit Repertoire und Ensemble und seine ökonomischen Funktionsweisen mindestens ebenso stark verändert, ist die Festivalisierung der Berliner Opernlandschaft.256 Es ist ein internationales Phänomen : Festivals boomen.257 Parallel zur wachsenden finanziellen Not der Stadt- und Staatstheater, mit ihrer niedrigen Publikumsauslastung und daher schwierigen Legitimation der eigenen Existenz, florieren Festivals und Festspiele. Festivals sind in der Regel im Gegensatz zum regulären Opernbetrieb zeitlich begrenzt, finden an einem exponierten Ort statt, sind programmatisch enger bzw. konzentrierter ausgerichtet oder glänzen mit international bekannten Stars. Dabei verfügen sie meistens weder über ein eigenes Sängerensemble noch über ein eigenes Orchester, Chöre oder eine feste technische Mannschaft. Damit sind Festivals oder Festspiele ihrer Form nach nicht nur geeignet, ein (regionales, nationales oder internationales) repräsenta256 Vgl. Macho, Fest ; Häußermann/Siebel, Festivalisierung. 257 Vgl. Wanhill, Some Economics ; Eckardt, Feste !.
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tives Forum zu schaffen und wie seit jeher als Feste Sinnstiftung und Gemeinsamkeit zu schaffen258 oder einen Ort, eine Stadt als Glanzpunkt herauszuputzen. Sie unterscheiden sich auch von der Organisations- und Finanzierungsform her vom regulären Opernbetrieb. Diese doppelte Differenz, erstens, mit höherem Aufmerksamkeitswert auch höhere Kasseneinnahmen zu erzielen, und zweitens, Produktionen durch gezieltes Engagement von solistischem, kollektivem und technischem Personal sowie den Einkauf von Gastspielen zu realisieren, ermöglicht als ökonomische Strategie eine weit höhere Selbstfinanzierung, als sie der feste Opernbetrieb erzielen kann.259 Die Mittel können, anders als bei einem ‚normalen‘ Opernhaus, gezielt für die einzelnen Produktionen eingesetzt werden. Genau dies ermöglicht, die Kosten klar zu benennen und zumindest Teile davon sinnfällig an sichtbare künstlerische Leistungen und Produkte zu knüpfen, für die sich dann wiederum leichter Projektsponsoren oder -spenden finden. Deren finanzielle Leistung und mithin eigene Werbung soll in der Regel mit einer konkreten, meist künstlerischen Leistung in Zusammenhang gebracht werden, nicht mit einer bürokratischen Maschinerie, Tariferhöhungen oder Lohnnebenkosten.260 Diese Vorzüge entsprechen – kaum zufällig – genau jenen beiden wichtigsten Bedingungen, welche die Staatsbühnen befähigen könnten, sich aus dem angesichts des Rückzugs der staatlichen Mittel versagenden System zu befreien, und die der Komponist und ehemalige Intendant der Salzburger Festspiele Peter Ruzicka als „Prinzip der personellen Mobilität und Flexibilität“ und „Primat des künstlerischen Leistungsprinzips“ benannt hat.261 Das heißt, wie beim Festival sollen auch an den Opernhäusern mehr projektbezogene künstlerische Dispositionen möglich sein, die sich so weit wie möglich am Kunstprodukt und 258 Stollberg-Rilinger, Verfassung, 9ff. 259 Typisch ist (etwa bei den zu 70 % selbstfinanzierten Salzburger Festspielen) die Aufteilung in Hauptsponsoren, welche die ganze Festival-Saison unterstützen, und gezielte Projektsponsoren für einzelne Produktionen. 260 Dabei geht es beim Sponsoring keinesfalls nur um Starkultur. Gerade Programme, die gut in einen aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs passen (etwa die musikalische „Education“-Arbeit während des ‚Pisa-Schocks‘) gewinnen leichter Unterstützung. Vgl. Heinze, Kulturfinanzierung, darin insbesondere Preiß, Anforderungen, 150 ; Billand, Braucht die Wirtschaft das Musiktheater ? 261 Im Interview der Opernwelt 1/96, 30f.
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nicht am Apparat orientieren. Die ökonomische Strategie des Festivals gehört daher zu den zentralen Entstaatlichungsprozessen der Berliner Opernlandschaft, und zwar in einer Weise, in der sich die eben dargestellten formalen und informellen Prozesse vereinen. Denn in der Tat ist in der Berliner Opernlandschaft in den vergangenen Jahren die Programmplanung kurzfristiger, projektartiger und erlebnisorientierter geworden. Wo klassischer Weise der Repertoirespielplan lief, aus dem ab und zu das Ereignis einer neuen Premiere hervorstach, folgt nun häufig ein ‚Event‘ dem nächsten. 1996 begann die Staatsoper zu Ostern ‚Festtage‘ anzubieten, die aus einer Wagner-Premiere, zwei Repertoireproduktionen und einigen Konzerten unter der Leitung des g m d bestanden ; 1999 wurden diese um das ‚Mozartfest‘ zu Pfingsten erweitert. Bei beiden Quasi-Festivals war unabhängig von den hohen Eintrittspreisen, die während dieser Tage verlangt wurden, eine enorme Nachfrage zu verzeichnen.262 Gleiches galt für die vollständigen Zyklen aller Beethoven-Sinfonien und Klavierkonzerte, bzw. aller Richard-WagnerMusikdramen, die das Haus 2000 und 2002 anbot. Die Deutsche Oper verfolgte mit den Ende der 1990er-Jahre geschaffenen ‚Festwochen‘, die stets einem bestimmten, im Repertoire des Hauses prominent verankerten Komponisten gewidmet sind, ein ähnliches Ziel. Mit ‚Verdi-, Strauss-‚ Puccini- oder Wagner wochen‘ gelang es, dem normalen Spielbetrieb Festivalcharakter zu verleihen. Des Weiteren brachte das Haus beachtete Koproduktionen mit bedeutenden Opernhäusern und -festspielen auf den Spielplan. Das dritte Opernhaus der Stadt zog schließlich in der Spielzeit 2007/2008 mit dem ‚Komische Oper Festival‘ nach, einem mit Rahmenprogramm ergänzten Überblick über die neuen Produktionen am Ende der Spielzeit. Exklusive Galaveranstaltungen und multimediale Massenspektakel, wie etwa die Live-Übertragungen von starbesetzten Produktionen aus der Staatsoper auf den Bebelplatz demonstrieren einer mal exklusiven, mal breiten Öffentlichkeit die Besonderheit und Einmaligkeit solcher Ereignisse. Die Leistung der Opernhäuser besteht bei diesen Veranstaltungen darin, den natürlich weiterhin laufenden Betrieb in möglichst sinnfällige Einheiten zu unterteilen, die dem Publikum einerseits und privaten Geldgebern andererseits angeboten werden können. 262 Vgl. Kulturausschuss, Abgh, Ausschussprotokoll 13/30 (Beschluss).
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Das heißt zum einen, es gelingt gegenüber dem umkämpften Publikum Ereignisse mit ‚Erlebnischarakter‘263 zu schaffen, die der paradox erscheinenden Opernroutine des allabendlich Neuen entgegenstehen. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist vor allem ein Vorteil im Wettbewerb zwischen den drei Berliner Opernhäusern, die alle um das touristische Publikum buhlen, um ihre, angesichts der gestiegenen Legitimationspflicht heiklen Auslastungsprobleme zu verringern. Vor allem Besucher der Stadt lassen sich dadurch ansprechen. Die Touristen, die allein der Kultur wegen nach Berlin kommen und eine mittlerweile beachtliche ökonomische Bedeutung für den Kultursektor haben,264 lassen sich gezielt durch große Namen und Projekte anwerben und sind eine zahlungskräftige Zielgruppe, auch über den Opernbesuch hinaus. Daher sind die in den Spielplan gestreuten ‚Festtage‘ der Opern, die überregional und international beworben werden, sowohl teurer (die Karten kosten bis zu 50 % mehr als sonst) als auch besser ausgelastet, meist sogar ausverkauft. Dieses Prinzip funktioniert auch umgekehrt, insofern als die Opernhäuser versuchen, sich auf lukrativen Gastspielreisen zu präsentieren. Mitunter sind durch solche Gastspiele die gleichen Einnahmen erzielt worden wie an der Kasse in Berlin in einer ganzen Spielzeit.265 Zum anderen erlaubt die Festivalisierung, neue Mäzene und Sponsoren zu gewinnen, da sie eine Dynamik der wechselseitigen Verstärkung von Aufmerksamkeit erlaubt : Der Besonderheit solcher Veranstaltungen wird durch eine exponierte Bewerbung Geltung verschafft, die von einer erhöhten Aufmerksamkeit (zunächst innerhalb der Fach- oder Besucheröffentlichkeit) begleitet wird, die wiederum einen größeren Anreiz für unternehmerische Geldquellen bildet, die durch eine Unterstützung des Projektes ihre Selbstdarstellung ebenso intensivieren wie jene des Opernereignisses. Darüber hinaus erhalten die Spender und Sponsoren eine erhöhte Sicherheit – zwar keinen Einfluss auf die konkrete Verwendung der Gelder (das Nichteinmischungsgebot wird auch gegenüber privaten Förderern beansprucht), aber doch darauf, dass die Mittel nicht in unbekannten Betriebsabläufen oder dem allgemeinen Etat versickern. 263 Vgl. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft ; Bermbach, Oper. 264 Vgl. Roloff-Momin, Kulturstadt Berlin ?, 545 ; DIW, Kultur als Wirtschaftsfaktor. 265 Kulturausschuss, Abgh, Ausschussprotokoll 13/30 (Beschluss) vom 15.03.1999.
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Das heißt, auf ökonomischer Ebene findet kein Ersatz der öffentlichen Finanzierung durch private Mittel statt. Vielmehr wird die institutionelle Förderung durch Projekt-Sponsoring komplementär ergänzt. Das macht die Opernhäuser nicht nur autonomer, sondern ermöglicht ihnen den Einstieg in jenen geschlossenen Kreis von Unterstützung, Sichtbarkeit und Förderung, der Kunst und Kultur ermöglicht, sich als innovativ und zukunftsweisend zu inszenieren266 – um damit nicht zuletzt die politischen Entscheidungsträger von ihrer Existenzberechtigung und Förderungswürdigkeit zu überzeugen. Obwohl es sich nicht um eine gesteuerte Entwicklung handelte, ja diese partielle Umstrukturierung des Spielplans von den Opern sogar gegen Widerstand oder Skepsis aus den Reihen der Senatsverwaltung und Politik etabliert wurde, haben die kulturpolitischen Akteure die durch die Festivalstrategien erzielten Vorteile bald erkannt und aufgegriffen. Vor allem stand im Zuge der Reform wiederholt das Repertoire-Prinzip an den drei Berliner Opernhäusern zur Debatte. Die in den Magazinen der deutsche Theater und insbesondere der Opernbühnen schlummernden Produktionen, die von einem festen Ensemble jederzeit auf der Bühne wiedererweckt werden können, um dem Publikum die größtmögliche Vielfalt des Genres zu bieten, galten bis vor wenigen Jahren noch als ein Kern des deutschen Theatersystems. Kein anderes Land leistete sich noch in einem vergleichbaren Ausmaß den ‚Luxus‘ des Repertoiresystems oder Ensembletheaters. In den vergangenen Jahren hat dagegen eine grundsätzliche Umwälzung begonnen, die sich auch an deutschen Opern bemerkbar macht. Einerseits sind (weltweit) die nach dem Repertoireprinzip arbeitenden Opern signifikant weniger geworden (von 55 % ist ihr Anteil auf 42 % gesunken), andererseits hat aber auch die Anzahl der Stagionebühnen nicht zugenommen. Vielmehr sind die Grenzen zwischen Stagione und Repertoire fließender geworden und praktikable Mischformen (Semi-Stagione) mit effizienteren Planungsund Kalkulationsmöglichkeiten entstanden.267 Nun mehrten sich – wie dargestellt – auch in Berlin die Vorschläge zu einer internationalen Festivaloper. Zuerst an der Staatsoper, später bereits im Rahmen der Stiftung durch eine Umstrukturierung der Deutschen Oper in einen Sta266 Held, Kultur. 267 Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 245.
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gione-Betrieb. Ein großer institutioneller Bruch mit dem Repertoiretheater hat sich zwar (noch) nicht vollzogen, aber dessen Grundlage – das Spielsystem als Ausdruck einer spezifischen tradierten Institution – ist schleichend in den Hintergrund getreten. Angesichts einer stärkeren strategischen Orientierung am Marketing, an der gezielten Ansprache der öffentlichen Förderinstitutionen einerseits und der privaten Kräfte andererseits, werden die Vorzüge beider Systeme kombiniert – um mit wechselndem Programm den Wünschen der Kulturpolitik nach künstlerischer Vielfalt zu entsprechen, mit Stars die Aufmerksamkeit zu bündeln und die teuren Produktionsmechanismen zu amortisieren.
3. Rückkehr zum Markt ? „Depuis trois cent cinquante ans, ce lieu sert de mise en valeur au pouvoir et le pouvoir est aujourd’hui économique.“268
Im 2006 erschienenen „Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert“ formuliert Bernard Bovier-Lapierre die These, dass „zu Beginn des 21. Jahrhunderts (…) sich für die Institution Oper die Frage nach einer Rückkehr zum Markt“269 stelle. Dokumentieren all die Finanzierungsdebatten, Kürzungen öffentlicher Mittel, Fusionen von Opernhäusern und Veränderungen ihrer Betriebsstrukturen tatsächlich eine Abkehr von dem Modell der Staats-Oper ? Spiegeln die als Prozesse der Ökonomisierung erörterten Veränderungen in Berlin einen allgemeinen Trend wider, im Sinne einer Neuordnung staatlicher Kompetenzen und Macht, wie er im I. Teil des Buches vorgestellt wurde ? Unter Berücksichtigung der beiden Vergleichsfälle sollen die Ergebnisse der Berliner Analyse bewertet werden. Die Verbindung von Staat und Oper wurde hier zunächst vor allem als eine des finanziellen Ausgleichs charakterisiert, die durch allgemeine ökonomische Entwicklungen einerseits und die Einbindung in den modernen demokrati268 Jean-Yves Kades zit. in Jourdaa, A l’Opéra, 98 (Kades hat an der Pariser Oper die Spendenstrukturen wesentlich mit aufgebaut). 269 Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 241.
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schen Staat andererseits entstand. Im Vergleich zum ‚goldenen Zeitalter’ von Staat und Staatsoper ist dieser finanzielle Ausgleich überall zurückgegangen. Zugleich wurden private und kommerzielle Einnahmebereiche entwickelt oder ausgebaut, die zuvor gar nicht existierten oder nur schwach ausgeprägt waren. In den finanziellen Entwicklungen aller Opern spiegelt sich ein gemeinsamer Trend zu (der Kostenspirale entsprechend) zwar beständig steigenden, prozentual aber sinkenden staatlichen Zuschüssen einerseits und einer Ausdifferenzierung der Finanzierungsstrategien andererseits : Ausgewählte Zahlen aus London und Paris zeigen diese Verschiebung, wie sie für die Berliner Opern oben ausführlich dokumentiert wurde : In London blieb der Anteil der öffentlichen Zuschüsse des Arts Council an das Royal Opera House trotz des allgemeinen neoliberalen Entstaatlichungskurses der Thatcher-Regierung bis Mitte der 1980er noch relativ stabil und lag nur wenig unter den Spitzenwerten der 1950er- und 60er-Jahre von knapp 60 %. Betrug der Anteil 1986 noch 53 %, sank er bis 1996 auf 38 % und bis 2006 noch einmal auf 31 %. Die Kasseneinnahmen, Spenden und Sponsorenmittel haben sich entsprechend erhöht : die Kartenerlöse auf über 37 %, private Zuwendungen, Spenden und Erbschaften auf 20 %, Sponsoring, die kommerzielle Vermarktung des Gebäudes und neuer Produkte auf fast 10 %.270 An der English National Opera ist diese Entwicklung langsamer ; die Zuschüsse des Arts Council machten in den vergangen 25 Jahren stets ca. 50 % der Mittel aus. Vor allem in den 1980er-Jahren stand sie stärker als die Royal Opera unter dem Druck, mehr nicht-staatliche Gelder zu generieren – was ihr aber erst in jüngeren Jahren gelang.271 Vor allem die Einführung einer National Lottery Mitte der 1990er, deren Einnahmen zum Teil an gemeinnützige Organisationen und Einrichtungen vergeben wurden, bildete eine neue Finanzierungsquelle für die Opernhäuser. Mit diesen Mitteln durfte zwar nicht der unmittelbare Betrieb der Oper finanziert werden, aber dessen baulicher Rahmen konnte an beiden Londoner Opernhäusern umfassend renoviert werden. 270 Vgl. House of Commons (HoC), Culture, Annex ; Royal Opera House, Annual Report 1985/86, 3 ; Royal Opera House, Annual Review 2005/2006, 119. 271 Die Spenden- und Sponsorenmittel der ENO liegen heute bei ca. 10 %. Zudem gewinnt das Haus bis zu 7 % aus der Verwertung (bzw. Vermietung) des eigenen Baus, den es 1992 zugesprochen bekommen hat (das Coliseum im Londoner West End).
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In Paris stagnierten die öffentlichen Subventionen von den 1960er- bis Mitte der 1980er-Jahre auf ihrem Höhepunkt von gut 85 % des gesamten Opernhaushaltes. Danach begann der zügige Rückgang auf 60 % im Jahr 2000, auf 55 % 2007. Parallel dazu stiegen vor allem die Kasseneinnahmen, die seit 2000 rund ein Viertel des Etats decken. Spendeneinnahmen (‚mécénat‘) haben erst in jüngeren Jahren eine für den Gesamthaushalt signifikante Höhe erreicht (etwa 3,6 % im Jahr 2007). Während diese unter den in London erzielten Summen blieben, liegen die ‚recettes commerciales‘, die Einnahmen aus Sponsoring und neuen Vermarktungsformen, mit bis zu 8 % des Gesamtetats fast gleich auf.272 Überblickt man diese Entwicklungen in London und Paris, so lässt sich vermuten, dass die Berliner Opern erst am Anfang einer finanziellen Entwicklung stehen. Bisher scheinen sich die besonderen Schwierigkeiten durch die geringe Auslastung der Häuser und daher schwer steigerbaren Kasseneinnahmen sowie die fehlende Präsenz eines kulturfreundlichen Wirtschaftslebens und wohlhabenden Bürgertums beschränkend auf den angelaufenen Prozess ausgewirkt zu haben. Die seit Beginn der öffentlichen Finanzierung der Oper in London übliche hybride Finanzierungsstruktur hat eine Verschiebung auf bereits bestehenden Wegen sehr viel leichter gemacht als in Berlin, wo diese Wege erst in einem ganz anderen Wertehorizont und institutionellen Rahmen angelegt werden mussten. In Paris demonstrieren die zügig angestiegenen Eigeneinnahmen zum einen den Erfolg des neu errichteten zweiten großen Opernhauses, der Opéra de la Bastille, die mit einer gut ausgelasteten Kapazität von 2700 Plätzen auch das Einnahmepotenzial erhöhte. Zum anderen macht es die sich vom deutschen Kulturstaatsprinzip deutlich unterscheidende Bindung der Oper an den Staat deutlich. Obwohl es auch in Frankreich eine starke normative Regelung und enge bürokratische Anbindung gibt, legitimierte sich die Hoheit des Staates über die Oper eher aus seinem Charakter als Machtzentrum und weniger als kulturelle Einheit.273 Zudem hat das marktorientierte Konzessionsregime, welches die Organisation der Oper über 100 Jahre lang prägte und bis 1939 gültig war, in den Betriebsstrukturen des Hauses seine Spuren bis in die Zeit der Staatsoper hinterlassen. 272 Agid/Tarondeau, L’Opéra (2006), 129 ; vgl. auch die ‚évolution du résultat financier‘ der Oper aus den Jahren 2000 bis 2007. 273 Claudon, L’Opéra.
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Doch die Entwicklung in Berlin zeigt auch, dass sich der Rückgang der staatlichen Einflussnahme auf die Opern keinesfalls darauf beschränkt, dass die Betriebe nun in erster Linie mehr Geld selbst akquirieren müssen. Zweifelsohne war die finanzielle Lage des Landes Berlin, deren Konsolidierung zu massiven Einsparungen führte, ein wesentlicher Auslöser der Reformen, und die Opernkrise spitzte sich stets vor allem in Konfrontation mit neuen Sparvorgaben zu. Ohne den finanziellen Druck wären viele der neuen Konzepte sicher nicht denkbar, sagbar oder gar durchzusetzen gewesen. Doch entwickelte sich innerhalb des Prozesses der Ökonomisierung eine Dynamik, welche die zunächst rein finanzielle Ausrichtung um eine strategische Dimension ergänzte. Das heißt, weil sichtbar wurde, dass neue finanzielle Leistungen von den bestehenden Betrieben institutionell und rechtlich nicht geleistet werden konnten, trat mit der Zeit zum reinen Sparkurs ein konzeptioneller Anspruch hinzu, der sich nicht mehr nur durch die unmittelbare finanzielle Dringlichkeit begründete, sondern die Neuordnung der Berliner Opern „als eine die Übermacht des Staates einerseits relativierende und weitere Kräfte in die Verantwortung hineinziehende Organisation andererseits“274 anstrebte. Damit wurden die Loslösung vom Staat vorangetrieben und Forderungen nach liberaler Staatlichkeit und Verantwortung privater Träger und Strukturen im Kultursektor Raum gegeben. Gleichzeitig, so hat es die Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘ 2007 für diese Tendenz im gesamten Kultursektor festgestellt, hat sich der Gedanke verstärkt, „dafür Sorge zu tragen, dass diese Privatisierungen nicht zu einer rein wirtschaftlichen Betrachtung der Kultureinrichtung führe“.275 ‚Privatisierung‘ erhielt einen gänzlich neuen Duktus, der für die Opern vor allem auf arbeitsrechtliche Vereinfachungen, stärkere Orientierung an der künstlerischen Arbeit, Planungssicherheit jenseits staatlicher Haushaltsjahre und politischer Legislaturperioden, wirtschaftliche Autonomie etc. zielte und eben nicht mehr allein auf die Sparpolitik, die sie überhaupt diskutabel gemacht hatte. Dies reflektieren auch die institutionellen Veränderungen, denn sie haben eben nicht dazu geführt, dass sich an der maßgeblichen Finanzierung und ihrer parlamentarischen Kontrolle und damit der demokratischen Legitimation viel 274 Hassemer (für das Forum Zukunft Kultur), in Wortprotokoll Kult 15/32, Anhörung vom 17.11.2003. 275 Schlussbericht der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland‘, 419.
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verändert hat. Allerdings zeigen sie sehr wohl, dass zahlreiche Entscheidungs,Organisations- und Kontrollfunktionen des Staates auf neue und zum Teil nichtstaatlich besetzte Gremien übergegangen sind. Struktur und Leistung hingen in den Berliner Opern untrennbar zusammen und wurden, aufgegliedert in die entsprechenden Haushaltstitel, auch als Einheit bezuschusst. Auf der einen Seite haben die oben dargestellten rechtlichen Reformschritte diese Einheit aufgebrochen : Der ‚Rahmen‘ blieb zwar beim Land ; nie war es vorstellbar, die Gebäude, Grundstücke oder institutionelle Struktur der Opern aus der staatlichen Hand zu geben.276 Deren ‚Inhalte‘ aber, Urheberrechte, Personalverträge, Verteilung der künstlerischen Produktionskosten etc., wurden an nicht mehr staatlich dominierte Gremien abgetreten. Auf der anderen Seite hat – weitgehend ohne direkten Einfluss der kulturpolitischen Opernreformkonzepte – die projekt- bzw. ereignisorientierte Neuausrichtung der Arbeitsweisen und -wege des gängigen Repertoirebetriebs die Betriebsstrukturen und künstlerischen Produktionsprozesse neu strukturiert. Die Entwicklung, welche sich in Paris in Folge der Fertigstellung des neuen Opernhauses vollzog, zeigt wiederum viele Ähnlichkeiten mit dem Berliner Fall. Das Verhältnis von Staat und Oper charakterisierte zuvor ein vielfach kritisiertes Missverhältnis zwischen der sehr eng an den staatlichen Träger gekoppelten Organisationsform mit häufig gedoppelten Kontrollverfahren und der dadurch erzielten mangelhaften Effizienz – „on ne sait jamais qui commande, tant le pouvoir est dévisé et la machine administrative complexe.“277 Mit dem Neubau waren aber noch nicht die alten Verwaltungs- und Kontrollwege verschwunden ; Verfilzung, an Korruption grenzende Bevorzugungen innerhalb 276 Das Grundstück der Komischen Oper erstritt sich das Land 1996 vor dem Bundesgerichtshof. Es war von der DDR niemals offiziell enteignet worden, weswegen Restitutionsansprüche aus Schweden bestanden. Im Jahre 1936 hatte der schwedische ‚Zündholzkönig‘ Ivar Kreuger das gesamte Theater an der Behrenstraße gekauft, weil seiner Geliebten, einer Tänzerin am Haus, gekündigt worden war. Die Erben des Kreuger-Imperiums, der Stora-Konzern, verkaufte die Restitutionsansprüche Anfang der 1990er an den bayrischen Unternehmer Walter Eder, der hier mit einem Investitionsvolumen von fast einer halben Milliarde D-Mark ein Internationales Opernforum um die Komische Oper herum bauen wollte. Der Umbau scheiterte an dem Rückzug des Landes Berlin, das einen privaten Investor nicht an seinen ‚Opernbesitz‘ heranlassen wollte. Vgl. etwa die Reportagen in BeZ, 08.01.1994 und 28.11.1996, sowie SZ, 09.08.1996. 277 Candé, ‚opera furia‘ ; vgl. auch Ministère de la Culture, Gestion, 164.
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der formalen Strukturen zwischen Kulturministerium und Oper, Nepotismus und immer wieder Streiks wegen zum Teil seit Jahrhunderten gültigen Vereinbarungen, hielten an. Die Erwartungen, welche an die ökonomische Leistungsfähigkeit des neuen Hauses gestellt wurden, konnten erst durch eine umfassende strategische und institutionelle Betriebsreform erfüllt werden. Neben der betrieblichen Umstrukturierung durch Hugue Gall erfolgte 1994 die Umwandlung der Rechtsform vom ‚établissement public‘ in ein ‚établissement public à caractère industriel et commercial‘ (e pic), das eine höhere (auch finanzielle) Autonomie der Oper gegenüber dem Staat schuf.278 Damit waren zwar nicht die zuvor laut gewordenen Forderungen, die Oper nach dem Modell des 19. Jahrhunderts vollständig zu reprivatisieren, umgesetzt worden,279 doch es hieß, Hugue Gall, der neue Leiter des Opernhauses, der die Umstrukturierung zur Bedingung seines Amtsantrittes gemacht hatte, habe der Oper in gewisser Weise den „esprit de la concession“ wiedergegeben.280 Natürlich ging dies nicht so weit, dass die dafür charakteristische private, auch finanzielle Verantwortung des Direktors für den Opernbetrieb wieder eingeführt wurde. Doch jene Prinzipien, die durch die Verstaatlichung verdrängt worden waren, erhielten wieder neues Gewicht ; statt einer in allen Bereichen der Oper bestehende Verflechtung mit der öffentlichen Administration wurden wieder mittelfristig gültige Vereinbarungen durch mehrjährige Budgets geschaffen, jenseits derer die Leitung der Oper weitreichende Autonomie beansprucht.281 In London hat es zwar ebenfalls Veränderungen in der Rechtsstruktur der Opern gegeben, doch verliefen diese in einem gänzlich anderen Rahmen. Entsprechend der einleitend zu diesem Teil vorgestellten kulturpolitischen Typologisierung neigt der ‚mäzenatische‘ Staat, wie er in Großbritannien agiert, eher 278 Vgl. den zweiten Teil der Buches von Agid/Tarondeau, L’Opéra (2006), der den Wandlungsprozess an der Oper datailliert darlegt ; auch Krafft, Opéra. 279 Vgl. Fig., 11.02.1989. 280 Agid/Tarondeau, L’Opéra (2006), 111. 281 Die alten cahier des charges formulierten den Status der Oper wie in dem des Directeur Vernon 1831 wie folgt : „L’administration de l’Académie Royale de la musique, dite Opéra, sera confiée à un directeur-entrepreneur qui l’exploitera pendant six ans à ses risques, périls et fortune, aux charges, clausus per conditions suivantes.“ Dann folgten die Regeln dieser Verpachtung, u.a., was auf die Bühne kommen sollte, etwa eine grand opéra, ein grand ballet, zwei kleine Opern, etc. Vgl. die abgedruckte Vereinbarung in Gourret, Ces Hommes, 263ff.
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zu privaten Strukturen als der ‚Architekten-Staat‘, wie er Deutschland oder Frankreich repräsentiert. So waren die beiden Londoner Opernhäuser auch als staatlich geförderte Kulturbetriebe stets privatrechtlich organisiert, als ‚registred charities‘, deren Gebäude und Personal privatrechtlich verfassten Organisationen unterstand. Manche Schritte, die in Paris oder Berlin auf Grund des genuin staatlichen Charakters der Operninstitutionen unmöglich waren, ließen sich hier zumindest rechtlich vergleichsweise einfach regeln – etwa die Reduktion des Personals an der Royal Opera während der zwischen 1997 und 2000 unternommenen Renovierung des Hauses von gut 1000 auf 580 Mitarbeiter.282 Doch die während dieser Umbauphase ausgebrochene Krise des Opernhauses machte drei Dinge deutlich : Erstens erlaubte die bestehende rechtliche Struktur kein ausreichend transparentes und umsichtiges Wirtschaften ; immer wieder war die Leitung des Hauses ebenso wie die kulturpolitische Kontrollinstanz des Arts Council von Defiziten überrascht worden. Zweitens war die bestehende Konstruktion zu fragil, da diese Defizite sofort den ganzen Opernbetrieb durch Bankrott gefährdeten. Drittens gab es jenseits des arm’s-length principle, das bestimmte, wie die Beziehung zwischen Staat und Oper nicht sein sollte, keine vereinbarten Regeln, wie sie aussehen sollte. Es war deutlich geworden, dass mit rein finanziellen Notspritzen, wie sie auf meist halb informellem Wege in den Jahrzehnten zuvor gewährt wurden, keine langfristige Stabilisierung erzielt werden konnte.283 Auf Grund ihrer guten gesellschaftlichen Verbindungen hatte vor allem die Royal Opera, weniger ausgeprägt aber auch die English National Opera, in Notfällen immer auch Zugang zur Downing Street gefunden. Ähnlich wie in Berlin mit einer offiziellen aber nur zu geringem Teil formalisierren Einbindung des Bundes dem neuen Hauptstadtcharakter der Opern Rechnung getragen wurde, ohne die Kulturföderalismusdoktrin vollständig auszuhebeln, wurde in London die Rechenschaftspflicht der Oper gegenüber dem Staat gestärkt, ohne damit das arm’s-length principle grundsätzlich in Frage zu stellen. Als Instanz, die in einer schweren Krise eingreifen musste, erhielt der Staat ausgerechnet in Konfrontation mit einer offen diskutierten Reprivatisierung 282 Vgl. Bericht und Übersicht im DT, 147.1997. 283 „That investment has not resulted in the company achieving the necessary reforms to enable it to break out of the boom-and-bust cycle.“ Chris Smith, 1997, zit. in Ind., 29.01.2003.
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und vollzogenen Steigerung wirtschaftlicher Eigenständigkeit der Oper eine neue Dominanz. So fand vor allem am Royal Opera House eine – wenn auch nur zeitlich begrenzte – formalisierte Bindung an staatliche Instanzen statt, zugleich aber auch eine Ausdifferenzierung der institutionellen Struktur, welche einzelne Arbeits- und Verantwortungsbereiche auch in unterschiedliche Rechtseinheiten unterteilte.284 In allen drei Städten hat der Wandel vor allem zu einer Professionalisierung der Akteure geführt bzw. betriebswirtschaftliche Kompetenzen zu kulturpolitischen Kriterien für die Führung der Opernhäuser gemacht. „ManagementQualitäten“, „Marketingdenken“ und „unternehmerischer Geist“ gehörten wieder zum Anforderungsprofil eines Opernintendanten, wurde aus Berlin berichtet.285 Der seit den Tagen der Hofoper allmächtige Intendant musste zudem Kompetenzen abgeben – zunächst an externe Experten, die im Zuge des Reformprozesses zu Rate gezogen wurden, dann an die neu geschaffenen Gremien der Stiftung und innerhalb ‚seines‘ eigenen Hauses an die Geschäftsführung und technische Leitung, die im Zuge der Neubewertung der Anforderungen an die Opern mehr Gewicht bekamen. Eine ähnliche Aufteilung vormals gebündelter Kompetenzen vollzog sich in der Leitung der Opernhäuser in London. An der e no entwickelte sich ab 1998 ein konfliktreicher Prozess der Neustrukturierung der Führung des Hauses, in der zuvor künstlerische und administrative Leitung in Personalunion besetzt waren. Die Royal Opera geriet explizit in die Kritik, weil die verantwortlichen Akteure bei der Führung des Opernhauses ausschließlich von ihrer Liebe zu 284 Vgl. Royal Opera House, Trustees’ Report. Der künstlerische Betrieb ist nun die gemeinnützige ROH Charity, während das Haus und die nicht-künstlerischen Prozesse von der Covent Garden Trading Ltd. betrieben werden. Die ROH Foundation Fundraising Org. akquiriert Sponsoren. Eine ROH Holding Ltd. verantwortet als Tochterfirma der Charity das Management und Grundbesitzfragen ; andere gemeinnützige Einrichtungen sind lose mit dem Opernhaus assoziiert : So The Friends of Covent Garden, die einzelne Produktionen und das Bildungsprogramm unterstützen, der ROH Endowment Fund, der für die Förderung und Verbreitung des Verständnisses von Musik und Oper bestimmt ist, und der ROH Development Land Trust, der bauliche Fragen begleitet. 285 „Freiheit und Eigenverantwortung bei der Führung des Theaterbetriebes müssen einhergehen mit Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit“, hieß es im Zwischenbericht der Arbeitgruppe ‚Zukunft von Theater und Oper in Deutschland‘, berufen von Bundespräsident Johannes Rau, vorgelegt am 11. Dezember 2002 im Schloss Bellevue, §4.
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Oper und Ballett geleitet worden seien. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss äußerte den Wunsch für die Zukunft, „we would prefer to see the House run by a philistine with a requisite financial acumen than by the succession of opera and ballet lovers who have brought a great valuable institution into its knees“.286 Auch das Board, das ehemals mit den ‚gentlemen‘ illustrer Kreise besetzt war, sollte zukünftig ein Fachtraining erhalten, welches die kompetente wirtschaftliche Führung sicherte. Das heißt, die Professionalisierung ging hier vor allem mit der auch in Berlin detailliert geschilderten Neuordnung formaler und informeller Beziehungen einher. Denn anstelle der formalen Kontrollfunktion, die eben nicht in den Händen von Technokraten liegen sollte, übte dieses Gremium seine Arbeit vor allem durch gute Beziehungen und Standesdünkel aus. Die eigentliche Trennung von Staat bzw. Politik und Kulturbetrieb wurde durch die von diesen Gremien geschaffenen informellen Kanäle immer wieder unterlaufen.287 Die Beziehungen zwischen Opern, Arts Council und kulturpolitischen Akteuren in Parlament und Regierung erfuhr daher im Folge der Krise in den 1990er-Jahren eine Offenlegung und Überholung ; an die Stelle gegenseitigen Vertrauens und Wegsehens traten neue monatlich zu erstellende ‚management accounts‘. Die Zahlungen weiterer Subventionen wurde an die Bedingung geknüpft, den eigenen Betrieb in Ordnung zu bringen und zu formalisieren, die personellen Verbindungen, die zwischen dem Arts Council und vor allem der Royal Opera bestanden (nicht selten waren die Mitglieder und einflussreichen Vorsitzenden der jeweiligen Aufsichtsräte im Abstand weniger Jahre in beiden Einrichtungen vertreten) wurden aufgelöst.288 Betriebliche Sitten und Gebräuche oft unbekannter Herkunft kamen auch in Paris auf den Prüfstand. Die neue Rechtsform bedeutete hier sowohl eine Reduktion als auch höhere Formalisierung der institutionalisierten Einbindung und mithin Einmischung des Kultur- und Finanzministeriums in den 286 HoC, CMSC. First Report, §§41 und 60 ; auch Eyre, Report. 287 „There has been a lack of rigour in the relationship between the Arts Council and its clients, which requires a serious overhaul.“ Seine Beziehung zur Oper sei „characterised by arrogance on the part of the Royal Opera House and by a lack of assertiveness on the part of Arts Council. (…) The council has been ‚subverted‘ by the ROH Board members and executives going above its head to lobby directly with ministers and with Downing Street“, urteilte der EyreReport. 288 TT, 17.07.1998.
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Opernbetrieb. Die Folge war eine höhere Akzeptanz von staatlichen Regeln, vor allem der Haushaltsdisziplin seitens der Oper sowie der betrieblichen Autonomie in zahlreichen Bereichen, von der Spielplanaufstellung bis zu den Tarifverhandlungen. Die Neuordnung brachte eine Trennung in die Führung des Opernhauses und dessen staatliche Aufsicht, die vorher eng mi einander verflochten waren – nun hieß es : „Le directeur dirige, l’État contrôle, mais à postériori.“289 Dieser wiederum der Berliner Entwicklung ähnliche Verlauf zeigt, dass die Einheit von Staat und Oper nicht nur die Einheit von Kulturproduktion und Kulturverwaltung, sondern auch die Einheit von formalen und informellen Beziehungen bedeutete. Durch die institutionelle Umstrukturierung fand eine partielle Ablösung zentraler Verfahren und Beziehungen aus den bisherigen Staatsopernstrukturen statt (in Berlin und Paris durch ganz neue privatere Rechtsformen, in London durch eine Ausdifferenzierung der bereits bestehenden), eine stärkere Trennung von Kunst und Apparat sowie von Formalität und Informalität. Die Bühnen gewannen „ein klareres Selbstbewusstsein als Träger kulturellen Angebots, für das sie vom Staat finanzielle Mittel als Gegenleistung einfordern können ; aus Kostenstellen werden LeistungsträgerInnen“.290 Auch diese Prozesse lassen sich im Sinne des Wandels von Staatlichkeit durchaus als Zerfaserung begreifen, als eine Ausdifferenzierung vormals verschlungener oder verflochtener Strukturen und Verfahren. Die Entwicklungen der Opernhäuser zeugen zwar überall von institutionellen, strategischen und kommunikativen Neuordnungsprozessen im Sinne einer Ökonomisierung der Beziehung von Opern und Staat – aber sie dokumentieren nicht notwendigerweise einen damit durchweg parallel erfolgenden Rückzug des Staates. Vielmehr entstand in allen drei Hauptstädten die paradox anmutende Situation, dass durch kulturpolitische Reformkonzepte oder sogar Gesetze, die staatlichen Kompetenzen seitens staatlicher Akteure selbst ausgereizt wurden, um damit eine Entstaatlichung der Opernhäuser voranzubringen. Trieb hier der Staat seine eigene Kompetenzbeschneidung voran ? 289 Agid/Tarondeau, L’Opéra (2006), 109f. 290 Dies prognostizierte 1994 bereits das Team der Synthesis Forschungsgesellschaft, die in Berlin zur Beratung und Begleitung der ersten, später in politischen Konflikten steckengebliebenen Reformschritte hinzugezogen worden war. Vgl. Ogrisek/Wagner, Privatisierung, 1.
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Gemessen an den einzelnen Schritten, die durch die oben erörterten Reformkonzepte und deren Umsetzung in Berlin zustande kamen, erscheint diese Vermutung zunächst plausibel. Sie alle forderten mehr Eigenverantwortung, weniger direkte staatliche Abhängigkeit, sahen eine Übergabe von Organsations- und Entscheidungskompetenz an zum Teil nicht- oder nur teilstaatliche besetzte und kontrollierte Einrichtungen vor und veranschaulichten nicht zuletzt mit der Rede von Privatisierung und Entstaatlichung, in welche Richtung die Reformen führen sollten. Doch gerade in diesen Konzeptbegriffen lag auch die Macht, welche die staatlichen Akteure, allen voran die Kultursenatoren, ausübten. Denn auffällig ist, dass mit diesen Begriffen nicht nur bestimmte Prozesse in Gang gesetzt werden sollten, sondern auch stets zugleich ihr Bedeutungsrahmen definiert wurde : Radunski sah in seinem betriebswirtschaftlichen Modernisierungsprogramm für die Berliner Opern „genuine Aufgaben der Politik und Verwaltung“, Stölzl wollte mit der Umwandlung der Betriebe und deren „klaren politischen Vorgaben“ explizit die „Handhabe“ der Opern sichern und Flierl mit „Hilfe zur Selbsthilfe“ Autonomie schaffen. Das heißt, in diesen Reformen wurde keinesfalls ein linearer Verlauf der ‚Selbstentstaatlichung‘ abgebildet, sondern vielmehr ein Prozess, in dem der Staat zugleich ausgewählte Kompetenzen abgab und durch die eigene Definition oder Deutung dieser Schritte seine Handlungspielräume sichert. Diese Interpretation stärkt wiederum der Umstand, dass die Reformen allesamt auch in den teilentstaatlichten Gremien stets eine Majorität staatlicher Vertreter vorsahen. Die Entstaatlichung blieb mithin eine diskursive Hülle, die mit explizitem staatlichen Steuerungsanspruch gefüllt werden konnte. Das Phänomen ließ sich ähnlich auch in London und Paris beobachten. Sowohl die neoliberale Politik der 1980er- und frühen 1990er-Jahre als auch die Kulturpolitik der folgenden New-Labour-Regierung, forderten von den Opern mehr ökonomische Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, gaben sie aber zu diesem Zweck ausgerechnet dem Staat fester an die Hand. Bereits Thatchers Kulturminister Richard Luce brachte diesen eben nur scheinbar paradoxen Zusammenhang mit der Ankündigung „the objective of this Government is to reduce the role of the state“291 auf den Punkt. Und sein Nachfolger Peter Brooke 291 HoC, 15.06.1989, Arts and Heritage. Vgl. auch Luce, A Bow Paper.
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bekräftigte nicht nur die Kontrollfunktion der staatlichen Akteure diesem Prozess gegenüber, sondern auch, worin der zu bestehen habe : „I as Secretary of State will remain accountable to the House for the way in which the Arts Council decides to spend the grant in aid. In particular, I have a close interest in the economy, efficiency and effectiveness with which that money is spent ; in the appropriate balance between public and private sector funding.“292 Was das Mittel zwischen der reduzierten Rolle des Staates und der bestehenden Verantwortung gegenüber dem Kulturbereich war, was Effektivität und Effizienz für einen Kulturbetrieb zu bedeuten hatten oder wo die Balance zwischen öffentlicher und privater Förderung lag, all das wurde, sogar unter Umgehung des arm’s-length principle, direkt und explizit von der Regierung bestimmt.293 Diese Strategie änderte sich unter New Labour nicht wesentlich. Zwar wurde öffentlich demonstrativ über eine Privatisierung der Royal Opera nachgedacht – doch war dies allenfalls ein Drohmittel des Staates gegenüber den Akteuren der Oper.294 In Paris war dieser Mechanismus unter der Regierung der Sozialisten in den 1980er-Jahren zwar weniger ausgeprägt, aber trotzdem vorhanden.295 Sie bekannte sich zu einem starken Staat, dessen Beziehung zur Oper allerdings ebenfalls durch neue Begriffe geprägt wurde. In einem Dossier des Kulturministeriums, „Une nouvelle politique pour l’art lyrique en France“ wurde die Rolle des Staates gerade nicht nur als ‚Kontrolleur‘ sondern als ‚Partner‘ der Opern gefordert.296 Damit sollte die Abhängigkeit der Opern von den bürokratischen Ins292 Brooke, HoC, 05.12.1992. 293 Vgl. Evans, Phantasmagoria, 119. 294 New Labours Kulturminister Chris Smith verkündete : „One of the possible options is to say to the ROH that once you have your lottery money you are on your own, go and find your own funding“, zit. in DT, 05.11.1997. 295 Insgesamt gilt zwar in allen drei Ländern, dass die konservativen Parteien prinzipiell der Oper kulturell näher stehen, aber dazu tendieren, staatliche Subventionen abzubauen, das linke Lager dagegen die staatliche Unterstützung der Kultur stärkt, aber dem „elitären“ Charakter der Oper gegenüber skeptisch ist. Doch jenseits rhetorischer Phrasen und Wahlkampfmanöver ließ sich im Fall der Ökonomisierung der Staatsopern überall über die politischen Lagergrenzen hinweg jene Kontinuität von institutionellen Ausdifferenzierungen zu Gunsten einer Entstaatlichung erkennen, die aber zugleich mit einer strategischen Dominanz dieses Prozesses durch die staatlichen Akteure einherging. 296 Das bisherige System „confinait l’État dans un rôle de comptable et non de partenaire“. Ministère de la Culture, Pressedossier vom 31.05.1983.
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tanzen gemildert werden und diese Beziehung auch durch den Neubau der Opéra Bastille institutionell manifest werden. Doch zweifelsfrei entstand mit diesem neuen Opernhaus noch einmal eine nahezu idealtypische Staats-Oper. Das änderte sich erst nach dem Ende der Ära Mitterrand/Lang. Ab 1993 begann der sprachlich wie strukturell staatlich gelenkte organisatorische Modernisierungsprozess der Oper (wie auch zahlreicher anderer Kultureinrichtungen, unter anderem des Louvre, Versailles, der Bibliothèque Nationale und der Comédie-Française). Entsprechen die analysierten Prozesse der Ökonomisierung der Annahme einer funktionalen Transformation von Staat und Staatlichkeit ? Zeigen sie jene Phänomene der Privatisierung sowie der ‚Zerfaserung‘ von Staatlichkeit und der ‚Anlagerung‘ von etwas Neuem ? Eine weitreichende Privatisierung, wie sie sich im gleichen Zeitraum in zahlreichen Dienstleitungen der öffentlichen Daseinsvorsorge vollzogen hat, hat sicher bei keiner der Opern stattgefunden. Vor dem Hintergrund des tief in den Strukturen sowie Diskursen der jeweiligen Kulturpolitiken verankerten Zusammenhangs mit konstitutiven Elementen des Selbstverständnisses der drei Staaten war dies in einer vergleichbaren Form allerdings auch nicht zu erwarten. Doch diese Verbundenheit ist nicht mehr gleichbedeutend mit der ehemals zum Teil nahezu vollständigen Finanzierung und administrativen Steuerung der Bühnen durch die öffentliche Verwaltung und ihrer konzeptionellen Steuerung durch die Kulturpolitik. Die ökonomischen und juristischen Entwicklungen der Staatsopern lassen sich durchaus als teilweise Entstaatlichung und Privatisierung beurteilen, in denen weniger öffentliche und mehr private Gelder an die Opern flossen, aus unmittelbaren oder unmittelbar kontrollierten Staatsbetrieben neue Institutionen und Gremien entstanden, in denen Kontrolle und Verantwortung, formale und informelle Beziehungen neu geordnet wurden. Zugleich wurden private und kommerzielle Einnahmebereiche entwickelt oder ausgebaut, die zuvor gar nicht existierten oder nur schwach ausgeprägt waren. Die Unterstützung und Mitgestaltung insbesondere durch Freundeskreise, aber auch durch Sponsoren, hat eine Verschiebung von Verantwortung aus dem Öffentlichen und Kollektiven hin zu privaten Gruppen und Individuen hervorgebracht. Charakteristisch ist für diesen Prozess eine ‚Zerfaserung‘ von Staatlichkeit, nicht nur in dem Sinne, dass institutionell beim Staat gebündelte Kompetenzen
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gegenüber den Opern aufgeteilt wurden, sondern auch als Auseinanderdriften des Zusammenhangs von staatlicher Finanzierung (als Organisationskompetenz) und Verantwortung : Mit dem Rückgang des staatlichen Zuschussanteils kann zwar der Kulturhaushalt entlastet werden, doch lassen sich private Gelder entweder an der Abendkasse durch eine höhere Belastung der Konsumenten oder aber als Spenden und Sponsoring über Steuervergünstigungen mobilisieren. Im letzteren Fall sinken die Kosten des Staates nicht in gleichem Maße wie seine Kontrollmöglichkeiten ; werden die Gelder nicht mehr direkt vergeben, entziehen sie sich auch gleichermaßen der administrativen Kontrolle wie der kulturpolitischen Zielsetzung. Es kommen vielmehr zahlreiche neue Interessen und Interessenten hinzu, die ihrerseits implizite und explizite Berücksichtigung oder Steuerungsansprüche geltend machen. Den Charakter von ‚Anlagerungen‘ haben die daraus entwickelten Strukturen und Verfahren deshalb, weil dadurch trotzdem der Staat keinesfalls als ‚Anker‘ oder Bezugspunkt verloren ging, sondern sich weitgehend nur zusätzliche Elemente um das alte Modell Staatsoper herumlegten ; seine Gestalt änderte sich dadurch in manchen Bereichen zwar, sie blieb aber in ihrem Gerüst erhalten. Trotz der prinzipiellen Nähe, welche die ökonomischen Entwicklungen der Staatsopern zu anderen ‚gewandelten‘ Bereichen zeigen, reichen die als Ökonomisierung bezeichneten Veränderungen an die Grenzen der bisherigen Begriffsbestimmung jener ‚Zerfaserung von Staatlichkeit‘. Die staatlichen Instanzen haben zwar ihr Monopol auf Steuerung der Staatsoper teilweise abgegeben oder viel mehr aufgebrochen. Damit hat aber nicht nur eine Verlagerung von Kompetenzen und Verantwortungen stattgefunden, diese haben sich auch weit über den finanziellen und institutionellen Rahmen hinaus qualitativ verändert. Das gilt beispielhaft für den Wert der Oper : Mit der Bedeutung der privaten Träger steigt zwar der Warencharakter der Oper zu Lasten ihrer Bedeutung als öffentliches Gut, aber dies hat nicht unbedingt eine rein finanzielle Dimension (wie es gerade von den staatlichen Akteuren selbst gerne postuliert wird). Mit den neuen, privaten Akteuren verändert sich ebenso die ‚Ware Oper‘ wie die Werte, die daran hängen. Privates Engagement für die Oper kann sowohl eine mäzenatische Leistung, eine Demonstration von Interessen oder eine komplexe Marketingstrategie sein, mit der das symbolische Kapital der Oper für einen Sponsoren in ökonomisches verwandelt wird, oder es kann von einer durch die
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Oper generierten sozialen oder kulturellen Gemeinschaft motiviert werden. Die durch die ökonomischen Veränderungen der Opern entstehende ‚Vielfalt der Werte‘ ist für Individuen, wie Unternehmen, für die Opernbetriebe selbst und nicht zuletzt für den Staat von Nutzen. Als ‚Marke‘, ‚Standortfaktor‘ und ‚kultureller Leuchtturm‘ kennzeichnet sie eine Verschränkung von neuen ökonomischen Interessen und Bewertungen, in der die binäre Zuordnung von öffentlich und privat oft kaum mehr möglich ist. Dies aber wirft ein ganz neues Dilemma für den Staatsopernstaat auf : Wenn es nicht mehr die durch ihren meritorischen Charakter legitimierte Oper ‚für alle‘ gibt, sondern ein dichtes Netz von Interessengruppen, Firmen, staatlichen Akteuren und in ihren Beweggründen mannigfach ausdifferenzierten Individuen, Oper steuern – warum soll sie dann überhaupt noch öffentlich finanziert werden ? Und was bedeutet das für den kulturellen ‚Auftrag‘ der Oper vom Staat ? Besteht eine Gefahr dadurch, dass nur noch ‚Gefälliges‘ gespielt wird, weil es das ist, was die ‚zahlende Mehrheit‘, das Publikum oder der Sponsor, will ? Oder besteht sie darin, dass die Opernhäuser durch Subventionen „fast blind Marktsignale, das heißt Signale vom Publikum, ignorieren und ungeachtet voller oder leerer Säle Produktionen anbieten“ ?297 Der folgende, zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der Frage der gesellschaftlichen Einbettung der Staatsoper und den entstehenden kulturpolitischen Herausforderungen für das Verhältnis von Staat und Oper in einer sich sozial wie kulturell pluralisierenden Gesellschaft.
297 Bovier-Lapierre, Opernhäuser, 251.
III. Die gesellschaftliche Funktion der Oper – Elitismus, Demokratisierung, Pluralisierung „Das Theater konkurriert mit der Sportschau, die Oper mit der Disco, das Museum mit dem Freizeitpark, die öffentlich subventionierte Kleinkunstbühne mit dem Kino, der deutsch-türkische Folkloreabend im Kulturzentrum mit dem nächstgelegenen Skigebiet, das kommunale Hallenbad mit dem privaten Fitneßstudio, die Dichterlesung des Kulturpreisträgers mit dem Zeitschriften kiosk.“1
Opern waren nicht immer ein Inbegriff elaborierter Hochkultur. Ihre Opulenz und Sinnlichkeit machte sie in den ersten 250 Jahren ihrer Gattungsgeschichte zu einem alle (städtischen) gesellschaftlichen Gruppen ansprechenden Spektakel, das die heute gängige Opposition von E-Kultur und U-Kultur mühelos zu überbrücken vermochte. In seiner berühmten Studie „Highbrow/Lowbrow“2 hat Lawrence Levine anschaulich gemacht, wie niedrig die Grenzen zwischen Hochund Populärkultur in den meisten Typen kultureller Praxis noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren. Das galt gerade für die Oper, die an vielen Orten als erste Musikinstitution ihre Pforten der Allgemeinheit öffnete und kaum einer Grenzziehung zwischen Kunst und Unterhaltung unterlag. Diese Unterscheidung spielte erst im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmend vitale Rolle im sozialen Segregationsprozess, in dem mit ansteigender sozialökonomischer Ungleichheit der Erwerb von Geschmack und kulturellen Praktiken ins Zentrum gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse rückte. An die Stelle vermeintlich naturgegebener Unterschiede trat die soziale und kulturelle Klassifizierung – und mithin der Unterschied zwischen Kunst und Unterhaltung.3 Durch die staatliche Übernahme der Oper wurde sie institutionell und normativ gefestigt. 1 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, 507. 2 Levine, Highbrow/Lowbrow. 3 Vgl. Zelechow, Opera, 261 ; Storey, „Expecting Rain“ ; Bourdieu, Über Ursprung ; Bödeker, Le concert.
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Die historischen Machtwechsel und damit einhergehenden sozialen und kulturellen Veränderungen der Oper können und sollen hier nicht ausgebreitet werden. Erklärungsbedürftig und für die kulturpolitische Konzeption der Opernhäuser in der untersuchten Zeitspanne wichtig ist jedoch der Umstand, dass die Oper in allen drei hier betrachteten Ländern als Kulturgut monarchischen Ursprungs begriffen wird, zugleich aber als Paradigma der bürgerlichen Kultiviertheit und Emanzipation. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass der moderne Staat die institutionelle Form der feudalen, aber die kulturellen Ideale und Begrifflichkeiten der bürgerlichen Oper übernommen hat. Der bereits in Teil II vorgestellte, relativ bruchlose Übergang zahlreicher Opernhäuser von der Hofoper zur Staatsoper, festigte die Rolle der Oper als Raum der Eliten. In ihrer mit dem aristokratischen Erbe einhergehenden tradierten sozialen Funktion liegt der Grund dafür, dass Opernhäuser bis heute nicht selten als ‚uneinnehmbare Festung‘, als ‚Hochburg der Elite‘ oder ‚exklusiver Club‘ gelten ; die statistischen Zahlen, die zeigen, dass in Europa je nach Land nur 2–10 % der Bevölkerung auch Operngänger sind, bestätigen dieses Bild. Wo diese Attribute zur Oper als Ort des aristokratischen Müßiggangs oder der sich davon kulturell abgrenzenden bürgerlichen Gesellschaft gehörten, die sie jeweils künstlerisch wie finanziell hervorbrachten, existierte kein grundsätzlicher Konflikt zwischen der ästhetischen und der sozialen Rolle der Oper. Die Legitimation sozialer Asymmetrie ist jedoch eine Funktion des Opernlebens, die in einer demokratischen Gesellschaft normativ kaum haltbar ist. Wo die Oper als merit good des öffentlichen Kulturlebens mit Steuermitteln finanziert wird, muss sie – unter Beibehaltung des Prinzips der Freiheit der Kunst – mithilfe kulturpolitischer Strategien an die Normengerüste, Verfahren und Legitimationsprozesse einer demokratischen und pluralistischen Ordnung angepasst werden ; sie muss ihre Bedeutung für das Gemeinwohl beweisen. Dabei tritt ihre Rolle als Gut einer bürgerlichen Kultur zu Tage, das heißt, als Alltäglichkeit transzendierendes Ereignis, welches zur Bildung und Reifung des Menschen wie der Gesellschaft als Ganzes dienen soll. Sie wird exemplarischer Teil dessen, was Herbert Marcuses kritischer Begriff der „affirmativen Kultur“ gefasst hat, als „jene der bürgerlichen Epoche angehörige Kultur, (welche) die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Wertreich von der Zivilisation (abgelöst und überhöht hat). Ihr entscheidender Zug ist die Behauptung einer allgemein verpflich-
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tenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt. (…) Erst in dieser Kultur gewinnen die kulturellen Tätigkeiten und Gegenstände ihre hoch über den Alltag emporgesteigerte Würde : ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung.“4 Die Oper bildet ein Paradebeispiel für diese Bestimmung. Auf diese angenommene Universalität der Kultur, die das Ermessen wie die Interessen des Einzelnen übersteigen soll, beruft sich die Verantwortung des Staates. Den daraus entstehenden Zusammenhang (zwischen der von der Monarchie geerbten Hoheit und dem überhöhten Kulturbegriff ) sowie den daraus resultierenden staatlichen Anspruch auf Steuerung hat Ronald Dworkin treffend als „lofty appraoch“ bezeichnet „(which) insists that art and culture must reach a certain degree of sophistication, richness, and excellence in order for human nature to flourish, and that the state must provide this excellence if the people will not or cannot provide for themselves“.5 Die zu solchem kulturellen Wohl der Allgemeinheit eingesetzten öffentlichen Subventionen verursachen jedoch gerade den konkreten gesellschaftlichen Interessenkonflikt zwischen Opernbesuchern und solchen, die niemals in die Oper gehen, aber deren Betrieb in gleichem Maße Steuern zahlend unterstützen. Jene sozialen Gruppen, welche die Oper am häufigsten frequentieren, gehören zugleich nicht nur zum wohlhabendsten Teil der Gesellschaft, sondern auch zu den Profiteuren einer kulturpolitisch begründeten finanziellen Umverteilung, da ihre Karten durch den Rest der Gesellschaft indirekt subventioniert werden. Welches soziale Konfliktpotenzial diese Umverteilung birgt, veranschaulicht die später untersuchte Londoner Opernkrise. Anders als bei klassischen öffentlichen Gütern, die diesen Konflikt durch die uneingeschränkte Verfügbarkeit und zumindest potenzielle Chance eines Jeden auf ihren Konsum überwinden, ist die Oper sowohl kulturell wie finanziell exklusiv, das heißt, der Opernbesuch setzt trotz Subventionen und Gemeinwohlorientierung einen überdurchschnittlichen individuellen Besitz von ökonomischem und kulturellem Kapital (im Sinne Bourdieus6) voraus. Es gilt – das wird zu zeigen sein – als die Pflicht des opernfördernden Staates und eine stetige kulturpolitische Herausforderung, 4 Marcuse, Über den affirmativen Charakter, 63. 5 Dworkin, Can a Liberal State Support Art ?, 221 ; vgl. auch Adorno, Bourgeois Opera. 6 Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital.
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den Widerspruch zwischen der sozialen Asymmetrie der Oper und ihrem Status als gesamtgesellschaftlichem Gut zu überwinden. Mit einem Zerfall abgrenzbarer gesellschaftlicher Milieus, neuen Lebensstilen und Formen des Kulturkonsums, werden die Zielgruppen (der Politik genauso wie der Oper) allerdings schwerer fassbar. „Dass sie (die modernen Gesellschaften, SZ) nicht mehr eine die Klassen und Schichten umgreifende Identität auszubilden vermögen, sondern sich in einer Fülle von Wertorientierungen, Verhaltensmustern und Lebensentwürfen ausdifferenzieren, bestimmt auch das Opernpublikum.“7 Ob und inwiefern die Homologie des Publikums in der Oper, als einer der letzten Bastionen einer klassischen Kulturelite, erhalten bleibt oder die Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft die Institution und ihre kulturpolitischen Normierungen zu Veränderungen zwingt, gilt es anhand der sozialen Strukturen der untersuchten Opernlandschaften und deren Herausforderungen zu analysieren. Das heißt, in diesem Teil des Buches steht die soziale Rolle der Oper und mithin ihr Publikum im Fokus. Der Begriff des ‚Publikums‘ umfasst eine ganze Reihe von Faktoren und Akteur : die Abendkasse und das Abonnement, Stammgäste, Erstbesucher und Begleitungen, Touristen, Sponsoren, Freunde und Politiker8 – eine facettenreiche Gruppe von Interessen und Einflussfaktoren, auf welche die Oper bei der Gestaltung ihres Repertoires, ihres Images und ihres räumlichen Angebots Rücksicht nehmen muss und welche am Ort der Oper in ein kommunikatives Verhältnis tritt.9 Zugleich ist das Publikum jenes Scharnier, das eine Verbindung zwischen der Oper, der Gesellschaft und dem Staat bzw. seinen politischen Akteuren herstellt. Der Staat, so wird anhand der kulturpolitischen Grundlagen für die Opernförderung in Deutschland, England und Frankreich zu zeigen sein, finanziert die Oper in erster Linie mit der Legitimationsformel, den Opernbesuch für alle Mitglieder der Gesellschaft zugänglich zu machen. Allerdings entzieht sich der selektive Prozess, wer sich dieses Angebots bedient und wer nicht, prinzipiell seiner Steuerung, nicht jedoch seiner Rechenschaftspflicht. Die Relevanz, welche diese fragile Verbin7 Bermbach, Oper, 61. 8 Vgl. Wagner, Jahrbuch. 9 Vgl. Martorella, Sociology, 83.
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dung in dem untersuchten Zeitraum erhält, liegt wiederum darin, dass sie nicht statisch ist, sondern die Zusammensetzung, Ansprüche und Verhaltensformen des Opernpublikums sich mit dem gesamtgesellschaftlichen Wandel ändern. Die Oper, ihre kulturpolitischen Rahmenbedingungen, welche die gesellschaftliche Einbettung der Oper sichern sollen, sowie deren Legitimationsstrategien müssen sich immer wieder anpassen. In den folgenden Kapiteln werden zunächst die sozialen und politischen Parameter, das heißt die Traditionen, Regeln und Verfahren, welche die Beziehung zwischen Oper, Gesellschaft und Staat bestimmen, untersucht. Anhand der sozialen Rolle bzw. Zuschreibung, welche die Oper gesellschaftlich erfährt, als auch ihrer Funktion in der sozialen Strukturierung dieser Gesellschaft durch räumliche Merkmale und kommunikative Kategorien wird im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels bestimmt, wie die Oper überhaupt Teil des hochkulturellen und elitären ‚Schemas‘10 wurde. Dabei werden die untersuchten Opernhäuser vor allem unter der methodischen Folie des Raumbegriffs von Pierre Bourdieu betrachtet. Ergänzend dazu vermittelt ein Überblick, was überhaupt empirisch über die Zusammensetzung des Opernpublikums und seine Beweggründe für den Opernbesuch bekannt ist. In einem weiteren Abschnitt werden dann die kulturpolitischen Strategien und Legitimationsmuster verglichen, mit denen der Staat der tradierten klassifizierenden Funktion der Oper entgegentritt. Abschließend wird der Konflikt, in den diese staatlich gesteuerten Strategien mit der Pluralisierung der Gesellschaften geraten, als „Demokratisierungsparadoxon“ (Klaus von Beyme) der Oper analysiert. Im Zentrum dieses III. Teils steht die Studie der Krise der Londoner Opern in den 1990er-Jahren. An die ökonomischen Restriktionen der Thatcher-Zeit, die in gewisser Weise die im vorangegangenen Teil gezeigten Trends der Ökonomisierung der Opernpolitik bereits in den 1980er-Jahren spiegelte, schloss sich in London eine Debatte an, die in erster Linie auf die soziale Reform bedürftigkeit der Oper zielte. Vor allem das Royal Opera House stand in der 10 Gerhard Schulze hat den Begriff der alltagsästhetischen Schemata als „eine kollektive Kodierung des Erlebens“ geprägt. Sie sind eine milieuorientierte Verbindung sozialer und ästhetischer Kategorien. Alltagsästhetische Schemata„legen erstens fest, was normalerweise zusammengehört, statten zweitens die als ähnlich definierten Zeichen mit zeichenübergreifenden Bedeutungen aus und erheben drittens beides zu sozialen Konventionen.“ (Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, 128.)
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öffentlichen Kritik und im Fokus kulturpolitischer Reformen. Es wird analysiert, welche Dynamiken und Konflikte die soziale Funktion der Oper in London freisetzte und warum diese wiederum Veränderungen in der Beziehung zwischen Staat, Oper und Gesellschaft motivierten. Dabei geht es ebenso um den im Zuge einer Diversifizierung kultureller Werte und Praktiken vollzogenen Wandel des Luxus-Charakters der Oper wie um die Haltung des Staates, dessen lofty approach zur Förderung der Oper durch die sozialen Konflikte wie den kulturellen Wandel herausgefordert werden. Bauliche Veränderungen, die den sozialen Raum der Opern neu strukturieren, finden dabei ebenso Berücksichtigung wie veränderte Rezeptionsmuster und die öffentliche Kommunikation über das soziale Ereignis Oper.
1. Die Oper als Anspruch und Leistung des demokratischen Wohlfahrtsstaates 1.1 Die Macht des sozialen Raums Oper
Der Opernführer „Oper für Dummies“ warnt den ungeübten und verunsicherten Opernneuling gleich auf der ersten Seite : „Tatsächlich sind viele der Opernsnobs sehr glücklich darüber, dass Sie nicht alles verstehen. Sie wünschen sich ihre Oper als einen exklusiven Club, eine Eliteeinheit und einen heiligen Tempel.“11 Ein anderes Einführungswerk, „Opera : a crash course“, verspricht dem Erstbesucher einer Oper kompetente Hilfestellung, das dort omnipräsente „miasma of social snobbery“12 zu durchdringen. Diese Beispiele ließen sich zahlreich erweitern ; sie alle zeigen : Wo Vorurteile gegen die Oper laut werden, steht in der Regel nicht ihre ästhetische Eigenart, sondern ihre soziale Funktion im Vordergrund. Was die Oper in diesem Diskurs eint, ist weniger die musikalische oder ästhetische Formensprache verschiedener Opern, sondern ihr besonderer sozialer Kontext ; das Spektakel und dessen exponierte Räumlichkeit, die informell geregelte Zeremonie, bei der die Musik nur noch ein Teil des Ganzen ist. Gilt die Oper als ein Teil ‚klassischer Kultur‘ oder ‚Hochkultur‘, so referiert 11 Pogue u.a., Oper für Dummies, 1. 12 Pettitt, Opera, 2.
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diese Bezeichnung weniger auf die Werke selbst, als vielmehr auf die Art und Weise, wie sie rezipiert werden13 Dies verweist auf eine näher zu bestimmende klassifizierende kulturelle und vor allem soziale Wirkung, welche die Oper auf ihre Besucher und Nichtbesucher auszuüben scheint. Diese Funktion kennzeichnet ein Opernhaus als einen sozialen Raum im Sinne Pierre Bourdieus.14 Der Raumbegriff dient im kulturalistischen Analyseinstrumentarium der Veranschaulichung einer situativen oder generellen Ordnung, in der sich die Mitglieder einer Gesellschaft über die Grundlagen ihres Zusammenlebens verständigen können. Der soziale Raum ist eine kommunikativ erzeugte symbolische Form, durch die gesellschaftliche Strukturen hervorgebracht und handhabbar werden, etwa als soziales Beziehungsgefüge oder Hierarchisierung, das heißt, durch Kohäsion und Distinktion von Gruppen.15 Der Raum kann sich ausdehnen, man kann sich innerhalb seiner annähern und distanzieren. Zentral ist für seine Beobachtung der Ausgangspunkt von Bourdieu, dass „Akteure oder Gruppen (…) anhand ihrer relativen Stellung innerhalb dieses Raumes definiert“16 sind bzw. sich anhand sozialer Merkmale relativ zu anderen positionieren. Das bestimmende Kennzeichen im sozialen Raum ist die Position, die etwas oder jemand dort einnimmt und die Bedeutung, die damit transportiert wird. Durch die dort stattfindende „Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums“17 kann ein Opernhaus dazu dienen, eine soziale Struktur zu schaffen oder zu verdeutlichen. Das heißt, ihr architektonisch und ornamental geschaffener Raum (die objektive Struktur) dient einem bestimmten rituellen Verhalten, Abläufen, die einem kulturell determinierten Muster folgen, das die Besucher durch den auch körperlich immer wiederholten Vollzug (der Inkorporierung) sich aneignen, stabilisieren und perpetuieren. Die im Inneren einer Oper versammelten Menschen positionieren und erkennen sich daran, wo sie sitzen, wie sie auftreten. Sie bringen die Ordnung jenes Raumes hervor, der sie als heterogene Menge wiederum strukturiert sowie durch eine Standardisierung von Ver13 Vgl. Hirschkop, The Classical, 288 u. 295 ; Shepherd, Music. 14 Bourdieu, Sozialer Raum. 15 Vgl. zur hier verwendeten Kategorie des Raumes jenseits von Bourdieu auch Hauser-Schäublin, Kulturelle Räume, 30 ; Groh/Weinbach, Zur Genealogie. 16 Bourdieu, Raum, 10. 17 Bourdieu, Raum, 17.
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haltensformen homogenisiert und die Unterschiede innerhalb einzelner Subgruppen minimiert.18 Anders als beispielsweise das Zeremoniell der Kirche, das zunächst in seiner Kontinuität vergleichbar wirken mag, ist das Verhalten in der Oper schon lange kein durch eine Obrigkeit reglementiertes oder fixiertes mehr, sondern wird vor allem von den Besuchern selbst erhalten, weiter getragen und an die gegenwärtigen gesellschaftlichen Parameter angepasst. Der von den Opern gebildete soziale Raum in den drei hier ausgewählten Metropolen, lässt sich zunächst an den architektonischen Voraussetzungen und der darin transportierten Tradition sichtbar machen. Er beginnt am Eingang des Gebäudes : Zumeist in originaler oder nachempfundener barocker oder klassizistischer Pracht, entheben Opernhäuser ihre Besucher dem Alltagsleben und -erleben und mithin der alltäglichen gesellschaftlichen Kommunikation. Der tempelartige Portikus etwa der Berliner Staatsoper, des Pariser Palais Garnier oder des Royal Opera House, aber auch die Eingangshallen und Treppenaufgänge, edlen Gesteine und Dekormaterialien sowie eine festliche Beleuchtung in moderneren Opernhäusern, schaffen einen Zustand der Liminalität (Victor Turner), eines rituellen Übergangs in eine eigene Welt und deren Ordnungsprinzipien. Diese Prinzipien entfalten ihre Wirkung im Auditorium selbst. Die Anordnung der Plätze in Parkett, Rängen und Logen mit unterschiedlichen Sichtund Sichtbarkeitsverhältnissen bestimmen, wie das Publikum entsprechend der erworbenen Eintrittskarte räumlich strukturiert wird.19 Damit wird in der Regel nicht nur ein Abbild der finanziellen Investition aller Einzelnen in ihren Opernbesuch geschaffen, sondern auch ein Bild der gesellschaftlichen Ordnungsmuster der Entstehungszeit des Gebäudes : „Eine Hofoper – das zeigt schon ein flüchtiger Blick in den Zuschauerraum des 17. oder 18. Jahrhunderts – ist eben auch hierin ein Spiegel der höfischen Gesellschaft gewesen, mit klarer Rang- bzw. Kleiderordnung und einem unverrückbaren Zeremoniell.“20 Die heutigen Zuschauer nehmen bei ihrem Besuch Räume ein, welche für die 18 Vgl. McConachie, New York Operagoing, 190. 19 Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der Regel das Saallicht während der Vorstellungen nicht gelöscht, sodass die gegenseitige Wahrnehmung weit intensiver war, als das bei heutigen Opernbesuchen vorstellbar ist. 20 Scheurmann, Szenenwechsel, 19.
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Gruppen eines gegebenenfalls nicht mehr bestehenden politischen und sozialen Systems geschaffen wurden (etwa die Logen für Familien der Aristokratie), übernehmen deren relative Positionen und transferieren durch den abendlichen Vollzug diese Ordnung symbolisch in die Gegenwart. Dieser performative, als eine Art ‚Rückkoppelung‘ vorstellbare Prozess21 bedingt die spezifische Funktion und Dynamik des sozialen Raumes Oper, die sich in den Pausenfoyers fortsetzt. Sie bilden die Rahmen, in denen sich das Publikum zeigen, sehen, begegnen, erkennen und in Kontakt miteinander treten kann.22 Aufgrund der verschiedenen Epochen, denen die Opernhäuser in Berlin, London und Paris entstammen, unterscheidet sich mit ihrer Architektur auch ihre soziale Wirkungsmacht als Raum sichtbar. Das Grundmuster, dem sie folgen, ähnelt sich aber unverkennbar : „Le modèle de la salle d’opéra : (…) une fosse d’orchestre, une scène bien délimité de la salle et loges qui cristallisent les différences sociales. (…) Les salles conservent rigoureusement la même structure intérieure. Souvent un grand escalier fait communiquer la salle avec le hall, permettent aux élites d’user de comportements ostentatoires.“23 Vom Royal Opera House in London heißt es in einer umfassenden Darstellung des Hauses und Betriebs bezeichnenderweise, „the (most) reserved response from the body of the house stems from its seat allocation“24 – denn das Auditorium des 1858 erbauten Hauses fasst die Zuschauer in das hierarchische Gerüst seiner dreirangigen Hufeisenform ein. Über dem Parkett (‚the stalls‘) erheben sich das Hochparkett sowie die unteren Ränge, die sich in unterschiedlich stark voneinander separierte Logen (‚boxes‘) gliedern. Der dritte, hoch oben liegende Rang wird weit nach hinten durch das ‚amphitheatre‘, ein rund 600 Plätze umfassendes zweites Sitzplateau, erweitert. Bereits an den Eingangstüren entschied sich bis zum später beschriebenen Umbau 1997, zu welcher ‚Preisklasse‘ die Zuschauer gehören, da die Plätze des dritten Rangs nicht durch 21 Vgl. zum Begriff des Performativen Fischer-Lichte, Performativität ; dies., Ästhetik, sowie Turner, der hervorhebt : „Cultural performances are not simple reflectors or expressions of culture or even of changing culture but may themselves be active agencies of change.“ (The Anthropology, 24.) 22 Vgl. Bereson, The Operatic State, 12ff.; auch Burmeister, Das Opernhaus. 23 Lamantia, L’Opéra, 43. 24 Bournsnell, The Royal Opera, 202.
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den Haupteingang, sondern nur über die hinteren, einfachen Treppenhäuser der Oper zugänglich waren. Jedem unter 50 Pfund zahlenden Gast wurde damit bereits beim Eintritt ins Opernhaus seine Ungleichheit zu denjenigen auf den besten Plätzen deutlich. Umgekehrt konnte der Besitzer einer Karte in den ‚stalls‘ oder einer Loge sich sicher sein, in ‚seinen Foyers‘ niemandem von den ‚billigen Plätzen‘ zu begegnen. Für das Parkett und die Logen galt eine Kleiderordnung, nicht aber für das ‚amphitheatre‘. Verstärkt wurde diese architektonische Segmentierung des sozialen Raums Oper durch die Zentren exklusiver Pausenerlebnisse, die von den oberen Plätzen nicht erreichbar waren. Das Publikum des dritten Rangs verbrachte die Pausen meist mit eigenem Picknick in den hinteren Treppenhäusern, während es für das Publikum der Logen und des Parketts kleine Foyers auf der Höhe ihres Sitzes gab. Nur die Besucher der besten Plätze erhielten Zugang zur ‚crushbar‘, einer vergoldeten Champagnerbar, die als „symbol of elitism“ einen geradezu legendären Ruf pflegte.25 In den fehlenden Foyers spiegelte sich noch der abgebrannte Vorgängerbau aus dem Jahr 1809 wider, in dem die Aristokratie die Pausen – wie in den meisten kontinentaleuropäischen Hofopern – vor allem unter sich in den eigenen großen Logen verbrachte. Die architekturimmanente soziale Funktion der Oper zeigte auch das alte Pariser Opernhaus, das Palais Garnier, welches Kaiser Napoleon III von 1860 bis 1875 erbauen ließ. Der Architekt Charles Garnier trug mit dem Bau exemplarisch dem Umstand Rechnung, dass sich der Opernbesuch im 19. Jahrhundert von einem internen höfischen zu einem öffentlichen gesellschaftlichen Ereignis entwickelt hatte. Neben seiner repräsentativen Funktion für Kaiser und Nation passte sich der Bau perfekt an die kulturelle Praxis und die kommunikativen Bedürfnisse der damaligen Pariser Gesellschaft an.26 Die zeitgenössische Beschreibung des Architekten selbst betonte, die durch viel Stuck exponierten Logenrahmen seien für die öffentlichen Blicke und das öffentliche Leben („vue et vie public“), die im hinteren Bereich der Logen liegenden Salons 25 Vgl. ebd. Der Guardian beschieb diesen Ort rückblickend als „the only part of the interior which could be glimpsed by those outside in the street, and the passers-by could watch dinner jackets and diamonds tangle in the interval battles to get at the champagne and smoked salmon sandwiches.“ Grd., 20.11.1999. 26 Vgl. Gerhard, Verstädterung ; zur Nieden, Vom grand spectacle.
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für den Rückzug ins Private und Geschäftliche gedacht.27 Die Zuschauer wurden selbst Teil des prachtvollen Dekors im Operninnenraum ; die gesellschaftliche Rolle der Oper war von Anbeginn Teil der Bauplanung. Dem entsprechen auch die Foyers, die gut die Hälfte des gesamten Gebäudekomplexes einnehmen ; die Arbeitsräume der Oper und das Bühnenhaus sind dem gegenüber vergleichsweise klein. Die wohl unerreichte Pracht dieser Räume veranschaulicht, dass die Szenen, die das Publikum sich untereinander vorführte, in ihrer Bedeutung für den Besuch der Oper denen auf der Bühne kaum nachstanden. Neben der Strukturierung des Publikums, wie sie sich auch in London zeigt, sind die öffentliche Sichtbarmachung und das Zusammentreffen der unterschiedlichen sozialen Gemeinschaften die zentrale soziale Funktion dieses Opernhauses. Auch über hundert Jahre nach seiner Eröffnung folgen die Besucher den räumlichen Aufforderungen zur Selbstdarstellung – Firmenempfänge und Galaveranstaltungen finden hier bis heute den prachtvollen Rahmen, der den Geladenen eine gewünschte Ordnung des Sehens und Gesehenwerdens bietet. Ein zufälliger Besucher einer Operngala im Pariser Palais Garnier in den 1980er-Jahren staunte : „Je me suis trouvé un soir, par hasard, au gala (…) Je ne pensais pas que ça existait encore !“28 Dabei staunte er über eine kulturelle Praxis, die der Intendant Rolf Liebermann nach eigenen Angaben erst wiederbeleben musste. Von seiner Zeit an der Pariser Oper in den 1970er-Jahren berichtete er : „Das Haus war total runtergekommen ; um es wieder ins Gespräch zu bringen, habe ich zum Beispiel mit dem Verband der Luxus-Couturiers ein Arrangement getroffen : Wir haben kostenlose Premierenkarten geliefert und sie schickten ihre schönsten Mannequins in den aufwendigsten Roben und dem teuersten Schmuck. Damit paradierten sie in den Foyers. Die Bourgeoisie war begeistert !“29 Ein höfisches Logentheater war auch die Berliner Staatsoper. Doch im Gegensatz zur Fassade, die noch die Gestalt des ursprünglichen Baus nach den Plänen von Georg Wenceslaus von Knobelsdorff aus dem Jahr 1742 zeigt, erfuhr das Auditorium nach Bränden im 18. und 19. Jahrhundert sowie Bombardierungen im 20. Jahrhundert insgesamt sieben Mal einen Umbau. Dabei wurde es jedes 27 Zit. in Patureau, Palais Garnier, 15f. 28 Patureau, Les pratiquants, 24. 29 Interview mit Rolf Libermann, in : Der Spiegel 34/1995, 174.
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Mal der veränderten Publikumsstruktur angepasst ; zunächst verschwanden die baulich voneinander getrennten Logen, hinzu kam ein bestuhltes Parkett, Ränge wurden hinzugefügt und wieder entfernt. Der jüngste Raum, 1955 im Stil des Neorokkoko erbaut, behält zwar die gerundete Form des alten Zuschauersaals bei und mit ihm die beschränkten Sichtachsen, wie aber die beiden Vorgängersäle des 20. Jahrhunderts sind die drei Ränge in ganze Reihen unterteilt. Jenseits des Mittelbalkons sind keine Anlehnungen mehr an die Logenstruktur erkennbar. Drei wesentliche Merkmale werden in diesen alten großen Operntheatern deutlich : Erstens segmentiert die Architektur, vor allem des Auditoriums, das Publikum, und zwar in der Regel nach Prestige bzw. finanzieller Potenz. Damit konstituieren die Opernsäle ein räumliches Bild der Sozialstruktur des Publikums nach den architektonischen Maßstäben der Entstehungszeit des Gebäudes. Zweitens dienen die Bauten einer Form der Rezeption, die zugleich einen aktiven Part der Zurschaustellung enthält. Diese Praxis des „demonstrativen Konsums“ (Thomas Veblen) bestimmt die Art und Weise, in der die Menschen zu einander in Kontakt treten sowie die Möglichkeiten, sich dabei zu beobachten. Drittens zeigen sie, dass Anpassung möglich ist und zumindest in der Vergangenheit üblich war. Zwar übertrugen bestehende Räume ihre Gesellschaftsordnung jeweils durch die räumliche Rückkoppelung auf die zeitgenössischen Besucher, neue Bauten orientierten sich aber jeweils an dem (potenziellen) Publikum der Gegenwart. Beispiele dafür, wie diese Anpassung auch an moderne demokratische Gesellschaften erfolgte, finden sich in Opernhäusern, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erbaut wurden. Den ‚demokratischen‘ Aufbau einer Oper verwirklichte etwa der 1961 eröffnete Neubau der Deutschen Oper Berlin. Über dem mehr als die Hälfte der 1800 Plätze umfassenden Parkett liegen in zwei Stufen große Balkone mit langen Sitzreihen übereinander ; an den Rändern schachteln sich offene kleine Balkone ineinander. Von jedem der Plätze kann die Bühne ohne Sichtbehinderung eingesehen werden ; separate Räume, Logen oder optische Barrieren fehlen in dieser Architektur. Der Raum zeige den „Halt für die zusammengehörende Theatergemeinde“, hieß es von Architekt Fritz Bornemann selbst.30 Der hohe und weite Zuschauersaal vermittelt einen 30 Zit. nach Busch, Die Deutsche Oper, 114.
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Raumeindruck ohne Fluchtpunkt (Königsloge) oder die Zuschauer untereinander in Beziehung setzende Sichtachsen (Hufeisenform). Die Foyers sind schlichte hohe Räume ohne Zierrat, die Treppenhäuser verbinden die Ränge, liegen aber außerhalb der Bewegungs- und Beobachtungsräume der Pausen. Die Deutsche Oper war als ein Prototyp moderner, an demokratischen Kriterien orientierter Opernarchitektur auch ein Vorbild für den Bau der Pariser Opéra Bastille, die 1989 eröffnet wurde. Nicht nur die reine Anzahl der Plätze (2703), sondern auch ihre offene Anordnung in einem Parkett und sich darüber erhebenden Terrassen, die ein sich endlos scheinender Saal überspannt, sorgen dafür, dass der einzelne Platz und Besucher in dem Raum untergeht und der öffentliche und gemeinschaftliche, egalitäre Charakter des Publikums zur Geltung kommt. Die Funktion der Oper als ein sozialer Raum begründet sich jedoch nicht allein durch ihre architektonische Gestaltung. Sie entsteht mindestens gleichermaßen durch das Ereignis, an dem sich teilnehmen und über das sich redend und schreibend urteilen lässt ; anhand dessen spezifische Kenntnisse reproduziert, mobilisiert und kommuniziert werden können. Die Positionierung innerhalb dieses Raumes erfolgt anhand der ähnlichen Stellungen, Merkmale und Interessen, denen ein gemeinsamer Regel- und Wissenskanon zu Grunde liegt. Das vielteilige Ereignis Oper lässt sich deshalb als ein Ritual betrachten. Es enthält alle vier Sinnelemente, die Mary Douglas für rituelles Verhalten festgemacht hat : den symbolischen Ausdruck, den sinnlichen Vollzug sowie die soziale und die ästhetische Funktion – vor allem aber ist es ein Akt der Kommunikation.31 Erst die Ritualisierung eines bestimmten Publikumsverhaltens – das heißt, „when the listeners dress in a certain way, go to a special place for the performance, follow a formal code of behavior in responding to the music, and adopt a specialized language to discuss the performance“32 – erschafft die spezifische Funktion des Ortes. Im Unterschied zur Operninszenierung (auf der Bühne) ist der Charakter des Opernrituals weniger rezeptiv als partizipativ, das heißt, es schließt alle ein bzw. forciert die ‚Unterwerfung‘ der Teilnehmenden unter be31 Vgl. Douglas, Ritual ; Wuthnow/Hunter u.a., Cultural Analysis, Krieger/Bellinger, Ritualtheorien, 7ff.; Rytlewski, Die Rückkehr. 32 McConachie, New York Operagoing, 181 ; Höffling, Musik und Sozialstruktur.
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stimmte tradierte, weil ritualisierte Regeln. Dies erklärt, warum mit dem Betreten eines Opernhauses auch heute noch das vielfach beschriebene Gefühl einhergeht, gewisse soziale und kulturelle Erwartungen bedienen zu müssen.33 Ebenso wie die Architektur transferieren die Rituale des Opernbesuchs vergangene Hierarchien und Regeln in die moderne Gesellschaft, „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in ein Kontinuum gebunden“.34 Auf die Art und Weise rückt verstärkt die Dynamik von formalen, wenn auch nicht notwendigerweise interessengeleiteten Handlungsweisen ins Blickfeld. Ein markantes Beispiel bietet etwa der Applaus. In den Hofopern galt der Grundsatz : „Wenn der Fürst applaudierte, tat man gut daran, ebenfalls seinen Beifall zu spenden. Denn die Einhaltung des Zeremoniells war wesentlich wichtiger als das individuelle Empfinden.“35 Eine geradezu irritierend ähnliche Spiegelung dieser feudalen Regel beobachtete der Koordinator der Spendenund Freundesprogramme der Pariser Oper in einer geschlossenen Vorstellung für eine Gruppe von Managern und Mitarbeiten eines großen Wirtschaftsunter nehmens : „Ils étaient tétanisés. Leur P D G trônait au premier rang de balcon, plein centre. Ils ne savaient pas quand applaudir. Ils attendaient son signal, l’œil gauche tourné vers lui. J’étais dans la salle, à coté de personnes qui m’ont demandé à la fin : ‚Qu’est-ce qu’on a vu ?‘, mais ils étaient contents.“36 Die Zufriedenheit, die hier beobachtet wurde, schien sich gerade aus der Sicherheit, einer bestimmten Verhaltenstruktur folgen zu können, zu ergeben. Denn anders als die räumliche Position, lässt sich das richtige Verhalten im sozialen Raum Oper nicht käuflich erwerben und markiert daher eine weit stabilere Barriere für Neulinge.37 Es setzt sich vor allem aus der Kenntnis und Reproduktion spezifischer Traditionen, Verhaltensformen, ungeschriebenen Regeln und Begriffen der Kommunikation, das heißt Rezeptionscodes, zusammen. Zum einen handelt es sich dabei um im weitesten Sinne technisches Wissen. Wann, wie und wo Karten erworben werden können, wie Abonnements funktionieren, mit welchen Mitgliedschaften gewisse Vorzugsrechte in Kraft treten, 33 Weber/Large, Wagnerism, 28 ; vgl. auch Patureau, Les Pratiquants. 34 Arnold u.a., Hüllen und Masken, 18 ; vgl. auch Voigt, Mythen. 35 Scheurmann, Szenenwechsel, 33. 36 Zit. nach Jourdaa, A l’Opéra, 98. 37 Vgl. Bourdieu u.a., The Love of Arts, 1–4 ; Norris, Music ; auch Schreiber, Erfahrungen.
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und nicht zuletzt die künstlerische Materie selbst, die Namen und das Ansehen von Komponisten, Sängern, Regisseuren und Dirigenten, bildet einen umfangreichen Bestand an Herrschaftswissen. Hinzu kommen informelle Verfahren und Netzwerke, die vor allem dort, wo die Nachfrage nach Opernkarten das Angebot übersteigt, an Bedeutung für die Zusammensetzung des Publikums gewinnen. Zum anderen sind Rezeptionscodes jene Merkmale, durch die das Opernpublikum sich als Gruppe konstituiert. Wie jedes Publikum ist das der Oper zunächst eine vergleichsweise heterogene Menge. Durch angemessene Kleidung (bei welcher Art Vorstellung gilt welcher Dresscode ?), das ‚richtige‘ Verhalten während der Vorstellung (wann wird geklatscht, wann nicht ?) und in den Pausen sowie das informierte und urteilssichere Gespräch über das Dargebotene, lassen sich für den Einzelnen Zugehörigkeiten herstellen. Die zentrale Kategorie, die dabei als Kompass für die Navigation durch diesen sozialen Raum gilt, ist der Geschmack. Geschmacksbildung, verstanden als „a collective cultural activity which takes place in the context of distinct institutional settings“,38 ist eine kollektive Interpretation eines Symbols oder Gegenstandes, die eine Bewertung hervorbringt (als schön, wertvoll, gelungen etc.). Das heißt, es bedarf eines Schemas, das den Individuen als Bezug für die Bedeutung des Rezipierten dient. Dieses Schema gibt als Mode oder „Rhetorik“ (Klaus-Dieter Meyer) den Maßstab vor, den sich der und die Einzelne aneignen kann. Durch diese Aneignung, so die Theorie, diffundiert der Geschmack durch verschiedene Schichten von ‚oben nach unten‘ (‚top-down‘), entzieht sich aber durch seine ständige Verfeinerung an der ‚Spitze‘ der Nivellierung. Das Schema bestimmt den Wert des Gegenstandes – das heißt den Besuch der Oper als Ausdruck eines „legitimen Geschmacks“, also eines, der in einer Gesellschaft hohes Ansehen genießt.39 Auf Grund der ständigen Rückkoppelung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart des Hauses ist dieser legitime Geschmack keinesfalls ein frei verhandeltes Maß, dem sich alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen unterwerfen müssten (oder könnten). Bestimmte gesellschaftliche Schichten sind historisch stärker an die Oper gebunden als andere – er bestimmt sich aus den zu 38 Meyer, Taste Formation, 36. 39 Vgl. Gerhards, Die kulturelle Elite, 10 ; Bourdieu, Die feinen Unterschiede.
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verschiedenen Zeiten gültigen Zugangsmaßstäben (Geburt, Einkommen, Bildung) zur Oper. Die Reproduktion der im Opernhaus gültigen Werte und Verfahren ist notwendig, um den eigenen Vorteil, den diese privilegierten Gruppen daraus gewinnen, zu erhalten. Denn nur wenn die Kriterien ebenso gehoben wie deutlich bleiben, ist eine klare Zuschreibung des Opernbesuchers als Mitglied einer kulturell dominanten Gruppe oder Klasse durch die Gesamtgesellschaft gesichert.40 Häufig erfahren diese Prozesse daher eine Formalisierung und Institutionalisierung. Etwa die Abozirkel, Freundes- und Förderkreise oder Besucherorganisationen bieten eine definierte Position im sozialen Raum und schaffen Gruppierungen, mittels derer sich der Einzelne positionieren kann. Der bereits 1962 gegründete Freundeskreis der Londoner Royal Opera machte die dazu dienliche Segmentierung deutlich : Er schuf ein bis in die 1990er-Jahre effektives Mehrklassensystem, das die Besucher des Hauses in ‚outer circle‘ (die normalen aber regelmäßigen Besucher), ‚inner circle‘ (der Freundeskreis) und ‚Drogheda circle‘ (die besonders wohlhabende oder mit der Oper gut vernetzten) unterteilte.41 Es sind die wohlhabenden, einflussreichen und gebildeten Schichten, die in die Oper gehen und wiederum die Oper zu einem Ort der Einflussreichen, Wohlhabenden und Gebildeten machen. Sich als Maßstab setzend oder mindestens kennend beweisen zu können, darin liegt die strategische Bedeutung des Geschmacks, der Geschmacksbildung und der Geschmacksdemonstration in der Oper.42 Dadurch entsteht eine Kreislaufbewegung, in der eine soziale Elite köhäsive Kriterien etabliert, sich selbst zu erkennen und zu feiern. Umgekehrt heißt das, „by the apparent strength of exclusive informal subcultural as 40 In ihrer Publikumsstudie der Pariser Oper stellt Patureau, Les Pratiquants, 35, fest : „Les pratiques du Palais Garnier constituent aujourd’hui une assemblée exceptionellement homogène par l’âge, le niveau de revenu, la possession de diplômes universitaires et le degré élévé de familiarisation avec la culture musicale savante.“ 41 Vgl. Lebrecht, Covent Garden, 197. 42 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 25. Dort heißt es : „Geschmack klassifiziert. (…) Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und hässlich, fein und vulgär machen, und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät.“ Vgl. auch Bittlingmeyer, Oper und Internet-Café, insb. Kap. 2–4.
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by the formal rules of conduct“43 werden alle, die sich diesen Regeln nicht anzupassen verstehen, erkennbar und damit zwar nicht aus dem Gebäude, jedoch seinem rituellen Angebot und der Möglichkeit, die durch den Opernbesuch ermöglichte Zuschreibung zu erhalten, ausgeschlossen. Die beiden ausgeleuchteten Dimensionen des soziales Raumes schaffen durch ihr Ineinandergreifen jene zentrale Kategorie, welche die Partizipation an dem sozialen Ereignis Oper erlaubt bzw. die gesellschaftliche Zuschreibung, zu einem kulturell dominanten Kreis dazuzugehören, sichert : Status. Dieser umfasst die Gesamtheit der sozialen Merkmale des Opernbesuchs, die sich zum einen aus der räumlichen Positionierung und der daran gekoppelten finanziellen Leistung, die erbracht werden muss, ergeben ; zum anderen aus der Rezeptionspraxis, das heißt, der Verständnisleistung gegenüber den Zugangsformalien der Oper einerseits und dem legitimen Geschmacksurteil über ihre verschiedenen künstlerischen Ebenen andererseits. Der Status bestimmt sich – um zu Bourdieus Termini zurückzukehren – durch das einzubringende ökonomische und (inkorporierte) kulturelle Kapital.44 1.2 Opernbesuch und Motivationsmuster
Je mehr kulturelles und ökonomisches Kapital eine Person akkumuliert, desto wahrscheinlicher wird ihr Opernbesuch. Diese Hypothese legt die Analyse der Struktur und Funktion der Oper als einem sozialen Raum nahe, in der sich die Kulturelite einer Gesellschaft trifft und über die sie im Umkehrschluss definiert wird. Empirische Erhebungen über den Kulturkonsum der Menschen in den drei untersuchten Ländern bestätigen diese Vermutung :45 In Deutschland geben bei 43 Evans, Phantasmagoria, 94. 44 Vgl. Bourdieu, Ökonomisches Kapital, sowie Gerhards, Die kulturelle Elite, 6ff. 45 Die Frage, wer überhaupt in die Oper geht und warum, öffnet ein empirisches Minenfeld. Allgemeine Erhebungen über Lebensstile und Gesellschaftsstrukturen enthalten selten den spezifischen Blick auf die Oper. Dagegen hat nicht zuletzt die zunehmende Bedeutung des Marketings in den vergangenen Jahren an den Opernhäusern ein anwachsendes Interesse an der Zusammensetzung und den Erwartungen des eigenen Publikums geschaffen. Doch stehen hinter den entsprechenden Erhebungen zum einen sehr unterschiedliche Fragen und Ziele, zum anderen liegt es keinesfalls im Interesse der Opernhäuser, diese Zahlen der Öffentlichkeit oder
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entsprechenden Umfragen 10 %, in Großbritannien 6 % und in Frankreich nur 3 % der Menschen an, in den vergangenen 12 Monaten mindestens einmal in der Oper gewesen zu sein.46 Diese Zahlen sind über den Zeitraum der vergangenen 25 Jahre relativ stabil geblieben. Eine soziale Aufschlüsselung dieser Daten belegt die sozialstrukturelle Prägung des Opernpublikums. Gliedert man etwa die britischen Opernbesucher nach ihrem sozioökonomischen Status, so sinkt der Anteil der Besucher aus den untersten Einkommensklassen und Bildungsabschlüssen unter einen Anteil von 1 % der Gesamtbevölkerung, während er bei den gehobenen Berufsklassen und Einkommensgruppen auf 11 % steigt. Das soziale Ungleichgewicht ist auch in den Pariser Opern evident : Umfasst die Spitze der sozialen Pyramide, die sogenannten ‚cadres et professions intellectuelles superieurs‘, in der Gesamtbevölkerung nur 8,1 %, so macht diese Gruppe 70 % des Opernpublikums in Paris aus.47 Auch in Deutschland ist der Teil des Publikums mit Hochschulabschluss mit 43 % zwar geringer als in Paris, doch gegenüber dem gesamtgesellschaftlichen Anteil von ebenfalls nur 8 % weit überrepräsentiert.48 Das spezifische kulturelle ‚Startkapital‘, das Opernbesucher mitbringen – typischerweise neben der höheren Ausbildung und einer erlernten hochkulturellen Rezeptionspraxis, etwa längerer Instrumentalunterricht in Kindheit und Jugend –, kennzeichnet sie stets als Angehörige einer auch sozial privilegierten Gesellschaftsschicht.49 Der Zusammenhang zwischen Klassenlage und Lebensstil – so umstritten er auch für moderne Gesellschaften sein mag – erweist sich in der Oper als überaus stark. In allen drei Ländern ist sie eine Institution, die von nur einer kleinen, aber sozioökonomisch privilegierten Gruppe frequentiert wird. Um die trotz dessen signifikanten Unterschiede zwischen den Ländern zu erklären, beden politischen Entscheidungsträgern zugänglich zu machen. Als bestes Beispiel für die Instrumentalisierbarkeit von Publikumsdaten gilt zumindest in Deutschland bis heute eine Studie, die 1978 erschien und die erfreuliche Botschaft enthielt, dass die Mehrzahl der Opernbesucher nur einen einfachen Volksschulabschluss besäßen. Vgl. Fohrbeck/Wiesand, Schreckbild Opernstudie, auch : dies., Musik ; zur Kritik vgl. Dollase u.a., Demoskopie, 45f. 46 Dollase u.a., Demoskopie ; Patureau, Les Pratiquants ; Lamantia, L’opéra ; Selwood, UK-Cultural Sector. 47 Vgl. die kritische Analyse von Patureau, Les Pratiquants. 48 Vgl. Rössel u.a., Differenzierung (die Zahlen stammen aus den frühen 1990er-Jahren). 49 Vgl. Abreu u.a., Survey, 14.
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darf es eines weiteren Kriteriums. Die vergleichende Erforschung der Praxis eines hochkulturellen Lebensstils hat verdeutlicht, dass dessen Ausprägung nicht allein von der Sozialstruktur abhängt, sondern auch von der „kulturellen Gelegenheitsstruktur“.50 Ein Opernbesuch lässt sich einfacher, kostengünstiger und mithin häufiger realisieren, wenn ein Land über eine entsprechend ausgebaute Infrastruktur verfügt. Die Abhängigkeit des Opernbesuches von dem Wohnort der Befragten zeigt sich dabei in Frankreich und Großbritannien weit ausgeprägter als in Deutschland. So steigt der Anteil der Opernbesucher auf der Île de France, also im Umland und Stadtgebiet von Paris, auf 15 %, das Fünffache des landesweiten Anteils.51 In Deutschland dagegen sorgt das dichte Netz von über 80 Opernhäusern dafür, dass der Landesdurchschnitt von 10 % etwa ab einer Gemeindegröße von 20.000 bis 100.000 Einwohnern erreicht wird ; in Großstädten von über 500.000 Einwohnern verdoppelt er sich fast auf 20 %.52 Welcher Zusammenhang aber wirklich zwischen musikalischen Präferenzen und ihren sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen besteht, das heißt, inwieweit die soziale Ordnungsfunktion der Oper auch einer der zentralen Gründe für ihren Besuch ist, hat bislang keine Publikumsuntersuchung der Oper empirisch überzeugend erhellen können. Soziale Beweggründe sind schwer bestimmbar – bei der schwelgerischen Oper fällt es vielleicht besonders schwer abzugrenzen, was die Besucher aus purem Vergnügen und was aus sozialer Strategie oder politischem Repräsentationsbedürfnis tun.53 Zwar verweisen 50 Vgl. Gerhards, Die kulturelle Elite, 16f. Die kulturelle Gelegenheitsstruktur beschreibt das unterschiedliche Ausmaß, in dem die entsprechende Infrastruktur innerhalb eines Landes verteilt ist ; die städtische Bevölkerung ist, so die Annahme, in der Realisierung ihrer hochkulturellen Präferenz gegenüber der ländlichen deutlich im Vorteil. 51 Vgl. Jourdaa, A l’opéra, 436. 52 Vgl. die schon älteren Daten in : Dollase u.a., Demoskopie, 30. Darin (53) findet sich auch der Bericht des Kulturpolitikers Hilmar Hoffmann, dass seit der Schließung der Oper in Oberhausen (1966) nur 5 % der bisherigen Abonnenten die Strecke von 10 Bahnminuten zur Duisburger Oper nutzten. Die daraus abgeleitete kulturpolitische Forderung, man dürfe die räumlichen Abstände nicht so sehr vergrößern, verweist auf die Abhängigkeit des in Deutschland ausgeprägteren Opernkonsums von der genannten Gelegenheitsstruktur. Dabei gilt : je größer die Stadt, desto höher die Kulturausgaben pro Kopf, desto höher der Musik- und Opernanteil am Kulturhaushalt : Scheytt/de Witt, Kommunale Musikpolitik, 177f. 53 Vgl. Föhl/Lutz, Publikumsforschung ; Neuhoff u.a., Evaluation. Umgekehrt berichtet Hennion,
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die meisten Untersuchungen auf die Brisanz dieser Frage, doch den daraus folgenden Problemen entkommen sie kaum. Wie problematisch dies gerade für empirische Studien ist, zeigen einzelne Opernumfragen, die zu zwar methodisch validen, aber trotzdem falschen bis absurden Ergebnissen kommen. Beispielsweise fand eine Studie, die nach der Beurteilung moderner Opernregie forschte, per Umfrage heraus, dass sich die Opernbesucher gar nicht für die Regie, sondern nur die Musik und die Sänger interessierten. Die Inszenierung sei kein signifikantes Bewertungskriterium, urteilten die Autoren der Studie54 – knallende Türen von erbosten Zuschauern, vor allem aber leere Ränge und gekündigte Abonnements, die in einem häufig explizit gemachten Zusammenhang mit bestimmten Inszenierungen stehen, offenbaren die fehlende Treffsicherheit solcher Ergebnisse. Eine prinzipiell auf Grund ihres subjektiven Urteils oder ihrer Beliebigkeit dagegen ‚fragwürdige‘ Quelle, wie eine Kritik im Feuilleton schildert hingegen nicht nur die Inszenierung, sondern auch die Unmutsäußerungen im Publikum, den Jubel oder die ‚Buhs‘ am Ende des Stückes. Darüber hinaus ist jenes Publikum, welches das Bild vom Opernpublikum an sich formt, in der Regel eine zwar wichtige, aber archetypische Minderheit : „Il n’est ni descriptif d’un type, ni représentatif de l’ensemble des publics dans la diversité de leurs pratiques.“55 Selbstredend gibt bei Umfragen eben kein Besucher einer Oper an, die Vorstellung allein aus Gründen des sozialen Prestiges zu besuchen, sondern verweist in der Regel auf die Musik, das Werk oder die Künstler. Oben wurde allerdings auch deutlich gemacht, dass nur das Wissen und der Geschmack, die eben im Genuss der Musik oder einer sängerischen Leistung zum Ausdruck kommen, soziales Prestige generieren können. Strategische soziale Beweggründe sind in stärker oder minder ausgeprägter Form unbezweifelbar stets vorhanden : „It is impossible to discuss the opera audience – any opera audience, especially the British – without reflecting upon hierarchies of class“,56 schlussfolgert Evans seine internationale Beobachtung der Opernwelt. Music Lovers, davon, Interviewpartner hätten in Reflexion der soziologischen Fragestellung umgehend begonnen, ihre musikalische Präferenz mit ihrem Mittelklassehintergrund zu entschuldigen. 54 Reuband, Moderne Opernregie. 55 Doublet, Opéra, 9. 56 Evans, Phantasmagoria, 417.
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Die geschilderten Rahmenbedingungen des Opernbesuchs zeigen die Besucher stets als Mitglieder von sozialen, kulturellen oder regionalen Gruppen, und in die Oper lässt sich nur im vollen Bewusstsein gehen, dass man einer mit anderen geteilten Veranstaltung beiwohnen wird, in der die gegenseitige Beobachtung und Bewertung nach erlernten Kriterien und Strategien Bestandteil des Ereignisses ist. Spätestens mit der Adaption der ritualisierten Verhaltensformen übernehmen die Zuschauer die traditionsreiche ‚Rolle‘, die sie als Opernbesucher spielen.57 „Deshalb muß der kollektive Konsum mit seinen Möglichkeiten des Sehens und Gesehenwerdens als Bestandteil der Nachfrage betrachtet werden.“58 Bei Beurteilungen von Opernhäusern oder -abenden finden diese Kategorien tatsächlich vielfältige Anwendung. Sie scheinen damit für die Vorstellung und auch Motivation eines Opernbesuches anschlussfähig. Eine Beschreibung des Royal Opera House bezieht die Verbindung zwischen dem Raum und den daraus abgeleiteten verschiedenen Beweggründen seiner Besucher wie selbstverständlich mit ein : „high above (…) the 600 seat amphiteatre is filled by a more enthusiastic audience. (…) It has come for the performance, not for the occasion.“59 Zur jährlichen Selbstdarstellung des Opernhauses gehörten stets die Aufzählungen von Gala-Abenden sowie die dabei anwesenden Mitglieder des Königshauses.60 Aus der Pariser Oper im Palais Garnier beschreibt Frédé rique Jourdaa vergleichbares – „s’y rendre, c’est participer à une cérémonie sociale où l’on croise les meilleurs de la République, ministres et conseillers influents, chef d’entreprises, avocats, journalistes“61 – und zeichnet damit ein 57 Vgl. McConachie, New York Operagoing, 182 ; auch Goffman, Wir alle spielen Theater. 58 Hoegl, Das ökonomische Dilemma, 172. 59 Bournsnell, Royal Opera House, 202. 60 Vgl. z.B. Royal Opera House, Annual Report, 10. 61 Jourdaa, A l’opéra, 17. In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es an dem Haus ein berüchtigtes „abonnement H“ nur für Galaveranstaltungen, in dem sich diese Kreise versammelten und trafen, das sich vererben, aber nicht, bzw. nur nach mehrjähiger Wartefrist, frei erwerben ließ, vgl. Sarazin : Opéra de Paris, 129. In London gab es eine ähnliche ‚Zielgruppe‘ : So schrieb der Chairmen des Londoner Opernhauses 1960 an seinen Direktor : „You know quite well why I want to avoid Fridays and Saturdays for first performances. It so happens that a lot of people (…) take themselves out of London at weekends, and many of them are the sort of people that we want to be present at first nights.“ Lord Drogheda an Sir David Webster, zit. nach Lebrecht, Covent Garden, 196f.
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präzises Bild von den Akteuren, die sich jene Mechanismen des sozialen Raumes Oper zu Nutze zu machen verstehen. Passen nun Oper und Demokratie nicht zusammen ? Moderne westliche Demokratien sind normativ konstituiert durch die Verschränkung gesellschaftlicher Interessenvielfalt und politischer Gleichheit aller. Der ostentative Charme der Oper, ihre Repräsentation und Legitimation sozialer Asymmetrien erscheinen daher in einer demokratischen Gesellschaft kaum haltbar. Durch die von Adorno zugespitzt formulierte „Hauptfunktion, dass die Oper das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem fiktiven früheren Status weckt“,62 transferiert und perpetuiert sie die ästhetischen und sozialen Traditionen ihrer aristokratischen wie bürgerlichen Blütezeit in die Gegenwart. Will der demokratische Staat die Oper in geschilderter Weise als öffentliches Gut legitimieren, muss er diesen Mechanismus durch gezielte Intervention relativieren bzw. ein kulturpolitisches Gegenprogramm für die Oper entwerfen, um sie in das demokratische Normengerüst zu integrieren und für potenziell alle zu öffnen. Welche Paradoxien damit einhergehen, ist Gegenstand der beiden folgenden Abschnitte. 1.3 Die Demokratisierung der Oper als politische Maxime
Im Unterschied zu einer feudalen oder privaten Form der Kulturpatronage „a democratic state cannot be seen as simply indulging the aesthetic preferences of a few, however enlightened. Consequently, a democratic cultural policy must articulate its purposes in ways that demonstrate how the public interest is being served“.63 Diesem Druck (das Gemeinwohl als Bestandteil der Kulturpolitik geltend machen zu können) unterliegen die Vorstellungen und Verfahren, nach denen die im vorangehenden Abschnitt dargestellten sozialen und kulturellen Traditionen des Erbes Oper in das Normengerüst des demokratischen modernen Staates eingegliedert werden sollen.64 Die Legitimation der staatlich geförderten Oper liegt in ihrer glaubhaften Organisation als Oper der ganzen Gesellschaft. Die Definition einer für die Allgemeinheit wichtigen Kultur, deren 62 Adorno, Musiksoziologie, 94. 63 Mulcahy, Cultural Policy. 64 Vgl. Loosley, „Facing the Music“.
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Qualitätskriterien sowie die Teilnahme der Bürger daran wird zur Pflicht des Staates und der politischen Institutionen. Zugleich aber darf niemand in einem demokratischen pluralistischen System beanspruchen festzulegen, was genau dieses Gemeinwohl ist.65 Diese paradoxe Aufgabe bildet einen weiteren gemeinsamen Bestandteil moderner westeuropäischer Kulturpolitiken. Den Zugang zur Oper für alle Menschen zu öffnen und sie damit zu ‚demokratisieren‘, gehört in Deutschland, England und Frankreich zu den zentralen kulturpolitischen Strategien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Motivation dafür findet sich stets in den grundlegenden Prinzipien der jeweiligen Kulturpolitik, denen die Opern nun unterworfen wurden. Erstmals finanzierten nun alle drei als demokratische Staaten eine als öffentlich begriffene Kultur durch Steuergelder. Entsprechend ähnlich entwickelten sich die normativen Strukturen zu einem am wohlfahrtsstaatlichen Rahmen orientierten Solidarsystem Kultur. In Deutschland leitet sich der Anspruch der Teilhabe aller Menschen an der Kultur unmittelbar aus dem Selbstverständnis des Kulturstaates ab ; sie ist konstitutiver Bestandteil einer „pflichtgemäß etatisierten Kulturpolitik“.66 Nach dem Zweiten Weltkrieg (bzw. nach der Wiedervereinigung) galt es, sich zugleich von der Allmacht und Deutungshoheit des Staates über das kulturelle Leben und seine künstlerischen Ausdrucksformen, welche die Diktaturen gekennzeichnet hatte, abzugrenzen und an die reichen und moralisch sicheren Traditionen anzuknüpfen.67 Es war fortan die Aufgabe des Staates, „das kulturelle Erbe zu bewahren, die Entwicklung der Kunst zu fördern und zu schützen (…) und neue und experimentelle Kunstformen zu ermutigen“. Dabei sollte „Kunst und Kultur als Ausdruck menschlichen Zusammenwirkens allen Mitgliedern der Gesellschaft zugänglich sein“.68 Ein starker Kulturstaat konnte nur dem Diktum „der Staat sind wir alle“ folgen und sich insofern als ein partizipatorisches Gebilde legitimieren. Für diesen Staat galt fortan der Grundsatz : „(…) soweit er etwas mit Kultur zu tun hat und etwas für Kultur tun kann : die
65 Fraenkel, Strukturanalyse. 66 Vgl. Trommler, Kulturpolitik, 385. 67 Vgl. Lepenies, Kultur und Politik. 68 Das Bundesverfassungsgericht, zit. nach Maihofer, Kulturelle Aufgaben, 1240f.
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Kultur ist für alle da !“69 Das heißt, die potenzielle unmittelbare Teilnahme aller an allen Formen der Kultur überwölbt nicht nur sämtliche kulturelle Formen und gesellschaftliche Gruppen, sondern auch den demokratischen Repräsentationsgedanken.70 Das ‚Bürgerrecht auf Kultur‘ ist in Deutschland nicht als freiwillige Leistung des Staates normiert, sondern als Pflichtaufgabe.71 Vor einem ganz anderen historischen Hintergrund formulierte die im August 1946 verlautbarte Royal Charter des englischen Königs George VI. eine ähnliche Aufforderung an „Government departments, local authorities and other (public) bodies to develop a greater knowledge, understanding and practise of the fine arts (…) to improve the standard of (their) execution (…) and in particular to increase the(ir) accessibility to the public“.72 Obwohl es in Großbritannien keinerlei Tradition öffentlicher Kulturpolitik gab, wurde der Staat damit zum wichtigsten Förderer der Kultur. Aufgrund des Einsatzes der Royal Charter geschah dies allerdings ohne eine öffentliche Diskussion oder auch nur ein parlamentarisches Verfahren.73 Die öffentliche Musikförderung, die während des Zweiten Weltkrieges eingesprungen war, um mit dem Kulturbetrieb die Moral der Menschen an der Heimatfront zu stärken, wurde nach 1945 beibehalten. So blieb ihre Leistung auch an jenes Gefühl der Zusammengehörigkeit gekoppelt, aus dem sie entstanden war und das nun das vom Krieg geschwächte Land und das zerfallene Empire einte. Es war Anlass wie Legitimation der neuen Kulturpolitik : „England might have lost its wealth and might, but it could still put on a show for all the world to envy (…) a compensatory sense of moral superiority (…) swept the country.“74 Die Kulturpolitik gedieh zwar institutionell unter der keynesianischen Führung, doch die Skepsis gegenüber der staatlichen Kontrolle einer bislang nur privat betriebenen kulturellen Förderung, verhinderte die Entwicklung einer staatlichen ‚Kulturhoheit‘. Finanziell und organisatorisch wurde diese an den 69 Ebd., 1245. 70 Vgl. Bechler, Gütercharakter, 53f. 71 Vgl. Bergsdorf, Der Staat, insb. 13 ; Naumann, Die schönste Form ; verfassungsrechtlich begründet von Häberle, Kulturverfassungsrecht, 8. 72 The Charter of Incorporation granted by His Majesty The King to The Arts Council of Great Britain, London 1946, zit. in : Opera House Covent Garden, Annual Report 1946/47, 8. 73 Vgl. Becker, Kulturfinanzierung, 2ff.; Ridley, Tradition. 74 Lebrecht, Covent Garden, 49.
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Arts Council delegiert ; normativ musste die Freiheit des Individuums vor jedweder kultureller Dominanz irgendeiner Autorität gesichert werden. Versucht wurde dies durch die Verheißung einer Teilhabe aller an der Kreation und Rezeption der Kultur. Doch die Spannungen zwischen dem freiheitlichen Anspruch und der staatlichen Fürsorge sowie den sozialen Interessengegensätzen, die diese Kulturförderung überbrücken musste, wohnten der britischen Kulturpolitik bereits seit ihrer Gründung inne. Auch die französische Kulturpolitik suchte die Oper in ihr demokratisches Kulturverständnis einzubinden. Zwanzig Jahre nach ihrer 1939 vollzogenen formalen Verstaatlichung wurde die Pariser Oper, wie andere öffentliche Kulturgüter auch, Gegenstand der unter der Regierung de Gaulle und ihrem Kulturminister André Malraux geschaffenen politique culturelle. Die Zeit vor de Gaulle und Malraux kennzeichnete ein weitgehend distanziertes Verhältnis von politischem und kulturellem Leben. Zwar hatte der Staat im Anschluss an die Monarchie die Finanzierung und zum Teil die Kontrolle über die Kultur übernommen, doch durchlief die französische Gesellschaft eine zu tiefe kulturelle Spaltung, als dass das kulturelle Leben zum Integrationsfaktor hätte werden können. Die meisten Franzosen, so hat es Vincent Dubois in seiner Analyse der Ursprünge der modernen französischen Kulturpolitik hervorgehoben, konnten nicht einmal einen französischen Komponisten oder Maler nennen.75 Die Institutionen der Hochkultur, allen voran die prachtvolle Pariser Opéra Garnier, waren nicht das, was die ‚Grande Nation‘ verband ; sie hatten keinesfalls die Rolle von Repräsentanten einer als gemeinschaftlich empfundenen Kultur inne, sondern galten allein den Mächtigen und Einflussreichen in Paris zugehörig. Die zu Beginn der V. Republik initiierte staatlich verantwortete Kulturpolitik musste diese Spaltung überwinden können : Die Legitimation der engen Verbindung von Staat und Kultur hieß vor allem unter Berufung auf das Gemeinwohl die Teilhabe aller an diesem Gut behaupten, und sich mithin dem republikanischen Erbe des Landes verpflichten.76 Das 1959 verabschiedete Dekret, das ungeachtet zahlreicher Veränderungen bis heute die kulturpolitischen Grundlagen des Landes formuliert, verlangt 75 Vgl. Dijan, Politique culturelle ; Dubois, La Politique ; vgl. auch Bihr/Pfefferkorn, Déchiffrer. 76 Vgl. Urfalino, L’Invention.
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vom Staat entsprechend, „de rendre accessible les œuvres capitales de l’humanité, et d’abord la France, au plus grand nombre possible des Français ; d’assurer la plus vaste audience à notre patrimoine culturel, et de favoriser la création des œuvres de l’art et de l’esprit qui l’enrichissent“.77 Darin zum Ausdruck kam eine von Malraux und allen seinen Nachfolgern verteidigte Politik, dernach die Kunst ebenso ästhetischen und moralischen wie auch sozialen Ansprüchen (besoins sociaux) genügen musste.78 Mitunter als wahrer „prosélytisme culturelle“, als ein „kultureller Bekehrungseifer“79 verspottet, dominierte der Wunsch einer aktiven Demokratisierung der Hochkultur den kulturpolitischen Diskurs der gesamten V. Republik. Diesen Grundlagen zur kulturellen Teilhabe, die allesamt einer demokratisch konstituierten, staatlich regulierten (Großbritannien) oder exekutierten (Frankreich und Deutschland) Kulturpolitik entspringen, mussten auch und müssen fortwährend die Opern angepasst werden. Die Oper als ein „lieu prestigieux réservé à quelques-uns mais qui coûte cependant fort cher à tous“80 war prinzipiell nicht länger haltbar. Das kulturpolitische Grundprinzip der Partizipation wurde daher in allen drei Hauptstädten explizit auf die Oper übertragen. Das heißt, die Opern nehmen zumindest hinsichtlich der normativen Erwartungen keine Sonderstellung ein, die sie in irgendeiner Form von dem Partizipationsanspruch befreien würde. Allerdings unterscheiden sich die Formen, in denen dieser festgehalten wurde, in den einzelnen Fällen beachtlich. Die Pariser Oper etwa erhielt 1978, nachdem zwanzig Jahre lang trotz der demokratischen Ausrichtung der Kulturpolitik die Dominanz der ‚200 familles de Paris‘, der Pariser Elite, ungebrochen war, ein festes Statut. Es enthielt darin den, dem kulturpolitischen Gründungsprinzip von 1956 auch sprachlich auffallend ähnlichen Auftrag, „de rendre accessibles au plus grand nombre les œuvres du patrimoine lyrique et choréographique“.81 Die Londoner Opern hatten bis in die 1990erJahre keinerlei konkrete kulturpolitischer Zielvorgabe in Form eines spezifischen Dokumentes, wie Renan in seiner Analyse des britischen Opernmanage77 Journal Officiel (JO), 26.07.1959, 7, 413. 78 Vgl. Wangermée, Politique culturelle, 35ff. 79 Dubois, La Politique, 156f. sowie 213. 80 Ministère de la Culture, Gestion, 155. 81 Dekret vom 07.02.1978, in Ministère de la Culture, Gestion.
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ments hervorhebt : „In over fifty years since the establishment of the Arts Council of Great Britain no clear, explicit objectives appear in its annual reports for the funding of an art form, which has in some years received up to 40 % of the Arts Council’s total grant-in-aid.“82 Die Prinzipien des Arts Council seien vielmehr in Gesprächsrunden diskutiert und verhandelt worden. Sie waren als allgemeiner Anspruch, die Oper müsse für Zugänglichkeit, Bildung und ein breiteres Publikum Sorge tragen, gängig, doch niemals festgeschrieben.83 In Berlin existierten für die Regiebetriebe Weisungen etwa in Form der Vorgabe, Ermäßigungen für finanziell schwache Gesellschaftsgruppen zu gewähren. Jenseits dessen gab es aber keine feste Mission für die Staatsopern. Den Auftrag prägte vielmehr ein diskursiver Konsens, der sich seit der 1979 formulierten Forderung des Kulturpolitikers und Vordenkers einer ‚neuen Kulturpolitik‘, Hilmar Hoffmann, ‚Oper für Alle‘ zu schaffen, kaum verändert hat.84 So reformulierte Kulturstaatsministerin Christina Weiss 2004 : „Der Staat finanziert sie als Kunst mit dem Auftrag, Repertoire und künstlerisches Wagnis anzubieten – zu erschwinglichen Preisen für alle.“85 Das gemeinsame Ziel der Demokratisierung einer tradierten, im Ereignis sozial hierarchischen Kunstform überwölbt die vorhandenen Unterschiede in den drei Gesellschaften weitgehend : Die noch immer vergleichsweise signifikant ausgeprägte Klassenstruktur des Kulturkonsums in Großbritannien schlägt sich in der fast gleich lautenden kulturpolitischen Semantik der ‚Demokratisierung‘ nieder, wie die französische Berufung auf das revolutionäre republikanische Erbe oder die Verankerung der deutschen Kulturpolitik in den Idealen einer bürgerlichen Emanzipation. Wie später deutlich wird, stößt diese Legitimationsstrategie allerdings nicht überall gleichermaßen auf Akzeptanz. In der Kritik an der staatlichen Verantwortung und Förderung der Oper spiegeln sich diese ungleichen Vorstellungen von kultureller Gemeinschaftlichkeit und sozialem Ausgleich in der Kultur weit deutlicher wider als in den gesetzten kulturpolitischen Ansprüchen. 82 Renan, Magic Flute, 62f.9 83 Ebd., 63f. 84 Vgl. Hoffmann, Kultur für Alle. 85 Festrede der Kulturstaatsministerin Christina Weiss zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele 2004, SZ, 27.06.2004.
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Neben dieser normativen Grundausrichtung ist das deutlichste Mittel der ‚Demokratisierung‘ der Oper durch den Staat die finanzielle Förderung, die stets als Entlastung der Besucher definiert wird.86 Mit seinen Zuschüssen und Subventionen vermindert der Staat sozusagen die Kosten für den Zugang zum Opernhaus. So korrespondieren die finanziellen Zugangsbarrieren zwar prinzipiell mit den hohen Produktionskosten der Oper, doch sind die Eintrittspreise, entgegen der in Teil II des Buches gezeigten steigenden Kostenspirale, im Laufe der Operngeschichte gesunken. Nachdem an den meisten höfischen Opern der Zugang zum Haus nur durch den Adelsstand und die Zugehörigkeit zum Hofe ‚erworben‘ werden konnte, waren die schließlich zum Verkauf stehenden Eintrittsrechte so teuer, dass sie eine soziale Selektion garantierten. Die entsprechenden Logen und guten Plätze konnten nur von der Aristokratie, dann dem aufgestiegenen städtischen Bürgertum bezahlt werden, kosteten sie doch für einen Abend ein Vielfaches der Monats- oder sogar Jahreslöhne einfacher Angestellter und Arbeiter. Die öffentliche Trägerschaft und das mit ihr einhergehende Ideal, allen Menschen den Zugang zur Oper zu ermöglichen, hat den hohen Preisen als Zugangsbeschränkung Grenzen gesetzt. Nicht nur wurden die Kartenpreise damit insgesamt von den Kostenentwicklungen der Opern abgekoppelt ; im Verhältnis zur allgemeinen Preisentwicklung sind Opernkarten in den vergangenen hundert Jahren kontinuierlich günstiger geworden. Zwar sind die Spitzenpreise noch immer hoch (und jüngst an den großen Opern sogar enorm gestiegen87), doch an ihren durchschnittlichen relativen Eintrittspreisen gemessen, war die Oper für ihre Besucher nie billiger denn als Staatsoper des demokratischen Wohlfahrtsstaates. Preisstaffelungen, Abonnements und Ermäßigungen ebnen die hohen Differenzen und gleichen die Kosten an das soziale Spektrum einer demokratischen Gesellschaft an – mit zwar teuren Preiskategorien, aber vor allem einem breiten mittleren Segment und Instrumenten des sozialen Ausgleichs 86 Subventionen werden in der Regel als Ausgaben pro Besucher deklariert (Zuschüsse und Subventionen pro Platz), oder das Preisniveau der Karten wird als sich selbst ausgleichend begriffen (ein Platz für 150 reduziert den Kartenpreis eines anderen von 100 auf 50). 87 Am höchsten ist das Preisniveau der Royal Opera inzwischen mit bis zu 210 Pfund für einfache Vorstellungen, in Paris bis zu 170 Euro, in Berlin bis 126 Euro ; für Galaveranstaltungen gelten überall noch höhere Preise.
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für weniger zahlungskräftige Gruppen. Die an den eigentlichen Kosten gemessen moderaten Eintrittspreise sind damit das Ergebnis eines Prozesses sich verbreiternder Publikumsschichten, in dem die „dominante Wählergruppe, die Mittelschicht, über den politischen Prozeß, zu dem auch die Bestimmung der Finanzierung der öffentlich getragenen E-Musik gehört, zusätzliches Einkommen auf sich umverteilt“.88 Andere finanzielle Steuerungen tragen weit weniger systematisch zu einer Demokratisierung im genannten Sinne bei. Dazu gehört die gesetzlich geregelte, durch Vereinbarungen zwischen Oper und öffentlicher Verwaltung bestimmte oder freiwillig erbrachte Gewährung von Preisermäßigungen gegenüber einkommensschwachen Gruppen. Auf Grund der vielfältigen und schwer nachzuvollziehenden Weise, in der Opern Ermäßigungen anbieten, kann allerdings kaum von einer staatlichen oder politischen Strategie gesprochen werden. Nicht zuletzt ist der Umstand, ob und in welcher Höhe ermäßigte Plätze verkauft werden, von der Auslastung eines Hauses abhängig. Auch die dezentrale Förderung von Opernhäusern wirkt demokratisierend, verbessert sie doch die kulturelle Gelegenheitsstruktur, welche die Partizipation fördert. Der Bau oder Unterhalt auch kleinerer Opern jenseits der kulturellen Zentren oder von Tourneeprogrammen großer Opernhäuser trägt dazu bei. Doch wie bereits dokumentiert, basiert die unterschiedliche zentrale oder dezentrale Struktur der Opernlandschaften in den drei untersuchten Ländern hauptsächlich auf den spezifischen historischen Entwicklungen. Auch hier besteht mithin zwar eine Verbindung zu der staatlichen Förderung, doch lässt sich keine gezielte Demokratisierungsstrategie belegen. Auch der Umstand, dass sich, ungeachtet der sinkenden Preisentwicklung, die Vorstellung von dem teuren Luxus eines Opernbesuches, den nur die wenigsten sich leisten können, so hartnäckig hält, verdeutlicht, dass die finanzielle Entlastung des Publikums kein alleiniger Weg zur demokratischen Oper ist. Das im Rahmen des Opernbesuchs demonstrierte kulturelle Kapital der Besucher auszugleichen, berührt zwar die staatliche Gewährleistung von Bildungschancen für alle Mitglieder der Gesellschaft, entzieht sich aber ansonsten der politischen Steuerung. Mehr noch : Verhalten, Rhetorik oder Geschmackskom88 Vgl. Hoegl, Dilemma, 170 ; er folgt hier dem ‚Director’s Law of Public Income Redistribution‘.
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petenz sollen sich in einer demokratischen Gesellschaft gerade pluralistisch herausbilden können und nicht gesetzten und steuerbaren Standards unterworfen sein. Die oben angeführten kulturpolitischen Normen klären dieses Problem der Partizipation und Exklusion nicht. Vielmehr haben alle expliziten Demokratisierungsbestrebungen und ihre unterschiedlichen kulturpolitischen Rahmenbedingungen eine grundsätzliche Vorstellung gemeinsam : Sie alle gehen von einer Veränderung bzw. Verbreitung der Rezipienten bei einer Beibehaltung der Kreationsform aus. Hinter dieser Feststellung verbirgt sich die Differenz zweier Strategien, welche die Kulturpolitikforschung als ‚Demokratisierung von Kultur‘ einerseits und ‚kulturelle Demokratie‘ andererseits bezeichnet.89 Beide verfolgen für die demokratische Ordnung der drei hier betrachteten Staaten grundlegende Ziele, doch kennzeichnet sie ein immanenter Widerspruch : Während erstere vor allem darauf zielt, die ‚elitäre‘ Hochkultur allen Menschen zugänglich zu machen und in Kultur eine zivilisatorische Leistung zu sehen, die den einzelnen Menschen wie die Gesellschaft als Ganzes verbessert, zielt letztere auf die Autonomie kultureller Entwicklungen und die Anerkennung einer möglichst großen Vielfalt an ‚populären‘ Kulturen, eine breite Kreation und Partizipation.90 Die staatlich gelenkte westliche Opernkulturpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgte vor allem die erste Form ; in der Regel spielte weder die ‚kulturelle Demokratie‘ der Oper eine Rolle, noch wurde der Konflikt zwischen den beiden Strategien in diesem Feld thematisiert. Zum Teil liegt das in der Kunstform selbst begründet : Ihre ‚Kreation‘, das heiß, die Neukomposition von Opern, hat im 20. Jahrhundert die Beziehung zum Publikum verloren ; sie war immer weniger jener ‚Abglanz‘ oder Spiegel der Gesellschaften, in denen sie
89 Vgl. Vestheim, Cultural Policy ; Webster’s World of Cultural Policy ; Buchwalter, Culture and Democracy. Wangermée, Programme Européen. 90 Zwischen diesen beiden Grundausrichtungen, den „kulturpolitischen Leitmotiven“ (G. Schulze) liegen die strategischen Dilemmata jedes kulturpolitischen Programms : Wird Kultur als Kunst oder als Lebensform begriffen, ist sie eine öffentliche oder private Angelegenheit ? Dient ihre Förderung dem gesamtgesellschaftlichen Ansehen oder dem gemeinschaftlichen Zusammenhalt ? Soll Kulturpolitik die Infrastruktur und Rahmenbedingungen für die Produktion der Kunst schaffen oder kulturelle Aktivitäten selbst fördern ? Wird die öffentliche Förderung als Subvention oder Investition begriffen ? Vgl. Mataresso/Landry, Balancing Act.
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entstand.91 Zugespitzt formuliert, wurden neue Opern (wie neue Musik überhaupt) paradoxerweise umso elitärer und für ein breites Publikum unverständlicher, je mehr sie sich mit der gesellschaftlichen Gegenwart beschäftigten bzw. aus ihren zeitgenössischen Strömungen heraus entstanden. Eine im Sinne der kulturellen Demokratie ‚populäre‘ Form der Gattung entstand zumindest in Europa nicht.92 Darüber hinaus sind die Merkmale kultureller Demokratie, da sie viel stärker in den künstlerischen Prozess verankert sind, weit schwieriger mit den genannten Steuerungsmitteln der Kulturpolitik zu greifen. Zwar wird gerade unter Berufung auf die veraltende Gattung Oper kulturpolitisch stets auch die ‚Kreation‘ von Neuem gefordert, dies findet jedoch gerade in den großen Staatsopern keinen Niederschlag ; sie bleiben für gewöhnlich für das ‚große‘, traditionelle Repertoire und den Erhalt der hochkulturellen Oper zuständig. Nicht zuletzt stellen die Staatsopern ein zentrales Bindeglied dar zwischen dem kulturellen Erbe und der kulturellen Macht des Staates selbst. Es entsteht eine Spaltung zwischen der staatlich geförderten Erhaltung der Hochkultur Oper auf der einen Seite, die aber trotzdem den kulturpolitischen Demokratieprinzipien folgen muss, und einem grauen Bereich der freien Opernund Musiktheaterproduktion, die sich der Kanonisierung entzieht, aber gerade deswegen durch das kulturpolitische Raster fällt. Eine offene Problematisierung der Frage nach dem tatsächlichen ‚demokratischen Charakter‘ der Oper ist somit kulturpolitisch möglicherweise gar nicht wünschenswert. 1.4 Das Demokratisierungsparadoxon der Opernpolitik
Mit dem Befund, dass sich der Staat gegenüber der Oper auf Strategien der ‚Demokratisierung von Kultur‘ beschränkt und keine der ‚kulturellen Demokratie‘ verfolgt, bleibt die Stellung der Oper als ‚Hochkultur‘ und zivilisatori91 Vgl. Bermbach/Kunold, Der schöne Abglanz ; Schläder, Oper und Demokratie. 92 Einige wenige Ausnahmen fanden eigentlich nur außerhalb Europas statt, etwa mit der Verwurzelung der Oper in der Kultur der amerikanischen Sklaven in George Gerswhins Porgy and Bess oder in der Volksmusik Südamerikas, in Astor Piazzollas Oper Maria de Buenos Aires sowie insgesamt die Entwicklung des Musicals. Die Versuche der sozialistischen Staaten, eine populäre Form zu entwickeln (von Dessau bis Shostakovich), sind gegenüber dem Publikum nicht nachhaltig erfolgreich gewesen und auch musikhistorisch ‚elitäre‘ Musik geblieben.
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sche Leistung nicht nur unangetastet. Sie wird, da sie die Legitimationsgrundlage für die öffentliche Förderung bildet, sogar verstärkt und mit ihr die soziale Codierung und soziale Funktion der Oper. Damit kommt es zu einem Paradoxon, das sowohl praktisch als auch demokratietheoretisch zentral für das Verhältnis von Oper und Staat ist und auf die zentralen Verhandlungsfelder der fokussierten Opernkrisen am Ende des 20. Jahrhunderts verweist. Klaus von Beyme hat das hier exemplarisch auftretende Phänomen als „Demokratisierungsparadoxon der Kulturpolitik“ bezeichnet. Dahinter verberge sich, so von Beyme, der Konflikt, dass der Versuch des demokratischen Staates, immer breitere Schichten für Kultur zu mobilisieren, empirisch nicht erfolgreich ist – hohe öffentliche Kulturausgaben führten nicht notwendig auch zu höherer Partizipation. Daher mache der Staat ständig unter Berufung auf eine Demokratisierung der Kultur Konzessionen an eine elitäre Kulturauffassung. Die Nähe von Kulturpolitik zu essenziellen Werten einer Gesellschaft mache aus diesem Gegensatz einen besonders schwer kompromissfähigen Konflikt.93 Der meritorische Wert der Oper, der im vergangenen Teil als ein Grundpfeiler ihrer kulturpolitischen Konzeption und Grund ihrer öffentlichen Förderung dargestellt wurde, prägt nicht nur den Gütercharakter der Oper, sondern auch das Anforderungsprofil an die inhaltliche, das heißt, künstlerische Leistung eines Opernhauses. Weil dieser Wert die Bestimmung, was ein gesellschaftlich wünschenswertes Gut ist, notwendig macht, verursacht er einen gesellschaftspolitischen Zielkonflikt. Die Steuerung gegen das Marktversagen auf dem Kultursektor zielt auf die individuelle ‚Konsumentensouveränität‘, die Behauptung des meritorischen Charakters der Oper schränkt das individuelle Werturteil dagegen ein. Der Souveränität des individuellen Wert- oder Geschmacksurteils droht mit der Behauptung eines meritorischen Charakters der Oper eine Bevormundung. Die staatliche Anerkennung der bildungsbürgerlichen Usurpation der Oper entzog sie den heterogenen Einflüssen des Marktes. Die Oper war nicht mehr länger ein Kulturprodukt, eine lebendige Unterhaltungsform, sondern eine Quelle von Kultur in einem weiteren und höheren Sinne, deren ästhetische Leistung um eine soziale Legitimation ergänzt wurde.94 Das Mono93 Vgl. v. Beyme, Kulturpolitik (2002), 17ff. 94 Vgl. Mirza, The Therapeutic State ; Storey, The Social Life, 9. Levine beschrieb : „What was in-
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pol darüber besaß fortan der Staat. Damit findet – ausgerechnet unter der legitimen, in einer demokratischen Gesellschaft sogar notwendigen Berufung auf den sozialen Ausgleich und das Allgemeinwohl – eine klare Loslösung statt von Grundsätzen, welche die Oper über Jahrhunderte bestimmten : von der Abhängigkeit vom Geschmack, auch der Herrschenden, vor allem aber der Mehrheit des Publikums, und von der Nachfrage als entscheidendem Faktor für den Erfolg oder Misserfolg einer Opernaufführung wie eines ganzen Opernhauses. Das heißt auch, eine Loslösung von genuin ‚populären‘ Maßstäben. Die kulturpolitischen Normen folgen dagegen dem einleitend vorgestellten lofty approach und seiner ‚elitären‘ Auffassung insofern, als sie sich mit dem Auftrag an die bürgerliche Kultiviertheit der Oper explizit gegen den Geschmack der Mehrheit bzw. den (vermeintlich) mehrheitsfähigen Geschmack stellen.95 Die Oper erhält dadurch einen höheren ‚Wert‘ als etwa das Musical oder die Operette – „Such perceptions are clearly created by an ‚elite‘ group (…) the function of subsidy is to make these ‚elite‘ perceptions the property of the electorate in a democratic society.“96 Der opernfördernde Staat bestimmt in gewissen Grenzen den gültigen Geschmacksrahmen. Anders formuliert : Erst als Staatsoper wurde die Oper zur rein hochkulturellen Form. Darin – und keinesfalls allein in der bereits zuvor dargestellten Anerkennung des Marktversagens von Kultur – liegt der im Zuge des Wohlfahrtstaates entwickelte qualitative Unterschied zwischen öffentlicher Kulturförderung und einer auch normativ regulierenden Kulturpolitik.97 Der französische Kulturkritiker Marc Fumaroli hat scharfe Anklage gegen dieses System erhoben. In seiner Streitschrift, nicht nur gegen die französische Kulturpolitik „l’État Culturel“, zielt er auf eben jenen modernen Kulturstaat, der die Rolle eines kulturellen Wächters übernommen habe, um in paternalistischer Manier festzulegen, was gut sei für sein Volk und was nicht. Wie sich die Religion in ein rituelles Zeremoniell hülle, so verstecke der Staat diese demagovented was the illusion that the aesthetic products of high culture were originally created to be appreciated in precisely the manner late nineteenth-century Americans were taught to observe : with reverent, informed, disciplined, seriousness“, 229. 95 McGuigan, Cultural Populism, 2. 96 Pountney, The Future ; vgl. auch Bennett/Savage, Introduction. 97 Vgl. Wyszomirski, From Public Support.
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gische Bevormundung hinter der sprachlichen Täuschung der Demokratisierung :98 „C’est un secret, résérver à l’oligarchie, mais c’est bien là le fond hypo crite de la démocratisation culturelle.“99 Der britische Regisseur David Pountney, bekannt für seine durchaus modernen Inszenierungen und offenen Ideen zur Zukunft der Oper, redete dagegen keinesfalls einem staatskritischen Konservatismus das Wort, als er beklagte, „the private or corporate donor may be a difficult character to handle, but they cannot bring with them the moral imperatives that are implied by the state subsidy“.100 Auch der amerikanische Soziologe Paul DiMaggio hat in einer empirischen Studie eindrucksvoll geschildert, wie der Zusammenhang zwischen der staatlichen Anerkennung von Kultureinrichtungen und der Stabilisierung hierarchischer oder ‚elitärer‘ Kultur institutionell funktioniert – wenn auch für die Vereinigten Staaten, in denen dieses System eigentlich sogar geringer ausgeprägt ist als in Europa. Am Beispiel der trustee-governed nonprofit enterprises zeigt er, wie diese sich mit Hilfe der passenden ‚Ideologie‘ der öffentlichen Geldgeber von den kommerziellen Produzenten abgrenzten. Mit dem Gemeinnützigkeits- und Gemeinwohlstatus gehe hier nicht nur eine Befreiung von den Regeln des Marktes, sondern auch eine Aberkennung jeder Kommerzialität einher. Durch die staatliche Anerkennung des ästhetischen Wertes und des Non-Profit Status’ werde das originär Populäre zwangsläufig verdrängt und mit Berufung auf das Gemeinwohl gerade der elitäre Charakter der Oper gestärkt.101 Die ‚Ideologie‘, das heißt, die richtige diskursive Strategie finden die Opernhäuser in Europa in den staatlich gesetzten Normen der Kulturpolitik ; der Mechanismus funktioniert genauso. Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint diese Konstruktion der hochkulturellen Oper, einschließlich der für sie gültigen Bewertungsmaßstäbe und der Ablehnung eines kommerziellen Interesses, so selbstverständlich wie unausweichlich. Ohne dessen demokratischen Staat jedoch, der dezidiert das bürgerliche Erbe der Oper angetreten und deren ästhetische und soziale Bewertungskriterien in seine kulturpolitischen Strukturen überführt hat, sähe sie mit Sicherheit anders aus. 98 Vgl. Fumaroli, L’État Culturel, 24. 99 Ebd., 60. 100 Pountney, Future (Herv. n. i. Orig). 101 DiMaggio, High Culture.
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Die Oper ist aber keinesfalls in einem politischen Konsens aufgegangen, der durch staatliche Institutionen und ihre politischen Repräsentanten nur noch exekutiert würde. Sie bleibt aufgrund des wertgebundenen Anforderungsprofils gerade mit der grundsätzlichen Frage nach der Rolle der Kultur in und für eine Gesellschaft verbunden und damit auch danach, wessen Kultur den staatlich geförderten ‚legitimen‘ Geschmack beweist. Genau diese Vorstellungen unterlagen aber in den vergangenen Dekaden einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel. Während die meisten kulturpolitischen Strategien gegenüber der Oper sich noch der geschilderten Demokratisierung im Sinne einer sozialen und auch kulturellen Homogenisierung der Gesellschaft verschreiben, hat die gesellschaftliche Veränderung sie in gewissem Sinne bereits überholt. In einem Pluralisierungsprozess kultureller Werte und Praktiken, der in den vergangenen Jahrzehnten mit Schlagworten vom ‚Wertewandel‘ bis zur ‚Erlebnisgesellschaft‘ diskutiert worden ist, wird die Gültigkeit der zentralen Kategorien der Kulturpolitiken Westeuropas in Frage gestellt. Folgt man den Überlegungen und Untersuchungen zu diesem Wandel, zeigt sich, dass gerade die soziale Determinierung des Geschmacks, deren prominentes Beispiel und Festigung ein Opernbesuch stets war und die der Staat wie dargestellt zu universalisieren trachtete, eine zentrale Rolle darin einnimmt. Allerdings als Auflösungserscheinung im Zuge einer zunehmend pluralistischen lebensstilorientierten Geschmacksbildung.102 Die traditionellen Großgruppen verschwinden zu Gunsten einer Indiviualisierung von Lebensentwürfen, kulturelle Normierung weicht kultureller Erlebnisvielfalt. Aus dem einseitigen kulturellen Imitationsund Auferlegungsprozess (‚top down‘) ist in den von der Soziologie diagnostizierten „confused canons of taste in puralistic societies“103 eine Form wechselseitiger Verhandlung zwischen mehreren Ebenen geworden, die nicht mehr notwendig in einer vertikalen Hierarchie angeordnet sind. Gerhard Schulze hat dies als einen auseinanderdriftenden Zusammenhang zwischen kultureller und materieller Stellung beschrieben, durch dessen Dynamik sich aus einer materiellen Lebenslage nicht mehr unmittelbar der Lebensstil ableiten lässt (oder umgekehrt) : „Die materiell Gleichgestellten sind kulturell zu heterogen und die 102 Vgl. Gerhards, Die kulturelle Elite, 9f., sowie Hennion, Music Lovers ; Schulze, Die Erlebnisgesellschaft ; v. Beyme, Kulturpolitik ; Boisits/Stachel, Das Ende. 103 Vgl. Meyer, Taste Formation, 34.
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kulturell Ähnlichen materiell zu ungleich, als daß das Modell der geschichteten Gesellschaft noch passen würde ; seine Zeit ist um.“104 Aus der Klassengesellschaft ist eine vielstimmige Interessengemeinschaft geworden. Die Oper bleibt auch dort, wo sie einen elitären Clubcharakter aufrechterhält, nicht von dieser Entwicklung verschont. Galt für die Oper stets der gern beschriebene Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und deren ‚Abglanz‘ auf der Opernbühne, so bedeutet diese Entwicklung nicht nur, dass „die pluralistischen Strukturen unserer Gesellschaft die Herausbildung eines dominierenden Operntypus“ als künstlerisches Produkt erschweren.105 Das Argument lässt sich dahingehend erweitern, dass es auch keine dominante Form des Opernbesuches mehr gibt ; es trifft also nicht nur auf der Produktionsebene (Werk) sondern mindestens ebenso grundsätzlich auf der Rezeptionsebene (Ereignis) zu. Winfried Gebhard postuliert daher – bezeichnenderweise an einem Opernbeispiel, nämlich den Bayreuther Festspielen – die These, „dass die einstmals klar konturierten Felder von repräsentativer bürgerlicher Hochkultur, Populärkultur, Volkskultur und Massenkultur sich zunehmend auflösen und dass sich damit auch das einstmals klar definierte Verhältnis zwischen ihnen ent hierarchisiert“.106 Zugespitzt formuliert, ist der Besuch eines Opernhauses, gemessen am daran demonstrierten Geschmack, nicht mehr notwendigerweise wertvoller als der eines Popkonzertes, oder, um die auch inhaltliche Verbreiterung noch deutlicher darzustellen, als die Teilnahme an einem ayurvedischen Kochkurs. Der mit dem Begriff der Pluralisierung umrissene gesellschaftliche Wandel wird in dem hier untersuchten zeitlichen und thematischen Kontext für den kulturpolitisch aktiven und Verantwortung beanspruchenden Staat zu einer strategischen und legitimatorischen Herausforderung. Denn völlig mit Recht fragt etwa Micha Brumlik : „Nach welchen Kriterien sollen eigentlich Prioritäten gesetzt werden – wenn das Erlebnis eines Musicalabends so wertvoll ist wie das Betrachten einer Installation von Beuys oder wenn Selbsterfahrungskurse so 104 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, XVII. Das Schwinden des Zusammenhangs findet sich auch schon prognostiziert in Bell, Die kulturellen Widersprüche. 105 Schläder, Oper und Demokratie, 67. 106 Gebhardt, Bayreuth, 196.
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wichtig sind wie der Besuch der Oper ?“107 Das heißt, wenn sich kulturelle Werte ebenso wie soziale Bindungen nicht mehr eindeutig über einen bestimmten Geschmack und eine klar (de)codierbare Praxis artikulieren und repräsentieren lassen, kommt es nicht nur zu einer Implosion der gesamten klassischen Kriterien von ‚Hoch-‘ und ‚Populärkultur‘, sondern damit verliert auch die ‚top-down‘-Strategie einer die Hochkultur demokratisierenden Kulturpolitik ihre Wirkungskraft und Legitimation.108 Die „Zerfaserung altgewohnter Sozialtypen“ korrespondiert mit der Delegitimation einer auf soziale Gestaltung zielenden ästhetischen Intervention des Staates.109
2. Die Londoner Opernkrise : Revolution und Reformation der Oper „For some people the term ‚opera‘ is so emotive, so bound up with particular political and cultural prejudices, that they must either possess it or destroy it.“110
Im Mai 1997 löste die unter der Führung von Tony Blair entstandene New Labour Party durch einen historischen Wahlsieg die konservative Regierung Großbritanniens ab. Dieser Politikwechsel repräsentierte nicht nur eine Verschiebung innerhalb des politischen Spektrums nach links, sondern einen ganzen Generationenwechsel und mit ihm einen gesellschaftspolitischen Aufbruch. Dabei avancierte gerade die Kulturpolitik zu einem Terrain, auf dem der Politikwechsel sichtbar werden sollte. Mithin fiel den Londoner Opern die Rolle eines Paradebeispiels für als überholt angesehene kulturelle Werte und neue kulturpolitische Ziele zu. Die aus dieser Debatte entstandene öffentlich verhandelte Londoner Opernkrise bildet daher eines jener kulturpolitischen Ereig107 Brumlik, Der Vorhang fällt, 16. 108 Es lässt sich an dieser Stelle einwenden, dass auch schon früher bestimmte Musikformen von unterschiedlichen ‚Typen‘ rezipiert wurden, wie Adornos berühmte Klassifizierung verschiedener Hörertypen zeigt : Zum Opernpublikum gehören bei ihm der Experte ebenso wie der Bildungskonsument und der emotionale Hörer. Vgl. Adorno, Typen. 109 Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, 15 u. 24. 110 Pountney, The Future.
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nisse, „die einen soziologischen Umbruch demonstrieren oder gar einleiten“111 und die daher eine beispielhafte Analyse lohnen. Sie verweist auf die Frage, wann und warum die soziale Exklusivität der Oper zum Konfliktthema werden kann.112 Die Londoner Opernkrise eignet sich als Fallbeispiel für die dargestellten aufeinanderprallenden Dynamiken der kulturpolitischen Strategie der Demokratisierung von Hochkultur auf der einen und der Pluralisierung von Kulturbegriff und kultureller Praxis auf der anderen Seite, die ein solches Konfliktpotenzial entfalten. Der politische Wechsel hatte eine konzentrierte Auseinandersetzung zwischen den traditionellen elitären und den modernistischen populären Kräften in der Londoner Kulturlandschaft provoziert. Dass die Oper eine solche Relevanz erhielt, liegt in London maßgeblich an zwei kulturellen Rahmenbedingungen : Zum einen fehlt der Kunstgattung Oper in Großbritannien eine als ‚populär‘ gedachte Tradition, wie sie etwa in Italien gilt. Das dort als so stark geltende gemeinsame Opernerbe oder die ‚patriotische‘ Identifikation mit der Oper sind in England fremd. Zeugnis davon gibt eine kleine Debatte im House of Commons (HoC), die zur Zeit der großen Opernkrise stattfand, in der es um den Erhalt der ältesten ‚Opern‘-Company des Landes ging, die eben keine ‚kontinentalen‘ Opern spielte, sondern die spezifisch britischen ‚Savoy-Operas‘, unterhaltsame satirische Musiktheater aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Arthur Sullivan und William S. Gilbert. Parteiübergreifend verteidigten die Parlamentarier ihren eigenen ‚bescheidenen‘ musikalischen Reichtum. „We English have no Mozart, no Puccini, no Wagner but, my goodness, we have Gilbert and Sullivan, who have enter tained and illuminated our country and the world for more than 120 years“, verkündete etwa Martin Bell. Die in der britischen Kultur verwurzelte kleine Operntruppe wurde der eigentlich als elitär geächteten Oper gegenübergestellt. „Unlike any other opera company, the D’Oyly Carte takes music to the people“, bekräftigte dies Tory-MP Anthony Steen. Dennoch, so fügte sein Kollege von New Labour, Austin Mitchell, hinzu, „the Arts Council would rather pour money into a bottomless pit at the Royal Opera House than provide the mini111 Koops, Konstruktion, 102. 112 Dies muss nicht zwangsläufig geschehen, wie Murray Edelman betont : „If social problems are constructions, it is evident that conditions that hurt people need not become problems“, Edelman, Constructing, 13.
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mal amount that is needed to keep D’Oyly Carte going“. Mit der Polemik, „perhaps it is too accessible ; perhaps people like it too much. Perhaps if it wrapped up bricks in muslin or island in plastic, it would be deemed worthy of Arts Council funding“, reflektierte die kleine Gruppe Abgeordneter hilflos jenes Paradoxon demokratischer Kulturpolitik.113 Die Skepsis gegenüber dem Gemeinwohl der öffentlichen Förderung ist weit verbreitet und findet trotz der öffentlichen Förderung und kulturpolitischen Steuerung seine Entsprechung in der Bindung der Oper an private Interessen und Traditionen. Sie gehört, wie die Public Schools, der ‚Oberklassenakzent‘, Cricket, Golf oder Tennis, zum Repertoire sozialer Merkmale der kulturellen Lebensart einer bestimmten Gruppe in der noch immer hierarchisch geordneten Gesellschaft Großbritanniens.114 Das Royal Opera House ist für die Repräsentation der als kultiviert in Erscheinung tretenden ‚upper class‘ seit jeher ein Symbol gewesen. Keine andere Kultureinrichtung hat die Vorstellung von kulturell definierten sozialen Klassen in sich so sehr verkörpert wie die Royal Opera in London Covent Garden. Daher wurde gerade dieses Haus zum Exempel einer öffentlichen Kulturpolitik gewählt, die in der Lage sein wollte und sollte, den geschlossenen sozialen Raum der Oper aufzubrechen. Neben dieser fehlenden populären Tradition besteht in London weiterhin der grundsätzliche Konflikt zwischen den öffentlichen und privaten Interessen gegenüber der Oper in ausgeprägterer Form, als das (bisher) in Paris oder Berlin der Fall war. Der Anteil der öffentlichen Zuschüsse für Opernhäuser war hier stets signifikant geringer als im kontinentalen Europa. Das Royal Opera House galt noch Ende der 1990er-Jahre als das einzige öffentlich subventionierte Opernhaus Europas, dessen staatliche Zuschüsse unter den eigenen Kasseneinnahmen lagen.115 Für die Londoner Opern, und insbesondere für das personalreiche und als ‚Erstes Haus‘ im Land mit teuren Produktionen glänzende Royal Opera House, sind privates Geld und der Zuspruch der exklusivsten Kreise daher überlebenswichtig. Die betriebswirtschaftliche Grundlage, auf der das Haus operiert, ist eine relativ ausgeglichene Finanzierung aus Subventionen, Kassen113 Vgl. die Debatte, HoC, 01.04.1998, 1195–1216. 114 Vgl. Donaldson, Royal Opera, 4ff., 24f.; Marr, Ruling Britannia ; Döring, Großbritannien, 43 ; Heinrichs, Kulturpolitik, 118 ; Fuchs, Von anderen lernen ? 115 Vgl. HoC/CMSC, First Report, §10.
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einnahmen und privaten Zuschüssen. Allen drei Bereichen die nötigen Zugeständnisse machen zu müssen, stellt die Oper unter ständige Spannung. Kasseneinnahmen in der Höhe von einem Drittel des Gesamtetats116 nötigen zur Rücksicht auf den Geschmack des Publikums ; der Einfluss der Mäzene auf die Kunst und den Betrieb der Oper hat einen ähnlichen Effekt, denn sie steuern fast ein Viertel der Einnahmen bei. Wenn eine Spende für ein bestimmtes Stück fließt, wird dadurch eine Bindung zwischen dem Opernhaus und dem Spender aktiviert, die weit mehr als nur einen finanziellen Transfer widerspiegelt. Der ehemalige Generaldirektor des Royal Opera House, Jeremy Isaacs, formulierte ganz offen, „being polite to the sponsor is almost a contractual requirement. For the General Director it is a regular duty“.117 Diese Pflicht, die wohlhabende Gesellschaft mit allen Mitteln an sich zu binden, steht aber wiederum dem egalitären Anspruch, den die Oper zur Erlangung der öffentlichen Mittel eigentlich zusichern muss, entgegen. Doch auch die öffentliche Hand bzw. der Arts Council hat mit 30 % Anteil am Opernetat den Anspruch auf die Durchsetzung seiner kulturpolitischen Ziele. Bei der zweiten Londoner Oper, der English National Opera, ist die Finanzierungstruktur mit gut 50 % Zuschüssen des Arts Council eindeutiger zwischen den verschiedenen Akteurs- und Einflussgruppen aufgeteilt ; auch kennzeichnet sie als eine Zuschussempfängerin unter vielen ein neutraleres Verhältnis zu dem quango. Dennoch musste auch dieses Opernhaus beständig um private Mittel und zugleich eine breite öffentliche Anerkennung ringen. Dass diese Spannungen in den 1990er-Jahren verstärkt zu Tage traten, erklärt sich zum einen aus dem Umstand, dass der Art Council auf Grund traditionell enger und wenig formalisierter Beziehungen insbesondere zur Royal Opera, niemals besonders strenge Kriterien entwickelt hat, welche die Ansprüche, die sich aus den Subventionen ableiten, festhielten und durchsetzten.118 Zum anderen haben vor allem die Reformen der Ära Thatcher die Bedeutung und somit auch den Einfluss privater Mittel für die Opern gestärkt. Den Maßstab für den Erfolg und damit die Relevanz einer Kulturform- und einrichtung bildete 116 Vgl. ROH Trustees Report 2002. 117 Isaacs, Never Mind, 269. 118 Vgl. Renan, Magic Flute, 92ff.
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die Fähigkeit, genug ‚Kunden‘ zu gewinnen, wie der konservative Kulturminister es postulierte.119 Aufgrund dieser Spannung lässt sich am Beispiel der Londoner Opernkrise der Konflikt zwischen Kultur als Akt der Selbstbefreiung und Kultur als Mittel der Erhaltung von Ungleichheit und Unterdrückung120 exemplarisch veranschaulichen und die Veränderungen in der Balance dieser beiden Dimensionen unter den Bedingungen und Herausforderungen einer kulturellen Pluralisierung der Gesellschaft beobachten. Für die Londoner Oper gilt daher Raymond Williams nur scheinbar paradoxes Urteil : „Kultur ist das Produkt der alten wohlhabenden müßig gehenden Klassen, die nun versuchen, sie gegen neue und destruktive Kräfte zu verteidigen. Kultur ist aber auch das Erbe der neuen sich bildenden Klasse, die die Menschlichkeit der Zukunft umfasst.“121 Die Londoner Opernkrise kann darüber hinaus konkrete Beispiele bieten für Entwicklungen, die auch in Berlin und Paris oder anderen Opernstädten verstärkt auftreten werden, wenn die erörterten ökonomischen Veränderungen dazu führen, dass mit dem finanziellen auch das kulturelle Erziehungsmonopol des Staates schwindet und der Einfluss privater Akteure sowie des Publikums möglicherweise zunimmt. Äquivalent zur Untersuchung der Ökonomisierungsprozesse im Zuge der Berliner Opernreform, werden im Folgenden zunächst die politischen und von den kulturpolitischen Institutionen in Auftrag gegebenen Untersuchungen, Konzepte und Strategien zur Opernpolitik auf ihre Urteile zur sozialen Rolle der Oper, den Pflichten, Chancen und Grenzen ihrer Demokratisierung befragt. Zudem werden sie in Beziehung gesetzt zu den sozialen Konflikten um die Oper, die sie zu beheben suchten und/oder schürten. Anschließend werden die Veränderungen, die sich im Zuge von Konflikt und Krise vollzogen haben, untersucht. Beide Schritte zielen darauf, die Rolle der Londoner Oper als Spannungsfeld zwischen tradierten sozialen Funktionen der Oper, kulturpolitischen Demokratisierungskonzepten sowie gesellschaftlichen und kulturellen Pluralisierungsprozessen zu greifen. Im Unterschied zu den Prozessen der Ökonomisierung rücken hier weniger strukturelle, formale und informelle Veränderungen als vielmehr in erster Linie Vorstellungen, diskursive Verschiebungen sowie 119 Vgl. Mrs. Thatcher’s, 11f. 120 Vgl. Fuchs, Mensch und Kultur, 138. 121 Vgl. Williams, Gesellschaftstheorie, 382f.
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Konflikte innerhalb der politischen Debatte und der publizierten Öffentlichkeit in den empirischen Fokus. 2.1 Die ‚soziale‘ Evaluierung der Oper – Kritik, Konzepte, Klassenkampf
Mit der öffentlichen Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in Großbritannien auch eine Konsenskultur etabliert, die jahrzehntelang im Prinzip unwidersprochen der Vorstellung folgte, dass die öffentliche Hand die „jewels of national identity“ pflege.122 In dem Prisma der Identität und des kulturellen Erbes wurden der ästhetische und der soziale Auftrag der Kulturpolitik eins. Zu diesen Juwelen gehörte das reiche architektonische Erbe von Schlössern, Gärten und Kathedralen ebenso wie die Kunstsammlungen und Museen sowie, gewissermaßen als Kronjuwel, das weltberühmte Opernhaus in Londons Covent Garden. Die tatsächliche Identifikation der Bevölkerung mit der Oper hat dies allerdings nicht hergestellt ; zu sehr war die Oper an die Stadt London und den stets mit Skepsis betrachteten Kulturtransfer vom kontinentalen Europa gebunden. Doch wenn der stets polemische und sich kunstfeindlich gerierende Abgeordnete der Konservativen, Terry Dicks, Ende der 1980er-Jahre im House of Commons fragte, „is a fat Italian singing in his own language supposed to be part of my background ? Is the ballet dancer in his female tights and cricket box supposed to be part of my heritage, the heritage of my constituents or of the average person in Britain ?“123 so war es doch keine Frage, die das Konfliktpotenzial besaß, die Öffentlichkeit zu erregen oder Mehrheiten zu generieren. Dies hatte sich Mitte der 1990er-Jahre geändert, als die Times ironisch feststellte, die Londoner Oper habe „almost succeeded in doing what the KGB could not in decades : start a class war in Britain“.124 Um diesen Klassenkampf auf dem Opernparkett zu verstehen, muss seine Vor- und Entstehungsgeschichte erhellt werden. Denn der wohlfahrtstaatliche Konsens über Kulturpolitik als die Bewahrung der kulturellen Güter und Praxis einer kleinen Minderheit und als Anliegen, diese im oben erläuterten Sinne der 122 Bradley, Mrs. Thatcher’s, 73 ; vgl. auch Hawison, Culture. 123 Dicks, HoC, 15.06.1989, 1167. 124 TT, 29.07.1995.
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Demokratisierung so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen, brach bereits mit dem Antritt der konservativen Regierung unter Margaret Thatcher 1979 zusammen. Die paradoxe Grundlage deren konservativer Kulturpolitik in den 1980er-Jahren war, dass Kunst, die nicht in der Lage war, auch auf kommerziellem Wege ein ausreichend großes Publikum zu gewinnen, auch nicht als ‚Allgemeingut‘ anerkannt werden sollte. Dies hatte unmittelbare Folgen für das Verständnis einer demokratischen Kultur und Kulturpolitik : „Mrs. Thatchers definition of cultural democracy was based on a commercial mass culture where supply and demand found a ‚natural‘ equilibrium in the market place.“125 Infolgedessen entstand zum einen eine Auffassung ‚demokratischer‘ Kultur oder ‚Kultur für alle‘, die eben nicht jener ‚lofty approach‘ kennzeichnete, sondern die sich an einem relativ spartenunspezifischen Massengeschmack orientierte, der nun als ‚populär‘ und vor allem staatsunabhängig ausgerufen wurde. „Public taste may not be the best taste, it is the best available, certainly better than the critic’s taste or the expert’s taste or the bureaucrat’s taste“126, formulierte ein kulturpolitisches Strategiepapier des Conservative Political Centre. Zum anderen verstärkte das Vorgehen die Exklusivität des hochkulturellen Sektors. Die Kultureinrichtungen mussten neue, private Geldquellen erschließen – die Oper konzentrierte sich mithin auf die ökonomische Funktionstüchtigkeit des sozialen Raumes, den sie schuf und für dessen Zugang entsprechende zusätzliche Gelder zu erzielen waren. „Corporate subscription and corporate entertaining became the norm and the toffs’ opera – expensive and exclusive – was born. The purpose of subsidy – to make art available to anybody who wanted it – had been long forgotten“127, beurteilte die Times Jahre später rückblickend diese Entwicklung. Ohne die Umdeutung der sozialen Rolle der Oper durch ihre Ökonomisierung ist der Konflikt um die Londoner Oper in den 1990er-Jahren nicht vollständig zu verstehen. Wie eng der Zusammenhang zwischen den beiden Dimensionen war, machte auch eine umfangreiche Studie sichtbar, welche 1983 unmittelbar von der Regierung in Auftrag gegeben wurde. Sie sollte Einsparmöglichkeiten und Chancen auf Effizienzsteigerungen an der Royal Opera aufzeigen und nach Schuldi125 Bradley, Mrs. Thatcher’s, 12 ; vgl. auch Christopher, British Culture. 126 Kingsley Amis/Conservative Political Centre, An Art Policy ?, 101. 127 TT, 21.12.1997.
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gen für ein bestehendes finanzielles Defizit des Opernhauses suchen. Politisch sollte sie die Oper als markttaugliches Kulturgut prüfen und damit die Legitimation stiften, sie in das Liberalisierungskonzept der konservativen Wende einzubinden. Ein Untersuchungsgremium unter der Leitung von Clive Priestley nahm die gründliche Evaluierung des Opernhauses vor, aus der der zweiteilige Bericht „The Financial Affairs and Financial Prospects of the Royal Opera House Covent Garden Ltd. and the Royal Shakespeare Company“ (Priestley Report I) und „The Financial Scrutiny of the Royal Opera House Covent Garden Ltd.“ (Priestley Report II)128, hervorging. Es entstand eine fast 500seitige Analyse, die zeigte, dass eine ökonomische Bewertung des Opernhauses nicht jenseits seiner institutionellen Strukturen, künstlerischen Ausrichtung und sozialen Bindungen zu fassen sei. Die Feststellungen, das Defizit des Hauses sei unvermeidbar und die Zuschüsse an die Royal Opera müssten statt abgesenkt erhöht werden, stand alleredings im Gegensatz zu den politischen Erwartungen ; sie machte das rein finanzielle Argument hinfällig. Vielmehr fokussierte die Analyse demokratische Defizite, die sich zum einen in der internen Struktur des Opernhauses fanden, zum anderen in seiner Darstellung sowie seiner Beziehung nach außen. Zu ersterem resümierte der Bericht, das Royal Opera House hinterließe den Eindruck einer geschlossenen, nur an sich selbst interessierten Institution, die zu eng mit dem ‚Establishment‘ verbunden sei, welches die entscheidenden Gremien, allen voran das ‚Board of directors‘, sichtbar dominiere. Dass von dessen zwölf Mitgliedern neun Lords und Sirs seien und sich nur eine Frau darin befinde, vermittele einen klaren Eindruck von der gesellschaftlichen Positionierung des Opernhauses.129 Auch die Beziehungen der Akteure und Gremien innerhalb der Oper sowie zum Arts Council und zu jeweiligen Regierungen seien strukturell vielfach nicht deutlich durchschaubar oder rein informell ; es fehle an „clear lines of authority, responsibility and delegation“.130 Zur demokratischen Ausrichtung des Hauses nach außen hielt der Bericht fest, es bestünde keine richtige ‚mission‘, welche ein Bild von dem Haus, seiner Existenzberechtigung und seiner Rolle gegenüber anderen britischen Opern128 Beide herausgegeben als Report to the Earl of Gowrie. 129 Vgl. Priestley Report I, 8f.; vgl. auch Witts, Artist Unknown, 255. 130 Priestley Report I, 327f.
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häusern vermittle.131 Das Haus werde durch den Bezug von Steuermitteln von normalen Menschen finanziert, böte denen aber keinerlei Möglichkeit, sich mit der Oper zu identifizieren.132 Daher gelte es Kriterien zu finden, auf deren Basis die Oper überhaupt gefördert werden sollte. Diese müssten nicht nur den Besonderheiten der geförderten Einrichtung Rechnung tragen, sondern gegenüber dem Steuerzahler fair sein – denn „the function of subsidy is to preserve and promote the activities of the company on behalf of the nation and to make it as accessible as possible to the public at the box office“.133 Die hohen Subventionen für die Oper als eine „national institution“ erklärte der Bericht zwar als gerechtfertigt, die damit einhergehenden öffentlichen Kontroversen dürften aber nicht übersehen werden. Demokratische Strukturen nach innen und außen wären eine Pflicht des Hauses, und die guten Verbindungen zum Establishment und zur Regierung dürften nicht die Grundlage für eine Förderung des Opernhauses bilden. Es müsse daher grundsätzlich und transparent die kulturpolitische Frage beantwortet werden, wofür Subventionen da seien, durch wen sie vergeben werden sollten und wie sie am sinnvollsten bemessen werden könnten. Von der Reichweite der Priestley-Empfehlungen zeigten sich sowohl der Arts Council und die Regierung als auch das Opernhaus überfordert. Viele der Empfehlungen, die sich jenseits der Bereiche der Haushaltsführung und ökonomischen Effizienzsteigerung bewegten, blieben unbeachtet.134 Der in der Analyse hergestellte Zusammenhang zwischen der ökonomischen Funktionsweise des Hauses und seiner gesellschaftspolitischen Rolle setzte aber den Maßstab für die öffentliche Bewertung und den Reformbedarf des Opernhauses in den folgenden zwanzig Jahren. Das Jahr 1983 nahm noch aus einem zweiten Grund eine Schlüsselposition in der Vorgeschichte der Londoner Opernkrise ein. Das alte Opernhaus ge131 Priestley Report I, 327f. 132 Ebd., 51f. – Mit Verweis auf Interviews mit Akteuren der Pariser Oper stellt der Bericht fest : „The costs of opera in France appears to be more readily accepted than in the UK. It has the same problem of accessibility but there appears to be less pressure to justify its existence.“ (293ff.) 133 Priestly Report I, 53. 134 „Sweapt under the carpet“, diagnostizierte Lebrecht, Covent Garden, 337.
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nügte kaum noch den Anforderungen des laufenden Betriebs. Die Bühne, Werkstätten und öffentlichen Räume sollten einer Renovierung sowie technischen und ästhetischen Modernisierungen unterzogen werden. 1983 wurde der Wettbewerb für diesen Umbau ausgeschrieben, das Büro Dixon Jones B D P erhielt den Zuschlag und die finanzielle und organisatorische Planung für den Umbau lief an. Es galt, die Mittel für die Renovierung zu akquirieren (als erst 16 Jahre später tatsächlich die Arbeiten begannen, beliefen sich die Kosten auf 210 Millionen Pfund) und die richtigen Überbrückungsstrategien für die Umbauspielzeiten zu entwickeln : Wo sollte der Spielbetrieb hin verlegt werden, wie war mit dem durch die Bauarbeiten frei gesetzten Personal zu verfahren, wie war das Publikum vorzubereiten und zu begleiten ? Doch während dieser Phase, im Laufe der 1980er-Jahre, nahmen an beiden Londoner Opern sowohl die Zahl der Vorstellungen als auch die der Zuschauer kontinuierlich ab. Die steigenden Kosten und nicht in gleichem Maße steigenden Zuschüsse machten es schwierig, neben dem Betriebserhalt auch noch die zusätzlichen Mittel für die Renovierung zu generieren. Direkte Beziehungen der Opernakteure zur Politik halfen vor allem dem Royal Opera House besser durch die Thatcher-Ära als weniger etablierte und politisch gut vernetzte Kulturbetriebe.135 Doch förderte dies keinesfalls die von Priestley geforderte Entschlackung der Netzwerke der Oper. Zusätzlich förderten die zügig steigenden Eintrittspreise und die schärfer werdende Konkurrenz zwischen den unter dem staatlichen Rückzug leidenden Kultureinrichtungen das elitäre Image der Oper. Neue Unterhaltungs- und Musikformen und deren mediale Verbreitungswege, die wiederum von der politisch geförderten Verbindung von Popularität und Kommerzialität profitierten, stärkten neue Lebensstile. Die Oper stand vor einer gesellschaftlichen Herausforderung in weit umfassenderem Sinne, als es in dem Ringen um verschiedene Finanzierungsformen zum Ausdruck kam. Als schließlich 1992 die Bildungsexpertin Baroness Mary Warnock vom Arts Council beauftragt wurde, die Vorbereitungen des Umzugs und Kapazitäten des 135 „Curiously, Mrs. Thatcher personally liked opera and this may be one of the reasons why this area of the arts did so well during the 1980s. (…) In this particular case the Prime Minister’s action was in total continuity with her predecessors.“ Generell galt jedoch : „The highbrow arts and the cultural rstablishment were the partial losers in Mrs. Thatcher’s cultural policies“, Bradley, Mrs. Thatcher’s, 151 u. 392.
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Opernhauses zu überprüfen,136 empfahl deren Ergebnisbericht, die Umbaupläne des Hauses gänzlich zu verwerfen, da dafür weder die ausreichenden Mittel zur Verfügung stünden, noch die Planungen für die Übergangszeit überzeugten : „There are no indications as to how the closure period of 30 months will be financed, what activities the Royal Opera House might pursue during this period, and where these activities might take place.“137 Als Ursache nannte der Bericht bezeichnenderweise weitgehend die gleichen Merkmale, die knapp zehn Jahre zuvor bereits der ‚Priestley-Report‘ kritisiert hatte : eine undurchschaubare Personalpolitik ohne klare Arbeitsbereiche und Aufgabenprofile und das Fehlen von transparenten Kriterien für das Management des Hauses sowie dessen inhaltliche und konzeptionelle Modernisierung. Die soziale Geschlossenheit stelle das Haus angesichts der drohenden Herausforderungen durch den Umbau der Oper vor mindestens ebenso große Probleme wie die fehlenden Zuschüsse, beklagte Baroness Warnock.138 Zugänglichkeit solle angesichts der finanziellen Lage weniger durch Senkung der Eintrittspreise (und Erhöhung der Subventionen) erfolgen, als vielmehr durch eine systematische Nutzung neuer Medien und Übertragungsformen ; nur darüber würde angesichts des sich außerhalb der alten Gemäuer vollziehenden Wandels ein wirklich breites Publikum erreicht.139 Das Royal Opera House schien weder für einen architektonischen noch einen inneren strukturellen Umbau bereit, trotzdem kam eine Aufgabe der Renovierungspläne nicht in Frage. Um den Umbau finanziell zu sichern, war eine aussichtsreiche Lösung in Sicht : Die Einführung einer National Lottery.140 Nach jahrelangen Streitigkeiten um den Nutzen und die moralische Vertretbarkeit einer solchen Lotterie wurde im National Lottery Act von 1993 das politisch konservativ geprägte Vorhaben verwirklicht. Aus den Einnahmen der Lotterie sollten ‚fünf gute Dinge‘ (‚five good causes‘) gefördert werden : Sport, Kunst, kulturelles Erbe, Wohltätigkeitseinrichtungen sowie die Feierlichkeiten zum 136 Der Bericht ist nicht einsehbar und daher nur aus Zitaten, internen Beurteilungen und Zusammenfassungen zu rekonstruieren. Vgl. Lebrecht, Covent Garden, 379 ; Isaacs, Never Mind, 121f. u. 125f.; HoC/CMSC, First Report. 137 Warnock Report, zit. in Ind., 09.12.1997. 138 Vgl. Warnock-Report, zit. in HoC/CCMS, First Report, §19. 139 Vgl. Warnock-Report, zit. ebd., §54. 140 Vgl. Selwood, The National Lottery.
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Millennium. Die Lotterieausschüttungen zielten darauf, vollständige und zeitlich begrenzte Projekte zu finanzieren, das heißt, bei Zahlungen an eine bestehende Institution etwa die Verbesserung der Infrastruktur und räumlichen Rahmenbedingungen zu unterstützen – sei es der Neuaufbau eines medizinischen Labors, die Ausweitung eines Sportplatzes oder eben ein renoviertes Opernhaus –, nicht aber ihre inhaltliche Ausgestaltung und den laufenden Betrieb zu finanzieren. Darüber hinaus sollten die Zusatzmittel der Lotterie nicht gegebenenfalls bereits gewährleistete Subventionen ersetzen, sondern staatliche und private Zuschüsse sinnvoll ergänzen.141 Um die Finanzierung für den Umbau mit Hilfe der Lotterie zu vervollständigen (der größte Teil konnte im Laufe der Jahre durch Spenden zusammengetragen werden), musste die Leitung der Royal Opera beweisen, dass sie aus der Kritik von 1983 und 1992 gelernt hatte und sich zu verändern bereit war. So publizierte das Haus im Nachgang zum Warnock-Report und im Vorfeld zur Lotterie-Ausschreibung einen eigenen Bericht mit dem programmatischen Titel „Putting Our House in Order“. Pflichtbewusst ging das Konzept auf die geäußerten Wünsche ein und formulierte etwa ein eigenes ‚mission statement‘, in dem die künstlerische Programmatik („highest possible standard of performance“ and „wide range of repertory“) und der Wille zu mehr Zugänglichkeit zum Ausdruck gebracht wurde, („to provide the widest possible access (and) to extent audiences, including those from ethnic minorities, through a program of educational and outreach work“142). Erst durch gezielten Druck von außen, nicht durch einen inneren Erneuerungsprozess wurden alte Strukturen überhaupt reflektiert und Anpassungen an veränderte Anforderungen geprüft. Die in dieser Weise flankierte Bewerbung um die Lotteriemittel war jedoch erfolgreich : Das Opernhaus bekam im Juli 1995 78,5 Millionen Pfund zugesprochen – 55 Millionen sofort und noch einmal 23,5 Millionen, wenn die Renovierung begonnen habe und das Haus dann für die Umbauspielzeiten einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen könne. Weder die Akteure der Oper selbst in ihrer Abschottung von der Außenwelt, noch die der Kulturpolitik, die sich auf die ökonomische Leistungsfähigkeit des 141 Vgl. White Paper – A National Lottery. 142 ROH, Putting our House in Order, 6f.
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Hauses konzentrierten, hatten bis zu diesem Zeitpunkt eine realistische Vorahnung, welcher öffentliche Protest die Zahlung erwartete.143 Der Lotteriezuschlag markierte den Wendepunkt, an dem Indifferenz, Skepsis und Unbehagen gegenüber der Oper und insbesondere dem Royal Opera House in einen offenen Konflikt umschlugen, welcher dem Thema Oper plötzlich eine ungewohnte Rolle gab : die einer ‚nationalen Angelegenheit‘ in einer landesweit geführten Diskussion. Der Angriff erfolgte zunächst von ‚unten‘. Obwohl nur etwa 1 % der zuerst ausgeschütteten Summe der Lotterie an das Opernhaus gezahlt wurde, bestätigte die hohe Summe von 78,5 Millionen Pfund Befürchtungen, die neuen Gelder könnten, anstatt das über die Dekade geschrumpfte Sozial- und Gesundheitssystem zu stärken, wiederholt nur den ohnehin Privilegierten zugutekommen.144 Die ‚scratch cards‘ (Rubbellose) der Lotterie, welche die Quelle der begehrten und landesweit umkämpften Finanzspritze für gute Zwecke waren, erfreuten sich insbesondere bei den niedrigen Einkommensschichten großer Beliebtheit. Daher war es der Boulevardpresse ein Leichtes, deren diffuses Unbehagen in eine Aversion gegen die Oper zu bündeln und eine gesellschaftliche Gruppe zu konstruieren, deren Einheit sich aus dem Gefühl der strukturellen Ausgeschlossenheit eines elitären sozialen Raumes begründete, den sie nun vermeintlich finanzierte. „The lottery is a levy on the poor to pay for the rich“, klagte etwa ein sich durch diese Ordnung betroffen fühlender Rentner.145 Und der Labour Abgeordnete Tony Banks bestätigte : „What we are seeing is the lottery being used as a way of taxing the poorest areas, and transferring money into areas like central London.“146 Die ‚volksnahe‘ Boulevardpresse beobachtete jeden Operngänger mit einem bildreich artikulierten, der eigenen Leserschaft unterstellten Sozialneid. Dabei 143 Auf Grund ausbleibender Sponsoringeinnahmen verzeichnete das Haus zeitgleich ein höheres Jahresdefizit, weswegen besondere Schulbesuche – ein Teil des versprochenen ‚outreach‘ – ausgesetzt wurden. Die Gefahr, die der taktische Fauxpas barg, dies unmittelbar nach der Zusage der Lotteriemittel zu verkünden, sah offenbar niemand. 144 Selwood, UK-Cultural-Report. 145 Zit. in Grd., 21.07.1995, 3. 146 Zit. ebd. Die Times berichtet von einem Report der Joseph Rowntree Foundation, welcher ebenfalls bestätige, „the lottery is taking money from the poorest to pay for middle-class pleasure“, TT, 19.07.1995.
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wurde sehr präzise auf die Rahmenbedingungen des Opernbesuches geachtet und ein anschauliches Bild des Ereignisses Oper angeboten, das die oben herausgearbeiteten Merkmale dort gebildeten sozialen Raumes facettenreich reflektierte und karikierte. Beispielsweise schickte die Sun, Englands auflagenstärkste Tabloid-Zeitung zwei Leserpaare in das Royal Opera House – mit dem als Sensation präsentierten Ergebnis, dass der Abend selbst mit den billigsten Karten 210,80 Pfund kostete.147 Das Versuchspublikum saß zwar für nur je 7 Pfund weit jenseits der künstlerischen Erlebnisräume der Oper auf Hörplätzen des dritten Rangs, folgte dafür aber in übersteigerter Form den Ritualen, die zu den offensichtlich verallgemeinerbaren Vorstellungen eines ‚richtigen‘ Opernbesuches gehörten. Dazu zählten eben alle Mittel, die erlaubten, ökonomisches Kapital in kulturelles zu tauschen : Lachshäppchen und Champagner in der Pause bildeten dabei ebenso kostspielige Statusobjekte wie die geliehene aufwändige Abendgarderobe und eine Limousine mit eigenem Chauffeur. Der den Abend dokumentierende Zeitungsbericht zeigte mithin nur die soziale Dimension des Opernbesuches, reproduzierte das Wissen über dessen Funktionsweise klischeehaft und ermöglichte der Leserschaft in der strittigen Frage, ob die Oper die Lotteriemillionen verdiene, mitzureden. Über das künstlerische Ereignis, die Opernaufführung, welche die Gruppe nach der Pause verlassen hatte, verlor der umfangreiche Artikel keine Bemerkung. Auch Teile der seriöseren Presse empörten sich und halfen, die abstrakten und diffusen Vorstellungen von der ‚elitären Oper‘ um konkrete Bilder zu bereichern. Die Sun hatte nur Fotos von der den ‚Lottogewinn‘ mit Champagner feiernden ‚Clique‘ des Opernhauses gezeigt.148 Der linksliberale Guardian fügte dem Wissen, wer sich in diesen inneren Kreisen des Operngeschehens bewegte, aufschlussreiche Details hinzu. In einem Leitartikel stellte er die Akteure nicht nur anhand ihrer derzeitigen und früheren Tätigkeit vor, sondern charakterisierte sie zusätzlich durch öffentlich anschlussfähige soziale Merkmale – die Schulen und Colleges, die sie besucht hatten, sowie ihren Kleidungsstil. 149 So wurden sie als Mitglieder einer spezifischen Klasse dargestellt und vorstellbar gemacht. 147 Vgl. Sun, 24.07.1995, 22f. 148 Sun, 20.07.1995. 149 Vgl. Grd., 21.07.1995.
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Die Oper an sich wurde durch all diese bildlichen Beschreibungen ihrer sozial codierten Merkmale zum Inbegriff der Erzeugung (wenn nicht Ursache) einer stabilen sozialen Ungleichheit und zu einer Kategorie, die Gesellschaft zu unterteilen in solche, die in die Oper gingen, um damit ihrem überlegenen Status Ausdruck zu verleihen, und solche, denen diese Möglichkeit verwehrt blieb. Da die Lotterieausschüttung nach Jahren der konsequenten Ablehnung des Subventionsprinzips die erste zumindest öffentlich eingeführte neue Verteilung von Geldern für den Non-Profit-Bereich war, erhielten diese in der Diskussion auch den Charakter von öffentlichen Mitteln. Unter Verweis auf die sozial exklusive Funktion der Oper, ließ sich ihre Förderung als illegitime Verteilungspolitik anklagen.150 Die Lotterie als Glücksspiel blieb dabei durchweg ausgeblendet – es fand eine sprachliche und mithin politische Gleichsetzung von Lotteriemitteln und Steuergeldern statt. Obwohl es sich dabei um durch den Arts Council verteilte Gelder einer privatwirtschaftlich organisierten Lotterie handelte, rückten sie in den Verantwortungsbereich der staatlichen Institutionen und stellten deren politische Akteure vor ein nun konkret ausgesprochenes Legitimationsproblem. Es war die positive Sanktionierung der Oper durch den Staat selbst, die thematisiert und angegriffen wurde : „Because they (the ‚luvvies‘, S.Z.) like opera, ballet, orchestral music and obscure dramatic works, they club together within the state, persuading successive governments to give more money to the arts.“151 Die protzige Oper zu finanzieren, sei ganz sicher nicht das, was die Lottospieler mit ‚ihrem‘ Geld geschehen lassen wollten, stellte das Blatt Mirror fest.152 Die Sun versuchte, ihre Leserschaft zu einem Boykott der Lotterie zu mobilisieren, um dezidiert der Regierung das Versprechen abzutrotzen, die Zahlungen an das Royal Opera House zu stoppen. Der vielfache Ausruf in Leserbriefen : „No more scratch cards for me !“153, las sich, auch räumlich von der Presse in diesen Kontext gesetzt, wie sozialer Ungehorsam ; der auf den Titelseiten der Tabloids verkündete Protest von „Tausenden“ bzw. „15.000“, die 150 Auch später ist in den Tabloids bei Lottomitteln wie Subventionen stets von „tax payers‘ money“ die Rede : DM, 31.10.1997 ; Sun, 04.12.1997, Mir., 21.01.1998, 21. 151 So der Abgeordnete Terry Dicks, HoC, 16.12.1994. 152 Mir., 17.07.1995. 153 DT, 22.07.1995.
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bei inszenierten Telefonumfragen die Zahlungen an die Oper abgelehnt hätten, wie ein Aufstand, der direkt auf das staatliche Verantwortungszentrum zielte.154 Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es zwei Jahre später gerade die Oper war, die eines der ersten Handlungsfelder der frisch gewählten New-Labour-Regierung bildete. Die Schließung der Oper zum Umbau stand in diesem Sommer 1997 unmittelbar bevor, die Erinnerung an den Konflikt um die Vergabe der Mittel zwei Jahre zuvor wurde vielerorts wiederbelebt, die zahlreichen Probleme, vor denen das Opernhaus nun in der Ausnahmesituation stand, schürten neue Aufmerksamkeit : Der Plan, einen dauerhaften Ausweichspielort für die kommenden zwei Jahre zu finden, war gescheitert und das Programm sollte nun auf unterschiedliche Spielstätten verteilt werden. Ob der Finanzierungplan valide war und vor allem die Zahlungen für das umbaubedingt freigesetzte Personal zu leisten waren, schien unklar. Weiterhin hatte nach einer Amtszeit von neun Jahren der Generaldirektor des Hauses, Jeremy Isaacs, seinen Posten vorzeitig verlassen,155 seine als ‚Chief Executive‘156 berufene Nachfolgerin Genista McIntosh trat nach nur fünf Monaten zurück. Ihren Ersatz, die hochrangige Arts-Council-Mitarbeiterin Mary Allen, berief der Arts Council zügig, ohne die langwierige sonst nötige formale Bewerbungsprozedur, um das Haus in der kritischen Phase des Umbaus nicht führungslos dastehen zu lassen. Damit erweckte er aber vor allem den Eindruck, zu den schwer durchschaubaren informellen Mechanismen der Oper, insbesondere in der Personalpolitik, beizutragen.157 Der Minister des von New Labour neu gegründeten Department for Culture, Media and Sport, Chris Smith, nahm diese Themen sofort nach Amtsantritt in 154 Vgl. die Umfrage in Mir., 18.07.1995 ; 15.000 Proteste ermittelte die Sun am 21.07.1995, 4f., per Telefonabstimmung. 155 In den ersten 50 Jahren hatte die Oper drei Generaldirektoren. Mit dem Abgang von Isaacs schwand die gewohnte Stabilität : Zwischen Sommer 1997 und Sommer 2000 unterstand das Haus fünf verschiedenen Leitungen. 156 Der Leitungsposten wurde in das dynamischere und Entscheidungsbefugnis vermittelnde ‚Chief Executive‘ umbenannt. Formal unterschieden sich die Posten nicht ; faktisch war die Macht Isaacs durch seine lange Verbindung mit den formalen und informellen Strukturen des Hauses entstanden, auf die seine Nachfolgerinnen nicht zurückgreifen konnten. Vgl. v.a. Allen, A House Divided. 157 So wurden Stellen auch in der Leitung des Hauses in der Regel nicht ausgeschrieben, sondern informell mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden ausgehandelt. Vgl. Isaacs, Never Mind, 12 u. 21.
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seine politische Agenda auf. Er machte keinen Hehl daraus, dass ihm das Royal Opera House als eine elitäre Hochburg erschien und er jeden möglichen moralischen wie politischen Druck ausüben würde, gegen eine mit öffentlichen oder Lotteriemitteln finanzierte Exklusivität an dem Haus vorzugehen. „You have a choice“, drohte er der Leitung des Opernhauses offen, „if you want to carry on being in receipt of public money, you have to show the public responsibilities that go with that (…). If the Royal Opera House fails to make improvements in developing public access in the work that they do, I will recommend to the Arts Council that they take account of that fact in deciding what they do.“158 Mitte Juni gab er eine parlamentarische Untersuchung in Auftrag, die überprüfen sollte, ob die Verwendung der Lotteriemillionen „mit Redlichkeit“ („with probity“) erfolgte. Damit wollte er jenen stockenden Reformprozess beschleunigen, der mit der clubartigen Struktur des Managements des Hauses und seiner sozial exklusiven Wirkung nach außen brechen sollte. Die aufgeladene Situation, die sich aus diesen drei dargestellten, sich gegenseitig verstärkenden Quellen speiste – den Strukturproblemen des Opernhauses, der politischen Aufbruchsstimmung und der schwelenden Feindseligkeit, die seit 1995 gegenüber der Oper eine besondere Aufmerksamkeit generierte –, eskalierte im Herbst 1997. An der Oper war schon im Spätsommer vermeintlich überraschend ein Defizit aufgetaucht ; im November, zwei Monate nach Beginn der ersten Umbauspielzeit, zeigte sich, dass die Ausweichspielstätten schlechtere Auslastungszahlen verbuchten als erwartet und deshalb die Kalkulationen nicht mehr stimmten. Ohne ausgeglichenen Haushalt stand aber die Auszahlung der zweiten Rate der Lotteriemittel in Höhe von 23,5 Millionen Pfund in Frage. Dank einer ‚Rettung‘, wörtlich über Nacht, durch millionenschwere anonyme Spender und Darlehensgeber, die niemandem Kommentar oder gar Rechenschaft schuldig waren und daher der Öffentlichkeit als geheimnisvolle und konspirative Gemeinschaft erschienen, konnte zwar der Finanzplan, aber nicht das Image des Opernhauses stabilisiert werden.159 Um dem breiten Misstrauen entgegenzuwirken und Sympathien zu erhalten, verteidigte sich die Leitung des Hauses unter Berufung auf die schwere Krise. Das Haus 158 In Ind., 18.06.1997. 159 Vgl. den ausführlichen Bericht in TT, 31.07.1997, 7.
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durchlebe die schwerste Zeit seiner jüngeren Geschichte : „Without an injection of cash, the Royal Opera House would be insolvent, and all the musicians, singers and dancers would have be dismissed“, erklärte Chief Executive Mary Allen. Genau diese Krise aber legitimierte das Eingreifen des Kulturstaatssekretärs Smith, dessen kulturpolitische Intervention eigentlich durch das arm’s-length principle beschränkt wurde. Als Angelegenheit, die plötzlich den Zusammenhalt der Gesellschaft betraf, durfte die Opernpolitik den normativen Rahmen des Grundprinzips der britischen Kulturpolitik sprengen. „Now, when the politics of culture (and cultural politics) are so much closer to the mainstream of national life, would it really be so oppressive to have Mr Chris Smith and his officials cutting the cake – and, most importantly, carrying the can ?“ fragte etwa der Independent.160 Chris Smith stellte Ende Oktober seine eigenen Reformüberlegungen vor, die eine fundamentale institutionelle und konzeptionelle Umstrukturierung der Londoner Opernlandschaft vorsahen und damit weit über die Empfehlungen der früheren Reformvorschläge von Priestley, Warnock und einigen Arts Council Papieren hinaus gingen. Unter dem Dach des renovierten Hauses sollten demnach die Royal Opera, die ebenfalls mit finanziellen Problemen kämpfende E N O und das Royal Ballet zusammengefasst werden. Die Ressourcen gemeinsam nutzend, waren die beiden Ensembles aufgerufen, mehr ‚Touring‘ durch das Land und intensivere Bildungsarbeit in Schulen anzubieten. Das heißt, die Reform zielte darauf, das, was oben als soziale Reichweite und geografische Gelegenheitsstruktur der Oper erörtert wurde, zu erhöhen. Sogar der Name Royal Opera House sollte einem einfachen Covent Garden Theatre weichen. In semantischem Einklang mit den Forderungen der Kulturverwaltung nach einer Reform der Lotterie zur ‚People’s Lottery‘, die eine offene und faire Verteilung und Verwendung der Mittel unter Berücksichtigung der Interessen der Menschen gewährleisten müsse,161 sollte am Ende dieser Opernreform eine ‚People’s Opera‘ ihre Pforten wieder öffnen.162 Als 160 Ind., 04.12.1997. („The Royal Opera is too important to leave to these amateurs.“) 161 White Paper – The People’s Lottery. Die Ziele des Papiers wurden in den National Lottery Act von 1998 übernommen. 162 Später relativierte Smith seine Vorstellungen : „I have never claimed that I am trying to create a people’s opera. What I have observed on quite a number of occasions is that I very much hope
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Alternative zu dieser Reform brachte Smith meist indirekt immer wieder die vollständige Privatisierung des Royal Opera House ins Spiel.163 Um die Regeln des arm’s-length principle wenigstens formal zu wahren, wurde der Plan nicht eigens publiziert, sondern als Vorschlag zur Überprüfung an den langjährigen Direktor des National Theatre, Sir Richard Eyre, übergeben. Einen weiteren politischen Schlag gegen das Opernhaus und seine gesellschaftliche Stellung bildeten kurz darauf die Ergebnisse der Untersuchung des Kulturausschusses, die am 3. Dezember 1997 vorgestellt, der Regierung übergeben und veröffentlicht wurden.164 Die Kritik des neu geschaffenen Gremiums, das in dem Bericht seine erste Aufgabe und mithin eine erste Möglichkeit, sich der politischen Öffentlichkeit zu präsentieren fand, fiel noch weit härter und bedingungsloser aus, als an der Oper nach der Auseinandersetzung mit Smith bereits befürchtet.165 In drastischer Sprache verurteilte er die Zustände an der Royal Opera als völliges Chaos (‚shambles‘). Dem Auftrag von Smith entsprechend, fokussierte der Untersuchungsbericht die Entscheidungsprozesse an der Oper im Vorfeld der Renovierung des Gebäudes. Dabei diagnostizierte er Mängel in jedem einzelnen Schritt der Planung und Umsetzung des Projektes : Um die Mittel der National Lottery zu erhalten, habe die Oper Versprechungen gemacht, die nicht erfüllt worden seien ; trotz der schon früh geübten Kritik an den Plänen für die Spielzeit während der Renovierung sei die Gebäudeplanung ins Leere gelaufen ;166 das Nomadisieren zwischen verschiedenen Häusern sei das chaotische Resultat einer nun ersichtlichen Reihe von Fehlern sowie unklaren und riskanten Entscheithat in the medium to long-term future it will be possible for as many people as possible, not all of substantial means, to enjoy good quality performances at the Royal Opera House.“ Vor dem Select Committee on Culture, Media and Sport am 21.01.1998. 163 Vgl. Ind., 03.12.1997, in dem Smith mitteilte, er habe „not ruled out the option of privatising Covent Garden on the model of the Glyndebourne Festival opera“. 164 HoC/CMSC, First Report, The Royal Opera House, 03.12.1997. 165 Der Bericht zum Zustand des Royal Opera House war der erste des neuen Committee nach der Wahl von New Labour. Mit dem Neuzuschnitt der Kulturzuständigkeit in der Exekutive im DCMS ist auch das entsprechende parlamentarische Gremium neu ausgerichtet worden. 166 Man habe an der Idee eines provisorischen Gebäudes nahe der Towerbridge zu lange festgehalten, obwohl sich dafür keine positiven Entwicklungen abgezeichnet hätten. In alten Aufzeichnungen der Oper sei diese Lösung auch – anders als behauptet – nicht vor Dezember 1995 gefunden worden, First Report, §19ff.
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dungen bzw. Nichtentscheidungen.167 Akteure aller beteiligten Gremien und Institutionen hätten in erster Linie keine kompetenten Lösungen erarbeitet, sondern ihre Verantwortung auf andere abgewälzt und zwischen Board, Chief Executive, Arts Council und Kulturministerium hin und her geschoben.168 Der Ausschuss forderte umgehende, nicht zuletzt personelle Konsequenzen : „There is no future for the Royal Opera House unless someone accepts responsibility for the sorry train of events we have described.“169 In seinem vernichtenden Urteil vermengte das Gutachten die Kritik an der wirtschaftlichen Führung des Betriebes mit den persönlichen Dispositionen seiner leitenden Akteure : Obwohl eigentlich „men and women of considerable distinction in business and public life (…) they were drawn to the House by their love of opera and ballet (…). This admiration appears to have dulled their critical faculties with regard to the management of a major organisation dependent in considerable measure upon public funding“.170 Die Akteure wurden durch ihre Charakterisierung vor allem als gesellschaftliche Gruppe verurteilt und diese wiederum als Teil einer überholten Tradition : „As is so often the case with renowned British institutions, the structure of the Royal Opera House owes more to history than organisational theory“,171 beklagte der Bericht. Dies sei in informellen Personalentscheidungen, Sonderzuschüssen, rechtlichen Erleichterungen und Beteiligung an den Grundstücks- und Liegenschaftsan- und -verkäufen ebenso sichtbar wie in den zweifelhaften Betriebsstrukturen des Hauses, etwa dem selbstreferenziellen Board, das sich ohne relevanten Einfluss von außen, gleich einer „sich selbst perpetuierenden Oligarchie“ selbst wähle und stets eine unmittelbare Nähe des Opernhauses 167 First Report, §16ff. 168 Der Arts Council habe als Kontrollinstanz die Augen vor dem verschlossen, was mit den 98 Millionen Pfund öffentlicher Mittel geschehen sei. Die seit Jahren angestrebten Verbesserungen im Management zwischen Royal Opera House und Arts Council seien niemals ausreichend implementiert und die eigentlichen Ziele missachtet worden : „This was a violation by the Arts Council of conditions wich the Council itself had set.“ (First Report, §36.) Sogar der neue Kulturminister Smith erhielt die Rüge, er habe kurz nach seinem Amtsantritt die Einstellung von Mary Allen nicht einfach akzeptieren dürfen und habe sich damit an dem unsauberen Personalwechsel beteiligt. (Vgl. ebd., §49.) 169 Ebd., §29. 170 Ebd., §41. 171 Ebd., §6.
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zu den jeweiligen amtierenden Regierungen gesucht habe. Nicht zuletzt die Vergabe der Lotteriemittel an die Oper sei von massivem politischen Einfluss gekennzeichnet worden, der weder durchschaubar noch ausreichend legitimiert gewesen sei.172 All das zeigte sich in dem Bericht eingeordnet in einen Kontext, der das Opernhaus als Hort einer spezifischen sozialen Problematik beschrieb. Das fehlerhafte Management des Hauses war daher nur eine Seite der Medaille, die andere die fehlende Zugänglichkeit für ein breiteres Publikum. Damit rückte wieder das Thema ‚access‘ in den Blick, doch anders als noch bei Priestley und Warnock oder in den Positionen des Opernhauses selbst, das seine exklusive Funktion mit der begrenzten Platzzahl entschuldigte, erschien der Zugang zur Oper nun nicht mehr allein als eine rein quantitative Frage : „access is not merely a product of ticket prices and availability, but also of the capacity of the Royal Opera House to attract a new and wider audience.“173 Die Gefahr, dass neue Besucher das Gefühl hätten, „that they were intruding a private club“ oder „that the atmosphere at the House intimidates some people“, hätte andere, soziale Gründe, und vor allem die müssten eliminiert werden. Den Zugang in diesem erweiterten Sinne maßgeblich auszuweiten, sei eine der wichtigsten Aufgaben des Opernhauses in den kommenden Monaten. Lob erntete die geleistete Education-Arbeit des Opernhauses. Um sie nicht bei den finanziellen ‚Sanktionen‘ bzw. Einsparungen mit zu treffen, empfahl der Bericht getrennte Zuweisungen für diesen Bereich. Die Schlussfolgerung des Kulturausschusses formulierte zwei Optionen, die das Opernhaus nun habe – die eine sei, ganz in Einklang mit den Vorschlägen des Kulturministers Smith, die radikale Privatisierung und damit einhergehende Befreiung von allen Pflichten einer öffentlichen Einrichtung (sowie von allen öffentlichen Zuwendungen). Die andere sei eine umfassende Umstrukturierung des Hauses, die durch den Rücktritt des gesamten Boards, seinem Vorsitzenden und der Chief Executive eingeleitet werden müsse und das Haus unter die temporäre Kontrolle des D C M S (nicht des Arts Council) stellen solle.174 Unter Anleitung des Kulturministeriums sollten dann die Posten neu 172 First Report, §12ff. 173 Ebd., §53. 174 Ebd., §58f.
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besetzt werden. Das heißt, es wurde ein expliziter moralischer Imperativ konstatiert, an den die Subventionen fortan gebunden wurden. Dem parlamentarischen Ausschuss gelang es mit diesem Bericht, das mächtigste und wichtigste Gremium des Opernbetriebs, das Board, zum geschlossenen Rücktritt zu zwingen. Am Tag nach der Veröffentlichung legten alle acht Direktoren ihre Ämter nieder. Die Forderung an beide Leitungsfiguren, ihre Positionen aufzugeben, wurde im Fall des Board-Vorsitzenden Lord Chadlington angenommen, im Fall der Chief Executive Mary Allen allerdings abgelehnt ; sie blieb noch ein halbes Jahr im Amt, bevor auch sie aufgab. Der von den neuen politischen Akteuren als so dringend aufgegriffene und dargestellte Handlungsbedarf bestärkte die Kritiker der Oper und belebte damit auch die öffentliche Debatte wieder. Die Ergebnisse des Ausschusses bestätigten die Vorstellungen von einem Missbrauch der Lotteriemittel und einer ‚Verschwendung‘ öffentlicher Gelder und erlaubten somit, unmittelbar an den Protest im ‚Lotterie-Sommer‘ von 1995 anzuknüpfen. Im November und Dezember 1997 wurde die Royal Opera eines der beherrschenden Themen des gesamten Pressespektrums ; Titelschlagzeilen, Leitartikel und Leserbriefe griffen ineinander und bildeten eine breite verbale Front gegen das Royal Opera House und bald auch gegen die Oper und den ganzen hochkulturellen Sektor im Allgemeinen – zahlreiche Kultureinrichtungen klagten in dieser Zeit über wegbrechende Akzeptanz in der Bevölkerung.175 Die Sprache dieser öffentlichen Debatte erhielt einen qualitativ noch schärferen Ton als 1995. Sie war gesättigt mit einem, insbesondere für den sonst so elaboriert beschriebenen Kultursektor ungewöhnlichen und verachtenden Vokabular, das die tiefe Spaltung, welche die Gesellschaft durchzog, veranschaulichte : „Part of their (the elitist clique) skill was to prevent us plebs from seeing it. This was an elite within an elite“,176 hieß es im Independent, der damit eine klare Grenze zwischen einem gemeinschaftlichen „wir“ („us plebs“) und davon getrennten „die“ („their skills“) zog. Proklamationen wie die des Mirrors, „It is time this rich shower of snobbish parasites were forced to pay for their own 175 „Scandal at Covent Garden undermines confidence throughout all arts organisations. The arrogance shown by the Royal Opera House alienates the instinctive allies of the arts in Britain“, berichtete der Ind., 02.11.1997. 176 Ind., 05.11.1997, 16.
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elitist hobby“,177 zeigten, dass eine Versöhnung im idealistischen Sinne der gesellschaftliche Unterschiede transzendierenden Kunst oder Demokratisierung von Kultur, hier nicht mehr das Ziel war. Keine vorsichtigen Reformen, sondern ein Umsturz des kulturpolitischen und sozialen Organismus’ Oper erschien erwünscht und notwendig. Während die gemäßigte Kritik dabei nur die tragende Klasse dieses Systems am Ende sah und zufrieden verkündete, „one can only heartily applaud the curtain coming down on the self-perpetuating oligarchy“,178 avancierten für die sich populär gerierenden Kritiker der Oper nun neben den Verantwortungsträgern der Oper alle das System durch ihre Teilhabe stützende Operngänger zu Schuldigen.179 Sie wurden aus dem moralischen Raum des gesellschaftlich Tragbaren und Anständigen verwiesen, waren nicht mehr Musikfreunde, sondern staatlich subventionierte „philistines“ und die Oper nicht mehr ein Ort der Kunst, sondern deren „worthless way of passing their time and (…) vulgar pleasure“.180 In extremer Form hebelte der Vorwurf der sozialen Ungerechtigkeit die gesamte kulturpolitische Strategie der Demokratisierung aus : „They say it’s all about involving the general public but I’d say it is a sickening, guilt-ridden attempt to disguise the fact that the most appalling clique of wealthy, London culture snobs are ripping off the tax payer to subsidise their elitism. (…) Why don’t you chaps bail yourselves out or stay at home and get your fat ladies to sing ? !“181 Der Attacke von ‚unten‘ folgte der Gegenschlag von ‚oben‘. In ihm mischte sich die Verteidigung eines tradierten sozialen Status’, die den Konflikt als drohenden Kulturverfall deutete, mit Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern. So warfen deren politische Gegner der New-Labour-Regierung eine populistische Generalisierung vor, die normale Musikliebhaber als elitäre 177 Mir., 21.01.1998. 178 Ind., 02.11.1997, 5. 179 Der Spectator (06.12.1997, 15.) etwa betonte mit polemischen Berichten von den ,teuren Plätzen‘ der Oper die geringe Befähigung vieler, wirklich etwas vom Kunstwerk Oper zu verstehen : „There were all those people who did not give a damn about opera ; who chatted to each other during the performance … or fanned themselves distractingly with their bulky expensive programmes ; who stared at the programme before the start of a production of The Marriage of Figaro and exclaimed in genuine surprise : ‚It’s by Mozart !‘“ 180 Grd., 10.11.1997, 14. 181 Mir., 20.08.1997.
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Snobs stigmatisiere, um sich auf deren Kosten und um den Preis der künstlerischen Qualität einer bedeutenden Kulturinstitution als besonders volksnah und modern zu stilisieren : Das Elitäre (elitism) sei schlicht „das Beste“, und dagegen könne doch zumal in der Kunst nichts einzuwenden sein – „My dictionary defines elite as ‚the pick of anything ; the best, in fact‘. What on earth is wrong with that ?“182 fragte Lord Balfour of Inchrye vor dem House of Lords und verwarf damit gerade die Differenzierung zwischen einer ästhetischen und einer sozialen Funktion der Oper. Mit der Feststellung „Elitism has no place in ‚Cool Britannia‘ ; populism does. We are back to the old cynical adagio – give them panem et circenses. But what attracts the largest numbers is not always of the highest quality“,183 diskreditierte seine konservative Kollegin Baroness Rawlings in gleichem Sinne das gesamte kulturpolitische Programm von New Labour. Sie zeigte sich „worried about the Prime Minister because he is signalling that Oasis is as important to Britain as opera“.184 Der ‚richtige Geschmack‘ ließ sich mithin auch als Maßstab für die Beurteilung der Regierung aufstellen. Es sei kein Wunder, wenn die klassische Kultur zu kurz komme, wenn der Pemierminister in Downing Street nur noch Popstars empfange, polemisierte auch die Times,185 und rückte damit das Engagement der Regierung für neuere Musikformen in ein antagonistisches Verhältnis zu klassischen kulturellen Werten, allen voran der Oper. Das Verhalten der Regierung gegenüber der Oper beweise, wie ‚unkultiviert‘ sie sei,186 hieß es im Tory-treuen Daily Telegraph ; ihre Vertreter besäßen keinerlei künstlerische Kenntnis, weswegen ihr kulturpolitisches Programm reiner „socialist clap-trap“187 sei, der sich aus nichts anderem speisen könne als aus blanken Hass gegenüber der Oper.188 Dem neuen D C M S wurde mit der regelmäßigen Bezeichnung als „Ministry of Fun“ die Fähigkeit zur ernsthaften Kulturpolitik geradezu abgesprochen.189
182 HoL, 20.11.1995, 198. 183 Baroness Rawlings, HoL, 18.03.1998, 723. 184 In HoL, 21.07.1998, 811. 185 TT, 18.12.1998, 35. 186 Etwa DT, 14.07.1997 und 26.8.1997. 187 DT, 01.08.1995. 188 Vgl. DT, 07.12.1997, sowie Lebrecht, Covent Garden, 483. 189 Vgl. DT, 15.07.1997.
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Aus dem Opernhaus selbst kamen Äußerungen, aus denen vor allem das Bemühen sprach, die Gunst der wichtigen privaten Förderer nicht mit einer Unterwerfung unter die neuen populären Maßstäbe zu verspielen – eine Gefahr, die den für das Marketing Zuständigen als ebenso gefährlich erschien wie die, das Ansehen der breiten Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Hand zu verlieren. Mit Versicherungen wie „our sponsors are very well behaved in the way they use their allocated seats. They don’t abuse the facility by giving them away to ordinary salesmen or people like that“,190 verwiesen sie ihrerseits explizit auf die Existenz exklusiver und eben sozial definierter Standards, deren Bestand nicht gefährdet sei. Der eigentlich zur Schadensbegrenzung im Januar 1998 neu gewählte Vorsitzende des Boards, Sir Colin Southgate, bezeichnete deren Merkmale sogar in seinem öffentlichen Antrittsstatement : Demokratisierung sei zwar wichtig und wünschenswert aber, „we mustn’t downgrade the opera house. I don’t want to sit next to somebody in a singlet, a pair of shorts and a smelly pair of trainers“,191 erklärte er gegenüber der sensibilisierten Presse. Wie die Kritiker des sozialen Raumes Oper dessen Besucher plastisch als teuer gekleidete, massige Snobs beschrieben hatten, die gegebenenfalls gar nicht an der Kunst, sondern nur am Sehen und Gesehenwerden teilhaben wollten, schuf Southgate für die Anhänger eines distinguierten Opernbesuches ein konkretes kulturelles Gegenbild : jenes einer zu populären Oper, die sich aber eben nicht durch ein gefälliges Repertoire oder konservative Inszenierungen auszeichne, sondern ein Publikum in Turnschuhen und kurzen Hosen, das sich nicht ‚richtig‘ zu benehmen wisse. Ein halbes Jahr später, im Sommer 1998, folgte schließlich als letzte politisch initiierte Operndiskussion die Vorstellung des ‚Eyre-Reports‘, den Chris Smith zur Prüfung seiner eignen Reformpläne in Auftrag gegeben hatte. Angesichts seiner konkreten Aufgabenstellung war der entstandene „Report on the Future of Lyric Theatre in London“192 sehr allgemein gehalten und zeichnete in eher großem Bogen die Entwicklung und Probleme der Londoner Opernhäuser nach. Denn Eyre sah die aktuelle Opernkrise vor allem als ein Symbol für einen 190 Zit. in Grd., 05.11.1997. 191 Zit. nach Lebrecht, Covent Garden, 445 ; fast ausnahmslos jede Zeitung hat diese Äußerung am nächsten Tag (16.01.1998) gedruckt. 192 Sir Richard Eyre, Report on the Future.
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größeren kulturpolitischen Wandel und dessen gesellschaftliche Rückkoppelung : „The Royal Opera House has come to be seen as a barometer of the health of the world of the performing arts. That organisation has inspired righteous indignation, invited mockery, invoked accusations of irresponsibility, overspending, mismanagement and elitism, and begged questions about validity of the principle on which all arts organisations receive taxpayers’ money.“193 Im Gegensatz zu den vorangehenden Berichten, die meist in geschlossenen Teams erarbeitet und nicht oder nur beschränkt publiziert wurden, versuchte er, der Untersuchung einen explizit diskursiven Charakter zu verleihen, und lud Presse, Opernpublikum, Freunde und Mitglieder der Opernhäuser und Künstler ein, ihre Vorschläge, Wünsche und Ideen einzubringen. Das Royal Opera House habe einen enormen Imageverlust erlitten, den es von Grund auf zu korrigieren gelte. Dazu müsse die unzertrennliche Verbindung des Begriffs ‚elitär‘ mit dem Opernhaus aufgebrochen werden und das Thema ‚access‘ eine ganz neue Bewertung erfahren, schrieb er.194 Von diesem Ansatzpunkt aus macht Eyre Vorschläge für die Zukunft des Hauses, die – wie ansatzweise bereits der Bericht des Kulturausschusses – auf ein erweitertes, qualitatives Verständnis von Zugänglichkeit zielten. Eyre ging insofern noch weiter, als er forderte, das Opernhaus solle mit der Wiedereröffnung alle Zugangsbeschrän kungen endgültig abbauen – und zwar die tatsächlichen ebenso, wie die öffentlich wahrgenommenen. Zu achten sei etwa darauf, dass die Besucher, und vor allem Erstbesucher, offen empfangen würden, sich wohl fühlten und wiederkommen wollten. Das neue Gebäude solle Inklusion ermöglichen, nicht Exklusion perpetuieren ; es dürfe keinen Raum mehr in Covent Garden geben, der nur wenigen Privilegierten mit dem richtigen ‚Status‘ zur Verfügung stehe ; der freie Verkauf von Tickets sei zu gewährleisten, die Praxis, fast alle Plätze an die mit Bestellprivilegien ausgestatteten Mitglieder der Freundesorganisationen sowie große Mengen an Freikarten zu vergeben, müsste konsequent beendet werden. Weiterhin regte Eyre Partnerschaften zwischen der Oper und Medieninstitutionen an, um Übertragungen in Radio und Fernsehen in der Zukunft 193 Eyre-Report. 194 Auch Eyre stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen staatlichen Subventionen und der Öffentlichkeit der geförderten Institution her : „Subsidy buys access to the arts, and access is the rationale for subsidy.“ (Eyre-Report)
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als Zugangsstrategien zur Oper systematisch einzusetzen. Es wäre etwa ein unentschuldbares Versäumnis, würde die Royal Opera nicht die Chance nutzen, ihre Gala zur Wiedereröffnung des Hauses live zu übertragen, um sich damit als verjüngt zu präsentieren und gegenüber der Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Auch das Internet sollte als Chance, direkt mit neuem potenziellem Publikum zu kommunizieren, genutzt werden.195 Der Bericht behandelte zwar auch die kulturpolitischen Verfahren, in welche das Opernhaus eingebunden war, und kritisierte hart die Arroganz des Boards und der Hausleitung gegenüber ihren kulturpolitischen Partnern,196 doch die beiden Vorschläge des Untersuchungsausschusses bzw. Kulturministers lehnte er dezidiert ab. Weder die Privatisierung noch eine Fusion der beiden Londoner Opernhäuser würde die Opern den erwünschten Zielen näherbringen. Modelle andere privater Opernhäuser – etwa der viel größeren und in einem ganz anderen Förderklima angesiedelten New Yorker Met oder der Glyndebourne Festival Opera – kämen für die Royal Opera nach Jahrzehnten der öffentlichen Investitionen in das Opernhaus, nicht mehr in Frage. Ebenso sei die angestrebte Fusion mit der English National Opera strategisch nicht sinnvoll. Da das Publikum dazu neige, die Ensembles mit einer ‚Heimat‘ zu identifizieren, riskiere man mit einem Umzug, dieses Publikum zu fragmentieren, was nicht zuletzt finanziell verheerende Folgen haben könnte. Eine konkrete Umsetzung haben auch die Londoner Reports allesamt nicht erfahren. Doch blieben das Problembewusstsein, das sie dokumentierten, und die öffentliche Resonanz, mit der sie in einem reziproken diskursiven Verhältnis standen, nicht ohne Folgen. Mehr noch als die technischen Fragen der Finanzierung und die verstärkte ökonomische Ausrichtung der Opernbetriebe wurde die soziale Rolle der Oper und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung weit über die opernpolitischen Akteure hinaus kontrovers diskutiert. Gerade weil die unterschiedlichen Positionen so hart aufeinandertrafen und in der extremen Form ausgetragen wurden, sind dadurch bestimmte Prozesse katalysiert worden. Das kulturpolitische System ebenso wie der soziale Raum Oper wurden in 195 Eyre-Report. 196 „Unless the Board of the Royal Opera House accepts that they are a part of the same economy as any other performing arts organisation, they cannot expect to be regarded as participants in a common cause and beneficiaries of public funding.“ (Eyre-Report)
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London kulturell wie strukturell so fundamental in Frage gestellt, dass eine Neuordnung entstehen konnte. Die Krise war so allumfassend, dass – bei allen Kontinuitäten – die frühere meist informelle soziale Ordnung der Opernpolitik, der Opernstruktur und vor allem des Opernbesuchs nicht in der bisherigen Selbstverständlichkeit fortbestehen konnte. 2.2 Öffnung der Oper – Öffnung der Gesellschaft ?
Als am 1. Dezember 1999 das umgebaute Royal Opera House seine Pforten wieder öffnete, hatte sich weder die finanzielle Lage des Hauses stabilisiert, noch brach ein neues Zeitalter der ‚People’s Opera‘ in Großbritannien an. Trotzdem hatte sich vieles verändert, das auf einen Nachhol- und Anpassungsprozess des Opernhauses an einen gesellschaftlichen Wandel hindeutet. Jenseits der Untersuchungen und Berichte sowie der öffentlichen Debatte sollen im Folgenden Bereiche gezeigt werden, in denen dieses Wechselverhältnis sichtbar wird. Diese Veränderungen waren Folge eines sich in den 1990er-Jahren beschleunigenden gesellschaftlichen Wandels, welcher kulturpolitische Reformen motivierte und ungekannte Dynamiken und Veränderungen freisetzte. Sie zeigen die Krise des Opernhauses sowohl als Ausdruck des Zerfalls der tradierten Strukturen des sozialen Raums Oper, als auch als deren Restabilisierung. Alte Konventionen wurden entkräftet, konnten aber auch, in neue Zusammenhänge eingegliedert, wieder erstarken. In den folgenden Abschnitten geht es darum, diesen ambivalenten Prozess exemplarisch sichtbar zu machen. 2.2.1 ‚Soziale Barrierefreiheit‘
Auf Grund der Renovierung des Covent-Garden-Opernhauses, die durch die Lotteriefinanzierung und chaotische Interimsplanung der Anlass für die Krise war, musste eine entscheidende Rolle bei der Veränderung der sozialen Funktion der Oper in London auch durch diesen Umbau sichtbar werden. Im ersten Kapitel dieses Teils wurde gezeigt, wie die räumliche Struktur eines Opernhauses zur Geschlossenheit des gesellschaftlichen Ereignisses Oper beitragen kann und welche klassifizierenden und bisweilen ausschließenden Merkmale dabei allein durch die räumliche Struktur und ihren rituellen Gebrauch wirksam sind.
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Entsprechend musste dieser Raum nun auch daran beteiligt werden, diesen Charakter, der schließlich im Zentrum der öffentlichen Kritik und des politischen Reformbedarfs stand, zu wandeln. Vor dem Hintergrund der in der Krisendebatte erstarkten Norm gleicher Chancen galt es in dem Opernhaus auch mehr Gleichheit zu visibilisieren – und tatsächlich wurde durch den Umbau eine leichte Auflösung der architektonischen Grenzen des sozialen Raums Oper nach außen wie im Inneren initiiert. Dabei brachten die Umbauspielzeiten zunächst eine massive räumliche Verunsicherung mit sich. Als das Haus nach einem angemessenen Galaabend alten Maßstabs am 14. Juli 1997 seine Pforten schloss, war für die Zeit des Umbaus kein alle technischen und künstlerischen Bedürfnisse abdeckendes Ersatzhaus gefunden worden. Daher kam es zur Aufteilung des Spielplans auf verschiedene alternative Spielstätten : Das Royal Ballet musste in eine alte Konzerthalle im entlegenen Stadtteil Hammersmith ziehen, die Oper bespielte unter anderem das Theater im Barbican Center, jenem modernen Kulturkomplex der 1980er aus Waschbeton nahe der Londoner City, das South Bank Centre, Shaftesbury Theatre und die Royal Festival Hall. Wie sich bald zeigen sollte, hatten der ständige Ortswechsel und der fehlende räumliche Rahmen katastrophale Auswirkungen auf die Gunst der Zuschauer : „The exile era lacked glamour and the public voted with its feet.“197 Die Auslastungszahlen sanken unerwartet schnell und deutlich ; die Einnahmen blieben weit hinter den kalkulierten Erwartungen der Finanzplanung zurück und gefährdeten damit wiederum die Auszahlung weiterer Lotteriemittel. Das heißt, die Abwesenheit der spezifischen Räumlichkeit des Opernhauses wurde zu einem Problem, als seine Leitung – viel zu spät – feststellte,198 dass ein Teil des Publikums auf die Kunst der Oper gerne verzichtete, wenn sie nicht auch das gewohnte gesellschaftliche Ereignis bot. „The rich go to Covent Garden to be seen at Covent Garden, to throng in the Crush Bar, to enjoy the 197 Lebrecht, Covent Garden, 429. Vor allem das Labatt’s Apollo Theatre in Hammersmith löste Irritationen aus. Dort das Royal Ballet zu sehen, bezeichnete der Guardian als „bizarre sight“ (26.12.1999). Die Times sah in dem Bau „the most forbidding of all to traditional Covent Garden audiences“ (07.12.1997), und der Independent stellte nach einem Besuch fest, dass des „audience’s loyalty clearly lay with the crimson velvet and gilt of the house in Covent Garden, as well as with the ballet company itself“ (02.11.1997). 198 Chief Executive Mary Allen, zit. in HoC/CMSC, First Report, §27f.
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spirit of the place“, schrieb der Guardian und schlussfolgerte klar : „That is why audiences have collapsed now that the Royal Opera is using other London venues.“199 Ohne die urbane Covent Garden Plaza, die roten Sessel, Logen und exklusiven Pausensalons, eben ohne jene Möglichkeit der Selbstvergewisserung, dass man in das Royal Opera House ging, war manchen Zuschauern der Opernbesuch nichts mehr (oder erheblich weniger) wert. Andererseits rückte aber durch diese negative Entwicklung die Bedeutung des Raumes als qualitatives Zugangskriterium verstärkt in den Blick. Und diese neue Perspektive prägte den Begriff der Zugänglichkeit (access) nun entscheidend mit. Zwar lag der Architekturwettbewerb für den Umbau schon über 15 Jahre zurück, doch wurde die Weiterentwicklung des Entwurfs aus dem Büro Dixon-Jones ebenso wie das darauf abgestimmte Nutzungskonzept von der Debatte beeinflusst. Zu Beginn der 1990er-Jahre fand das Thema der Zugänglichkeit zwar schon Berücksichtigung, doch umfasste es wie schon die oben erörterten Gutachten und Berichte vor allem quantitative Kriterien – es ging um die Erhöhung der Anzahl der Plätze und Vorstellungen, das heißt, in Hinblick auf die bauliche Modernisierung vor allem um die Verbesserung der technischen und räumlichen Produktionsbedingungen.200 Beschränkter Zugang ließ sich stets auf die begrenzte Zahl von 2096 Sitzen und die hohen Eigeneinnahmen, die damit erzielt werden mussten, zurückführen.201 In dem im vorangehenden Abschnitt dargestellten öffentlichen Opernkrisendiskurs nahm die Plastizität der Vorstellungen vom sozialen Raum der Oper jedoch zu und mit ihr die Vielzahl seiner Merkmale auch jenseits des Eintrittspreises. Es wurde deutlich : „Increasing access is not only about charging cheaper prices for tickets to places such as the Royal Opera House, but about changing cultural attitudes.“202 Kleidung und Verhaltensstandards waren ebenso intensiv thematisiert worden wie die positiven oder negativen E motionen 199 Grd., 10.11.1997, 14. 200 Vgl. etwa die Antwort des damaligen Secretary of State im House of Commons auf eine Frage nach der begrenzten Zugänglichkeit : „The Royal Opera House has made it clear that it wants access to be improved, and the scheme will afford that not only in terms of the number of seats available, but in terms of the number of performances that can be accommodated.“ (HoC 10.05.1993, 480.) 201 ROH, Putting our House in Order, 2. 202 Ward, HoC, 22.11.1999, 329.
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des Publikums in und gegenüber dem Opernhaus. Sie wurden mit Eyres Forderung danach, in der Oper ein Gefühl des Willkommen-Seins zu ermöglichen, ebenso wie durch die zahlreichen Klagen, sich in Räumen wie der Crush-Bar ausgeschlossen zu fühlen, zu Kriterien der Zugänglichkeit.203 Das heißt, es ging plötzlich nicht mehr allein um den Zutritt zu einem gegebenenfalls zuvor verschlossenen sozialen Raum, sondern auch um die Adaption bestimmter Eigenschaften, die zeitgenössischen Erlebnissen der Teilhabe entsprachen. Diese Merkmale einer auch qualitativen Öffnung und Anpassung des Opernhauses mussten beim Umbau berücksichtigt werden. Den Maßstab für eine räumliche Neuordnung bildete zunächst der bestehende architekturhistorische Kontext : In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte man vielerorts versucht, die Zuschauerräume demokratischer, die Opernhäuser auch baulich transparenter zu machen. Die Spuren des aristokratischen Erbes, das in den Opernbauten überlebte, und damit deren h ermetischer, elitärer und ruchbarer Charakter sollten aus dem Opernerlebnis verschwinden. Für die Opernneubauten der vergangenen Jahrzehnte war das selbstverständlich.204 Die politische Gleichberechtigung des Publikums zeigt sich dort ebenso in langen gleichen Sitzreihen, die an die Stelle der Logen und schmalen Ränge getreten sind, wie in dem gleich guten Blick von dort auf die Bühne – die Kunst, nicht mehr die sozialen Beziehungen stehen im Fluchtpunkt der Zuschauerblicke.205 In London nun musste die demokratische Aufwertung bei Beibehaltung des alten Raumes geleistet werden ; es galt mithin auch die ästhetischen, persönlichen und nicht zuletzt sozialen Empfindungen, die an dem Saal hingen, zu wahren. So ließ das Umbaukonzept zwar den Gesamteindruck des Saales unangetastet, veränderte aber einige Achsen innerhalb der Sichtverhältnisse im Auditorium. Der gesamte Saal wurde entkernt und rekonstruiert wieder aufgebaut. Er erhielt zwar nur wenige Sitze sowie ein paar Rollstuhlplätze mehr, aber 203 Dies machte insbesondere der Vorsitzende des Kulturuntersuchungsausschusses, Gerald Kaufman, publik : In der Times (07.12.1997) berichtete er von der „stifling aura of social exclusivity. The more (I) took his seat at the opera, the more (I) felt isolated and unwanted“. 204 Vgl. Forsyth, Bauwerke für Musik. 205 Der erste Bau, der diese die Theaterarchitektur der Moderne prägende Idee und Struktur hat, war freilich bereits Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth, eröffnet im Jahr 1876.
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die Sichtachsen waren durchweg leicht verändert worden. Auf den Seitenflügeln der Ränge waren die Sitze um einige Grad gedreht worden und erlaubten nun auch von den oberen Rängen einen etwas besseren Blick auf das Bühnengeschehen. Mehr noch : Die gesamten Logen im ersten und zweiten Rang erhielten eine leicht verschobene Neuausrichtung in Richtung Bühne. Ein paar Grad Drehung für eine bessere Sicht mögen den Charakter des Raumes nicht revolutioniert haben, vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten durch den Raum tradierten kulturellen Praxis des Opernhauses – in der das Sehen und Gesehenwerden eben häufig immer noch eine höhere Priorität gegenüber dem Kunstgenuss zu haben schien – erhielt diese Veränderung eine nicht zu unterschätzende Relevanz. Weit deutlicher aber wurde die Neustrukturierung der Räume und die damit gewissermaßen erzwungene Veränderung ihrer Nutzung durch den Umbau der Foyers sowie der räumlichen Öffnung des Gebäudes nach außen. Um den Zuschauersaal herum nutzten die Architekten modernste Mittel, um den traditionellen Charakter des Opernhauses aufzubrechen. Im neuen Zentrum des Opernhauses entstand eine große, von einer renovierten viktorianischen Glaskuppel überwölbte Halle, die jahrzehntelang vor allem als Lagerfläche gedient hatte. Als licht- und sichtdurchlässiger Raum bildete diese neue Floral-Hall das große Pausenfoyer für alle und eine räumliche Mitte, von der aus die Aufgänge zu den Rängen erreichbar waren. Die Verbindung von Foyer und Parkett mit den oberen Rängen bildeten zwei Rolltreppen, welche die ganze Länge und Höhe der Floral-Hall an einer Seite durchmaßen. Als technisch moderne Impression und durch das flüssige Auf und Ab des Publikums, das sie während der Pausen ermöglichten, wurden sie das sinnfällige Symbol für die soziale Mobilität, für die das Opernhaus nun offen sein wollte. Die ehemalige Crush Bar, das exklusive kleine Pausenfoyer für Freunde und Sponsoren, wurde aufgebrochen und zu einem offenen, mit Glas verkleideten Raum, von dem aus auf der Innenseite der Zugang zu den Rängen erfolgte und sich auf der Außenseite der Blick hinunter und hinein in das große Foyer bot.206 War vor der Schließung 206 „The long bar, where even those paying 140 Pounds for a ticket would find that every gilt chair had been reserved for corporate clients, has disappeared. (…) The space is now an elegant lobby for those waiting to take their seats in the Royal circle, or anyone else curious enough to wander through,“ beschrieb der Guardian das neue Pausenerlebnis, 20.11.1999.
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des Hauses 1997 noch angedeutet worden, die Bar bliebe auch nach der Wiedereröffnung für die ‚corporate clients‘ reserviert, konnte nun jeder, der wollte, hier durchgehen oder sich bei einem Pausenimbiss aufhalten. Mit den Materialien kontrastierend, die gewählt worden waren, um den ‚altmodischen‘ Glanz des Innenraumes zu wahren, dominierte hier ein modernes Spiel mit Licht und Glas die Atmosphäre – „the stuff of fashionable clubs and bars“, wie der Architekt explizit betonte.207 Den zuvor mit dem klassizistischen Portikus nur auf eine kleine Straße sich öffnenden, zur großen Covent Garden Piazza aber hermetisch abgeschlossenen Theaterbau banden die Architekten als durchlässiges, modernes und räumlich kommunikatives Forum in die bauliche Struktur des Platzes ein. Das Haus erhielt einen neuen Zugang vom Platz aus, den eine lange Reihe moderner Arkaden schmückte, als durchlässige Verblendung eines ganz neu geschaffenen Gebäudeteils. Über alle sechs Stockwerke der Oper belebten nun in dem angrenzenden neuen Komplex elegante und moderne Räume das Areal, darunter eine Galerie, Restaurants und verschiedene Geschäfte, und ergänzten den Bau um Nutzungen jenseits des reinen Opernbesuchs. Ein Café bewirtschaftete die neu angelegte Dachterrasse, von welcher aus sich ein in der Umgebung einzigartiger Blick über das gesamte Viertel öffnete. Gerade diese Terrasse wurde somit zu einem besonderen Erlebnisraum, der die Menschen anzog, aber vom Opernbesuch losgekoppelt blieb. Zugleich ermöglichte er jedoch neue Einblicke und eine Annäherung an den Bau, denn die Besucher mussten nun durch einen Teil der Oper hindurchgehen, um die Terrasse zu erreichen und konnten von dort durch große Fenster direkt in die Kostümwerkstätten der Oper blicken.208 Die Schwelle des rituellen Eintritts in das Opernhaus war durch eine vielseitige architektonische Durchlässigkeit und Öffnung für verschiedene Nutzungsformen, die nicht mehr an das Ereignis Oper gebunden waren, ersetzt worden. Ein weiterer Aspekt der Öffnung des sozialen Raumes Oper vollzog sich im Bereich der Kartenvergabe und ihres Verkaufssystems. Mit der Wiedereröffnung sollte auch die materielle, am meisten kritisierte Hürde wenigstens ein Stück weit sinken : Der Verkauf von Karten wurde erweitert. Nicht nur waren in den 207 Dixon in Grd., 26.11.1999. 208 Vgl. Smith, The Dynamics, 95f.; Snowman, How Does the Garden Grow ; Powell/Dixon u.a., „House Style“.
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Jahren vor der Renovierung die hohen Kartenpreise für eine Vielzahl von Menschen nicht erschwinglich, die hohe Nachfrage machte es für Opernneulinge häufig unmöglich, überhaupt Karten zu erwerben. Mit der Einführung der Struktur der Freundeskreise und der Corporate Clients in den 1970er- und 80er-Jahren, ging ein System vielfältiger Privilegien einher, mit denen die private Unterstützung belohnt werden sollte. So kamen oft gar keine Karten oder nur ein Bruchteil in den freien Verkauf ; über die normale Tageskasse war der Zugang zum Opernhaus nicht zu erwerben. Zwar kosteten die besten Plätze nach der Wiedereröffnung immer noch 150 Pfund und mehr, doch gab es mehr Plätze, die in einem mittleren Preissegment bis immerhin 50 Pfund lagen ; auch waren im dritten Rang zusätzliche, wenn auch keine guten, so doch sehr günstige Plätze entstanden, die ab zwei Pfund für Ballett- und ab sechs Pfund für Opernvorstellungen verkauft wurden. Die Mitglieder des Freundeskreises konnten sich mit ihrem Jahresbeitrag von 1.250 Pfund noch immer ihre Privilegien bei der Bestellung von Karten sichern, erstmals jedoch garantierte die Royal Opera, dass immerhin mindestens 20 % der Karten für alle Vorstellungen in den freien Verkauf gingen. Ob und wieviel Ermäßigungen gewährt werden, wird jedoch bis heute vor jeder Vorstellung und nach Stand der verkauften Karten neu entschieden ; eine Verpflichtung musste das Opernhaus dazu nie eingehen. Die Presse und auch zahlreiche Besucher beobachteten Preissenkungen und -anhebungen in Folge der Wiedereröffnung aufmerksam. Die Thematik war noch so überhitzt, dass es Kritikern leicht fiel, anhand jeder preislichen Verschiebung fehlende Reformen zu diagnostizieren. Immer wiesen sie auf die Beziehung von Raum und Eintrittspreisen hin, sei es, wenn beklagt wurde, dass nur Plätze mit schlechter Sicht für ‚normale‘ Menschen bezahlbar seien, weil man selbst für 50 Pfund nur in den letzten Reihen des Amphitheatre sitze oder weil bestimmte Plätze immer noch grundsätzlich vom freien Verkauf ausgeschlossen seien.209 Der Oper fiel es umso schwerer, bei der Suche nach einem neuen Gleichgewicht von sozialer Öffnung und finanzieller Einnahmesicherung die räumliche Struktur ebenfalls in der Balance zu halten. Weit leichter war dies im Fall eines Finanzierungskonzeptes, das der im Sommer 1998 neu gewählte Direktor des Hauses, der Amerikaner Michael Kaiser, 209 Vgl. die unter dem Titel „Same Old Song“ versammelten Leserbriefe in Grd., 03.12.1999.
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einleitete. Es sollte die Oper vor allem von den finanziellen Altlasten der Umbauzeit befreien und auf das Wohlwollen der alten Mäzene und Klientel aufbauen, zugleich aber die Intransparenz und Informalität vermeiden, die für das schlechte Image verantwortlich waren. Das Konzept sah vor, kleinere wie größere Teile des neuen Opernhauses gegen Spenden mit persönlichen Widmungen zu versehen. So erhielt jeder die Möglichkeit, für eine Spende ab 500 Pfund eine Plakette mit dem eigenen Namen oder mit einer Erinnerung an jemanden an einem der Sitzplätze im Zuschauersaal zu erhalten.210 Dem weltweit als Opernmäzen bekannten Milliardär Alberto Vilar konnte erfolgreich die Umbenennung des neuen Foyers in ‚Vilar‘-Floral-Hall für eine Spende von 10 Millionen Pfund angeboten werden.211 Auf diese Weise gelang es, die Identifikation der Unterstützer mit dem Haus zu fixieren, diese aber zugleich für alle sichtbar zu machen. Damit war nicht nur ein Kontrast geschaffen zu den undurchschaubaren Verbindungen und meist unbekannten Quellen der privaten Finanzierung des Opernhauses, die zuletzt durch die zweimalige Notrettung der Oper vor dem Bankrott in die Kritik geraten war, sondern auch eine Verbindung zwischen dem neuen offenen Raumkonzept des renovierten Hauses und dem Prestigebedürfnis der ‚elitären‘ Klientel. Schließlich entwickelte die Leitung der Royal Opera in den kommenden Jahren ein breites Angebot virtueller Zugänge zu Oper und Opernhaus. Man begann systematisch von modernen Kommunikationsmitteln, die bislang häufig nur den Bereich der Populärkultur erreichten, Gebrauch zu machen. Von der Online-Buchung der Eintrittskarten, die unerfahrene Operngänger von den Sprachbarrieren und Regeln an einer Opernkasse befreien sollte, über ein breites Angebot von Lifestreamings und Podcasts, die Einblicke in das Gebäude und einzelne Produktionen ermöglichen, bis hin zu eigenen Seiten in Netzwerken wie facebook wurde vor allem das Internet zu einem Kommunikationskanal ausgebaut.212 „What to 210 Ballerinas, die zusammenlegten, um einen jahrelangen Besucher ihrer Vorstellungen und Blumenspender zu ehren, waren ebenso dabei wie eine anonyme Spenderin, die 5000 Pfund für die Inschrift „The seat in which I met the love of my life“ spendete ; vgl. Lebrecht, Covent Garden, 472f. 211 Die Halle wurde infolge der rechtlichen Verfolgung Vilars im Jahr 2005 wieder zur einfachen Floral Hall. 212 Vgl. heute http ://www.roh.org.uk.
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expect“ ist zu einer eigenen Rubrik in den Informationsbroschüren und auf der Homepages der Oper geworden. Unter der Überschrift „Never been to a performance at the Royal Opera House before ? This information should ensure your visit goes smoothly“, gibt das Royal Opera House Tipps und Hinweise für einen gleichermaßen angenehmen wie reibungslosen Opernabend für alle Beteiligten. Die Informationen sind keinesfalls nur auf Touristen zugeschnitten, sondern machen die gängigen Abläufe eines Opernbesuches für alle möglichen Besuchertypen transparent : wo man Karten kauft, wann man ankommen soll und wie man seinen Platz findet, ob es einen Dresscode gibt und ob Kinder mit dürfen. Unter der Direktion Kaisers wurden die qualitativen Zugangsbarrieren erstmals explizit ernstgenommen und abgebaut. Ein Mitarbeiter schilderte vor dem Kulturausschuss Kaisers Bemühen, „for getting the Opera House to be a building that people feel comfortable in, that they can come into, that they can walk through, they can have a sense of costumes from the past and all of the things that break down some of those barriers. We hugely underestimate how frightening some of these venues are for people : ‚How do you get tickets ? What do I wear ?‘, all of those things. There are real things you can do about that.“213 Die Auswirkungen all dieser räumlichen Veränderungen auf das tatsächliche Verhalten des Publikums lassen sich im Einzelnen schwer nachvollziehen. In der öffentlichen Bewertung wurde das neu eröffnete Opernhaus als die perfekte Modernisierung gefeiert, sichtbar verändert und doch die Identifikationsmerkmale des traditionsbewussten Publikums erhaltend. Der maßgebliche Unterschied, der sich anhand der gewählten Merkmale bestimmen lässt, schien darin zu liegen, dass der Raum des Royal Opera House nicht mehr allein durch die Tradition bestimmter Rituale und ein familiär oder monetär erworbenes Wissen bestimmt wurde. Ob beim Betreten des Opernhauses, der Beschäftigung in den Pausen von Aufführungen oder in den Chancen, sich über die Aktivitäten des Opernhauses zu informieren, unterlag die Oper mehr denn zuvor der Wahl des Individuums. Es lässt sich erkennen, dass hinter dem Wandel nicht allein die Infragestellung eines sozialen Ungleichgewichts stand, sondern auch eine neue Form der sozialen Funktion von Kultur und auch Oper. Dem soll in den folgenden beiden Abschnitten weiter nachgegangen werden. 213 Vor dem HoC/CMSC, Examination of Witnesses, 24.06.1999 (Questions 220–239).
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2.2.2 Kleiderordnungen
Ein Beispiel, das Zeugnis von dieser neuen ‚Optionalität‘ der Oper gibt, ist der Wandel der Kleiderordnung. Die gehobene Kleidung beim Opernbesuch ist Demonstration von Wohlstand, Teil eines Rituals sowie Ausdruck des Wissens um bestimmte Standards, die dabei gelten. Obwohl kaum noch offizielle Dresscodes existieren, hat sich die Abendgarderobe bis heute als eines der zentralen Merkmale eines traditionellen Opernbesuchs gehalten – doch nicht ohne in Frage gestellt worden zu sein, wie sich auch am Londoner Fall zeigt. Einer der ersten Kommentare zu der neuen Spielstätte des Balletts in Hammersmith erfolgte in Form einer Warnung vor den Gefahren, welche der umbaubedingte Umzug in gewisse Stadträume Londons auch für das Publikum barg : In dieser Gegend könnte allzu fragiles Schuhwerk ebenso gefährdet sein wie kostbare Juwelen. Ein prominenter Londoner Herrenausstatter befürchtete sogar grundsätzlich „another down-grading of the great tradition of the night out at Covent Garden, one of the last bastions where a white tie can be worn“.214 Die damit zum Ausdruck gebrachte Besorgnis, die konkret auf die Kleidung der Zuschauer, abstrakt auf das dahinterstehende Ritual zielte, war nicht unbegründet. Es war einfach, den gültigen Regeln des Royal Opera House – so man sie denn kannte – zu folgen, daher stellte die Loslösung des Ereignisses Oper von einem bestimmten Raum, an den das Publikum sich auch in seinem Kleidungsstil zu orientieren wusste, manchen Besucher vor neue Herausforderungen : „Getting dressed for a spot of corporate entertainment used to be so easy – bun on a tux, shove a few sparklers around the lady wife’s swan-like neck and then just sit it out in gilded splendour“,215 karikierte die Times diese Sorge. Mithin bestand das Problem weniger in den Gerüchten, der neue Kulturminister wolle die elegante Abendgarderobe in der Oper verbieten,216 sondern vielmehr in der Feststellung, „that dress codes are so fluid these days.“ Lisa Armstrong, Ratgeberin der Mode- und Lifestylezeitschrift Vogue riet : „Wear 214 Jeremy Hackett, zit. in : TT, 26.07.1997. 215 TT, 26.07.1997. 216 Vgl. die Anfrage von Swayne, HoC, 20.12.1999, Cl. 512, „(if he) has sought an assurance from the Royal Opera House that there will be no more ‚black tie‘ evenings“.
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whatever you wear with an air of confidence. (…) Nobody knows the rules anymore. If you look good, then it is fine.“217 – Dies war eine Situation, die durch den Umzug der Oper nicht verursacht aber relevant wurde, denn erst dadurch wurde dem Opernereignis die gewohnte architektonische Manifestation des sozialen Raums genommen und es mithin dekontextualisert. Dies machte die Veränderungen, die außerhalb des geschlossenen Raumes und seiner Regeln stattgefunden hatten, plötzlich sichtbar. Folgt man den öffentlichen Beurteilungen der Kleiderfrage, so avancierte die Entscheidung, ob man sich nun für den Besuch der Oper elegant kleiden wollte oder nicht, vor allem zu einer persönlichen Wertschätzung des Abends, zum Ausdruck, etwas Besonderes erleben oder unternehmen zu wollen, und entfernte sich von dem Versuch, bestimmte Codes zu adaptieren. Mehr noch, die Frage des Dresscodes (gerade für das Royal Opera House) hat sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre zu einem lebendigen Thema in Internetforen entwickelt. Dort bekommt man Empfehlungen, die frei von den alten Regeln raten : „These days you get a bit of everything so don’t worry about it too much“ oder : „Go feeling great and you won’t be out of place at all.“218 Damit hat das Thema Kleidung in der Oper nichts von seiner Relevanz eingebüßt, und keinesfalls war es mit der Neueröffnung frei von Gewohnheiten und gewohnter Kritik. Im Gegenteil : „Black ties and posh frocks are the order of the day“ konstatierte ein Leserbrief im Guardian nach der feierlichen Wiedereröffnung der Oper im Dezember 1999, „Will the place ever be ours ? Such a wasted opportunity – everyone should be in everyday clothes to prove we can all get there.“219 Doch jenseits solcher auf die weiterhin bestehende Spannung verweisende Einwürfe, wurden der ausgesprochene und vor allem unausgesprochene Dresscode in der Oper etwas, das sich nun öffentlich von jedem verhandeln ließ, ein Ausdruck der individuellen Einstellung und situativen Befindlichkeit und nicht von unverrückbaren Regeln.
217 Zit. n. TT, 26.07.1997. 218 http ://uk.answers.yahoo.com/question/index ?qid=20061125101947AA5lDOd. 219 Grd., Leserbrief, 03.12.1999.
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2.2.3 Oper als ‚Event‘
Ein komplexeres, aber nicht minder prägnantes Beispiel für das Phänomen, dass die soziale Funktion der Royal Opera einem Wandel unterlag, welcher sie zugleich in Frage gestellt wie bestätigt hat, bildet der Aufstieg einer Art von Opernveranstaltungen, die den räumlichen Rahmen des Opernhauses bewusst verließen. Durch die Krise der großen Londoner Operninstitution beschleunigt, entstanden hier hybride Ereignisse, welche eine gegenseitige Anpassung verschiedener alltagsästhetischer Schemata demonstrierte ; dabei öffnete sich die Oper hin zu populäreren Formen, die aber selbst wiederum in vieler Hinsicht eine Nachahmung des klassischen Opernereignisses bildeten. Auf Grund der geringen Anzahl von Opernhäusern in Großbritannien war es traditionell üblich, dass deren Ensembles mit Gastspielen Bühnen und Säle in der theaterfernen Provinz bespielten. Diese Praxis wurde, obwohl sie als kostenintensiv und künstlerisch in der Regel als unbefriedigend galt, auch in den ersten Jahrzehnten der öffentlich finanzierten Oper fortgesetzt – war dieses ‚Touring‘ doch die einzige Möglichkeit, den kulturpolitischen Anspruch der potenziellen Teilhabe aller Menschen im Land an der Oper einzulösen. Mit der zunehmenden Medialisierung der gesellschaftlichen Kommunikation ging schließlich die Hoffnung einher, „that television, radio, videogram, and recording will become increasingly vital recruiting agents for wider audiences“.220 Die mediale Übertragung von Opern in Rundfunk und Fernsehen und ihre Konservierung auf immer günstigeren audio-visuellen Speichermedien erreichte zwar potenziell ein breiteres Publikum, doch brachte sie eine Verlagerung ins Private und somit eine extreme Vereinzelung der Rezeption mit sich. Sie vermochten zwar Opern in jedes heimische Wohnzimmer zu bringen, doch vor dem Fernseher, Radio oder Platten- und CD-Spieler ließ sich in reduzierter Form vielleicht das Kunsterlebnis nachvollziehen, der Charakter des Spektakels und sozialen Ereignisses Oper konnte nicht reproduziert werden. In den 1990er-Jahren aber entstanden (keinesfalls nur in Großbritannien) Veranstaltungsformen, in denen ein Publikum sich in Form von partizipativen ‚OpernEvents‘ als Zuschauergemeinschaft rekonstituierte. Dies geschah auf zweierlei 220 Sir Claus Moser, in : RoH Annual Report 1985/86, 3.
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Weise : Zum einen im unmittelbaren Umfeld von Opernhäusern als neue Art eigener Veranstaltungen, zunehmend aber auch völlig losgelöst von jedem institutionellen und räumlichen Zusammenhang mit einem ‚echten‘ Opernhaus. Zur erstgenannten Form der Opern-Events gehörten etwa die promenade performances, eine seit Ende der 1980er-Jahre von der Midland Bank gesponsorte Veranstaltungsreihe, die jahrelang als das Maximum der sozialen Öffnung der Royal Opera galt. Dafür wurde für eine Woche im Frühjahr die luxuriöse Privatatmosphäre der Oper aufgelöst und für wenige Pfund konnten die Zuschauer – ähnlich wie bei den berühmten Proms-Konzerten – Opernaufführungen auf einem Stehplatz im leer geräumten Parkett genießen.221 Unter dem Druck, mit modernen Medienformen die Partizipation an der Oper zu steigern, wie er von den verschiedenen vorgestellten Reports ausging, veranstaltete das Opernhaus außerdem Live-Übetragungen, insbesondere von Galavorstellungen mit bekannten Stars, direkt vor das Opernhaus. Auf der Covent Garden Piazza kamen tatsächlich Tausende zusammen, um auf einer großen Leinwand zu verfolgen, was im Inneren nur ein vergleichsweise kleiner Kreis genießen konnte. Hier wurde Oper einer signifikant größeren Gruppe zugänglich gemacht und zugleich auch ein eigener Erlebnischarakter erzeugt – eine wirkliche Auflösung des kultivierten Charakters oder gar eine soziale Mischung des Ereignisses kamen aber bei beiden Veranstaltungsformen gerade nicht zustande. Der räumliche Bezug auf das ‚Original‘ blieb stets erhalten, und man wurde eben nicht Teil dessen, wenn man einer Extra-Veranstaltung für ‚alle‘ beiwohnte oder vor Leinwand und Lautsprechern stand, räumlich und technisch von dem Publikum im Inneren und dem, was sie dort sahen, getrennt.222 Auf Bourdieus Konzeption des sozialen Raums zurückgreifend, veranschaulichte hier vielmehr die objektive Distanz zwischen den Publika drinnen und draußen auch deren symbolische Trennung bzw. gewährleistete eine Steigerung des Vorteils der einen Gruppe gegenüber der anderen.223 Die Veranstaltungen betonten die Trennung der Publikumsgruppen weit mehr als ihr gemeinsames Erleben und 221 Vgl. Isaacs, Never Mind, 258f. 222 „A situation where a privileged few witness a live performance while the rest watch the same performance on a cinema screen would arguably increase rather than reduce the air of elitism“, urteilte auch HoC/CMSC, First Report, §19. 223 Vgl. Bourdieu, Social Space, 16.
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ermöglichte somit zugleich, den elitären sozialen Charakter der Oper beizu behalten und sie zu einem populären Ereignis zu machen. Beide Veranstaltungen fanden nicht nur als Erweiterung des Angebots für Zuschauer und Geldgeber im Sinne der Festivalisierung statt, sondern standen zugleich im Kontext der Legitimationskrise der Oper in London. Die Übertragungen auf die draußen aufgebauten Leinwände wurden erstmals in der Spielzeit 1989/90 angeboten, im Lotterie-Sommer 1995 versuchte die Oper damit ihre Zugänglichkeit zu demonstrieren, und nach der Wiedereröffnung des renovierten Hauses versprach die Leitung regelmäßig dreimal im Jahr ein ‚big screen display‘ auf der Covent Garden Piazza. Dass jedoch die reine Öffnung der Hochkultur nicht mehr genügte, sondern eine bestimmte soziale Kodierung von Kultur insgesamt in Frage stand, demonstrierte die Abkehr der Midlandbank von ihrem Sponsoring eben jener promenade performances. Mitten in der Krise des Hauses, im Herbst 1997, war es zwar nicht eben überraschend, dass sich der langjährige Sponsor (wie andere Unterstützer des Hauses auch) von der Royal Opera und deren elitärem Image zu distanzieren versuchte. Doch die Art und Weise, in der das Unternehmen diesen Schritt begründete – man wolle mit der Million zukünftig lieber ein populäres Musikfestival unterstützen, „which is sexier for the mass market“224 –, verwies darauf, dass dieses Image nicht allein darauf beruhte, dass die Oper eine bestimmte Schicht bevorzugt ansprach, sondern darin, dass sie kein adäquates Erlebnis für die breite Bevölkerung anbot. Die zweite Form von Opernevents, die dem Erlebnisbedürfnis eines größeren und gemischteren Publikums weit besser Rechnung trug, entstand fernab des etablierten Opernbetriebs. In deutlicher Anlehnung an die Aufführungen in der Arena di Verona in Italien begeisterten in London Aufführungen in großen Sportarenen oder auf Freilichtbühnen Zehntausende von Menschen mit Klassikern des Opernrepertoires. Der Produzent Harvey Goldsmith, ein globaler Veranstalter von Popkonzerten und großen Showevents, schuf 1990 sein erstes Opernspektakel mit George Bizets Oper Carmen, das 15.000 Zuschauer in die Londoner Arena Earl‘s Court lockte. Mit reicher Ausstattung, Hunderten Beteiligten, prachtvollen ‚special effects‘ und großem technischen Aufwand, in224 Zit. in DT, 19.11.1997.
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klusive komplizierter Verstärkeranlage und Videoprojektionen, sorgte er für eine Anpassung der Oper an den Erwartungshorizont eines von den spektakulären Bühnenshows von Musicals, Popkonzerten oder Kinoblockbustern geprägten Publikums. Goldsmith brachte Luciano Pavarotti ins Stadion von Wimbledon und ‚erfand‘ die Drei Tenöre, eine Konzertserie, mit der die drei Opernstars Pavarotti, Placido Domingo und José Carreras in den 1990er-Jahren auf ihren Welttourneen ein Millionenpublikum erreichten ; sie vermochten Opernarien zu Nummer-Eins-Hits der Charts zu machen. Diese Spektakel erlebten Triumpfe – unberührt von dem schlechten Ruf, der dem Genre Oper in diesen Jahren anhaftete. Im Frühjahr 1998, mitten in der Krise der Londoner Opernhäuser, feierte Goldsmiths-Produktion von Verdis Aida in Earl’s Court einen großen Erfolg. Es entspann sich in dieser Zeit sogar ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Opernevents, denn neben dem ‚Global Player‘ Goldsmith gewann eine genuin Londoner Figur, der Opernveranstalter Raymond Gubbay, durch die Legitimitätskrise der großen Opern an Profil. In der Royal Albert Hall, jenem monumentalen Konzertsaal, der vor allem durch das Festival The Proms berühmt ist, brachte er eine zwei Millionen Pfund teure Produktion von Giaccomo Puccinis Madama Butterfly auf die Bühne und füllte den Saal in 14 Vorstellungen mit insgesamt 80.000 Zuschauern. Die Veranstaltung wurde nicht nur ein wirtschaftlicher Erfolg, sondern erntete sogar bei den Kritikern Achtung und Lob. „The success of Madama Butterfly last month was a watershed in the history of a troubled art form (…) – is big-venue opera the way ahead ?“225 fragte etwa der Guardian. Ohne an der ostentativen Pracht der Oper zu sparen, aber als soziales Ereignis einem Fußballspiel näher als einem Opernabend, schaffte diese Veranstaltungsform es, die hochkulturell codierte Kunstform Oper in einen Kontext reiner Unterhaltungskultur zu rücken. Kurz : Es war jenseits der ritualisierten Kultiviertheit des Royal Opera House oder in abgeschwächtem Maß der E N O , durchaus möglich, Oper zu einem Erlebnis zu machen, das sich kaum noch von der Dynamik und den Events der Popkultur unterscheiden ließ, sondern geradezu überraschend gut darin aufging. Dabei vermochten es die Opernevents 225 Grd., 13.03.1998.
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durchaus, auch Abbilder bestimmter sozialer Charakteristika der Oper zu rekonstruieren – in festlicher Abendgarderobe oder mit einem Glas Champagner in der Pause ließ sich, wenn es denn dem individuellen Erlebniswunsch der Gäste entsprach, das Event einem ‚echten‘ Opernbesuch angleichen.226 Diese Opernevents oder Einbindung der Oper in populäre Eventstrukturen zeigten unter der Folie der zeitgleich stattfindenden kulturpolitischen Debatte um die Oper betrachtet, drei entscheidende Leistungen : Sie brachten einen zeitgemäßen Demokratisierungswillen zum Ausdruck, verfügten über ein weit höheres Einnahmepotenzial und waren somit auch ökonomisch tragfähig,227 und sie waren in der Lage, den Widerspruch zwischen Hoch- und Populärkultur aufzuheben bzw. das eine in das andere zu transformieren. Doch gerade weil sich Oper hier in einer so dezidiert von den klassischen Opernhäusern abweichenden Form präsentierte, gerieten die alten Institutionen unter Druck. Dieser kam zum einen seitens der Politik zum Ausdruck, deren Legitimation der staatlichen Subventionen durch die auf Zugänglichkeit fixierte Debatte in eine beachtliche Schieflage geraten war. Die Kriterien der künstlerischen Qualität und Vielfalt, welche die Arbeit eines festen Opernhauses auch auszeichnen sollten, fanden hier kaum noch Beachtung. Die bereits diskutierten, meist expliziten Äußerungen der kulturpolitischen Gutachten und Berichte, vor allem aber der öffentlich vorgetragenen oder publizierten Meinungen, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Zuschüssen und der Zugänglichkeit der Oper herstellten, ließen die Mas226 Eine ähnliche Produktion wurde in Deutschland, ‚auf Schalke‘ als größte Oper der Welt gefeiert. Ein Rezensent schilderte anschaulich Spektakel und Publikum : „Pinguingleich bevölkerten Hunderte von schwarzbefrackten Männern die Wege ; im Schlepptau den weiblichen Anhang, der sich nicht minder in Schale geschmissen hatte. Nur hier und da war im Getümmel auch ein blauweißes Schalke-Trikot zu entdecken. (…) Da ein Großteil des Publikums vermutlich ‚Opernfrischlinge‘ waren, hatten die Veranstalter einen ‚Erzähler‘ in die Inszenierung eingebaut, der die Handlung von Zeit zu Zeit zusammenfasste. Und um der Langeweile vorzubeugen – schließlich könnte den einen oder anderen eine zweieinhalbstündige Oper auf italienisch ja ermüden –, war das ganze ‚Opernevent‘ mit Spezialeffekten gespickt : Bei fast jedem musikalischen Höhepunkt der Verdischen Komposition wurde das orchestrale Spiel mit Feuerwerk visuell untermalt : Mal ritt ein brennendes Pferd durch die Kulisse, für zwei Minuten tauchten echte Kamele aus den Katakomben auf, selbst ein dressierter Falke flog durch die Halle.“ (WDR am Mittag, 30.08.2001) 227 Vgl. Bovier-Lapierre, Die Opernhäuser, 240.
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senspektakel plötzlich als die eigentliche Demokratisierung der Oper erscheinen. Das Ziel der maximalen Zugänglichkeit wurde in einem mit 20.000 Zuschauern gefüllten Stadion oder bei 8.000 Besuchern in der Royal Albert Hall besser erfüllt, als es ein Opernhaus je leisten konnte. Das politische Interesse richtete sich daher bald darauf, dass paradoxerweise gerade im privatwirtschaftlichen Rahmen plötzlich etwas gelang, wofür die Opernhäuser vermeintlich ihre Subventionen erhielten und auf Grund dessen mangelnder Einlösung sie die öffentliche Rüge hinnehmen mussten : „If that can be done and can enable opera to survive at Earls Court, why can it not be done at the Royal Opera House ?“228 Zum zweiten setzten die Opernevents den etablierten Opernbetrieb unter Druck, weil sie an eine Rolle der Oper anzuknüpfen vermochten, die nicht Bestandteil ihres kulturpolitischen Auftrags geworden war, als sie an die kulturpolitische Definitionsmacht des demokratischen Staates gekoppelt und mit dessen Aufklärungs- und Bildungsauftrag versehen wurde. Die Schwärmerei für Stars, die Unterhaltung, Emotionalität und Opulenz gehörten nicht nur zur Oper jenseits ihrer ‚bildungsbürgerlichen Apotheose‘, sondern blieben auch dort, wo die Oper zum Tempel der Hochkultur geworden ist, stets anschlussfähig – ohne aber von der Kulturpolitik positiv sanktioniert zu werden. Die traditionellen exklusiven Galas der Opernhäuser waren häufig ebenfalls nicht mehr als unterhaltende Spektakel, bestehend aus der Darbietung internationaler Stars, einem meist effekt- wie affektorientierten künstlerischen Potpourri und dem Gefühl eines gemeinsamen Erlebnisses. Dies hatte große Anziehungskraft und Ausstrahlung weit über das anwesende Publikum hinaus. Wenn international bewunderte Berühmtheiten der Opernbühne auftraten, eine Diva des Hauses sich unter mysteriösen Umständen das Leben genommen hatte, Sexskandale hinter den Kulissen aufgedeckt wurden, dort das erste offizielle Date von Prince Charles und Camilla stattfand oder wenn Fußballstars eine Gala besuchten,229 kam sogar die Royal Opera mit positiven Schlagzeilen in die populäre Presse. 228 Fragte zuerst MP Terry Dicks, HoC, 15.06.1989, 1168. 229 Mir., 22.06.1997 ; 15.01.2003 ; DM, 23.09.2002. „In fact the British regard what goes on in the Royal Opera House in much the same way as they regard the private affairs of the Royal family“, befindet auch Bereson, The Operatic State, 65.
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Die Begeisterung, die auf diesen Ebenen für die ‚echte Oper‘ entstand, zeigte ebenso wie jene für die neuen Opernevents, dass die Ablehnung gegenüber der Oper keinesfalls universell war ; Oper vermochte sehr wohl populär zu sein. Der entscheidende Aspekt, der sich in der Londoner Situation zeitlich und räumlich verdichtet zeigte, ist, dass diese Form des Opernerlebnisses im Zuge eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses kultureller und sozialer Geschmacksformation erstarkte, während das klassische kultivierte Opernritual eine schwere Legitimationskrise erfuhr. Der Soziologe Heinz-Dieter Meyer hat den Paradigmenwechsel, der diesen Wandel kennzeichnet, pointiert als eine rhetorische Verschiebung von der ‚Kultiviertheit‘ hin zur ‚Authentizität‘ beschrieben.230 In der Ablehnung der institutionalisierten Oper und ihrer gesellschaftlichen Konventionen und dem zeitgleichen Zuspruch, den das dieser Oper zu Grunde liegende Erlebnis erfuhr, spiegelt sich diese These wider. ‚Dabei zu sein‘, wenn ein weltberühmter Star auftrat, wenn das große Feuerwerk über der Opernarena explodierte oder auch nur, wenn die Emotionalität der Oper auf den fruchtbaren Boden der nach authentischen Gefühlen suchenden Fernsehshows fiel – das war es, was der Oper zu echter breiter Anerkennung verhalf. Luciano Pavarotti befriedigte mit Nessun Dorma aus Giaccomo Puccinis Oper Turandot, gesungen anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2000, dieses Bedürfnis ebenso wie wenige Jahre später der Teilnehmer einer Fernsehtalentshow, der mit der gleichen Arie selbst zum (wenigstens einige Wochen lang) international gefeierten Star aufsteigen konnte.231 Der international tätige britische Regisseur David Pountney wies in seinen Überlegungen zur Zukunft der Oper auf ein entscheidendes Merkmal dieses Phänomens der Opernevents hin : Sie zitierten auffällig viele Merkmale der Oper. Und zwar keineswegs zufällig, sondern – „because they want it to be like an opera. (… ) What the audience in that case clearly does want is the sense of 230 Meyer, Taste Formation. 231 Der vermeintliche Underdog Paul Potts wurde 2008 mit seiner rührseligen Darbietung von Hits des klassischen Repertoires zum Sieger der Show ‚Britains got Talent‘ gekürt. Es muss allerdings eingewendet werden, dass der Starcharakter selbst in dem beschriebenen Ausmaß keinesfalls neu ist, sondern schon immer Bestandteil der Oper war. Jedes ihrer Zeitalter kannte seine Diven und Helden, denen nationale und soziale Grenzen überschreitende Verehrung entgegengebracht wurde und deren Einkünfte ebenfalls mit den Millionengagen heutiger Popstars vergleichbar waren.
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permanently hightened emotion which is the central home territory of opera“.232 Wie die modernen erfolgreichen Musicals sich musikalisch vielfach der Sujets, der Dramaturgie und des musikalischen Materials der Oper bedienen, greifen die Eventveranstalter ebenso wie ihr Publikum teilweise den Ereignischarakter ‚echter‘ Opernbesuche auf. Doch anders als das ritualisierte Verhalten in einem Opernhaus, ist die für die Rezeption der Oper charakteristische Emotionalität nicht an soziale Standards geknüpft, sondern auf einer individuellen Ebene erlebbar. Die Opernevents ziehen aus der Trennung des emotionalen Erlebens von dem sozial normierten Ereignis ihren Erfolg ; zugleich rücken sie die hochkulturelle Kunstform und ihre Gestalt als Event der Populärkultur überraschend nahe aneinander und entziehen sich damit nicht zuletzt dem Demokratisierungsbegriff der kulturpolitischen Semantik. Die Kulturpolitik aber wiederum, das wird der nächste Abschnitt am Beispiel der politischen Strategien von New Labour zeigen, steht in einer dynamischen und anpassungsfähigen Beziehung zu diesem Wandel. 2.2.4 Kulturpolitische Neujustierung
Mit dem Regierungsantritt von New Labour wurde ein gesellschaftspolitischer Nachholprozess eingeleitet, der gerade auf kulturellem Gebiet zu zahlreichen begrifflichen Umdeutungen und finanziellen Umschichtungen führte.233 Dieser Prozess lässt sich als eine Anpassung an die Diversifikation der sozialen Rolle von Kunst und Kultur durch neue Partizipationsformen, schwindende Grenzen zwischen Kunst und Unterhaltung sowie Auflösung milieugebundener Geschmacksnormen begreifen. Unter dem Etikett „Creative Britain“ proklamierte New Labour eine kulturelle Wende, welche die Vielfalt der kreativen Möglichkeiten im Spektrum einer sozialen, medialen und ökonomischen Pluralisierung ins Zentrum ihrer Aktivitäten rückte. Der alte Begriff des kulturellen Erbes (heritage), der bislang die zuständigen Regierungsinstitutionen geprägt hatte, musste der Vielfalt von „Culture, Media and Sport“ weichen. „It is about creativity, innovation and excitement“, erklärte das für Kultur zuständige Kabinettsmitglied Chris 232 Pountney, The Future. 233 Vgl. die Beiträge in Lenz, New Britain ; Smith, Creative Britain.
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Smith die Themengebiete, mit denen sich seine neue Behörde beschäftigte. „It is a department concerned with many of the things that affect people’s day-today lives, like sport, television, films and the lottery. Its interest now is to promote everything from Beefeaters to Britpop.“234 An die Stelle einer Kulturpolitik, die sich vor allem als Verwalterin eines kulturellen Erbes und Gestalterin möglichst abstrakter Rahmenbedingungen von Kultur verstand und die nach Maßgabe des arm’s-length principle vozugsweise gar nicht als eigenständige Kulturpolitik erschien,235 trat dabei eine Politik, die eigene kulturelle Gestaltungsmacht beanspruchte : „It is my firm and passionate belief that it is a duty of any civilised government to nurture and support artistic and creative society“,236 verkündete Smith. Im Zentrum der neuen Dynamik stand somit ein stärkeres unmittelbares Engagement der Politik und des Staates gegenüber der Kultur, das sich unmittelbar aus einem gesellschaftlichen Wandel legitimierte. Infolgedessen musste die direkte Verbindung zwischen Gesellschaft und Kulturpolitik aber auch gesichert werden. „As the Government are spending taxpayers’ and lottery players’ money on the arts, they are morally obliged to ensure that (…) no one rejects the arts through lack of understanding or opportunity“,237 lautete das Diktum von New Labour. Diese „moralische Pflicht“ erlaubte es, sich über die Norm der unbedingten Staatsferne von Kultur hinwegzusetzen. Das arm’s-length principle (zu dem sich die Regierung formal weiter bekannte) wurde auf diesem Wege um eine neue direkte staatliche Kompetenz und Verantwortung erweitert. Mark Fisher, Smiths Arts Minister, ließ den Vorsitzenden des Royal Opera Board unmissverständlich wissen, „that we would not accept past levels of performance. A new approach is essential. It must become the people’s opera house, serving the whole nation“.238 Neben den bereits erörterten Untersuchungen und Reformvorhaben, welche die neuen politischen Akteure angingen, entstanden neue Strategien der direk234 Smith zit. in DT, 24.07.1997. 235 Vgl. exemplarisch Conservative Political Centre, The Arts. 236 Smith, All the World’s ; vgl. auch Labour Party Media Office, Create the future. 237 Smith, HoC, 26.11.1999, 863. Er formulierte die staatlich zu garantierende Leistung, dass „the widest possible number of people can have access to (…) cultural excellence. (…) It is important to have the twin goals of excellence and access in full view“. (Smith, All the World’s.) 238 In DT, 26.07.1996.
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ten kulturpolitischen Einflussnahme. Sie alle speisten sich aus der gleichen Legitimationsformel, einer aktiven Förderung (gegebenenfalls neuer) kultureller Bedürfnisse in der Gesellschaft. Wie diese Strategien aussahen und sich etablierten, lässt sich im Rahmen der Opernpolitik beispielhaft daran erkennen, wie die Regierung ihre über den Arts Council verteilten Subventionen an bestimmte selbst definierte Gegenleistungen knüpfte. Den Ursprung hat dies in der Auseinandersetzung um die Lotteriemittelvergabe. Weil es an den allgemeinen Protest gegenüber der Oper und ihrer ‚Verschwendung‘ der Mittel anschlussfähig war, erschien die Forderung des D C M S , im Gegenzug zur Zahlung der Lotteriemittel die Eintrittspreise zu senken, als legitim. Da die Gelder aber zweckgebunden waren und gemäß den Zielvorgaben des alten Lottery-Acts der Sanierung und dem Umbau des Operngebäudes dienten, stand diese Forderung den Prinzipien der Mittelverteilung entgegen. Folglich, als Zeichen des politischen Wechsels, wurden die entsprechenden Vergaberichtlinien, die Gremien, die darüber zu entscheiden hatten sowie die Verwendung der Mittel dem nicht zuletzt in der Kritik an den Opernmillionen sichtbar gewordenen öffentlichen Interesse angepasst.239 IronischerWeise berührten diese Verfahrensänderung der Lotteriezahlungen und ihre Ausdehnung auf Produktionsprozesse und Personalmittel die Oper nicht mehr. Doch etablierte dieser Schritt das Prinzip, Zahlungen an neu zu bestimmende und zu evaluierende Bedingungen des D C M S zu knüpfen und dies ließ sich nun leicht auf Subventionen ausdehnen : „Subsidy is linked to cheaper tickets“,240 hieß es fortan. Diese Formel, hinter der sich neben dem Wunsch nach Preissenkungen die Verpflichtung der Oper zum Veränderungs- und Öffnungswillen verbarg, sollten eine direktere Kontrolle öffentlicher Mittel erlauben und den langjährigen toleranten und informellen Umgang des Arts Council mit der Royal Opera beenden. Was als Instrument der Krisenbewältigung geschaffen wurde, ließ sich aber auch über die Zeit des Opernumbaus hinweg ausdehnen. Die finanziellen Probleme der Oper, das heißt sowohl das angesammelte Defizit als auch die strukturelle Unterfinanzierung bleiben auch nach der Wiedereröffnung des
239 Vgl. White Paper –The People’s Lottery. 240 In Grd., 31.10.1997, 12.
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Hauses bestehen241 und ermöglichten Chris Smith und seinem Ministerium, jene Kontrolle über das Opernhaus zu erhalten, die sie in seiner akuten Krise gewonnen hatten. Als in dem scharf kritisierten Chaos der Umbauzeit und schließlich durch den Ausnahmezustand nach dem Rücktritt des gesamtes Boards deutlich geworden war, wie wenig sich der Arts Council gegenüber der Oper durchzusetzen vermochte oder wollte, hatte der Minister sich als handlungsfähiger Akteur präsentieren können. Er entschied über die Neubesetzung des Boards und verschaffte sich damit eine Grundlage, die er nach der Wiedereröffnung zu einem offiziellen kulturpolitischen Handlungsspielraum ausbauen konnte. Die Auszahlung der regulären Subventionen erfolgte zwar noch immer über den formalen Umweg des Arts Council doch lag die Entscheidung über die Verteilung, ihre Erhöhung, vor allem aber die Maßgabe, welche Kriterien die Opern dafür zu erfüllen hatte, beim D C M S . Wie geschildert, war das Opernhaus schon früher mit Sondermitteln ausgestattet worden, die unmittelbar aus der Staatskasse kamen, doch niemals waren daraus generalisierte kulturpolitische Regeln erwachsen. Nun entstand eine formalisierte Rechenschaftspflicht der Oper gegenüber der Regierung und der kulturpolitischen Administration.242 Neben dieser Konkretisierung der Beziehung von Staat und Oper, die sich durch die sozialen Konflikte um die Oper überhaupt erst entwickeln konnte, belegen weitere Projekte der neuen Kulturpolitik in diesen Jahren eine erstarkende staatliche Verantwortung, die sich gerade auf Bereiche richtete, in denen sich der klassische kulturpolitische Kulturbegriff auflöste oder die sich den Steuerungsmechanismen der kulturpolitischen Verfahren und Institutionen entzogen. Diese zahlreichen Programme und Projekte zielten zwar nicht unmittelbar auf die Oper, aber sie gingen jene reformbedürftigen Mechanismen und Strukturen an, die insbesondere an der Oper immer wieder kritisiert wurden. Sie führten der Oper vor, welche Anpassungsleistungen an die Gegenwart zu erbringen waren. 241 Zum Zeitpunkt der Wiedereröffnung 1999 betrug das Defizit 13 Millionen und drohte bis zum Frühjahr 2000 auf 20 Millionen Pfund anzuwachsen. 242 Vgl. D C M S , A New Approach. Zuschüsse würden davon abhängig gemacht, dass die geförderten Einrichtungen beginnen „to integrate performance measures into their management processes and in documenting their progress with D C M S “.
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In erster Linie verdeutlichte die Regierung, dass sie es ernst meinte mit der Ankündigung „access will be a cornerstone of our cultural policy“.243 Dazu gehörte der internationale Aufmerksamkeit erregende Schritt, den Zugang zu allen nationalen Museen freizugeben ebenso wie das New Audience Programme (1998–2003), das sich gezielt mit den (nicht monetären) Barrieren auseinandersetzte, die Menschen von der Beschäftigung mit Kunst abhielten. Es suchte nicht nur die Anzahl, sondern auch die soziale und ethnische Herkunft der an verschiedenen Kulturformen partizipierenden Menschen zu erweitern, neue Räume der Teilhabe zu schaffen und Kultureinrichtungen bei ihrem „audience development“ zu unterstützen.244 Die Einsetzung einer ‚creative industries taskforce‘ sollte wiederum ministerien- und ressortübergreifend all jene Herausforderungen begleiten, welche durch die massiven Veränderungen in Produktion, Distribution und Konsum der kommerziellen und kommerzialisierten Kulturbereiche entstanden. Tony Blair selbst betonte deren neue Doppelbedeutung : „(…) (as) they enrich our quality of life and help create a thriving society, they have enormous economic benefits and bring enjoyment to millions“245 – dem sollte nun kulturpolitisch Rechnung getragen werden. Zugespitzt lässt sich sagen, dass anders als bei der ebenfalls auf die Verbindung von Kunst und Kommerz zielenden Politik des ‚Thatcherism‘, nun nicht Kultur zu Kommerz und damit Teil des ‚freien‘ Marktes wurde, sondern auch Kommerz zu Kultur und damit Teil der öffentlichen Verantwortung. Schon einmal hatte sich, mit dem Aufschwung der Soziokultur in den 1960er- und 70er-Jahren, der Kulturbegriff vergleichbar erweitert und etablierte Kulturformen Konkurrenz im Wettbewerb um kulturpolitische Anerkennung erhalten. Die ‚Creative Industries‘ und von ihnen bediente Kultur- und Kulturrezeptionsformen bildeten weder eine vergleichbare Konkurrenz zum Subventionsbetrieb und den soziokulturellen Charities, noch übten sie sich in demonstrativer Abgrenzung. Sie waren zugleich Unterhaltung wie Bildung, Kunst wie Kommerz.246 243 Smith, All the World’s, 18. 244 Johnson u.a., New audiences ; vgl. auch Kawashima, Audience Development.. 245 Smith, All the World’s, 6. 246 Vgl. Caves, Creative Industries ; Garnham, From Cultural.
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Zahlreiche weitere Maßnahmen sowie die insgesamt vorangetriebene auch kulturpolitische Dezentralisierung247 zielten darauf, Diversität, Kreativität und Innovation von Partizipations- und Produktionsmöglichkeiten zu stärken. Sie leisteten allesamt den doppelten Nachholprozess, zum einen eine veränderte Lebenswelt, die nicht mehr viel mit dem ‚Heritage‘ der Parks und Gärten, Schlösser und Burgen zu tun hatte, in die Kulturpolitik einzugliedern, zum anderen im Zuge dessen die staatliche Verantwortung für Kultur neu auszuloten. Erst die scharfe Kritik, welche die neue kulturpolitische Programmatik und verstärkte staatliche Intervention auch erntete, verdeutlicht, dass diese Politik tatsächlich inhaltlich wie formal neues Territorium betrat : „I accept that many both need and enjoy that level of entertainment – I just do not think that it is the role of any government to promote it. I am also sure that it leads to a lowering of standards of behaviour and a coarsening of our everyday existence“,248 fürchtete Lord Balfour of Inchrye. Der Tory-Abgeordnete Ainsworth konstatierte im House of Commons : „That is all good stuff but is it art ?“ In der engen Verbindung von Kulturpolitik und gesellschaftlichen Interessen zeigte sich den Kritikern keinesfalls eine Durchsetzung echter Popularität und breiter Kreativität, sondern vor allem die Übermacht das Staates über die soziale Sphäre : „If artists are to become the agents of Government social policy, we might as well take the logical step of doing away with the Arts Council and funding the arts through the Home Office. Better still, we could fund the arts through a new Ministry of Information, run by men in dark glasses who know all about banging heads together.“249 Dem Abgeordneten erschien das verstärkte staatliche Engagement als direkter Weg in den Totalitarismus. „This is the inevitable consequence of a people’s lottery being turned into the Government’s lottery“,250 erklärte sein Kollege, der Schattenkulturminister Patrick Nicholls zur Labour-Reform der Lotterie. 247 New Labour leitete eine Reform des Arts Council ein, die dessen Rolle als Koordinator der Kulturinstitutionen „von nationaler Bedeutung“ stärkte, regionale Finanzierungs- und Entscheidungskompetenzen aber an regionale Councils delegiert. Vgl. Memorandum, submitted by the Arts Council of England to the CMSC, London, 24.06.1999. 248 Lord Balfour of Inchyre, HoL, 30.11.1998, 299. 249 Peter Ainsworth, HoC, 26.11.1999, 873. 250 In DT, 26.12.1997.
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Die Intervention des Kulturstaatssekretärs Smith und des Untersuchungsausschusses in der Krise der Oper stand mitten in dieser Kritik. Der Plan, das traditionelle Haus ‚vom Sockel‘ zu stoßen, galt als Sakrileg gegenüber der Opernkultur des Landes und vor allem gegenüber dem Urprinzip der britischen Kulturpolitik – „The cherished arm’s length principle was not merely circumvented, the arm was chopped off.“251
3. Multiplikation der Möglichkeiten – der Staat als kulturelle Integrationsinstanz ? „Cultural snobs may like go to the opera, but that doesn’t mean that the opera is for cultural snobs.“252
Das Beispiel der Londoner Opernkrise hat die beiden verschiedenen sozialen Spannungsfelder anschaulich gemacht, in denen die Oper am Ende des 20. Jahrhunderts liegt : Das eine ist jenes zwischen den noch immer gültigen archetypischen Praktiken im sozialen Raum Oper und den kulturpolitischen Ansprüchen, die Oper allen ‚zugänglich‘ zu machen. Es kennzeichnet den seit der ‚Erfindung‘ demokratischer Kulturpolitik aktiven Prozess der ‚Demokratisierung der Oper‘. Das zweite Spannungsfeld liegt zwischen dem von dieser Kulturpolitik ausgehenden Versuch der Universalisierung eines hochkulturellen Schemas und der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von kulturellen Werten und Praktiken. Es kennzeichnet den Prozess der Pluralisierung moderner Gesellschaften und auch des heutigen Opernpublikums, im Zuge dessen um die Oper herum neue Kunst- und Konsumformen oder Erlebnis- und Eventstrukturen ebenso entstehen wie „neo-bürgerliche Diskursgesellschaften“ (Michel Foucault) und Redefintionen ‚altmodischer‘ kultureller Praktiken – sowie alle Formen von deren Verschmelzung. Welche Auswirkung haben die beiden genannten Spannungsfelder auf den Charakter der Oper als sozialen Raum ? Und wie fordern sie den Staat als legi251 Grd., 05.11.1997, 4. 252 DM, 07.12.1997, 35.
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time Instanz des kulturell aktiven Wohlfahrtsstaates heraus ? Diese Entwicklungen sowie die Frage, inwieweit die Schärfe dieser Konflikte ein generalisierbares Phänomen innerhalb dieser beiden Prozesse oder eine britische Besonderheit ist, lässt ein punktueller Vergleich mit der sozialen Dimension der Opernkrisen in Berlin und Paris erkennen. In vielerlei Hinsicht war der soziale Konflikt um die Londoner Royal Opera, wie er als ‚diskursiver Klassenkampf‘ dargestellt wurde, einzigartig und lässt sich auf die spezifischen sozialen und finanziellen Rahmenbedingungen zurückführen. Die vergleichsweise stark segmentierte Gesellschaft und deren Zusammenhang von Lebensstil und Sozialstruktur sowie die Bindungen zwischen der sozialen Elite des Landes und der Führungsriege des Opernhauses stärkten das elitäre Image der Oper im Allgemeinen. Das hybride Finanzierungssystem, das weder, wie in den U S A , auf weitgehend private noch, wie auf dem europäischen Kontinent, auf eine überwiegend öffentliche Förderung setzte, sorgte dafür, dass mitunter divergierende Interessen ähnlich viel Einfluss auf die Steuerung der Oper hatten und der Konflikt sich nicht einfach zu Gunsten oder Lasten der einen oder anderen Position lösen ließ. Die Funktion der Oper, soziale Unterschiede deutlich zu machen und so zu perpetuieren, wurde jedoch auch in Paris zum öffentlichen Thema. Auch hier dominierte die soziale Oberschicht das Publikum und die exekutiven Strukturen der Oper : Die Zielgruppe der Oper war im allgemeinen Verständnis die Pariser Elite, die opernpolitischen Machthaber stammen aus den Kreisen der ‚énarques‘.253 Dabei war diese Verbindung eng an die objektiven Strukturen des sozialen Raums Oper im alten Palais Garnier geknüpft : an die komplexe Struktur der Logen und Foyers sowie die ritualisierten Galaabende, an denen man ‚unter sich‘ blieb. Sie bildeten ein System der Demonstration jener ‚feinen Unterschiede‘ der französischen Gesellschaft, die Pierre Bourdieu in den 1970erJahren untersucht hatte. Der Schriftsteller Pierre Jean Remy verglich die in der Pariser Oper gültigen Mechanismen sozialer Inklusion und Exklusion sogar mit dem indischen Kastensystem.254 Nicht zuletzt um dieses gesellschaftliche Modell als überholt darzustellen, entstand der Plan, ein neues Opernhaus zu bauen, 253 Die Absolventen der Eliteuniversität ENA, vgl. Große/Lüger, Frankreich verstehen, 222. 254 Rémy, Bastille, 14.
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das als Oper des Volkes diesen sozialen Raum architektonisch und künstlerisch sprengen sollte. Der soziale Konflikt war insofern auch in Paris vorhanden, er entfaltete aber anders als in London keine vergleichbare Breitenwirkung – denn die neue Oper entstand nicht aus einem von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen artikulierten Bedürfnis, ein alternatives Modell einer Oper zu schaffen, sondern als Projekt des 1981 gewählten Präsidenten François Mitterrand. Mit vielen Aufführungen für eine möglichst große Anzahl von Zuschauern die ‚Demokratie der Oper‘ zu suggerieren, gelang jedoch während der Bauzeit dieses neuen Opernhauses am besten den Opernspektakeln im Pariser Sportpalast im Stadtteil Bercy, wo Zehntausende Vorstellungen von Aida und Carmen besuchten. Wie in London, war die Debatte im Zuge der Errichtung der Opéra de la Bastille so stark auf die Kategorie der Zugänglichkeit, der Demokratie durch Öffnung für die größtmögliche Menge an Zuschauern konzentriert, dass Bercy als Beweis für die mangelnde Demokratie genau jener Oper werden konnte, die ihr eigentlich Abhilfe verschaffen sollte. Statt durch den teuren Bau einer weiteren Oper die Zuschauerzahlen zu verdoppeln, solle lieber die Bespielung von Bercy vor dem ‚wahren Volk‘ mit den ‚wirklich populären‘ Opern erweitert werden, wurde kritisiert.255 Diese Idee konsequent zu Ende dachte der konservative Figaro : „La démocratisation de l’Opéra viendra, peut-être, du magnétoscope, plus sûrement que d’une deuxième salle parisienne, qui ne sera jamais populaire.“256 Für all jene, denen es nicht um eine ‚populäre‘ Form der Oper, sondern um künstlerische Vielfalt ging, spielten etwa das Théâtre Chatelet oder das Théâtre des Champs Elysées Koproduktionen internationaler Bühnen ; kleinere Gruppen der ‚freien Szene‘ boten (wie im übrigen auch in London) experimentelleres Musiktheater an. Ohne dass dies kausal auf den Pariser Neubau der Oper und die dort entwickelte Rezeptionspraxis zurückgeführt werden konnte, ist 15 Jahre nach der Eröffnung das öffentliche Bild der ‚exklusiven Oper‘ erheblich reduziert worden. Das Durchschnittsalter war gesunken und die soziale Basis des Publikums breiter geworden. 62 % der Zuschauer fanden die Oper zugänglich und glaub255 So Georges Mesmin (stellv. Bürgermeister des 19ème Arrondissement de Paris) in QdP, 09.01. 1986 ; auch Paul Violet (Beauftragter des Bürgermeisters für Jugend und Sport) in Lib., 12.07.1984. 256 Fig., 08.12.1983.
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ten nicht mehr, dass sie für eine soziale und intellektuelle Elite reserviert sei ; nur noch 21 % sahen sie noch immer als unzugänglichen Club an.257 In Berlin sind diese sozialen Konflikte um die Oper in den vergangenen Jahren kaum aufgetreten. Vorwürfe gegen eine Ungleichverteilung von Steuergeldern durch die Subventionierung der Oper entstanden nicht einmal angesichts der aufgeheizten Krisenstimmung. Über die Förderungswürdigkeit des Kulturgutes, das faktisch das einer kleinen Minderheit bleibt, herrscht bei einer überwältigenden Mehrheit Konsens : Über 70 % der Bevölkerung stehen in Berlin der Subvention der Oper und des Hochkulturbetriebes insgesamt überaus positiv gegenüber.258 Eine Zahl, die angesichts der 18 % Arbeitslosigkeit während den Zeiten der Opernkrise, der hohen Verschuldung des Landes und im Zuge dessen der wachsenden Konkurrenz um öffentliche Mittel überrascht. Hin und wieder formulierte Konfrontationen von Krankenhausbetten oder Kindergärten und Opernplätzen lösen sich im ‚kulturpolitischen Rechtfertigungskonsens‘, den Gerhard Schulze als so besonders typisch für das deutsche kulturelle Klima beschrieben hat, auf. Der soziale Frieden um die Oper ist in diesem Sinne vor allem ein Zeichen der Stabilität bestimmter Normen. Pragmatischer betrachtet ist aber vor allem die relativ geringe Auslastung der Berliner Opernhäuser dafür verantwortlich, dass Berlin international als „die Metropole auf der Welt (gilt), wo es im Sinne des alten ‚Kultur für alle‘ auch die Oper für alle gibt.“259 Die gute ‚Gelegenheitsstruktur‘ und faktische quantitative ‚Überversorgung‘ mit Oper hat (in Berlin wie fast in ganz Deutschland) zur Folge, dass kaum Vorstellungen ausverkauft sind und sich deswegen auch keine geheimen Märkte herausbilden – fast immer gibt es Karten zu normalen Preisen an der Abendkasse zu kaufen. Darüber hinaus kommen auf diese Weise viele Karten für Ermäßigungsberechtigte auf den Markt. Schüler und Studierende, Ersatzdienstleistende, Arbeitslose und Rentner erhalten für 10 bis 12 € (Empfänger der Sozialhilfe bzw. später ‚Hartz IV‘ sogar für 3 €) Karten der besten vorhandenen Platzgruppen. Dadurch sind die 257 Doublet, Opéra, 15. 258 DIW, Kultur als Wirtschaftsfaktor, 7. 259 Stachwitz in einer Anhörung des Abgeordnetenhauses : Abgh, Wortprotokoll Kulturausschuss 15/32, 13.
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Opernhäuser nicht nur zugänglich, sondern es findet auch räumlich eine ‚soziale Durchmischung‘ des Publikums statt. Kulturpolitisch gesteuert ist diese Form der Zugänglichkeit allerdings nicht – im Gegenteil schadet sie wirtschaftlich den Opernbetrieben und schwächt mithin die Legitimation der staatlichen Förderung. Die massiven sozialen Spannungen, die in London insbesondere um das Royal Opera House ausgetragen wurden, haben nicht nur wiederbelebte alte Konflikte geschürt, sondern auch einen Boden für Veränderungen geschaffen. Im Zuge des doppelten Prozesses der sozial konnotierten Krise sowie der räumlichen und ästhetischen Ausdifferenzierung des Opernangebots hat in London erstmals wirklich ein öffentlicher Austausch darüber stattgefunden, wer eigentlich in die Oper geht bzw. was es bedeutet, in die Oper zu gehen. Dabei wurden einerseits – wie umfangreich illustriert – bestehende Vorurteile gefestigt und Gräben vertieft ; andererseits kam es aber auch zu überraschenden Annäherungen und Anpassungen zwischen der traditionellen Oper und ganz ‚aktuellen‘ Bedürfnissen eines breiten Publikums. Das Entscheidende war, dass viele Fragen und Themen öffentlich verhandelbar wurden, die vormals zu einem nicht kommunizierten Wissensbestand gehörten. Die ‚black box‘ Oper – jenes mystifizierte Ereignis und Gebäude, das eben einen Großteil seiner Exklusivität durch Grenzziehungen zwischen in unterschiedlichem Maße ‚Eingeweihten‘ erzielte – gehörte nach der Debatte zum Großteil der Vergangenheit an. Jeder konnte seine Meinung dazu kundtun und sich, intendiert oder nicht, an dem ‚Herrschaftsdiskurs Oper‘ beteiligen. Rituelle Automatismen, dynastische Prinzipien und Privilegien, ungeschriebene Codes und Traditionen wurden neu verhandelt. Und nur weil sie Gegenstand einer öffentlichen Diskussion wurden, konnten sie auch eine neue, zeitgenössische Prägung erfahren : Die Londoner Opernkrise zeigte einen im untersuchten Zeitraum beschleunigten Wandel der dortigen Oper von einem Ort und Ereignis, an dem man sich Regeln und Traditionen unterwerfen musste, um in angemessener Form teilhaben zu dürfen, hin zu einem, an dem sowohl die Teilhabe als auch die Form ihrer Ausübung zu einem Objekt der individuellen Wahl wird. Eine Wiederbelebung alter distinktiver Schemata in neuem Gewand passte da ebenso hinein, wie alternative kulturelle Praktiken oder der Popkultur entlehnte Eventmuster.
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Dabei sind die ‚harten‘ Reformen, wie die Privatisierung des Royal Opera House, seine Umbenennung in Covent Garden Theatre oder die Fusion mit der English National Opera zur ‚People’s Opera‘ letztlich nicht umgesetzt worden. Trotzdem haben sich das Opernhaus, seine Zugänglichkeit und seine Beziehung zur gegenwärtigen Gesellschaft weitreichend verändert. Das Geheimwissen von früher ist heute fester Teil der Öffentlichkeitsarbeit von Opernhäusern. Dies erscheint jedoch nur zum Teil als Ergebnis einer staatlichen Intervention. Zwar positionierten sich die staatlichen Akteure sowohl gegenüber den sozialen Konflikten um die Oper als auch angesichts der kulturellen Modernisierung, die sie antreten sollte, als handlungsmächtig, die Revolution der Oper aber, die ausgerufen worden war, ist einem hintergründigen, überwiegend gar nicht unmittelbar kulturpolitisch gesteuerten Reformprozess gewichen. Die Veränderungen haben sich auf eine viel subtilere Weise vollzogen, als es der große kulturpolitische Schlag gegen die Oper wollte – wie vielfältige Mosaiksteine (von denen nur einzelne empirisch überhaupt greifbar waren), die dem ganzen Bild langsam einen anderen Charakter gaben. Wie unterschiedlich die Rolle des Staates in diesem Prozess ausfallen konnte, macht der Vergleich mit dem Pariser Fall deutlich : Der kulturpolitische Plan der neuen französischen Regierung von 1981 forderte – zunächst ganz im Sinne des lofty approach –, die Ungleichheiten der Menschen gegenüber der Hochkultur abzubauen und dagegen anzugehen, dass diejenigen Institutionen weiter am stärksten unterstützt werden, die, wie die Opéra, den größten ‚élitisme‘ förderten.260 Das alte Palais Garnier sollte als „Geschwulst (‚boursouflure‘) der Bour geoisie“261 wie die erste Klasse der Pariser Métro einem neuen Zeitgeist geopfert werden. Doch bestand das gegenüber den europaweit gängigen Kulturpolitiken der 1970er-Jahren Neue der Politik, vor allem des Kulturministers Jack Lang, in der programmatisch umgesetzten Erkenntnis, dass „la société française est aujourd’hui pluraliste, et les sensibilités, les aspirations, les goûts, sont differents, souvent contradictoires“.262 Diese Pluralität führte aber – anders als zeitgleich in Großbritannien – nicht dazu, die Kultur weitgehend dem Markt zu überlassen, sondern daraus eine engagierte Kulturpolitik zu legitimieren und 260 Wangermée, Programme Européen, 43. 261 Jourdaa, A l’opéra, 167. 262 Lang, zit. nach Chaslin, Les Paris, 33.
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den gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen von Lebensstilen, Geschmack und Interessen mitunter sogar vorzugreifen. Langs Programm wurde eine politique de la création, die sich weniger dem Ideal einer universalisierten Hochkultur verschrieb, sondern der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten. Den Titel des ‚Monsieur Rock‘ erhielt der Kulturminister vor allem deshalb, weil er gezielt moderne Kulturformen ansprach, die nicht nur jenseits des arrivierten Kanons, sondern auch der soziokulturellen Erweiterung von Kulturbegriff und kultureller Praxis in den 1960ern und 70ern lag. Die Kultur gehöre weder einer öffentlichen Verwaltung noch einer Klasse, keiner Stadt, keiner bestimmten Kunstform und keinem bestimmten Sektor – auch nicht dem öffentlichen, proklamierte Lang und bezog dabei sogar explizit kommerzielle Kulturformen mit ein.263 Die Versöhnung zwischen der Diversität des Kulturbegriffs und dem formulierten politischen Gestaltungsanspruch der Kulturpolitik lag zugleich in der integrativen Rolle des starken Staates. Er sollte keinen bestimmten kulturellen positiv oder negativ sanktionierten Kanon schaffen – sondern die in Einzelinteressen (intérêts particuliers) zersplitterte gesellschaftliche Vielfalt überbrücken und in einer gemeinsamen Kultur bündeln.264 Dass dieses spezifische Staatsbild nicht leicht übertragbar ist, lässt sich an eben jenem Versuch der britischen New-Labour-Regierung, am Ende der 1990er-Jahre mit Creative Britain eine ähnliche Wende auszurufen, feststellen. Tony Blair kündigte an : „In Labour Government, every ministry will be expected to make a constribution to achieving the goals of our cultural policy“,265 und versprach eine Kulturpolitik, die sich der modernen Vielfalt einer medialisierten und globalisierten Welt stellte. Die kulturelle Gestaltungsmacht der 263 Jack Lang, Assemblée National (AN) : „1. La culture n’est pa la propriéte d’une administration. 2. La culture n’est pas la propriété d’une classe. 3. La culture n’est pas la propriété d’une ville, fut-elle la capitale. 4. La culture n’est pas la propriété d’un seul secteur, fut-il le secteur public. 5. La culture n’est pas la propriété d’un art.“ (17.11.1981, 3870.) 264 Erst die konservative Folgeregierung änderte in den 1990er-Jahren das Selbstverständnis des Staates als Antrieb dieser Vielfalt. Jacques Toubon, Nachfolger von Lang, stellte zu Beginn seiner Amtszeit klar : „Il n’y a pas en France de culture d’État, et il n’y en aura pas, et je m’efforcerai toujours d’empêcher qu’au nom de l’État, l’on tente d’imposer une certaine culture. L’État, sous toutes ses formes, est au service des citoyens. La culture donc que nous avons à encourager, à promouvoir, à faire renaître, c’est une culture qui fait de l’homme un citoyen responsable.“ (Réinauguration la maison de la Culture d’Amiens, 09.10.1993.) 265 Blair, zit. in Smith, All the World’s, 9.
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Regierung im Allgemeinen und die Interventionen gegenüber der Oper im Besonderen sollte durch diese Anpassung legitimiert werden. Zwar schimmerte in dem Duktus der zahlreichen oben vorgestellten Programme das Vorbild Mitterrand-Lang häufig durch, doch was in Frankreich als großer kultureller Wurf in die Geschichte einging, wurde hier, zum einen gut 15 Jahre später und zum anderen in einem Land des etablierten Staatsskeptizismus, umgehend in Frage gestellt. Die Pluralität wurde zwar zum gängigen Topos – aber hier und jetzt galt sie gerade als größtes Hindernis für kulturpolitische Intervention : „The great pyramid of high, middlebrow and popular art forms has crumbled, and people feel free to pick and mix amid its ruins, enjoying opera here, standup comedy there“, beschrieb Robert Hewison, Autor zahlreicher kulturpolitischer Studien und Streitschriften zur kulturpolitischen Entwicklung in Großbritannien, in der Times den schwindenden Zusammenhang von sozialem Status und kultureller Praxis und verwies umgehend auf die Folgen für die Steuerungsansprüche der hoheitlichen kulturpolitischen Instanzen : „The need for a monolithic institution that controls access to a mausoleum of the arts has disappeared, and the time has come to devise new ways of providing the means by which individuals, groups and communities establish and celebrate their identities.“266 Dies galt ebenso für Staat und Regierung wie für den Arts Council, der wie andere ‚quangos‘ auch als „committee of stated-appointed people, generally meeting in private, to run large swathes of public life“,267 kritisiert wurde. Er erschien in seinem abgehobenen Deutungsanspruch nicht mehr als Garant der ‚armlangen‘ Distanz zwischen Staat und Kultur, sondern vielmehr als der verlängerte Arm des Staates. Auch das Kontrastbeispiel Berlin macht deutlich, dass eine ähnliche Entwicklung in unterschiedlichen Rahmenbedingungen nicht gleichermaßen an Relevanz gewinnt. In Berlin bzw. Deutschland – ohne die in Paris oder London virulenten sozialen Konflikte – kann sich die Dominanz des Staates im kulturellen Werturteil über die Oper bis heute relativ gut behaupten. Sie drückt sich am auffälligsten in der Kontinuität eines mitunter geradezu genussfeindlichen Bildungsauftrages der Oper aus, der kaum eine Anpassung an die längst statt266 TT, 11.06.1995, 10/13. 267 Marr, Ruling Britannia, 77.
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findende Pluralisierung von Geschmacksurteilen zeigt. Noch immer steht die Oper in der im Zuge ihrer ‚Demokratisierung‘ auferlegten Pflicht, mit der ihr als anerkannter Kultur eigenen „normativen Kraft des Kulturellen“268 Teil einer moralisch-politischen Instanz zu sein, die eine bestimmte Funktion der Weltdeutung und philosophischen Reflexion erfüllt. „Der Zweck der Oper liegt nicht in ihr selbst, sondern in ihrem Beitrag zur Bereicherung und Verbesserung des Lebens der Menschen“,269 hatte dies der Kulturpolitiker und -reformer Hilmar Hoffmann Ende der 1970er-Jahre formuliert. Dieser Deutungsanspruch hat sich seitdem kaum verändert, wie pointiert etwa eine Rede der zeitweiligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss deutlich macht. Im Jahr 2004 verkündete sie : „Oper muss sein. Oper muss für alle sein. (…) Sie hat weiterhin unabdingbarer Teil unseres Erziehungssystems zu sein, das nicht nur Computerexperten und Börsensurfer, Mikrobiologen und Vorstandsvorsitzende heranzuziehen hat, Facharbeiter, kaufmännische Angestellte und Handwerker, sondern den ganzheitlichen, zum Humanen fähigen Menschen.“270 Die Berufung auf die „auratische Wirkung“ der Oper wird gerade angesichts kultureller Veränderungen zu einer wertvollen Konstante erklärt, welche die Gesellschaft im Zeitalter des „Zappens durch die mediale Vernetzung“ zum „Einlassen“ oder zur „Auseinandersetzung“ zwinge.271 Wie passt das aber zusammen mit einer kulturellen Konzeption, wie sie im Werbeslogan des Senders Klassikradio hervortritt : „Ab sofort macht Klassik Spaß – rund um die Uhr“ ? Oder mit den kultursoziologischen Befunden, dass die „akzelerierende Eventisierung des Konzert- und Festspielerlebnisses zur zunehmenden Verszenung des Publikums auch in der E-Musik-Kultur“ beiträgt ?272 Die mäßige Auslastung der Opern, die als eine wesentliche Voraussetzung für den ‚sozialen Frieden‘ in den Berliner Opern angeführt wurde, verweist somit indirekt ebenfalls auf ein ‚soziales‘ Problem der staatlichen Opernhäuser – nämlich ihr abnehmendes Potenzial, in dem reichen Angebot der kulturellen Produktion der Gegenwart ein auch quantitativ ausreichend großes Interesse zu 268 Häberle, Das Problem, 364. 269 Hoffmann, Die Oper ; vgl. auch die Quelle dieser Bezüge : Schiller, Die Schaubühne. 270 Festrede zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele 2004 am 27.06.2004. 271 Klinger, Staat, 81. 272 Gebhardt, Bayreuth, 186.
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wecken. In deren vielfältigen Ausprägungen hat auch die Oper ihren Platz gefunden – doch ein Besuch der großen Opernhäuser ist neben kommerziellen openair-Opernspektakeln in der Berliner Waldbühne, U-Bahnschächten und Industrieruinen, ‚Klassik-Lounges‘ in großen Technoclubs, ‚Public Viewing‘ von Opern auf dem Bebelplatz vor dem Bau der Staatsoper oder kleinformatigen Opernversionen der freien Szene in Bars und Kneipen nur noch eine Möglichkeit unter vielen ‚in die Oper‘ zu gehen. Es ist zwar in Berlin nicht zu einer strategischen Gegenüberstellung der neuen Formen von Oper mit dem etablierten Format und Kanon gekommen, doch die breite Palette von Alternativen zum klassischen Opernbesuch, die denen in London und Paris ähnelt, verweist auf die gleichen Muster kultureller Pluralisierung. Die Berliner Opernhäuser folgten dieser äußeren Entwicklung relativ unsystematisch – mit einem ausgebauten ‚Education-Programm‘ und ‚Events‘ wie den Open-Air-Galas, ‚casual nights‘ oder ‚Single-Abenden‘ ebenso wie mit Gala-Vorstellungen und Aufklärung darüber, wann man ‚bravo !‘, wann ‚brava !‘ zu rufen habe.273 Von der Kulturpolitik und vom kulturpolitischen Diskurs zumindest im ‚hochkulturellen‘ Sektor wurde und wird dies – wenn überhaupt – nur mit tiefer kulturpessimistischer Skepsis betrachtet. Das Fehlen von Konflikten schafft einerseits eine Anerkennung der Opernkultur, frei von überzogenen sozialpolitischen Stellvertreterkriegen, lässt aber andererseits wenig Raum für eine Anpassung der staatlichen Kulturpolitik an die gesellschaftlichen Entwicklungen. Der kursorische Vergleich hat demonstriert, dass in Hinblick auf das soziale Konfliktpotenzial der Oper nicht allein die Besucherzahlen eine Oper demokratisch oder elitär, zugänglich oder ‚clubartig‘ machen, sondern das diskursive Potenzial traditioneller Vorstellungen von den politischen und sozialen Funktionen der Oper, ihre Angebote an eine breite Partizipation und persönliche Distinktion und vor allem die darauf reagierende öffentliche Stimmung. Was in dem einen Kontext zu einem fundamentalen Problem wurde, blieb in einem anderen nebensächlich ; manche sonst brisante gesellschaftliche Themen wurden in ihrem Zusammenhang mit der Oper gar nicht erst problema273 Vgl. die Rubrik ‚Wissenswertes‘ auf http ://www.staatsoperberlin.de. Die genannten Veranstaltungen gehörten und gehören zu den Programmen der drei Opern in den vergangenen zehn Jahren.
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tisiert.274 Jenseits dieser unterschiedlichen Konflikte zeigt sich aber eine gemeinsame zentrale Herausforderung, die der britische Theatermacher Graham Vic auf die Formel gebracht hat : „The future health and development of opera depends on its embracing the whole of contemporary society. And that means being a part of it and being prepared to change as rapidly and radically as society itself.“275 Spiegelt sich in dieser Herausforderung auch der Wandel von Staatlichkeit als jene Hoheit über die Maßstäbe, welche die Oper zum Gemeinwohl machen ? Obwohl die hier verwendeten Kategorien nicht mehr uneingeschränkt ins Spektrum der ‚Transstate-Forschung‘ passen, zeigt auch die gesellschaftliche Pluralisierung mit Blick auf die Staatsopern Erscheinungen der ‚Zerfaserung‘. Sie entspricht der Ausdifferenzierung und Reformierung von sozialen Milieus, kulturellen Praktiken, Geschmacks- und Statusfragen. Das heißt, was in erster Linie ‚zerfasert‘, ist keine staatliche institutionelle Zuständigkeit oder formale Verantwortung selbst, sondern das, worauf sich der Staat in Form seiner normativer kulturpolitischer Konzeptionen bezieht. Das Entscheidende ist, dass sich die kulturpolitische Förderung und Steuerung mit dem facettenreichen Angebot des Kultursektors ebenso auseinandersetzen müssen wie mit den veränderten und durchmischten Geschmacksmustern innerhalb der Gesellschaft. Das heißt, diese Ausdifferenzierung fordert gerade das Gegenteil von kollektiv gültigen und verbindlichen Entscheidungen. Die Konfrontation mit dem zur eigenen Tradition gewordenen, aber immer noch kulturpolitisch vitalen Konzept der ‚Demokratisierung‘ hat hier den Unterschied erkennen lassen. Das sich im Fall der Oper weitgehend auf einen quantitativen Begriff der Zugänglichkeit beschränkende Demokratisierungsbe274 Ein signifikantes ‚soziales‘ Problem, mit dem Opernhäuser überall kämpfen, das aber trotz der breiten Diskussion über den ‚demografischen Wandel‘ der westlichen Gesellschaften in keiner der Krisen auf die kulturpolitische Agenda gehoben wurde, ist das der sogenannten ‚Vergreisung‘ des Publikums. Das Publikum wird immer älter und das Stammpublikum ‚stirbt aus‘, ohne dass ein interessiertes junges in quantitativ vergleichbarem Maßstab heranwächst. Die prägende künstlerische Gestaltung liegt heute in den Händen einer anderen, jüngeren Generation als jener, welcher der größte Teil der Zuschauer angehört. Folge sind nicht nur zunehmende künstlerische Missverständnisse, sondern auch Blockaden gegenüber Veränderungen, die das ‚alte‘ Publikum ggf. nicht mitträgt. 275 Vick, Inclusion.
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streben, das seit den 1960er- und 70er-Jahren die Prinzipien moderner Kulturpolitik prägte, ging zwar auf Veränderungen der Gesellschaftsstruktur ein, blieb aber steuerungstheoretisch eine hoheitliche Setzung. Sie hielt an einer Gegenüberstellung von einer bestimmten und vergleichsweise stabilen gesellschaftlichen Ordnung und staatlichen Verantwortung, diese Ordnung zu strukturieren bzw. zu verändern, fest. Angesichts der erörterten Beobachtungen gesellschaftlicher Entwicklungen werden diese Versuche der ‚kulturellen Erziehung‘ zunehmend unmöglich, „denn in pluralistisch ausdifferenzierten Gesellschaften ist der einzige Maßstab, der noch gilt, der der Konkurrenz“.276 Das heißt, der Staat verliert sein ‚Erziehungsmonopol‘.277 Eine diesem Pluralismus angemessene staatliche Strategie kann eben nicht durch ‚eine große Linie‘ und neue kulturpolitische Prinzipien reagieren, sondern muss versuchen, sich der ‚Kleinteiligkeit‘ und scheinbaren Inkompatibilität verschiedener kultureller Vergnügungen, Geschmäcker, Werte und Angebote anzupassen. Sie muss sozusagen aktiv ‚zerfasern‘ und zulassen, dass sich jene diversifizierten Elemente, staatliche, private und kommerzielle Organisationen wie Akteure, aber eben auch nicht-institutionelle und personelle Strukturen wie Praktiken, Emotionen, Freizeitverhalten, um den Sockel der staatlichen Kulturpolitik ‚anlagern‘ können. ‚A people’s opera‘ – das mussten bald auch die staatlichen kulturpolitischen Akteure in London erkennen, bedeutet nicht mehr, das ‚Volk‘ zu einem quantitativ signifikanten Anteil in die Oper zu bringen, sondern dessen eigene qualitativen Vorgaben für Zugänglichkeit und Qualität anzuerkennen. Die ‚gefühlten‘ Barrieren, die Sir Richard Eyre in seinem Opernbericht diagnostizierte, entzogen sich anders als finanzielle oder technische Beschränkungen jeder Form vertikaler Steuerung.278 Ein Beratungskommittee der britischen Regierung formulierte im gleichen Jahr einen Grundsatz für die kulturelle Bildung, der ebenfalls auf die veränderten Bedürfnisse hinwies und von der Kulturpolitik 276 Bermbach, Oper, 62. 277 Voigt, Des Staates neue Kleider, 402. 278 Mirza, The Therapeutic State, 263, argumentiert dagegen, gerade die Orientierung an den emotionalen Dispositionen seiner Bürger sei zu einer Kernfunktion des Staates geworden : „Addressing the emotional needs of citizens is now a core, rather than supplementary, function of government.“
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Anpassung forderte : „All young people need an education that helps them to find meaning and to make sense of themselves and their lives (…) Their needs are not only academic. They are social, spiritual and emotional.“279 Eine beispielhafte und wichtige Entwicklung, die einen solchen Prozess kennzeichnet, konnte hier auf Grund fehlenden Materials leider nicht angemessen berücksichtigt werden : jene der Bildungsangebote der Opernhäuser, die heute in der Regel unter dem Begriff education oder out-reach firmieren. Diese Programme reichen vom Schulbesuch einzelner Musiker, über Workshops zu bestimmten Stücken, bis zu eigenen Produktionen, die professionelle Künstler mit Kindern und Laien erarbeiten. Einerseits erhalten diese Maßnahmen die besondere kulturelle Wertigkeit der Oper, da sie eine intensive Auseinandersetzung fordern und fördern. Andererseits verliert die Oper durch sie ihren Status als Bildungs- und Kulturgut an sich ; sie wird zu etwas, wo man jeden Menschen ganz einfach hinführen kann. Dies gilt zumal, da die pädagogischen Ansätze dieser Arbeit in den vergangenen Jahren in aller Regel nicht mehr von einer Annäherung an die Oper durch kritische Reflexion (das heißt durch Wissen über Komposition, historischen Kontext und Interpretation) ausgehen, sondern durch eigenes spielerisches Erleben.280 Als neue Angebote jenseits der üblichen Arbeit der Opernhäuser hat diese Education-Arbeit zwar Eingang in das Programm und in die Betriebsstrukturen auch der großen, prestigeträchtigen Opernhäuser gefunden, nicht aber in die reguläre Finanzierung. In allen drei Städten wird das pädagogische Programm der Opernhäuser weitgehend aus privaten Quellen, von Sponsoren, vor allem aber den mäzenatischen Tätigkeiten der ‚Freunde‘ der Häuser finanziert. Diesen Entwicklungen gegenüber steht der anhaltende Verweis der staatlichen Akteure auf die Oper als ein dem Gemeinwohl dienendes Gut im Sinne des lofty approach. In ihm manifestiert sich nicht nur der staatliche ‚kulturelle‘ Steuerungsanspruch (auch ohne die massiven Konflikte aus London oder latenten Spannungen in Paris), er lenkt den Blick auch auf ein weiteres Themenfeld – das der anhaltenden staatlichen Bevorzugung der Oper gegenüber zahlreichen 279 National Advisory Committee on Creative & Cultural Education (N A C C C E ) , All Our Futures, 23. 280 Vgl. Stroh, Szenische Interpretation, sowie die Arbeiten des Instituts für Szenische Interpretation Musiktheater (ISIM) (vgl. http ://www.musiktheaterpaedagogik.de).
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anderen Kulturformen. Noch jenseits der ökonomischen Dimension, das heißt den hohen Summen, die sie aus öffentlichen Haushalten bekommen, und der sozialen Dimension, das heißt ihrer Rolle als gefördertes öffentliches Gut der kulturellen Erziehung, bleibt die Staatsoper etwas ‚Besonderes‘. Die Reformprozesse scheinen, selbst wo sie durch Kürzungen, rechtliche Veränderungen oder offene Kritik an den Opernhäusern vom Staat induziert sind, mit einem strategischen, genuin staatlichen Interesse an der Oper zu konfligieren. Dieses Phänomen diskutiert der folgende, IV. Teil des Buches.
IV. Die Oper im Spiegel neuer Repräsentationsstrategien
„As states get reconstructed toward multi-level governance, capital city culture turns from a collective good into a contested symbol.“1
Die beiden vorangehenden Teile des Buches haben die Oper als äußerst persistent gegenüber den jeweiligen kulturpolitischen Reformbemühungen gezeigt. Trotz gewisser Anpassungsleistungen unter sich verändernden Rahmenbedingungen erschienen die Staatsopern als Institutionen, die den Status quo in ökonomischer wie sozialer Hinsicht hervorragend zu verteidigen verstehen.2 Dabei zeigte sich allerdings nicht nur der Opernbetrieb bzw. das soziale Ereignis Oper selbst als widerstandsfähig, vielmehr erschien auch der opernfördernde Staat als ausgesprochen tolerant gegenüber der in so vielfacher Hinsicht von ihm abhängigen Einrichtung. Gemessen an der programmatischen Verve, mit der die Reformen der Oper von den kulturpolitischen Akteuren angekündigt und angegangen wurden, erwiesen sich die Reformprozesse fast durchgehend als schwerfällig und ihre Erfolge als hart erkämpfte Kompromisse. Zum Teil waren die Veränderungen nicht einmal im Sinne intentionaler Steuerung zu begreifen, sondern mitunter als prozessuale Verschiebungen innerhalb der kulturellen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge der Staatsopern. Die nur langsam und mühsam durchgesetzten finanziellen Kürzungen, der Abbau oder nur die Vermeidung von Defiziten in den vergangenen Jahren, verweisen auf die Privilegien und gewissen Freiheiten, welche den großen Opernhäusern in ihrer Entwicklung auch im modernen demokratischen Staat noch zustehen. Auch dort, wo eigentlich auf ‚strukturelle Änderungen‘ und ‚Modernisierungsprozesse‘ der Opernbetriebe gezielt wurde, lösten sich die Forderungen in vagen Vorschlägen zur meist künstlerischen Erneuerung der 1 de Frantz, Capital City Cultures, 1. 2 Vgl. D’Angelo/Vespérini, Cultural Policies, 22 ; Schläder, Oper und Demokratie.
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Oper auf oder wurden durch die fortgesetzte Gewohnheit, mit Subventionen und Zuschüssen auch finanzielle Ungenauigkeiten auszugleichen, sogar konterkariert. Ebenso bestand die öffentliche Unterstützung von ohnehin privilegierten gesellschaftlichen Schichten, den immer wiederholten Bestrebungen zur Demokratisierung zum Trotz, ungehindert fort. Die Verbindung zwischen dem anerkannten persönlichen Geschmack und dem öffentlichen Prestige zeigt den engen Zusammenhang von sozialer und politischer Funktion der Oper, die fest mit der institutionellen Struktur der staatlichen und staatsnahen Häuser verwoben ist. „Cettes situations sont tenue plus aiguë par les incohérences voulus ou tolérées par le pouvoir politique“,3 stellte der von der französischen Regierung in den 1980er-Jahren mit einer Analyse der Probleme der Pariser Oper beauftragte Raymond Soubie unumwunden fest. Dass Opern früher wie heute von der entscheidenden politischen Macht bzw. den politisch Mächtigen gegründet und getragen wurden – den Königen und Fürsten, Staaten und Städten, der Aristokratie und dem Bürgertum –, verweist auf ein spezifisches Interesse dieser Macht an der Oper. Manfred Wegner hat die These formuliert, dass die Opern und ihr ähnliche Institutionen der anerkannten Hochkultur „staatstragende Funktion erhalten und zur Darstellung öffentlicher Würden- und Funktionsträger entfremdet werden“.4 Kinski-Weinfurter hat das Verhältnis sogar auf seine einfachste materielle Dimension runter gebrochen : „Der Staat will für seine Milliarden auch was zurückbekommen.“5 Nicht nur angesichts der abgelehnten Vorstellung eines ‚politischen Missbrauchs‘ der Oper, sondern vor allem angesichts der bisherigen Darstellungen, die zeigten, wie maßgeblich die noch heutige gültige Form und Institution der Oper durch ihre Nähe zur Macht erst entstanden ist und erhalten wird, erscheint es problematisch, von ‚Entfremdung‘ oder ‚Korrumpierung‘ zu sprechen. Dennoch verkörpert die ‚staatstragende‘ Oper noch mehr als einen Raum zur Selbstdarstellung und Distinktion von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, wie er bereits charakterisiert wurde – sie verweist auf die Funktion von Opernhäusern als Orte der staatlichen Repräsentation. 3 Rapport au Ministre der la culture et de la communication sur la situation et les perspectives de l’opéra. 4 Wegner, Musik und Mammon, 16. 5 Kinsky-Weinfurter, Sturz der Denkmäler, 48.
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Die dadurch hergestellte Beziehung zwischen Staat und Oper ist das Thema dieses Teils des Buches ; er behandelt Fragen zur Ästhetik der Macht und der dadurch gewonnenen Macht der Oper. Das abstrakte Gebilde eines Staates muss verkörpert und anschaulich gemacht werden, um Anerkennung oder Achtung zu erfahren, und die Oper bildete zumindest in früheren Epochen und Systemen einen Ort, an dem mit der abstrakten politischen Macht verknüpfte Vorstellungen, Institutionen, Symbole und Personen sichtbar und erlebbar wurden.6 In den folgenden Kapiteln soll anhand des Begriffs der Repräsentation sowie mittels der politischen Symbolforschung diskutiert werden, welche Rolle die politisch affirmative Funktion von Opern und Opernhäusern angesichts der sich verändernden Rahmenbedingungen der Staatsopern noch spielt. Die sich auflösende institutionelle Klarheit und die Pluralisierung des Publikums der Oper werden damit in den symbolisch repräsentativen Kontext der Beziehung von Oper und Staat gesetzt. Welche repräsentative Funktion kennzeichnet die Oper noch in einem Modernität, Fortschritt und Demokratie verkörpern wollenden Staat ? Und welche, wenn die Hoheit über diese symbolischen wie institutionellen Elemente von Staatlichkeit sich auflösen ? Hier gewinnt die Rolle der untersuchten Opernhäuser als Hauptstadtopern an Bedeutung. Wie Monika de Frantz in ihrer Studie umstrittener Kulturprojekte und -bauten in Berlin und Wien gezeigt hat, bieten Hauptstädte ein besonders geeignetes Untersuchungsumfeld, um das politische Potenzial symbolischer Zentralität im Kontext einer zunehmend pluralen Gesellschaft und inkohärenten, weil ökonomisch sich ausdifferenzierenden Institutionenstruktur zu untersuchen.7 Eine Hauptstadt ist in den meisten Fällen nicht nur der Ort zentraler politischer Entscheidungen, sondern „jene Stadt, in der sich die Geschicke eines Landes verdichten, die in besonderem Maße für das Schicksal der Nation einsteht“,8 das heißt, zugleich immer auch eine integrative Selbstdeutung und Teil eines Mythos. Die Hauptstadtsymbolik bietet daher ein spezifisches Feld, in dem der im Angesicht von wirtschaftlichem Druck und kultureller Pluralisierung um seine Autorität fürchtende Staat ein Spektrum an 6 Vgl. Voigt, Des Staates neue Kleider, 406 ; Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, 281. 7 de Frantz, KulturPolitik, 241 u. 249f. 8 Süß/Rytlewski, Hauptstadt Berlin, 10.
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Identifikationen schaffen kann. Als exponierte Bauten und in ihrer Rolle als Hauptstadtkultur stets ebenso von städtischer wie nationaler Bedeutung, verkörpern Opernhäuser verschiedene historische Stadien sowie aktuelle Funktionen der Hauptstädte – damit bilden sie ein Prisma öffentlicher Deutungen, in denen neben den spezifischen opernpolitischen Konzepten auch die institutionelle Legitimitätsbasis von hauptstädtischer Kulturpolitik neu verhandelt wird. Opernhäuser sind ein zentraler Bestandteil der symbolischen Landschaft eines Landes oder einer Metropole und mithin „Arena öffentlicher Auseinandersetzungen über die Zukunft von Stadt, Hauptstadt und Staat“.9 Im folgenden, ersten Kapitel werden zunächst die historischen und tradierten Parameter der Repräsentativität von Opernhäusern herausgearbeitet und an den drei untersuchten Städten veranschaulicht. Erst im Anschluss daran wird die Frage nach der Bedeutung der Repräsentation für den modernen Staat gestellt. Den schwierigen, weil zwischen sozial- und kulturwissenschaftlicher Nutzung oszillierenden Begriff gilt es für den Fall der Oper zu klären sowie ihre daraus entstehenden Funktionen zu bestimmen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, die Differenzen herauszustellen, die zwischen der von der Oper verkörperten Tradition und den repräsentativen Mitteln moderner Demokratien herrschen. Die ‚Inszenierung‘ in der Politik oder von Politik galt lange als an demokratischen Normen gemessen nicht akzeptabel. Die ästhetische Darstellung des Politischen war konnotiert mit der monarchischen Zurschaustellung oder totalitären Verherrlichung von Macht. Unter den Schlagworten der Inszenierungsgesellschaft, Mediendemokratie oder symbolischen Politik hat die Bedeutung der Ästhetik und Darstellung von Macht sowohl als Phänomen wie als Gegenstand politik- und kulturwissenschaftlicher Analysen zugenommen. Auf beides aufbauend wird diskutiert, welche Chancen, Risiken und Herausforderungen die Mechanismen der modernen Medienwelt für die Oper als Teil des staatlichen Mythos bergen. Im empirischen Zentrum des Teils steht schließlich die Opernkrise in Paris. Mit dem Neubau eines riesigen Opernhauses am Ort des Wendepunkts der französischen Geschichte und Identität, der Place de la Bastille, bietet sich ein einzigartiger Untersuchungsfall dafür an, welche Rolle die Oper am Ende des 9 Ebd.
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20. Jahrhunderts für eine sich modern und medienkompetent gebende politische und staatliche Repräsentation spielt. Mit den im historischen Überblick und in der methodischen Erweiterung gewonnenen Begriffen und Kenntnissen gilt es, die Opéra de la Bastille in Paris als Ort staatlicher Repräsentation, der Konstruktion und Darstellung politischer Wirklichkeit und Arena der konkurrierenden Darstellungsformen und Ansprüche auf diese Wirklichkeit zu untersuchen.
1. Die Oper als Repräsentation traditioneller und moderner Staatlichkeit 1.1 Opernhäuser als monumentale und theatralische Orte
„It is obvious that the great opera houses of the World are glamorous places. They are and will remain so whatever the system of government (is). In Moscow as in Vienna, in Warsaw as in Paris, in Milan as in London, it is there that official ceremonies, State receptions, charity galas, etc. are staged.“10 So hat der langjährige Intendant verschiedener internationaler Opernhäuser, Hugue Gall, seine Erfahrungen mit der repräsentativen Rolle der Oper zusammengefasst. An dem Umstand, dass es sich bei Opernhäusern um ‚repräsentative‘ Gebilde handelt und der Besuch eines Staatsoberhauptes oder Regierungschefs in einer Oper vor allem eine ‚rein repräsentative‘ Funktion hat, besteht nach allgemeiner und alltagssprachlicher Auffassung kein Zweifel. Ob Hof- oder Staatsoper – deren exponierte Häuser galten stets auch als Bühnen für Herrschaftstheater. Im historischen Rückblick zeigt sich, dass in eben dieser Funktion das konstitutive Moment zwischen Oper und politischer Macht liegt, das über Brüche und Systemwechsel hinweg tradiert wurde und dessen Elemente zum Teil auch die Rolle der gegenwärtigen Staatsopern noch prägen. Die Oper hat sich zunächst als höfische Institution, später als Ort der Identifikation und Abgrenzung des Bürgertums, stets jedoch als ein von der jeweiligen Elite dominierter Raum herausgebildet und mithin als gesellschaftliches und politisches Machtzentrum. „This elite changes, but when one is powerful and at the heart 10 Gall, zit. in Priesley-Report, 328f.
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of the state then one attends the opera“,11 hat Ruth Bereson in ihrer länderund epochenübergreifenden Opernstudie festgestellt. Seit ihren Anfängen diente die Oper daher stets auch dazu, als Rahmen der zeremoniellen Selbstdarstellung Macht und Mächtige zu legitimieren. Ihre spezifische Eignung dafür liegt in ihrer funktionalen und rezeptionellen Ähnlichkeit zur Liturgie, das heißt in ihrem rituellen Nachvollzug von etwas Vergangenem, das durch die feierliche Vergegenwärtigung entzeitlicht und als überzeitlich gültig bestätigt wird. Als solche „intersubjektive(n) Darstellungs- Verstehens- und Erlebnisakte“ werden Opern mithin zu institutionalisierten Symbolsystemen. Sie erbringen für ein Gemeinwesen und als hoheitliche Institution deren Machthabern eine kulturelle Integrationsleistung.12 Die beiden der Oper eigenen symbolischen Ebenen, auf denen sich dieser Prozess der Vergegenwärtigung, Orientierung und Ordnung vollzieht, werden im Folgenden als Theatralität und Monumentalität bezeichnet und konzipiert. Erstere bezeichnet die Funktion von Inszenierungen im Inneren der Oper. Der Begriff der Theatralität nach der Theaterwissenschaftlerin Erika FischerLichte bedeutet im engeren Sinne, auf das Theater bezogen, die „Gesamtheit der Materialien bzw. Zeichensysteme, die in einer Aufführung Verwendung finden und ihre Eigenart als Theateraufführung ausmachen“.13 In einem vom unmittelbaren Bühnengeschehen losgelösten Verständnis beschreibt Theatralität als rezeptionsästhetische Kategorie eine schöpferische Transformation der wahrgenommenen Welt und somit die Erzeugung eines bestimmten Blickwinkels. Das heißt, der Begriff der Theatralität stellt „unter Rekurs auf allgemeine kulturgeschichtlich relevante Faktoren wie Wahrnehmung, Körperverwendung und Bedeutungsproduktion (…) eine Beziehung zwischen Theater und theatralen Prozessen außerhalb des Theaters her“.14 Das beiden Bereichen des Theatralen (auf und außerhalb der Bühne) gemeinsame Mittel ist das der Inszenierung, des Erscheinenlassens von Bildern, Beziehungen und Zusammenhängen. Dass Operntheater Räume besonderer Theatralität sind, liegt daher in ihrer Funktion, durch Raum, Ausstattung und rituelle Dramaturgie das Erscheinen 11 Bereson, The Operatic State, 65 ; vgl. auch Leopold, Höfische Oper ; Verret, Conclusion. 12 Vgl. Göhler, Institutionen, 311. 13 Fischer-Lichte, Einleitung, 1ff. 14 Ebd., 3.
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auf der Bühne mit dem im Zuschauersaal in Einklang zu bringen. Sie schaffen dadurch eine Form synästhetischen Erlebens, eine Ordnung von Wahrnehmungen, sichtbarer, tastbarer und hörbarer Erscheinungen,15 eine Faszination und ein Orientierungsangebot. Die abstrakten Symbole dienen der Kunst wie der Macht als „Ausdrucksmittel, nicht als objektivierende Gegenstands bewälti gung“.16 Damit gewinnt die Oper, wie jene, die sich mit ihr und in ihr inszenieren jene „power to construct reality“, die Bourdieu als eine Kernfunktion symbolischer Macht bezeichnete. Diese Funktion entspricht der Herkunft der Kunstform, die als Fest ihre kommunikative Wirkung gerade aus der Kombination ihrer alle Sinne ansprechenden Darbietung und ihren besonderen Anlässen zog.17 Insbesondere die Opernspektakel der Barockzeit, die den Aufstieg der Kunstform kennzeichneten, dienten keineswegs der reinen Erbauung und Unterhaltung oder einfach als Zeichen einer luxuriösen Verschwendungssucht. „Vielmehr belegen Korrespondenzberichte etwa der europäischen Diplomatie (jener Zeit) (…), in welchem Maß diese Inszenierungen eine politische Sprache führten und in diesem Sinne genuiner und unverzichtbarer Teil der offiziellen Politik des Hofes waren.“18 Die Inszenierung des Herrschers im Zuschauerraum der Oper entsprach häufig jener für die Frühzeit der Oper typischen Bühnensprache der Allegorien und Verherrlichungen ; beide Darstellungsformen waren eng miteinander verwoben. Etwa am Hofe des französischen Königs Ludwig XIV. so eng, dass der König selbst als Darsteller auf der Opernbühne auftrat.19 Oder wie in Berlin, wo Friedrich II. in seiner Hofoper meist statt in der Königsloge unmittelbar hinter dem Orchester auf einem „Thron von Menschen“, vor allen seinen Militärs saß, um die Vorstellung mitzudirigieren. Einen „Palais enchanteur et magique“ nannte er sein Opernhaus – und verwies damit sowohl auf jene die Realität verzaubernden Eigenschaften, wie auf dessen Funktion als Bau der Macht.20 15 Cassirer, Philosophie, 213. 16 Ebd. 17 Bianconi/Walker, Production ; Gérôme, La tradition. „Daß sich Kulturen in ihren Festen und Feiertagen nicht nur manifestieren, sondern auch begründen und tradieren“, beschreibt Macho, Fest. 18 Hengelhaupt, Die große Inszenierung. 19 Trinks, Die Musik ; Reckow, Die Inszenierung. 20 Vgl. Scheurmann, Szenenwechsel, 62, 80.
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Die unmittelbare Theatralisierung der Macht auf der Bühne erfuhr in der prächtigen und zu Ritualen vielfältiger Art einladenden Ausstattung der Zuschauerräume und Foyers ihre Übertragung auf den gesamten Kontext des Opernereignisses. Diese Verbindung hat sich mit der zunehmenden Autonomie der Opernhäuser von den Höfen aufgelöst, doch während die theatrale Apotheose des guten Herrschers auf den Bühnen ihren Bezug zum realen Machtzentrum verlor, blieb das Auditorium ein Ort, an dem dieser sich und sein Reich oder seinen Staat in Szene setzen konnte. Den dort angesiedelten entscheidenden Ort der Kontinuität einer staatstragenden Theatralität bilden die Königslogen – sie dominieren den Raum durch ihre Ausstattung, ihre Position sowie ihre Einbindung ins Ritual des Opernereignisses. Ihre Kennzeichen sind die alle anderen Logen übertreffende Größe und meist eine besondere Ornamentik, die zu den entsprechenden Ereignissen, Galas oder Staatsbesuchen noch ausgeschmückt werden konnte und kann. Dadurch wird, wo eine solche Loge noch vorhanden ist, bis heute ermöglicht, sie schon beim ersten Blick in einen Zuschauerraum zu identifizieren und etwas ‚Erhabenem‘ zuzuordnen. Die Position dieser Logen wiederum kennzeichnet auch die Position der darin Platznehmenden und ihrer Macht über die Gesellschaft. Sie schafft in der Regel die Orientierung im oben dargestellten sozialen Raum des Auditoriums, denn dieser erhält seine Ordnung nicht allein durch die Anordnung des Publikums zu einander, sondern auch durch deren Nähe oder Distanz und räumliche Relation zur Loge des Herrschers, die sich nicht eingliedert, sondern Bezugspunkt für alle anderen ist. Der in vordemokratischen Zeiten in jedem Opernhaus obligate Herrschersitz ist an zwei klassischen Standorten zu finden : Am häufigsten bildet er eine Mittelloge, die sich gegebenenfalls über die Höhe mehrerer Ränge erhebt, in direkter Opposition zur Bühne und gewissermaßen im Brennpunkt des Zuschauerhalbrundes. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Berliner Staatsoper, in der die seit dem letzten Umbau 1955 gänzlich schmucklos gehaltene, aber immer noch durch ihre Größe, räumliche Abgeschlossenheit und eben Position hervorgehobene Loge zumindest eine Reminiszenz an deren Pracht in den Vorgängerbauten darstellt. Alternativ bildet, wie im Pariser Palais Garnier, eine der Proszeniumslogen den Sitz der Mächtigen, die dort nahezu Teil der Bühne selbst werden. Die Loge liegt unmittelbar vor dem Blick auf das eigentliche Opern-
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spektakel, der dort Beobachtete kann sich vor allen Zuschauern entsprechend inszenieren. Zugleich erlaubt sie dem Insassen durch den schrägen Blickwinkel in die Kulissen hinein, das heißt hinter das allen anderen im Saal sichtbare Bühnengeschehen, zu schauen.21 Schließlich spiegelte auch die Art und Weise, wie diese Logen betreten wurden, die im Zuge des Opernrituals symbolisierten Herrschaftsansprüche der dort Platznehmenden Kaiser, Könige und Diktatoren wider. Die entsprechende Loge blieb in der Regel bis zuletzt leer ; erst als das Publikum bereits versammelt war, nahmen die Herrscher unter Applaus ihren Platz ein. Zumindest im Falle der Mittelloge erschienen dann alle Anwesenden und ihre Blicke symmetrisch diesem einen Punkt zugewandt. Die durch den Raum vorgegebene Struktur wurde durch die Körper, Bewegungen und visuelle Kommunikation der Beteiligten nachgebildet und durch ein Ritual in eine eigene symbolische Form überführt, die Ausdruck und Anerkennung der abgebildeten Ordnung war. Begreift man diesen „Einsatz von Symbolen zur Herstellung eines Orientierungsangebots, um auf den Rezipienten einzuwirken“, als Form der politischen Steuerung,22 lassen sich Opernhäuser mithin durchaus als ein Instrument dessen bezeichnen. Die Macht der damit etablierten Repräsentation wird um so deutlicher, als seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Versuche, demokratische Opernbauten zu errichten, auch die Logen und Königslogen verschwanden. Die symbolische Form der höfischen Opernhäuser blieb nämlich auch jenseits ihrer architektonischen Manifestation bestehen. Wo alte Zuschauersäle erhalten wurden, blieb „der Platz in der vormaligen Königsloge nicht leer“, wie Ingrid Scheurmann am Berliner Beispiel erläutert. „Nunmehr erwartete man hier Persönlichkeiten wie Friedrich Ebert und Feldmarschall von Hindenburg, später dann Walter Ulbricht, Erich Honecker und Leonid Breshnew, Richard von Weizsäcker und Roman Herzog, um nur einige zu nennen. (…) So richten sich die Blicke der Zuschauer auch weiterhin erwartungsvoll auf die Plätze in der Mitte des ersten Ranges.“23 In den 21 Die Königsloge (Royal Box) in Covent Garden bildet einen Sonderfall : Früher auch auf einem prachtvollen Mittelbalkon untergebracht, besteht sie heute aus zwei zusammengelegten Logen im seitlichen ersten Rang. 22 Cohen/Langenhan, Steuerung, 146. 23 Scheurmann, Szenenwechsel, 84f.
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Opernhäusern, in denen kein baulich hervorgehobener Balkon mehr vorhanden war, hob man – wenn es die Anwesenheit entsprechender Gäste erforderte – jene Plätze, an denen im traditionellen Opernhausschema die Königsloge lag, mit Schmuckelementen, Baldachinen oder Girlanden hervor. Die Zentralität des Ortes der Macht in einer Oper erweist sich als so stark, dass noch heute, da in der Regel keine schmückende Markierung mehr darauf aufmerksam macht, Staatsoberhäupter und Regierungschefs im Falle eines Besuches dort ihren Platz einnehmen. Die symbolische Form der höfischen Oper bleibt im kulturellen Gedächtnis als eine „institutionell bedingte Geformtheit und durch (ihre) Zeremonialität charakterisiert“24 bestehen und vermittelt und stärkt den Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart ; sie zeigt sich stärker als die modernen architektonischen Rahmenbedingungen. Als zweites repräsentatives Element kennzeichnet Opernhäuser eine Monumentalität nach außen. Diese macht sie zu Schaufenstern zeitgenössischer kultureller Errungenschaften oder eines bedeutenden kulturellen Erbes und zu einer physischen Demonstration der finanziellen und politischen Stärke ihres Gründers oder Trägers. Mehr als andere Theater- und Musikformen sind Opern nicht nur institutionell und zeremoniell, sondern auch baulich stets eng an Herrschaft oder Staat gebunden gewesen.25 Sie übertrumpfen andere Kulturbauten in der Regel in Größe, prächtiger Ausstattung und Zentralität der Lage. Die 1742 eröffnete königliche Oper in Berlin bildete den Ausgangspunkt des Forum Friedericianum, jener städtebaulichen Anlage, die das Herzstück der preußischen Residenzstadt und Metropole der Aufklärung bilden sollte. Als erstes freistehendes Opernhaus der Welt und eines der größten dazu, ohne räumlichen Anschluss an die städtische Umgebung, war mit diesem Haus die Oper als Monument ‚erfunden‘ worden. Darin manifestierte sich physisch und jedem Besucher Berlins sichtbar die politische Funktion der Oper, die gerade in ihrem unmittelbaren Entstehungskontext nicht zuletzt darin bestand, den Gegnern Preußens im Ersten Schlesischen Krieg die kulturelle und materielle Leistungsfähigkeit des Landes und seines Königs selbst in Kriegszeiten zu demonstrieren.26 24 Cohen/Langenhan, Steuerung, 152, nach Münkler ; vgl. auch Binder, Eine Hauptstadt, 190. 25 Carlson, The Semiotics, 99f.; vgl. auch Forsyth, Bauwerke ; Cherasse, Theatre Lyrique. 26 Vgl. Engel, Das Forum Fridericianum, 95ff.
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Diesen Charakter eines Monumentes verkörperte auch das Palais Garnier in Paris, das im Zuge der radikalen städtebaulichen Veränderungen unter Baron Haussmann für Napoleon III. in den 1850er- und 60er-Jahren entstand. Die von Haussmann angelegten Achsen durch die Stadt verbanden neue Repräsentationsbauten, markante Eckpunkte, Freiflächen und Monumente, welche die Stadt nun strukturierten und dominierten. Den ersten und einen der prominentesten städtischen Markierungspunkte bildete die im Fluchtpunkt der direkt vom Louvre nach Nordwesten weisenden Schneise liegende Oper (bei der Planung des Baus war der Louvre noch Sitz des Kaisers). Anders als das bisherige Opernhaus (die Salle de la Rue Lepeletier aus der Ära des Konzessionsregimes) verfügte der prachtvolle Neubau von Charles Garnier über keine Verbindung zu den umgebenden Gebäuden mehr, sondern stand frei im Zentrum von sechs Straßen. Die damalige Entscheidung, ein neues Opernhaus in Paris zu bauen, fiel nachdem im alten ein Attentat auf den Kaiser verübt worden war. Die bauliche Pracht und Dominanz der neue Oper zielte auch darauf, die Macht und Unverwundbarkeit Napoleons III. zu symbolisieren.27 In London, wo die Oper im 18. und 19. Jahrhundert nicht unmittelbarer Teil des Hofes und Hofzeremoniells war und auch später stets die Distanz zur zentralen politischen Macht wahrte, gibt es diesen monumentalen Charakter der entsprechenden Gebäude bezeichnenderweise nicht. Zwar wurde das Haus in Covent Garden schon damals in zentraler Lage am größten Markt der Stadt gebaut, doch fügte es sich, wie auch die damals betriebenen anderen Londoner Opern im Kings Theatre und Drury Lane Theatre, stets in die Straßen und Gassen ein und bildete allenfalls ein architektonisch, nicht aber städtebaulich herausragendes Ensemble. Die heute als lichtdurchflutetes Foyer dienende Floral Hall trägt ihren Namen in Erinnerung an ihre ursprüngliche Funktion als Blumen- und Gemüsemarkthalle – Tür an Tür mit der Oper. „Only the British could surround their Opera House with rotting vegetables and discarded flowers“,28 soll beim Anblick dessen einst ein französischer Besucher des Hauses gespottet haben. 27 Vgl. Jordan, Die Neuerschaffung ; Patureau, Palais Garnier ; Bereson, The Operatic State ; SaintPulgent, Syndrome, 153 ; Biojout, Les insolites. 28 Handley/Kinna, Royal Opera, 1.
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Opernhäuser erscheinen, wo sie den der politischen Nähe entsprechenden repräsentativen Monumentalcharakter haben, als ‚Landmarke‘, als Wahrzeichen und räumlicher Orientierungspunkt und erlauben so, die Struktur einer Stadt zu dechiffrieren : Wo ein Opernhaus steht, ist ein Ort der Macht.29 Diese enge physisch manifestierte Bindung zwischen Opernhaus und Machtzentrum, die ein Teil des Gedächtnisses einer jeden Großstadt oder ehemaligen Residenz bildet, bedeutet umgekehrt, dass sich ein Ort durch die Errichtung eines Opernhauses zu einem Ort der Macht umbauen bzw. aufwerten lässt. Schon der Vorgängerbau der Deutschen Oper Berlin, die Charlottenburger Oper, schuf allein durch die Wahl des Standortes eine Vielzahl von Bedeutungen : Die Eigenständigkeit Charlottenburgs gegenüber Berlin gehörte ebenso dazu wie die Aufwertung der bürgerlichen Träger gegenüber dem Hof und seiner Oper Unter den Linden. Dies galt erst recht für den 1961 im Westsektor Berlins eröffneten Bau der Deutschen Oper. Mit dem Gebäude entstand ein kultureller Schwerpunkt und somit ein Gegengewicht zu den nun hinter der Mauer verschlossenen Traditionen, welche die Oper Unter den Linden verkörperte. Wie dieser komplexe Prozess sich im Einzelnen vollziehen kann, wird später am Beispiel der Opéra-Bastille verdeutlicht, die das monarchische Symbol von Kultur und Macht in das Pariser ‚Volksviertel‘ und an den Ursprungsort des modernen französischen Nationalbewusstseins trug. Die hier umrissene duale Funktion von Theatralität nach innen und Monumentalität nach außen veranschaulicht in beide Richtungen die Erzeugung einer Abstraktion des Repräsentationssubjekts.30 Das heißt, ihre Funktion und Nutzung repräsentiert eine Macht oder Ordnung, die weit über deren unmittelbare räumliche und zeitliche Präsenz hinausweist. Erst dadurch wird die Verallgemeinerung auf den gesellschaftlichen Zusammenhang und Zusammenhalt geleistet ; mit dem Soziologen Ronald Hitzler formuliert, ist „der Repräsentant (…) als symbolische Verweisung Teil eines politischen Rituals, das selbst ein Element einer politischen Kultur darstellt“.31 Die historischen Beispiele der hier untersuchten Opernhäuser haben gezeigt, dass deren architektonische Do29 Vgl. Lamantia, L’opéra, 16 ; Kraemer, Ästhetik. 30 Vgl. Fulcher, Nation, 7. 31 Hitzler, Inszenierung, 45.
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minanz, die Ordnungsstiftung in ihrem Inneren sowie der Transzendenz vermittelnde Charakter der dort stattfindenden Ereignisse untrennbar mit einer zugleich kommunizierten Bedeutung verbunden ist, die jenseits der Funktion der Darbietung von Musiktheater liegt. Sie schafft bis heute eine assoziative Verknüpfung zwischen verschiedenen historischen Epochen und deren politischen Machthabern.32 Diese Vermittlungsfunktion kann über die Repräsentation eines Subjekts hinausgehen und sich auf die Symbolisierung geteilter Werte einer politischen Kultur erstrecken. Murray Edelman hat dies für ausgewählte politische Gebäude gezeigt (das Oval Office etwa transportiert Ordnung, Sicherheit und Berechenbarkeit33). Angelehnt daran lassen sich Opernhäuser nicht allein als Symbole der kulturellen Überlegenheit und finanziellen Potenz, sondern wegen der in ihrem Inneren stets erneuerten Kunst und den wiederholten Rezeptionsritualen bis heute auch für ein bestimmtes funktionierendes Kultursystem, eine bruchlos erscheinende Tradition und ein gemeinsames Erbe deuten. Kann die Oper diese Ordnungs- und Orientierungsfunktion des Herrschaftsinstruments innerhalb eines gemeinsamen Repräsentationssystems, das in vordemokratischen monistischen Systemen entstand, tatsächlich auch in der Gegenwart erfüllen ? Die Entwicklung der Oper als Ort der Repräsentation zeigt eine subtile und fragile Kontinuität dieser Funktion. Subtil, da Opernhäuser vordergründig immer vermögen, Orte der Kunst und ihr Besuch ein Anlass des Kunstgenusses zu sein. Anders als die typischen architektonischen Orte, die der Visualisierung und Veranschaulichung staatlicher Macht dienen, bieten sie den Vorteil, eine politische Funktion erfüllen zu können, ohne von einer direkten politischen Nutzung abhängig zu sein. Während die zentralen Schlösser vordemokratischer Herrscher in der Regel nicht die Regierungssitze demokratischer Staatschefs bilden können, ist eine Opernloge sehr wohl geeignet, den Systemwechsel zu überbrücken ; sie verleiht dem Insassen den Nimbus des Monarchen, ohne ihn in den Verdacht der antidemokratischen Gesinnung rücken zu lassen. Fragil ist sie wiederum, weil die Orientierung an Repräsentationen durch sym32 Der König ging in die Oper und ließ sich dort huldigen, womit die Oper zum Symbol der Monarchie avancierte. Opernhäuser erfüllten damit ähnliche Funktionen wie Triumphbögen, Denkmäler oder Mausoleen. 33 Edelman, From Art, 75.
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bolische Formen stets die Anfälligkeit für Mehrdeutigkeit oder Umdeutungen birgt. Sie stellen Ordnungen her, können aber auch zur Auflösung dieser beitragen, wenn zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft kein Einverständnis mehr über die Geltung bestimmter Repräsentationen herrscht.34 Ein Opernhaus ließ und lässt sich mithin zum Symbol politischer Macht machen, aber auch als Ort der Kritik an eben dieser Macht nutzen ; ihre repräsentative Funktion war in der Vergangenheit nicht nur affirmativ, sondern auch revolutionär.35 Hierin begründet sich der Bedarf nach einer ständigen politischen Redefinition der Oper. Ohne sie blieben Opernhäuser Relikte vergangener Zeiten, und ihre Rituale anachronistisch und wirkungslos. Gelingt diese Anpassung aber, entfalten sich jene spezifischen Funktionen der Oper, Traditionen zu evozieren und zugleich eine gewisse Form des Fortschritts zu repräsentieren. An den drei untersuchten Hauptstädten lässt sich diese wiederholte Transformation und Adaption des Repräsentationscharakters der Oper gleichermaßen nachvollziehen. In Berlin, das stets im Zentrum der historischen und politischen Brüche Deutschlands in den vergangenen 100 Jahren stand, beeindruckt vor allem die Kontinuität der repräsentativen Funktion der Oper. Mit dem Deutschen Kaiserreich ging auch die Hofoper (die das Reich als solche fortgeführt hatte) unter – das Haus wurde dem Preußischen Kulturministerium unterstellt, für Arbeitervorstellungen geöffnet und erhielt mit der Krolloper eine Dependance für künstlerische Experimente. Auch der dreimalige Umbau des Hauses im 20. Jahrhundert hat diese Kontinuität nicht gebrochen. Ein Repräsentationsobjekt der staatlichen Ebenen war Oper in Berlin auch und gerade während der Teilung der Stadt. Als kulturelle Waffe im Kalten Krieg wurde sie auf beiden Seiten der Stadt auf die jeweilige Weise vielfach ‚propagandistisch gepäppelt‘.36 Das Opernhaus Unter den Linden im alten Zentrum der Stadt war das prachtvolle Juwel des Musiktheaters in der DDR, das mit dem klassischen Repertoire und zusätzlich zahlreichen Ur- und Erstaufführungen von Opern aus der Sowjet-
34 Vgl. den Ansatz des Sonderforschungsbereiches 640, „Repräsentationen sozialer Ordnungen“, http ://www.sfb-repraesentationen.de. 35 Vgl. Müller/Toelle, Einleitung. 36 von Jena, Kulturmetropole Berlin, 583.
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union eine „Nationaloper sozialistischen Typs“ sein sollte.37 Eine Musikgeschichte der DDR beschrieb sie sogar als ein zentrales Symbol für die Deutschlandpolitik der DDR : „Es ging darum, den Prozess des Kampfes um die Wiedervereinigung Deutschlands, für die die Deutsche Demokratische Republik als Modell diente, künstlerisch widerzuspiegeln. Hierbei sollte der Oper eine Schlüsselfunktion zu kommen. Immer wieder hatte sie in der Geschichte weltumfassende Begebenheiten abgebildet, relativ große Publikumskreise erreicht und aktiviert. Von ihr war daher die Rede in zentralen Beschlüssen staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, in zahlreichen Diskussionen und Gesprä chen.“38 Die Komische Oper reflektierte die Ideale des politischen Systems als Bühne einer ‚volksnahen‘ Kunstauffassung für die ‚werktätige Bevölkerung‘ nicht weniger. Dem gegenüber kam der Deutschen Oper, deren Eröffnung im Sommer 1961 unmittelbar der Bau der Mauer folgte, eine völlig neue Aufgabenstellung als „Flaggschiff des freien Westens“ zu.39 Fortan entwickelten sich zwei Opern zum ‚ersten Haus‘ im Staat, empfingen die Mächtigen zu Gala abenden und repräsentierten auf Gastspielen im Ausland ihre jeweilige Interpretation von ‚deutscher Kultur‘. Der große Unterschied der Regime und politischen Systeme in Ost und West fiel, was die Oper betrifft, denkbar gering aus. Nach der Wiedervereinigung und dem 1991 gefällten Beschluss, Berlin zur Hauptstadt und Regierungssitz des geeinten Landes zu machen, nahmen Kanzler und Präsidenten nun wieder die prominenten Plätze in der Mittelloge im geschichtsträchtigen Haus Unter den Linden ein. Das Opernhaus wurde durch den Vollzug seiner tradierten und somit aufrechterhaltenen repräsentativen Funktion durch das neue politische Personal zu dessen Bühne und einem Monument der neuen Metropole, das die Konstruktion einer Kontinuität von der früheren zur neuen Hauptstadt herzustellen vermochte – und zwar Dank dem sublimen Charakter der beherbergten Kulturinstitution vermeintlich ohne den historischen Ballast, den das Haus als Herrschaftsinstitution Preußens, des Kaiserreichs, des Nationalsozialismus und der DDR angesammelt hatte, mitzuführen.40 37 Vogt-Schneider, „Staatsoper“. Vgl. auch Neef/Neef, Deutsche Oper ; Bien, Oper. 38 Brockhaus/Niemann, Musikgeschichte, 117. 39 Friedrich, Zeit für Oper, 114. 40 Vgl. Zalfen, Die Hauptstadt.
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Eine vergleichbare Kontinuität der Nähe zur Macht kennzeichnet auch die Entwicklung der Pariser Oper. Vom Absolutismus über die Revolution und das Empire bis zur V. Republik verlieh sie der Oper stets eine Rolle, die über die Unterhaltung oder Präsentation von Kunst hinausging – „incarnacion du pouvoir, comme le voulait Louis XIV, il est aussi au cœur de l’État“.41 Der Auftrag Napoleons III. zum Bau des Hauses war unmissverständlich darauf ausgerichtet, Frankreich und Paris an die Spitze der europäischen Opernkultur zu bringen ; das Haus sollte „le plus grand et le plus beau du monde“ sein und an Pracht keine Konkurrenz kennen – „(sera) une salle d’opéra digne de Paris et de la France“.42 Aufgrund dieses Gesamtanspruches war es notwendig wie möglich, die Oper, die der Kaiser 1860 als Symbol seines eigenen Ruhms und dem seines Empire in Auftrag gegeben hatte, umzuwidmen – denn ironischerweise erlebten weder der Kaiser noch sein Kaiserreich mehr dessen Eröffnung. Den Platz in der Kaiserloge nahm am Abend der Inauguration wie danach der Staatspräsident der III. Republik, MacMahon, ein. Kritische Stimmen, die forderten, die Oper als noch frisches Symbol der Monarchie zu schließen – „fermé pour cause de République !“43 –, erlangten in Staatskreisen kein Gehör. Die Republik trat das Erbe ohne große Modifikation an, und der Bau erfüllte auch in einem republikanischen System die affirmative Repräsentation des nationalen Prestiges nach innen und außen. Das bedeutete für den Opernbetrieb in erster Linie, als Rahmen für die soirées officielles, das heißt Galaveranstaltungen und Staatsbesuche, zur Verfügung zu stehen. Auch in der V. Republik, nach 1959, diente das Palais Garnier dem Galabetrieb noch fast so oft wie dem ‚normalen‘ Publikum. Mehrheitlich staatstragende Veranstaltungen von kleineren politischen und diplomatischen Empfängen bis zu aufwändigen Aufführungen anlässlich von Staatsbesuchen belegten das Haus. Zwar kehrte das breite Publikum unter der Ära Liebermann (1973–1980) zurück und Firmenempfänge mischten sich zunehmend unter die offiziellen Zeremonien, doch noch 1980 formulierte das cahier des charges des Opernhauses, welches jährlich die Leistungsvereinbarungen mit dem Kulturministerium festhielt, die Einrichtung 41 Jourdaa, A l’opéra, 17, „and yet we find it clearly placed in every important era somewhat near the centre of power“, fügte Bereson, The Operatic State, 34, hinzu. 42 Patureau, Palais Garnier, 11. 43 Octave Mirabeau, zit. nach Saint-Pulgent, Syndrome, 154.
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„est tenu, lorsque la demande en est faite par le ministre chargé de la culture, d’organiser à l’occasion de solennités nationales des spectacles exceptionnelles de gala en dehors des jours d’abonnements“.44 Für die staatliche Repräsentation zur Verfügung zu stehen, gehörte mithin zu den genuinen Aufgaben der Oper. Dies reflektierte auch der ‚Gebrauch‘ der Oper durch Mandats- und Würdenträger. Zahlreiche Ämter verfügten – wie früher einmal der Hofstaat – über eigene Plätze, die ihnen an jedem Abend potenziell zur Verfügung standen. Das heißt, rund einhundert Sitze standen nie zum Verkauf, sondern auf der arrêté de servitudes, einer Liste, welche die Anmeldungen und Ansprüche für die kostenlosen Karten der Vertreter staatlicher Institutionen enthielt. Dabei standen Ministerien, Elyséepalast und Hôtel de Ville, Senat und Assemblée Nationale im Zuschauerraum verteilte feste Plätze zu.45 Die Präsidenten, die in der Proszeniumsloge Platz nahmen, die Minister und Abgeordneten, deren Sitze sich im Raum verteilten, wechselten, wie es die Könige und Kaiser zuvor getan hatten – die ihren Ämtern zugeordneten Plätze, aber blieben in der Regel die gleichen. „Les insignes et les faveurs notoires du pouvoir sont concentrées ici“46 – die Oper blieb ein Abbild der staatlichen Institutionen und ihrer Relation zueinander ; sie waren in den Zuschauersaal eingeschrieben. Wie sich der moderne französische Staat dabei einer ihm eigentlich völlig fremden Form bediente, hat André Boll in seinem polemischen Essay über die Zukunft der Oper konstatiert : „En vérité, la Ve République, comme l’eût fait un parvenu, n’a conservé l’opéra qu’au titre d’emblème magnifique de son prestige.“47 Eine entscheidende Dimension der repräsentativen Staatsoper, die in Paris und London stärker betont wird als in Berlin, ist das nationale Prestige. Am Beispiel der Opéra-Bastille in Paris wird deutlich werden, welche Reichweite die Nation als an den Staat angelagerte Identifikationsfläche hat. Anders als die soziale Verantwortung, welche durch die Berufung auf die ‚peoples opera‘ in London angemahnt wurde, zielte in Paris die ‚opéra populaire‘ zudem auf einen nationalen Vertretungsanspruch ; die Oper des ‚Volkes‘ sollte die Oper aller Franzosen sein. 44 Zit. nach Sarazin, Opéra de Paris. 45 Vgl. ebd., 137–143. 46 Jourdaa, A l’opéra, 94. 47 Boll, L’Opéra, 61.
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Doch gerade weil die musikalische Tradition in Großbritannien weniger ausgeprägt ist als in Deutschland und Frankreich oder auch in Italien, ist hier auch der Anspruch darauf, mit der Oper die kulturelle Leistungsfähigkeit des eigenen Landes zu beweisen, besonders auffällig. „In this country we have only five opera companies – Covent Garden, E NO, Opera North, Welsh National Opera and Scottish Opera. That is all that we can arrange, and it is a major scandal, when compared to the position in the rest of the world“, erklärte noch am Beginn des 21. Jahrhunderts ein Mitglied des Oberhauses.48 Um dennoch den entsprechenden internationalen Glanz zu sichern, hat gerade die Londoner Royal Opera stets eine bevorzugte Förderung durch den Arts Council genossen.49 Die Oper als Flaggschiff kultureller Reputation war stets von eminenter Bedeutung. So verteidigte – wenn auch nur im Brustton britischen Understatements – MP Peter Thomas schon 1959 vor dem House of Commons das (erst seit kurzem) staatlich unterstütze Opernhaus. Es sei „a national asset of international repute and renown. (…) In the last few years it has produced some of our finest ambassadors. (…) I feel that it is really (…) our privilege to uphold it“.50 Hier zeigt sich, dass die Staatsräson sowohl über den persönlichen Vorlieben für oder gegen die Oper steht, als auch über den normativen Grundlagen der britischen Kulturpolitik. Als die Oper Ende der 1990er-Jahre der geschilderten heftigen öffentlichen Kritik ausgesetzt und die Legitimität ihrer Subventionen in Frage gestellt wurde, bangten viele, wie Lord Inglewood im House of Lords, um das Ansehen des Landes : „We in this country want a world class arts scene and it is integral that if we have a world class arts scene we have world class opera. It is not my favourite art form, but if that is our aspiration then that is what we should set our stall out to do.“51 Selbst wenn keine Identifikation mit der Kunst der Oper bestand, musste man mit den europaweit standardisierten staatlichen Statussymbolen mithalten können. Dieser kurze Überblick der Geschichte königlicher Opernhäuser bildet eine Basis, auf der sich von Kontinuitäten und Bezügen sprechen lässt, wenn am Ende 48 HoL, Lord Sheldon, 12.02.2003, 691. 49 „People assume that, no matter what disasters happen at Covent Garden, it will be bailed out at the 11th hour“, TT, 07.12.1997. 50 HoC, 23.01.1959, Hansard, 598 (1959), 565. 51 HoL, Lord Inglewood, 18.12.1999, 752f.
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des 20. Jahrhunderts an diese repräsentative Tradition angeknüpft wird. Nicht allein die Neubauten in Berlin und Paris, sondern auch die Entwicklungen in dem repräsentativen Gebrauch der Oper in der Demokratie zeugen davon, dass die symbolische Macht der Oper tatsächlich zumindest zum Teil auf den modernen demokratischen Staat übergegangen ist. Die Chancen, die sie dort bietet, und Grenzen, auf die sie dort stößt, werden in den folgenden Abschnitten diskutiert. 1.2 Die politischen Funktionen von Repräsentation
Um die repräsentative Funktion der Oper für den modernen Staat präzise ergründen zu können und zu verstehen, welche Problematik sich damit für das Verhältnis von Staat und Oper in der untersuchten Zeit und an den betrachteten Orten ergibt, bedarf es einer weiterführenden begrifflichen und funktionellen Klärung der Kategorie der Repräsentation. Der klassische Begriff der Repräsentation im Bereich des Politischen verweist auf die repräsentative Demokratie, in der die Repräsentation der Ersatz für die Versammlung der Bürger selbst wird.52 Verstanden als das wieder Erscheinenlassen von etwas oder jemandem, liegt die sprachliche Ähnlichkeit zur Repräsentation als Inszenierung auf der Hand, doch trennt sie die Annahme, dass hier nicht die Macht selbst zum Erscheinen gebracht, sondern das Abbild des nicht selbst präsenten Volkes, von dem die Macht ausgeht, vergegenwärtigt werden soll. Es geht daher eher um das Vertreten als das bildliche Vergegenwärtigen.53 So konstituiert sich im politischen Repräsentationsbegriff von vornherein ein normativ verankertes Gegengewicht zum absolutistischen, monarchischen System. Die repräsentative Funktion der Oper wurde aber im vorangehenden Abschnitt gerade darin sichtbar, dass sie nicht nur auf der Bühne, sondern auch als Raum und Gebäude performativ die Vergegenwärtigung ihrer feudalen Vergangenheit vollziehen kann, ja, sich sogar zuspitzen lässt, dass nirgendwo „das zähe Überleben des Repräsentationscharakters der ehemaligen Fürstenopern deutlicher in Erscheinung tritt“54 als in den institutionellen Strukturen und festlichen Ereignissen heutiger Opernhäuser. 52 Vgl. Landshut, Der politische Begriff ; Leibholz, Die Repräsentation. 53 Vgl. v. Alemann/Nohlen, Repräsentation. 54 Engel, Musik und Gesellschaft, 23.
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Um diesen Widerspruch zu überwinden, bedarf es des Zugriffs auf einen kulturalistisch erweiterten Repräsentationsbegriff, der weniger auf die Herstellung und Legitimation politischer Verfahren zielt, als vielmehr auf die Konstituierung sozialer und politischer Wirklichkeiten ; weniger auf das demokratische Ideal als vielmehr auf die kommunikativ organisierten Prozesse und kulturellen Formen.55 Als Repräsentationen werden in diesem Sinne öffentlich verhandelte Vorstellungen und Darstellungen verstanden, die gesellschaftliche Realitäten der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft darzustellen beanspruchen. Sie können dabei gesellschaftlich konsensfähig oder kontrovers, verankerte Normen oder utopische Projektionen sein. Politische Repräsentationen sind vor diesem Hintergrund eben nicht bloße Widerspiegelungen von sozialen Ordnungen, sondern auch Modelle der Wirklichkeit und des Gemeinwesens bzw. einer akzeptierten Idee dieses Gemeinwesens. Sie haben mithin sowohl expressiven als auch konstitutiven oder, wie Beate Binder es formuliert hat, formativen Charakter : „Sie formieren den Blick auf Wirklichkeit, indem sie Deutungen vermitteln und eine spezifisch strukturierte Wahrnehmung der Wirklichkeit nahelegen.“56 Dies erfolgt durch kulturelle Verfahren und Formen – in Diskursen, in Gesetzen, in Bildern, in Ritualen und Gesten –, die in der Lage sind, jene Identifikation, jenen Konsens und jene Legitimität herzustellen, welche die entsprechende soziale Ordnung, ihr Gedächtnis und ihre Ambitionen ausmachen. Das heißt, sie müssen sich des Zeichenvorrats einer politischen Gemeinschaft bedienen.57 Politische Wirklichkeit ist eine wertvolle Ressource von Macht – das macht sie ebenso relevant wie umstritten. Das formulierte Repräsentationsverständnis ist daher keinesfalls von politischen Prozessen und Fragestellungen losgelöst, vielmehr steht es in einem engen theoretischen Zusammenhang zur politischen Symbolforschung, welche die Problematik nach den angemessenen Formen der Staatsrepräsentation ebenso diskutiert wie das Verhältnis von Ästhetik und Politik bzw. die Ästhetisierung der Politik, das darin zum Ausdruck kommt.58 55 Hall, Representation ; Bußhoff, Politische Repräsentation ; Buchstein u.a., Integration. 56 Binder, Hauptstadt, 179. 57 Hoffmann, Der Reichstag. 58 Vgl. v. Beyme, Die Reichstagsverhüllung ; Hitzler, Inszenierung, 42 ; Sarcinelli/Tenscher, Eine Einführung ; Göhler, Politische Symbole ; vgl. Schulz, Republikanismus, 78.
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Lange dominierte diese Diskussion die sowohl normativ wie analytisch begründete Unterscheidung zwischen „Formen, in denen das politische Gemeinwesen sich darstellt, (die dessen) kulturelle Grundlagen zum Ausdruck bringen“59 oder zur Vermittlung von Politik beitragen können auf der einen Seite, und „ästhetischen Inszenierungen“, die nur noch bloßer Schein, Selbstzweck oder gar Verschleierung des wahren Politischen sind, auf der anderen.60 Die als notwendig gedachte Duplizität von Repräsentation und Wirklichkeit in der Politik weicht aber in der kulturalistischen Erweiterung einem Verständnis, demnach Symbole im weitesten Sinne als konstitutive Momente der Her- und Darstellung politischer Wirklichkeiten begriffen werden. Eine erfolgreiche symbolische Politik zeigt sich dann weniger allein darin, dass sie eine komplexe politische Entscheidung in eine simplifizierende Darstellung gießt oder mittels einer aufwändigen personellen Selbstinszenierung von einem Fehler an anderer Stelle abzulenken trachtet. Der Erfolg symbolpolitischer Strategien ist vielmehr auch darin zu bemessen, „inwiefern es den deutungskulturellen Eliten gelingt, ihre Sinnangebote bis in die Referenzkultur hinein zu lancieren“,61 das heißt eine Leistung zu erbringen, die sich in die kulturellen Muster einer Gesellschaft einzufügen versteht und deshalb akzeptiert wird. Gerade ein Ort wie die Oper, wo sich diese Elemente durch das Ineinandergreifen von Kunstproduktion und Machtdarstellung, kulturpolitischer Programmatik und kultureller Identifikation nicht trennen lassen, verdeutlicht die Relevanz einer solchen begrifflichen Erweiterung. Den Besuch eines Staatsoberhauptes in der Oper allein als Zeichen für den Willen zu einer üppigen Kulturförderung zu sehen, als Ausdruck seiner persönlichen kultivierten Gesinnung oder als Auftritt, der etwa von schwierigen Koalitionsverhandlungen im Hintergrund ablenken soll, griffe entschieden zu kurz. Beides spielt (das wird in den folgenden Kapiteln am Pariser Beispiel deutlich) eine Rolle, würde aber insgesamt der komplexen Kommunikationsstruktur einer modernen Gesellschaft nicht gerecht. Vor allem würde die Oper in ihrer repräsentativen Funktion mit anderen Kultureinrichtungen austauschbar, denn die bezeichneten Funktionen können auch Museen und Theater erfüllen. Die 59 Meyer, Repräsentativästhetik, 317, 324. 60 Vgl. etwa Edelman, Politik als Ritual, xviif. 61 Dörner, Politischer Mythos, 65.
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herausgearbeiteten Mechanismen der Repräsentation berücksichtigend, lässt sich die Oper erfassen als ein Ereignis, das drei Elemente zusammenführt : Erstens, für das Selbstverständnis des Staates konstitutive Normen (Kulturstaat, Kultiviertheit, Zivilisation), die auf spezifische Weise, nämlich durch die festliche Darbietung des Gesamtkunstwerkes Oper sinnfällig werden. Zweitens, eine architektonisch wie rituell tradierte und damit anerkannte kommunikative Struktur, welche die theatralische Einbettung von politischen Inszenierungen und ihre Rezeption durch die Teilhabe eines Publikums ermöglicht. Drittens schließlich, die Sublimierung ‚harter‘ politischer Interessen durch den Bezug auf eine Vergangenheit und ihre kulturellen Errungenschaften – da es sich ja explizit stets nur um Kultur handelt, ohne die politische Last mitzuführen. Wenn dies gelingt, fungiert eine Staatsoper als ein Medium zwischen historischen und gegenwärtigen Machtansprüchen sowie zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Die Oper zeigt, wie es möglich ist, die von der Monarchie geschaffenen Räume als „Matrix und Darstellungsfläche“ einer demokratischen Legitimität zu benutzen.62 Als Repräsentation einer Ordnung (oder einer Tradition) eignet sie sich nicht nur dazu, repräsentative politische Auftritte als Zeichen des Wohlstands zu umrahmen, sondern diese Ordnung zu vollziehen und damit ihre Gültigkeit zu bestätigen.63 Auf diese Weise werden Bilder produziert, die eine Stadt oder ein Staat von sich schaffen und vermitteln möchte, aber auch seine idealen Selbstbilder.64 Zum einen, weil man sich durch den Bau oder die Förderung bestimmter kultureller Einrichtungen, Orte oder Stätten als modern, geschmackvoll, kultiviert, frei etc. darstellen kann – „durch die Verbindung mit vorzugsweise ‚hoher‘ Kunst stellt sich Herrschaft möglichst als schlechthin unangreifbar und vollkommen dar : Wo geherrscht wird, da ist es
62 Vgl. Schulz, Republikanismus, 78f. 63 Vgl. Bosseno/Tartakowsky, Présentation ; Fischer-Lichte, Theatralität ; dies., Ästhetik ; Früchtl/ Zimmermann, Ästhetik. 64 „In order to organize urban civilization, the State must set out in certain symbolic sites ist own distinctive cultural project“, schreibt Renard, A Cultural Elan, 128f.; vgl. auch Gottdiener/Budd, Key Concepts.
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schön“.65 Zum anderen, weil auf diese Weise explizit die (neben dem unsichtbar zu haltenden Gewaltmonopol) eine zentrale Macht des modernen Staates demonstriert werden kann : die Erhebung und Redistribution des Geldes seiner Bürger. Mit dem Unterhalt einer Oper verbindet der Staat materielle und kulturelle Dimensionen des staatlichen Funktionierens – Hans Abbing nennt dies treffend die „politische Symbolik der Subvention“.66 Die Staatsgewalt im Max Weber’schen Sinne darf nicht nur Legitimität durch die Anerkennung der von ihr dominierten Menschen erhalten, sondern auch, weil sie erfolgreich solche multiplen Realitäten zusammenführen kann.67 Dieser Leistung kann eben durch Akte Ausdruck verliehen werden – etwa des Besuchs eines hochrangigen Vertreters des Staates – oder durch Reden über die ermöglichte kulturelle Leistung. Die Vertreter des Staates haben in einer Demokratie zwar das selbst auferlegte explizite Verbot, in die künstlerischen Prozesse, die sie fördern, einzugreifen, aber die Bindung zwischen Staat und Oper kann sich gerade durch Rhetorik, das heißt die Formulierung von Zielvorgaben und Deutungen, als besonders eng beweisen. Nach der Premiere oder Gala traten und treten die Kultursenatoren und Bürgermeister, Kulturminister und Präsidenten aus den zentralen Logen heraus und an die Rednerpulte, um mit dem Erfolg der Staatsoper auch den des Opernstaates zu feiern. 1.3 Die ästhetischen Neutralisierungsstrategien des demokratischen Staates
Für den empirischen Kontext der Analyse der repräsentativen Staatsopern ist Kulturpolitik als jenes staatliche Instrument zu betrachten, das maßgeblich an der Steuerung der Symbolproduktion beteiligt ist : „A nations search for its identity can be seen from those aspects of its cultural policy which are concerned with projecting an image ; the aspects tend to be fairly consistent over time and with each other.“68 Als Rahmenbedingung für die kulturelle Produktion der Gegenwart sowie die Bewahrung jener der Vergangenheit besteht eine ihrer 65 Heister, Macht der Musik, 20. 66 Abbing, Artists, 241. 67 Vgl. Vincent, Le Pouvoir. 68 D’Angelo/Vespérini, Cultural Policies, 23.
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zentralen Aufgaben darin, jenen kulturellen Kanon zu bestimmen, der die kulturellen Welt- und Wertvorstellungen der Menschen zugleich reflektiert und bestimmt. Weil hierin der entscheidende Zusammenhang zwischen Kulturpolitik und politischer Kultur eines Landes liegt,69 gilt es dabei die Balance zu finden zwischen den tradierten Formen, welche die Erinnerungen und Mythen der Gesellschaft, die sich im kulturellen Erbe (Patrimoine in Frankreich, Heritage im England) manifestieren, und jenen, welche die zeitgenössischen Strömungen markieren. Orientiert sich die Kulturpolitik eines Staates ausschließlich oder zu sehr am kulturellen Erbe, besteht die Gefahr, die Kulturlandschaft zu einem „Themenpark à la Disneyland“ zu machen, wie es Simon Mundy polemisch formuliert hat ;70 liegt der Schwerpunkt der staatlichen Förderung zu weit im Zeitgenössischen, droht sie kulturelle Verwurzelungen zugunsten des Modischen und sich ständig Wandelnden zu vernachlässigen. Der daraus entstehende Konflikt wurde in Teil III sichtbar – hier erhält er eine zusätzliche Dimension : Die Oper gehört durch ihr in der Regel konservierendes wie konservatives Repertoire und Zeremoniell sowie ihre Bauten zweifelsohne zum Bereich des kulturellen Erbes. Wo sie allerdings ohne eigene ‚nationale‘ Tradition besteht oder als zeitgenössisches Theater kulturpolitisch gewollt ist und gefördert wird, kann sie auch mit dem Erbe in Konkurrenz treten. Damit erhält die Kulturpolitik Einfluss auf den repräsentativen Kontext und gibt einen gewissen Deutungsspielraum für deren symbolische Funktion vor. Die repräsentative Oper wirft jedoch für die normativen Setzungen des modernen demokratischen Staates ein doppeltes Problem auf : Das erste wird unmittelbar aus der gerade erörterten vieldeutigen Geltung des Begriffes der Repräsentation deutlich : Das Sich-zeigen von Politikern ist an die Existenz einer bestimmten Gruppe, die und vor der man repräsentiert, gebunden. Der letzte Teil hat aber gerade verdeutlicht, dass die Gesellschaften der Gegenwart eben dadurch charakterisiert werden, dass sie ihre individuellen Lebensentwürfe und -stile leben und dafür wenige Anknüpfungspunkte bieten. Wo sich sozial und kulturell eindeutig abgrenzende und definierende Kollektive wie Milieus oder Klassen auflösen, ist es nicht mehr möglich, sie und vor ihnen mit ihren cha69 Vgl. Ridley, Tradition, 225. 70 Mundy, Cultural Policy, 17.
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rakteristischen Symbolen, Verhaltens- und Ausdrucksformen zu repräsentieren. Statt ästhetischer Homogenität müssen Staat und Politiker inhaltliche Pluralität repräsentieren. Zum zweiten stellt sie ein Kosten-Nutzen-Verhältnis zwischen dem opernfördernden Staat und der staatsrepäsentierenden Oper her ; doch die Staatsoper als repräsentativer ‚Gefälligkeitskunstbetrieb‘ ist mit der demokratischen Normenstruktur der Kulturpolitik, die diese Prozesse steuern soll, nicht vereinbar. Im Kanon abendländischer Normen besteht der hohe Wert von Kunst und Kultur in der Erwartung an ihre Fähigkeit, eine Utopie zu vermitteln und politische oder gesellschaftliche Differenzen zu transzendieren. In dieser Beziehung muss der künstlerische Raum frei sein von Interessen und der politische frei von Ästhetik, „das politische Geschehen gilt auch und gerade in der Demokratie als unästhetisch“.71 Der Konflikt zwischen staatlichem Eingriff und künstlerischer Freiheit existiert in jeder europäischen Gesellschaft. Die Freiheit der Kunst ist ein überall normiertes oder sogar verfassungsrechtlich verankertes Gut und die Indienstnahme der Kunst durch die Politik eines der markantesten gemeinsamen Tabus der westlichen Welt. Entsprechend gleichen sich bestimmte Merkmale, die als systemimmanente Kriterien der Demokratie auch deren Repräsentationsstrategien kennzeichnen müssen. Sie beschreiben in der Regel eine „Umkehrung der Visibilität“, wie sie Herfried Münkler für die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit politischer Prozesse in verschiedenen Zeiten und politischen Systemen analysiert hat : Dem vordemokratischen oder autokratischen Zusammenhang zwischen der Inszenierung der Macht bzw. Ordnungsstiftung und der Verborgenheit von Entscheidungsstrukturen steht demnach in modernen demokratischen Systemen die Notwendigkeit gegenüber, die Staatsgewalt so zurückhaltend (oder abstrakt, ließe sich ergänzen) wie möglich zu inszenieren, dafür ihre Entscheidungsprozesse oder etwas, das sie symbolisiert, in den Vordergrund der Darstellung zu rücken.72 In der Architektur bilden etwa transparente, gläserne oder baulich nüchterne Konstruktionen die ästhetischen Entsprechungen von demokratischer Öffentlich-
71 Grasskamp, Die unästhetische Demokratie, 7. Der demokratische Politikstil gilt, so hat es Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, 15, pointiert zugespitzt, als einer des „grauen Anzugs“ – langweilig, berechenbar, ordnungsgemäß. 72 Vgl. Münkler, Visibilität.
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keit und Sachorientierung.73 In Presse- und Fernsehbildern gilt es, Prozesse und Entscheidungen zu visualisieren, nicht statisch Positionen oder Relationen der Macht darzustellen.74 Ein genuin demokratischer Formenkanon oder ein neues Repräsentationssystem hat sich dabei jedoch nicht herausgebildet. Dies veranschaulichen die unterschiedlichen Bedeutungen, welche Ästhetik in der Politik verschiedener Länder hat und haben darf. Innerhalb des antiästhetischen Paradigmas demokratischer Politikdarstellung existiert eine Vielzahl bestimmter ‚nationaler Politikstile‘, die determinieren, ob ein Staat als imposant oder transparent, Respekt einflößend oder bürgernah, integrativ oder pluralistisch repräsentiert wird.75 Diese Politikstile entstehen einerseits auf Grund der jeweiligen „spezifischen Art und Weise politischer Willensbildung, Problemlösung und Entscheidungsfindung, beispielsweise eher konsensdemokratische Strukturen in Verbindung mit korporatistischen Strukturen oder eher konfliktorische Stile in mehrheitsdemokratischen Systemen“.76 Das heißt, stets reflektieren die ästhetischen Ausdrucksformen eines Staates auch sein Selbstverständnis sowie seine spezifische Funktionsweise. Daher zeichnen sich selbst in den ähnlichen westeuropäischen Demokratien markante Unterschiede der staatlichen Repräsentationsstrategien ab – der föderal strukturierte Bundesstaat präsentiert und repräsentiert sich anders als der unitarische Zentralstaat, die konstitutionelle Monarchie anders als die Republik. Ob eine ‚nationale‘ Oper im Herzen der Hauptstadt auch das Zentrum kultureller Staatsrepräsentation ist oder zahlreiche kleine Stadttheater als Bühnen der lokalen Amt- und Würdenträger fungieren, hängt von diesen Differenzen ab. Zum anderen aber prägen die verschiedenen historischen Erfahrungen und die noch lebendige Berufung darauf in Berlin, London und Paris unterschiedliche Haltungen zur ästhetischen Repräsentation von Politik. Die Demokratien haben jeweils die Formen- und Bildersprachen aus der historisch-politischen Tradition, die sie vorgefunden haben, übernommen, angepasst oder sich davon abgegrenzt.77 73 Vgl. Vorländer, Ästhetik, 24 ; Kraemer, Ästhetik. 74 Vgl. Sarcinelli, Von der repräsentativen zur präsentativen Demokratie, 194f. 75 Vgl. Depenheuer, Staatskalokagathie, 10. 76 Vgl. Sarcinelli, Von der repräsentativen zur präsentativen Demokratie, 191. 77 Vgl. Vorländer, Ästhetik, 18.
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In Deutschland verbot sich eine offensichtliche Inszenierung von Politik vor allem auf Grund der Negation jener Ästhetisierung der Politik, welche der Nationalsozialismus betrieben hatte. Ästhetik war von der Inszenierung von Parteitagen über die Planung ganzer neuer Städte bis hin zu den rassistischen Selektionsmerkmalen ‚wertvoller‘ und ‚unwerter‘ Menschen ein konstitutives Element des nationalsozialistischen Staates und seiner Politik. Folglich prägte die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik ein tief sitzendes Misstrauen gegen jedwede Form der politischen Inszenierung. Zum bestimmenden Prinzip der Staatsrepräsentation in der sogenannten Bonner Republik avancierte der Kontrast zu der Diktatur – sowohl des NS als auch des „politischen Standardrepertoires der Einparteienherrschaft“ in der DDR . „Politische Selbstdarstellung zog sich auf das Prinzip der Nüchternheit zurück.“78 Nicht zuletzt die Oper war auf Grund der intensiven Einbindung insbesondere des Werks Richard Wagners in die nationalsozialistische Ideologie ein für die Politik verbranntes Terrain.79 An die Stelle eines ‚nationalen Pathos‘ sollte die ‚reale‘ integrative Kohäsionskraft des Wirtschaftswunders und des Sozialstaates treten, die eines antiästhetischen Symbolhaushaltes bedurfte.80 In diesem Zusammenhang erscheint die bürgerlich nüchterne Bewertung der Oper durch die Kulturpolitik der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik als geradezu zwangsläufig. Der Opernbesuch gehörte nach wie vor zum staatsmännischen Pflichtprogramm, wurde aber als ein Akt der kontemplativen Auseinandersetzung mit ernster Kunst zelebriert, auf die das Diktum des langjährigen Vorsitzenden des Deutschen Bühnenverbandes August Everding, „Oper ist Schwarzbrot !“ passte.81 In Großbritannien gilt zwar das puritanische und calvinistische Erbe als Ursache für eine Abkehr von allen ästhetischen Darstellungsformen im öffentlichen Leben, die wie die Kunst als frivol oder gar verführerisch sündhaft galten. 78 Klein, Reichstagsverhüllung. 79 Nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sich die Enkel des Komponisten und Söhne der HitlerVertrauten Winifred Wagner, Wolfgang und Wieland, mit der berühmten Bitte an das Publikum, „von politischen Gesprächen/Äußerungen abzusehen“. Gerhard Schröder war der erste Kanzler der Nachkriegszeit, der die Bayreuther Festspiele wieder besuchte, Angela Merkel die erste, die einer Eröffnungspremiere beiwohnte. 80 Voigt, Des Staates neue Kleider ; ders., Rituale und Symbole ; Gauger/Stagl, Staatsrepräsentation ; v. Beyme, Reichstagsverhüllung. 81 Zit. in Klinger, Staat, 81.
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Auf der anderen Seite jedoch kennzeichnet das Land die Kontinuität einer bildreichen politischen Öffentlichkeit. Nicht zuletzt das Überleben der Monarchie als ebenso konstitutives wie ‚rein symbolisches‘ Element des politischen Systems, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen diesen beiden Polen. Deren abnehmende politische Bedeutung begünstigte ihren Funktionswandel hin zu einer Monarchie der Repräsentation, die sich heute als „Medienmonarchie“ zeigt.82 Sie wurde zu einer symbolischen Inkarnation Großbritanniens, in der Werte, Identitäten, Bilder und Rituale einen Rahmen finden. Hier zeigt sich sozusagen eine systemimmanente Aufgabenteilung, welche die Trennung des politischen Geschehens, das vor allem handlungs- und sachorientiert sein soll, auf der einen und dem integrativ wirkenden Symbolrepertoire auf der anderen Seite. Die Kunst spielt darin keine unmittelbare Rolle, denn nirgendwo ist die Sorge, der Kulturbetrieb müsse für die Subventionen etwas leisten, so stark ausgeprägt wie in der britischen Kulturpolitik. Es war entsprechend zuletzt im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten von Elisabeth II. 1953, dass die Oper in das politische Zeremoniell eingebunden wurde und der Komponist Benjamin Britten den Kompositionsauftrag für eine Oper erhielt. Das Resultat, die Oper Gloriana, zeigte mit dem Rückbezug auf Königin Elisabeth I. dann aber wiederum eine kritische Auseinandersetzung mit den Repräsentationssystemen verschiedener Epochen. Das Kontrastbeispiel der Briten für ihre normativ festgeschriebene Trennung von Kunst und Politik bildet nicht selten gerade Frankreich : „The trouble only arises, as it did in France, when government interference results in using art to manipulate the national identity.“83 In Frankreich, wo die Republik zwar mit der Politik der Monarchie gebrochen hat, deren Bilderwelten aber stets wiederbelebt und weitergelebt zu haben scheint, zeigt das Repräsentationssystem eine mitunter schwer trennbare Verschränkung von Kultur und Politik. Gerade die alles dominierende Rolle des Präsidenten sowie die für die V. Republik charakteristische durchsetzungsstarke Exekutive gegenüber einem vergleichsweise schwachen Parlament und intermediären System hat den Begriff der ‚monar-
82 Vgl. Mergel, Großbritannien, 149ff. 83 HoL, Baroness Rawlings, 18.03.1998, 722.
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chie républicaine‘ hervorgebracht.84 Davon wird auch die Staatsrepräsentation maßgeblich geprägt ; vor allem in den Kultur- und Städtebauprojekten, welche die Präsidenten der V. Republik fast durchgängig in der Hauptstadt realisieren ließen, um ihrer Herrschaft baulichen Ausdruck zu verleihen. Kulturpolitik hatte damit häufig die dezidierte Doppelrolle, das kulturelle Leben zu unterstützen und dem Staat zugleich kulturelle Darstellungsformen zu verleihen. Das heißt, das System erscheint nicht nur als eine republikanische, sondern auch als eine ‚monarchie culturelle‘, manchmal verglichen mit der des aufgeklärten Absolutismus.85 Die Prägung des politischen Alltagsgeschäftes durch Mythen und Symbole ist ungleich ausgeprägter als in Deutschland oder Großbritannien. Die Fluchtpunkte dieser Inszenierungen sind dabei ungeachtet der kontinuierlichen monarchischen, also personellen Repräsentationsstrategien, in der Regel die Nation, also die „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) aller Franzosen, und der revolutionäre Gründungsmythos des Landes.86 Doch nicht zuletzt durch eine solche dem Staat zugebilligte Hoheit über die Identitätsstiftung entzündete sich in der V. Republik auch immer wieder die Kritik. In dem bestehenden System „la Culture est un autre nom de la propagande“87 ätzte der konservative Kulturkritiker Fumaroli und erinnerte daran, dass die Unabhängigkeit von Kunst und Kultur auch in Frankreich ein fest verankertes Gut sei. 1.4 Die Re-Ästhetisierung des Staates
Die veränderte Rolle des Staates und der Reichweite seiner Steuerungsfähigkeiten, sowohl durch die Ökonomisierung seiner Verantwortungsbereiche als auch die Pluralisierung ‚seiner‘ Gesellschaften, bringt nicht nur neue Strukturen, Handlungs- und Legitimationsmuster hervor, sie schafft auch den Bedarf an neuen Darstellungsformen – „when a new political reality comes into being it always involves the birth of a new political style“.88 Das Schlagwort, das dabei zum Schlüsselwort für Öffentlichkeit und Forschung avancierte, ist das der 84 Vgl. Große/Lüger, Frankreich ; Ziebura, Gesellschaftlicher Wandel. 85 Wangermée, Programme Européen, 41. 86 Vgl. Dörner, Politischer Mythos, 29ff.; Bosseno/Tartakowsky, Dramaturgie. 87 Fumaroli, l’État Culturel, 23. 88 Ankersmit, Political Representation, 159.
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„Mediengesellschaft“.89 Es bezeichnet zunächst die quantitative und qualitative Ausdehnung des Angebots an Publikations- und Kommunikationsformen. Damit einher gehen bestimmte Prozesse, etwa die Herausbildung neuer und auf bestimmte Themen und Zielgruppen spezialisierter Medienformen, die ständige Erhöhung der medialen Vermittlungsleistung und -geschwindigkeit sowie der reziprok ansteigende Bedarf an Informationen und Informiertheit in der Gesellschaft.90 Im Zuge dessen bleiben Medien nicht mehr nur Kanäle, die der einfachen Weiterleitung bestimmter Inhalte oder Darstellungen dienen, sondern entfalten eine eigene Dynamik, der sich die Informationen selbst sowie ihre Sender und Empfänger anpassen müssen. Vor allem darin besteht der unmittelbare Bezug zur politischen Informations- und Kommunikationspraxis : Ihre ‚Medialisierung‘ bezeichnet die zunehmende Verschmelzung von Medienwirklichkeit und politischer wie sozialer Wirklichkeit, die verstärkte Wahrnehmung von Politik als medienvermittelte Erfahrung sowie die Orientierung der Her- und Darstellungsprozesse politischer Entscheidungen an den Gesetzmäßigkeiten des Mediensystems.91 Das heißt, Repräsentation als Herstellung und Darstellung politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit geht heute gerade mit der Medialisierung öffentlicher Kommunikation und Rezeption von Politik einher ; folglich gilt auch, „wer Repräsentatives will, kommt ohne Medienspektakel nicht aus“.92 Selbstredend handelt es sich dabei um einen langsamen und graduellen Anpassungsprozess ; doch in Berlin, London und Paris wird deutlich, dass es in diesem Prozess auch Katalysatoren oder Auslöser neuer Repräsentationsstrategien gibt. In allen drei untersuchten Ländern bilden als ‚historisch‘ bezeichnete politische Wechsel den Ausgangspunkt für neue Darstellungsformen, Politikstile und mithin Beschleunigungen in der Medialisierung der Politik : Die erste sozialistische Regierung der Nachkriegszeit in Frankreich unter Präsident François Mitterrand zeichnete sich durch eine neue Beherrschung und Gewichtung der visuellen Medien in der Darstellung politischer Personen und Programme aus. Zahlreiche Analysen der Wahlkämpfe der Parti Socialiste 89 Vgl. Sarcinelli, Mediatisierung, 678f.; Meyer, Mediokratie. 90 Donges/Imhof, Öffentlichkeit. 91 Jarren, Mediengesellschaft ; Luhmann, Die Realität ; Gellner, Präsentation ; Thomson, Media. 92 v. Beyme, Reichstagsverhüllung, 308 ; vgl. auch Holert, Bildfähigkeit.
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(PS) und der Selbstdarstellung Mitterrands haben den perfekten Umgang mit visuellen Medien und Gebrauch von Mitteln der Werbung für die neue Politik festgestellt.93 Insbesondere der kulturpolitische Sektor wurde zum symbolischen Antriebsmotor für die neue Regierung ; der Kulturminister Jack Lang wurde vom Theatermacher zum Zeremonienmeister des Präsidenten.94 In dessen zweiter Amtszeit verschmolzen unter dem Zuständigkeitsbereich des Ministre de la culture, de la communication, des Grands Travaux et du Bicentenaire Kulturpolitik und Staatsrepräsentation in der Steuerung des pompösen Bauprogrammes der Grands Travaux und der Feierlichkeiten zum 200jährigen Jubiläum der Französischen Revolution (dazu gehört der im folgenden Kapitel untersuchte Neubau eines Opernhauses). In Großbritannien beendete der Sieg von New Labour 1997 die 18 Jahre währende Regierungszeit der Conservative Party und verspätet die auch in ihrer Darstellung leistungsbezogene und spröde Ära Thatcher. Mit dem Slogan „Cool Britannia“ präsentierte die Regierung Blair ihre Politik im Stil einer Marketingkampagne. Das politische Alltagsgeschäft verwandelte sich in „highly-scripted performances“,95 in dramaturgisch ausgefeilte Darstellungen. Der britische Publizist Jeremy Paxman hat argumentiert, dass mit dem Bezug auf Leistung und Individualität des Thatcherismus gerade auch die Vorstellungen kollektiver Identität verlorengegangen seien, „The country needs a new vision (…) a new role. But to whom can the nation look ?“96 New Labour schuf diese Vision und mit der programmatischen Kulturpolitik des ‚Creative Britain‘ auch ästhetisch ein neues Orientierungsangebot. Eine ähnliche Wende, in der die neue Form auch die neuen Inhalte anschaulich machen sollte, bildete auch der Wahlsieg der SPD in Deutschland 1998.97 Wegen des im gleichen Jahr erfolgenden Umzugs des Parlamentes sowie zahlreicher politischer und Regierungsinstitutionen nach Berlin, konnte sich der Politikstil der neuen Regierung als stilbildend für eine ganze neue Epoche behaupten, die sich fortan unter dem Begriff der Berliner Republik entwickelte. Die 93 Vgl. Delporte, Incarner ; de Beque, La cérémonie, 49. 94 Vgl. Colin, L’acteur. 95 Tönnies, New Labour, 119. 96 Vgl. Paxman, Friends, 334f. 97 Brosda, Aufstand.
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funktionale Schlichtheit der Bonner Hauptstadt kontrastierte markant mit der Selbstdarstellung in der neuen Hauptstadt als Ausdruck eines sich erneut wandelnden Staatsverständnisses in Deutschland. Teil der neuen Kapitale wurde die bereits in der Analyse der Berliner Opernreform dargestellte Bestimmung einer eigenen Hauptstadtkultur und hauptstädtischen Kulturpolitik, die vom Land Berlin sowie seitens des Bundes betrieben wurde. In den ersten Jahren dieser neuen Ära hingen der neue politische Stil und neue kulturpolitische Strukturen untrennbar miteinander zusammen.98 Es liegt auf der Hand, dass die neuen Bilderwelten und die von ihnen hervorgebrachten Repräsentationsstrategien mit den ästhetischen Mitteln und dem politischen Potenzial der Oper brechen. Oben wurde deutlich, dass die Fähigkeit der Oper, eine Vergegenwärtigung und Versinnbildlichung von Macht gerade dadurch zu leisten verstand, dass sie als liturgisches Live-Erlebnis von einer auch körperlich anwesenden Menge erlebt wird : Immer wieder stand in Bezug auf die Wirkung der Oper als gesellschaftlich und politisch relevantes Ereignis die Form ihrer Rezeption im Fokus. Gleicht man diese mit den massenmedialen Vermittlungen ab, die heute konstitutiver Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Verständigungsprozesse sind und nicht zuletzt auch zeitgenössische künstlerische Ausdrucksformen prägen, zeigt sich verwirklicht, was bereits Walter Benjamin in seinem berühmten Essay über „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschrieben hat : „Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeitaltern dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der optischen Kontemplation gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich, nach Anleitung der taktischen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.“99 Genau daraus gewinnt die Oper ihre Funktion der körperlichen Erzeugung und Befolgung von Machtstrukturen. Wie auch andere traditionelle Theaterformen besteht und besticht die Oper durch ihr kontingentes Rezeptionserlebnis. Eine Vielzahl von Eindrücken, Handlungen und Beziehungen spielt sich dabei vor den Wahrnehmungen der Zuschauer ab, die diese, ohne ihren jeweiligen Platz und Blickwinkel zu verlassen, selbst fokussieren und strukturieren müssen. Dem gegenüber steht der permanente 98 Vgl. die Beiträge in Hoffmann/Schneider, Kulturpolitik ; Klein, Symbolik. 99 Benjamin, Das Kunstwerk, 175.
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Perspektivenwechsel der modernen visuellen Medien, die mit Schnitt und Zoom die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken und damit dessen autonome Kontemplation unterbinden. Diese Feststellung einer Auflösung des einheitlichen Bildes ist weniger banal, als sie zunächst erscheint, denn sie wirkt eben nicht nur in der Rezeption des Kunstwerkes Oper, sondern auch des Ereignisses, und fordert den menschlichen Wahrnehmungsapparat nicht nur optisch, sondern auch physisch durch die „Zerstreuung“ der Rezeption.100 Die in der Oper geschaffene repräsentative Ordnung funktionierte vor allem wegen der dort gültigen Sehtechniken und des Wissens der Teilnehmer um die Bedeutung der räumlichen Ordnung. Ihre Rezeption ist an die Teilnahme in Form der körperlichen Anwesenheit zahlreicher Menschen gebunden, an deren Standort und die dadurch entstehende Perspektive. Diese Merkmale sind nicht nur für die künstlerische Darbietung konstitutiv,101 sondern auch für die Selbstdarstellung eines Königs, Machthabers oder der ihm unterstehenden gesellschaftlichen Ordnung. Doch in beiden Fällen ist die Wirkung auf eine Gesellschaft zugeschnitten, die nur eine direkte Kommunikation kennt. Die kommunikativen und repräsentativen Strategien der modernen Mediengesellschaft stehen den durch bestimmte Seh- und Verhaltensgewohnheiten ausgelösten Mechanismen der Repräsentation im Opernhaus diametral entgegen – ihr „unentwegte(r) Perspektivenwechsel bringt das zum verschwinden, was eine Perspektive ausmacht, die Standortgebundenheit“.102 Die räumliche Distanz, welche die (politischen) Darsteller in modernen Medien zu ihren Zuschauern halten, steht der unmittelbaren Konfrontation der theatralen Repräsentation in einem Opernhaus entgegen – paradoxer Weise vermittelt sie aber zugleich sehr viel mehr Nähe. Private Themen dringen in die privaten Sphären der Rezipienten ein, wo der zeremonielle Rahmen der Oper Distanz, Unnahbarkeit und eine hohe Formalisierung von Darstellung und Rezeption bedeutete.103 Ein Machthaber muss nicht mehr in die Oper kommen – das Publikum, die Menschen folgen ihm durch die Linsen der Kameras überall hin. 100 Ebd., 172; vgl. auch Tambling, Night. 101 Vgl. Lacombe, The ‚machine‘, 37 ; Brook, Der leere Raum. 102 Soeffner, Einführung, 175. 103 Abélès, Anthropologie, 117f.
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Die Oper bot einen geeigneten Ort der Repräsentation, weil sie einerseits durch das dargebotene Spektakel den richtigen Rahmen für die Inszenierung der Macht versprach, andererseits, weil sie eine ungewöhnlich große Menge an Menschen für einen festgelegten Zeitraum zu einem geregelten Ritual versammelte. Doch ihre mit 500–3000 Plätzen auch quantitativ bedeutenden Arenen gesellschaftlicher Kommunikation, verlieren angesichts des Publikums, welches die heutigen visuellen Medien zu erreichen in der Lage sind, ihre Relevanz. Angesichts der medialen Entwicklung wird mithin eine widersprüchliche Situation sichtbar : Einerseits kontrastieren die modernen Inszenierungen der Macht gerade mit zahlreichen traditionellen Symbolen und Zeremonien, wie denen der Oper. Die Leistung der medialen Inszenierung von Politik liegt darin, durch unmittelbare und potenziell ununterbrochene Übertragung, Authentizität und Transparenz zu vermitteln. Die zeremonielle Form der Oper kann dies nicht leisten. Andererseits machen diese neuen Bilderwelten gerade deutlich, wie sehr Politik sich in Ritualen, Verkörperungen und Räumen vollzieht. Der rationale Duktus der Repräsentation von Politik und Politikern, Staat und Öffentlichkeit weicht einer schillernden Bildkultur. Sie wurde auch als eine „Wiederkehr höfischer Öffentlichkeit“ diskutiert, charakterisiert als eine Form der Politik, die „nicht an Verständigung, am Austausch von Argumenten, an der Kontroverse über reale Handlungsalternativen interessiert (ist), sondern uns die Amtsträger der Demokratie bei der Inszenierung ihrer Rituale“ zeigt und daraus die hoheitlichen Entscheidungen legitimiert.104 Es gilt damit (wieder) verstärkt, was Edelmann als Bedingung für gelungene politische Inszenierungen auf die knappe Formel gebracht hat : „Acts must take place in settings.“105 Damit findet eine potenzielle Rückkehr zu Orten und Szenarien statt, die diesen Bedarf bedienen können. Der Aufstieg neuer Medien und ihr angepasster Repräsentationen schwächt die Macht der Oper mithin nicht notwendig. Das Spiel mit der Pracht, mit Schein und Illusionen, eine Form der ordnungsstiftenden Inszenierung, in der die Herstellung und Darstellung von Ereignissen und Beziehungen zusammenfallen, wohnt beiden inne. Als Repräsentation des Staates muss die 104 Meyer, Repräsentativästhetik. 105 Edelman, From Art, 75.
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Oper somit erstens eine Anpassungsleistung an die neuen Präsentations- und Repräsentationsformen bringen, zweitens glaubhafter Teil moderner Politik inszenierung werden und dazu, drittens ein ästhetisches wie thematisches Deutungsspektrum bedienen, das in Einklang mit den genannten Problemen und Anforderungen demokratischer Repräsentation steht.
2. Der Bau der Opéra de la Bastille in Paris : ‚moderne et populaire‘ „l’Opéra-Bastille est la mauvaise réponse à un problème qui ne se posait pas.“106
In der jüngeren Vergangenheit sind rund um die Welt neue Opernhäuser erbaut oder geplant worden. Der Auftrag dazu kam und kommt dabei noch immer in den meisten Fällen von staatlicher Seite. Von Dallas bis Dubai, von Oslo bis Peking, von Wexford bis Valencia entstanden prachtvolle Opernbaupläne, die den kulturpolitischen Versuch dokumentieren, die Kunst der Oper lebendig zu halten und die ökonomischen Herausforderungen der Opernbetriebe und pluralistischen Erwartungshaltungen des heutigen Publikums mit dem tradierten repräsentativen Image der Oper auch architektonisch zu verbinden. Die Projekte eint der Wunsch nach spektakulärem Erscheinen und Zugänglichkeit, nach kreativer Erneuerungsfähigkeit der Kunstform und Effizienz der Produktion – all diese Bauten veranschaulichen schließlich die Ambivalenz zwischen alten und neuen Repräsentationsformen. Ihre Baumaterialien und ihre Formensprache zielen auf moderne Offenheit und Transparenz auf der einen, Traditionsbezug, repräsentative Pracht und kulturelle Selbstvergewisserung auf der anderen Seite. Am Beginn dieses neuen ‚Opernbooms‘ steht jenes Opernhaus, das die französische Regierung unter Präsident François Mitterrand als Teil eines monumentalen Städtebauprogramms, den Grands Travaux, errichten ließ – die 1989 eröffnete Opéra de la Bastille in Paris. Aufgrund dieser Vorreiterstellung eignet sich der Fall Paris zur Studie über die Kontinuitäten, Krisen und Transformationen der repräsentativen Rolle der 106 Gall, zit. in L’Express, 22.12.1994.
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Staatsopern. Am Beispiel der Opéra-Bastille lassen sich Motivationen, die hinter den Opernneubauten auch andernorts stehen, ebenso nachvollziehen wie die möglicherweise veränderte repräsentative Funktion, welche alte Opernhäuser als Bauten wie als politischer und gesellschaftlicher Diskussionsgegenstand erhielten. Der politische Wechsel in Frankreich, der mit dem Sieg der Sozialisten am 10. Mai 1981 eingeleitet wurde, zeigt den Charakter des Beginns einer neuen Ära. Da mit der Wahl die erste sozialistische Regierung der V. Republik an die Macht kam, boten sich die Gelegenheit wie der Bedarf, das proklamierte neue Zeitalter auch durch neue Repräsentationen zu manifestieren. Weiterhin verlief die politische Entwicklung in Frankreich diskongruent zur ‚konservativen Wende‘ jener Jahre, die unter anderem in Großbritannien und Deutschland die bürgerlichen Parteien in die Regierungsverantwortung brachte. Nach außen bestand somit der Bedarf nach Abgrenzung bzw. der Auftrag der Modellhaftigkeit für das eigene politische Handeln. Ihre besondere Prägung erhielt diese Repräsentation des Neuen durch die Figur François Mitterrands.107 Mit der Macht und dem monarchenähnlichen Image des Präsidialsystems der V. Republik ausgestattet – „il (le président, S.Z.) règne comme un monarque, il gouverne comme un premier ministre : Il cumule le rôle de représentation et le pouvoir des décisions“108 – präsentierte Mitterrand sich und seine Politik in einem neuen eigenen Stil. Seine öffentlichen Handlungen galten umgehend als durchinszenierte Zeremonien, die vor allem das Fernsehen als politisches Medium eroberten.109 Mit den Grands Travaux, die zum Großteil am Anfang seiner Regierungszeit begonnen wurden, manifestierte sich die neue Ästhetik aber auch auf ganz klassische Weise. Sie stellten der medialen Bildersprache eine zweite gegenüber, welche die Darstellungen des neuen Zeitgeistes in das althergebrachte, von Königen, Kaisern und Präsidenten genutzte Mittel der Architektur übertrug. Das heißt, es wurden Bauten geplant, die dezidiert eine tradierte Funktion der Verkörperung des Staates bzw. der Macht hatten, um in dieser Funktion einen ‚neuen‘ Staat darzustellen. Dazu gehörten eindeutige Symbole, 107 Vgl. Favier/Martin-Roland, La Décennie Mitterrand ; Halphen, Mitterrand ; Tiersky, François Mitterrand. 108 Duhamel, La politique imaginaire, 52. 109 Delporte, Incarner la République ; Friend, The long presidency.
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wie die Glaspyramiden im Hof des Musée du Louvre und der einem Triumphbogen ähnliche Arche de la Défense, hoheitliche Zentralen der Entscheidungsoder Wissensproduktion, wie die neue Nationalbibliothek, die Cité de la Musique (für ein Nationalkonservatorium), der Parc de la Villette sowie ein neues Finanzministerium und eben die neue Oper als kulturelles Schaufenster und zeremonielles Plateau der Macht. Das Fallbeispiel Paris zeigt mithin eine Oper als Symbol der politischen und kulturellen Erneuerung zwischen alten und neuen staatlichen Repräsentationsformen. Als solches blieb sie keinesfalls unangefochten oder unwidersprochen, denn in einer modernen pluralistischen Gesellschaft lassen sich Opernhäuser und die sich in ihnen zeigenden Selbstbilder nicht mehr mit einer hoheitlichen Geste errichten. Mitterrands in der eigenen und äußeren Legendenbildung häufig absolut erscheinender Wunsch, nicht zuletzt sich und seiner Regierungszeit Denkmäler zu setzen, begleitete eine kontroverse öffentliche Debatte, die an keiner der Grands Travaux so leidenschaftlich und zerstritten ausgetragen wurde wie an der neuen Oper. Sie war somit tatsächlich eine repräsentative Arena, in der politische und kulturelle Vorstellungen entstehen, veranschaulicht und auch angegriffen werden konnten : Wieso vermochte ein Opernhaus die Identifikation stiftenden Kulturen der Gegenwart abzubilden, wer sollte hier repräsentiert werden und wessen kulturelles Erbe wurde hier verhandelt ? Die fehlende oder unmögliche Eindeutigkeit der Antworten auf diese Fragen der kulturellen Selbstbestimmung machte die neue Oper zum symbolischen Streitobjekt. Doch mehr noch : Der Staat selbst stand in seiner Rolle gegenüber der neuen Staatsoper zur Diskussion. Weil diese als Symbol für ein politisches Programm sowie für einen bestimmten Machthaber von nationaler und internationaler Aufmerksamkeit begleitet wurde, war die Oper Repräsentation eines Staatsapparates, der sich erneuert und stark zeigen wollte. Die Entwicklung der kommenden Jahre, die in den Abschnitten des folgenden Kapitels dargelegt wird, verdeutlichte jedoch die Ambivalenz der Frage, wer dieser Staat überhaupt sei und was ihn verkörpern könne und dürfe. Das Bild und die Abbilder des integrativen Staates erfuhren durch die Cohabitation, jene 1986 erstmals entstandene politische Konstellation, bei der der Staatspräsident und die Regierung sowie ihr Premierminister verschiedenen politischen Lagern angehören, eine
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fundamentale Erschütterung. Die Oper wurde zu einem der wichtigsten Austragungsorte dieser Konfrontation und der daraus resultierenden Verunsicherung staatlicher Hoheit. An der Ambivalenz des Staatsbildes, das zu repräsentieren sie auserkoren war, wäre die Opéra-Bastille mehrfach fast gescheitert. Im Folgenden soll zunächst die programmatische Entstehungsgeschichte der Opéra de la Bastille dargestellt werden. Es gilt die Gründe zu untersuchen, derentwegen das Projekt begonnen wurde, und dabei herauszuarbeiten, mit welchen Repräsentationen es verknüpft war. Die anschließenden Abschnitte erörtern die einzelnen Themen und Bedeutungskomplexe, die infolgedessen anhand der Operndebatte verhandelt wurden. Anders als im Fall der ökonomischen Strukturveränderungen, wie sie am Berliner Beispiel gezeigt wurden, oder auch der sozialen Transformationen, die sich zumindest teilweise anhand von strukturellen Veränderungen zeigen ließen, bewegen sich die Themenkomplexe, die am Pariser Beispiel behandelt werden, weitgehend auf der diskursiven und symbolischen Ebene. Es geht daher vielmehr darum zu analysieren, welche Vorstellungen von Staatlichkeit sich anhand der Oper manifestierten bzw. in Frage gestellt wurden und zu klären, inwieweit darin eine Auflösung oder Schwächung jenes hoheitlichen Anspruches zum Ausdruck kommt, mit dem das Projekt initiiert worden war. Dies fördert zum zweiten eine stärkere Fokussierung einzelner Akteure und Figuren – allen voran des Präsidenten Mitterrand, dessen monarchengleiche Verkörperung des Staates durch den Opernbau besonders zur Geltung gebracht werden konnte. Allein die beiden letzten Abschnitte betrachten mit dem Neubau und dem Eröffnungszeremoniell die konkreten Repräsentationen, die durch die neue Oper entstanden. 2.1 Die Oper als staatliche Modernisierungsstrategie und Symbol des politischen Neuanfangs
Die Idee, ein neues, modernes Opernhaus zu bauen und mit einem vollständigen Neubeginn die betrieblichen Probleme, das anachronistische und elitäre Image des Palais Garnier zu überwinden, entstand lange, bevor der französische Präsident François Mitterrand am 9. März 1982 den Neubau der Opéra de la Bastille verkündete. Sie war weder als genuin sozialistisches Projekt noch auf persönlichen Wunsch des Präsidenten entwickelt worden (der nicht viel für die
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Kunst der Oper übrig gehabt haben soll110). Tatsächlich kamen bereits in den zurückliegenden Jahren Kommissionen zusammen, die sich mit der Frage einer Reform der Pariser Oper beschäftigten. Die Hauptprobleme bereiteten die hier bereits erörterten strukturellenEntwicklungen : Rasant steigende Kosten, eingeschliffene Betriebsstrukturen und eine ausufernde Bürokratie, die aber zu geringe Kontrolle ausübte, ‚falsche‘ Spielplangestaltung, bauliche Mängel, die modernen Produktionsstandards nicht genügten, nachlassende künstlerische Qualität, ein elitäres Image, ständige Streiks und Nepotismus waren nur einige der Probleme, die gelöst werden sollten.111 Bereits 1968 hatte der Theaterregisseur und Intendant Jean Vilar noch im Auftrag von de Gaulles Kulturminister André Malraux einen Bericht über die Pariser Oper verfasst. Der „Rapport Jean Vilar : Réforme de l’Opéra“ enthielt die Empfehlung, in Paris oder der Banlieu ein neues Opernhaus für 4000 Zuschauer zu erbauen.112 1976 folgte eine Untersuchung der Opéra de Paris unter der Leitung des Politikers und Verwaltungsexperten François Bloch-Lainé, welche die verheerende Schlussfolgerung festhielt : „L’art lyrique trouve au Palais Garnier toutes les conditions pour cumuler la démocratisation minimale et la dépense maximale.“ Die Kommission dieses „Rapport Bloch-Lainé“ zeigte sich folglich überzeugt, „que la solution réside dans la construction à Paris, si possible au cœur de la ville, d’un grand opéra moderne de trois mille places“.113 Schließlich erarbeitete 1981 eine Studiengruppe der Spitzenuniversität E N A (École Nationale d’Administration) für das Kulturministerium eine Untersuchung über die Funktionen und Probleme der Pariser Oper, in der ebenfalls ein Neubau in Erwägung gezogen wurde.114 Diese erweiterte die ausführlich erörterten strukturellen und administrativen Aspekte um eine Perspektive auf die Oper, die den ausgewerteten Berichten über die Berliner und Londoner Opernlandschaften völlig fremd ist : die der repräsentativen Funktion. Der mit den 110 Favier/Martin-Roland, La Décennie Mitterrand, 668. 111 Vgl. Saint-Pulgent, Syndrome, 155f. 112 Rapport Vilar, „Réforme de l’Opéra“. Das Projekt ging in den Ereignissen der 68er-Bewegung in Paris und mit dem Abschied von Malraux mit de Gaulle 1969 unter ; vgl. Jourdaa, A l’opéra, 152f. 113 Rapport Bloch-Lainé zit. nach Jourdaa, A l’opéra, 160. 114 Ministère de la Culture, Gestion.
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häufig komplizierten und veralteten Strukturen der Oper untrennbar zusammenhängende symbolische Charakter wurde hier klar benannt und nicht vollständig den normativen Konzepten einer ‚demokratischen‘ Oper untergeordnet. „L’Opéra est un des éléments-phares de la politique culturelle“,115 formulierte der Bericht. Sie sei seit dem 17. Jahrhundert immer ein Symbol der öffentlichen Macht und daher zumindest teilweise auch stets ‚offizielle Kunst‘ gewesen. In dieser Tradition läge sowohl die Chance des Staates oder einer Regierung, mit der Oper Prestige zu gewinnen, als auch eine gewisse Ambiguität durch den kritisch bewerteten anachronistischen Charakter eines solchen Symbols und dessen fast ausschließlich exekutive Kontrolle.116 Es gab aber nicht nur Kommissionen und Berichte, die einen Opernneubau diskutierten ; infolge der Untersuchung von Bloch-Lainé entwickelte der Schriftsteller Jean Pierre Angremy alias Pierre-Jean Rémy gemeinsam mit dem Atélier parisien d’urbanisme (A PU R) bereits einen relativ detaillierten Plan zur Realisierung einer neuen Oper.117 Rémy war es schließlich auch, der die Idee eines Opernneubaus den kulturpolitischen Akteuren des linken Spektrums nahe brachte, die sie im Anschluss an die Wahl beschlossen, tatsächlich umzusetzen. Der Plan, eine Opéra de la Bastille zu schaffen, fand also zahlreiche seiner Ideen und Grundlagen bereits in diesen Berichten und Empfehlungen der vorangehenden Jahre vor. Doch die Aufnahme in Mitterrands Grands Travaux fügte dem Projekt eine völlig neue Dimension hinzu – die Oper wurde zu einem Ausdruck des politischen Neuanfangs. Bereits die Art und Weise, in der François Mitterrand den Bau eines neuen Opernhauses in Paris verkündete, machte deutlich, dass diese Oper das zum Ausdruck bringen sollte, was er als den Kern seines Regierungsauftrages begriff : „Un nouvel opéra – moderne et populaire – sera construit au site de la Bastille.“ Der Präsident zeigte sich überzeugt, dass diese als „modern und populär“ konzipierte Oper „redonnera à Paris le rôle international qui lui revient en ce domaine“.118 Die verdiente internationale Anerkennung der Rolle, die er für die Oper proklamierte, beanspruchte 115 Ebd., 164. 116 Ebd., 13. 117 Dokumentiert in Rémy, Bastille. 118 Communiqué des Präsidenten vom 09.03.1982, abgedruckt in Charlet, L’Opéra, 34.
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er nicht zuletzt für ‚sein‘ Projekt Frankreich ; die neue Oper avancierte bereits im Zuge dieser Ankündigung zu einer kulturellen Repräsentation des politischen Regimes Mitterrands. Die kulturelle Vermittlung einer neuen Ära war explizites Programm der politischen Akteure, die sich gerade durch einen „Aufbruch der Kreation“ definieren wollten. „Le socialisme de la liberté est avant toute chose un projet culturel : un choix de civilisation. Je propose aux français d’être avec moi les inventeurs d’une culture, d’un art de vivre, bref d’un modèle français de civilisation“,119 verkündete der frisch gewählte Präsident. „Renforcer la place culturelle de la France dans le monde“,120 war Teil des politischen Programms. Die neue Regierung präsentierte sich als eine Macht, für welche die Kultur und Kreativität erstmals konstitutive Elemente waren.121 Dies schlug sich zum einen in dem generellen quantitativen kulturpolitischen Ziel nieder, mit dem die Parti Socialiste in den Wahlkampf gezogen war, zukünftig ein Prozent des Gesamthaushaltes für Kultur aufzuwenden.122 Vor allem aber kam es qualitativ in dem Plan zum Ausdruck, Kulturpolitik bzw. das kulturelle Verantwortungsbewusstsein auf so viele Ressorts wie möglich auszudehnen. Alle Ministerien sollten fortan Kulturpolitik als Querschnittsaufgabe betreiben. Das Schlagwort des ‚tout culturel‘, das diese Politik entwarf und für das vor allem der Kulturminister Mitterrands Jack Lang einstand, bedeutete mithin nicht nur einen um soziale und populäre Elemente erweiterten Kulturbegriff, sondern auch einen kulturell erweiterten Politikbegriff. „La politique culturelle est le but de tout autre politique“,123 bekräftigte Mitterrand noch Jahre später dieses Prinzip. Der Staat als wiederbelebte zentrale Integrationsinstanz sollte die Rolle des kulturellen Erneuerers spielen, 124 der die Gesellschaft geeint in ein neues Zeitalter führte : 119 Mitterrand in Le Point, 02.05.1981 ; vgl. auch Ory, La décision. 120 Wangermée, Programme Européen, 43. 121 „Pour la premier fois, les forces de la création se reconnaissaient en lui“, formulierte dies Lang vor der Assemblée Nationale (AN), 17.11.1981, 3870. 122 Trotz des Anstiegs 1982 wurde das Ziel in den 80ern nie ganz erreicht, vgl. Wangermée, Programme Européen, 68. 123 Im Interview einer TV-Übertragung von der Eröffnung der Louvre-Pyramide, 04.03.1988, Canal 2, MIDI 2, INA No. CAB88009140 ; vgl. auch Poirrier, Lètat, 164ff. 124 Forbes, Cultural Policy ; vgl. auch Barontini, Le nouvel Opéra-Bastille ; vgl. auch Koops, Konstruktion, 186ff.
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„Le pouvoir, renouant avec la mémoire du pays, pouvait inventer à son peuple un avenir“,125 verkündete Kulturminister Lang. Um diesen Anspruch deutlich zu machen, bedurfte es der Symbole, die das moderne und visionäre Image, das zugleich tief in der Kultur der Menschen und des Landes verwurzelt sein sollte, zu verkörpern vermochten. Diese Funktion sollten vor allem die Grands Travaux erfüllen. Nach Maryvonne de Saint-Pulgent kennzeichneten diese Großprojekte nicht nur eindrucksvolle Bauwerke, die Zeugnis von den besonderen Leistungen Frankreichs in dem beherbergten Bereich ablegten (meist kulturelle Institutionen, die exemplarisch für ihre Kunst im ganzen Land standen und sie auch ins Ausland kommunizierten), sondern vor allem die persönliche ‚Handschrift‘ des Staatschefs.126 Diese Handschrift, der ‚präsidiale Geschmack‘, wurde durch drei Merkmale gesichert : Ohne sich grundsätzlich in das Bauvorhaben und dessen Ästhetik einzumischen, gab es bei jedem der wichtigen Projekte ein markantes Detail, über dessen Gestaltung Mitterrand gewissermaßen pars pro toto befinden durfte. Wie das Glas der Louvre-Pyramide und den Marmor des Arche de la Défense, bestimmte er in dem neuen Opernhaus die Farbe der Sitzbezüge. Die jeweilige Wahl eines Materials durch ihn beteiligte den Präsidenten symbolisch an dem Schöpfungsakt der Projekte. Dieser Eindruck verstärkte sich vor allem durch die Loslösung der Grands Travaux aus dem Parteiprogramm und dem Wahlkampf ; die Projekte waren in der Vorwahlzeit mit keinem Wort erwähnt worden. So formierte sich ein Bild von der individuellen ‚visionären Kraft‘, die hinter den Vorhaben stand und welche die Bauten untrennbar mit der Person Mitterrand verband – „Il est le bâtisseur ! Il est le souverain qui décide.“127 Vervollständigt wurde dieses Bild schließlich dadurch, dass die abschließende Wahl des jeweiligen Architekten durch den Präsidenten erfolgte, der über die Vorauswahl einer Fachjury die letztwillige Entscheidung fällen
125 Lang, AN, 17.11.1981, 3870. 126 Saint-Pulgent, Syndrome, 207. 127 Favier/Martin-Roland, La Decennie Mitterrand, 658 ; vgl. auch Chaslin, Les Paris, 308. Ähnlich hieß es in Duhamels Mitterrand-Biografie : „Ce monarque socialiste a été un prince bâtisseur et il a voulu faire de ces Grands Travaux le symbole même de son principat, la marque indélébile de son passage, sa signature sur la France.“ Duhamel, François Mitterrand, 162f.
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durfte.128 Am 5. Juli 1983 präsentierte die Jury für den Wettbewerb des Operngebäudes ihre Auswahl Mitterrand, und er traf – vermeintlich souverän – die Entscheidung über den Sieger. In der öffentlichen Bewertung stellte sich dieser Akt weniger als eine anachronistische Hoheitsgeste dar, denn als Abnahme der Verantwortung für eine schwere Entscheidung : „Puisqu’il a souhaité choisir lui même son opéra de la Bastille. D’ailleurs, c’est très bien ainsi : le jury n’aurait pas procédé avec la même liberté s’il avait été investi de la responsabilité d’un choix unique.“129 Als Verkörperung des politischen Wechsels einerseits und der Person des Staatschefs andererseits lässt sich das Programm der Grands Travaux in einem stadtethnologischen Sinn beschreiben als „Prozess der symbolischen Transformation des urbanen Raums“.130 Es trug dem Umstand Rechnung, dass politische, soziale und kulturelle Veränderungsprozesse „nur dann erfolgreich verlaufen, wenn sie in spezifische rituelle oder symbolische Formen gefasst werden“.131 Der Staat als kultureller Erneuerer, wie ihn Mitterrand walten lassen wollte, schuf mit den Grands Travaux seine ureigenen symbolischen Stätten als Orientierungsmarken, Begegnungs- und Verständigungsorte der Gesellschaft.132 Dabei erhielt die Oper, wie die anderen Projekte auch, eine explizit sozialistisch-humanistische Konnotation, die ein ausdrucksstarkes und aufklärerisches Anathema zu den Kräften der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung bilden sollte. Der Auftrag der neuen Kulturprojekte war es, sozusagen die Hüllen dieser alten Ordnung – Opernhaus, Louvre, Bibliothek oder Triumphbogen – zu entkernen und somit als Relikte stehen zu lassen, deren kulturelles Erbe aber in einem neuen Gewand auch mit neuem Geist zu füllen. Das bedeutete für die neue Oper, unter Beibehaltung ihrer tradierten repräsentativen Funktion die Veränderung des Dargestellten zu dokumentieren. Wie es die linke Zeitung 128 Eine Ausnahme bildet der Umbau des Musée du Louvre ; Pei war der Wunscharchitekt Mitterrands, und so wurde kein Wettbewerb anberaumt. In anderen Fällen, gerade im Fall der Oper, beruhte die Entscheidung des Präsidenten ganz und gar auf den fachlichen Beratern. Um den symbolischen präsidialen Charakter der Projekte aber zu garantieren, wurden auch diese Entscheidungen als Wahl Mitterrands inszeniert. 129 Charlet, Bastille, 72. 130 Vgl. Becker/Binder, Bühnen. 131 Ebd., 114. 132 Renard, A Cultural Elan, 128f.
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Libération später ausdrückte, wurde die Opéra-Bastille ein wahres „théâtre d’opération du ‚changement socialiste‘“.133 Die Hoffnung auf die gerade durch eine neue Oper ausgelöste kulturelle Erneuerung mag auch deshalb besonders ausgeprägt gewesen sein, weil die Kontrastfolie, vor welcher der Opernplan gedieh, besonders deutlich war. Als Verkörperung eines kulturellen und politischen Aufbruchs war sie vor allem ein Angriff auf eine prägnante symbolische Repräsentation der als alt und überkommen bezeichneten Ordnung – das Palais Garnier. Unter dem Begriff der ‚Garnierophobie‘ hatte sich über Jahre ein schillerndes Negativbild dieses Opernhauses gebildet. Konkrete Kritik an dem Thêatre Opéra de Paris im Palais Garnier war vor allem in den bereits dargestellten Rapports schon seit langem geübt worden. Es verkörperte ein System insbesondere der Bindung des Staates an seine Gesellschaft, galt als luxuriöser Hort der Elitefamilien, die quasi ‚automatisch‘ in die politische Führungsriege aufstiegen. Damit stand es dem Anspruch auf eine kulturelle Erneuerung unter der Führung eines starken, von partikulären Interessen befreiten Staates, wie er von der neuen Regierung proklamiert wurde, diametral entgegen. Es konnte daher nach 1981 in Paris keine Opernreform geben ; vielmehr sollte mit dem Neubau eine ‚Revolution‘ stattfinden ; es galt nicht eine bestehende Politik zu verändern, sondern eine inhaltlich wie stilistisch neue zu beginnen. Dem Opernprojekt diese Rolle zu verleihen, ermöglichte nicht zuletzt die Wahl des Standortes und der Eröffnungszeitpunkt des Hauses. Die symbolisch hochgradig aufgeladene Place de la Bastille, an welcher nicht nur am 14. Juli 1789 mit der Erstürmung des Gefängnisses die französische Revolution begonnen und 1830 die Juli-Revolution ihren Ausgang genommen hatte, sondern daran anknüpfend im Mai 1981 Tausende den Sieg der Sozialisten gefeiert hatten, unterstrich diesen Anspruch ebenso wie der Plan, das neue Haus punktgenau zum Bicentenaire, der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution, zu eröffnen. Es fand mithin in dem Opernbau eine Verknüpfung eines politischen Modernisierungsprogramms mit dem großen nationalen Gründungsmythos Frankreichs statt. Das hatte zur Folge, dass das Opernprojekt einerseits mit bestimm133 Lib., 21.04.1988.
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ten Bergriffen und Vorstellungen verknüpft und stets assoziiert wurde, andere Aspekte aber überraschend undeutlich und abstrakt blieben. Beides nährte den Streit, der den gesamten Zeitraum des Opernneubaus prägen sollte. Womit Anhänger wie Gegner des Plans die neue Oper identifizierten, wurde bereits in seiner programmatischen Ankündigung angelegt : Die inszenierte, vor allem ästhetische Beziehung zum Präsidenten der Republik, machte die Oper in erster Linie und nach den bereits aufgezeigten Mechanismen zu einem Ort der Identifikation mit der Figur Mitterrands selbst. Auf Grund der so vollzogenen Fokussierung der Kulturpolitik auf die Person des Staatschefs avancierte die Oper – gerade wegen der opernspezifischen Analogie zur monarchischen Repräsentationsstrategie – zum Prestigeobjekt par excellence. Das heißt, sie wurde zum Ausdruck dessen, wie und als was die politische Person des Präsidenten angesehen wurde. Mitterrands an Symbolen und Inszenierungen ohnehin reiche Amtszeit erhielt mit der Oper ein Projekt und einen Ort, der ebenso Inszenierungen Raum bot wie als Monument eine physische Manifestation, welche die flüchtigen Inszenierungen überdauerte. Weiterhin prägten die beiden Begriffe, mit denen die Bastille-Oper angekündigt worden war, den Erwartungshorizont gegenüber dem Projekt. Das erste der beiden Schlagworte, die ‚Modernität‘, ersetzte eine Reihe konkreter Ziele, die begründeten, warum das neue Opernhaus überhaupt nötig war. ‚Modernität‘ eröffnete zum einen eine Assoziationskette, in der sie vor allem als Gegenbegriff zu einem abstrakten Status quo fungierte und so Diskontinuität, Korrektur und Neuanfang umschrieb. Zum anderen sollte sie im Sinne eines technischen Modernitätsbegriffs Effizienz und Qualität evozieren : Die Ideengeber des neuen Hauses zeigten sich überzeugt, die Bastille könnte in kürzerer Zeit mit weniger Personal für ein größeres Publikum und mit geringeren Zuschüssen mehr und bessere Produktionen schaffen.134 Ganz in Anlehnung an die „Kraft der Kreativität“, mit der die neue Regierung überzeugen wollte, hieß es „Un art qui ne crée pas est un art mort“135 – das neue Opernhaus sollte auch eine Quelle der Kreation neuer, moderner Opern werden. Der Terminus der ‚Popularität‘ wiederum verwies einerseits auf die im vorangehenden III. Teil diskutierte Öffnung 134 Zusammengetragen wurde dies alles von den Entscheidungsträgern aus Politik, Kunst und Verwaltung auf dem Colloque de Nanterre, 15.10.1986, vgl. Saint-Pulgent, Syndrome, 243. 135 Paux, Une Reflexion.
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der Oper für ein möglichst breites Publikum und verlieh der politisch neutralen ‚Modernität‘ etwas explizit politisch linkes, sozialistisches. Allerdings sollte der Geschmack der Menschen weniger im Sinne des demokratisierenden lofty approach modifiziert, als vielmehr zelebriert werden.136 Die elitäre Kunstform sollte nicht einfach zugänglich gemacht werden, sondern aus dem ‚Geist des Volkes‘ neu entstehen. Das heißt, der Begriff zielte auf einen universellen Vertretungsanspruch des Hauses ; es versprach eine Oper des ganzen Volkes, überall im Land, zu sein und eben nicht nur eine der hauptstädtischen Eliten. Dieser emblematische und symbolische Charakter des Opernprojektes, der Identifikationen und Erwartungen schürte, entstand nicht zuletzt dadurch, dass diese Bezugspunkte vage und abstrakt blieben. Mitterrand und Lang hatten den Plan der Gruppe um Pierre-Jean Rémy herum als Idee adaptiert und die Oper damit ins Zentrum der Regierungspolitik gerückt, die im einzelnen aber bereits entwickelten Vorstellungen oder Anforderungen nicht in den politischen Auftrag integriert. So wichtig die Ziele einer stärkeren ökonomischen Selbstverantwortung des Opernbetriebs und einer sozialen Öffnung auch für die Argumentationsstrukturen der französischen Kulturpolitik und der Opernplaner waren, so wenig wurden sie hier, an einem Ort, an dem die Oper ganz wörtlich neu erfunden werden konnte, in die Grundausrichtung aufgenommen. Die sprachlich alles dominierende Formel von der modernen und populären Oper erhielt zu keinem Zeitpunkt ihrer Planung eine kohärente Definition, und wurde nicht in die Sprache der Planer der Oper übersetzt – kaum architektonisch, und schon gar nicht betrieblich, konzeptionell oder künstlerisch und musikalisch. Die Oper sollte zwar Ausdruck eines Grundsatzprogramms sein, ist aber gerade deswegen nicht mit einem genuinen kulturpolitischen Auftrag ausgestattet worden. Dieses Fehlen einer inhaltlichen Ausgestaltung des so stark gemachten Anspruches an etwas Neues machte sich in der Umsetzung des Vorhabens schnell bemerkbar. Zur konkreten Planung und Durchführung des Opernprojektes war zwar bereits die Rechtsform der zukünftigen Oper, das Etablissement Public de l’Opéra-Bastille (E P OB), gegründet worden, welches das Mandat erhielt, den Bau zu begleiten und ein personelles, künstlerisches und betriebliches 136 Ahearne, Policy Debates, 23.
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Konzept zu entwickeln.137 Doch obwohl die Organisation mit einschlägigen Experten besetzt worden war, welche Erfahrungen, Sachverstand und Ergebnisse aus Gesprächen mit Opernhäusern in ganz Europa einbrachten, führte deren Arbeit nicht zu einem den ambitionierten politischen Plan erfüllenden Ergebnis. Die daraus resultierenden Probleme begannen bereits beim Architekturwettbewerb. Dieser hatte mit fast 1500 Anmeldungen einen Rekord verzeichnet. Der Auftrag, ein neues nationales Opernhaus zu entwerfen, schien reizvoll und hatte in den vorangehenden Jahrzehnten jenseits des architektonisch spektakulären wie politisch katastrophalen Projektes in Sidney keine Vorbilder.138 In Frankreich galt es, den ersten Opernneubau seit über einhundert Jahren – genauer, seit der Eröffnung des Vorgängerbaus, jenes prachtvollen Palais Garnier – zu entwerfen. Der Umstand, dass nur etwa die Hälfe der für den Wettbewerb registrierten Architektenbüros nach der Auseinandersetzung mit dem 423 Seiten umfassenden Ausschreibungstext tatsächlich einen Entwurf lieferten, beunruhigte nicht weiter, erschienen doch 756 Opernentwürfe noch immer überdurchschnittlich viele. Doch bei der Begutachtung durch die Fach-Jury im Sommer 1983 setzte die Enttäuschung ein : „Les jurés étaient, semble-t-it, contents d’être là, intéressés, mais ne trouvaient pas matière à se passioner“,139 berichtete Bloch-Lainé, der einst die Kommission zur Prüfung einer Reform der Pariser Oper geleitet hatte und nun Direktor des E P OB war. Keiner der eingereichten Vorschläge erzielte die erwartete Begeisterung. Den in der Ausschreibung formulierten zahlreichen von zunächst A RU P, dann E P OB entwickelten Kriterien, technischen Bedürfnissen und auch dem künstlerischen Anspruch einer Oper waren die meisten Entwürfe sorgfältig gefolgt, die ‚große Idee‘ aber fehlte. Die schillernden Begriffe „moderne et populaire“, so lässt sich diese Situation in dem geschilderten Kontext interpretieren, waren geeignet, bei allen Akteuren und Beobachtern die Phantasie zu wecken, doch zu unpräzise, um sie in eine konkrete architektonische Formensprache zu übersetzen. Vor die ihm zur Endauswahl präsentierten Modelle gestellt, stellte Mitterrand fest : „Aucun de ces projets ne m’enthousiasme.“ Er befand, sie sähen alle aus wie Garagen 137 Vgl. Urfalino, Quatre voix. 138 Vgl. Hall, Great planning Disasters. 139 Vgl. Urfalino, Quatre voix, Kap. 4.
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oder Fabriken und keinesfalls so, wie er sich eine Oper für sein Volk vorgestellt habe.140 Auch die konzeptionelle Ausgestaltung der Oper erwies sich auf Grund der Spannungen zwischen dem hohen Erwartungsdruck und der Unklarheit, was genau diese Erwartungen erfüllen könnte, als äußerst schwierig. Der Suche nach der gewünschten ‚Repräsentanz‘ fielen in den kommenden Jahren zahlreiche Akteure des Kulturbetriebs zum Opfer. Das zur Führung des entstehenden Betriebs engagierte Personal war auf Grund interner Streitigkeiten ständiger Gegenstand kontroverser öffentlicher Debatten. Kaum einer der berufenen Direktoren der entstehenden Oper blieb länger als ein Jahr im Amt, die Entscheidungen und langfristigen Planungen, die in dieser Zeit nötig waren, erlitten nicht mehr aufzuholende Verzögerungen.141 Verstärkt wurde die Unklarheit des eigentlichen Auftrags durch die nach den Parlamentswahlen von 1986 beginnende Cohabitation, während der François Léotard (Parti Republicain) dem Kulturministerium vorstand. Im Klima des politischen Konfliktes blieben Macht- und Deutungsfragen gegenüber fachspezifischen und sachorientierten Lösungen prioritär. Die Feststellung, dass dadurch die rechtzeitige Eröffnung zum Bicentenaire gefährdet war, machte spätestens der Bericht deutlich, mit dem Raymond Soubie 1986 nach der Veränderung der politischen Mehrheiten beauftragt wurde. In der Bestandsaufnahme und Evaluierung des Opernprojektes kritisiert dieser „Rapport Soubie“ vor allem die ebenso umfassende wie unpräzise Erwartungshaltung gegenüber dem neuen Opernhaus und eine demgegenüber viel zu schwache konzeptionelle Planung. Bis zur Eröffnung der Bastille verblieben weniger als drei Jahre, ein zeitlicher Rahmen, in dem Opernhäuser normalerweise bereits konkrete Spiel- und Personalpläne erstellen würden, wovon aber für die neue Oper noch nichts erreicht sei.142 Mit radikalen organisatorischen 140 Favier/Martin-Roland, La Décennie Mitterrand. 141 Unter den Leitern waren der ursprüngliche Ideengeber Pierre-Jean Rémy, der das Projekt bereits 1982 im Streit mit der EPOB verließ, Jean-Pierre Brossmann (1984–1985), Gerard Mortier (1985–1986), Raymond Soubie (1987–1988), Pierre Vozlinsky (1987–1988), Patrick Gonzales und Jean-Louis Pichon (1988–1989). Zudem die beiden musikalischen Leiter Daniel Barenboim (1988–1989) und Mung-Wung Chung (1990–1993). 142 Rapport Soubie, 2.
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Schritten, so schließt der Bericht, könnte 1989 wenn es der Zustand des neuen Hauses erlaube, die Eröffnung stattfinden. Den Verantwortungsträgern müsse aber klar sein, dass es lange dauern werde, bis ein normaler Spielbetrieb gewachsen sei, um eine technisch-funktionale ‚Versuchsspielzeit‘ käme man angesichts des nahen Eröffnungsdatums 1989 nicht herum. Zwar wurde an dem Inaugurationstag festgehalten, den empfohlenen Schritten war man aber nicht gefolgt. Insofern erwies sich nach der offiziellen Einweihung des 1989 nur augenscheinlich fertigen Opernhauses der Planungsrückstand als noch gravierender als vorausgesagt. Bis zur tatsächlichen Eröffnung, die am 17. März 1990 mit der Premiere von Berlioz’ Les Troyens stattfand, verging ein weiteres Dreivierteljahr. Doch anstatt anschließend eine Verdreifachung der Vorstellungen auf 500 mit 20 verschiedenen Produktionen zu leisten,143 gelang es nicht einmal, ein neues Repertoire aufzubauen, mit dem 100 Aufführungen pro Spielzeit geboten werden konnten. Die technischen Finessen, welche die neue Bühne zu bieten hatte, beflügelten zwar Regisseure und Bühnenbildner, überforderten jedoch zunächst das technische Personal, weswegen es auch hier zu Verzögerungen und Enttäuschungen kam. Bereits vierzehn Tage nach der Eröffnung entstanden schwere Betriebsstörungen durch Streiks,144 einem jener mit geradezu legendärem Ruhm behafteten Probleme des alten Palais Garnier, derentwegen die neue Oper entstanden war. Soubie hatte die opernpolitischen Akteure davor gewarnt, allein in dem Bau einer neuen Oper die Lösung aller bestehenden Probleme zu vermuten und dabei zu übersehen, dass es höchster Anstrengungen bedürfe, um die Vererbung der alten Strukturen zu vermeiden. Dass die alte Oper nicht mehr zu retten sei, sei ebenso falsch wie der Glaube an die neue, perfekte Oper, der mit so viel leichtgläubigen Enthusiasmus entgegengesehen werde.145 Tatsächlich zeigte sich nach der Inauguration, dass der Glaube an den genuinen Aufbruchsgeist des neuen Hauses die Probleme, derentwegen die alte Oper überhaupt ersetzt werden sollte, nicht beheben konnte. Der politisch aufgeladene Charakter des 143 So Jack Lang, in AN, 28.10.1985, 3592. Am Beginn der Planungen hatte E P OB mit bis zu 850 Vorstellungen in verschiedenen Sälen der Bastille und dem Ballett im alten Palais Garnier kalkuliert. Charlet, Bastille, 34f. 144 Vgl. Canal 2, 31.03.1990, INA No. CAB90013636. 145 Vgl. Rapport Soubie.
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Projektes hatte es den kulturpolitischen Akteuren erlaubt, Tarifvertrags- und Rentenforderungen der Angestellten ebenso auszublenden wie beispielsweise die Frage, was mit den bestehenden Opernbauten geschehen solle (dem Palais Garnier sowie darüber hinaus dem dazu gehörigen Salle Favart, der lange Zeit die Opéra Comique beherbergte). Bestätigung fand die Vermutung, dass es sich bei der Ursache der Anlaufschwierigkeiten wiederum um das konzeptionelle Defizit handelte, das auf Grund der überbordenden Erwartungen, aber fehlenden Vorgaben entstanden war in dem vier Jahre nach der Eröffnung des Hauses verfassten „RapportGall“. Hugue Gall, der als Assistent von Rolf Liebermann in den 1970er-Jahren die Pariser Opernlandschaft kennengelernt hatte und als ‚Retter‘ an das nach der Eröffnung nicht in Gang kommende Haus geholt wurde, hatte bereits 1990 die vernichtende Behauptung aufgestellt, die Opéra-Bastille sei die schlechte Antwort auf ein Problem gewesen, das gar nicht bestanden habe. Nun rechnete er mit der gesamten kulturpolitischen Utopie der „opéra moderne et populaire“ ab, „auquel ni le slogan de l’opéra populaire, ni l’ambition utopique de s’abs traire, par un outil technique révolutionnaire, des contraintes économiques qui en cadrent l’exploitation d’une maison d’opéra, ne pouvait évidemment se substituer“.146 Erst nach der innerbetrieblichen Reform (die bereits im Schlusskapitel des zweiten Teils des Buches umrissen wurde), ließen die Probleme nach – da aber war die neue Oper schon längst im etablierten Opernbetrieb angekommen und die Zeit der kulturellen Revolution vorbei. 2.2 Die Macht über die Oper und die Macht im Staat
Zwischen der Aufladung mit bestimmten Bedeutungen auf der einen und für die symbolische Kraft notwendigen ‚Leerstellen‘, die deutungsoffen waren, auf der anderen Seite entspann sich in der Zeit der Planung, des Baus und der Inbetriebnahme der Opéra de la Bastille eine anhaltende Debatte und Krise. In den folgenden Abschnitten werden zunächst deren drei zentrale Konfliktfelder behandelt. Sie machen deutlich, was anhand der neuen Oper verhandelt wurde, welche Schwierigkeiten der staatliche repräsentative Auftrag und die symboli146 Rapport de Hugues Gall, 25.11.1993 (Rapport Gall), 6.
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sche Funktion der Oper auslösten, da die hoheitliche Geste, die hinter dem Auftrag zur neuen Oper stand, nicht gegen die vielfältigen Interpretationen, in die sich die Repräsentation fragmentierte, standhielt. Weil „in der Politisierung von Symbolträgern (…) eine Machtdemonstration (liegt)“,147 konnte aus dem Kampf um die Oper ein Kampf um die Ansprüche auf die Staatsmacht und -verantwortung werden. Die beiden letzten Abschnitte zeigen, wie die Oper als Staatsoper ihren Auftrag verkörperte und die Chancen und Grenzen ihrer Einbettung in eine Politikinszenierung als modernes Medienspektakel. 2.2.1 Wahl des Standortes und des Architekten
Die symbolträchtige Place de la Bastille stand nicht von Anfang an als Standort für die neue Oper fest. Die Entscheidung zu Gunsten des Ortes förderte am Ende zum einen seine gute Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel, zum anderen aber „la magie des deux mots associés“148 : ‚Opéra‘ als Raum der Pracht, der Kunst und der Verzauberung und ‚Bastille‘, der Ort des Volksaufstandes, der Revolution und der Guillotine, bildeten ein Begriffspaar, in dem jene Welten aufeinandertrafen, welche die Idee der ‚opéra populaire‘ vereinigt wissen wollte. Es galt ein Areal zu finden, an dem das, was die neue Oper repräsentieren sollte, auf geeignete Weise zum Erscheinen kommen konnte. Zu Beginn kamen fünf Orte im Raum Paris für das Projekt in die engere Auswahl ; sie alle lagen außerhalb der bisherigen kulturellen Räume und Achsen der Stadt : Neben La Bastille standen zur Diskussion La Vilette, wo dann die Cité de la Musique erbaut wurde, als Teil dessen die Oper zu Beginn geplant war, La Défense, später Ort des modernen triumphbogenartigen Tores am Westende der Stadt, sowie ZAC Citroën im 15. Arrondissement und, etwa 20 Kilometer außerhalb der Stadt, die ‚ville nouvelle‘ Marne La Vallée.149 Der Entschluss, ein Opernhaus abseits der Zentren der Macht zu errichten – sei es im Kleineleutebezirk Faubourg, in dem La Bastille liegt oder in der Banlieu Marne La Valle –, lässt sich vor dem Hintergrund der im vorangehenden Kapitel geschilderte Weise, in der die Verbindung von Oper und politischer 147 Cohen/Langenhan, Steuerung, 143. 148 Urfalino, Quatre voix, 32 (Charlet). 149 Ebd., 28f.
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Macht auch in deren geografischer Nähe zum Ausdruck kommt, als eine Verschiebung der symbolischen Topografie der Stadt unter Beibehaltung der Repräsentationsstrategie begreifen. Die charakteristische Tradition des räumlichen Verhältnisses von Oper und Herrschaft, die zumal im Pariser Wahrzeichen des Palais Garnier deutlich wurde, das über eine prachtvolle Achse mit dem Sitz des Kaisers im Louvre in Beziehung gesetzt wurde, bildete nicht nur eine markante Achse im Stadtbild, sondern auch in der mental map der Stadt, ihrem städtebaulichen Gedächtnis. Der bauliche Zusammenhang, der den Sitz des Herrschers oder der Machthaber mit der Pracht der Oper verband und die Kontrolle des Theaters durch Krone oder Staat zeigte, hat sich bis ins 20. Jahrhundert institutionell wie kulturell so sehr gefestigt, dass er, wie schon vor dem Beispiel Bastille in anderen Städten, auch umgekehrt funktioniert. Das heißt, nicht mehr die räumliche Nähe definiert die Beziehung von Staat und Oper, sondern die institutionalisierte und tradierte Beziehung den dazwischenliegenden Raum. Die Oper wird zu einem Symbol der politischen Macht, der sie untersteht, und der Geltungsanspruch dieser Macht auf ein neues Gebiet ausgedehnt.150 Diese hoheitliche Geste verstärkte auch der Umstand, dass die Entscheidung für eine Volksoper an diesem Ort des Volkes ohne die Beteiligung desselben und bereits vor der offiziellen Ankündigung des Neubaus fiel. Eine breite öffentliche Diskussion über den Ort und das, was er symbolisierte und repräsentierte, entstand somit nicht. Zur Kontroverse avancierte die Wahl des Standortes vielmehr, weil er in jedem Fall in Paris angesiedelt lag. Ob das Haus an der Défense oder Bastille entstehen würde, blieb eine Frage städtebaulicher Modernisierung und kultureller Aufwertung der zur Wahl stehenden Bezirke sowie der historischen Symbolik. Beides war im Sinne der neuen Regierung und des Präsidenten, der den Bau zum Grand Projet erhob. Der Umstand aber, dass kein Ort jenseits von Paris dafür in Frage kam, stand im Widerspruch zu einem der zentralen Versprechen der PS – dem der strukturellen Dezentralisierung. Gerade in den Entscheidungswegen im institutionellen Kulturbereich, aber auch in der Verteilung des kulturellen Kapitals, tritt der Zentralismus Frankreichs deutlich hervor ; hier dominiert die monarchische Tradition der Kultur150 Carlson, The Semiotics.
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politik die Strukturen.151 Zwar bereichern seit der kulturpolitischen Ära unter André Malraux in den 1960er-Jahren zahlreiche centres dramatiques nationaux (CDN) das regionale kulturelle Leben, doch selbst dort wirken im Regelfall stets die Künstler aus Paris, die Kritiker sind die Journalisten der überregionalen Presse und die Direktoren Experten aus dem Kulturministerium. Versuche, die regionale Kulturlandschaft durch Investitionen und Verschiebungen zu stärken, sind immer wieder als „Fassaden“ einer Kontinuität zentralistischer Kulturförderung entlarvt worden.152 Eine gerechtere Verteilung von Investitionen, Institutionen, Prestige, Qualifikationsmöglichkeiten und vor allem politischer Gestaltungs- und Entscheidungsmacht zu ermöglichen, war eine Forderung an jede neue Regierung der V. Republik gewesen. Die Sozialisten hatten es 1981 mit höchster Priorität auf ihre Regierungsagenda gesetzt ; im kulturpolitischen Feld gehörte es neben dem 1 %-Plan zu den drei Säulen der geplanten Arbeit, „réensemencer, décentraliser, créer“.153 Entsprechend versprachen die Haushaltspolitiker bei der Aussprache zum ersten Kulturhaushalt : „Ce budget rompt avec la prépondé rance parisienne que perpétuaient les grands équipements de la capitale.“154 Die Grands Travaux und gerade der Bau einer neuen Oper in Paris wurden bald als erster Verrat des Versprechens von mehr Dezentralisierung gewertet. „Où est la décentralisation culturelle ? (…) Où en est-il, ce rêve que le Gouvernement avait transformé en objectif prioritaire ?“155 lautete eine der gewichtigsten Fragen der Opposition. In der Standortfrage befand sich die neue Oper in einem Spannungsfeld zweier Deutungen : Die eine ergab sich aus ihrer Funktion als das lebendige und populäre Theaterhaus, das sie werden sollte und worauf man auch anderswo Ansprüche hatte. Mit einem Anteil von über 40 % am Musikbudget des Kulturministeriums, den die alte Pariser Oper 1980 verschlang, war sie ein Sinnbild 151 Das Gebiet der Hauptstadt, das ca. 2 % des französischen Territoriums ausmacht und 20 % der Bevölkerung beherbergt, ist Sitz nicht nur der meisten Wirtschaftszentralen und Forschungseinrichtungen, sondern auch Kulturbetriebe. Girling, France, 31f. 152 Vgl. Wangermée, Programme Européen, 130f. 153 Planchou, AN, 17.11.81, 3867. 154 Ebd. 155 Schumann, Senat, 29.11.1985, 3490.
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der Bevorzugung der Hauptstadt.156 Wollte man, wie es der kulturpolitischen Programmatik des Bastille-Projektes entsprach, die Kunst der Oper, die technischen Bedingungen ihrer Produktion und die Chancengleichheit ihrer Rezeption fördern, so hätte ein dezentraler Opernplan anstelle des neuen hauptstädtischen Opernhauses entworfen werden müssen. Mit der Ernennung des Opernprojektes zum Grand Projet erschien es als Prestigeprojekt, das prinzipiell in einem Konflikt mit dem Dezentralisierungsversprechen stand. In dem ‚populären‘ Auftrag der neuen Oper war aber, zum zweiten, auch eine nationale Bedeutung verankert worden, das heißt, der im Standort des Hauses definierte Vertretungsanspruch, in dem eine Auflösung des einseitigen räumlichen Verhältnisses zum Machtzentrum anschaulich wurde, sollte noch weit über die Place de la Bastille hinaus weisen. Nach Auffassung des Kulturministers gab es den Widerspruch zwischen diesen beiden Deutungshorizonten der Oper jedoch nicht, sie sollte ihn vielmehr gerade aufheben : „Dans le cadre de l’Opéra de la Bastille il n’y aura plus d’opposition entre Paris et les provinces. En effet, cet opéra aura notamment pour vocation d’être miroir parisien des autres villes de France, dont il présentera les créations lyriques les plus réussies“,157 beantwortete Lang die Frage nach dem Dezentralisierungswillen angesichts der neuen Pariser Oper. Das heißt, in der landesweiten Identifikation mit der zentralen Oper, mit dem Wissen auch der Provinz, dass hier die Blüte eines gewissermaßen gemeinsamen Schaffens zu bewundern sei, sollte der Zentralismus transzendiert werden. Wo diese Oper stand, war französische Kultur. Wegen des in dieser Weise befruchteten latenten Legitmationskonflikts wuchsen die Ansprüche, die sich neben der städtebaulichen Dimension an die Symbolik des Hauses richteten ; seine nationale Bedeutung musste nicht nur in Form von Exzellenz und Prestige des Kulturbetriebs, sondern auch als bauliches Symbol eingelöst werden. Die Rolle dieses Kriteriums nahm so stark zu, dass zunächst erwogen wurde, einen geschlossenen landesweiten Wettbewerb auszurichten, um einen französischen Architekten die richtige ‚nationale‘ Formensprache für den wichtigen Ort und Bau finden zu lassen.158 Die bereits erwähnte Rekordzahl an 156 1966 betrug der Anteil sogar noch 77 %, vgl. Andrault/Dressayre, Government. 157 AN, 03.11.1982, 6654. 158 Vgl. Chaslin, Paris.
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Bewerbungen, welche die schließlich doch international geöffnete Ausschreibung erzielt hatte, ließ darauf hoffen, die gewünschte repräsentative Aussage darunter zu finden. Um so größer war die Enttäuschung, als sie nicht einhellig zu entdecken war. Einige Entwürfe besaßen zwar die bauliche Eignung zum Opernhaus, befriedigten aber die ästhetischen Erwartungen an die symbolische Wirkung des Baus nicht. Die eigentlich für den 14. Juli 1983 geplante Verkündung des Sieger entwurfs durch den Präsidenten, exakt sechs Jahre vor dem Tag der Inauguration, wurde vertagt. Vier Monate lang mühten sich die Jury und die Aufbauorganisation E POB um Nachbesserungen an einer Kernauswahl. Das prestigeträchtige Projekt drohte mangels Prestige zu scheitern – „La Bastille sans génie“,159 antizipierte Le Monde das Scheitern bereits im September. Mit der Wahl des Architekten mussten diese Befürchtungen ausgeräumt werden. Zahlreiche der Beteiligten berichteten später von einer bemerkenswerten Dynamik, die sich während dieser Suche nach einem Gewinner des Wettbewerbs entwickelte. Um sich nicht „zu blamieren“, so hieß es in Erinnerungen an diese Zeit,160 galt es, das Prestige des Gebäudes durch den Namen eines bedeutenden Architekten zu sichern – wenn schon kein großer architektonischer Wurf entstanden sei, dann sollte wenigstens ein großer Name hinter dem Bau stehen, so habe die Strategie der Jurymitglieder und Berater des Präsidenten bei seiner Letztentscheidung gelautet.161 In den Modellen wurde der Stil bestimmter prominenter Architekten gesucht, unter anderem meinte man den des berühmten amerikanischen Architekten Richard Meier gefunden zu haben, von dem bekannt war, dass er einen Entwurf eingereicht hatte. Da die Wettbewerbseinträge anonymisiert waren, musste diese Zuschreibung eine reine Vermutung von Experten bleiben, trotzdem empfahlen die Berater Mitterrand diesen Vorschlag. Der Präsident, dessen Vorliebe für große einfache Formen (wie im Fall der Pyramide oder der Arche de la Défense), in der komplexen Architektur für eine Oper ohnehin nicht bedient wurde,162 folgte dieser Empfehlung und gab am 10. November 1983 seine Entscheidung darüber bekannt. Der Siegerentwurf entpuppte sich allerdings keinesfalls als der von Richard 159 Mo., 03.09.1983. 160 Urfalino, Quatre Voix, 96ff. (Audon). 161 Ebd. 162 Vgl. Charlet, Bastille.
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Meier eingereichte, sondern als der Beitrag des nahezu unbekannten kanadischen Architekten uruguayischer Herkunft, Carlos Ott. Mit der Enthüllung des Urhebers war die Strategie, den Bau durch das international anerkannte Prestige eines Architekten zu schützen, gescheitert ; er war öffentlich leicht angreifbar. Die Reaktionen auf die Entscheidung spiegeln dies wider : Einen „Triomphe de la Banalité“163 beschimpfte der dem konservativen Lager nahe Figaro den Gewinnerentwurf. Vor allem aber war es die geschilderte nationalistisch aufgeladene Erwartung an das Gebäude, welche die Kritik beflügelten. Kaum eine Zeitung ließ den Umstand, dass es sich erstens um einen unbekannten und zweitens um einen nicht französischen Architekten handelte, unkommentiert. „Un canadien, ,Garnier‘ de la Bastille“,164 titelte beispielsweise Le Croix. Das Mitglied der Académie Française, Thierry Maulnier, bemerkte argwöhnisch, „Le Président de la République a posé son doigt souverain sur un des dossiers soumis à son appréciation, avec un maître d’œuvre de naissance uruguayenne, naturalisé canadien“, und verwies auf die zahlreichen schönen Theater, welche vom 12. bis 20. Jahrhundert von Franzosen erbaut worden seien.165 Dieser allerorten wiederholten Feststellungen fügte etwa der France Soir die Klage hinzu, das Prinzip ‚achetons français‘ – also französische Produkte oder Kompetenzen gegenüber ausländischen zu bevorzugen – gelte offenbar nicht für den Kulturbereich.166 Statt die Nation zu repräsentieren, habe die Regierung mit dem Opernbau ihre nationale Pflicht vernachlässigt. 2.2.2 Revisionen der Bauplanung
Zwei große Hürden standen der Entstehung des Baukörpers an der Place de la Bastille im Weg, an denen der Beginn bzw. die Vollendung des Opernhauses beinahe gescheitert wäre. Die erste bestand im organisierten, dann politisch instrumentalisierten Protest der Anwohner des Stadtviertels, in dem die neue Oper errichtet werden sollte. Die zweite, sich daraus entwickelnde aber sehr viel gravierendere, in den Plänen der konservativen Regierung während der ersten 163 Fig., 08.12.1983. 164 Croix, 21.11. 1983. 165 In Fig., 27.11.1983. 166 FS, 18.11.1983.
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Cohabitation, das gesamte Grand Projet Opéra-Bastille zu kippen. In der Dynamik dieser Ereignisse lassen sich drei Konfliktebenen analysieren, in denen die Oper als staatlicher Repräsentationsort umkämpft wurde : eine zwischen Staat und Gesellschaft, eine der Prioritäten zwischen Politik und Kultur und schließlich jene der Politisierung staatlicher Verantwortung, das heißt der Frage, wer eigentlich den Staat zu lenken und zu verkörpern beanspruchen darf und kann. Schon bevor der Rohbau der Bastille zur Arena der politischen Lager auf nationaler Ebene wurde, kam es an der Baustelle zu Konflikten, welche den repräsentativen Anspruch des Gebäudes in Zweifel zogen. Die Idee der ‚opéra populaire‘ projizierte das Bild einer Oper als Gemeinschaftsgut auf das Vorhaben. Die im Bau befindliche Opéra-Bastille, so erschien es im Vorfeld des Baubeginns, ließ aber nur bestimmte Leute in ihrem Glanz erstrahlen, während sie andere in ihren Schatten stellte – ganz wörtlich etwa die Anwohner und Gewerbetreibenden der Nachbarschaft der neuen Oper. Nach der Entscheidung des Architekturwettbewerbs, Ende des Jahres 1983, begann sich eine Interessenvertretung gegen den Bau zu organisieren, der Teile des traditionellen Viertels Quartier Faubourg zerstörte. Der an die Place de la Bastille reichende alte Bahnhof, dessen Fläche den größten Teil des Baugrundstückes bildete, musste ebenso abgerissen werden wie rund 150 Wohnungen, ein Kino und ein bekanntes Restaurant ; Anwohner und Betreiber sollten umgesiedelt werden.167 Während die meisten betroffenen Bewohner ältere und wenig wohlhabende Menschen waren, die sich angesichts des angebotenen neuen Wohnraums kompromissbereit zeigten, kam es unter den Vertretern der kommerziellen Betriebe zu schärferem Protest. Sie lancierten ein offizielles Gegenprojekt, dessen Programm anstelle des Baus der Oper eine Renovierung des Bahnhofs, die Erhaltung der Häuser sowie die Schaffung von Spielplätzen, einem Ausstellungsraum und anderen Elementen lokaler Infrastruktur forderte.168 Der Protest zeigte nicht allein, dass die ‚opéra populaire‘ keinesfalls bei der Bevölkerung ungeteilt populär war, entscheidend war, dass ein konkretes alternatives Bild davon gezeichnet wurde, was bei der kulturellen Aufwertung des Viertels tatsächlich als volksnahe Idee repräsentativen Wert hätte haben können. 167 Vgl. Urfalino, Quatre Voix, 152ff. (Audon, Bloch-Lainé). 168 MdP, 06.07.1984.
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Die städtische Presse begleitete die Entwicklungen aufmerksam und schuf damit nicht nur den Anwohnern ein Forum ; sie machte den Protest vielmehr bald zu einem lohnenden Politikum. Die konservative Mehrheit der Neogaullisten im Rassemblement pour la République (R PR) und in der Union pour la Démocratie Française (U DF) im Conseil de Paris, der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac, und die politischen Vertreter der einzelnen Bezirke konnten öffentlichkeitswirksam an den Protest anknüpfen und ihn gezielt gegen die linke Staatsregierung ins Feld führen. Der Conseil de Paris musste die Abriss- und Baugenehmigung erteilen, die sich auf Grund der politischen Mehrheitsverhältnisse bis zum Spätsommer 1994 hinauszögern ließ. Zwar billigte der Rat die Bautätigkeit offiziell im Juli, doch um gesondert die Alternativvorschläge der Protestgemeinschaft zu prüfen, wurde eine Untersuchung, eine enquête d’utilité publique, anberaumt. Während diese lief, konnte der Pariser Bürgermeister weder die Enteignung noch den Abriss noch den Neubau genehmigen. Die erzielte Verzögerung war von Nutzen für die politischen Gegner, indem sie ihnen Zeit und Öffentlichkeit verschaffte. So stellte etwa der Bürgermeister des Arrondissements fest, „qu’il aurait été préférable, tout au moins de cette période de rougeur, d’affecter à la satisfaction de besoins plus prioritaires, touchant notamment dans le 12e (arrondissement, S.Z.) à la sécurité, à la santé, à l’enseignement, au logement, à la circulation“,169 und brachte damit seinen Vertretungsanspruch für die Interessen der Anwohner in Position. Der Pariser Bürgermeister Jacques Chirac nutzte die Entscheidungsphase über das Projekt Bastille gezielt, um die zentrale Regierung anzugreifen. Die parteipolitischen Auseinandersetzungen und der latente Konflikt zwischen Staat und Stadt legten sich beim Streit um die Bastille übereinander. „Je me demande si la réalisation de ce projet est opportune, et j’attire solennellement l’attention du gouvernement sur les conséquences d’une opération que je juge hasardeuse“, kritisierte Chirac, nicht ohne auf die hohe Verantwortung der Instanz des Staates zu verweisen, welche diese Regierung aufs Spiel setze – „A l’État de prendre ses responsabilités !“170 169 Pernin (UDF), zit. in MdP, 25.09.1984. 170 Der Conseil de Paris tagte am 24.09.1984. Chirac, zit. in Mo., 26.09.1984. Dieser Satz spielte mit einer Doppelbedeutung : ‚A l’État‘ bezeichnete nicht nur die Aufforderung an den Staat, Verantwortung zu übernehmen, sondern auch einen Aufruf ‚auf zum Staat‘, im Sinne, dort selbst Verantwortung zu übernehmen.
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Allerdings war auch den politischen Gegnern wie denen, die sich die Enquete, das Alternativprojekt und die Einbindung der Bürger wünschten, zu jedem Zeitpunkt dieses Konfliktes deutlich, dass es zu mehr als einer Verzögerung auch nicht kommen würde. Es ging bei der Oper um ein Anliegen des Staatschefs, und dieser würde sich in jedem Fall durchsetzen. „Le dernier mot a l’état“, prognostizierte der Quotidien de Paris diesen sicheren Ausgang und stellte klar, dass sich niemand letztendlich gegen den Willen des Präsidenten und sein Prestigeprojekt zur Wehr werde setzen können : „La démocratie aura demain un sérieux goût de totalitarisme.“171 Die mit dem Schlagwort der Demokratisierung etikettierte Oper musste sich auch den Wünschen aller stellen ; wie in diesem Artikel schlug die Enttäuschung dieser Erwartungen auch ins Gegenteil der versprochenen Demokratisierung um. Tatsächlich stand im September eine zwischen den politischen Lagern erzielte einvernehmliche Lösung fest, und so konnte am 5. Oktober 1984 mit dem Abriss des Bahnhofs begonnen und die Baustelle der Opéra-Bastille eröffnet werden. Doch in diesem ersten Konflikt hatte das Opernprojekt an der Place de la Bastille sein politisches Potenzial bewiesen. Nur wenig später avancierte es zu dem vielleicht zentralen symbolischen Territorium der Machtkämpfe der 1986 beginnenden Cohabitation. Vor allem auf Grund dieser Zeit ging die OpéraBastille als „le plus contesté du grands projets“172 in die Geschichte ein. Die Cohabitation war eine neue politische Konstellation, die auf Grund sich auflösender bis dahin stabiler Mehrheitsverhältnisse der politischen Landschaft Frankreichs entstanden war. Das politische System der V. Republik sieht eigentlich eine kooperative Doppelspitze als Staatsführung vor, die häufig mit einem Komponisten, der die Musik schreibt, und einem Dirigenten, der das spielende Orchester leitet, verglichen worden ist.173 Der Präsident gibt das Programm vor und fällt die Entscheidungen, die der Premierminister mit der ihm unterstellten Regierung ausführt. Diese Konstellation funktioniert, solange die Mehrheiten in der Nationalversammlung dem politischen Lager des Präsidenten entsprechen und seine Entscheidungen decken. Die Situation der Cohabitation entsteht, wenn die parlamentarische Mehrheit vom gegnerischen Lager des gleich171 QdP., 19.07.1984. 172 Mo., 10.07.1986 ; Fig., 22.07.1986 ; Collard, Architectural Gestures, 38f. 173 Vgl. Duhamel, La politique culturelle, 87.
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wohl amtierenden Präsidenten gewonnen wird und die staatliche Doppelspitze somit zur politischen Konfrontation wird.174 Die Rollenverteilung an dieser Spitze wird durch die Veränderung der Mehrheitsverhältnisse erheblich beeinflusst, wie Alain Duhamel es treffend zuspitzt : „Lorsque la majorité parlementaire reflète celle du président, le chef de l’État est le vrai chef du gouvernement, et le premier ministre le premier de ses ministres. En période de cohabitation, le premier ministre devient le véritable chef du gouvernement, le président de la République se cantonnant à son rôle de chef de l’État.“175 Nach den von dem R PR und der U DF gewonnenen Parlamentswahlen im März 1986 standen sich nun der sozialistische Präsident Mitterrand und die Mitte-Rechts-Regierung sowie ihr Premierminister, der bisherige Pariser Bürgermeister Jacques Chirac, gegenüber, der, seitdem er bereits 1981 als Präsidentschaftskandidat gegen Mitterrand verloren hatte, zudem Oppositionsführer war. Diese unbekannte politische Situation verlangte nicht nur nach neuen Regeln des Regierens, sondern auch nach neuen Symbolen, mit denen die jeweiligen Ansprüche auf die Macht deutlich gemacht werden konnten. Der Zustand der Cohabitation unterschied sich von einem regulären Regierungswechsel, und so musste den Hinterlassenschaften der abgelösten Kräfte auch anders begegnet werden. Nach dem Machtwechsel von 1981 waren repräsentative Projekte der Vorgänger einfach übernommen worden ;176 mit dem p olitischen Umbruch war damals gewissermaßen auch die symbolische Bauherrenfunktion auf den neuen Präsidenten übergegangen. 1986 aber blieb das Repräsentationssubjekt dieser Projekte, François Mitterrand, im Amt ; eine uneingeschränkte Fortsetzung der Grands Travaux hätte eine Anerkennung des Fortbestands seiner Machtposition bedeutet : Mehr noch, die Zurückdrängung auf die Rolle des Staatschefs schwächte zwar seine exekutive Macht, betonte und stärkte aber zugleich seine Stärke als repräsentative Instanz. Der exekutiv weitgehend entmachtete Staatschef gab sich nunmehr als ‚Präsident aller Franzosen‘, der über den Dingen stand. Seine residuale Macht war stärker als je zuvor, und deren Symbole wurden zu seinen potentesten Herrschaftsinstrumenten.177 Dagegen musste die Cohabi174 Vgl. etwa Kempf, Das politische System. 175 Duhamel, La politique culturelle, 75. 176 So der Bau des Institut du Monde d’Arabe und das Musée d’Orsay. 177 Vgl. Knapp/Wright, The Government, 127.
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tations-Regierung angehen – allen voran Chirac, der sich in dieser Zeit wieder zum präsidialen Gegenkandidaten aufbauen wollte. Die Oper bot sich deswegen als besonders geeignetes Terrain, weil sie anschlussfähig an jene Vorgeschichte von 1984 war, in die Chirac bereits als Bürgermeister involviert war. Die damalige Machtprobe ließ sich nun ‚auf Augenhöhe‘, also auf staatlicher Regierungsebene, wiederholen. Das repräsentative Opernbauprojekt erlaubte es, das Monopol auf den ästhetischen Ausdruck der Nation zu beanspruchen – ein Wert, um den es zwischen den konkurrierenden Akteuren um das führende Amt dieser Nation zu streiten lohnte. Die neue Regierung versuchte daher durch die Nutzung eigener kulturpolitischer Handlungsspielräume den Präsidenten des Anspruches auf sein Prestigeprojekt Oper zu berauben. Dem standen allerdings Hürden im Weg : Die alte Regierung hatte in einem „coup politique, médiatique et lyrique“178 wie die Tageszeitung Le Monde ihn konstatierte, eine ungekannte nationale und internationale Öffentlichkeit für den Bau geschaffen. Bevor der erste Spatenstich gesetzt war, verfolgten und dokumentierten Kameras den Bau. Das Vorhaben war so geschickt positioniert worden, dass es öffentliche Bilder geschaffen hatte, die nicht mehr so leicht aus dem Weg zu räumen sein sollten. Zudem hatte kurz vor der Wahl von 1986 ein großes Fachkolloquium endlich die programmatischen Fragen der BastilleOper in Angriff genommen. Internationale Experten und Akteure des Pariser Musiklebens, Künstler und Kulturmanager waren in Nanterre zusammengekommen, um die Vision der Opéra-Bastille mit konkreten Vorstellungen zur künstlerischen Produktion, vor allem aber zur Betriebsform, zu Strategien der Bespielung bis hin zu den Kosten der Eintrittskarten und Anzahl der Vorstellungen zu entwickeln.179 Schließlich waren von den ursprünglich für die neue Oper geplanten 2,2 Milliarden Francs zu diesem Zeitpunkt bereits 1,4 Milliarden ausgegeben worden. Für eine vollständige Umkehr schien es daher insgesamt bereits zu spät. Andererseits standen aber erst die Fundamente des Neubaus, und eine Oper war somit in der Baustelle noch nicht zu erkennen. Daher hofften Mitterrands und Langs Gegner, mit einer funktionellen auch eine symbolische Umdeutung zu 178 Mo., 20.06.1985. 179 Vgl. Croix, 05.02.1986 ; Mo., 05.02.1986.
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erzielen. Wie diese allerdings erfolgen sollte, darüber herrschte innerhalb des konservativen Bündnisses bald offensichtliche Uneinigkeit. Innerhalb des Regierungslagers standen sich zwei Positionen gegenüber : Vor allem Premierminister Chirac und sein Finanzminister Eduard Balladur strebten eine mögliche Beendigung des Projektes an, um damit aus dem Symbol des Sieges Mitterrands ein Symbol seiner Niederlage zu machen und an dem Projekt ein Exempel für den politischen Wechsel und bestimmte politische Prinzipien zu statuieren. „En arrivant rue de Rivoli Eduard Balladur avait dans sa poche l’ordre d’arrêt définitif du chantier de l’opéra de la Bastille. D’une pierre il comptait faire trois coups : humilier Mitterrand, embarrasser Léotard et prouver, devant tous, ses talents d’économe.“180 Bereits vier Wochen nach der Wahl wurde eine Kommission zur ‚Reexaminierung‘ des Opernprojektes eingesetzt. Diese Mission Chevrillon war zwar offiziell vom neuen Kulturminister, François Léotard, berufen worden, doch sollte sie vor allem im Sinne einer neuen wirtschafts- und finanzpolitischen Programmatik der neuen Regierung handeln, die, um sich vom alten gaullistischen Etatismus abzusetzen, auf geringere staatliche Verwaltung und weniger öffentliche Ausgaben zielte. Die Politik sollte unter das Primat der Finanz- und Wirtschaftspolitik gestellt werden, um so von dem Prinzip des ‚tout culturelle‘ Mitterrands und Langs Abstand zu gewinnen. Die Kritik der Kommission an den bisherigen Planungen fiel dementsprechend aus : Der Stab des E P OB habe die Nachfrage nach Oper erheblich über- und die Kosten eines neuen Opernbetriebes unterschätzt ; wie geplant ließe sich das Vorhaben nicht realisieren. Den Akteuren im Umfeld der neuen Oper wurde umgehend deutlich, „que la ‚mission Chevrillon‘ voulait montrer que, de tout facon, l’Opéra coûterait trop cher“.181 Die Notwendigkeit der neuen Oper stand damit offen zur Disposition. Von der Reichweite, die diese Prüfung haben sollte, zeugte unter anderem der merkwürdige Status der Arbeit der Kommission Chevrillon, die nach dem Modell des ‚secret défense‘ zum im kulturpolitischen Feld exotischen ‚secret culture‘ erklärt wurde.182 In dem Bericht zeigte sich jedoch auch, dass der funktionellen Umwidmung des Baus Grenzen gesetzt wa180 Fleuret, in: Nouvel Observateur, 08.12.1988. 181 Urfalino, Quatre voix, 209 (Dittmann). 182 Vgl. Mo., 25.06.1986.
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ren. Im Wissen um die Gefahr, die durch einen politischen Sieg des konservativen Lagers drohte, hatte man sich gezielt bemüht, den Bau so weit voranzutreiben, dass ein Rückbau oder ein funktioneller Umbau nicht mehr mit vertretbaren Kosten zu leisten war.183 Chirac griff daher den Vorschlag der Kommission auf, die Institutionen der geplanten Cité de Musique, deren Bau noch nicht begonnen hatte, auf dem Gelände an der Bastille unterzubringen, um an dem Ort eine „domaine musicale“ zu entwickeln, die nicht den prestigeträchtigen monumentalen Charakter der Oper hatte und ermöglichte, zwei Grands Projets auf eines zu reduzieren. Um dem Willen zur radikalen Veränderung Nachdruck zu verleihen, wurden am 17. Juli 1986 die Bauarbeiten an der Bastille für vier Wochen gestoppt. Die dadurch entstehenden Kosten von 750.000 Francs pro Tag, welche die Anhänger des Opernbaus beständig anmahnten, waren der hohe Preis für einen demonstrativen politischen Akt. Kurz darauf, am 21. Juli, verkündete Chirac persönlich, an der Bastille werde keine Oper, sondern ein „grand auditorium“ entstehen, ein universell nutzbarer Konzertsaal. Endlich sei klar : „L’Opéra Bastille est définitivement enterré. Vive l’auditorium de la Bastille !“,184 jubelte der Figaro am Folgetag. Die Bastille schien als eine der umstrittensten der Grands Travaux auch das erste Opfer der Cohabitation zu werden. Dass es schließlich dazu nicht kam, wird gemeinhin den politischen Ambitionen des Kulturministers François Léotard zugeschrieben,185 der sich gegen die Pläne Chiracs und Balladurs stellte. Léotard, der eigentlich für den Posten des Verteidigungsministers vorgesehen war, hatte das Amt des Kulturministers mehr zufällig als ‚Abfindung‘ erhalten.186 An der Spitze des von dem radikalen und charismatischen Jack Lang geprägten Ministeriums musste er den Kurs der Mitte-Rechts-Koalition durchsetzen und zugleich als Generalsekretär der Parti Republicain, Teil der U DF in der Regierungskoalition, sein eigenes politisches 183 „Nous construisons très vite de manière que l’ouvrage ait atteint au printemps prochain (dem Zeitpunkt der Wahl, S.Z.) un seuil irreversible“ wurde ein Jahr zuvor ein ,haut fonctionnaire‘ ; zitiert, Mo., 20.06.1985. 184 Fig., 22.07.1986. 185 Vgl. etwa Eling, Presidentialism, 334 ; Loosely, The Politics of Fun, 169. 186 Mitterrand blieb in seiner Rolle als Staatspräsident die Dominanz in der Außen- und Sicherheitspolitik, weswegen er starke Vertreter der gegnerischen Parteien in diesen Ämtern ablehnte.
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Gewicht und das seiner Partei zur Geltung bringen. Einerseits konnte er deswegen nicht einfach die von seinem Vorgänger betreuten Kulturprojekte abbrechen, weil es ihn allein als Verhinderer und nicht als konstruktiven und kompetenten Kulturpolitiker gezeigt hätte, andererseits musste er eigene Akzente setzen. Dies bedeutete angesichts der mächtigen Worte, welche die Kulturpolitik seines Vorgängers geprägt hatten, auch eigene Begriffe zu setzen. Als Anhänger eines wirtschaftsliberalen Kurses nach dem Vorbild Reagan und Thatcher zielte er auf Privatisierung statt staatlicher Gestaltung, was er im Mediensektor etwa durch den Verkauf des größten öffentlichen Rundfunksenders TF1 auch zum Ausdruck brachte. Dafür taugte aber die Opéra-Bastille nicht. Als repräsentatives Monument des Präsidenten und Arena politischer Stellvertreterkriege, erforderte diese Institution, Stärke zu demonstrieren und sie vor allem strategisch unter eigenen politischen Vorzeichen zu nutzen. Dies tat Léotard, in dem er sich, statt wie sein Vorgänger Lang auf ‚modernité‘ und ‚création‘, vor allem auf die Pflege des kulturellen Erbes berief : „Le patrimoine est le socle même de notre identité, de notre identité nationale, comme de nos identités locales. Il est une source, ai-je dit plusieurs fois, mais également une ressource économique, culturelle, et j’ajouterai spirituelle“,187 lautete Léotards kulturpolitisches Bekenntnis. Die opernpolitische Umsetzung dieses Grundsatzes bedeutete in erster Linie eine Rehabilitierung des Palais Garnier als prachtvolles und traditionsreiches Zentrum der Oper und des Balletts in Frankreich. Dessen Zukunft als Oper hatten der Stab der E POB und der ein Jahr zuvor berufene Direktor der neuen Oper, Gérard Mortier, gerade beendet – „Le pôle lyrique de Paris resterait donc au Palais Garnier“,188 verkündete nun Léotard. Zur Vorgehensweise mit der Baustelle an der Place de la Bastille hatte der Kulturminister seinem Premierminister ein eigenes Kommuniqué vorgelegt, das nach Verhandlungen zwischen dem Planungsstab der Oper und der Musikdirektion des Kulturministeriums einen Kompromiss vorsah, den Léotard als „grand théâtre national à vocation musicale, chorégraphique et lyrique“ bezeichnete.189 Im Wesentlichen sollte die Beibehaltung der Funktion des Baus 187 Léotard, AN, 18.12.1987. 188 Zit. in Mo., 04.07.1986. 189 Urfalino, Quatre voix, 222 (Dittmann).
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gesichert werden, allerdings ohne den klangvollen Namen und Status einer neuen Opéra und unter einem auch kommerziell nutzbaren Organisationsstatus. Doch eine Woche nach der Vorlage dieses Plans verkündete Chirac am 21. Juli 1986 jene eigene Entscheidung zum grand auditorium. So ähnlich sich die beiden Konzepte insgesamt auch waren, der Stopp der Baustelle, der Plan über die Zukunft des Hauses sowie die öffentliche Verkündung geschahen direkt seitens des Premierministers über den Kopf des Kulturministers hinweg. Es ging augenscheinlich eben nicht um eine kulturpolitische Nachjustierung und konzeptionelle Ausgestaltung der Opernpolitik, sondern um die Übernahme des Prestiges und der Aufmerksamkeit, die an dem Projekt hafteten.190 Dieser interne Konflikt eröffnete drei dynamische Handlungsketten, die zur Folge hatten, dass anderthalb Jahre später das Opernprojekt fast vollständig wieder in den Bahnen der ursprünglichen Planung verlief. Zunächst stärkte der Streit zwischen den politischen Instanzen vor allem die unmittelbaren Akteure der Oper (ebenso wie die der Cité de la Musique, die nun an ihrer Seite um die Fortsetzung beider Projekte fochten) und ihre Lobby – allen voran der berühmte und einflussreiche Komponist Pierre Boulez.191 Solange kein offizielles Urteil über die Zukunft des Neubaus gefällt worden war, konnten die Planer ihre Handlungsspielräume nutzen und durch ihre Arbeit weitere schwer reversible Tatsachen schaffen. Zweitens musste Léotard beweisen, dass er die kulturpolitische Kompetenz der Regierung vertrat. Um sein Vorhaben eines théâtre musical an der Bastille, das auch anderen Nutzungen offen steht, im politischen Spiel zu halten, berief er Anfang 1987 eine neue Kommission ein. Mit der erneuten Prüfung der Zukunft der Oper wurde, dem Wunsch Léotards nach einer Stärkung der alten 190 Vgl. auch Barontini, Le nouvel opéra-bastille. „En sauvant la Bastille, Léotard comptait réutiliser le prestige des Grands Travaux au profit de la nouvelle majorté“, heißt es dort allerdings, womit zwar die Übernahme des Prestiges, nicht aber der Konflikt um dessen Beanspruchung innerhalb des konservativen Lagers berücksichtigt wird. 191 Der prangerte immer wieder öffentlich die politischen Streitereien um das Opernprojekt an : „Ce qui frappe dans cette affaire, c’est l’impossibilité qu’il y a en France de faire du management artistique de manière professionnelle“, erklärte er. Man habe alles geplant, berechnet und überprüft und nun „on compromet l’avenir pour des raisons politiques et pour récupérer de millions dans le budget. (…) Ce sont des méthodes dignes de l’inquisition“, in Mo., 04.07.1986.
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Oper entsprechend, der amtierende Präsident des Palais Garnier, Raymond Soubie, beauftragt. Der jedoch unterstützte in seinem Ergebnisbericht überraschend den Bau der neuen Opéra-Bastille. Mit dem Palais Garnier unter dem Dach einer gemeinsamen, noch kulturpolitisch zu bestimmenden Institution angesiedelt, solle sie die benötigte ‚Revolution‘ ins Pariser Opernleben bringen. So ergab sich, dass Léotard seinen Anspruch auf das Prestige des Grand Projet nur unter weitreichender Erfüllung der Pläne der Akteure aus dem Umfeld der Oper erzielen konnte. Nur unter Verweis auf einen – von ihm begünstigten – Sieg der Oper ließ sich auch seine Durchsetzung gegenüber Chirac und Balladur begründen. „C’est pour moi un point d’honneur de montrer qu’il s’agit d’un projet pour la France qui dépasse les péripéties politiques“,192 verkündete er im Frühjahr 1987 und versprach sogar eine „manifestation prestigieuse“ in dem Neubau am 14. Juli 1989. Mit dieser Form der Anpassung an die Pläne von E POB, Soubie und Boulez erhielten diese wiederum Handhabe, immer mehr der ursprünglichen Pläne in den Kompromiss mit dem Kulturminister einzuflechten. Im Januar 1988 schließlich erklärte Léotard in einem Interview mit La Croix eine vollständige Rückkehr zum Initialprojekt für nicht mehr undenkbar.193 Drittens schließlich stärkte der Zwist den Urheber der so umstrittenen Repräsentation. Mitterrands Kunst in dieser Zeit des Konfliktes um die OpéraBastille bestand darin, sich fast vollständig aus der Diskussion herauszuhalten und ‚sein‘ Projekt weder öffentlich noch im Verborgenen zu verteidigen ; ein Verhalten, das häufig als Ausdruck seines eigentlich geringen Interesses an der Oper interpretiert worden ist.194 Es erwies sich jedoch als die beste Strategie, den Umdeutungen des Symbols ihre Wirkung zu nehmen. Es reichte eine einzige Geste während der gesamten Cohabitation, um die Kontinuität der Ansprüche des Präsidenten an das Gebäude deutlich zu machen : ein Besuch auf der Baustelle im Juni 1987. Mit einem gelben Schutzhelm durchschritt der ‚Bauherr‘ Mitterrand, wieder von zahlreichen Kamerateams begleitet, die Baustelle und ließ sich, gemeinsam mit Pierre Boulez, von den Verantwortlichen 192 Mo., 28.04.1987. 193 Croix, 28.01.1988. 194 Vgl. Collard, Gestures ; Eling, Presidentialism ; Mefti/Grouard, 1981–1991.
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den Fortschritt des Baus zeigen und erklären ; ganz so als habe es niemals eine Abweichung von seinem Plan gegeben. Nach seiner Haltung zur aktuellen Diskussion um den Bau befragt, entgegnete er nur : „Vous voulez savoir si je suis pour la salle modulable (ein bis zuletzt umstrittener zweiter Saal in dem Opernhaus, S.Z.) ? Oui. Si je suis pour que l’Opéra-Bastille fonctionne bien ? Oui. Si je suis contre les absurdités ? Oui.“195 Mitterrand konnte sich vor aller Augen gegen die „absurdités“ des politischen Alltagsgeschäftes mit dem Künstler Boulez verbünden. Nach seiner Wiederwahl als Präsident der Republik im Frühjahr 1988 löste Mitterrand die Nationalversammlung auf und führte so Neuwahlen herbei, nach denen wieder eine linke Regierung ernannt wurde und auch Jack Lang wieder seinen Posten an der Spitze des Kulturministeriums einnahm. Das Opernprojekt wurde – sofern dies nicht ohnehin schon von Léotard bewerkstelligt worden war – im Sinne seiner ursprünglichen Planung vollständig rehabilitiert. Damit war auch die vermeintliche Klarheit und Eindeutigkeit staatlicher Repräsentation zunächst wiederhergestellt. 2.2.3 Künstlerische und administrative Leitung
Der Streit der politischen Lager um den Opernbau an der Bastille und seine symbolische Rolle setzte sich in der künstlerischen Konzeption des Hauses fort. Dieser Konflikt offenbart weitere Facetten des Ringens um eine kohärente hoheitliche Repräsentation und dass dies – ungeachtet der normativ verankerten Freiheit der Kunst – auch vor der inhaltlichen, künstlerischen Arbeit der neuen Oper nicht Halt machte. Er zeigt die Kontinuität, mit der versucht wurde, mit der Oper ein symbolisches Instrument zur Sicherung von politischer Macht und ihrer Legitimität zu erzeugen, ebenso deutlich wie die vielfältigen öffentlichen Interpretationen, die entstanden, weil sich auf Grund einer Schwächung des hoheitlichen Bezugspunktes konfligierende Interessen und Deutungen um den repräsentativen Anspruch des Hauses multiplizierten. Die neue Oper sollte sich, da sie nach den Verwerfungen und der Reorganisation während der Cohabitation auch als solche ihrer Eröffnung entgegen195 Zit. in Mo., 20.06.1987.
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blickte, auch durch ihre inhaltliche Erneuerung von der alten unterscheiden. Neben der Architektur und Organisation sollte auch die Bühne Bilder der ‚Innovation‘ zeigen und einer neuen Opernästhetik und Qualität Raum gegeben werden. Der Spielplan des Palais Garnier hatte noch immer Stücke aus der Ära Liebermann im Programm und vor dessen Neuproduktionen waren einzelne Inszenierungen des Kernrepertoires bis zu 2300-mal auf die Bühne gebracht worden.196 Insbesondere um die künstlerische Leistung rankten sich Geschichten und Gerüchte, die den Erneuerungsbedarf an einem neuen Haus unterstrichen. „Das Ensemble bestand zu einem Gutteil aus Günstlingen, wie etwa der Frau eines Senators, aus Mätressen und Liebhabern von Politikern“,197 erinnerte etwa der Assistent des langjährigen und legendären Intendanten Liebermann und spätere Chef der Bastille, Hugue Gall. Stars hätten das Repertoire bestimmt, nicht eine künstlerische Konzeption oder ein Profil. Jenseits der gegenüber dem normalen Publikum abgeschotteten Galavorstellungen sei der prachtvolle Saal nicht selten mit Reisegruppen gefüllt gewesen, die in der Pause ausgetauscht worden wären – die künstlerische Qualität auf der Bühne war da zweitrangig. Vor dieser Kontrastfolie sollte sich nun an der neuen Oper eine nicht nur effiziente, sondern auch exzellente Arbeit entwickeln können. Wie hatte der Spielplan einer ‚opéra moderne et populaire‘ auszusehen ? Wie schon in der Debatte über den nicht französischen Architekten des Opernbaus zeigte sich in der Frage nach der künstlerischen Gestaltung an dem neuen Haus, wie sehr die Formel des ‚Populären‘ einen nationalistischen Duktus trug. „L’Opéra doit être au service de la nation“,198 war der Grundgedanke, der aus der Berufung auf das ‚Volk‘, für das diese Oper geschaffen werden sollte, immer wieder abgeleitet wurde und diesen Anspruch galt es nicht nur im Sinne einer Öffnung für alle zu sichern, sondern auch künstlerisch einzulösen : „Le nationalisme en matière d’opéra (…) cela consiste à offrir aux français ce qu’il y a de meilleur au monde. C’est ce que nous faisons depuis Lully“,199 verwies der Senator Raymond Bourgine auf die entsprechende Pflicht, in der Pariser Oper vor allem das französische Repertoire zu pflegen. 196 Vgl. Saint-Pulgent, Syndrome, 192. 197 Zit. in Merian ‚Paris‘, 9 (1997). 198 Hier der spätere Kulturminister Toubon : AN, 14.03.1994. 199 Bourgine, Senat, 08.12.1989.
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Der 1987 zum ersten musikalischen Leiter des Hauses berufene Dirigent Daniel Barenboim geriet mit seinen Versuchen, eine eigene Interpretation des Auftrags, ‚moderne et populaire‘ vorzuschlagen und durchzusetzen, beispielhaft in die Mühlen der politischen Konfrontation. Im letzten Jahr vor der feierlichen Eröffnung des Hauses, stritten Barenboim und der Präsident der Oper, Pierre Bergé, um die programmatische Ausrichtung des Hauses, Personal- wie Repertoirefragen und trugen damit den Konflikt um die politische Dominanz über die Opéra de la Bastille auch in ihrem Inneren aus. Im Frühjahr und Sommer 1987 – das heißt in Mitten der ersten Cohabitation – stellte die amtierende Regierung das Leitungsteam des neuen Hauses zusammen, welches diese künstlerische Planung entwickeln sollte. Der Dirigent Daniel Barenboim wurde als musikalischer und künstlerischer Direktor, Eva Wagner-Pasquier, Urenkelin des Komponisten Richard Wagner, als Programmdirektorin und der Pianist und Dirigent Pierre Vozlinsky als Generaldirektor der neuen Oper berufen. Nach der geplanten Verbindung von Garnier- und Bastille-Oper im Anschluss an die Eröffnung des neuen Hauses sollte das Team beide Häuser führen. Die Trias wurde von der Presse mit Begeisterung begrüßt ; angesichts der geschilderten politischen Auseinandersetzungen freuten sich die Feuilletons darauf, dass sich die Aufmerksamkeit endlich auf künstlerische Inhalte richtete, und feierten den Einzug des so lange vermissten ‚Geistes‘ (‚génie‘) in das neue Haus.200 Doch schon bald trübte sich die Vorfreude, denn wieder zeigten sich die schlagwortartigen Motive, welche die Wahrnehmung, Bewertung und nun auch das Handeln der berufenen Persönlichkeiten prägte, zu aufgeladen und schillernd, als dass sie harmonische Ergebnisse erlaubt hätten. So begriff der musikalische Leiter des Opernhauses, dessen Programm er nun konzipieren sollte, die Idee der ‚opéra moderne et populaire‘ als Legitimationsgrundlage nicht nur für seine Spielplangestaltung, sondern auch für die Umstrukturierung des Ensembles : Im Januar 1987 hatte das Kulturministerium in Anlehnung an die Vorschläge des Rapport-Soubie noch vorgesehen, beide Häuser unter gemeinsamer Führung und auch mit dem musikalischen Personal (Chor und Orchester) des Palais Garnier zu bilden. Kurz nach seiner Berufung verkündete Baren200 Mo., 01.08.1987 ; FS, 31.07.1987.
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boim aber unter anderem das Vorhaben, von dem 140 Musiker umfassenden Klangkörper nur einen Kern von 30 Personen zu übernehmen, um den künstlerischen Neustart mit einem erneuerten und verjüngten Orchester begehen zu können. Dem zuerst so begeistert Begrüßten schlug bald schon der öffentlich gemachte Protest der Betroffenen entgegen. Anfang 1988 begannen Aktionen gegen den Plan, das alte Orchester zu Gunsten eines neuen aufzulösen. Dabei passte sich auch das argumentative Repertoire der Gegner den repräsentativen Ansprüchen an die Oper an : Wenn die neue Oper die aller Franzosen werden solle, müsse sie auch die Republik, ihr Volk und ihre Kultur repräsentieren und könne deren Traditionen nicht einfach vernachlässigen, hieß es. Man dürfe nicht in einer ‚Tabula Rasa‘ eines der ältesten Orchester Europas auflösen, das 1672 durch Lully gegründet worden sei und damit überhaupt die Oper in Frankreich erst erschaffen habe. Am Plan, eine Instrumentengruppe, die ‚bassons français‘ durch normale moderne Fagotte auszutauschen,201 fand dieser Anspruch einen beispielhaften Anknüpfungspunkt, verkörperte er doch „la vo lonté de Barenboim de transformer la spécificité sonore bien française de l’or chestre en la standardisant, en l’internationalisant“.202 Es ging also um nichts Geringeres als die Entweihung eines Stückes französischer Identität. Die Mitglieder des Orchesters der Opéra Garnier verteilten Flugblätter und dokumentierten die Solidarität im Publikum für den Bestand als Orchèstre de l’Opéra und gegen Barenboim durch eine Unterschriftensammlung.203 Der daraufhin ausgehandelte Kompromiss, den bestehenden Orchestermitgliedern beim Vorspiel für die Neubesetzungen den Vortritt zu lassen, kam allerdings nicht mehr zustande – denn statt des Orchesters musste Barenboim bald darauf seinen Posten räumen ; die Musiker zogen als vollständiges Orchester in das neue Opernhaus ein. Dazu kam es durch die Zuspitzung des Konfliktes zwischen den Hauptakteuren der Oper – Barenboim auf der einen Seite und dem im Herbst 1988 eingesetzten Präsidenten der Oper, Pierre Bergé, auf der anderen – die beide ihre Vormachtstellung an dem Haus durch den anderen bedroht sahen. Im 201 Vgl. Meyrick, Le Basson. 202 Croix, 21.01.1988. 203 Vgl. NZZ, 16./17.04.1988.
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Laufe des Herbstes und Winters 1988, ein gutes halbes Jahr vor der Inauguration, eskalierte dieser öffentlich ausgetragene Machtkampf, der sich im Kern um zwei Konfliktherde drehte : zum einen die von Barenboim konzipierte Spielplangestaltung, zum anderen den Vertrag des Dirigenten und die Aufgabenverteilung zwischen den verantwortlichen Akteuren in der Leitung des Opernhauses. Hinter beidem wirkte maßgeblich der repräsentative Anspruch an die neue Oper, der seine Wurzeln in der politischen Konzeption des Hauses hatte, und die beiden internen Kontrahenten standen einander in ihrem Versprechen, diesem Anspruch zu dienen, in nichts nach : Barenboim verteidigte sein Recht auf die Gestaltungsmacht an der Oper mit dem programmatischen Auftrag des Hauses : „Je m’occupe en grande partie des choses qui sont les miennes : orchestre, chanteurs, metteur en scène. (…) Il faut des idées cohérentes pour faire un opéra moderne et populaire.“204 Es ginge keinesfalls darum, die Macht an dem Hause nicht zu teilen, versicherte er seine Bereitschaft, die finanzielle Verantwortung abzutreten ; die gebe er gerne an einen „Mann des Theaters“ ab. Damit diskreditierte er offen Bergé, der nur wenig Erfahrungen mit der Leitung eines Theaterbetriebs besaß205 – „Le dilettantisme est très dangereux (…) de plus, la programmation pour les trois premières saisons était faite depuis long temps par une équipe professionnelle.“206 Genau diese Fähigkeit Barenboims, eine kohärente Planung im Sinne der Idee der Oper zu entwickeln, gelang es wiederum Pierre Bergé in Zweifel zu ziehen. Dabei konnte er an die in der Presse wie im Parlament bereits diskutierte Frage des angemessenen Repertoires und insbesondere der erwarteten Eröffnungspremiere anknüpfen. Als 1985 der später wieder zurückgetretene Generaldirektor Gérard Mortier Mozarts Zauberflöte als Premiere ins Gespräch brachte, machte die sozialistische Tageszeitung Libération unmissverständlich klar : „Désirer ouvrir l’opéra de la Bastille avec la flûte enchantée de Mozart le 14. Juillet 1989, est un affront à l’identité culturelle française.“ Es stünde ganz außer Frage, so die Libération weiter, dass „l’opéra nouveau doit se voir inauguré grâce à l’épopée de Berlioz, les Troyens. 204 Canal 2, 12.12.1988, INA No. CAB88047710. 205 Bergé war PDG bei Yves Saint Laurent, Berater und Manager von Mitterrand und betrieb zeitweilig ein kleines privates Theater. 206 In Sept sur Sept, Canal 1, 22.01.1989, INA No. CAA89002957.
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Le monde entier l’admire et les experts les plus avisés constatent de manière unanime – quelle est de taille analogue à la Tétralogie de Richard Wagner“.207 Der Plan Barenboims, die Oper mit Don Giovanni zu eröffnen, trug dem Anspruch an die Oper, gute künstlerische Leistungen hervorzubringen, die zugleich dem Vertretungsanspruch der Oper gerecht werden, ebenfalls nicht ausreichend Rechnung. Erinnernd an den allgemeinen Auftrag des Opernhauses sowie die konkreten Plänen des Colloque de Nanterre, in dem vor Beginn der Cohabitation die programmatische Ausrichtung des Hauses entwickelt worden war, stellte Le Monde fest, dass „(avec) le programme annoncé par Daniel Barenboim (…) on est passé à une conception diamétralement opposée“.208 Den Programmvorschlag für die Eröffnungssaison, der außer Don Giovanni noch Tristan und Isolde, Parsifal, Carmen, Pique Dame und Madama Butterfly enthielt, konnte Pierre Bergé daher mit öffentlichem Rückhalt als dezidiert ‚nicht populär genug‘ ablehnen und damit die programmatische Kompetenz über das Haus zurückgewinnen. „Ce qui avait été prevue par M. Barenboim ne convient ni au Président de la Républiqie ni à moi-même“,209 verkündete er und verwies damit zugleich auf die letztgültige Legitimationsinstanz, vor der die Wahl bestehen müsste – den Staatspräsidenten. Der Konflikt erschöpfte sich nicht in der Deutung des richtigen und ‚legitimen‘ Programmes – auch der Status der Akteure wurde eine Frage, welche mit Bezug auf die großen Themen, für die diese Oper stehen sollte, diskutiert werden konnte. Vor allem der großzügig dotierte Vertrag Barenboims, der ihm ein Grundgehalt von 5 Millionen Francs jährlich und weitere 150 Tausend Francs pro Vorstellung zusicherte, aber nur eine Anwesenheit von vier Monaten an dem Haus vorsah, wurde detailliert der Öffentlichkeit bekannt gemacht und daraufhin zur Zielscheibe der Kritik.210 „La rémunération de M. Barenboim n’est pas supportable par la nation“,211 konstatierte der Präsident der Oper, Pierre Bergé, im Januar 1989 und stellte dem Dirigenten ein einwöchiges Ultimatum, seinen Vertrag in der bestehenden Form aufzugeben und sich Bergé 207 Lib., 31.05.1985. 208 Mo., 24.01.1989. 209 Pressekonferenz am 11.01.1989, zit. n. AFP. 210 Vgl. Sept sur Sept, 22.01.1989, a.a.O. 211 Zit. in : QdP., 12.01.1989.
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unterzuordnen. Nach Ablauf des Ultimatums verkündete er unmissverständlich : „Je déclare vacant le poste de directeur de la musique.“212 Auch Barenboim versuchte daraufhin, die staatliche Entscheidungsgewalt und die nationale wie internationale Reputation, die diese mittels der Oper für sich zu gewinnnen hoffte, zu einer Entscheidung zu seinen Gunsten zu bewegen. Er berief eine große Pressekonferenz ein, in der er sich direkt an den Präsidenten der Republik wandte : „C’est à lui de choisir ma présence et celle de la communauté internationale que j’avais invitée, ou d’accepter la programmation pour un théâtre d’opéra fait par un PD G d’une maison de couture. Merci !“213 Dabei erhielt Barenboim Rückendeckung von prominenten bereits an das Haus engagierten Künstlern, die nun ihren Rückzug von den geschlossenen Verträgen ankündigten.214 Doch der Appell an das Gewissen Mitterrands, er möge sich für den Dirigenten und seine illustre Künstlergefolgschaft entscheiden, war vergebens. Der Elysée-Palast gab während des gesamten Streites wie jetzt zum Zeitpunkt der Eskalation keine Stellungnahme ab. Die Androhung rechtlicher Mittel und der Hinweis auf seinen legalen Vertrag („je ne suis pas démissionnaire. J’ai signé un contrat avec le gouvernement de la France (…) c’est aux tribunaux de décider“) halfen Barenboim anschließend ebenso wenig wie der Fingerzeig auf den entscheidenden politischen Aspekt, der sich hinter diesem Konflikt verbarg : „Le président de la République était lui même, comme je l’ai déjà dit, président en juillet 87, et il l’est toujours aujourd’hui.“215 Er sprach mit dem Verweis auf die Kontinuität im Amt des Präsidenten zugleich die Diskontinuität der Regierung an und damit die politische Dynamik, der er in diesem Konflikt zum Opfer gefallen war. Sie zeigt sich erst bei einem Blick auf die politischen Zusammenhänge, in welchen die Kontrahenten in ihre Ämter gekommen waren. Das heißt, jenseits ihrer Versuche, differierende Vorstellungen der künstlerischen Gestaltung an der Oper durchzusetzen, verteidigten Bergé und Barenboim vor allem die Kom212 Ausschnitte der Pressekonferenz vom 13.01.1989 in Journal Actuel 2, Canal 2, INA No. CAB89001857. 213 Ausschnitte der Pressekonferenz vom 16.01.1989 in Midi 2, Canal 2, INA No. CAB89002015. 214 Ihm zur Seite stand wieder der Komponist Pierre Boulez sowie der berühmte Regisseur Patrice Chéreau, der Dirigent Zubin Mehta und die Sängerin Jessye Norman. 215 Journal Actuel 2, 13.01.1989, a.a.O.
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petenz und Macht an der Oper, die sie von den politischen Kräften erhielten, die sie berufen hatten. Damit trugen sie einen Stellvertreterkrieg der politischen Lager bzw. jenen der Cohabitation zwischen der Regierung und dem Präsidenten der Republik aus. Die Umstände, unter denen insbesondere der so geschmähte Vertrag Daniel Barenboims entstanden ist, verdeutlichen diesen Zusammenhang : Am 24. April 1988 hatte die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattgefunden, bei denen François Mitterrand mit 34 % der Stimmen 14 % vor seinem größten Konkurrenten Jacques Chirac lag. In der Stichwahl am 8. Mai besiegte er ihn erwartungsgemäß mit absoluter Mehrheit. Durch die Auflösung der Nationalversammlung am 14. Mai führte Mitterrand daraufhin Neuwahlen herbei, welche die parlamentarische Mehrheit des linken Lagers wiederherstellten und eine sozialistische Regierung handlungsfähig machten. Inmitten dieses politischen Umbruchs, am 5. Mai 1988, nur drei Tage vor der sicheren Wiederwahl Mitterrands, war Barenboims Vertrag zwischen dem Dirigenten und der amtierenden (konservativen) Regierung geschlossen worden. Dieser von François Léotard und Chiracs Haushaltsminister Alain Juppé unterzeichnete Vertrag, billigte ihm nicht nur das überdurchschnittlich gute Honorar zu, sondern auch das Recht auf die vollständige künstlerische Entscheidungsmacht an der Oper sowie die beschränkte Anwesenheitspflicht von nur vier Monaten. Das machte ihn in der zugespitzten Beurteilung in der Presse zum „contrat le plus extraordinaire de toute l’histoire de la musique“.216 Seine Funktion, so urteilte später der langjährige Begleiter und Beobachter der Pariser Opernlandschaft, Maurice Fleuret, habe darin bestanden „(de) donne le feu vert pour le seul plaisir de léguer à ses successeurs une mauvaise affaire“,217 das heißt, Barenboim als ‚Kuckucksei‘ in das prestigeträchtige Nest der sozialistischen Regierung und ihres Präsidenten zu platzieren.218 Bis zur geplanten Inaugurationsfeier waren es am Tag von Barenboims Entlassung auf den Tag noch sechs Monate, bis zur tatsächlichen Eröffnung des Hauses ein gutes Jahr. Der umgehend berufene Operndirektor Dominique 216 Fleuret im Nouvelle Observateur, 08.12.1988. 217 Ebd. 218 In diesen Tagen verkünde Juppé im Radio, in der Bastille gäbe es skandalöse Verträge – „Pourquoi voulez-vous que certains artistes aient plus de morales et de sens civique que certains hommes politiques ?“ ; zit. ebd.
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Meyer berichtete später : „Je suis arrivé le 13. Janvier 1989. Il n’y avait pas de budget pour Garnier et Bastille, pas de plan de partition des effectifs, pas de directeur musical, pas d’administration pour Garnier, pas de négociation engagée pour les conventions collectives, pas de programme pour le 13. juillet.“219 Die anhaltende Debatte über die programmatische Ausrichtung und Existenzberechtigung der Oper war fast zum Selbstzweck geworden, hinter der die eigentliche Planung des neuen Hauses in argen Verzug geraten war. Ein Witz fand sogar seinen Weg in eine Parlamentsdebatte, der nach dem Unterschied zwischen der Titanic und der Opéra-Bastille fragte : „Réponse : à bord du Titanic, il y avait un orchestre.“220 Sollte es tatsächlich einen gezielten Plan der Blamage gegeben haben, so war dieser aufgegangen ; das Projekt Bastille schien tatsächlich dem Untergang geweiht. Die Konservativen höhnten, sie hätten ja versucht, die Pläne von Mitterrand und Lang 1986 in Ordnung zu bringen, die zurückgekehrte linke Regierung habe in sechs Monate alles wieder kaputt gemacht – das Ergebnis sei jetzt zu sehen.221 Barenboims Gegenspieler hatte keinen minder politischen Hintergrund : Pierre Bergé bezog seine Macht an dem Haus unmittelbar aus seiner Rolle als langjähriger Berater und Vertrauter Mitterrands. 1988 hatte er mit nachweislichem Erfolg als sein Wahlkampfmanager gearbeitet – der Opernposten wurde daher als eine Art Belohnung für die geleisteten Dienste bewertet.222 Das Amt des Präsidenten des Opernbetriebs war für ihn aufgewertet und mit einer neuen Richtlinienkompetenz für das ganze Opernhaus ausgestattet worden, die es in der Arbeitsteilung der Direktoren zuvor nicht gegeben hatte. Bergé übte diese Tätigkeit jedoch rein ehrenamtlich aus. Dass jeder die enge Verbindung zwischen ihm und Mitterrand kannte, machte ihn zwar einerseits angreifbar – in der Nationalversammlung spottete die Opposition, „L’expérience de la Bastille aurait tout de même dû voir révéler que les courtisans font rarement des bons gestionnaires !“223 –, andererseits ermöglichte es den politischen Akteuren, eine sichere Distanz zu dem umstrittenen Projekt zu halten. Kulturminister Lang 219 Zit. in Mo., 15.03.1989. 220 Vgl. FS, 03.02.1989. 221 Interview mit Alain Juppe in L’espoir, 18 02.1989. 222 Zum Beispiel Fig., 20.10.1988. 223 Aubert, AN, 05.04.1990.
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betonte immer wieder, er werde sich nicht einmischen, die Angelegenheiten an der Oper seien allein Sache des von Mitterrand selbst ernannten Chefs der Pariser Oper ; der Präsident selbst äußerte sich zu keinem Zeitpunkt. Bergés Position gegenüber Barenboim erwies sich durch dessen aus dem Wollen des Präsidenten abgeleiteten Agieren ausreichend gestärkt. Hoheitliche Machtworte oder Eingriffe blieben ebenso unnötig wie die Notwendigkeit, sich dem Deutungsspektrum zu stellen, das um das Opernhaus entstand. Die kulturpolitische Verantwortung und Steuerung war zu Gunsten eines symbolischen Kräftespiels abgegeben worden. Die anschließenden Vorbereitungen für die Inaugurationsfeierlichkeiten verliefen weitgehend reibungslos. Bergé gelang es, mit dem jungen unbekannten koreanischen Dirigenten Mung Wung Chung einen kompetenten, aber ihm gegenüber schwachen Dirigenten als musikalischen Leiter zu engagieren. Wenig überraschend erklärte dieser bald, die Eröffnungspremiere im Frühjahr 1990 solle mit Berlioz‘ Trojanern begangen werden, und holte das alte Orchester der Oper, inklusive der für den vermeintlich spezifisch französischen Klang so wichtigen französischen Fagotte, an das neue Haus. Ohne zu Beginn Französisch zu sprechen, wiederholte er stets den gleichen Satz : „Je veux un opéra populaire.“224 2.2.4 Die architektonische und räumliche Gestaltung
Im Februar 1986 feierte die große Tageszeitung Le Monde die im Bau befindliche Opéra-Bastille in einer Schlagzeile mit dem Slogan „Concorde, TG V, Bastille …“225 als neue Errungenschaft der ‚Grandeur de la France‘ und machte das Opernhaus damit noch vor seiner Vollendung zu einer nationalen Ikone des Fortschritts. Das entstehende Opernhaus schien etwas von der Modernität vermittelnden technischen Perfektion und dem futuristischen Design der mit ihm erwähnten französischen Entwicklungen des Überschallflugzeugs und des Hochgeschwindigkeitszuges auszustrahlen – zumindest aber schien genau dies die Erwartung zu sein. 224 Journal Actuel, 2, 25.05.1989, Canal 2, INA No. CAB89020471. 225 Mo., 05.02.1986.
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Im Folgenden gilt es, den Bau selbst in den Blick zu nehmen und im Hinblick auf die festgestellten traditionellen Merkmale von Opernhäusern als Verkörperungen und Präsentationsflächen der politischen Macht, nach seiner spezifischen Formensprache zu fragen. Der letzte Abschnitt ‚Inauguration‘ analysiert schließlich die Form der repräsentativen Nutzung, das heißt das Zeremoniell, das sich in diesem neu geschaffenen Rahmen vollzog. Hierzu gibt der seltene Anlass einer Eröffnung eines neuen Opernhauses, wie es eben in Paris zu beobachten war, Gelegenheit. Der Standort des Neubaus an der Place de la Bastille verlieh der Oper die Aura des historischen Areals der Französischen Revolutionen und verknüpfte sie baulich mit jenem Sinnbild der Durchsetzungskraft des Volkswillens gegen die Herrschenden. Der Platz ist bis in die Gegenwart der zentrale Ort der meisten Demonstrationen, Kundgebungen und Volksfeste, wodurch der historische Bezug zur Revolution immer wieder eine Vergegenwärtigung erfährt. Deswegen bildete er auch den Rahmen für die Feiern der Sozialisten nach ihrem historischen Wahlsieg von 1981.226 Im Quartier Faubourg als Teil des gegenüber dem Zentrum und Westen der Stadt weniger entwickelten Ostteils Paris‘, wurde der Opernbau weniger an die städtebaulichen Zentren und Achsen der politischen Macht angebunden, als vielmehr an einem diesen Bezugspunkten fernen und zugleich architektonisch relativ unstrukturierten Ort errichtet. Zentral für die repräsentative Funktion der Opéra-Bastille im Vergleich zu ihren historischen Vorbildern ist somit der Wille, sie aus dem Kontext von Macht, Elite und Zentralität herauszulösen und in die Lebens- und Identifikationsräume des ‚Volkes‘ zu geben. Der Umstand, dass dies durch hoheitliche Entscheidungen erfolgte, die Planung, Finanzierung, Steuerung und vor allem Sinngebung eben von der zentralen Macht, dem Präsidenten der Republik, seinen Ministern und Administrationsapparaten ausging, machte diese Verschiebung gleichwohl zu einem staatlichen Repräsentationsakt. Einem, der die demokratischen Entwicklungen, die Verlagerung der Souveränität auf die Mehrheit und die Pluralität der darin versammelten Interessen anerkannte, aber zugleich einen universellen Anspruch darauf anmeldete, genau diese zu vertreten. Le Monde sah eine neue Achse durch Paris geschlagen : „Cet axe, (…) siège du pouvoir, est devenu une voie 226 Collard, Gestures.
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majestueuse, triomphale, la grande percée qui traverse Paris d’est en ouest, ponctuée de monuments qui glorifient la pérennité de l’Etat. De l’Opéra-Bastille à la Grande Arche de la Défense.“227 Zugleich aber ist die Oper nicht mehr im absolutistischen Sinne Symbol einer zentralen politischen Gewaltinstanz, sondern vor allem als Ort der Ansammlung und des strategischen Einsatzes von kulturellem Kapital im Sinne Bourdieus und ein Zeichen ‚kultureller Macht‘. Den Neubau in ein Areal ohne weitere Einrichtungen der Hochkultur zu legen, bedeutete einen Ort zu öffnen, in den nun die bestehenden Eliten ihr kulturelles Kapital ‚investieren‘ konnten oder mussten und damit auch das, was die Oper verkörperte und anzog vom Zentrum in die Peripherie zu lenken. Durch diesen doppelten Prozess gewann der Neubau eine städtebauliche Funktion, die darin lag, das avisierte Areal zu einem Ort der Macht aufzuwerten und mithin Machtansprüche zu symbolisieren. Die Pariser Opernpolitik zeigt mithin in aller Deutlichkeit, wie sich der demokratische Staat die repräsentative Macht der Oper im Laufe des 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht hat und mit dem demokratischen Repräsentationsverständnis zu verbinden versucht. Der Streit und die Konflikte machen aber auch das Paradox deutlich, dass mit dieser Demokratisierung die Möglichkeit, den repräsentativen Charakter souverän zu bestimmen, verloren geht ; in einer modernen pluralistischen Gesellschaft lassen sich Opernhäuser und sich in ihnen manifestierende Selbstbilder nicht mehr errichten, ohne dass nicht umgehend auch die Gegenthese auf die Repräsentation projiziert werden kann. Das Wechselspiel zwischen Traditionsbezug und Traditionsbruch, dem die Beziehung von Staatsoper und Staat in Paris unterlag, zeigt sich jenseits der Stellvertreterkriege, die um das Haus geführt wurden, am deutlichsten in der Ambivalenz des Opernbaus und seines Eröffnungsaktes selbst, welche die beiden oben herausgearbeiteten charakteristischen repräsentativen Elemente der Monumentalität und Theatralität einerseits strikt negierten, andererseits aufgriffen, fortführten oder transformierten. Im Sinne seines Auftrags und Auftraggebers wollte der Architekt Carlos Ott eigentlich gerade kein Bauwerk von „einschüchternder Monumentalität“ („mo-
227 Mo., 13.07.1989.
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numentalité écrasante“) schaffen.228 Sein Werk sollte ein Opernhaus des Volkes und nicht der Herrschenden werden, es sollte auch jenen Leuten offenstehen, die nicht mit den Strukturen des sozialen Raumes der Oper vertraut sind, und in seinem Aufbau klar und einfach zu verstehen sein. Das bedeutete einen Verzicht auf all jene Elemente, die mit symbolischen Bedeutungen des sozialen Raumes behaftet waren oder eine Atmosphäre der Theatralität diesseits der Bühne schufen. Die Fragen und Bestimmungen, wer in welcher Loge sitzen dürfe, in welche Foyers oder zu welchen Plätzen verschlungene Wege und verschachtelte Treppenhäuser führten, sowie der Deutungsbedarf einer überbordenden allegorischen und symbolischen Bildsprache wurden architektonisch aufgelöst bzw. ausgelöscht. Die den Bau dominierenden Ideen zielen auf einfache Formen, Transparenz und Sachlichkeit. Die Grundform des Opernhauses bildet ein großer, zur Place de la Bastille gewendeter Zylinder, der einen Zuschauersaal erahnen lässt (obgleich der sich hinter den im Inneren der Fassade verlaufenden Foyers befindende große Saal nicht die halbrunde Form des klassischen Opernauditoriums hat). Dahinter erhebt sich ein Kubus, der Flytower, unter dem sich der Bühnenraum befindet und der von der technischen Modernität und Effizienz des Baus zeugen soll. Vom Platz weg erstrecken sich erst die Eingangsfoyers und der Kassenbereich, dann die Arbeits- und Betriebsräume der Oper. Die den gleichwohl riesigen Komplex fragmentierenden Einheiten spiegeln so in Grenzen die Funktion und Funktionsbereiche des Gebäudes wider. Hinzu tritt der transparente Charakter, der vor allem durch die großen Glasflächen in der Fassade und die durchlässigen Foyerräume im Inneren entsteht. Rechts und links eines durch ein Quadrat aus anthrazitfarbenem Marmor angedeuteten Portikus, der die kommunikative Verbindung zum Platz herstellt, fällt ein breiter, auf dünnen Granitsäulen ruhender Kranz glänzender Stahlplatten stufenförmig ab und strukturiert so den ansonsten vollständig gläsernen Hauptzylinder in der angedeuteten Form einer Freitreppe. Sie evoziert die operntypischen Prachttreppen, wie sie etwa durch die berühmte ‚grand escalier d’opéra‘ im Palais Garnier bekannt sind. Hinter der Fassade umfassen schmale Foyers das zentrale Auditorium als Brücke zwischen innen und außen. Von relativ kleinen, in weiß gehal228 Vgl. Fachard, Paris 1979–1989 ; de Jong/Mattie, Architekturwettbewerbe, Teil 2.
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tenen und mit modernen Skulpturen (von Niki de Saint-Phalle und Yves Klein) geschmückten Räumen und Treppen blickt man durch die Fassade nach draußen und betritt auf der anderen Seite den Zuschauersaal. Zugespitzt als politische Ikonographie interpretiert – und der politische Auftrag bis in das ästhetische Profil der Oper ist hinreichend dokumentiert worden – lässt sich die architektonische Konzeption als Entsprechung der eingangs erörterten von Herfried Münkler analysierten „Umkehrung der Visibilität“ deuten. Analog zur geschilderten Umkehrung der Sichtbarkeit bzw. Verborgenheit von hoheitlichen Gewaltstrukturen und Entscheidungsprozessen von vordemokratischen zu demokratischen Systemen, lässt sich die Architektur der Opéra de la Bastille im Vergleich zu jener des Palais Garnier beschreiben : Der alte Bau betonte das dekorative Element zu Lasten des funktionalen und förderte dadurch vor allem ostentative Strategien der Nutzung, das heißt die Darstellung von Status und Macht. Der Maschinerie der Bühnentechnik, die auf geheimnisvolle und unbekannte Weise etwas erscheinen lassen konnte, entsprachen die Spiegelkabinette, Trompe-œil-Bemalungen der Decken und besonders der hinter dem Opernhaus verborgene, ‚unsichtbare‘ Weg zur Kaiserloge, dessen Besucher erst im Moment des Betretens der Loge für das restliche Publikum sichtbar wurde. Das prachtvolle Dekor verbarg in seiner Zurschaustellung die dahinter liegenden Strukturen.229 Dem gegenüber steht die gläserne Konstruktion der Bastille, die als architektonisches Merkmal auch andernorts vielfach als ästhetische Symbolisierung des Wunsches nach ‚demokratischer‘ Offenheit und Transparenz Verwendung findet.230 Der zentrale große Zuschauersaal, der mit seinen über 2700 Sitzen einer der größten der Welt ist, beeindruckt vor allem durch seine enorme Höhe und Tiefe. Im Kontrast zum Vorgängerbau des Palais Garnier, dessen verzierte Logen vor allem der öffentlichen Präsentation einzelner Besucher dienten, betonte das Auditorium der Opéra-Bastille gerade den egalitären Charakter des Publikums. Ihr hoher Saal, mit dem aus langen geraden Reihen geformten Parkett und zwei sich darüber erhebenden Terrassen, welche die traditionelle hufeisenförmige Struktur nur noch schwach andeuten, vermittelt einen klaren Raumeindruck, ohne den Fluchtpunkt einer Königsloge oder die Zuschauer 229 Vgl. Dupêchez, Histoire de l’Opéra ; Patureau, Palais Garnier. 230 Vgl. „Politische Architektur“, in Jarren, u.a. (Hg.), Politische Kommunikation.
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untereinander in Beziehung setzende Ränge und Sichtachsen. Keine Allegorien, keine Rahmen, keine Achsen sollen das Publikum strukturieren oder ein hoheitliches Zentrum kreieren. Alle Sitze sind zur Bühne ausgerichtet, kein Platz hat starke Sichteinschränkungen oder ist akustisch benachteiligt. Durch diesen inneren Aufbau wurde die Opéra de la Bastille architektonisch zum Höhepunkt eines als ‚demokratisch‘ gedeuteten Zuschauerraums. Die Begradigung der Sichtachsen entsprach der kulturpolitischen Zielsetzung einer maximalen Demokratisierung und sozialen Homologisierung des Publikums. Auch die kühlen sachlichen Farben zeigen den Versuch, sich von operntypischer Ausstattung und Symbolik abzugrenzen – „aux ors du palais Garnier se sont substituées les couleurs de la froideur“231 stellte Le Monde bei der ersten Begutachtung des Operninneren fest. Dabei war nicht nur Gold ein strikt vermiedenes Element. Das bereits berührte Thema der Sitze, deren Bezugsstoff Mitterrand persönlich auswählte, ist ein Beispiel für die schwierige Auseinandersetzung mit den Traditionen, in denen der Bau stand. Denn rot waren vornehmlich die Sessel der Opern des 19. Jahrhunderts, blau jene, die aus dem 18. Jahrhundert stammten. Weil beide klassischen Farben mithin einen nicht gewollten historischen Bezug herstellten, musste etwas Neues gefunden werden, das vor allem etwas anderes repräsentierte – die Sitzplätze an der Bastille wurden daher schwarz und weiß.232 Die gläserne Decke, welche die goldenen Kristalllüster des Palais Garnier ersetzte, durch deren weißes diffuses Licht der Saal beleuchtet wird, die silbergrauen Granitwände und schwarz bezogenen Sitze greifen die Farben und Materialien der Außenwand wieder auf und betonen ein weiteres Mal die Durchlässigkeit von außen nach innen. Doch gerade als politisches Symbol erfuhr die Ästhetik des Opernhauses auch negative Urteile. Größe, Form und nicht zuletzt die Funktion des Baus führten dazu, dass das Haus dennoch immer wieder als einschüchternder Koloss wahrgenommen wurde. Architekturkritiker beurteilten den Bau zudem als kalt, unnahbar und vor allem zu unkommunikativ.233 Tatsächlich bedingte die gezielte Betonung nicht ostentativer, sachlicher und ‚demokratischer‘ Elemente zugleich die Auflösung der kommunikativen Strukturen der Oper. Das früher 231 Mo., 06.08.1989. 232 Vgl. Urfalino, Quatre voix, 223 (Audon). 233 Vgl. Grandsard, L‘Opéra.
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gängige Halbrund hatte eben nicht nur Beobachtung und Zuordnung erlaubt, sondern, wie etwa bei Parlamentsbauten sichtbar, auch die kommunikative Beziehung zwischen den Teilhabenden hergestellt. Auch die zahlreichen Foyers waren Treffpunkte und Kommunikationsräume, die nun fehlten. Der demokratische Duktus des Raumes war nicht durch die Nutzung und Interaktion der Menschen hergestellt worden, sondern durch eine hoheitliche Setzung und deren bauliche Umsetzung. Dies ist der architektonische Widerspruch, den die Opéra-Bastille in sich birgt. Kritik wurde insbesondere an dem als deplatziert oder anachronistisch empfundenen Repräsentationsstil geübt, der sich in dem Gebäude ausdrückte. Den Anspruch auf das Monopol symbolischer Macht, den der Präsidenten der Republik unter anderem in diesem Bau zum Ausdruck brachte, ließ ihn vielen Kritikern als ein Pharao erscheinen, der sich gottkönigsgleich allein selbst verewigen wollte.234 „Rien n’est trop beau, rien n’est trop cher. On le voit pour l’Opéra de la Bastille (…) c’est quantitatif, c’est massif, c’est, excusez moi le terme, un peu pharaonique“,235 lautete der Vorwurf nicht allein des politischen Gegners. Im Zuge des Ringens zwischen den politischen Lagern entwickelte sich auch die Ästhetik der Oper zu einem politischen Richtungsmerkmal : „Garnier à longtemps fait son frais d’une ‚intelligentsia‘ de gauche qui entretenait complaisamment les préjuges contre des marbres, ses velours et ses ors. Comme la démocratisation lyrique passait inévitablement par le béton et des couleurs sinistres“,236 schrieb der Quotidien de Paris. Was in der Regierungsrhetorik als Zeichen der ästhetischen wie sozialen Öffnung und Transparenz dargestellt wurde, markierte die konservative Zeitung als das Gegenteil, nämlich als einen politisch eindeutigen und geschlossenen Stil und eine Repräsentation der politischen Linken. Beide kritischen Elemente vereinigte eine Karikatur aus dem Juli 1989. Sie zeigte den am Beginn des Monats als gefeierten Staatsgast anwesenden Gorbatschow gemeinsam mit Mitterrand vor der Opéra-Bastille. „Et alors lá c’est le siège du parti ?“ fragt er darauf den französischen Präsidenten 234 Eine Kritik, die sich vor allem wegen der Form der Pyramide auch am Projekt des Grand Louvre manifestierte : „Les pyramides, ne l’oublions pas, sont des monuments élevés à la mémoire.“ Mo., 13.07.1989. 235 d’Aubert, AN, 05.04.1990. 236 QdP, 27.03.1984.
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und der antwortet mit erhobener Nase : „Non, c’est l’opéra !“237 Die Karikatur spielte damit zum einen darauf an, dass derartige Bauten nur aus autokratischen Systemen bekannt seien, eben etwa als kommunistische Parteizentrale in der Sowjetunion, und wies zum anderen auf die politische Aufladung des Gebäudes hin, die es eher zu einem konkreten Symbol als zu einer universellen Repräsentation gemacht hatte. 2.2.5 Das Inaugurationszeremoniell
Kein politischer Wechsel, keine künstlerischen Streitereien, nicht die Unvollständigkeit des Gebäudes oder die des betrieblichen Status‘ des Hauses hatten den Plan, die Opéra de la Bastille pünktlich zur Zweihundertjahrfeier der französischen Revolution zu eröffnen, stoppen können. Am Abend des 13. Juli 1989 fand, wie sieben Jahre zuvor festgelegt, die Inauguration des neuen Opernhauses statt – mit einer prachtvollen Galavorstellung, vor 2700 geladenen Gästen, darunter 35 internationalen Staats- und Regierungschefs. Um das historische Ereignis dieses Jubiläums vor entsprechendem Publikum zu feiern und Frankreichs Selbstverständnis als eine Wiege der Demokratie zu zelebrieren, hatte Mitterrand das 15. Gipfeltreffen aller Industrieländer zu diesem Zeitpunkt in Paris durchsetzen können. Von Anbeginn seiner Amtszeit galt Mitterrand als Meister moderner medialer Inszenierungen sowie als „einer der ganz großen Magier des Mythos Staat“.238 Gemeinsam mit seinem Kulturminister Jack Lang, der auch als sein ‚Zeremonienmeister‘ oder ‚Regisseur‘ in die Geschichte einging, vermochte er diese Fähigkeit bei den Feierlichkeiten zum Bicentenaire und dort nicht zuletzt in dem zeremoniellen Höhepunkt, der Einweihung der neuen Opéra de la Bastille gesammelt unter Beweis zu stellen. Fragen nach der Angemessenheit dieser ‚imperialen‘ Geste ließ Mitterrand schlicht nicht gelten. „Quand vous recevez des amis“, verglich er den Staatsakt, „vous mettez votre maison en état, vous mettez des fleurs dans les vases, vous organisez un dîner qui sera un peu plus important que ce que vous faites d’ordinaire en famille. Et on ne dira pas que vous recevez vos amis de façon 237 vsd magazin, 06.07.1989. 238 Voigt, Des Staates neue Kleider, 307.
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impériale. Bon, c’est ce que nous allons faire aussi.“ Für ihn sei dieser Tag „le date de la naissance de la République et la Démocratie - alors, ça doit être célébré“.239 Spätestens angesichts dieser Verknüpfung und mit dem Anbruch der Vorbereitungen des Feiertags verstummte auch die Kritik aus den Reihen der Opposition und der konservativen Presse. Die Bedeutung dieses nationalen Jubiläums zu unterschätzen, konnte sich keiner erlauben.240 Die Inaugurationsfeier der Oper wurde ein theatralisches Spiel zwischen Traditionen und Modernität, in dem sich die demokratische Architektur mit dem hoheitlichen Anspruch, ein vom Präsidenten für ‚sein‘ Volk erdachtes Opernhaus prachtvoll zu eröffnen, verknüpfen ließ. Zwischen Militärdefilee, Parade, Gala-Diner und Volksball bildete die Zusammenkunft in der Oper ein hervorragend eingepasstes Element.241 Die Feier veranschaulicht, wie die repräsentativen Akte einer Operngala in die Mechanismen der modernen Medienwelt ‚hinübergerettet‘ werden können, aber auch wo die Grenzen dieser Transformation liegen, weil dieses spezifische Zeremoniell letztendlich seiner Tradition verhaftet bleibt. Für 19 Uhr war die Gala angesetzt. Auf dem Programm stand ein nur gut einstündiges Opernpotpourri unter der musikalischen Leitung des französischen Dirigenten Georges Prêtre und in der Regie des für seine abstrakten schönen Bilder bekannten Robert Wilson unter dem Titel La nuit avant le jour, einem Querschnitt der großen Opern fast ausschließlich französischer Komponisten des 19. Jahrhunderts. Internationale Opernstars und Tänzerinnen und Tänzer des Pariser Opernballetts präsentierten eine Folge von Arien, Ouvertüren und Balletten,242 vor dunkelblauer Kulisse mystischer sich wandelnder Formen, deren konkreteste einer stilisierten Guillotine glich. 239 Fernseh-Interview vom 13. Juli 1989 ; Auszüge in Mo., 14.07.1989. 240 Gleichwohl nahm Jacques Chirac nicht teil. 241 Vgl. Jeanneney, Le Bicentenaire, 05.03.1990. 242 Aus Faust und Roméo et Juliette von Charles Gounod, Dinorah und Le Pardon de Ploermel von Giacomo Meyerbeer, Thais, Herodiade und Werther von Jules Massenet ; Alceste von Christoph Willibald Gluck, Samson et Dalila von Camille Saint Saëns, Carmen von George Bizet und La Damnation de Faust von Hector Berlioz. Damit wies das Programm auch erstaunliche Ähnlichkeit mit dem der Eröffnung des Palais Garnier auf, das Frederique Patureau als ein ‚banales‘ Potpourri aus Opern von Auber, Meyerbeer, Halévy, Rossini und ein paar Ballettszenen beschreibt, vgl. Patureau, Palais Garnier, 22.
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Doch die eigentliche Inszenierung des Ereignisses fand nicht auf der Bühne statt. Wie Le Monde beobachtete, gab es „deux spectacle : premier, le concert sur la scène ; mais bien sûr le deuxième dans la salle, autour de Monsieur François Mitterrand et Monsieur Jack Lang“.243 In der Eröffnungszeremonie zeigte sich das typische Potenzial der Oper, einen Raum zu formieren, in dem das Erscheinenlassen auf der Bühne auch die Theatralität im Zuschauersaal legitimierte. Verfolgt und um eine Inszenierungsebene erweitert wurde das alles von zahlreichen Kameras. Die geladenen Zuschauer erhielten der strengen Sicherheitsvorschriften für die Staatsgäste wegen bereits Stunden vor Beginn der Vorstellung Einlass in das Gebäude, und das die Straßen säumende Volk wurde weiträumig abgeriegelt. In einem langen Zug schwarzer Limousinen kamen schließlich die Staatsgäste vorgefahren und nahmen mit ihren Begleitungen auf der mittleren Terrasse des ersten Ranges Platz. Zu allerletzt betrat François Mitterrand mit seiner Frau Danielle den Saal, um sich, damit alle anderen in der Reihe zum Aufstehen nötigend, zu seinem Platz in der Mitte der ersten Reihe dieser Terrasse zu begeben – eben genau an jene Stelle, wo in den meisten Opernhäusern zuvor die Königsloge lag, die aber hier architektonisch nicht einmal mehr angedeutet war. Der wichtigste Gast, der amerikanische Präsident George Bush, saß bereits auf dem Platz daneben. Die Mitterrands kamen von links, um auf ihre Plätze zu gelangen, mussten sie an dem Ehepaar Bush vorbei. Dadurch formierte sich das prägende Bild des Abends – mit Barbara Bush in einem blauen Kleid zu seiner Linken und seiner Frau in einem roten Kostüm zu seiner Rechten stand Mitterrand in weißem Hemd und schwarzem Anzug in der Mitte der durch diese Personenkonstellation entstehenden französischen Trikolore, blau-weiß-rot. Die Kamerabilder zeigten während dieses Ablaufes, wie alle Anwesenden im Saal sich erhoben und dem imaginären Zentrum des Raumes im ersten Rang zugewendet applaudierten. Mitterrand nahm diese Akklamation winkend entgegen, um dann selbst in den Applaus einzustimmen. Die Staatsgäste saßen gestaffelt um Mitterrand herum. Die Marseillaise wurde gespielt und das Spektakel auf der Bühne konnte beginnen. 243 Mo., 15.07.1987 ; Ein anderer Artikel beschrieb „tous ces personnages autour du Président de la République qui apparaissent sur les belles vagues arrondies des galeries comme Jupiter et Juno des opéras baroques“, Mo., 17.07.1987.
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„L’Opéra est une des dernières émanations de l’Ancien Régime, d’un État monarchique fondé sur le pouvoir centralisé“244 – hatte das Magazin Actualité kurz zuvor noch geurteilt. Und genau diese ‚pouvoir centralisé‘ wurde durch die Eröffnungsfeierlichkeit räumlich repräsentiert und realisiert. Die Platzwahl, der Gang dorthin und die huldigende Geste sowie die Staffelung der hohen politischen Gäste um den Präsidenten herum, vor allem aber die Hinwendung und die Blicke der Anwesenden hin und, vom Parkett aus, hoch zu dem Platz schufen den eingangs erläuterten Prozess der Vergegenwärtigung, die sich über die zeitgenössische Architektur und ihre anti-hierarchische Geste hinwegsetzte. Sie kreierte ein imaginäres Bild einer alten Oper, die durch das Zeremoniell gewissermaßen über den neuen Saal projiziert wurde, ohne dass sich dessen egalisierende Struktur selbst wirklich veränderte. Das Verhalten der Besucher wurde mithin wesentlich durch den rituellen Nachvollzug tradierter Verhaltensmuster geprägt ; der Applaus, das sich Erheben und sich Zuwenden gegenüber dem im imaginierten Brennpunkt des Saales Platz nehmenden Präsidenten zeigte sich als Anerkennung und Umsetzung alter Verhaltensweisen im neuen Umfeld. Nicht der unmittelbare Zusammenhang von Gebäude oder Raum und Präsident, sondern zusätzlich die Erinnerung, die auch ohne geeignete räumliche Vorgabe einer bestimmten Ordnung folgte, vergegenwärtigte die in diesem Ritual verankerten Beziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten. Diese klassische Bildersprache entzog sich allerdings nicht den Möglichkeiten einer medialen Darstellung. Die Zugänglichkeit zur neuen Oper sollte neben der Anzahl ihrer Plätze auch durch Übertragungen im Fernsehen gesichert werden. Daher war es nur selbstverständlich, dass die Inaugurationsfeier nicht nur im Radio (von dem Klassiksender France Musique), sondern auch vom Fernsehsender Antenne 2 übertragen wurde.245 Das galt nicht nur für die Darbietung auf der Bühne des Opernhauses, sondern auch die Inszenierung im Zuschauerraum. Dabei zeigte sich die eigentlich so anachronistisch anmutende Zeremonie als gelungenes Medienereignis, in dem sich Mitterrand in Szene zu setzen verstand. Wie schon bei seinem ersten großen Auftritt als Präsident, 244 Actualité, 1986 (Datum unbekannt, Dossier Opéra Bastille 1986, Bibliothèque de l’Opéra, Paris). 245 Canal 2, 13.07.1989, INA No. CPB89007704.
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1981 im Panthéon, zeigte er sich in der Bastille als Teil einer Inszenierung, die keine Scheu davor hatte, eine liturgische Form für moderne Medien zu präsentieren und Elemente beider Inszenierungsstrategien geschickt zu kombinieren.246 Damals, kurz nach seiner Wahl, hatte Mitterrand sich von der Spitze eines Demonstrationszugs der Linken gelöst und war nur von Kameras begleitet, in die ‚nationale Ruhmeshalle‘ des Landes eingetreten, um an den Gräbern der Helden und Märtyrer der Republik und der Demokratie Jean Jaurès, Jean Moulin und Victor Schoelcher je eine rote Rose niederzulegen.247 Das ganze Land konnte an den Bildschirmen diese unnahbare persönliche Geste und vermeintlich intime Atmosphäre verfolgen, als sei es selbst dabei. Die Eröffnung der Bastille war zwar ein verglichen damit öffentliches Ereignis, die Art und Weise, die Zuschauer an den Bildschirmen in bestimmter Weise zu einer Zuschauergemeinschaft zu ordnen, war jedoch ähnlich. Die Kameras glichen ihre Perspektive jener der körperlich anwesenden Besucher im Parkett an und ließen die Zuschauer dadurch an der Entstehung der räumlichen Ordnung im Augenblick des Einzugs des Präsidenten aus einer subjektiven Perspektive teilnehmen. Die Bilder der Fernsehübertragung ergänzten sogar, was dem Raum an Elementen zur Inszenierung fehlte. Für jeden ankommenden Staatsgast hob sich ein virtueller roter Vorhang vor einem goldenen verschnörkelten Bühnenportal und zeigte die jeweilige Landesflagge des Gastes. Die Kameras verfolgten die einzelnen Personen beim Aufgang, zeigten in Großaufnahmen, wer wo und neben wem saß, und kompensierten damit die fehlende räumliche Struktur, die vormals half, den Status der Besucher und ihre Beziehungen untereinander zu dechiffrieren. Der Sender gliederte die Übertragung der Feier zudem in eine Dokumentation des neuen Opernhauses ein. Weitgehend kommentarlos, mit Musik von Mozart und Verdi unterlegt, zeigten Kamerabilder den Bau, das Quartier Faubourg und das Leben dort. Immer wieder schufen sie Kontraste zwischen dem kleinteiligen Viertel und seiner altmodischen Struktur durch kleine Gassen mit Einzelhändlern und Cafés und dem gläsern und stählern glänzenden Opernneubau. Ein auf der Straße spielendes dunkelhäutiges Kind wured eine Weile verfolgt und dann nach der neuen Oper befragt, worauf es 246 Vgl. Schubert, Nation und Modernität, 270f. 247 Friend, The long presidency, 7.
Mit der Oper Staat machen ?
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begeistert sagte, wie sehr es sich auf das Opernhaus freue, denn „il n’a pas beau coup dans ce quartier“.248 Die Bilder schufen das, was hier seit acht Jahren umkämpft wurde – eine ‚opéra moderne et populaire‘. Der große, jährlich veranstaltete Straßenball des Volkes, der am späteren Abend des 13. Juli auf der Place de la Bastille stattfand, hatte zwar mit dem formalisierten Zeremoniell des Opernbesuchs wenig zu tun und veranschaulichte vielleicht mehr den Kontrast zwischen vermeintlicher Volksoper und wahrem Volksfest. Aber er fand unvermeidlich erstmals vor der Kulisse des riesigen Opernbaus statt. Ebenso wie alle weiteren Feste und Demonstrationen, die den Ort auch in Zukunft beanspruchten, nun vor einem Opernhaus stattfanden und deren Bilder stets das Symbol enthielten – schließlich auch die Gedenkfeier anlässlich des Todes François Mitterrands am 10. Januar 1996, nur acht Monate nach dem Ende seiner Amtszeit. Sie zeigte den Platz voller Plakate und auf den transparenten Bau der Oper Bilder und Texte Mitterrands projiziert.
3. Mit der Oper Staat machen ? „Man kommt hierher, um den ‚Tristan‘ und das neue Kostüm von Frau Merkel zu sehen.“249
Der Neubau einer Staatsoper in Paris machte exemplarisch deutlich, dass die Oper als Ort staatlicher Repräsentation am Ende des 20. Jahrhunderts eine im historischen Rückblick anhaltende, verglichen mit den Jahrzehnten davor sogar zunehmende Bedeutung hat. Das Beispiel zeigte aber auch, welchen neuen Maßstäben sie dabei zu genügen hat und welche Schwierigkeiten dabei entstehen können. Deren Kennzeichen verwiesen indes weniger auf unmittelbare kulturpolitische Strategien zur administrativen Steuerung, inhaltlichen Gestaltung oder sozialen Reichweite der Oper, sondern vor allem auf die symbolische Funktion, die Bilder und Zeremonien, welche die Staatsopern zu Verkörperun248 Midi 2, Canal 2, 13.07.1989, INA No. CAB89029308. 249 Die Zeit, 11.01.2001.
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gen des Staates und Plateaus der Selbstdarstellung seiner Akteure machte. Der Opernneubau sowie der hohe Grad an politischer Zeremonialität in Frankreich gaben dem Beispiel eine hohe Spezifizität. Wie diese aber auch den Blick öffnen kann für die heutige repräsentative Funktion der Oper andernorts sowie für die sich verändernde Beziehung von Staat und Staatsoper in der kulturellen bzw. repräsentativen Dimension, soll eine abschließende Reintegration des Beispiels in den Vergleich zeigen. In Paris hatten sich die Einflussbereiche des Staates auf ‚seine‘ Oper weitestgehend in Klientelismus, Nepotismus sowie in einem hochsubventionierten Tourismus- und Galabetrieb aufgelöst. Darüber hinaus repräsentierte die Opéra Garnier sowohl auf Grund ihrer Ästhetik als auch durch ihre Bindung an bestimmte gesellschaftliche Gruppen etwas, das nicht mit der Repräsentation von Staatlichkeit, wie sie sich Präsident Mitterrand und die neue Regierung vorstellten, übereinstimmte. Der Neubau an der Place de la Bastille sollte diesen doppelten ‚Kontrollverlust‘ korrigieren und eine zeitgenössische und zeitgemäße Verkörperung eines ‚neuen‘ Staates bzw. seiner kulturellen Ambitionen werden. Einen uneingeschränkten Erfolg hat diese Strategie sicher nicht erzielen können. Zwar erwies sich die Verknüpfung der traditionellen Repräsentationsfunktionen, der Monumentalität und Theatralität der Oper, als anpassungsfähig. Das neue Opernhaus vermochte durchaus mit allen technischen wie symbolischen Mitteln seiner Zeit zu glänzen und sich in Grenzen sogar in die Bilderwelten der Medienwelt einzufügen, die für die politischen Repräsentationsstrategien konstitutiv geworden sind. Weiterhin gelang es, hinter dem Opernprojekt ein ‚staatliches‘, nicht individuelles Interesse zu proklamieren. Der Umstand, dass keine persönliche Identifikation Mitterrands mit dem Opernprojekt bestand, er weder das Genre mochte noch das Risiko eingehen wollte, sich direkt zu Gunsten der Oper in die Konflikte einzumischen, widerspricht nicht, sondern verdeutlicht die Abstraktion der Repräsentation, welche die Oper zu leisten vermochte. Es ging dabei eben nicht um die Vorlieben des Präsidenten, sondern eine genuin staatliche Funktion. Eine hoheitliche Deutung dieser Abstraktion aber gelang nicht. Die staatliche ‚Mission‘, mit der die neue Oper versehen wurde, erwies sich nicht (mehr) als ‚vertikale‘ wirkungsmächtige Setzung, welche die Repräsentativität des Baus entfaltete, sondern als etwas, das im Zuge eines konfliktreichen, politisierten
Mit der Oper Staat machen ?
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Diskurses einer multiplen ‚horizontalen‘ Ausdeutung offenstand. Somit blieb die Erwartung an die Oper als Staatsrepräsentanz erhalten, doch zu ambivalent war das, was die Oper verkörpern sollte, und zu zerrissen waren die politischen Verhältnisse, als dass sich ein starkes neues Staatsopernbild hätte behaupten können. In dem Moment, als das politische System eine Anpassungsleistung an bis dahin nicht vorgesehene politische Mehrheitsverhältnisse erbringen musste, brach auch die symbolische Macht an einem prägnanten Ort ihrer Ausübung, eben der Oper, weg. Dieser Zusammenhang ist keinesfalls auf Frankreich beschränkt. Nicht nur hier entstanden in diesen Jahren neue Parteien und neue, ‚undeutlichere‘ politische Mehrheiten, die den Staat lenkten. Eine von ökonomischen Krisen und Globalisierungsprozessen geschwächte nationalstaatliche Politik und ein durch die Pluralisierung der Gesellschaft neutralisierter repräsentativer Vertretungsanspruch waren länderübergreifende Phänomene und Herausforderungen. Darüber hinaus war zunächst die Notwendigkeit gegeben, ein starkes aber anti-autokratisches Staatsbild als Kontrast zur Politik ‚hinter dem Eisernen Vorhang‘ zu schaffen – nach 1989/90 dann geeignete Darstellungen für die vollzogenen Brüche und die eigene Rolle in der ‚neuen Weltordnung‘ zu finden. Eindeutige Machtkonstellationen, die Jahre zuvor noch ein Zeichen moderner und demokratischer Staatlichkeit waren, schwanden. Eine zentrale symbolisch steuernde Funktion des neuen Opernhauses in Paris war es, nach einem politischen Bruch ein neu definiertes Selbstbild des Staates und der „Attribute, mit denen er sich versehen wissen wollte, zu visualisieren bzw. in der Performanz zu generieren“.250 Dass diese Funktion ebenso wie die Probleme der ständigen Umdeutung, die folgten, nicht an die spezifischen Pariser Ereignisse gebunden sind, sondern sich auch in einem ganz anderen Kontext entfalten können, macht die Entwicklung in Berlin deutlich : Die Genese Berlins zur gesamtdeutschen Hauptstadt nach der Wiedervereinigung war ein Prozess, in dem neben allen politischen Umstrukturierungen auch ein Neuanfang sichtbar und erlebbar werden musste. Zur ‚Hauptstadtwerdung‘ gehörte auch hier eine Umwandlung des urbanen Raums, der – darin den Grands Travaux durchaus vergleichbar – eine symbolische Politik der Umgestal250 Derix, Gruppenbild, 167f.; vgl. auch Paulmann, ‚Auswärtige Repräsentationen‘.
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tung beschrieb. Anders als in Frankreich, war das noch undeutliche Ziel in Berlin, nicht unbedingt einen revolutionären Aufbruch zu symbolisieren. Vielmehr musste hier in den Jahren nach dem Hauptstadtbeschluss ein Gleichgewicht gefunden werden, zwischen politischem Neuanfang (gegenüber dem DDR-System) und Bestand (der Bundesrepublik) sowie kulturelle Traditionsbezüge (auf eine gemeinsame Geschichte) geschaffen werden, die einen ‚Heilungsprozess‘ der so lange gespaltenen Stadt ermöglichten. In der Stadt so zahlreicher sichtbarer historischer Brüche wurde nach ästhetischen Vermittlern von Kontinuität gesucht. Insbesondere die Staatsoper Unter den Linden mit ihrer Knobelsdorff‘schen Fassade eignete sich zur Projektionsfläche und zum Erlebnisraum verschiedener Geschichtsbilder und historischer Deutungen, die halfen, eine noch nicht ganz deutliche gegenwärtige Realität zu bestimmen. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert avancierte damit ausgerechnet ‚Preußen‘ zu einer zentralen politischen Argumentationsfigur. Das preußische Gemäuer der Staatsoper wurde ein Beispiel für die Konstruktion einer Kontinuität von der alten preußischen zur neuen deutschen Hauptstadt. Diese Deutung erfolgte sowohl auf eine performative Weise, durch die repräsentative Praxis der neuen Hauptstädter, als auch auf eine deskriptive Weise, durch den kulturpolitischen Diskurs der Opernkrise und -reform : Der hauptstädtische Raum blieb eine abstrakte Idee bis ‚die Bonner‘ am neuen Regierungssitz angekommen waren und hier Orte ihres öffentlichen und privaten Lebens etablierten. Dann aber konnte man beobachteten, „wie die Bundespolitiker (…) mit fliegenden Fahnen in die Staatsoper über (liefen). Hier im noblen Ambiente an der alten Prachtstraße ließ sich Staat machen“.251 Die wiedergewonnene prominente Lage, die historische Fassade und auch die Nähe zum wieder zu errichtenden Schloss ließen die Oper Unter den Linden schnell im staatstragenden Glanz der ‚neuen Mitte‘ erstrahlen. So stellte man sich fortan Hauptstadtkultur vor. In die Staatsoper ging man nun, um „sich in der Mittelloge begaffen (zu lassen), so wie vor ihnen schon Friedrich Zwo, Adolf und Erich“252, wie die Wochenpost polemisierte – der Westen dieser ‚Kulturhauptstadt‘ und auch die zu Zeiten der Teilung international be251 Der Spiegel, 24/1998, 203. 252 Wochenpost, 22.12.1994.
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deutende Deutsche Oper lagen dementsprechend bereits in der Provinz. Die repräsentative Praxis wurde zu einer eigenen Form, die zukünftige Bedeutung und Gestalt der Stadt und ihrer Rolle zu bestimmen und zu formen und mithin verschiedene Vorstellungen von ihr zu steuern. Benannt wurden diese Deutungen vor allem in den Ambitionen, die Staatsoper dem Bund zuzuordnen. Während in Berlin um die Gründung der Stiftung Oper in Berlin gerungen wurde, reichten die damaligen Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag (CDU/C SU und FDP) einen Antrag zur Errichtung einer „Bundeseigenen Stiftung Staatsoper Unter den Linden“ ein.253 In dessen Begründung hieß es, als eine der „herrenlosen Erbschaften Preußens“ solle der Bund die „Verantwortung für das kulturpolitische Instrument Staatsoper“ übernehmen. Es sei Aufgabe des Bundes die „Strahlkraft der Hauptstadtkultur“ zu stärken. Der Kulturpolitiker Peter Gauweiler (C SU), sonst Verfechter des Kulturföderalismus, erklärte, „es ist nicht einzusehen, warum sich andere Länder, die eine viel schlechtere Finanzausstattung haben, eine eigene Staatsoper leisten können, die Wirtschaftsmacht Bundesrepublik Deutschland in ihrer Mitte aber nicht“.254 Jene ‚Hauptstadtwürdigkeit‘, die sich auch in dem Begriff der ‚Berliner Republik‘ verbarg, stand für ein Bündel von Erwartungen an eine neue Ära.255 Sie entspricht sowohl in ihrer Deutungsoffenheit als auch in ihrer Relevanz für gewollte neue Akzente in der Staatsrepräsentation dem ‚moderne et populaire‘ des Pariser Opernprojektes. Auch hier musste sich der Staat neu organisieren – räumlich aber auch in seiner Aufgabenteilung zwischen dem Land Berlin und dem Bund. Dahinter verbarg sich in Berlin, anders als in Paris, keine parteipolitische Konkurrenz, die im Angesicht von Veränderungen im politischen System darum buhlte, gültige Symbole von dort legitimer Staatlichkeit zu definieren. Doch die Auflösung der Ordnung der alten Bundesrepublik, in der die Hauptstadt geografisch wie symbolisch nur einen Randplatz einnahm, schuf 253 BT, Antrag der CDU/CSU und FDP Bundestagsfraktionen : Errichtung einer Stiftung ‚Staatsoper Unter den Linden‘, Drucksache 15/1790. 254 BT, Plenarprotokoll vom 13.11.2003, Drucksache 15/75. Er zielte dabei in die gleiche, allein semantisch formierte Richtung wie der Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit (SPD), der das Opernhaus gern vom Bund finanziert sehen wollte, mit seinem in einer Regierungserklärung ungewöhnlich untergebrachten Argument, es heiße schließlich ‚Staatsoper‘ und nicht ‚Stadtoper‘. Regierungserklärung vom 26.10.2006 vor dem Abgh, Plenarprotokoll 16/1. 255 Vgl. Kuhlke, Representing ; Zalfen, Die Hauptstadt.
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ebenfalls neue Bedingungen, die nicht nur nach neuen Regelungen etwa im Bereich der Hauptstadtfinanzierung, des Umzugs der politischen Organe etc. verlangten, sondern auch nach neuen Darstellungsformen. Bei Komplikationen in diesem langwierigen Prozess stand mithin nichts Geringeres auf dem Spiel als der Status der neuen Hauptstadt – und die Macht, ihn zu bestimmen. Die Opernreform, die – wie vielleicht sonst nur noch der Streit um den Wiederaufbau des Stadtschlosses – gleichermaßen finanzielle und institutionelle wie symbolische Fragen aufwarf, sorgte durch ihr wiederholtes Scheitern für herbe Enttäuschungen. Berlin werde kulturell „allenfalls mit Pusemuckel konkurrieren, aber nicht mehr mit New York oder anderen Metropolen“,256 hieß es. Von der „Kleinkleckersdorf-Reform“ der Oper war zu lesen257 und einer „Berliner Lokalposse“258 ; als „Intrigenstadl“259 wurde die Hauptstadt in den Feuilletons beschimpft und als „Provinznest“.260 Wie in Paris traf in Berlin zu, dass zwar ein staatlicher Transformationsprozess erfolgreich an bestimmte Symbole geknüpft werden konnte, aber die Deutung sich nicht durch die staatlichen Instanzen monopolisieren ließ ; jede Deutung öffnete zugleich ein Plateau für andere, welche in der neuen Hauptstadt ebenfalls repräsentiert werden konnten. In London hat im Zuge des Umbaus des Royal Opera House ein solcher genuin staatlicher Wettkampf nicht stattgefunden. Doch seit der Einführung der öffentlichen Subvention der britischen Opern haben sich auch in London gewisse ‚Standards‘ durchgesetzt – die Versorgung von Mandatsträgern mit Freikarten gehören ebenso dazu wie die an keine institutionelle Bindung geknüpfte Bedeutung von ‚königlichen‘ Galaabenden, bei denen Teile der königlichen Familie, Politiker und die ‚höheren‘ Gesellschaftskreise zu einem Zeremoniell der kulturellen Selbstvergewisserung zusammenkommen. Letztere knüpfen zwar unmittelbar an die Tradition des 19. Jahrhunderts an, doch hat sich daraus ein weitgehend formalisierter Akt entwickelt, der nichts mehr mit der Bedeutung der Oper als kommunikativem Treffpunkt und Unterhaltungsraum einer noch nicht ‚massenmedialisierten‘ Gesellschaft zu tun hat. Die explizite Abnei256 Brauer, Abgh, Protokoll 14/17. 257 FAZ, 02.10.2003. 258 FAZ, 11.11.2004. 259 SZ, 13.11.2004. 260 NZZ, 22.11.2004.
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gung von Königin Elisabeth II. gegenüber der Oper, die häufiger Gegenstand von Anspielungen ist, verdeutlicht ähnlich wie im Fall Mitterrands die rein offizielle Funktion dieser ‚Royal nights‘. Doch trotz dieser einzelnen Merkmale korrespondiert die historische Verankerung der Oper in Großbritannien überwiegend in privaten Strukturen mit ihrer relativ schwachen Rolle als Ort für Herrschaftsrepräsentation und diese Rolle wiederum mit dem geringen Maß, in dem sie in Frage gestellt wurde. So heftig die Deutungskonflikte um die Oper als Gemeinwohl waren und ihre Subventionswürdigkeit angezweifelt wurde, so gering war der repräsentative Aspekt dabei. Ein Phänomen ist allen drei Opernmetropolen aber trotz der unterschiedlichen repräsentativen Funktionen der Oper gemeinsam : Überall mischte sich im Laufe der Diskussionen, die alle mit dem Ziel von Einsparungen begannen, der Wunsch nach einer bestimmten Qualität der Opern in die formulierten Ziele. Sie kam vor allem in dem prononcierten Streben nach ‚Exzellenz‘ zum Ausdruck. Diese Exzellenz umschreibt zunächst eine Anforderung an die höchste Qualität dessen, was der Staat durch seine Mittel ermöglicht – in Form von künstlerischer Perfektion (Sachziel) und betrieblicher Effizienz (Formalziel) – sie ist eng mit den hohen Kosten und dem hohen Prestige der Oper verbunden. Doch hinter dem Anspruch der Exzellenz verbirgt sich noch mehr als ein reines Qualitätsmerkmal. Sie kennzeichnet vielmehr eine in diesem Zusammenhang neue Legitimationsstrategie, nicht nur der finanziellen Förderung, sondern auch der Auswahl ihrer Begünstigten, deren inhaltlicher Bewertung und einer Zuordnung zu dem diesen Maßstab setzenden Akteur. Dieser Prozess wirkt den geschilderten Entwicklungen der Schwächung des Staates, sowohl durch die Ökonomisierung als auch durch die gesellschaftliche Pluralisierung sowie der Auflösung kongruenter staatlicher Repräsentationen entgegen. Die Opernhäuser bilden ein Beispiel dafür, wie sich Kulturpolitik als eine ‚Politik des Spektakels‘ von dem Ideal einer politisch geschützten Sphäre der Bildung, Kreativität und Freiheit entfernt, zugunsten einer Kontrolle begrenzter, aber dennoch weithin sichtbarer öffentlicher Räume durch neue Visualisierungen von Macht.261 In der Politik der Exzellenz findet eine symbolische 261 Vgl. de Frantz, Capital City Cultures, 88f.; Looseley, Facing the Music, 116.
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Restabilisierung und Zentralisierung von Staatlichkeit statt ; beides fand in der Opernpolitik der untersuchten Städte seinen Ausdruck. Während in Paris die Opéra-Bastille um jeden Preis fertiggestellt und eröffnet wurde, begann die sich in den 1990er-Jahren fortsetzende Schwächung der Musiktheater in der Provinz mit Konkurs und Fusion der Opern in Lille und Nantes.262 Der Ernennung der Berliner Opernlandschaft zu ‚kulturellen Leuchttürmen‘ standen in Deutschland die Schließungen zahlreicher Bühnen oder einzelner Sparten (vor allem im Osten des Landes) gegenüber. Und in Großbritannien ging das Ende der kleinen Opera Kent auf Grund des Entzugs öffentlicher Mittel in den Debatten um die hauptstädtischen Opern geradezu unter. Dass die Opernhäuser in den Metropolen nicht der gleichen Bedrohung ausgesetzt waren wie zahlreiche kleine Häuser, korrespondiert mit jenem Exzellenz-Diskurs. Mitterrands – gerade im Zug einer aktiven Politik der Dezentralisierung formulierten – Ankündigung, der Opernneubau würde Paris und Frankreich einen verdienten kulturellen Status in Europa und der Welt zurückgeben, demonstrierte dies konzentriert. Ähnliches galt auch in London, wo das kulturpolitische System eigentlich staatliche, politische und bürokratische Qualitätsurteile verbot : Tony Blairs Kulturminister Chris Smith betonte in seiner Ankündigung einer Opernreform 1997 : „My objective can be simply stated. I want to ensure that we are able to sustain the highest standards of national and international excellence in performance.“263 Das heißt, die Oper sollte sowohl in der Fremdwahrnehmung von dem kulturellen und materiellen Reichtum des Landes zeugen, als auch im Bewusstsein der eigenen kulturellen Errungenschaften und deren Wert einen exponierten Platz einnehmen – über beides gewann die Regierung eine Definitionsmacht. „The production in this country of ballet and opera to the highest standards is integral to our heritage and our sense of being a civilised nation“,264 ergänzte sogar der Vorsitzende des Opernuntersuchungsausschusses, Kaufman, der sonst durch gezielte sprachliche Diskreditierung auffiel. Und der ‚Eyre-Report‘ forderte von den beiden Londoner Opernhäusern, als „centres of excellence“ eine Quelle der Inspiration und des Ansehens der Oper überhaupt zu 262 Chabret, La fin de l‘art. 263 Smiths Entwurf an Eyre, abgedruckt in Grd., 05.11.1997. 264 HoC/CMSC, First Report, §2.
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werden. Mehr noch : Mit der Formel „Unless excellence is maintained, there is no case for access“ erhielt Exzellenz eine gleichrangige Bedeutung mit der so zentralen Forderung nach ‚Zugänglichkeit‘.265 Auch in Berlin lässt sich diese Strategie ausmachen, deren geeigneten Rahmen der neue Hauptstadtstatus bildete. Die Gutachten und Reformkonzepte zur Berliner Opernlandschaft zielten alle auf jene Kriterien des ‚Herausragenden‘, des ‚Weltniveaus‘ und des ‚Hauptstadtwürdigen‘, was nicht nur auf ein neues kulturelles Zentrum des Staates hinwies, sondern auch eine bestimmte Deutung dessen implizierte und durch die Strukturreformen auch zu implementieren versuchte. Der Hauptstadtfinanzierungsvertrag vom 30. Juni 1994 legte in den Jahren 1996 bis 1999 die Grundlage zu einer anteiligen Finanzierung ausgewiesener kultureller Leuchttürme Berlins durch den Bund – die Opernlandschaft bildete hier nur einen Auftakt zu einer Reihe von Initiativen, die bald von ‚Exzellenzuniversitäten‘ bis zu einem neuen hauptstädtischen ‚Exzellenzorchester‘ reichten.266 Hierin spiegelte sich eine Entwicklung, die bereits 1994 mit dem spöttischen Kommentar „Man möchte wieder Weltklasse sein – wie früher“267 quittiert wurde, nun aber zunehmend hohen Identifikationswert besaß. In Berlin ließen sich sogar vereinzelt Rückwirkungen auf die eigentlich entspannte soziale Situation der Oper erkennen : Sich für einen Opernbesuch festlich zu kleiden und damit dem Ereignis und sich selbst als daran Teilhabenden einen besonderen Ausdruck zu verleihen, galt in Berlin lange als unüblich. Anders als es der ‚Feldversuch‘ der britischen Zeitung Sun für London gültig gezeigt hat, gehörten weder der vorfahrende Chauffeur, noch die aufwändige Abendgarderobe oder Champagner zu einem ‚klassischen‘ Berliner Opernabend dazu. Die Westberliner Galaabende an der Deutschen Oper bildeten seltene Ausnahmen. Dies hat sich in der Praxis der neuen Hauptstadt vor allem in dem Haus Unter den Linden geändert. Die Exzellenz konstruiert auch eine Form der Differenz. Veranstaltungen wie die Openair-Übertragungen ‚Oper für Alle‘ während einer Gala für den Sponsoren, Mandatsträger und, Prominenz, bedie265 Eyre-Report. 266 So wurde im Dezember 2009 der Versuch umschrieben, das Deutsche Sinfonieorchester und das Konzerthausorchester zu fusionieren. 267 Wochenpost, 22.12.1994.
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nen einerseits einen Bedarf an Event-Charakter, demonstrieren andererseits aber auch den Unterschied zwischen dem ‚Normalen‘ und dem ‚Exzellenten‘, an dem die Partizipation plötzlich eingeschränkt wird.268 Lässt sich auch auf einer abstrakten Ebene von Staatlichkeit, wie jener der Repräsentation und der symbolischen Macht, von einem Wandel im Sinne und in den Kategorien der ‚Transstate-Forschung‘ sprechen ? Die Analyse der repräsentativen Funktionen von Staatsopern hat anschaulich gemacht, dass Formen ‚weicher Steuerung‘ durch Symbole, Normen oder Diskurse269 in der Oper in gewissem Grad etabliert sind. Deren monarchische Prägung wurde von den modernen Staaten weitgehend übernommen bzw. adaptiert. Opernhäuser und -aufführungen sind als Instrumente symbolischer Steuerung so alt wie die Gattung selbst. Doch wie sich die Repräsentation des Königs oder Fürsten in der Oper auch gegen ihn richten oder umdeuten ließ, ist auch die Verkörperung des modernen Staates in einer Staatsoper angreifbar. Im Rückblick auf die früheren ‚Wendezeitalter‘ der Oper liegt es nahe, dass mit dem Verlust des Monopols auf Staatlichkeit auch eine Schwächung von staatlich konnotierten Repräsentationen einhergeht. Analog zur institutionellen Ausgliederung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung erfolgt eine Form der Zerfaserung, die sich als Fragmentierung kohärenter Repräsentation beschreiben lässt. Die symbolische Funktion von Opernhäusern und auch Opernbesuchen bleibt erhalten, doch deren Zuordnung löst sich kaleidoskopartig in die Mehrdeutigkeiten auf, in welche auch die Staatlichkeit zerfällt. Anders als im ‚Goldenen Zeitalter‘ des Staates kreist die Problematik der repräsentativen Oper weniger um die Frage, ob der Staat als Nachfolger der monarchischen (oder privaten) Oper auch das Prestige beanspruchen und deren vorbelastete Formen übernehmen darf, sondern vielmehr darum, ob es überhaupt noch etwas gibt, das durch eine hermetische Repräsentationsform, wie ein Opernhaus abgebildet werden kann. Gefördert wird diese strukturelle Fragmentierung durch die nicht nur aber vor allem ästhetische Anpassung der Darstellungen von Staat und staatlicher Politik an die Geschwindigkeit, Omnipräsenz und Schnelllebigkeit der moder268 Dass diese ‚Strategie der Exzellenz‘ prinzipiell nicht nur staatlichen, sondern auch privaten Akteuren zur Verfügung steht, die damit auch zu aktiven Gestaltern der kulturpolitischen Entwicklungen werden, entspricht den in Teil II beobachteten Entwicklungen. 269 Göhler, Weiche Steuerung.
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nen Medienwelt. Die geschlossene Situation der Oper, welche die körperliche Anwesenheit und eine definierte, dem Raum eingebrannte Struktur und Unterwerfung unter ein bestimmtes Ritual zur Bedingung hatte, wird durch die Einbindung in eine medialisierte Staatsrepräsentation durchlässig und verliert damit gegenüber den zahllosen anderen ‚Staatsbildern‘ ihre Spezifizität. Im Gegenzug haben sich vielfach repräsentative Formen entwickelt, die in die entstandenen Lücken dringen bzw., um in der entsprechenden Terminologie zu bleiben, sich um die vormals staatliche Repräsentationsfunktion der Oper anlagern. Genauer : um den Kern des monarchischen Zeremoniells, um das sich bereits die staatlichen Repräsentationen angelagert hatten. Große Firmen laden heute in Opernhäuser, um sich in deren Glanz zu präsentieren ; der Sitz des Vorstandes liegt dabei natürlich – wo möglich – in der Königsloge. ‚Celebrities‘ und Mandatsträger erscheinen auf den gleichen Galas und stärken so gewissermaßen gegenseitig die Bedeutung des Ereignisses. In angepasster Fernsehbildregie für die Ereignisse im Inneren der Oper oder in der Verbindung von repräsentativen Akten in der Oper mit massen- und medientauglichen ‚Events‘ davor, manifestieren sich neue Bedeutungen und neue Formen um das tradierte repräsentative Gerüst der Staatsopern.
V. Fazit
„The nature of what has, since the mid 19th century, become a lumbering and increasingly unmanageable art form means it has lost the agility and flexibility to respond to the times …“1
Ziel dieser Studie ist es gewesen, die Krisen und Reformen der Staatsopern in drei westeuropäischen Hauptstädten zu analysieren. Staatsopern wurden dabei verstanden als subventionierte und institutionalisierte Teile staatlicher Strukturen, staatlich verantwortetes kulturelles Gemeingut und Verweisungssymbole des Staates. Vor dem theoretischen Hintergrund eines Wandels von Staat und Staatlichkeit und den damit verbundenen neuen Formen der Steuerung sowie methodisch im Sinne einer kulturalistisch erweiterten Politikanalyse wurden die ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimensionen der Herausforderungen gegenüber den Staatsopern und der sie jeweils prägenden Opernpolitiken untersucht. Die kulturalistische Perspektive und insbesondere der Vergleich der jeweiligen Rahmenbedingungen, Traditionen und Prinzipien hat dabei die Möglichkeit eröffnet, die Untersuchungsdimensionen ihrer in der kulturpolitischen Forschung häufig anzutreffenden moralischen Prägung zu entkleiden : Die Beschäftigung mit den ökonomischen Grundlagen der Oper zeigte, dass ‚Ökonomisierung‘ keineswegs eine Unterwerfung ‚guter‘ kultureller Werte unter ‚böse‘ wirtschaftliche Prioritäten bedeutet. Auch die (etwa im deutschen Kulturstaatsprinzip verankerte) Selbstverständlichkeit staatlicher Neutralität im Opernbereich musste vielfach in Frage gestellt werden. Weiterhin erschien der Repräsentationscharakter der Oper im Rahmen der Analyse nicht nur als oberflächliches Abbild wichtiger inhaltlicher Entscheidungen, sondern auch als deren Voraussetzung. Der kulturpolitische Wille zur Demokratisierung der Oper schließlich erwies sich nicht nur als notwendige Reaktion auf die Pluralisierung der Gesellschaft ; sondern auch als Mittel, diese zu (re)strukturieren. 1 Vick, Inclusion ; vgl. auch Gostomzyk, Wo bleibt die Gegenwart.
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Die daraus hervorgegangenen drei Teile haben trotz ihres thematisch heterogenen Charakters und der unterschiedlichen Untersuchungsfälle, die sie analysierten, gemeinsame Antworten auf die Frage hervorgebracht, wie sich das in den Staatsopern zum Ausdruck kommende Verhältnis von Staat und Oper angesichts des paradigmatischen Wandels seiner ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen verändert hat. Die spezifischen Details der politischen Systeme, Operntraditionen und personellen Konstellationen zeigten sich zugleich als Puzzleteile weit grundsätzlicherer Veränderungen. Deutlich wurde : Mit unterschiedlichen Ausrichtungen und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben sich die Opern in allen drei Metropolen von einem Modell entfernt, in dem der moderne demokratische Staat zum hoheitlichen Verwalter und Vertreter sowohl des höfischen wie des bürgerlichen wie des kommerzialisierten Erbes der Oper avanciert war. Doch was ist dadurch entstanden ? Die Untersuchung hat an zahlreichen Stellen den Rückbezug auf die Annahme einer funktionalen Transformation von Staat und Staatlichkeit hin zur Privatisierung sowie der ‚Zerfaserung‘ von Staatlichkeit und der ‚Anlagerung‘ neuer Akteure und Strukturen, Bedeutungen und Deutungen, Verhaltensformen und Erwartungen um den Staat herum erkennen lassen. Das Beispiel der Staatsopern hat gezeigt, dass die staatlichen Interventionen keineswegs auf eine rein ökonomische und institutionelle Ebene beschränkt sind, da sich ihre Staatlichkeit nicht allein in Zuschüssen sowie formaler Organisations- und Entscheidungskompetenz erschöpfte, sondern sich darüber hinaus in komplexen sozialen und kulturellen Integrationsleistungen, in Normsetzung und Wertevermittlung, Sinnstiftung und Repräsentationen manifestierte. Mithin besteht der heuristische Gewinn ihrer Analyse auch darin zu zeigen, dass und wie sich gerade diese Dimensionen von Staatlichkeit verändert haben und weiter verändern. Erwartungsgemäß sind die Vorgänge dabei angesichts des speziellen Charakters des Opernthemas sowie der jeweiligen nationalen Kontexte spezifischer, als es ein allgemeines Modell der Transformation von Staatlichkeit an sich erfassen kann, und haben sich dementsprechend nicht immer analog dazu vollzogen. Im Bereich der Kulturpolitik erschienen sie als eine komplexe strukturelle und
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diskursive Verschränkung von Entstaatlichung und Privatisierung, selektiven historischen Kontinuitäten und Identitätskonstruktionen. Auch die Entstehung neuer Steuerungsformen hat auf allen Untersuchungsebenen eine Rolle gespielt – nicht nur innerhalb der unmittelbar institutionellen Aspekte. Erkennbar geworden sind vielfältige Antriebsstrategien, die an die Stelle eines vertikalen staatlichen Regelns und Regierens der Opern getreten sind : Von indirekten Anreizen (etwa durch die Gewährung mehr betrieblicher Freiheit und Sicherheit), über die horizontale Steuerung (durch Netzwerkbildung) bis zu Mechanismen ‚weicher‘ Steuerung (etwa durch die diskursive Umdeutung bestimmter vormals hoheitlich besetzter Begriffe in der öffentliche Debatte) haben sie die Beziehung zwischen Staat und Oper grundlegend verändert. Allerdings zeigte die Untersuchung auch Veränderungen, welche die Frage nach der steuerungstheoretisch so hervorgehobenen Intentionalität aufwerfen. Sich beispielsweise beim Opernbesuch alltäglich zu kleiden, obwohl die formalen oder informellen Regeln etwas anderes vorgeben, kann noch als Akt intentionaler Veränderungen gedeutet werden. Doch die Anpassung der Oper an neue gesellschaftliche Erlebniswelten in den verschiedensten Bereichen, vom Marketing über die Architektur bis hin zur Kunst, verweist auf Transformationsprozesse, in denen zwar das Verhalten von Akteuren das Beziehungsgefüge von Staat und Oper weitreichend verändert hat und als solches auch steuernd wirkt, es aber nicht mehr als zielgerichtete Handlung festzumachen ist. Diese Prozesse haben vor allem in allgemeinen kulturellen, sozialen und medialen Strömungen stattgefunden und stärken damit eher die Annahme eines Wandels im Sinne einer veränderten Gouvernementalität als die einer Veränderung von Steuerungsspielarten im Sinne der Governance. Aus diesen Forschungsrichtungen der Transformation von Staatlichkeit und Steuerung sind verschiedene Modelle hervorgegangen, welche die Zukunft dieses ‚gewandelten Staates‘ abzubilden versuchen. Nur andeutungsweise lässt sich veranschaulichen, dass die Entwicklung der Staatsopern sich in vielerlei Hinsicht in diese Modelle einpassen lässt : Der ‚Gewährleistungsstaat‘ etwa zeichnet sich vor allem im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und sozialen Wohlfahrt dadurch aus, dass er zwar bestimmte Aufgaben an private Agenturen abgibt, aber an seiner zentralen
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Zuständigkeit für die Gewährleistung der Versorgung (und damit auch an der Definition der Angemessenheit) festhält.2 Die nach wie vor bestehende finanzielle Grundverantwortung des Staates gegenüber den Opernhäusern bei einer gleichzeitigen vollständigen oder teilweisen Privatisierung der Kontrolle dieser Mittel, entspricht weitgehend dem Bild eines ‚Gewährleistungsstaates‘. Ebenso die Milderung des kulturpolitischen lofty approach zugunsten einer individualisierten ‚Geschmacksfreiheit‘, in der den Menschen die Wahl des bevorzugten Kulturkonsums offengelassen wird, die Voraussetzungen dazu (vor allem Bildung sowie Zugänglichkeit im physischen, geografischen und zum Teil finanziellen Sinne) aber weiterhin staatlich garantiert werden. An anderer Stelle zeigen sich Ähnlichkeiten mit der These zur ‚Mutation‘ des Staates „vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager“, wie sie die Transformationsforschung konstatiert.3 Auf den Bereich der Oper bezogen verweist dies darauf, dass der Staat seine Herrschaft über die Oper mit privaten Instanzen nicht nur im finanziellen und institutionellen Sinne, sondern hinsichtlich aller ehemals konstitutiven Beziehungselemente von Staat und Oper teilt : Ob ein roter Teppich vor dem Opernportal ausgerollt wird, weil ein hoher Staatsgast kommt oder ein Sponsor eine Gala gibt, ist in der Regel nicht mehr erkennbar. Seite an Seite können staatliche wie private ‚Würdenträger‘ die ehemals feudal dann staatlich geprägte Repräsentationsfunktion der Oper nutzen. Aus ‚Monument‘ und ‚Bühne‘ werden ‚Marke‘ oder ‚Standortfaktor‘, deren Nutzen für einen Sponsor, das Festivalkonzept eines Opernhauses oder für die öffentliche Stadtentwicklung gleichermaßen hoch ist und sich auch qualitativ kaum unterscheidet.4 Gerade im kulturellen Sektor hat sich wiederum die Vorstellung einer neuartigen ‚Partnerschaft‘ von öffentlichem und privatem Bereich etabliert. Mit langfristigen Sponsorenverträgen und der Beteiligung privater Akteure in den Aufsichtsgremien der Opernhäuser sind solche Public Private Partnerships erkennbar und werden sich sicher in der Zukunft weiter ausprägen. Durch die Win-win2 Vgl. Schuppert, Gewährleistungsstaat ; Genschel, TransState working Paper, 45. 3 Genschel, TransState Working Paper, 62, 9 ; auch Osborne/Gaebler, Reinventing Government. 4 Ähnlich zeigt sich das in den Praxismodellen des new public management als Trennung der staatlichen kulturpolitischen Gestaltung von der privatisierten ausführenden Verwaltung der Opern.
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Fazit
Situation, auf die sie abzielen, erlauben sie eine breit angelegte Nutzung der verschiedenen Werte, welche die Oper zu generieren vermag. Die neuen Partnerschaften sind aber – etwa durch verschiedene Formen von ‚Freunden‘, von den bevorzugten Abonnentenzirkeln bis zur virtuellen Fangemeinde im Internet – auch vorstellbar als Multiplikatoren, welche die Kommunikation zu neuen Publikumsgruppen eröffnen, die sich der staatlichen Kulturpolitik in der dargestellten Weise zunehmend entziehen. Schon heute liegen an allen untersuchten Opernhäusern die Bildungsangebote vor allem für Kinder und Jugendliche (Education) in privater Hand – und dies, obwohl der Bereich der ‚kulturellen Erziehung‘ eine Kernformel der öffentlichen Opernförderung bildet.
2. Die Opernkrisen als Verarbeitungsstrategien des staatlichen Wandels
Dieser Abgleich mit Modellen zur Zukunft von Staatlichkeit ließe sich an zahlreichen Beispielen der vollzogenen Untersuchung fortsetzen. Doch die Staatsopern haben etwas deutlich gemacht, das tieferen Einblick in den Transformationsprozess gewährt, als die begrenzte Übereinstimmung mit dessen möglichen Resultaten. Denn verglichen mit den klassischen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge oder der sozialen Wohlfahrt, erscheinen die Staatsopern als relativ geschützte Räume. In Berlin haben Land und Bund zwar um die Zuständigkeit für die Opern gerungen, einig waren sich aber alle staatlichen Ebenen darin, dass drei Opernhäuser erhalten bleiben müssen ; in Paris wurden die Opernpläne nicht einmal als unmittelbares Symbol des politischen Gegners endgültig gekippt – und selbst in London blieb es trotz aller Drohungen beim Bekenntnis des Staates „Opera is not let down“.5 Anders als die meisten veränderten staatlichen Sektoren – von der Wasserversorgung über das Gesundheitswesen bis zur öffentlichen Sicherheit – stellt die Oper weniger einen Raum dar, in dem verschiedene Interessen aufeinanderprallen, als vielmehr einen, in dem Werte gebunden und anschaulich gemacht 5 Zit. nach Bereson, The Operatic State (hier die Aussage des Finanzministers Hugh Dalton 1945–47).
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werden können. Der Zusammenhang mit dem grundlegenden Wertekanon der Gesellschaft ist bei ihr vielleicht ähnlich hoch wie im Bereich der Bildung und Erziehung. Als zeremonieller Raum der individuellen wie kollektiven Selbstdarstellung ist der öffentliche und allgemeine Charakter der Oper aber weit ausgeprägter. Der Nutzen des Staates an dieser integrativen und legitimatorischen Funktion ist nach wie vor groß, eine vollständige Loslösung der Oper aus ihren staatlichen Bedeutungszusammenhängen ist deshalb auch langfristig unwahrscheinlich. Doch wie die hier vorgelegte Analyse gezeigt hat, heißt dies nicht, dass keine Veränderungen, Konflikte, Anpassungen und Umdeutungen des Verhältnisses von Staat und Oper stattgefunden hätten. Die Oper kennzeichnet die besondere Position, zwar von zahlreichen kulturellen und normativen Veränderungsfaktoren betroffen, zugleich aber vor einem umfassenden strukturellen Umbau geschützt zu sein. Diese Stellung setzt sie besonderen Spannungen aus, deren Untersuchung Einblicke in Zusammenhänge gewährte, die bei der reinen Anwendung des Transformationsmodells oder steuerungstheoretischer Perspektiven gar nicht ins Blickfeld gerückt wären. Die Dynamik der Opernkrisen zeigt weniger, was ein mögliches Ergebnis des Wandels ist, sondern was den vor allem kommunikativen Prozess kennzeichnet. Von der zugespitzten Ausgangshypothese ausgehend, dass sich hinter diesem Wandel ebenso sehr eine Krise des Staates wie eine der Oper verberge, wurde die Analyse der ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungsprozesse der Staatsopern daher flankiert von einer Analyse der Krisen, welche den Charakter des Wandels beschrieben. Zweifelsohne sind die Opernkrisen auch Ausdruck genuiner Probleme der Kunstform und Institution Oper. Die fehlende Anerkennung eines neuen Repertoires, die Frage danach, ob die Oper überhaupt noch zeitgemäß sei, der Konflikt zwischen traditionellen Erwartungen und neuen Interpretationen, ebenso wie die Kostenentwicklung, sinkende Auslastungszahlen, die Überalterung des Publikums und die Konkurrenz durch neue Medienformen – dies sind gemeinsame Probleme aller untersuchten Opernhäuser. Jedoch hat der dieser Studie zugrundeliegende Ansatz, die Oper als Staatsoper zu beschreiben, die Überschneidung der genuinen Herausforderungen der Oper mit den Problemen, die sich durch den staatlichen Rückzug und die Transformation von Staatlichkeit ergeben, auch empirisch nachweisbar ge-
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Fazit
macht. Denn es sind, wie eben resümiert, keinesfalls allein die finanziellen und institutionellen Probleme der Opernhäuser, die einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wandel von Staat und Staatlichkeit aufweisen. Die Auflösung herkömmlicher sozialer Milieus und das Auftreten neuer Akteure hat nicht nur die gängigen und gültigen Opernrituale, sondern auch das kulturelle Erziehungsmonopol des Staates verstärkt in Frage gestellt ; neue Medienwirklichkeiten bildeten nicht nur eine Konkurrenz für das multimediale Live-Erlebnis Oper, sondern veränderte auch die Darstellung von Staat und Politik. Zwar spielten die Finanzen im Kontext der Opernkrise stets eine entscheidende Rolle – die Kosten der Opernbetriebe steigen, die Ausgaben der öffentlichen Hand stagnieren, neue Einnahmequellen müssen erschlossen werden – doch blieben sie nur ein Element, aus dem sich überall etwas anderes, Umfassenderes entwickelt hat : Es lässt sich mit einem der deutschen Vorreiter der Bündnisse zwischen Kultur und Wirtschaft, Bernhard Freiherr von Löffelholz, als Wandel „von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung“6 bezeichnen. In allen drei Metropolen galten die finanziellen Nöte nur als Auslöser oder Ausdruck weit grundsätzlicherer Fragen. Die Analyse hat deutlich gemacht, dass vielfach sogar eine Abkehr von den allgemeinen sparpolitischen Zielen zugunsten strategischer, institutioneller, räumlicher und symbolischer Veränderungen stattgefunden hat. Zur Krise kam es, weil die Staatsopern zwar alle nachweislich mit einem modernen kulturpolitischen Auftrag ausgestattet waren, der in allen Fällen ein formal, normativ und auch kulturell bestimmtes Verhältnis zwischen Oper und Staat enthielt, sich daraus aber weder die Fähigkeit noch der Konsens ableiten ließ, dieses Verhältnis veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Die Opern als Orte öffentlicher Ereignisse, Kulturgüter und Symbole konnten ihren kulturpolitischen Auftrag nicht mehr erfüllen und boten daher einen Raum, eben diesen Auftrag und das sich dahinter verbergende Verhältnis von Oper und Staat neu zu verhandeln. Die Frage, was modern oder traditionell, was betrieblich eigenständig oder abhängig, was effizient oder verschwenderisch, was populär oder elitär, was exzellent oder ungenügend ist, wurde in den nachgezeichneten, häufig kontroversen Debatten durchaus unterschiedlich de6 Freiherr v. Loeffelholz, Von der Gewinnorientierung.
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finiert. Diese Definitionen waren weniger klare Diagnosen, als vielmehr ein vielseitiges Instrumentarium, Veränderungen zu fordern, sie anzustoßen, sie durchzusetzen oder sie in Frage zu stellen. Diese Befunde zeigten sich, weil die Opernkrisen nicht als Fakten, sondern als Diskurse analysiert wurden ; in ihnen konnten sowohl Problemkomplexe bearbeitet als auch Handlungsspielräume eröffnet werden. Die Krise erwies sich damit als Katalysator in einem Umbruch, der Umdeutungen und Veränderungen erlaubte. Sie war Ausdruck der Zweifel an vormals akzeptierten oder geduldeten Akteuren, Verfahren und Praktiken. Aber sie schloss auch die Lücken zwischen mehr betrieblicher Freiheit auf der einen Seite und besserer Kontrolle auf der anderen Seite, zwischen den Ansprüchen auf billigere Opernkarten und dem Ärger über zu hohe Subventionen, zwischen der Ablehnung feudaler Atavismen und dem Wunsch nach ihrer Repräsentativität. Doch mehr noch : Katalysiert durch die jeweiligen politischen Umbrüche entwickelten sich die Opern in allen drei Metropolen zu einer Arena, in der bestimmte politische und gesellschaftliche Grundsatzfragen aufgegriffen werden konnten. Die Staatsopern standen unmittelbar in dem seismisch hochempfindlichen Grenzgebiet anerkannter und in Frage gestellter Traditionen und ihrer Reformen. Deswegen eigneten sie sich in besonderem Maße dazu, aktuelle brisante Fragen mit ungelösten Grundsatzfragen und Konflikten der Gesellschaft zu verknüpfen – ganz unabhängig davon, ob der Staat eine starke Stellung wie in Deutschland und Frankreich oder eine eher schwach ausgeprägte wie in England innehatte. Die im kulturpolitischen Vergleich häufig postulierte Annahme, die Kulturpolitik sei immer dort besonders hitzig und konfliktreich, wo der Staat stark sei, dagegen kühler und besonnener, wo die Kultur eher dem Markt überantwortet sei,7 hat sich im Fall der Opernkrisen keinesfalls bestätigt. Die prinzipiell staatsfern organisierten Londoner Opern erwiesen sich als ein nicht weniger explosives Politikum als die föderal, aber trotzdem staatlich verantwortete Berliner Opernlandschaft oder die unmittelbar in das nationale Machtzentrum eingebettete Opéra National in Paris. Nähe wie Distanz zwischen Staat und Oper 7 Diese Auffassung findet sich insbesondere in der internationalen englischsprachigen Debatte. Vgl. etwa McGuigan, Culture, 7f.
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Fazit
haben sich vielmehr als etwas Relatives erwiesen, das durch einen spezifischen, tief in der jeweiligen politischen Kultur des Landes verwurzelten Normenkanon bestimmt ist. Das Ausmaß der Konflikte entsprach der Nachhaltigkeit, der dieser jeweilige nationale Normenkanon angegriffen wurde. In allen drei Ländern avancierte die Oper bzw. Opernkrise deshalb zur kulturellen Metapher für das, was hinter dem Wandel der bestehenden Ordnungen stand. Sie war ein Abbild der politischen und kulturellen Besonderheiten und spezifischen Szenarien eines allgemeineren und abstrakteren Prozesses : In Berlin verwies die Opernkrise auf die Probleme, welche die lang ersehnte Einheit der Stadt mit sich brachte ; sie war gleichzeitig Ausdruck des historischen Erbes, das auf der Metropole lastete, und der Erwartungen an die neue Hauptstadtrolle. In London war die Royal Opera Symbol der zähen Überlebenskämpfe der Klassengesellschaft, der Angst vor zu großer Nähe zwischen Politik und Kunst und der Enttäuschungen über das Versagen des Marktes im Kulturbereich. In Paris entwickelte sich die Opéra-Bastille zum Ausdruck der mit der unbekannten Situation der Cohabitation einhergehenden Spannungen, des monarchischen Charakters einer stolzen Republik und der ungebeugten Dominanz der Hauptstadt über den Rest Frankreichs. Auf Grund dieser Stellvertreterrolle bildeten die Opernkrisen nicht nur diskursive Arenen, um allgemeine Probleme oder Veränderungen zu verhandeln, sondern erlaubten auch, eine bestimmte Vorstellung davon zu prägen. Diese Funktion ist zumindest Teil der paradoxen Erscheinung eines dynamischen Wechsels zwischen dem Rückgang staatlicher Verantwortung und neoliberalen Vorstößen auf der einen Seite und verstärktem staatlichen Engagement oder interventionistischen Rückfällen in der Staatsopernfrage auf der anderen Seite. Finanzielle Kontrollbefugnis, symbolische Demonstrationen staatlicher Macht oder soziale und kulturelle Deutungshoheit des Staates gegenüber den Staatsopern nahmen nicht linear ab, sondern unterlagen Schwankungen. Der ‚existenzielle‘ Charakter der Krise hat mithin auf die Notwendigkeit radikaler Schritte verwiesen und neue Modelle und Verfahren ins Spiel gebracht. Zugleich stärkte die Berufung auf die Krise den Bedarf an starken Akteuren, welche die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen beweisen mussten. Mit der Berufung auf die Krise ließ sich Entstaatlichung fordern, er-
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klären, problematisieren, oder eben auch rückgängig machen. In diesem vielschichtigen Prozess die Definitionsmacht über das, was passierte, zu haben, bedeutete, ihn auch zu steuern. Dies machte das Reden über die Opernkrise mitunter wichtiger als den Kampf dagegen : In Berlin hat jeder Senat erneut den Versuch unternommen, mit der Reformulierung und Reform der Berliner Opern die Fähigkeit zu beweisen, die finanzielle Konsolidierung sowie die geopolitische und kulturelle Neuordnung der Stadt erfolgreich zu bewältigen. Im Zuge der Transformation Berlins zur Bundeshauptstadt wäre eine erfolgreiche Reform der Berliner Opernlandschaft ein „Signal für die Kulturlandschaft in ganz Deutschland“ gewesen.8 Mit dem wiederholten Scheitern der Reform wurden die Opern aber nicht nur zum Modell für die Überwindung der Gegensätze von Ost und West, sondern auch zum Symbol für deren Unüberwindbarkeit. Jeder konnte angesichts der offensichtlichen Problemlage seine eigenen Zuständigkeits- und Nichtzuständigkeitsbereiche definieren. Vor Reformen beschwor man die Krise des zu Reformierenden, die Finanzierung, das künstlerische Profil, die Zusammenarbeit der drei Institutionen, fehlende Planungsfreiheit etc., die Fehler der Vorgängerregierung oder die gesamte Entwicklung der Stadt. Als Gegner dieser Reformen oder aber nach ihrem Scheitern hieß es dagegen immer wieder, man solle sich keine Krise einreden lassen, um nicht an ihr selbst zu versagen – oder aber man zog den Radius ihrer Ursachen noch weiter, um das eigene Scheitern hinter der Monumentalität des Problems zu verbergen. Letztlich war das Entscheidende an der Opernkrise nicht die Lösung, sondern dass sie vermochte, die finanziellen, politischen und kulturellen Konflikte der Vereinigung und Hauptstadtwerdung Berlins immer wieder an die Oberfläche zu bringen. Mit der Royal Opera in London hat New Labour ein ebenso akutes wie mit traditionellen Konflikten behaftetes Thema aufgegriffen. Die junge Regierung konnte ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, mit überholten Systemen aufzuräumen und für die Herausforderungen der Gegenwart Handlungsstärke zu besitzen. Mit dem ‚Instrument‘ der Opernkrise ließ sich gegenüber den Gegnern der staatlichen Kulturförderung ein aktives Eingreifen und eine staatlich kontrollierte Reform kulturpolitischer Prinzipien zum Abbau des elitären Images der 8 BT, Protokoll 17/75, 6542.
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Oper rechtfertigen. Gleichzeitig ließen sich eigene politische Ziele auch gegen den Widerstand gesellschaftlich dominanter Gruppen durchsetzen. Während sich der Londoner Operndirektor Jeremy Isaac bemühte, die Problemlage des Hauses auf seine Unterfinanzierung zu reduzieren („If we had got an extra 10 million pound, we wouldn’t have had this problem. Everything would have been all right.“9), baute sich in der Öffentlichkeit eine klassenkämpferische Krisenstimmung auf, welche schließlich auch das Überschreiten etablierter Grenzen legitimiert. Denn : Obwohl die kulturpolitische Hoheit des Staates, den Stand des Allgemeinwohl anhand der Oper zu definieren, gerade massiv in Frage gestellt wurde, erlaubte die Krise Kulturminister Chris Smith stärker einzugreifen, als es das für die britische Kultur so wichtige arm’s-length principle eigentlich gestattete : „I did indeed intervene in the issues that arose about the future of the Royal Opera House.“ erklärte Smith „It would have been a dereliction of duty not to intervene. We might well not have had a Royal Opera House at all if I had not done so.“10 Die sozialen Spannungen, die der Oper in England innewohnen, ebenso wie das Tabu staatlicher Intervention im Kulturbereich wurden mithin durch das Ringen um die Krise keinesfalls ausgeglichen, sondern vielmehr verschärft. Ähnlich gelagert war die Reform der Pariser Oper, die durch einen voluminösen Neubau vollzogen werden sollte. Die Pläne für eine neue Oper waren nicht nur ein Symbol des Sieges der Sozialisten und François Mitterrands, sondern auch des Willens, die grundlegenden Schwachpunkte der Republik anzugehen. Schon Präsident George Pompidou hat drei Probleme seines Landes für praktisch nicht reformierbar erklärt : das Bildungssystem, die Bahn ( S N C F ) und die Pariser Oper.11 Die Reform der Oper sollte deshalb nicht weniger sein als der Ausdruck einer neuen politischen Ära, zu der gerade eine kulturell definierte Form moderner, aber starker Staatlichkeit gehörte. Diese Oper an der geschichtsträchtigen und geschichtsmächtigen Place de la Bastille zu errichten, bedeutete, sich dabei zugleich auf den Gründungsmythos der französischen Republik zu berufen und dem eigenen Handeln einen revolutionären, erneu 9 Zit. in DT, 07.12.1997. 10 Chris Smith in einem offenen Leserbrief in Ind., 29.10.2000. 11 Vgl. Agid/Tarondeau, L’Opéra, 95.
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ernden Charakter zu verleihen. Die Frage, ob es angesichts massiver ökonomischer Umwälzungen und unter anderem 2,5 Millionen Arbeitslosen nicht unvernünftig wäre, eine neue Oper zu errichten, wies der damalige Kulturminister Jack Lang zurück : „S’il y a crise, et il y a crise, je répondrai : raison de plus, investir dans l’intelligence, dans la culture et dans l’innovation. (…) Cette crise est intellectuelle, morale et mentale avant être économique.“12 Die darin zum Ausdruck kommenden hohen Ansprüche an die neue Pariser Oper konnte diese jedoch weder hinsichtlich ihrer künstlerischen Qualität noch durch die erhoffte soziale Öffnung befriedigen. Sie kanalisierten aber die Erwartungen und Enttäuschungen gegenüber jenen, welche die Oper auf die politische Agenda gehoben hatten. Die Konflikte um eine veränderte Macht, Kompetenz und Anerkennung des Staates konzentrierten sich in allen Opernkrisen. Aber innerhalb des ähnlichen westeuropäischen Staatsmodells waren es die Konflikte ungleicher politischer Systeme, ungleicher sozialer Ordnungsvorstellungen und ungleicher Repräsentationsgemeinschaften, die jeweils im Zentrum standen. In der Differenz der thematischen Schwerpunkte der Opernkrisen spiegelten sich jene Dimensionen des Staates in Deutschland, Großbritannien und Frankreich präzise wider, die einerseits besonders fest mit den Traditionen des Landes verwoben waren, daher aber andererseits einen Konsens bildeten, in dem unausgetragene Kontroversen verschlossen waren, die nun bei einer Neubestimmung staatlicher Kompetenzen und Verantwortungen virulent wurden. Die Krisen haben dadurch so spezifische Eigenarten entwickelt, dass ihre Ähnlichkeiten über die Ländergrenzen hinweg für die beteiligten Akteure kaum sichtbar geworden sind. Zwar wurden die öffentlichen Diskussionen über die Konzepte der Opernreformen auch grenzüberschreitend zur Kenntnis genommen, vor allem institutionell hatten sie mitunter Modellcharakter, doch jenseits der Feststellung einer generellen finanziellen Unterversorgung wurden Parallelen weitgehend ausgeblendet. Abgrenzungswünsche und Gefühle der Andersartigkeit, häufig sogar der Überlegenheit, waren die dominierenden Elemente der Selbstwahrnehmung im Vergleich zu den ‚anderen‘.
12 Grand forum Paris Match, radio libre, 01.04.1985
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In London blickte man im Februar 1989 auf die Krise um die Opéra de la Bastille, beobachtete die Interferenzen zwischen Kultur und Politik und wähnte sich Dank eines überlegenen kulturpolitischen Systems in Sicherheit : „One thing about the last month’s événements in Paris in certain – they couldn’t happen here.“13 Und auch in Deutschland war diese Opernkrise nur „typisch für Frankreich : Kunst ist in diesem Land immer auch Politik, und wenn obendrein auch noch Geld im Spiel ist, sind alle Ingredienzien für eine Staatsaffäre beieinander“.14 Nur wenige Jahre später rangen die Hauptstädte beider Länder mit ähnlichen Konflikten. Die deutsche Opernkrise dagegen manifestierte sich aus Sicht der britischen Presse vor allem in einer Art künstlerischen Verfalls. Das „polymorphously perverse“ Regietheater wurde als eine krankhafte Erscheinung („German producerities“) beschrieben, vor der man im britischen Heimatland gerade dank der geringeren staatlichen Subventionen geschützt sei.15 In Paris wurde die Londoner Opernkrise vielfach als Teil einer chaotischen Stadtplanung bewertet, deren Ursachen genau in den ‚Defiziten‘ der Stadt bzw. des Landes gegenüber dem politischen Systems Frankreichs lagen (in dem aber wenige Jahre zuvor gerade ähnliche Konflikte verhandelt worden waren) : „Ces aménagements en pagaille sont exemplaires du développement urbain de Londres, ville sans maire, sans autorité centrale, sans plan d’urbanisme.“16 Für die alten und neuen Akteure der Oper ist zweifelsfrei die Frage am wichtigsten, wohin diese Entwicklungen führen. Auf der Grundlage einer Skizze der großen Zusammenhänge ebenso wie anhand von zahlreichen Details konnten einige Prognosen bezüglich der zukünftigen Praxis der Opernhäuser vorgelegt werden. Allerdings hat die Analyse der besonderen Dynamik von Opernkrisen auch gezeigt, dass nicht die möglichen Resultate der Krisen, sondern vielmehr die Beschäftigung mit ihrem Prozessverlauf den eigentlichen Erkenntnisgewinn generieren.
13 Opera !, 2, 1989. 14 Der Spiegel, 23.01.1989. 15 Der Publizist Charles Osborne, in TT, 20.09.2002. 16 Lib., 14.07.1997 ; Jahre zuvor dagegen, als die Enttäuschung über die eigene ‚opéra moderne et populaire‘ überwog, fand man sogar in der Londoner English National Opera ein geeignetes Vorbild – vgl. Gad, Enquete.
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Die feste Verwurzelung in spezifischen gesellschaftlichen und politischen Wertegerüsten machen Kunst und Kultur zu (vermeintlich) besonders geschützten Sphären. Dieser Schutz bewahrt sie zwar, wie vielfach demonstriert, nicht vor institutionellen Veränderungen, Einsparungen und grundlegenden Infragestellungen, aber ironischerweise weitreichend vor systematischer Analyse. Dies gilt nicht nur für die Akteure aus Kulturpolitik und Kulturbetrieb, sondern auch für die Forschung. Ungeachtet des Umstandes, dass dieser Bereich – von den G A T T -Verhandlungen bis zu den Haushaltskonsolidierungen auf allen staatlichen Ebenen – so sensibel durch die Veränderungen von Staatlichkeit betroffen ist, gilt die am Anfang des Buches diskutierte geringe Beschäftigung der Politikwissenschaft mit dem Feld der Kulturpolitik auch für die Analyse staatlicher Transformationsprozesse. Umgekehrt greifen die kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich unmittelbar mit den kulturellen Themen befassen und daher vielfach mit den Problemen konfrontiert sind, kaum auf das Wissen der anderen Disziplinen zurück. Während Modelle und Diskussionen der Governance, eines Wandels der Gouvernementalität, der Transformation des Staates oder der Liberalisierung in den Sozialwissenschaften und ihren ‚gängigen‘ Untersuchungsbereichen bereits etabliert sind, steht eine gezielte Forschung, etwa der Entstaatlichung von Kulturpolitik oder einer ‚Governance der Künste‘,17 erst am Anfang. Doch Etatkürzungen, Fusionspläne und Schließungen allerorten, lassen das Interesse an den dahinterliegenden Strukturen und Prozessen, der Vielzahl von Institutionen und Akteuren und ihren wechselseitigen Abhängigkeiten wachsen. Diese Studie hat durch die konzeptionelle Verknüpfung des politikwissenschaftlichen Zugriffs mit kulturellen und kulturpolitischen Kategorien und Dynamiken geeignete Ansätze aufgezeigt, das komplexe System von Institutionen und Normen, Akteuren und Praktiken zwischen Staat und Kulturlandschaft und dessen Wandlungsprozesse zu untersuchen. Jenseits des Entwurfes neuer Betriebs- oder Finanzierungsmodelle und deren Implementierung konnten die Dimensionen dieses Wandels anschaulich gemacht 17 Am 31.10 und 01.11.2009 hat sich an der LMU München erstmals im deutschsprachigen Raum eine Konferenz mit diesem Thema befasst.
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und den Besonderheiten des Kultursektors, der öffentlichen Kulturbetriebe und der Kulturpolitik Rechnung getragen werden. Dies kann nicht nur die Ausdehnung auf andere kulturpolitische Themen und Bereiche anregen, sondern weiterführenden Untersuchungen auch dienen, die häufig normativ konstituierten Tabus – etwa die Frage nach der Steuerbarkeit von bzw. durch Kunst, dem Zusammenhang von künstlerischer Qualität und kulturpolitischem Qualitätsurteil oder der ‚Wirtschaftlichkeit‘ von Kunst – zu umgehen. Selbstredend kann die Frage nach dem Einfluss des Wandels von Staatlichkeit auf den Kulturbetrieb im Allgemeinen allein durch die Untersuchung der großen Staatsopern keinesfalls angemessen beantwortet werden. Nicht nur viele Theater und Kulturprojekte, sondern auch zahlreiche kleinere Opernhäuser mussten an der Wende zum 21. Jahrhundert ihre Pforten schließen. Dem Überleben der großen Staatsopern stand das Ende zahlreicher Kultureinrichtungen gegenüber. Viele ‚Errungenschaften‘ oder selbstverständlich gewordene Strukturen und Gewohnheiten der staatlichen Kulturpolitik erfahren vergleichbare institutionelle und kulturelle Umstrukturierungen. Dem gegenüber stand der Aufschwung ganz neuer Kulturformen, die sich als Creative Industries den neuen Bedingungen angepasst hatten. Auch die Fragen nach der ‚eigentlichen‘, der künstlerischen Bedeutung der Oper sind in dieser Studie immer wieder an den Rand der Betrachtungen gerückt. Deshalb musste auch die Beschäftigung mit den Einflüssen der kulturpolitischen Entwicklungen auf die ‚Kunst der Oper‘ – auf neue Kompositionen, auf das Repertoire, die Interpretation und Regie – notwendig ausgespart bleiben. Weiterhin bleibt der Vergleich zu der kulturpolitischen Situation von Staatsopern in anderen Ländern offen. Zumindest Italien und Österreich haben vergleichbare Opernkrisen durchlebt – in Kopenhagen und Oslo wurden dagegen in jüngster Vergangenheit neue Staatsopern erbaut, deren mitunter umstrittene Entstehung wiederum Ähnlichkeiten mit dem Bau der Pariser Opéra-Bastille aufweisen. Blickt man über die Grenzen des alten Opernkontinentes Europa hinaus, scheint die Oper gar einen neuen Boom zu erleben. In China werden glanzvolle Opernpaläste erbaut, in der arabischen Welt bemüht man sich, durch gigantische Bauten und prätentiöse Produktionen das kulturelle Kapital der ‚alten Welt‘ zu importieren und damit auch in der Welt der Künste anschlussfähig zu werden.
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Eben dorthin ging der erste Direktor der Stiftung Oper in Berlin, Michael Schindhelm, nachdem er mit allen Konflikten der sich mühsam reformierenden Berliner Staatsopern konfrontiert worden war und schließlich die Stiftung im Streit 2007 verlassen hatte.18 In Dubai sollte er die Realisierung von kulturellen Großprojekten – allen voran eines großen Opernhauses – begleiten. Im Spiegel schilderte er zunächst ironisch distanziert, aber erfreut, seine Arbeit unter den gänzlich anderen Rahmenbedingungen, in denen das Opernprojekt gedeihen sollte : „Das Schöne an einer Monarchie ist ja, dass es keine Bremser gibt. Keine Ausschreibungen, keine Opposition, keine Gewerkschaften, keine Betriebsräte, keine Demonstranten, keine Regierenden Bürgermeister. Man kann einfach machen. Man braucht nur das OK vom Scheich.“19 Doch Ende 2009 berichtet er von der „Wende ins Ungewisse“ : Das Emirat stand plötzlich vor der Zahlungsunfähigkeit, die Kulturprojekte vor dem sicheren Abbruch. Es schien eine Zeitreise zugleich an die Ursprünge und in die Zukunft eines Stückes abendländischer Kultur, die eine „eigenartige Mischung aus absolutistischer Monarchie einerseits und deregulierter Verwaltung andererseits“20 kennzeichnete und in der die Oper bereits in einem jungen Stadium von der Krise dieses Staates eingeholt wurde.
18 Die Intendanten der Berliner Opern hatten Schindhelms Reformkonzept abgelehnt ; danach hatte der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Wowereit das Thema zur ‚Chefsache‘ erklärt und sich weitgehend auf die Seite der Intendanten gestellt. Schindhelm sah sich unter Druck gesetzt und „die Geschäftsgrundlage, auf der ich hier meine Arbeit machen soll, akut gefährdet“. (taz, 08.11. 2006.) Der Rücktritt erfolgte im Februar 2007. 19 In : Der Spiegel, 11.07.2006, 78f. 20 Vgl. Schindhelm, Dubai-Speed, 5ff.
Abkürzungsverzeichnis
Abgh Abgeordnetenhaus von Berlin AN Assemblée Nationale ACE Arts Council of England ACGB Arts Council of Great Britain AöR Anstalt öffentlichen Rechts APUR Atelier Parisien d’Urbanisme AROP Association pour le Rayonnement de l’Opéra National de Paris BeZ Berliner Zeitung BIP Brutto-Inlandsprodukt BKM Beauftragte(r) der Bundesregierung für Kultur und Medien BZ B. Z. CDN Centres Dramatiques Nationeaux CEMA Committee for the Encouragement of Music and the Arts CMSC The Culture, Media and Sport Committee DCMS Department for Culture, Media and Sport DBV Deutscher Bühnenverein DM Daily Mail DOK Deutsche Opernkonferenz DOV Deutsche Orchestervereinigung DT Daily Telegraph ENO English National Opera EPOB Etablissement Public d’Opéra de la Bastille FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Fig. Le Figaro FS France Soir GDBA Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger GG Grundgesetz GMD Generalmusikdirektor Grd. The Guardian HoC House of Commons
Abkürzungsverzeichnis
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HoL House of Lords Ind. Independent JO Jounal Officielle LHO Landeshaushaltsordnung Lib. Libération MdA Mitglied des Abgeordnetenhauses MdB Mitglied des Bundestages MdP Matin de Paris MGG Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik Mir. The Mirror Mopo Morgenpost MP Member of Parliament NV Normalvertrag NZZ Neue Zürcher Zeitung quango quasi autonomous non governmental organisation RTLN Réunion des Théâtres Lyriques Nationaux ROH Royal Opera House SenWissKult Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur Sun The Sun SZ Süddeutsche Zeitung taz die tageszeitung TT The Times Tgsp. Der Tagesspiegel TKV Tarifvertrag für Kulturorchester TNOP Théâtre National de l‘Opéra de Paris UNESCO United Nations Educational Scientific and Cultural Organization (dt : Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur)
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FRITZ TRÜMPI
POLITISIERTE ORCHESTER DIE WIENER PHILHARMONIKER UND DAS BERLINER PHILHARMONISCHE ORCHESTER IM NATIONALSOZIALISMUS
Vor der Folie eines Vergleiches zwischen den Wiener und Berliner Philharmonikern im »Dritten Reich« liefert Fritz Trümpi eine detailreiche Studie über nationalsozialistische Musikpolitik. Die Politisierung der beiden Konkurrenzorchester, welche überdies den Städtewettbewerb zwischen Wien und Berlin repräsentierten, diente beiderseits der nationalsozialistischen Herrschaftssicherung, war in ihrer Ausführung aber von signifi kanten Unterschieden geprägt. Ausgehend von einem vergleichenden Aufriss der Frühgeschichte der beiden Orchester untersucht der Autor Kontinuitäten und Brüche im Musikbetrieb nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und dem »Anschluss« Österreichs an NS-Deutschland. Dazu greift Trümpi auf ebenso brisante wie vielfältige Archivmaterialien zurück, die hier zum Teil erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden. 2011. 357 S. 5 TAB., 17 GRAF. UND 9 S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78657-3
»[…] Ein Buch, das in Berlin und Wien für Aufsehen sorgt […] und einen spannenden Einblick in die nationalsozialistische Musikpolitik [eröffnet].« Aargauer Zeitung böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com
Albrecht Dümling
Die verschwunDenen musiker JüDische Flüchtlinge in Austr Alien
Als nach 1933 viele Musiker vom NS-Regime aus Deutschland und Österreich vertrieben wurden, führte die Flucht manche bis ins ferne Australien. Hier mussten sie sich eine neue Existenz aufbauen. Während es einigen wenigen gelang, die Musikkultur ihrer neuen Heimat entscheidend mit zu prägen, wurden andere als »feindliche Ausländer« interniert und oft zum Wechsel des Berufs gedrängt. So verschwanden sie auf doppelte Weise und fielen nicht selten dem Vergessen anheim. Das Buch ist das Ergebnis einer jahrelangen Spurensuche in Archiven. Es lebt aber ebenso von den Erkenntnissen aus zahllosen Gesprächen mit Überlebenden und Zeitzeugen. Damit gelingt es Albrecht Dümling, ein neues, bisher kaum beachtetes Kapitel der Kulturgeschichte des Exils aufzuschlagen. Das Buch legt Zeugnis ab vom persönlichen Mut der verschwundenen Musiker und von ihrem Überlebenswillen und Pioniergeist vor dem Hintergrund der rassischen, politischen oder religiösen Verfolgung durch das Dritte Reich. 2011. 444 S. 43 S/w-Abb. Auf 16 TAf. Gb. 170 x 240 mm. ISbN 978-3-412-20666-6
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar