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German Pages 328 Year 2014
Peter Streckeisen Soziologische Kapitaltheorie
Sozialtheorie
Für Marek, Sascha und Silvan
Peter Streckeisen (PD Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Universität Basel. Aktuelle Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind die Sozialtheorie, die Soziologie der Macht und die Sozialstaatsanalyse.
Peter Streckeisen
Soziologische Kapitaltheorie Marx, Bourdieu und der ökonomische Imperialismus
Gefördert durch die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel
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Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 13
Soziologie und Ökonomie | 14 Soziologie und Marxismus | 17 Zusammenfassung der einzelnen Kapitel | 20
I. SOZIOLOGIE MIT/OHNE KAPITAL | 25 Das Kapital in soziologischen Wörterbüchern | 27
Marx, der allzu bekannte Unbekannte | 29 Autorität und Orthodoxie | 35 Multipler und halbierter Marx | 39 Das Kapital soziologisch lesen | 43
II. EIN ANDERER MARX |
45
Das unvollendete Hauptwerk | 46 Elemente einer soziologischen Lektüre des Kapitals | 54
Kritik der Naturalisierung | 55 Theorie der Wertformen | 58 Esoterik und Exoterik (Fetischtheorem) | 63 Vulgärökonomie | 69 Der Marx’sche Kapitalbegriff | 73
Gesellschaftliches Verhältnis | 74 Soziale Kraft | 77 Objektive Gedankenform | 79 Konversion des Blicks | 82
III. SPURENSUCHE BEI DEN KLASSIKERN DER SOZIOLOGIE | 85 Sombarts Entzauberung von Marx | 86
Der moderne Kapitalismus | 87 Sachliches Ungeheuer und Vergeistung | 92 Zwiespältiger Marx | 97 Max Webers Materialismus | 102
Weber im Kalten Krieg | 103 Politische Ökonomie der Religion | 108 Einsatz marxistischer Terminologie | 111 Simmel und die Philosophie des Geldes | 116
Reale Abstraktion | 118 Geld als soziale Kraft | 120 Ambivalente Kultur des Kapitalismus | 123 Über die formale Soziologie hinaus | 129 Der Donnerschlag, der nicht gehört wurde | 130
IV. DAS ERBE DES MARXISMUS |
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Der Fluch der Vorworte | 135
Naturgesetz und Hegel | 137 Logische und historische Entwicklung | 140 Marx ist nicht gleich Engels | 143 Der Marxismus als Wissenschaft für sich | 146
Wissenschaftlicher Sozialismus und materialistische Philosophie | 148 Proletarischer Standpunkt und Wissenschaft | 153 Die Klassenillusion der marxistischen Intellektuellen | 157 Zwei Königsdisziplinen | 159
Die Soziologie als bürgerliche Wissenschaft | 160 Marxistische Ökonomie | 163 Marxistische Philosophie | 168 Ansätze marxistischer Soziologie | 175
Kritische Theorie | 177
Arbeitssoziologie | 182 Zwischen Stuhl und Bank: Pierre Naville | 185 Sich vom Marxismus befreien | 188
V. HUMANKAPITAL UND ÖKONOMISCHER IMPERIALISMUS | 191 Die Mutter aller verrückten Formen | 192 Die Erfindung der Humankapitaltheorie | 195 Neoliberalismus und ökonomischer Imperialismus | 201
Foucaults Lektüre | 201 Vom Humankapital zum Sozialkapital | 206 Entwicklungs- und Bildungspolitik | 212 Analytischer Marxismus | 217 Vulgärökonomie und Humankapitaltheorie | 219
VI. DAS KAPITAL BEI PIERRE BOURDIEU | 225 Symbolisches und kulturelles Kapital | 226
Von Algerien nach Frankreich | 227 Vis insita, lex insita | 230 Kultur, Ökonomie und Praxis | 234
Ökonomie der kulturellen Güter | 236 Ökonomiekritik | 240 Habitus und Feld | 243 Wohlbegründete Illusion | 248 Bourdieu und Marx | 250
Mit Marx gegen den Marxismus | 251 Bourdieu mit Marx befragen | 255 Analogie und Mimesis | 260
VII. DIE GESELLSCHAFTLICHEN FORMEN DES K APITALS | 263 Capital as Power | 266 Abschied vom marxistischen Marx | 271
Abstrakte Arbeit | 271 Fiktives Kapital | 274 Kapital-Mimesis | 279 Formbestimmungen | 281
Arbeit | 282 Bildung | 289 Entwicklung | 295 Zeit | 300 Die Form der Un/Gleichheit | 307 Literatur | 313
V ORWORT Als ich 1995 bis 1999 an der Universität Lausanne studierte, wurde ich Mitglied einer marxistischen Gruppe von Studierenden und Assistierenden, deren Mitglieder mehrheitlich – ich eingeschlossen – nicht sehr viel über Marx und Marxismus Bescheid wussten. Wir organisierten reJHOPlȕLJ'LVNXVVLRQHQXQG.Rnferenzen und beteiligten uns an Kundgebungen und weiteren politischen Aktionen. Ich habe durch die Aktivität in dieser Gruppe vielleicht mehr gelernt – wie HV VR VFK|Q KHLȕW – als durch den Besuch der akademischen Lehrveranstaltungen, die in Lausanne im Vergleich etwa mit den Universitäten in der Deutschschweiz bereits ziemlich verschult waren. Ich studierte damals Politikwissenschaften, fühlte mich aber durch das Interesse an den Schriften Pierre Bourdieus bereits von der Soziologie angezogen. Wie nebenbei registrierte ich, dass diese Disziplin in der Gruppe wenig Ansehen genoss. Die meisten Mitglieder studierten Geschichte, und wenn jemand aus den Wirtschaftswissenschaften zu uns VWLHȕZXUGHHUPLWRIIHQHQ$Umen empfangen und wie ein Held gefeiert. Als die Universität Lausanne durch ein neues Gesetz ›reformiert‹ werden sollte, riefen Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften 1997 einen Streik dagegen aus. Natürlich beteiligte sich unsere Gruppe an dieser Bewegung. Während die Behörden sowie die Experten und Expertinnen von einer notwendigen und zukunftsweisenden ›Reform‹ sprachen, waren wir der Meinung, es handle sich um eine ›Gegenreform‹, welche auf die Abschaffung einiger wichtiger politischer Errungenschaften im Hochschulbereich ziele. Erhöhung der Studiengebühren, Numerus clausus, Reorganisation der Universität nach den Leitlinien des New Public Management – dagegen setzten wir uns zu Wehr. In der Folge wurde dieses Gesetz tatsächlich zurückgezogen. Es war auch ›von rechts‹ bekämpft worden, etwa durch die erzkonservative Ligue Vaudoise, die es als Verrat an der akademischen Hochschultradition kritisierte. Wir betonten damals aus gutem Grund die Bedeutung des Kampfs um politische Schlüsselbegriffe – etwa: ›Reform‹ oder ›Gegenreform‹. Allerdings verstellte wohl der Begriff ›Gegenreform‹ den Blick auf das Neue an der politiVFKHQ*URȕZHWWHUODJH7URW]*HEKUHQHUK|KXQJXQG1XPHUXV&ODXVXVVWDQGMD keineswegs ein Zurück zur ›alten Elitenuniversität‹ auf dem Programm, sondern in erster Linie eine Reorganisation des universitären Betriebs im Sinne des ›neuen kapitalistischen Geistes‹ (Boltanski/Chiapello). An die Seite des seit jeher bestehenden Einflusses der Wirtschaftsinteressen auf die Universität stellte sich ein UHODWLYQHXDUWLJHV3URMHNWGLH¾gNRQRPLVLHUXQJ½GHU8QLYHUVLWlWHQGDVKHLȕWGe-
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ren Reorganisation in Unternehmensform – oder zumindest: als Organisationen mit Unternehmergeist. Wenige Jahre später sollte dieses Projekt mit der so genannten Bologna-Erklärung gewissermaȕen ein europäisches Flaggschiff erhalten, das auch in der Schweiz anlegte. Wir vermochten damals nicht zu erkennen, dass sich hinter solchen politischen Programmen auch Veränderungen im wissenschaftlichen Feld verbergen, wie etwa der eigentliche Siegeszug der ökonomischen Humankapitaltheorie, mit dessen Auswirkungen ich mich in der vorliegenden Studie beschäftige. 'DXQVDXȕHUGHPGLHPDU[LVWLVFKH%ULOOHGDUDQKLQGHUWH$XVHLQDQGHUVHW]Xngen an der und um die Universität als etwas Anderes wahrzunehmen als eine Verlängerung des Klassenkampfs zwischen ›Arbeit‹ und ›Kapital‹, liefen wir Gefahr, uns von mehr oder weniger ›linken‹ Professoren und Professorinnen vereinnahmen zu lassen, welche durch die geplante ›Reform‹ ihre professorale Würde bedroht sahen, wenn auch die handfesten Grundlagen ihres privilegierten sozialen Status in keiner Weise angetastet werden sollten. Wir waren nicht in der Lage zu verstehen, dass eine entscheidende politische Konfliktlinie zwischen dem professoralen Ziel einer Verteidigung der akademischen Körperschaft auf GHUHLQHQXQGGHP|NRQRPLVFKHQ3URJUDPPHLQHV]HLWJHPlȕHQXQGHIIL]LHQWHQ Hochschulmanagements auf der anderen Seite verlief. In dieser Konstellation drohten die Studierenden gleich zweifach auf der Verliererseite zu stehen – gegenüber den Vertretern der akademischen Elite wie gegenüber den aufstrebenden Hochschulmanagern und Bildungsökonomen. Im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 blickt Karl Marx auf die mit Engels verfasste Deutsche Ideologie zurück und hält fest, es sei ihnen darum gegangen, mit ihrem ›ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen‹. Bei der hier nun als Buch vorliegenden Auseinandersetzung mit soziologischer Kapitaltheorie ging es mir – der Vergleich sei erlaubt – teilweise um etwas Ähnliches: Ohne Zweifel weist diese Studie Züge einer ›Abrechnung‹ mit meiner eigenen politischen und intellektuellen Biografie auf. Ich wollte einerseits etwas systematischer als bisher über die Stellung der Soziologie im wissenschaftlichen Feld nachdenken. Insbesondere trieb mich die Frage an, ob und unter welchen Bedingungen soziologische Kapitaltheorie zur Kritik dessen eingesetzt werden kann, was gemeinhin als ›ökonomischer Imperialismus‹ bezeichnet wird. Anderseits führte mich diese Reflexion mehr und mehr dazu, Sichtweisen und Glaubenssätze zu hinterfragen, denen ich selbst eine Zeit lang mehr oder weniger bewusst gefolgt war. Wenn also der Marxismus in diesem Buch einen ebenso prominenten Platz einnimmt wie der ›ökonomische Imperialismus‹, lässt sich dies meines Erachtens in der Sache bestens begründen. Es spiegelt zugleich ein persönlich gefärbtes Erkenntnisinteresse, das durch den Willen getrieben ist,
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meinen eigenen ›Zugang‹ zur Soziologie – verstanden sowohl als Weg, auf dem ich zu dieser Disziplin gekommen bin, wie auch als Haltung oder wissenschaftliches Selbstverständnis – zu reflektieren. Der vorliegende Text wurde an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel als Habilitationsschrift eingereicht und als ›habilitationswürdig‹ anerkannt. Wie manche akademische Qualifikationsarbeit war meine Auseinandersetzung mit soziologischer Kapitaltheorie ein oft einsames Unterfangen. Mein Dank geht an Maurizio Coppola, Michael Gemperle und Christian Imdorf, die einzelne .DSLWHOJHJHQJHOHVHQXQGNRPPHQWLHUWKDEHQ$XȕHUGHPGDQNHLFK Ueli Mäder (Basel), Axel Paul (Basel), Roland Pfefferkorn (Strassburg) und Franz Schultheis (St. Gallen) für ihre Gutachten zur Habilitationsschrift. Ebenfalls gedankt sei der Freien Akademischen Gesellschaft Basel, welche die Veröffentlichung dieser Studie durch einen Publikationszuschuss unterstützte. Und nicht zuletzt bin ich dem Verlag zu Dank verpflichtet, der mein Manuskript nun vor dem Schicksal bewahrt, wie die Deutsche Ideologie vorerst ›der nagenden Kritik der Mäuse‹ (Marx) überlassen zu bleiben. Ich widme dieses Buch meinen drei Kindern Silvan, Sascha und Marek. Der Jüngste ist geboren, als ich bereits daran arbeitete. Wären sie nicht hier, hätte ich zweifellos mehr Zeit für die vorliegende Studie einsetzen können. Ich bin aber durchaus froh, dass sie mich immer wieder aus dem einsamen Dialog mit Marx oder Bourdieu gerissen und lautstark – zumindest unmissverständlich – ihre Interessen geltend gemacht haben. Wir jungen Väter im Universitätsbetrieb – ›wissenschaftlicher Nachwuchs mit Nachwuchs‹, wie es ein Kollege treffend formulierte – können einen praktischen Bruch mit dem ›ökonomischen Imperialismus‹ vollziehen, indem wir unser Pensum reduzieren, uns mehr Zeit für die Kinder nehmen als unsere Väter und uns im Alltag regelPlȕLJLQGLHVHV Zeitregime eines Miteinander begeben, das weder durch akademische Karriereziele noch durch Kreisläufe der Kapitalvermehrung geprägt ist, sondern durch die Bedürfnisse unserer geliebten Kinder. Gesellschaftliche Transformation findet auch in diesem Bereich dann statt, wenn dies Viele auf eine Weise tun, die mit der einen oder anderen Dimension tradierter sozialer Ordnung bricht. Basel, im Februar 2014
E INLEITUNG Dieses Buch beschäftigt sich mit soziologischer Kapitaltheorie. Doch was ist das genau? Gibt es eine solche Theorie überhaupt? Kaum jemand wird bestreiten, dass eine soziologische Systemtheorie existiert, ebenso wie eine soziologische Klassentheorie oder Handlungstheorie. Doch was ist mit der soziologischen Kapitaltheorie? Es ist in der Soziologie üblich geworden, verschiedene spezifische Kapitalbegriffe zu verwenden, allen voran soziales Kapital und kulturelles Kapital. Und diese Kapitalbegriffe vermehren sich: Die Rede ist auch schon von politischem Kapital, Raumkapital oder Gesundheitskapital, um nur einige Wortschöpfungen zu nennen. Doch über Kapital im Allgemeinen wird kaum diskutiert. Wer von Kapital ohne Spezifizierung spricht, klingt in den Ohren der meisten Soziologinnen und Soziologen nicht soziologisch, sondern ökonomisch oder marxistisch. Dieser Begriff evoziert wohl Verdrängtes und Verdammtes, vielleicht aber auch unbemerkt in die spezifischen Kapitalbegriffe der Soziologie Eingegangenes. Er erinnert an die Figur des Gespenstes, das umgeht, und von dem niemand wirklich weiß, wer es ist, was es tut und wann es wieder kommt. Handelt es sich um eines von Marx’ Gespenstern (Derrida 1995), oder vielleicht mehr noch um ein Gespenst der Ökonomie, das die Soziologie heimsucht? Falls heute überhaupt eine soziologische Kapitaltheorie existiert, zeichnet sich diese aus durch Fragmentierung, das heißt durch fehlende gemeinsame Nenner in konzeptueller Hinsicht. Die Systemtheorie beruht auf vertieften Auseinandersetzungen mit dem Systembegriff selbst, sie umfasst nicht nur die Analyse von Teilsystemen. Genau so befasst sich soziologische Handlungstheorie mit dem menschlichen Handeln in Gesellschaft an sich, nicht nur mit einzelnen Handlungsfeldern und Handlungsweisen. In der Klassentheorie macht es nur Sinn, über die Arbeiterklasse oder das Kleinbürgertum zu sprechen, wenn eine Verständigung erreicht wurde, was soziale Klassen überhaupt sind. Es ist nicht so, dass die Schlüsselbegriffe dieser Theorien unumstritten und über jeden Zweifel erhaben wären. Aber es ist unbestritten, dass sie zur Sprache kommen und genau bestimmt werden müssen. Anders im Bereich der Kapitaltheorie: Da wird es nicht als Problem betrachtet, von sozialem oder kulturellem Kapital zu sprechen, ohne sich darüber zu verständigen, was Kapital an sich eigentlich ist beziehungsweise wie es soziologisch konzipiert werden sollte. Im Kern der soziologischen Kapitaltheorie befindet sich demnach eine Leerstelle, und in der vorliegenden Schrift geht es mir darum, diese auszuleuchten und zu problematisieren.
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Meine Nachforschungen und Reflexionen bewegen sich in zwei Richtungen: Zum einen gehe ich der Frage nach, warum das Kapital nicht zu den soziologischen Schlüsselbegriffen zählt, obwohl ein Klassiker des Fachs sein Hauptwerk dem Kapital gewidmet hat. Es geht auf dieser Ebene um eine Reflexion über die Rezeption des Werks von Marx, insbesondere des Kapitals, in der Soziologie. Inwiefern haben die vorherrschenden Lektüren und Interpretationen von Marx den Kapitalbegriff eben gerade nicht ins Zentrum gestellt und indirekt dazu beigetragen, dass der Verfasser des Kapitals in der soziologischen Kapitaltheorie höchstens am Rande eine Rolle spielt? Aber auch: Lässt sich das Marx’sche Hauptwerk mit soziologischer Brille so neu lesen, dass es zur Inspirationsquelle einer Kritik an den üblichen Kapitalbegriffen sowie der konzeptuellen Schärfung und Weiterentwicklung soziologischer Kapitaltheorie werden kann? Das sind die zentralen Fragen der ersten Richtung, in der ich geforscht habe. Zum anderen skizziere ich Elemente einer Genealogie der heute etablierten soziologischen Kapitalbegriffe in kritischer Absicht. Es lassen sich insbesondere zwei Abstammungslinien rekonstruieren und diskutieren: Die eine geht aus dem Werk von Pierre Bourdieu hervor, die andere aus der amerikanischen Humankapitaltheorie. Ein Blick auf die Entstehungsproblematiken und die Übertragungen dieser Konzepte von einem wissenschaftstheoretischen Feld in andere soll helfen zu verstehen, welches die Stärken und Schwächen der soziologischen Kapitalbegriffe sind, und zu entdecken, welche verborgenen Logiken durch diese Leerstelle wirken, die der soziologischen Kapitaltheorie zu Grunde liegt. Das Kapital als Gespenst von Marx oder als Gespenst der Ökonomie, das in der Soziologie umgeht? Eine kritische Auseinandersetzung mit soziologischer Kapitaltheorie kommt nicht daran vorbei, sich wissenschaftstheoretisch gegenüber denjenigen Feldern zu positionieren, in denen der Kapitalbegriff so richtig zu Hause ist und selbstbewusst eingesetzt wird: Das sind die Wirtschaftswissenschaften auf der einen, der Marxismus auf der anderen Seite. In dieser Einleitung will ich deshalb zuerst noch skizzieren, wie ich mich im Spannungsfeld zwischen Soziologie, Ökonomie und Marxismus positioniere beziehungsweise wie ich dieses Feld sehe, bevor ich die einzelnen Kapitel der vorliegenden Arbeit stichwortartig beschreibe und das Argument in den wichtigsten Zügen zusammenfasse. Soziologie und Ökonomie Die Ökonomen Dimitris Milonakis und Ben Fine (2009) haben die Geschichte der westlichen Wirtschaftswissenschaften als eine Vertreibung des Historischen und Sozialen aus dem Feld der ökonomischen Theorie beschrieben. Während
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Geschichte und Gesellschaft im Werk der Klassiker der Politischen Ökonomie noch eine zentrale Bedeutung aufweisen, zeichnet sich das theoretische System der neoklassischen Ökonomie dadurch aus, dass es aus von jeder Bezugnahme auf historische Ereignisse und gesellschaftliche Zusammenhänge befreiten Gesetzen und Modellen besteht. Grenznutzentheorem und ökonomische Gleichgewichte sind wie Naturgesetze konzipiert, und der Homo oeconomicus erscheint durch diese Brille der ökonomischen Orthodoxie als natürliches Wesen. Durch den Siegeszug der Neoklassik hat die ökonomische Theorie gewissermaßen den soziologischen Nullpunkt erreicht: Sie enthält kein Moment an gesellschaftstheoretischer Problematisierung des Ökonomischen mehr. Doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Auf die Verwandlung der Ökonomie von einer historischen Gesellschaftswissenschaft in eine rationalistische und naturalistische Verhaltenswissenschaft, die kalkulierendes Verhalten unter Bedingungen von Ressourcenknappheit zum Gegenstand aller Untersuchungen macht, folgt seit den 1960er Jahren eine ausgreifende Expansion des Gegenstandsbereichs der Ökonomie (Fine/Milonakis 2009). Die theoretische Engführung, die um den Preis einer Amnesie von Gesellschaft und Geschichte zur Herausbildung einer reinen, von historischen und gesellschaftlichen Bezügen gereinigten ökonomischen Theorie führte, gibt den Ökonominnen und Ökonomen nun theoretische Modelle an die Hand, die mit universalistischem Geltungsanspruch verbunden sind. Der Reduktionismus schlägt um in einen Expansionismus: Wir sind mit einem Imperialismus der Ökonomie konfrontiert, mit einem Prozess, in dessen Verlauf die ökonomische Theorie auf Felder vorstößt, die früher anderen Disziplinen vorenthalten waren – etwa der Soziologie. In sämtlichen traditionellen Forschungsbereichen der Soziologie hat sich die ökonomische Theorie längst eingenistet und nicht selten Deutungshoheit erlangt. Es könnte gesagt werden, dass sich die Ökonomie in einem über zwei Jahrhunderte ausgreifenden Prozess zuerst der Gesellschaft und Geschichte entledigt und sich beide in der Folge unter neuen theoretischen Vorzeichen wieder einverleibt hat – als rein ökonomische Phänomene betrachtet. Diese Geschichte könnte auch aus Sicht der Soziologie erzählt werden. Alle soziologischen Klassiker haben sich intensiv mit ökonomischen Phänomenen und oft auch durchaus kritisch mit ökonomischer Theorie auseinandergesetzt. Es ging ihnen darum, den Gegenstandsbereich und das wissenschaftliche Selbstverständnis der noch jungen Soziologie in Abgrenzung zu etablierten Disziplinen wie der Ökonomie zu bestimmen. Doch das soziologische Interesse an Ökonomie scheint parallel zur Herausbildung und Festigung der neoklassischen Orthodoxie in den Wirtschaftswissenschaften so sehr abgenommen zu haben, dass sich das Verhältnis der beiden Disziplinen Mitte des 20. Jahrhunderts als ein gegen-
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seitiges Ignorieren beschreiben lässt. So beklagten Parsons und Smelser (1956: xviii) die unglückliche Tatsache »that few persons competent in sociological theory have any working knowledge of economics, and conversely, that few economists have much knowledge of sociology«. Sie wollten die beiden Disziplinen verbinden, indem sie die Ökonomie als Teilgebiet soziologischer Systemtheorie bestimmten und in dieser Anordnung deren Kompetenzanspruch für die Untersuchung wirtschaftlicher Phänomene anerkannten. So entstand das Bild einer Arbeitsteilung, in der die Soziologie sich auf die Analyse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Wirtschaftslebens konzentriert, ohne dieses selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen (Beckert/Deutschmann 2010: 9; Mikl-Horke 2008: 34-36). Es könnte auch von friedlicher Koexistenz gesprochen werden (um einen Begriff aus der Zeit des Kalten Kriegs zu verwenden), hinter deren Fassade sich die Kräfteverhältnisse mit der Zeit zu Gunsten der Ökonomie verschieben sollten. Das ist nicht mehr der gegenwärtige Stand der Dinge. Zum einen ist die ökonomische Theorie wie erwähnt seit einigen Jahrzehnten weit auf das Feld der Soziologie vorgestoßen. Ein charakteristisches Beispiel dafür stellt die soziologische Kapitaltheorie dar, deren Wurzeln zu einem guten Teil in der ökonomischen Humankapitaltheorie zu suchen sind; darauf werde ich im fünften Kapitel dieser Arbeit eingehen. Zweitens erlebt die Wirtschaftssoziologie seit den 1980er Jahren eine Renaissance, die in deutlichem Kontrast zum verbreiteten soziologischen Desinteresse an Ökonomie steht. Angeregt vor allem durch USamerikanische Studien an der Grenze zwischen Ökonomie und Soziologie ist ein weites und heterogenes Forschungs- und Theoriefeld entstanden, das sich der soziologischen Untersuchung ökonomischer Phänomene widmet. Zentrale Themen sind die gesellschaftliche Einbettung der Ökonomie, die Bedeutung von Netzwerken und Institutionen sowie die Kultur und die Geschichte des Ökonomischen (Beckert/Deutschmann 2009; Maurer 2008; Swedberg 2003). Schließlich hat sich im Feld der Wirtschaftswissenschaften selbst ein Bündel kritischer Ansätze entwickelt und etabliert, welche die Orthodoxie in verschiedenen Aspekten herausfordern (Lee 2009). Es handelt sich allerdings um eine heterogene Realität, die so unterschiedliche Strömungen umfasst wie die feministische Ökonomie, den Postkeynesianismus, die neoricardianische Werttheorie (Sraffa), marxistische Ansätze, die soziale Ökonomie oder den Neoinstitutionalismus (Jo 2011), und von einer ernsthaften Erschütterung der Orthodoxie kann nicht die Rede sein. Wie lässt sich die vorliegende Arbeit in diesem Zusammenhang positionieren? Im Kern ist die Stoßrichtung meiner Nachforschungen und Überlegungen weder wirtschaftssoziologisch noch kritisch ökonomisch, sondern ökonomiekri-
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tisch. Es geht mir nicht darum, Phänomene des Wirtschaftslebens soziologisch zu analysieren, wie es die Wirtschaftssoziologie tut. Es geht mir auch nicht darum, im Feld der Ökonomie die Orthodoxie herauszufordern und die Grundzüge einer heterodoxen Theorie zu skizzieren, wie es die kritische Ökonomie tut. Vielmehr versuche ich die dreifache Intention der Marx’schen Ökonomiekritik aufzugreifen: erstens Analyse der kapitalistischen Ökonomie in kritischer Absicht; zweitens grundlegende (kategoriale) Kritik der vorherrschenden ökonomischen Theorien; drittens Reflexion der Zusammenhänge und Vermittlungen zwischen der Ökonomie als gesellschaftlichem System und der Ökonomie als Wissenschaft. So jedenfalls interpretiere ich das Programm dessen, was Marx als Kritik der Politischen Ökonomie bezeichnete. Gerade die dritte Untersuchungsebene scheint mir ein fruchtbares und noch wenig erkundetes Feld zu eröffnen, für dessen Analyse der Verfasser des Kapitals einige viel versprechende Begriffe skizziert hat (zum Beispiel die »gesellschaftlich gültigen Gedankenformen« oder die »Vulgärökonomie«), welche aber in der Rezeption des Werks bislang zu wenig Aufmerksamkeit erlangt haben. Schließlich bin ich der Meinung, dass Ökonomiekritik für einen Soziologen heute in der Soziologie beginnt, bei der kritischen Auseinandersetzung mit Tendenzen der Ökonomisierung der Soziologie. Dafür ist die soziologische Kapitaltheorie ein vorzüglicher Untersuchungsgegenstand. Soziologie und Marxismus Einerseits Zeitgenossen und Weggefährten, waren die Soziologie und der Marxismus auch immer wieder Kontrahenten und Streithähne. Einige Elemente dieses Spannungsverhältnisses diskutiere ich im vierten Kapitel der vorliegenden Schrift. Auf Gegenseitigkeit beruhte es nicht unbedingt: Mir scheint, dass sich die Soziologie viel mehr für den Marxismus interessiert hat als umgekehrt. Dies beginnt bereits bei den Klassikern der Soziologie, deren Werk auch als Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Marxismus zu verstehen ist, während sich die marxistischen Wortführer von der Soziologie als so genannt bürgerlicher Wissenschaft abwendeten. Natürlich gab es Ausnahmen, zum Beispiel Max Adler (1914) oder Nikolaj Bucharin (1922), deren Verständnis von Soziologie allerdings weit hinter dem Reflexionsniveau zurückblieb, das die noch junge Disziplin bereits erreicht hatte. Jedenfalls ist die moderne Soziologie ohne die Impulse, die sie aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus gewonnen hat, nicht zu denken – was sich vom Marxismus umgekehrt nicht unbedingt sagen lässt. So ist die Soziologie im Gegensatz vor allem zur Ökonomie und Philosophie nie marxistische Königsdisziplin geworden. Manchmal bot sie
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dem dissidenten Marxismus ein fruchtbares Terrain – da wäre zum Beispiel an die Geschichte der Kritischen Theorie zu denken. Worauf es mir ankommt, ist eine bestimmte Haltung zum Werk von Marx und gegenüber dem Marxismus. Zunächst ist systematisch zwischen Marx und dem Marxismus zu unterscheiden: nicht wegen dem berühmten Ausspruch von Marx (»Je ne suis pas marxiste!«), sondern weil ansonsten eine gewisse Haltung zum Marx’schen Werk, die meines Erachtens problematisiert werden muss, stillschweigend übernommen wird. Der Marxismus ist nicht einfach nur das, als was er sich gerne ausgibt, gewissermaßen die Fortsetzung und Weiterentwicklung des Werks von Marx. Vielmehr steht Marxismus für durchaus spezifische Lektüren und Interpretationen der Marx’schen Texte, die bei aller Heterogenität einige charakteristische gemeinsame Züge aufweisen. Zu nennen wären insbesondere folgende Aspekte, welche das Selbstverständnis marxistischer Wissenschaft stark geprägt haben: die Tendenz zur Kanonisierung von Marx, die ein unfertiges und in vielen zentralen Punkten keineswegs eindeutiges Werk als etwas Vollendetes und jeder anderen Wissenschaft Überlegenes darstellt; die starke Neigung zur Schließung der Reflexions- und Diskussionsfelder, auf Grund derer ein Dialog mit nicht-marxistischen Ansätzen als problematisch oder nutzlos erscheint; die Politisierung der wissenschaftlichen Arbeit, die praktisch jeden Forschungsschritt und Gedankengang in die total unangemessene Alternative zwingt, revolutionär oder bürgerlich zu sein. Es ist keineswegs sicher, dass die wichtigsten Impulse, welche die Soziologie aus dem Werk von Marx gewonnen hat, über den Marxismus in die Disziplin gelangt sind. Es gibt eine lange Liste einflussreicher Soziologen, die der Soziologie gewissermaßen ihren Marx einverleibt haben (leider oftmals ohne Quellenverweise und Anführungszeichen), ohne als Marxisten zu gelten: Nicht selten wurden sie von den Marxisten als Antimarxisten betrachtet. In dieser Arbeit kommt zum Beispiel an einigen Stellen eine theoretische Linie zum Tragen, die von Karl Marx über Max Weber zu Pierre Bourdieu verläuft und meines Erachtens sehr wertvolle Ansatzpunkte darbietet, um Marx für die Soziologie zu entdecken. Wir finden Marx nicht nur in der marxistischen Soziologie, sondern in unterschiedlichen Lesarten in den allermeisten theoretischen Strömungen dieser Disziplin. Es zeigt sich allerdings, dass die soziologische Rezeption sich meistens vor allem für Marx’sche Frühschriften interessiert und einen Bogen um das Hauptwerk – Das Kapital – macht. Das Kapital zählt denn auch nicht zu den Marx’schen Schlüsselbegriffen, die in die Soziologie eingegangen sind. Das ist ein wichtiger Hintergrund für den zunächst überraschenden Befund, dass die soziologische Kapitaltheorie weder durch Marx noch durch den Marxismus wesentlich beeinflusst wurde.
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Marx nach dem Marxismus – das ist eine Formel, die heute nicht selten die Runde macht (Koch/Damitz 2010: 14-33; Vincent 2001). Es geht mir aber nicht darum (und ich würde mich dazu auch gar nicht in der Lage fühlen), ein Urteil über die Zukunft des Marxismus zu fällen, sondern meine eigene Haltung gegenüber dem Marx’schen Werk, das einen zentralen Bezugspunkt der vorliegenden Arbeit darstellt, zu umschreiben. Dabei lasse ich mich gerne von Pierre Bourdieu inspirieren, der in einem Interview über sein Verhältnis zum Werk Max Webers für mich wegweisende Gedanken formuliert hat: »Ich glaube, dass man gleichzeitig mit einem Denker und gegen [Herv. i. O.] ihn denken kann. Das bedeutet, radikal der klassifikatorischen, und das heißt der politischen Logik zu widersprechen, in der man fast überall die Beziehungen zu den Gedanken der Vergangenheit herstellt. ›Für Marx‹, wie Althusser es wollte, oder gegen Marx… Ich glaube, dass man mit Marx gegen Marx denken kann, oder mit Durkheim gegen Durkheim, und sicher auch mit Marx und Durkheim gegen Weber und umgekehrt…« (Bourdieu 2000:115)
Der französische Soziologe bezeichnete sich als »reflektierte[n] Eklektizist[en]«, der unterschiedliche Quellen fruchtbar macht und verbindet, ohne dabei den Anspruch an theoretische Kohärenz aufzugeben. Bourdieu wollte ausgehend von den Texten der Klassiker weiter denken, denn »ohne eine respektvolle Freiheit gegenüber solchen Konzepten bewegt sich nichts…« (ebd.: 120). Solcher theoretischer Freiheit und Kreativität hat der Marxismus oft enge Grenzen gesetzt. Eine Haltung der respektvollen Freiheit gegenüber Marx ist heute aber umso mehr angesagt, als wir dank der Begleitforschung zur Gesamtausgabe der Schriften von Marx und Engels (MEGA) genauer als jemals zuvor wissen können, wie unvollendet und voller offener Fragen das Marx’sche Hauptwerk geblieben ist. Michael Heinrich gelangt nach einer detaillierten Darstellung der einzelnen Arbeitsphasen und Pläne von Marx für sein Kapital zu folgendem Schluss: »Was Marx hier hinterlassen hat, ist weniger ein Werk als ein Forschungsprogramm [Herv. i. O.], dessen riesige Umrisse erst jetzt durch die MEGA sichtbar werden. Angesichts der auch im 21. Jahrhundert beständig weiter ausgreifenden kapitalistischen Verhältnisse, die sowohl neue geographische Räume als auch immer weitere Lebensbereiche durchdringen und dem krisenhaften Verlauf kapitalistischer Entwicklung unterwerfen, hat dieses Forschungsprogramm seine größte Zukunft allerdings erst noch vor sich.« (Heinrich 2011: 191)
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Dieses Forschungsprogramm ist in der Soziologie noch kaum als solches wahrgenommen worden. Ob wir Soziologinnen und Soziologen damit überhaupt etwas anzufangen wissen werden, ist eine offene Frage. Dazu passt der Satz von Jacques Derrida (1995: 81) aus Marx’ Gespenster: »Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe.« Die Problemstellung der vorliegenden Arbeit ist nicht marxistisch, sondern soziologisch: Mir geht es nicht um die Zukunft des Marxismus, sondern um soziologische Kapitaltheorie. Wenn ich zu diesem Zweck versuche, Marx anders zu lesen, als es bisher im Marxismus und in der Soziologie üblich war, bewege ich mich zwar auf einem nicht bereits ausgetretenen Pfad, aber keineswegs im luftleeren Raum. Zum Beispiel existiert in Deutschland seit einiger Zeit eine lebendige Diskussion über so genannte Neue Marx-Lektüren. Angestoßen vor allem durch die Texte von Helmut Reichelt (1970) und Hans-Georg Backhaus (1978) steht diese in einem interessanten Dialog mit den Editionsarbeiten der MEGA und entwickelt sich in eine soziologisch viel versprechende Richtung, da Marx zunehmend als Formtheoretiker des Sozialen gelesen wird (Elbe 2008). Wie Hoff (2009) zeigt, hat sich der neuere Forschungsdiskurs über Marx auch in anderen Weltregionen in eine ähnliche Richtung bewegt – weg von den traditionellen Themen des Marxismus (Entfremdung, Klassentheorie, Geschichtsphilosophie, Arbeitswertlehre usw.) und hin zu gesellschaftlicher Form- und Fetischtheorie. Derweil wird Marx in der Soziologie noch wie vor Jahrzehnten gelesen. Vielleicht kann meine Arbeit einen kleinen Beitrag leisten, dass sich das ändert. Ich lege allerdings keine marxologische Arbeit vor und betreibe auch nicht Marxforschung, sondern sehe mich als Soziologen, der sich für Marx interessiert. Zusammenfassung der einzelnen Kapitel Die vorliegende Arbeit umfasst sieben Kapitel. Zunächst – Soziologie mit/ohne Kapital – geht es mir darum, die Ausgangsbeobachtung zur soziologischen Kapitaltheorie zu dokumentieren und die Problemstellung zu schärfen, die ich aus dieser entwickle. Durch die Besprechung der Einträge in einschlägigen Wörterund Handbüchern rekonstruiere ich den aktuellen Stand der soziologischen Kapitaltheorie und die vorherrschenden Umgangsweisen mit dem Werk von Karl Marx. Den Zusammenhang zwischen beiden Aspekten stelle nicht ich künstlich her, er ist in den fachspezifischen Wörter- und Handbüchern bereits enthalten. Dass die Soziologie unterschiedliche Kapitalbegriffe mit Spezifizierung anerkennt, den Kapitalbegriff ohne Zusatz aber der Ökonomie und dem Marxismus zuweist, hat ganz offensichtlich damit zu tun, wie das Werk von Marx und ins-
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besondere sein Kapital soziologisch (nicht) rezipiert wurde. Das Marx’sche Hauptwerk wurde in der Soziologie weniger zur Kenntnis genommen als frühere Schriften von Marx. Falls es zur Sprache kommt, wird es meistens durch eine ökonomische oder politische Brille gelesen: Arbeitswertlehre, Klassenkampf und Entfremdung heißen die Stichworte, nicht gesellschaftliche Wertform oder Fetischtheorem. Während die akademische Orthodoxie sich in der Komplizenschaft von Marxismus und Antimarxismus sonnt, gelingt es auch wohlwollenden Kommentatoren kaum, gesellschaftstheoretische Aspekte des Marx’schen Hauptwerks zu erfassen. Daraus ergibt sich das Programm einer soziologischen Lektüre des Kapitals, um ein bislang verschüttetes Potenzial zu erschließen. Im zweiten Kapitel – Ein anderer Marx – skizziere ich Konturen einer solchen soziologischen Lektüre. Ich spreche Schwierigkeiten an, mit denen jeder Versuch dieser Art konfrontiert ist: die Polarisierung zwischen Marxismus und Antimarxismus, die auch das Feld der Soziologie lange Zeit dominierte; das Wissenschaftsverständnis von Marx, das uns heute in wesentlichen Punkten fremd ist; sowie der unvollendete Charakter des Marx’schen Hauptwerks. Der letzte Punkt ist von zentraler Bedeutung: Wie die gegenwärtige Marx-Forschung dokumentiert, hat es Marx nicht nur an der notwendigen Zeit gefehlt, um Das Kapital zu Ende zu schreiben, sondern ist sein Hauptwerk geprägt durch theoretische Ambivalenzen und offene Fragen, an denen wir weiter arbeiten können. Für eine soziologische Lektüre scheinen mir insbesondere die folgenden theoretischen Bausteine des Kapitals Ansatzpunkte zu bieten: Erstens die Kritik an der Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus; zweitens die Theorie der gesellschaftlichen Wertformen, die Marx mit seiner Kritik an der ökonomischen Arbeitswertlehre entwarf; drittens die Überlegungen zur Beziehung zwischen innerem und erscheinendem Zusammanhang der kapitalistischen Produktionsweise, die im Fetischtheorem zusammenkommen; und viertens die Analyse der Vulgärökonomie als kritische Reflexion der Wechselwirkungen zwischen spontaner Alltagserfahrung und wissenschaftlicher Ökonomie. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Marx’sche Kapitalbegriff in drei Schritten bestimmen: Das Kapital ist für Marx ein gesellschaftliches Verhältnis ebenso wie eine soziale Kraft und eine objektive Gedankenform, das heißt eine gesellschaftlich gültige Sicht auf die soziale Welt. Mit Marx’ Kritik der politischen Ökonomie wird eine Konversion des Blicks auf das scheinbar magische Ding – das Kapital – möglich, das in den Wirtschaftswissenschaften wie im Alltag der Menschen seinen Spuk treibt. Das dritte Kapitel – Spurensuche bei den Klassikern der Soziologie – setzt sich mit der Frage auseinander, ob das gegenwärtige Paradoxon eines in der soziologischen Diskussion sehr präsenten Marx, dessen Hauptwerk aber kaum re-
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zipiert wurde, sich bereits zur Zeit der Etablierung des Fachs als akademische Disziplin beobachten lässt. Die Besprechung der Schriften von Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel liefert Anhaltspunkte für die These, dass die Soziologie das Marx’sche Programm der Kritik der politischen Ökonomie von Anbeginn an nicht aufgegriffen hat, obwohl sich die Klassiker mit Marx und dem Marxismus beschäftigten. Werner Sombart, der das Marx’sche Werk durch seine Kapitalismusanalyse vollenden und entzaubern wollte, war begeistert von Marx und lehnte dennoch die meisten Marx’schen Begriffe und Theorien entschieden ab – allen voran das Kapital, das er im Bereich der Metaphysik verortete. Max Weber, der im Kalten Krieg zum führenden Gegenspieler von Marx und dem Marxismus stilisiert werden sollte, war durch den Marx’schen Materialismus beeinflusst, den er zur Analyse religiöser und kultureller Phänomene weiter entwickelte. Georg Simmels Philosophie des Geldes weist wie kein anderes Werk der deutschen Klassiker theoretische Affinitäten zum Marx’schen Kapital auf, obwohl sich in dieser umfangreichen Schrift das Geld nicht wie bei Marx in Kapital verwandelt. Doch bei allen drei Autoren ist die Auseinandersetzung mit Marx sehr stark durch ihre Reaktion auf den Marxismus beeinflusst, und keiner von ihnen hat im Kapital etwas grundsätzlich Anderes als eine ökonomische Arbeitswertlehre am Werk gesehen. Im vierten Kapitel – Das Erbe des Marxismus – setze ich mich mit dem Einfluss des Marxismus auf die soziologische Rezeption von Marx auseinander. Wenn bereits die Klassiker der Soziologie vielleicht mehr auf den Marxismus als auf Marx reagiert haben, wurde der Verfasser des Kapitals im Verlauf des 20. Jahrhunderts in qualitativ ganz neuer Weise politisiert – durch die Entwicklung des Marxismus zur Staatsdoktrin im Osten genau so wie durch die Versuche des westlichen Marxismus, mit Marx in den Klassenkampf zu ziehen. Die Kanonisierung setzt mit den Kommentaren von Friedrich Engels zum Kapital ein, der ein unvollendetes Werk zur Bibel der Arbeiterklasse machen wollte, die auf alle Fragen eine Antwort bereithält. Engels’ Begriff des wissenschaftlichen Sozialismus bereitete dem marxistischen Selbstverständnis den Weg, eine ganz den Interessen der Arbeiterklasse entsprechende und der bürgerlichen Klassengegnerin wesensmäßig überlegene Wissenschaft zu betreiben. Der Marxismus als Wissenschaft für sich erhob die Philosophie und Ökonomie in den Rang der Königsdiziplinen, während er der Soziologie wenig Bedeutung zumaß oder sie sogar als Inbegriff bürgerlicher Wissenschaft betrachtete. Vermutlich spiegelt sich in dieser Marginalisierung der Soziologie die Angst, Ergebnisse empirischer Sozialforschung könnten das geschlossene theoretische System des Marxismus bedrohen. Das schwierige Verhältnis zwischen Marxismus und Soziologie hat sich jedenfalls im 20. Jahrhunderts als Hindernis für soziologische Lektüren des Ka-
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pitals erwiesen. Zudem war das Kapital auch in den interessantesten Ansätzen marxistisch inspirierter Soziologie kein Schlüsselbegriff. Dies hat zweifellos dazu beigetragen, dass sich die heute bekannten soziologischen Kapitaltheorien weitgehend ohne Bezug auf Marx entwickelt haben. Das fünfte Kapitel – Humankapital und ökonomischer Imperialismus – ist dem Einfluss der Humankapitaltheorie auf die soziologische Kapitaltheorie gewidmet. Seit den 1960er Jahren hat das neue ökonomische Paradigma ausgehend von der Universität Chicago die Welt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erobert. Es beruht auf der von Marx bei der Analyse des zinstragenden Kapitals beschriebenen Gedankenform, die Menschen dazu anhält, alles als Kapital zu betrachten, was ihnen einen Vorteil verspricht. Im soziologischen Feld kommt die Sichtweise der aufs Engste mit dem Rational-Choice-Paradigma verbundenen Theorie vor allem in Gestalt der amerikanischen Sozialkapitaltheorien zur Geltung. Autoren wie James S. Coleman und Robert D. Putnam haben den Weg von der ökonomischem Humankapitaltheorie zur soziologischen Sozialkapitaltheorie als Erste beschritten und einen wirksamen Beitrag zur Ausweitung des Geltungsanspruchs und des Anwendungsbereichs ökonomischen Denkens geleistet, die auch als ökonomischer Imperialismus bezeichnet wird. Mehr und mehr wird das ökonomische Analyseraster in traditionellen soziologischen Forschungsgebieten eingesetzt: Entwicklung und Bildung sind Beispiele dafür, die ich in diesem Kapitel thematisiere. Es ist sogar eine Spielart des Marxismus entstanden, die auf Rational Choice beruht: der analytische Marxismus. Wenn wir die Wirkungsdynamik dieses ökonomischen Imperialismus durch die Brille der Marx’schen Ökonomiekritik betrachten, weist sie deutliche Züge dessen auf, was der Verfasser des Kapitals als Vulgärökonomie beschrieben hat. Im sechsten Kapitel – Das Kapital bei Pierre Bourdieu – gehe ich auf die Kapitaltheorie des bekannten französischen Soziologen ein. Bereits in jungen Jahren hat Bourdieu ökonomische Begriffe zur Analyse der sozialen Welt und insbesondere kultureller Phänomene eingesetzt, um den erkenntnistheoretischen Bruch mit den Alltagsvorstellungen der Akteure zu schärfen. Zugleich zieht sich die Kritik an der ökonomischen Theorie wie ein roter Faden durch das Werk, auch wenn sie meistens im Schatten der Kultursoziologie des französischen Soziologen stand. Pierre Bourdieus Kapitaltheorie muss deshalb im Kontext seiner allgemeinen Theorie der Praxis diskutiert werden, die sich gegen die Vorstellung reiner oder interesseloser Kultur ebenso stellt wie gegen das Bild der reinen, auf Naturgesetzen beruhenden Ökonomie. Seine Theorie des Habitus erweist sich als ein vorzügliches Instrument zur Kritik des ökonomischen Imperialismus, doch sein Schweigen zum Begriff des ökonomischen Kapitals bringt die Gefahr mit sich, auf eine Weise gelesen zu werden, die der unreflektierten Anwendung
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des ökonomischen Rasters in der Soziologie in die Hände spielt. Es handelt sich auch um ein Schweigen zum Marx’schen Kapital, denn Bourdieus Bezüge auf Marx verweisen in der Regel nur auf dessen philosophische und politische Frühschriften. Wenn Bourdieu den Marxismus mit Marx zu kritisieren verstand, lassen sich blinde Flecken seiner Kapitaltheorie wiederum durch die Brille des Marx’schen Hauptwerks ausleuchten. Im abschließenden siebenten Kapitel – Die gesellschaftlichen Formen des Kapitals – skizziere ich meine eigenen Überlegungen, wie sich die soziologische Kapitaltheorie ausgehend vom Marx’schen Kapital befruchten lässt. Ich greife die Erkenntnis der neueren Marx-Forschung auf, dessen Kapitalismusanalyse lasse sich als Formtheorie des Sozialen interpretieren. Im Zentrum steht der Gedanke, das Kapital werde durch Formbestimmungen gesellschaftlich wirksam, indem es menschliches Denken und Handeln in besondere gesellschaftliche Formen bringt. Ich beginne das Kapitel mit einer Besprechung der Studie Capital as Power von Nitzan und Bichler (2009), die eine anregende neue Kapitaltheorie entwerfen, welche mit der neoklassischen wie marxistischen Sichtweise bricht, aber Marx nicht wirklich neu zu lesen verstehen. Am Beispiel der Konzepte der abstrakten Arbeit und des fiktiven Kapitals lässt sich der soziologische Erkenntnisgewinn zumindest andeuten, den ein Abschied vom marxistischen Marx verspricht. Mit Bezug auf die Schlüsselbegriffe Arbeit, Bildung, Entwicklung und Zeit diskutiere ich drei Ebenen der Formbestimmung: Es handelt sich um Prozesse der Realabstraktion, objektive Gedankenformen und den Fetischcharakter der wertvollen Dinge. Meine Ausführungen führen hin zur Beobachtung, dass die Marx’sche Kapitalismusanalyse ohne es zu sagen den spezifischen Nexus offenlegt, in dem Differenz und Ungleichheit ineinandergreifen. Wenn das Kapital in qualitativer Hinsicht menschliches Denken und Handeln in besondere gesellschaftliche Formen bringt, erzeugt es im selben Prozess in quantitativer Hinsicht soziale Ungleichheit unter den Menschen, welche das Pendant ihrer formalen Gleichheit ist. Mit Marx und über Marx hinaus lässt sich das, was der Soziologie als selbstverständlich erscheint: die soziale Ungleichheit, als besondere gesellschaftliche Form menschlichen Lebens entdecken, die nicht weniger erklärungsbedürftig ist als alle anderen gesellschaftlichen Formen des Kapitals.
I. Soziologie mit/ohne Kapital
Zahlreiche Soziologinnen und Soziologen verwenden mit großer Selbstverständlichkeit die Begriffe Sozialkapital und kulturelles Kapital, teilweise auch Humankapital, ohne sich zu vergewissern, was sie mit dem Begriff Kapital an sich meinen. Die Humankapitaltheorie hat sich ausgehend von der Wirtschaftsabteilung der Universität Chicago seit den 1960er Jahren sehr erfolgreich ausgebreitet und in Verbindung mit dem Rational-Choice-Paradigma auch in den Sozialwissenschaften einen starken Widerhall gefunden. Etwa im selben Zeitraum haben der französische Soziologe Pierre Bourdieu und seine Kolleginnen und Kollegen das Konzept des Kulturkapitals geprägt, um die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch das öffentliche Bildungssystem zu erklären. In den 1980er Jahren schlug die Stunde des Sozialkapitals, dessen Einführung in die sozialwissenschaftliche Theorie und Forschung aus denselben zwei Quellen hervorgegangen ist. Noch bevor in Chicago der Soziologe James S. Coleman (1988) den Ball von Ökonomen wie Theodore W. Schultz und Gary S. Becker aufnahm und über den Beitrag des Sozialkapitals zur Produktion von Humankapital schrieb, hatte die französische Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales eine Nummer über das Sozialkapital veröffentlicht (Bourdieu 1980). Auf die Genesis dieser Kapitalbegriffe werde ich in den Kapiteln V (Humankapitaltheorie) und VI (Bourdieu) zurückkommen. Hier geht es mir nur um die Ausgangsbeobachtung, die zur Problemstellung der vorliegenden Arbeit geführt hat: Die Soziologie unterhält ein gespaltenes, ja ein paradoxes Verhältnis zum Kapitalbegriff, den sie in der allgemeinen Form nicht zu kennen und anerkennen scheint, in spezifischen Formen aber ganz selbstverständlich verwendet. Anders gesagt: Bindestrich-Kapitalien wie Sozial- und Kultur-Kapital sind ihr vertraut, aber vor dem Kapital ohne Zusatz schreckt sie zurück. Wer in der Soziologie vom Kapital im Allgemeinen sprechen will, sieht sich rasch mit dem Vorwurf des Ökonomismus oder des dogmatischen Marxismus konfrontiert (womit in der Regel etwa dasselbe gemeint ist) und wird als jemand betrachtet,
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die oder der nicht auf dem Stand der gegenwärtigen Diskussion ist. Ich werde dagegen argumentieren, dass gerade diese theoretische Leerstelle, das heißt das soziologische Verdrängen oder Ignorieren des Kapitals dem Ökonomismus Tür und Tor öffnet sowie (doch dies ist nur von untergeordneter Bedeutung) dem dogmatischen Marxismus den einfachsten Vorwand liefert, die Soziologie einmal mehr als bürgerliche Wissenschaft abzutun, die unfähig ist, den Kapitalismus zu analysieren. Dieses Problem gewinnt für die Zukunft der Soziologie durch zwei Tatsachen an Bedeutung, die hier nur kurz genannt werden können. Zum einen hat die Ökonomie im Feld der Human- und Gesellschaftswissenschaften längst eine dominierende Stellung erlangt, und gerade die Exponenten der Humankapitaltheorie formulieren durchaus explizit den Anspruch, ihren theoretischen Instrumenten in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zum Durchbruch zu verhelfen. Dieses hegemoniale Streben wird im angelsächsischen Raum bisweilen als »economic imperialism« bezeichnet (Lazear 1999). Will die Soziologie ihre Eigenständigkeit gegenüber der Ökonomie verteidigen (und ohne diese Autonomie hätte sie historisch gesehen gar nicht als akademische Disziplin etabliert werden können), muss sie sich dieses Problems bewusst werden und eine soziologische Ökonomiekritik entwickeln, die dem ökonomischen Imperialismus die Stirn zu bieten vermag. Zum andern ist es nach Jahrhunderte langer Ausbreitung kapitalistischer Ökonomie und Kultur in Alltagssprache, Massenmedien sowie in der Politik üblich geworden, alles Mögliche als Kapital zu bezeichnen, von dem sich einzelne Menschen, Organisationen oder Volkswirtschaften einen Vorteil versprechen. Es existieren längst nicht mehr nur die eingangs erwähnten Kapitalbegriffe, sondern auch das Gesundheits-, Raum-, Mobilitäts-, Natur-, Schönheitsoder politische Kapital. Die Aufzählung ließe sich mühelos erweitern, und diese Inflation der Kapitalbegriffe macht vor dem soziologischen Feld nicht Halt. Selbst der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der für sorgfältige theoretische Arbeit bekannt ist, nennt in einem Aufsatz über das ökonomische Feld neben dem kulturellen und symbolischen Kapital unvermittelt weitere Kapitalbegriffe (finanzielles, technologisches, juristisches, kommerzielles sowie Organisationskapital), ohne diese genauer zu bestimmen (Bourdieu 2002: 192-3). Auf dem Spiel steht also die Autonomie der Soziologie gegenüber den kapitalistischen Alltagskulturen, die Fähigkeit zum erkenntnistheoretischen Bruch, der ja jeder soziologischen Theorie zu Grunde gelegt werden muss (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 15-36).
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Die Betrachtung soziologischer Wörter- und Handbücher soll diese Ausgangsbeobachtung dokumentieren und die Problemstellung präzisieren. Ich konzentriere mich auf die Frage, ob Einträge zu Kapitalbegriffen vorhanden und wie diese stukturiert sind. Die Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie von Hermann Korte (2002) sowie Hans Paul Bahrdts (2000) Schlüsselbegriffe der Soziologie führen den Begriff Kapital nicht auf, selbst der Kapitalismus kommt nicht vor. Das sagt sicherlich einiges über das Selbstverständnis der bundesdeutschen Soziologie der Nachkriegszeit aus, scheint allerdings doch eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Konsequent der Bindestrich-Kapitalien-Logik folgt die sehr umfangreiche Blackwell Encyclopedia of Sociology (Ritzer 2007), die in einem Eintrag das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital abhandelt, ohne sich der Frage zu widmen, was diesen Kapitalarten gemeinsam ist. Mehrere einschlägige deutschsprachige Wörterbücher weisen aber durchaus Einträge zum Kapital im Allgemeinen auf, und es ist interessant zu sehen, wie diese gegliedert sind. Das Soziologie-Lexikon von Gerd Reinhold (2000) stellt in wenigen Sätzen fünf Kapitaldefinitionen vor: jeweils eine der Alltagssprache, der Betriebswirtschaftslehre, der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie (das Kapital als Eigentum an den Produktionsmitteln) und des Marxismus (Kapital als herrschende Klasse). Beim Eintrag über den Kapitalismus wird ebenfalls zwischen dem soziologischen und marxistischen Verständnis differenziert, und das Lexikon führt weitere marxistische Konzepte auf (Kapitalkonzentration, Kapitalverhältnis, Kapitalzentralisation und Kapitalzirkulation). Dieses soziologische sowie das marxistische Verständnis von Kapital sind gemessen am theoretischen Niveau des Marx’schen Kapital sehr verkürzt; Marx fällt gewissermaßen zwischen Ökonomie, Soziologie und Marxismus in ein schwarzes Loch. Sehr systematisch gegliedert ist der Eintrag im Lexikon zur Soziologie von Fuchs-Heinritz et al. (2007). Das Kapital wird in drei Schritten behandelt: Zunächst »im üblichen Sinne« als Begriff der Ökonomie, der Erwerbszwecken dienendes Vermögen sowie Verkörperungen von Aufwendungen bezeichnet, die zur Erhaltung und Verbesserung von Produktions-, Konsum- und Lebensmöglichkeiten beitragen. Darauf folgt das Konzept von Karl Marx, das Kapital als sich selbst verwertender Wert und gesellschaftliches Verhältnis – eine doppelte Definition, die ohne Zweifel viel besser ist als diejenige bei Reinhold. Schließlich wird mit Bezug auf Pierre Bourdieu das Kapital als die Gesamtheit der Ressourcen bezeichnet, die ungleiche Lebenschancen zuweisen. Das Lexikon führt weitere verwandte Begriffe wie Sozialkapital und kulturelles Kapital auf, sowie Marx’sche Konzepte wie Wertform und Kapitalfetisch. Damit werden hier zwar
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nicht marxistische und soziologische Begriffe explizit neben- oder gegeneinander gestellt, aber die meisten Leserinnen und Leser dürften die Einträge dennoch in diesem Sinne interpretieren: Die Marx’schen oder marxistischen Begriffe sind etwas Anderes als die soziologischen. Eine weniger feine Klinge führt das Wörterbuch von Endruweit und Trommsdorf (2002), in dem das Kapital allerdings als Grundbegriff der Sozial- und der Wirtschaftswissenschaften bezeichnet wird. Es werden Definitionen aus der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre genannt, bevor der Verweis auf Marx folgt, der Kapital als Eigentum verstanden habe, das die Lohnarbeit ausbeutet. Nach einigen Sätzen zum Zusammenhang von Konsumverzicht und Kapitalbildung folgen die Bezüge auf das Sozialkapital (Coleman) und auf die drei Kapitalsorten bei Pierre Bourdieu: ökonomisches, kulturelles und Sozialkapital. Nochmals anders rollt das Wörterbuch von KarlHeinz Hillmann (2007) den Kapitalbegriff auf. Es beginnt ebenfalls mit Definitionen der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, setzt dann allerdings das soziologische Begriffsverständnis mit der Marx’schen Bestimmung des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis gleich. Zudem führt dieser Titel einen ausführlichen Eintrag zum Sozialkapital sowie einen nur ganz kurzen zum Humankapital. Mehrere wichtige englischsprachige Wörterbücher, so etwa die bei Routledge veröffentlichten Encyclopedia of Social Theory (Harrington et al. 2006) und International Encyclopedia of Economic Sociology (Beckert et al. 2006) und der Cambridge Dictionary of Sociology (Turner 2006), führen keinen Eintrag zum Kapitalbegriff. Anders das Nachschlagewerk aus Oxford (Scott and Marshall 2005), dessen Eintrag mit einer ökonomischen Begriffsbestimmung beginnt und danach zur Kapitalakkumulation nach Marx weiter geht, wobei der Eindruck entsteht, der Verfasser des Kapitals habe mit dem Begriff dasselbe gemeint wie die von ihm kritisierten klassischen Ökonomen. Soziales, kulturelles und Humankapital werden im Oxford Dictionary mit eigenen Einträgen behandelt. In einigen englischsprachigen Titeln steht der Bezug auf Karl Marx stark oder sogar allein im Zentrum, wenn es ums Kapital geht. So definiert der Blackwell Dictionary of Sociology (Johnson 2000) das Kapital als diejenigen Produktionsmittel, die von Arbeitern benutzt werden, denen diese Produktionsmittel nicht gehören. Daneben ist dem kulturellen Kapital von Pierre Bourdieu ein Eintrag gewidmet. Präziser und umfassender eingefangen wird das Marx’sche Kapitalkonzept in der Encyclopedia of Social Theory von Ritzer (2005), in deren Eintrag sowohl vom gesellschaftlichen Kapitalverhältnis als auch vom Selbstverwertungsprozess des Kapitals die Rede ist und Skepsis gegenüber den Bindestrich-Kapitalbegriffen angedeutet wird. Der Titel führt auch Einträge zum sozialen und kulturellen Kapital. Das Collins-Wörterbuch (Jary/Jary 2005) bezieht sich ebenfalls im Wesentlichen auf Marx, wenn das Kapital als Vermögen oder
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Wert in Privatbesitz bezeichnet wird, mit dem Mehrwert erzielt werden soll, und betont wird, das Kapital sei nicht als Ding zu betrachten, sondern als dinglich erscheinende soziale Beziehung. Auch das Collins Dictionary führt separate Einträge zum kulturellen, sozialen und Humankapital. Diese kleine Rundschau mit Bezug auf einflussreiche deutsch- und englischsprachige Titel zeichnet kein einheitliches Bild, bestätigt aber in wesentlichen Punkten die eingangs formulierte Beobachtung. Einige Wörterbücher führen den Kapitalbegriff überhaupt nicht auf, andere weisen ihn primär der Ökonomie oder dem Marxismus zu, wodurch zumindest implizit gesagt wird, es handle sich nicht um ein soziologisches Konzept. Es gibt jedoch auch einige – vor allem englischsprachige – soziologische Wörterbücher, die das Kapital im Allgemeinen beschreiben, ohne es aus dem Feld der Soziologie zu verweisen oder den Verdacht zu nähren, in diesem Fach sei es nicht am richtigen Ort. Dies kann aber nicht als das dominierende Bild bezeichnet werden. Soziales und kulturelles Kapital scheinen sich als soziologische Begriffe durchgesetzt zu haben, wohl stärker im angelsächsischen als im deutschsprachigen Raum. Und die Interpretationen des Marx’schen Kapitalbegriffs fallen sehr unterschiedlich aus, von der total verkürzten Lesart (etwa bei Endruweit und Trommsdorf 2002) über die stillschweigende Gleichsetzung mit ökonomischen Kapitalbegriffen (im Oxford Dictionary) bis zu den guten Einträgen (etwa im Lexikon zur Soziologie oder in der Encyclopedia von Ritzer (2005)), die zumindest einen Teil des gesellschaftstheoretischen Gehalts der Marx’schen Schlüsselkategorie greifbar machen. Marx, der allzu bekannte Unbekannte Der Blick in die Wörterbücher zeigt außerdem rasch auf, dass sich das paradoxe Verhältnis der heutigen Soziologie zum Kapitalbegriff kaum verstehen lässt, ohne über die Rezeption des Hauptwerks von Karl Marx nachzudenken, das eben gerade den Kapitalbegriff als Titel trägt, ergänzt durch den programmatischen Untertitel Kritik der Politischen Ökonomie. Ich vertrete in der vorliegenden Arbeit die These, die wichtigsten gesellschaftstheoretischen Bausteine des umfangreichen Werks seien in der soziologischen Rezeption kaum zur Kenntnis genommen worden, weil der Blick durch Problemstellungen der marxistischen und antimarxistischen kanonischen Lesarten verstellt war. So konnte es dazu kommen, dass die Soziologie den gesellschaftstheoretischen Kern des Hauptwerks eines ihrer herausragenden Klassiker kaum kennt, insbesondere die Theorie der gesellschaftlichen Wertformen und das Fetischtheorem. Dies ist umso mehr zu bedauern, als die neuere internationale Marx-Forschung das Werk mehr und mehr durch eine Brille liest, die soziologisch fruchtbar gemacht werden könnte.
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Doch wenn Jean-Marie Vincent (2001: 8; 36) Recht hat, handelt es sich bei diesem paradoxen Nebeneinander eines Allzu-gut-Kennens und Nicht-Kennens des Hauptwerks von Karl Marx nicht nur um ein Phänomen der Soziologie: Er spricht zum Beispiel von einem »Marxismus ohne Marx« sowie allgemeiner von Marx als einem Unbekanntem, der nur »vom Hörensagen« bekannt sei und neu entdeckt werden könnte. Ich werde im folgenden Kapitel zu skizzieren versuchen, wie Das Kapital soziologisch neu gelesen werden könnte. Doch vorerst zurück zur soziologischen Rezeption des Marx’schen Werks: Das Übersehen des gesellschaftstheoretischen Kerns des Kapitals erfolgte in diesem Fach wohl meist auf einem der folgenden Wege (oder auf beiden zugleich): Entweder wurde Das Kapital als ökonomisches Werk verstanden, in dem eine Variante der klassischen Arbeitswertlehre zur Geltung gebracht wird, obwohl Marx ja die Grundprämissen jeder ökonomischen Theorie zu hinterfragen suchte, wie der Untertitel Kritik der Politischen Ökonomie sagt. Oder das Marx’sche Hauptwerk wurde durch die Brille von Problemstellungen aus früheren Texten von Marx (und Engels) gelesen. Zu nennen sind das Problem der Idealismuskritik und des historischen Materialismus, wie es in der Deutschen Ideologie vorgetragen wird, die Thematik der sozialen Klassen und des Klassenkampfs, deren berühmteste Formulierungen im Manifest der Kommunistischen Partei zu finden sind, oder die Ausführungen über die Entfremdung in den Pariser Manuskripten. Natürlich sind diese Problemstellungen von einiger soziologischer Relevanz. Doch mit solcher Brille wird übersehen, dass im Kapital etwas Anderes im Zentrum steht: die Analyse der Eigendynamiken und Funktionsweisen der kapitalistischen Ökonomie – nicht als naturgesetzlicher Prozess interpretiert, sondern als eine gesellschaftliche Wirklichkeit, weil sich das Kapital nur unter bestimmten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen zur eigenständigen sozialen Kraft mit eigenen Institutionen – darunter die ökonomische Wissenschaft, die Marx kritisiert – und spezifischer Alltagskultur konstituieren konnte. Es ist nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit, eine systematische Geschichte der unglücklichen Rezeption des Kapitals in der Soziologie zu schreiben. Durch die kritische Kommentierung einschlägiger Hand- und Einführungsbücher soll aber die mit Blick auf die Wörterbücher begonnene Dokumentationsarbeit weitergeführt werden, um an Hand einiger Beispiele zu verstehen, wie der allzu bekannte Unbekannte Marx in der Soziologie fabriziert und verbreitet wurde. Die Einführung in die Geschichte der Soziologie von Hermann Korte in der Reihe UTB zählt zu den Büchern, aus denen ganze Generationen von Studierenden zu Beginn des Soziologiestudiums mehr oder weniger freiwillig gelesen haben. Marx ist darin ein Kapitel gewidmet (Korte 2000: 43-57), gleich nach dem über Auguste Comte, der als erster Soziologe bezeichnet wird. Nach einigen Ausfüh-
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rungen über Biografie und Dialektik (Marx’ Kritik an Hegel) folgt ein Abschnitt über Das Kapital, in dem über den Inhalt des Marx’schen Hauptwerks allerdings nichts gesagt wird, nur über dessen immer wieder hinausgezögerte Veröffentlichung. Danach stellt der Verfasser mit Bezug auf drei klassische Themen die Bedeutung des Werks heraus: Klassen und Klassenkämpfe, Geschichtstheorie und Ideologie. Das Problem ist nicht in erster Linie, dass »gar nicht erst der Versuch gemacht [wird], eine umfassende Würdigung vorzunehmen« (Korte 2000: 48), wie der Verfasser einräumt. Zu kritisieren ist viel mehr, dass durch die unreflektierte Aufreihung der aus der kanonischen Rezeption bekannten Themen und Versatzstücke der Blick auf den gesellschaftstheoretischen Kern des Kapitals verstellt wird. Die Soziologiestudierenden lesen bei Korte eine Mischung aus kanonischer Rezeption (die Formel von These, Antithese und Synthese als Inbegriff der Dialektik; die Unterscheidung von Unterbau und Überbau als Basis des historischen Materialismus) und trivialen Aussagen (zum Beispiel, Marx habe seinen Blick auf Menschen und ihr Zusammenleben gerichtet), aber nichts zur Theorie gesellschaftlicher Wertformen oder zum Fetischtheorem. Bei genauerem Hinsehen zeigt es sich, dass sich von dem Dutzend Quellenverweise nur zwei auf Das Kapital beziehen – bei einem geht es um Geschichtstheorie, beim anderen um die Frage der Kritik am Kapitalismus und inwiefern diese an klassenspezifische Standpunkte gebunden ist. Ein Lieblingsvorwurf des Antimarxismus lautet ja, Marx hätte laut seiner eigenen Theorie selbst nur bürgerlich denken können, weil er aus einer bürgerlichen Familie kam. Es ist wie ein Einführungskapitel über Max Weber, das am Inhalt von Wirtschaft und Gesellschaft vorbei geht. Nicht einmal im Abschnitt über das Problem der Ideologie bezieht sich Korte auf Das Kapital. So entsteht der Eindruck, Marx’ Überlegungen dazu ließen sich auf den berühmten Satz aus der Deutschen Ideologie reduzieren, das Sein bestimme das Bewusstsein. Doch im Hauptwerk spricht Marx ([1894] 1964: 838) etwa von der »Religion des Alltagslebens« im Kapitalismus, oder von den »gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen« (Marx [1973] 1962: 90) in dieser Gesellschaftsformation. Es handelt sich um Formulierungen, die klar über die frühere Problemstellung der Ideologiekritik hinausweisen, ohne die daraus gewonnenen Erkenntnisse aufzugeben. Ganz ohne Anmerkungen kommt Ralf Dahrendorf (2000) in seinem Aufsatz über Marx in den Klassikern der Soziologie aus. Wer über so viel akademische und politische Autorität verfügt, braucht seine Ausführungen eben nicht durch mühsames Nachweisen von Quellenbezügen zu rechtfertigen. Wie schon bei Korte erfährt die Leserin oder der Leser auch in diesem für die soziologische Rezeption einflussreichen Text kaum etwas über den Inhalt des Kapitals. In ge-
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radezu klassischer Weise schreitet der deutsche Soziologe die bekannten Wege der kanonischen Rezeption ab, das heißt er versäumt es, ernsthafte Konsequenzen aus seinem Satz zu ziehen, kein Name sei im 20. Jahrhundert »so gründlich und folgenreich gebraucht und missbraucht worden wie der von Marx« (ebd.: 58). Die Philosophie und die Politische Ökonomie seien Marx’ eigentliche Metiers gewesen, nicht die Soziologie; mit zunehmender Reife habe sich der Verfasser des Kapitals vornehmlich als Ökonom gesehen (ebd.: 60). Das wird so selbstverständlich gesagt, dass sich jede Frage zu erübrigen scheint, warum sich Marx zum Ziel gesteckt hatte, über die Philosophie und die ökonomische Theorie hinaus zu gehen. Im Grunde konstruiert Dahrendorf einen Marx, dessen Werk durch eine Geschichtstheorie (Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse; Theorie des Klassenkampfs) getragen wird, welche für die heutige Soziologie als Theorie des sozialen Wandels fruchtbar gemacht werden kann, sofern sie des Marx’schen Ökonomismus und Utopismus entkleidet ist. Wer dies schreibt, unterschlägt, wie sehr Marx selbst ein vehementer Kritiker des politischen Utopismus – dies zeigt sich in seiner Kritik am französischen und englischen Frühsozialismus sowie an den deutschen Linkshegelianern – und des Ökonomismus – dies kommt in seiner Kritik der Politischen Ökonomie zum Tragen – war. Solches zu berücksichtigen würde die einfachen Begriffspaare, mit denen die kanonische Rezeption hantiert, durcheinander werfen. Dahrendorf (2000: 60) geht so weit zu behaupten, in Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 seien »die Elemente des dreibändigen Kapital schon enthalten« gewesen. Warum aber hat Marx zwei weitere Jahrzehnte am Hauptwerk gearbeitet und dieses dennoch nicht zu Ende bringen können, wie die aktuellen Editionsarbeiten für die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) deutlicher dokumentieren als jemals zuvor? Solche Fragen sind natürlich nur von untergeordneter Bedeutung, wenn das Ziel daraus besteht, das ganze Werk von Marx durch die Brille der mit seiner Theorie der Revolution verbundenen Fragen und Probleme zu lesen. Das soziologische Potenzial des Kapitals bleibt auf diese Weise hinter einer mehr oder weniger ernsthaften Auseinandersetzung mit Fragen der politischen Theorie verborgen. Wenn Dahrendorf am Schluss seines Beitrags die Bedeutung von Marx für die Soziologie mit dem Hinweis relativiert, im Gegensatz zu Max Weber, dem »eigentlichen Heros der modernen Soziologie« (ebd.: 71), habe der Verfasser des Kapitals bloß Sekten hinterlassen, die in der wissenschaftlichen Diskussion kaum ernst genommen würden, nimmt er die sterile Opposition von Marxismus und Antimarxismus zum Maßstab, gerade diesen »Spuk«, dem die »Revolution von 1989« ein Ende gesetzt habe (ebd.: 59), der aber im Kopf des deutschen Soziologen weiterhin herumgeistert. Sein Satz, für die Geschichte der Sozialwissenschaften sei das Phänomen des Marxismus be-
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dauerlich gewesen, »hat es doch wichtige Theorien zur Ideologie einer Sekte gemacht statt sie im Hauptstrom der Disziplinen zu halten« (ebd.: 69), spricht tatsächlich ein wichtiges Problem an: Ich werde im vierten Kapital der vorliegenden Schrift auf das Erbe des Marxismus eingehen. Aber Dahrendorf widerspricht sich in actu, wenn er selbst wiederum die soziologische Relevanz des Marx’schen Werks an der Geschichte des Marxismus misst. Die bei Korte und Dahrendorf vorhandenen Erzählmuster und Zugänge zum Werk von Marx sind zweifellos typisch für die deutschsprachige Soziologie und lassen sich in unzähligen Varianten immer wieder beobachten. Im Internationalen Soziologenlexikon (Bernsdorf/Knospe 1980: 271-273) werden alle Aussagen über das Kapital systematisch den kanonischen Problemstellungen des historischen Materialismus und der Revolutionstheorie untergeordnet. Das Marx’sche Hauptwerk wird zunächst als ökonomisches Werk beschrieben, dann als politisches Buch, weil Marx es in der Absicht verfasst habe, die Notwendigkeit der Entstehung eines revolutionären Klassenbewusstseins zu beweisen. Wie bei keinem anderen Klassiker der Soziologie verschiebt sich in der Rezeption von Marx immer wieder wie ganz selbstverständlich der Fokus vom Inhalt der Texte auf die dahinter vermuteten politischen Absichten – wie wenn andere Klassiker der Soziologie, allen voran der viel gepriesene Max Weber, nicht auch ihr eigenes politisches Programm verfolgt hätten. Wenn die soziologische Bedeutung von Marx darin gesehen wird, »dass er durchgehend die geschichtsphilosophisch begründete, kritische Funktion jeder gesellschaftswissenschaftlichen Analyse und Theorie in seinem Werk deutlich werden lässt« (ebd.: 271), ist dies vielleicht wohlwollend gemeint, trägt aber nichts dazu bei, die wichtigsten gesellschaftstheoretischen Bausteine des Kapitals in die soziologische Diskussion einzuführen. Überhaupt fällt auf, wie sehr sich auch wohlwollende Stellungnahmen zu Marx schwer tun, das gesellschaftstheoretische Potenzial des Kapitals aufzugreifen und fruchtbar zu machen. Im Lexikon der soziologischen Werke (Oesterdiekhoff 2001) zum Beispiel wird neben dem Elend der Philosophie, der Deutschen Ideologie und den Grundrissen auch Das Kapital besprochen. Der Beitrag wurde durch Hans Jürgen Krysmanski verfasst, der nicht mit Lob an der »genialen Analysemethode« von Marx – festgemacht an der berühmten Formel aus den Grundrissen: der »Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten« – (ebd.: 452) spart. Immerhin ist hier nicht vom Kapital als ökonomischem Werk die Rede. Der Verfasser hält fest, es sei Marx nicht um rein ökonomische Sachverhalte gegangen, sondern um den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Das bleibt aber abstrakt, solange nicht zumindest eine Idee von den gesellschaftstheoretischen Kernelementen des Marx’schen Hauptwerks skizziert wird. Darauf verzichtet
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Krysmanski und argumentiert stattdessen für die Aktualität von Marx, die gerade mit Blick auf die Globalisierung deutlich hervorgetreten sei wie nie zuvor. Wenn er die Soziologinnen und Soziologen ermuntert, ihre Kreativität am Marx’schen »Gegenprogramm zur Logik der Produktion des relativen Mehrwerts« (ebd.: 454) zu regenerieren, ist bei allem Verständnis für diesen gut gemeinten Appell daran zu erinnern, dass dies nicht ohne eine Aneignung und Weiterentwickelung der auch in diesem Beitrag unsichtbar gebliebenen gesellschaftstheoretischen Bausteine des Kapitals möglich ist. Als wohlwollend sind natürlich auch die drei Beiträge von Oskar Negt über den Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte, die Frühschriften und das Kapital in den Hauptwerken der Soziologie von Kaesler und Vogt (2007) zu betrachten. Der Verfasser legt bei der Diskussion des Marx’schen Hauptwerks den Fokus auf den ersten Band des Kapitals. Zum zweiten Band sagt er, alles Wesentliche sei bereits im ersten Band gesagt und müsse im zweiten Band nur noch erscheinen. Negt vernachlässigt also die Tatsache, dass sich die beiden Bände mit unterschiedlichen Problemstellungen befassen – der erste mit der Produktion, der zweite mit der Zirkulation des Kapitals. Zum dritten Band hält er fest, dieser enthalte viele interessante, aber nicht systematisch gegliederte Facetten und sei erst durch Friedrich Engels zu einem Ganzen gemacht worden (ebd.: 290). Das stimmt in der Tat und gilt in etwas geringerem Maß übrigens auch für den zweiten Kapital-Band: Ich werde im folgenden Kapitel auf den unvollendeten Charakter des Kapitals zu sprechen kommen. Aber die Darstellung von Negt erlaubt nicht zu verstehen, was der rote Faden war, den Marx den drei Bänden zu Grunde legte. Auch wenn der Verfasser des Kapitals sein Hauptwerk nicht fertigzustellen vermochte, lässt sich dieser rote Faden dennoch rekonstruieren. Aber zurück zu Negt: Als Pointe der Marx’schen Kapitalismusanalyse beschreibt er die Entdeckung, die Arbeitskraft könne als einzige Ware mehr Wert schaffen als sie selbst besitze, und so finde Ausbeutung statt ohne die Verletzung des Grundprinzips, dass auf dem Markt Äquivalente getauscht werden: »Die Entdeckung des inneren Mechanismus der Mehrwertproduktion gilt in der Geschichte der Ökonomie als die eigentliche Leistung der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie.« (ebd.: 286) Zweifellos war die Präzisierung von Marx, auf dem Arbeitsmarkt werde nicht Arbeit, sondern Arbeitskraft verkauft, eine wichtige Kritik an der klassischen Arbeitswertlehre von Smith oder Ricardo. Dasselbe gilt für die Loslösung vom Bild einer natürlich gegebenen Arbeitszeit und die Hinwendung zum Konzept der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Auch die Beschreibung der Marx’schen Methode als mikrologische Vorgehensweise, die hinter der Fassade der Zirkulationssphäre, in der alles gerecht herzugehen scheint, die verborgenen
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Mechanismen der kapitalistischen Produktion aufzuschlüsseln versucht, kann hilfreich sein – auch wenn wir uns vor einer allzu einfachen Lektüre hüten sollten, der zu Folge sich in der Produktion die Ungerechtigkeiten des Systems ganz von selbst zeigen: Die kapitalistischen Sozialstaaten und Managementwissenschaften haben gerade gegen diese Wahrscheinlichkeit Instrumente entwickelt, von denen Marx noch keine Ahnung hatte. Negt schweigt jedoch zu den gesellschaftstheoretischen Konzepten, die diesen Entdeckungen von Marx zu Grunde liegen, insbesondere zur Theorie der gesellschaftlichen Wertformen, und er verliert kein Wort über das Fetischtheorem. Zudem legt er wenig Wert auf die grundsätzliche Infragestellung der ökonomischen Theorie durch Marx, was sich daran zeigt, dass er dessen größte Entdeckung ganz selbstverständliche in die »Geschichte der Ökonomie« einreiht und betont, kein wichtiger Gelehrter der ökonomischen Wissenschaft habe das Kapital »ignorieren und links liegen lassen können« und es habe auch »große marxistische Ökonomen« gegeben (Kaesler und Vogt 2007: 291). Wenn Marx hingegen das Erkenntnisinteresse auf diese eigentümliche gesellschaftliche Form richtet, die im Kapitalismus dominant geworden ist, die Wertform, die von den Theoretikern der Politischen Ökonomie als natürlichste Sache der Welt verklärt und deshalb gar nicht erst untersucht wird, klingt ein großes Potential an soziologischer Reflexion an, das die Besprechung des Kapitals durch Oskar Negt ignoriert. Autorität und Orthodoxie Wie höchste akademische Autorität und theoretische Orthodoxie verbunden sein können, lässt sich am Beispiel der einschlägigen Handbücher aus Cambridge und Oxford skizzieren. Das Cambridge Dictionary of Sociology führt einen Eintrag zu Karl Marx, der stark biografisch geprägt ist und wenig zum Inhalt der einzelnen Teile des Werks aussagt. Zum ersten Band des Kapitals stehen nur drei Sätze: »The first section deals with the nature of commodities and money; the second, [with] the transformation of money into capital; the third, with the nature of surplus value. Marx argues that what makes it possible for commodities to exchange is that they are the product of labor, but this theory of value is seen by many commentators (including Marxists) to be rather archaic and implausible. This was followed by Marx’s far more readable history of capitalism and the effect of machinery on the worker, and culminated in his assessment of capital accumulation.« (Turner 2006: 362)
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Die zwei anderen Bände sind nicht einmal halb so viele Zeilen wert: »The other two volumes of Capital have none of the polish of the first. Volume III deals with the relationship of values and prices.« (Ebd.) Die Herausgeber können bei einem solchen Eintrag sicher sein, dass die Leserinnen und Leser sich in dem bestätigt fühlen, was sie bereits über Marx zu wissen glaubten: Seine hier extrem verkürzt dargestellte Werttheorie sei heute selbst im Marxismus umstritten, und soziologisch relevant seien am ehesten die Analyse der Geschichte des Kapitalismus und der Entfremdung durch Fabrikarbeit. Stillschweigend wird dann aber wohl vorausgesetzt, weder das eine noch das andere sei heute von soziologischer Aktualität, jedenfalls in den führenden Staaten des westlichen Kapitalismus. Der Eintrag zum Begriff Kapitalismus geht ausführlicher auf Konzepte von Marx ein (Turner 2006: 49-55). Der Verfasser des Kapitals wird als Erfinder der modernen Kapitalismustheorie bezeichnet. Als Kern der Marx’schen Theorie werden die Verwandlung von Geld in Kapital und die Mehrwerttheorie genannt. Für Marx sei die Produktion deshalb viel wichtiger als der Markt, dem in der Marx’schen Theorie vor allem eine mystifizierende Rolle zugesprochen werde. Nach der Beschreibung einiger weiterer Marx’scher Begriffe folgt die Einordnung in die kanonische Rezeption. Der Eintrag hält fest, die Kapitalismustheorie von Marx sei viel kritisiert worden und dieser Kritik müsse kaum noch etwas hinzugefügt werden. So wird signalisiert, Marx sei überholt, ohne dass erklärt werden muss, warum. Die argumentatorische Leerstelle wird durch zwei Verweise kaschiert, die nur scheinbar für sich selbst sprechen: Marx habe von Naturgesetzen des Kapitalismus gesprochen und sich der Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse schuldig gemacht; Jon Elster (1986) habe gezeigt, was an der Marx’schen Theorie falsch sei. Was die Naturgesetze angeht, müsste zumindest ein Spannungsfeld im Werk von Marx thematisiert werden: Sicherlich war er beeinflusst durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften und versuchte, auch in der Funktionsweise der Gesellschaft Gesetzmäßigkeiten zu erkennen – das gilt ja letztlich für jede Sozialwissenschaft, aber es besteht immer auch die Gefahr der organizistischen oder objektivististischen Analogie. Zugleich schreibt Marx im Kapital aber gegen die Vorstellung der Naturgesetze des Marktes an und versucht zu zeigen, wie es dazu kommt, dass von Menschenhand gemachte Phänomene den Menschen als unveränderlich und natürlich erscheinen – das ist reine Kritik an der Naturalisierung. Was Jon Elster anbetrifft, so steht er für eine spezifische Marx-Lektüre im angelsächsischen Raum, die als analytischer Marxismus bekannt ist und Marx durch die Brille des Rational-Choice-Paradigmas liest. Dies sollte zumindest erwähnt werden, bevor Elster das letzte Urteil über die Marx’sche Werttheorie anvertraut wird.
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Aber das Cambridge Dictionary ist bereits einen Schritt weiter und betont, Marx habe wenig zur Analyse von Unternehmen und anderen kapitalistischen Institutionen – der Markt, die Börse usw. – zu sagen, das heißt zu einschlägigen Themen der Wirtschaftssoziologie. Es folgt ein Vergleich der Kapitalismustheorien von Marx und Weber, deren implizites Ziel ist zu zeigen, wer der »eigentliche Heros der modernen Soziologie« ist, um es nochmals mit Dahrendorf (2000: 271) zu sagen. Zwar wird eingeräumt, Max Weber sei durch Karl Marx beeinflusst gewesen, und auch der deutsche Soziologe habe das kapitalistische System als unmenschlich empfunden (Turner 2006: 52-53). Doch für Weber stehe der Markt im Zentrum der Kapitalismustheorie, nicht die Produktion; in seinen Augen gebe es nicht nur einen Kapitalismus, sondern verschiedene Varianten; Politik und Kultur seien nicht mehr durch die Wirtschaft beeinflusst als umgekehrt; der Ursprung des Kapitalismus sei in der Verbreitung eines besonderen Geistes zu finden und nicht in Umwälzungen der Produktion; und der subjektive Sinn müsse in die Kapitalismusanalyse eingeführt werden, um diese in Richtungen zu entwickeln, die Marx verschlossen bleiben mussten. Es ist höchst zweifelhaft, ob solche Oppositionen nach dem Muster der kanonischen Rezeption helfen, das Werk der Klassiker besser zu verstehen. Gewiss ist jedoch, dass sie für jene ein Hindernis darstellen, die Elemente aus dem Werk der beiden Autoren in neuer Weise verbinden wollen. Das haben zum Beispiel wichtige Vertreter der französischen Soziologie wie Pierre Bourdieu oder Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003) mit Erfolg getan. Das Oxford Dictionary (Scott/Marshall 2005) setzt sich nur auf den ersten Blick sorgfältiger mit Marx auseinander als sein Pendant aus Cambridge. Bei genauerem Lesen zeigt sich, dass es ebenso in kanonischen Lesarten gefangen bleibt, weil es das Werk von Marx sehr stark auf die Arbeitswertlehre reduziert und deren mögliche Neuformulierung in gesellschaftstheoretischer Perspektive, wie zum Beispiel von Jean-Marie Vincent (2001: 238) vorgeschlagen, nicht ins Auge fasst. Ähnlich wie bei Oskar Negt (siehe oben), aber ohne jedes Wohlwollen, wird die Entdeckung der Quelle des Mehrwerts ins Zentrum des Marx’schen Hauptwerks gestellt. Die Darstellung bleibt einer klassischen ökonomischen Arbeitswertlehre immanent, auf den wichtigen Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit wird nicht einmal Bezug genommen. Folgende Sätze erfüllen sehr deutlich die Funktion, den unterstellten theoretischen Kern des Marx’schen Werks als soziologisch untauglich darzustellen, und der im akademischen Kontext stark abwertende Begriff der Doktrin wird wie ein Stigma über den Verfasser des Kapitals geworfen: »Like most other aspects of Marxist doctrine this particular theory has proved to be highly controversial. Arguably, it has been largely discredited, since not only mainstream economists but also many Marxists
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themselves have demonstrated its technical deficiencies.« (Scott/Marshall 2005: 351) Wie wenig im Oxford Dictionary vom Geist der Kritik der Politischen Ökonomie aufgegriffen wurde, zeigt etwa auch der Eintrag zum ökonomischen Determinismus, dessen Karl Marx und Friedrich Engels ganz selbstverständlich bezichtigt werden, ohne zu erwähnen, dass das Marx’sche Werk genau so gut als eine grundlegende Infragestellung des in den Wirtschaftswissenschaften dominierenden Ökonomismus und der für den Kapitalismus typischen Naturalisierung der Ökonomie gelesen werden kann. Eine eigenwillige Lesart von Marx wird in den Soziologischen Stichworten von Boudon und Bourricaud (1992) vorgetragen. Nachdem eingangs betont wurde, dass verschiedene Texte des umfangreichen Werks unterschiedliche Interpretationen begünstigen, werden doch »zwei einheitsbildende Grundsätze« (ebd.: 310) im Marx’schen Werk beschrieben. Zum einen die Haltung von Marx, der kapitalistischen Gesellschaft unversöhnlich gegenüber zu stehen und die Erlösung im Kommunismus zu suchen. Zum anderen habe Marx seine Geschichtstheorie mit einer individualistischen Methodologie verknüpft, die vom Handeln einzelner Menschen ausgehe, das Soziale als Aggregation individueller Handlungen verstehe und nach einer Versöhnung des Individuums – nicht, wie bei Hegel, des Geists – mit sich selbst strebe, für die aber der Kapitalismus überwunden werden müsse. In beiden Grundideen sei Marx stark von Rousseaus Schriften beeinflusst gewesen – von der Beschreibung des Naturzustands und dem Versprechen der Aufklärung. Die auf den ersten Blick überraschende Beschreibung von Marx als Pionier der individualistischen Handlungstheorie lässt sich besser einordnen, wenn berücksichtigt wird, dass die Herausgeber des Handbuchs selbst führende Verfechter eines methodologischen Individualismus waren. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1991: 378) hat sie als Agenten von Talcott Parsons und Paul Lazarsfeld im soziologischen Feld seines Landes bezeichnet, das heißt gewissermaßen als Importeure der hegemonialen USamerikanischen Soziologie in der Zeit des Kalten Kriegs. Wenn in den Soziologischen Stichworten davon ausgegangen wird, dass »individualistische Methodologie à la Smith und philosophische Problemstellung à la Hegel« (Boudon/Bourricaud 1992: 312) Marx’ Werk prägten, dann war die Wert- und Ausbeutungstheorie im Kapital natürlich nur ein bedauerlicher Irrtum, der »in starkem Gegensatz zu den anderen Analysen, Modellen und Theorien des Kapitals« steht (ebd.: 315). Zum Inhalt des Marx’schen Hauptwerks, das selbstverständlich als wirtschaftswissenschaftliches Werk bezeichnet wird, erfährt die Leserin oder der Leser kaum mehr als den Hinweis auf diese Widersprüchlichkeit – für die am Schluss eine wenig überraschende Erklärung dargeboten wird: die Unvereinbarkeit der von Marx verfolgten politischen und wis-
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senschaftlichen Ziele. So habe zum Beispiel der Agitator Marx den Wissenschaftler Marx getrieben, zwischen »Arbeit und wahrer Arbeit« (ebd.) zu unterschieden – eine unhaltbare Unterscheidung, wie mit Bezug auf Pareto argumentiert wird. Allerdings ist sonst wohl noch niemand bei der Lektüre des Kapitals auf dieses Begriffspaar gestoßen, es kommt dort gar nicht vor. Marx spricht viel mehr von konkreter und abstrakter Arbeit (darüber erfahren wir in den Soziologischen Stichworten nichts), und in der Geschichte des Marxismus gibt es eine lange Kontroverse über produktive und unproduktive Arbeit, die sich nur teilweise aus Texten von Marx ableiten lässt. Sicher ist allerdings, dass der Kapitalismus selbst zwischen wertschöpfender Arbeit und anderen Tätigkeiten, die er nicht als Arbeit anerkennt, unterscheidet – und Marx’ Kapitalismusanalyse kann helfen, die damit verbundenen Be- und Entwerungsprozesse zu verstehen. Im Collins Dictionary (Jary/Jary 2005: 366-370) wird Karl Marx als Philosoph, Ökonom und Revolutionär beschrieben. Hier wird gut nachgezeichnet, wie sich Marx’ Schriften in Auseinandersetzung mit dem französischen Sozialismus, der Hegel’schen Philosophie und der englischen Nationalökonomie entwickelt haben. Auch die Umschreibung der Ziele der Marx’schen Untersuchungen erscheint plausibel: die menschlichen Lebensbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft verstehen und erklären; die Dynamik eben dieser Gesellschaft offen legen und sichtbar machen, wie diese im Inneren wirkt und die Beziehungen zwischen den Menschen beeinflusst; ein theoretisches Verständnis der Mechanismen gewinnen, die in den Prozessen des historischen Wandels am Werk sind, wobei der Kapitalismus nur eine spezifische historische Phase repräsentiert. Richtig wird daraufhin festgehalten, Marx habe seine eigenen Projekte nur unvollständig realisiert. Erstaunlich und bedauerlich ist dagegen die Aussage, seine Schriften seien »not in any strict sense sociological« (ebd.: 367). Damit wird die Aufmerksamkeit in Richtung der Einflüsse von Marx auf die Soziologie gelenkt, aber nicht mehr danach gefragt, welche gesellschaftstheoretischen Gedanken im Marx’schen Hauptwerk selbst zu finden sind. Der Inhalt des Kapitals wird unter dem Stichwort »economic writings« nur kurz abgehandelt und im Wesentlichen auf eine ökonomische Arbeitswertlehre reduziert. Wie das Oxford Dictionary verwendet auch dieses Handbuch den diskreditierenden Ausdruck der Doktrin, um den vermeintlichen Kern des Marx’schen Hauptwerks zu fassen und kritisieren (ebd.: 336; 342). Multipler und halbierter Marx Im Handbook of Social Theory bei SAGE liefert Gregor McLennan einen in vielerlei Hinsicht überzeugenden Eintrag zu Karl Marx, der die folgenden drei
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Schwerpunkte aufweist: historischer Materialismus, Kapitalismus- und Klassenanalyse sowie das Wissenschafts- und Methodenverständnis von Marx. Der Verfasser stellt kanonische Zugangsweisen in Frage, wenn er festhält, es gebe nicht einfach die eine Wahrheit über Marx, sondern eine Mehrzahl von Interpretationen, die sich aus unterschiedlichen Erkenntnisinteressen entwickelt hätten. »The conclusion suggests itself that we are dealing with an ineradicably textualized ›Marx‹, whose identity and significance are heavily governed by our own intellectual problems and political priorities, which are different from those of Marx. This line leads us not only from Marx to ›Marx‹ but further on to the idea of Multiple Marxes, for there is arguably no way of deciding, or necessarily wanting [Herv. i. O.] to decide, how all these inputs can be calibrated.« (McLennan 2006: 52)
Zugleich ist sich McLennan der Schwachstellen postmoderner Lesarten bewusst, die zu einer problematischen Beliebigkeit führen können. Dagegen führt er eine überzeugende Grundidee an, die einen produktiven Umgang mit den »Multiple Marxes« in der Soziologie anleiten könnte: »In Marx’s day as in ours, then, the challenge is how best to achieve integrative theoretical solutions out of manifest empirical diversity. Indeed, this would appear to be the very raison d’être of sociological theory itself.« (Ebd.: 53) So lasse sich zum Beispiel das Spannungsverhältnis zwischen Marx’ Versuch, eine vorherrschende Funktionslogik des Sozialen zu erfassen, und dem Studium einer Mehrzahl solcher Logiken durch Max Weber bearbeiten. Schade ist nur, dass auch bei McLennan die Werttheorie von Marx im Wesentlichen als ökonomische Arbeitswertlehre betrachtet wird: Das erschwert es natürlich sehr stark, sich auf das Kapital zu beziehen, um soziologische Theoriebildung in der vorgeschlagenen Weise zu betreiben. Das Schicksal der ökonomischen Lektüre bleibt der Marx’schen Werttheorie im Beitrag von Robert Antonio zur Blackwell Encyclopedia of Sociology (Ritzer 2007: 2805-2815) hingegen weitgehend erspart. Der Verfasser legt den Fokus bei der Beschreibung des Kapitals zunächst auf den mystifizierten Charakter der Alltagserfahrungen und der ökonomischen Kategorien im Kapitalismus. »Capitalist exchange appears to be an independent realm of things, rather than a social relation. […] Marx aimed to illuminate the hidden sociomaterial determinants of bourgeois political economy’s hypostatized, or reified, economic categories.« (Ebd.: 2810) Doch um die Marx’sche Kritik an den kapitalistischen Mythen verstehen und fruchtbar machen zu können, müssten die Theorie der gesellschaftlichen Wertformen, das Fetischtheorem und die Verbindung des inneren (esoterischen) und erscheinenden (exoterischen) Zusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise zur Sprache kommen. Stattdessen reiht Antonio einige aus den
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kanonischen Lektüren bekannten Aussagen zur Ausbeutung der Arbeitskraft und der zum Kommunismus hinführenden Entwicklung der Produktivkräfte an, ohne diese weiter zu kommentieren. Wenn er den Beitrag mit der Gegenüberstellung eines heuristischen und dogmatischen Materialismus – letzteren erkennt er vor allem in Passagen bei Marx, die einen ökonomischem Determinismus das Wort reden – schließt und plädiert, den heuristischen Marx in der Soziologie fruchtbar zu machen, weist dies aber in eine sinnvolle Richtung. »Twenty-first century peoples still live in the wake of the world-historical transformation that Marx analyzed; the capitalist mode of production is still ongoing. Thus, his materialism still provides heuristic tools, which pose penetrating sociological questions about social inequality, wealth, growth, ideology, and overall social development. […] Marx’s specter hangs over sociology still.« (Ritzer 2007: 2814)
Die Frage ist allerdings, wie dieses Gespenst zu neuem Leben erweckt werden kann, oder wie der Marx’sche Geist der Kritik der Politischen Ökonomie in der Soziologie sein Unwesen weiter treiben kann. Mit dieser Frage beschäftigt sich Heinz Bude (2008) in seinem Essay: »Wie weiter mit Karl Marx?« Er gesteht der Marx’schen Kapitalismusanalyse im Zeitalter der Globalisierung eine erstaunliche spontane Evidenz zu: Nicht nur erinnerten Betrachtungen zu heutigen Entwicklungen und Krisen oft mehr als deutlich an die Beschreibungen, die im Kommunistischen Manifest oder im Kapital zu finden sind. Darüber hinaus habe Marx mit der Beschreibung der Dynamik des sich verselbständigenden Kapitals den eigentlichen Motor der multiplen Entgrenzungen benannt, die wir beobachten können. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage sei deshalb auf den ersten Blick einfach zu beantworten: Angesagt wäre eine »Rückkehr zu Marx. Zu dem Marx, der begriffen hat, wie das verheerende Wirken des Kapitals den Gang der Geschichte auf die Spitze einer letzten Entscheidung treibt.« (Ebd.: 16) Doch mit dieser auf die revolutionäre Perspektive verweisenden Formulierung hat Bude auch bereits den Weg eingeschlagen, der ihn wiederum von Marx weg führt. Der Verfasser des Kapitals habe angesichts des verlorenen Glaubens an die Revolution nur noch eine »Evidenz ohne Hoffnung« zu bieten, und wer sich auf ihn stütze, operiere mit einem »halbierten Marx« (ebd.: 18). Bude beschreibt die Art und Weise, wie viele von Marx inspirierte Autoren in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit diesem Problem umgegangen sind, als unangemessene Erweiterung Marx’scher Theorie auf Kultur und Gesellschaft. An die Stelle der Marx’schen Analyse des Kapitals und seiner Widersprüche sei die Untersuchung des Kapitalismus getreten, die der Frage nachgehe, was dieses System trotz allem zusammenhalte und
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den revolutionären Umsturz verhindere. Im Grunde sei es ein mit Max Weber erweiterter Marx, der in den Schriften des Westlichen Marxismus, der Kritischen Theorie oder bei Pierre Bourdieu zum Ausdruck kommt. »Man hat dem marxistischen Denken unter dem Einfluss von Weber seine Basis in der Ökonomie und seine Hoffnung auf die Geschichte genommen. Übrig geblieben ist eine Endlosanalyse der Gesellschaft, die aus vielen Widersprüchen besteht, aber nicht an dem einen zerbricht.« (Bude 2008: 24) Dieser »kulturellen Linken« hält Bude kritisch vor, mit auf Marx bezogenen Analogien zu arbeiten (etwa zwischen Warenform und Sprache), die ebenso unbeherrschbar wie unübersehbar seien. Und sein Kommentar kann auch so verstanden werden, dass den Marx’schen Konzepten durch diese Erweiterung ihre analytische Spitze und theoretische Fruchtbarkeit abhanden gekommen sei. Damit wirft Bude Fragen auf, welche direkt relevant sind für eine kritische Reflexion über die soziologische Kapitaltheorie, denn letztlich operiert diese vielfach mit unkontrollierten Analogien zwischen Ökonomie, Kultur und Gesellschaft. Es muss allerdings möglich sein, Marx soziologisch aufzugreifen, ohne eine »Basis in der Ökonomie« oder eine »Hoffnung auf die Geschichte« vorauszusetzen, sondern einfach indem ausgehend von Ideen seiner Kritik der Politischen Ökonomie weiter gedacht wird. Stattdessen tischt uns auch Heinz Bude ein kanonisches Déjà-vu auf: Eine einfache Rückkehr zur Marx’schen Ökonomiekritik verbietet sich für ihn vor allem deshalb, weil er das Marx’sche Hauptwerk als moralischen Kommentar zum Kapitalismus versteht, der den falschen Glauben erzeuge, es könne eine Gesellschaft konstruiert werden, »in der die Arbeiterklasse die ihr zustehende Macht übernimmt« (Bude 2008: 36). Marx habe keine rein ökonomische, das heißt wertneutrale und reflexiv offene Analyse des Kapitalismus geliefert. »Der Ansatzpunkt seiner Kritik der Politischen Ökonomie ist vielmehr ein parteiischer und moralischer. Nicht Funktion und Äquilibration sind die Kategorien der Marx’schen Theorie, sondern Widerspruch, Konflikt und Spaltung. Es geht um die Suche nach einem objektiven Grund für die vielfältigen, unübersichtlichen und widersprüchlichen Formen der subjektiven Empörung in der Epoche der Bourgeoisie. Die Antwort darauf gibt die Arbeitswertlehre, die die Substanz von Ansprüchen an gesellschaftlicher Teilhabe in der durchschnittlichen Dauer der geleisteten Arbeit ausmacht.« (Bude 2008: 27)
Dieses Zitat lässt gut erkennen, wie verschiedene Elemente der marxistischen wie antimarxistischen kanonischen Rezeption herangezogen werden, um die soziologische Relevanz des Kapitals in Frage zu stellen, indem eine Kritik an den politischen Hoffnungen des Verfassers geübt wird, deren Einfluss auf die theoretische Arbeit allzu einfach postuliert ist. Wenn die Lektüre des Marx’schen
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Hauptwerks nur hinsichtlich der Frage von Interesse ist, warum die bürgerliche Gesellschaft zum Untergang verurteilt ist und es zur Revolution kommen muss, ist Marx tatsächlich kein Gesellschaftstheoretiker, sondern ein Geschichtsphilosoph (ebd.: 40). Genau dieser Aspekt fasziniert Bude allerdings und er lässt es sich nicht nehmen, dessen geheimnisvolle Wirkungsmächtigkeit anzurufen, wenn er mit Jacques Derrida betont, Marx’ Gespenster würden keine Ruhe geben, und sein Essay mit dem Satz aus dem Kommunistischen Manifest schließt, den diese Gespenster uns zuzuflüstern scheinen: »Proletarier aller Länder vereinigt Euch!« (Ebd.: 44)
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SOZIOLOGISCH LESEN
In den soziologischen Wörter- und Handbüchern kristiallisieren sich die fachspezifischen, vorherrschenden Umgangsweisen mit Karl Marx und Interpretationen seines Hauptwerks klar heraus. Meine Ausgangsbeobachtung einer Paradoxie der soziologischen Kapitaltheorie – eine Proliferation von BindestrichKapitalien ohne Kapitalbegriff im eigentlichen Sinne des Wortes – muss im Zusammenhang damit gesehen werden, wie das Marx’sche Kapital in der Soziologie kaum oder einseitig rezipiert wurde. Wir haben gesehen, dass die soziologische Rezeption in der Regel andere Schriften von Marx dem Kapital vorzieht und der Zugang zu dessen gesellschaftstheoretischen Grundgedanken verstellt bleibt, weil darin in erster Linie eine ökonomische Theorie am Werk gesehen wird oder die Auseinandersetzungen mit Fragen der politischen Theorie, der Klassenanalyse usw. dazu führen, im Kapital nichts weiter als eine Fortsetzung früherer Texte von Marx (und Engels) zu sehen. Jedenfalls werden selbst in den besten der hier betrachteten Wörterbuch- und Handbuchbeiträge der Marx’sche Kapitalbegriff und dessen gesellschaftstheoretische Tragweite kaum erkennbar. Damit liegt ohne Zweifel ein soziologisches Potenzial brach, zu dessen Erschließung und Bearbeitung diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte. Ich folge dabei nicht Budes Frage, wie es mit Marx insgesamt weitergehen soll, sondern beschränke mich auf die weitaus bescheidenere Problemstellung, wie es zur Herausbildung der soziologischen Kapitaltheorien gekommen ist und wie diese mit Bezug auf das Marx’sche Hauptwerk kritisiert und vielleicht neu formuliert werden können. Zu dem Zweck skizziere ich im folgenden Kapitel einen Zugang zum Kapital, der sich von den kanonischen Lesarten befreit und mir soziologisch produktiv erscheint. Es geht nicht um die Rekonstruktion eines wahren oder ganzen Marx anstelle eines halbierten Marx (Bude). Ein solches Vorhaben wäre angesichts des unvollendeten Charakters des Kapitals zum
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Scheitern verurteilt und würde eine Haltung fördern, die mehr an Marx glauben – oder nicht (mehr) glauben – will, statt dessen Schriften kritisch zu reflektieren und ausgehend davon weiter zu denken. Das Ziel ist Verarbeitung Marx’scher Theorie, um die soziologische Theorie in Bezug auf ein Problem voran zu bringen, an dem sich die Dominanz der Ökonomie im sozialwissenschaftlichen Feld ebenso zeigt wie die Blindheit der Soziologie für diese »Religion des Alltagslebens«, von der Marx ([1894] 1964, 838) schrieb. So schließe ich dieses erste Kapitel mit folgendem Aufruf: Soziologinnen und Soziologen aller Länder, lest das Kapital durch eine neue Brille und mit euren eigenen Fragestellungen! Ihr habt nichts zu verlieren als einige Glaubenssätze, die der kanonischen Rezeption entstammen, und dies ist nur für diejenigen ein Verlust, die einem dogmatischen Marxismus oder nicht weniger dogmatischen Antimarxismus folgen möchten. Dass ihr eine Welt zu gewinnen habt, kann ich nicht mit Sicherheit versprechen, aber ihr werdet einen reichen Fundus an Möglichkeiten vorfinden, um eure soziologische Kreativität zu regenerieren, wie es Hans Jürgen Krysmanski (in Oesterdiekhoff 2001: 454-455) so treffend formuliert hat. Und dies kann helfen, die Autonomie der Soziologie als kritische Wissenschaft der Gesellschaft zu stärken.
II. Ein anderer Marx
Für Henri Lefèbvre (1972: 22) war Karl Marx kein Soziologe, aber »sein Werk enthält eine Soziologie«. Der Verfasser des Kapitals habe das Politische wie das Ökonomische im Kern als gesellschaftliche Formen aufgefasst. Um Politik und Ökonomie zu verstehen, ging er nicht von einer abstrakten Idee oder einem Prinzip aus, wie es in der Ökonomie und in den Politikwissenschaften üblich sei, sondern von einer Analyse der Gesellschaft, die eben diese besonderen Formen hervorbringt und als eigenständige Sphären erscheinen und funktionieren lässt. Im Zentrum einer von Marx inspirierten Soziologie steht für Lefèbvre die Frage nach dem paradoxen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit der Menschen und den Produkten dieser Tätigkeit. Marx habe gezeigt, wie in der bürgerlichen Gesellschaft die Produkte der menschlichen Tätigkeiten einen abstrakten Charakter erlangen, eine eigentümliche Form, die sich den Menschen aufdrängt und ihre Praxis beherrscht (ebd.: 11). Um ihren kritischen Charakter zu entfalten, dürfe eine solche Soziologie die Verdinglichung, diese Determination der Praxis durch gesellschaftliche Formen, jedoch nicht absolut setzen (ebd.: 42-43). Diesen Praxisbegriff, den Lefèbvre ins Zentrum stellt, hat Marx vor allem in seinen Frühschriften entwickelt, die sich kritisch zur deutschen Philosophie stellten. Er kulminiert in den Thesen über Feuerbach. Doch räumt Lefèbvre ein, Marx habe diesen Begriff nicht hinreichend genau bestimmt, er sei durch eine »Soziologie der Bedürfnisse, der Gegenstände, des Bewusstseins, des alltäglichen und politischen Lebens usw.« weiter zu schärfen (ebd.: 34). Es ist sinnvoll, den Hinweis von Lefèbvre in Erinnerung zu halten, wenn wir uns der Lektüre des Marx’schen Hauptwerks widmen. Wer Das Kapital liest, wird dieses Problem der Praxis kaum auf Anhieb erkennen. Es steckt dort gewissermaßen zwischen den Zeilen und kann nur durch eine Lektüre fassbar gemacht werden, die fragt, was Marx in der Darstellung jeweils voraussetzt – und deshalb nicht sagt – und welches Erkenntnisinteresse er verfolgt. Im Hauptwerk hat Marx seine Aufmerksamkeit vor allem auf diese gesellschaftlichen Formen ge-
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legt, welche die Praxis beherrschen. Das Kapital enthält deshalb mehr Systemanalyse und Formtheorie als Praxisforschung. Aber die Marx’sche Theorie der Wertformen, auf die ich in der Folge eingehen werde, macht für ihn wie für jede Soziologie, welche die Menschen nicht auf hilflose Objekte gesellschaftlicher Strukturen reduziert, in der Tat nur Sinn, wenn sie auf deren alltägliche Lebenspraxis bezogen wird. Der Fokus auf Das Kapital, den ich in dieser Arbeit setze, ergibt sich aus meiner spezifischen Fragestellung, die sich mit Kapitaltheorien in der Soziologie beschäftigt. In keiner Weise soll damit gesagt sein, frühere Schriften von Marx seien soziologisch nicht relevant oder der reife habe mit dem jungen Marx nichts zu tun. Das Praxisproblem ist gerade ein Beispiel, wie seine verschiedenen Kritikprogramme – Kritik der deutschen Philosophie, des utopischen Frühsozialismus und der Politischen Ökonomie – ineinander greifen. Es ist dieses hartnäckige Beharren auf der Kritik, die dem gesamten Werk einen roten Faden gibt. Diese Kritik nimmt sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch deren Darstellung in vorherrschenden Sichtweisen ins Visier und entwickelt damit zugleich eine kritische Reflexion des alltäglichen sowie des wissenschaftlichen Denkens als Formen gesellschaftlicher Praxis. In diesem Kapitel gehe ich zunächst auf einige Schwierigkeiten ein, mit denen sich eine soziologische Lektüre des Kapitals unweigerlich konfrontiert sieht. Neben der politischen Polarisierung des Marx’schen Werks sind insbesondere sein Wissenschaftsverständnis sowie der unvollendete Charakter des Hauptwerks in dieser Hinsicht zu thematisieren. Daraufhin umreiße ich jene theoretischen Elemente des Marx’schen Hauptwerks, die ich ins Zentrum einer soziologischen Lektüre stellen möchte. Schließlich bestimme ich den Kapitalbegriff von Marx genauer, um ihn als Instrument der Kritik von soziologischen wie ökonomischen Kapitaltheorien verwendbar zu machen. Die Wahl der Überschrift dieses Kapitels ist eine Hommage an den heterdoxen Marxisten und Soziologen Jean-Marie Vincent (2001), dessen Buch mit demselben Titel mir vor einigen Jahren erstmals ermöglichte, Marx und das Das Kapital anders zu interpretieren, als es mir aus dem Studium und politischen Diskussionen vertraut war. In keiner Weise will ich mir der Überschrift – ein anderer Marx – hingegen den Anspruch verbinden, das gesamte Werk umfassend zu charakterisieren.
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Es gibt zweifellos eine Reihe von Faktoren, die eine sinnvolle Rezeption des Marx’schen Hauptwerks in der Soziologie schwierig oder lange Zeit beinahe unmöglich gemacht haben. Im Sinne von Pierre Bourdieu (1998a) gibt es wohl
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gute Gründe zu denken, die wesentlichen Hindernisse seien nicht nur – oder nicht einmal in erster Linie – im Charakter und Inhalt des Kapitals selbst, sondern in den Konstellationen und Kämpfen auf dem wissenschaftlichen Feld sowie in dessen Beziehungen zum politischen Feld zu suchen. Eine Art Stellungskrieg zwischen den Anhängern der »offenen Gesellschaft und ihren Feinden«, um es in der Formel von Karl R. Popper (2003) zu fassen, hat lange Zeit einen Teil der soziologischen Diskussion beherrscht und stellvertretende Auseinandersetzungen im wissenschaftlichen Feld produziert, deren Logik wesentlich durch die Denkkategorien des Kalten Kriegs bestimmt war. Die kurze Besprechung der Einträge in einschlägigen soziologischen Hand- und Einführungsbüchern im vorhergehenden Kapitel hat angedeutet, dass in diesen Stellvertretungskämpfen insofern eine theoretische Komplizenschaft zwischen den beiden Lagern existierte, als affirmative wie kritische Kommentare, das heißt Marxismus wie Antimarxismus sich nicht selten auf ähnliche oder sogar dieselben kanonischen Lesarten von Marx bezogen haben. Zum Beispiel war es in beiden Lagern üblich, Das Kapital als abgeschlossenes ökonomisches Werk zu betrachten, entweder um eine überlegene marxistische Ökonomie zu proklamieren, oder das Scheitern des Marx’schen Vorhabens an Kriterien der modernen Wirtschaftswissenschaften zu demonstrieren. Die im marxistischen Lager entwickelte Vorstellung des Marxismus als einer der bürgerlichen Wissenschaft überlegenen Wissenschaft für sich – darauf komme ich im vierten Kapitel dieser Arbeit zurück – stand einer ernsthaften wie kritischen Rezeption des Werks vielleicht nicht weniger im Weg als die antimarxistische Reduktion von Marx auf einen messianischen Revolutionär ohne wissenschaftliche Qualitäten. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht aber nicht die Rezeptionsgeschichte des Kapitals, sondern der Versuch, Elemente für eine soziologische Lesart des Marx’schen Hauptwerks zu skizzieren, die mit den üblichen Interpretationen bricht und Instrumente für eine Kritik der soziologischen Kapitaltheorien bereit stellt. In dieser Hinsicht ist es wichtig, zwei besondere Zugangsschwierigkeiten zum Kapital anzusprechen, die in der Tat mit dessen Charakter und Inhalt verbunden sind: das Wissenschaftsverständnis von Marx sowie der unvollendete Charakter seines Hauptwerks. Zum Wissenschaftsverständnis: Nicht nur war es Karl Marx fremd, sein Denken am Kanon einzelner akademischer Disziplinen zu orientieren, wie es heute üblich ist. Der Verfasser des Kapitals hat keine akademische Karriere absolviert, das wäre nur schon aus politischen Gründen unmöglich gewesen. Zu seiner Zeit befand sich zudem die Aufteilung des wissenschaftlichen Feldes in zahlreche unterschiedliche Disziplinen und Teildisziplinen noch in einem rudimentären Zustand. Es wird oft vergessen, dass auch die Gründerväter der Soziologie, wie Auguste Comte oder Max Weber, von ihrer Ausbildung
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her keine Soziologen waren: Soziologie konnte ja noch gar nicht studiert werden und es ging erst darum, sie als akademisch anerkannte Wissenschaft zu etablieren. Dies erklärt aber nur einen Teil der Aussage von Lefèbvre, Marx sei kein Soziologe gewesen, aber sein Werk enthalte eine Soziologie. Wenn Ralf Dahrendorf (2000: 71) vermerkt, Marx repräsentiere mehr als andere Klassiker der Soziologie »die Einheit der Sozialwissenschaften«, so müssen wir vor Augen halten, dass es Mitte des 19. Jahrhunderts nicht außergewöhnlich war, Philosoph und Naturwissenschafter in einem zu sein, oder Ökonom, Jurist und Soziologe am Beginn des 20. Jahrhundert. Damit ist das Besondere des Marx’schen Wissenschaftsverständnisses aber nich nicht erfasst. Vieles spricht dafür zu denken, es sei dem Verfasser des Kapitals weniger darum gegangen, ein neues wissenschaftliches Paradigma zu etablieren, als verschiedene theoretische Quellen und empirische Studien und Beobachtungen zu nutzen, um vorherrschende wissenschaftliche Theorien zu kritisieren und die Waffen der Kritik, die er gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus richten wollte, zu schärfen. Dieses hartnäckige Beharren auf der Kritik zielt in eine andere Richtung als jeder Versuch, ein theoretisches System zu vollenden. Weil die Kritik nicht zur Ruhe kommt, so lange ihr Gegenstand – das Kapital als vorherrschende Kraft des sozialen Lebens – besteht und sich weiter entwickelt, handelt es sich bei den gewonnenen Konzepten und Erkenntnissen stets nur um provisorische Ergebnisse, die weniger theoretisch stabilisiert als in Konfrontation mit neuen Beobachtungen und Überlegungen weiter entwickelt werden sollen. Der Versuch, das Marx’sche Werk einem der heute etablierten erkenntnistheoretischen Paradigmen (Empirismus, Positivismus, kritischer Realismus und Pragmatismus) zuzuordnen, wie es Gregor McLellan (2006) im Handbook of Social Theory tut, ist vor dem Hintergrund ein sehr schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen. Ziel führender erscheint die Beobachtung von Daniel Bensaïd (1995a: 227ff.), Marx habe aus verschiedenen Paradigmen das Beste aufgreifen wollen, um seine Kritik der Politischen Ökonomie voranzutreiben. Vor allem sei sein Werk geprägt durch eine Spannung zwischen der modernen (englischen) Ökonomie und den aufkommenden Naturwissenschaften auf der einen und einer von Leibniz, Goethe oder Hegel geprägten »deutschen Wissenschaft« auf der anderen Seite. Bensaïd betont, gerade dieses »nicht überwundene Dilemma«, das heißt der mehr oder weniger bewusste Verzicht, sich für das eine Paradigma zu entscheiden (oder beide durch ein eigenes zu ersetzen und dieses theoretisch zu stabilisieren), habe sich im Marx’schen Werk als fruchtbar erwiesen. Den an heutigen akademischen Standards geschulten Leserinnen und Lesern macht es diese Haltung von Marx aber nicht einfach, einen Zugang zum Werk
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zu finden. Auf der Suche nach Definitionen der Marx’schen Begriffe werden sie zum Beispiel immer wieder enttäuscht, da Marx kaum definitorisch vorgeht, sondern durch schrittweise Bestimmung des untersuchten Phänomens versucht, sich der konkreten Realität anzunähern. Im Gegensatz etwa zu Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft – dieses Werk hat im deutschen Sprachraum die Art und Weise Jahrzehnte lang geprägt, wie Studierende sich der Soziologie annähern – trägt der Verfasser des Kapitals keine Definitionen vor, die rasch einmal (scheinbare) Gewissheit verbürgen, was mit dem einen oder anderen Begriff denn nun gemeint ist. Der Verzicht auf die statische und eine Reflexion abschließende Logik der Definition zu Gunsten des dynamischen Verfahrens sukzessiver Bestimmungen entspringt einem vor allem durch Hegel geprägten Wissenschaftsverständnis, welches Marx in anderer Hinsicht – wegen dessen Idealismus – kritisiert hat, ohne es in Bausch und Bogen zu verwerfen. Die Bestimmung eines Phänomens, das zum Gegenstand der Analyse gemacht wird, beruht bei Marx stets darauf, dieses nicht für sich allein zu betrachten, sondern sich ihm mit Blick auf die dynamische Totalität zu nähern, zu der es gehört und die es wesentlich prägt (Bensaïd 1995a: 275-280). Was Marx zum Beispiel zu Beginn des Kapitals über die Ware sagt, ist eine erste Annäherung an ein Phänomen, dessen vertiefte Analyse ein Verständnis der gesamten kapitalistischen Produktionsweise voraussetzt. Eine zweite Zugangsschwierigkeit bezieht sich auf die bekannte Tatsache, dass das Kapital ein unvollendetes Werk geblieben ist. Doch über die Feststellung hinaus, Marx habe nur den ersten Band abgeschlossen und publiziert, während Engels sich nach seinem Tod um die Veröffentlichung des zweiten und dritten Bandes gekümmert habe, ist es wichtig sich Klarheit zu verschaffen, in welchem Sinne von einem unvollendeten Werk die Rede sein muss. Dank den Arbeiten an der neuen Gesamtausgabe der Schriften von Marx und Engels (MEGA) kann diese Frage heute weitaus präziser beantwortet werden als jemals zuvor. Dabei zeigt es sich, dass weit verbreitete Einschätzungen wie die von Oskar Negt (1998: 56), Marx habe sein »Programm der Kapital-Analyse« weitgehend erfüllt, an der Realität vorbei zielen. Dieses Bild des inhaltlich abgeschlossenen Werks, das nach dem Tod des Verfassers nur redaktionell bearbeitet werden musste, hat bereits Friedrich Engels in seinen Vorworten zum zweiten und dritten Band gezeichnet. Es wurde im orthodoxen Marxismus dankbar aufgenommen und auch durch die antimarxistische Kritik kaum hinterfragt. Dieses Bild lässt sich heute nicht mehr rechtfertigen. Das Problem beginnt bereits mit der Frage, was Marx mit seinem Kapital eigentlich vorhatte. Nicht nur diesbezüglich haben Erklärungen der Protagonisten – Marx und Engels – ganze Generationen von Lesern in die Irre geführt.
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Karl Marx ([1859] 1961: 7) hat 1859 in seinem berühmten Vorwort des Hefts Zur Kritik der Politischen Ökonomie eine Abhandlung zum »System der bürgerlichen Ökonomie« in sechs Bänden angekündigt: dem Kapital, dem Grundeigentum, der Lohnarbeit, dem Staat, dem auswärtigen Handel und dem Weltmarkt werde er je ein Buch widmen. Das vorliegende, im Jahr 1859 veröffentlichte Heft sei nur ein Teil des ersten Bandes über das Kapital. Dieser Plan in sechs Bänden ist bereits in den Grundrissen zu finden, die Marx 1857-58 niederschrieb. Bis heute wird die Frage nach dem unvollendeten Charakter des Marx’schen Spätwerks teilweise an diesem Plan gemessen, der niemals umgesetzt wurde – so zum Beispiel in der Publikation von Kössler und Wienold (2001: 23) zum Gesellschaftsbegriff von Marx. Als erster hat jedoch bereits Roman Rosdolsky (1968) darauf hingewiesen, dass der Verfasser des Kapitals diesen Sechs-Bücher-Plan nach der Niederschrift eines umfangreichen Manuskripts von kritischen Anmerkungen zu verschiedenen Ökonomen – die durch Karl Kautsky publizierten Theorien über den Mehrwert sind nur ein Teil davon – in den Jahren 1861-63 aufgegeben hat. Marx entwarf im Stillen einen neuen Plan in vier Bänden: Das erste Buch sollte den Produktionsprozess des Kapitals analysieren, das zweite den Zirkulationsprozess, das dritte den Gesamtprozess, und in einem vierten Buch wollte Marx die Geschichte der ökonomischen Theorie behandeln. Wie Daniel Bensaïd (1995b: 16-20) hervorhebt, kann diese Ersetzung des ersten Plans als das Ergebnis eines Erkenntnisfortschritts verstanden werden, den Marx durch erneutes Studium der ökonomischen Theorien erzielt hatte. Der neue Plan zieht auf der Ebene der Gliederung die Konsequenz daraus, dass der Verfasser des Kapitals sich von der ökonomischen Theorie der Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit und Boden) gelöst hatte und daran war, das Kapital als die übergreifende Kraft der untersuchten Produktionsweise zu bestimmen. »Dans un mode de production dont le capital est l’esprit et le corps, te travail et la terre deviennent ses fonctions. Ils ne font plus l’objet de livres spécifiques.« 1 (Ebd.: 18) Ähnlich kann der Verzicht auf die Bücher zum auswärtigen Handel und Weltmarkt so interpretiert werden, dass Marx sich vom üblichen Denkhorizont der Politischen Ökonomie distanzierte, die in Kategorien von nationalen Volkswirtschaften operierte, obwohl sich der Kapitalismus von Anfang an als internationales Phänomen entwickelt hat. Schwieriger zu erklären scheint auf den ersten Blick der Verzicht auf das Buch über den Staat. Eine aufmerksame Lektüre des
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»In einer Produktionsweise, deren Geist und Körper das Kapital ist, werden die Arbeit und der Boden zu dessen Funktionen. Ihnen werden keine besonderen Bücher mehr gewidmet.«
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Kapitals zeigt jedoch, dass die Existenz und Aktion des Staats mitgedacht ist – im ersten Band taucht er zum Beispiel in den Kapiteln zur Dauer des Arbeitstags und zur ursprünglichen Akkumulation explizit als Akteur auf. Tran Hai Hac (2003) hat ausführlich argumentiert, wie Marx die Rolle des Staates in der kapitalistischen Produktionsweise in seiner Analyse berücksichtigt hat, ohne diese in der Regel zum Thema zu machen. Wenn wir diesen neuen Plan als Bezugspunkt nehmen, entsprechen die drei bekannten Bände des Kapitals im Wesentlichen drei Vierteln des Marx’schen Vorhabens. Hingegen ist mit der neuen MEGA klar geworden, dass es vom vierten Buch nicht einmal einen richtigen Entwurf gibt: Die Theorien über den Mehrwert, die teilweise als vierter Band des Kapitals bezeichnet wurden, können nicht als Darstellung der Geschichte der ökonomischen Theorien gelten. Zwar lassen sich die drei bekannten Bände als eine Einheit betrachten, deren Teile in gut nachvollziehbarer Weise aufeinander aufbauen. Aber es ist nun ersichtlich geworden, dass die editorische Arbeit von Friedrich Engels am zweiten und dritten Band sich keineswegs auf die rein redaktionelle Bearbeitung eines inhaltlich abgeschlossenen Manuskripts beschränkte. Die an der MEGA beteiligten Spezialisten sprechen eine deutliche Sprache. So hält Rolf Hecker (2009: 25) mit Bezug auf den zweiten Band fest, Marx habe zu zahlreichen Fragen im Manuskript nur erste Gedanken formuliert, ohne zu einer Schlussfolgerung zu kommen, und Engels habe dieses Problem einfach verschwiegen. Zu ähnlichen Schlüssen kommt Regina Roth (2009) mit Blick auf den dritten Band des Kapitals. Marx habe praktisch bis zu seinem Tod das kritische Studium der Politischen Ökonomie weitergeführt, ohne es abzuschließen. Insbesondere habe er begonnen, sich sehr für die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Russland zu interessieren und Literatur aus den Agrarwissenschaften zu lesen. Michael Heinrich (2009) lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass die publizierten Bände unterschiedlichen Überarbeitungsstadien der Originalmanuskripte von Marx entsprechen. Am wenigsten ausgereift ist der dritte Band des Kapitals, der auf einer Niederschrift aus den Jahren 1864-65 beruht. Der zweite Band stützt sich auf Manuskripte aus den Jahren 1868-81. Doch selbst den ersten Band wollte Marx nochmals grundlegend überarbeiten. Für Michael Heinrich (2011: 191) hat sich Das Kapital deshalb »als zwar nur unvollständig vorliegendes, aber im Prinzip abgeschlossenes Werk« vor Marx’ Tod »aufgelöst«: Er habe sein Projekt so ausgedehnt, »dass es von einer Einzelperson nicht mehr zu bewältigen ist. […] Was Marx hier hinterlassen hat, ist weniger ein Werk als ein Forschungsprogramm, dessen riesige Umrisse erst jetzt durch die MEGA sichtbar werden.«
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Es ist nicht übertrieben, Das Kapital in den bekannten drei Bänden als editorischen Artefakt zu bezeichnen (Heinrich 2009: 89) – ähnlich wie Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft. Natürlich ist es kein Zufall, dass die kanonische Rezeption in beiden Fällen kaum jemals ihre Aufmerksamkeit diesem Problem widmete. Die erste Interpretation der unvollendeten Marx’schen Manuskripte hat Friedrich Engels selbst vorgenommen, indem er verschiedene Teile arrangierte und andere weg ließ, Titel, Kommentare oder Fussnoten setzte, zahlreiche Sätze umformulierte und das Kapital in den Vorworten zum zweiten und dritten Band als ein inhaltlich abgeschlossenes Werk darstellte. Dabei versuchte er dem Erwartungshorizont aus politischen Kreisen der Arbeiterbewegung gerecht zu werden und die wissenschaftliche Reputation von Marx zu steigern (Roth 2009: 41). Zugleich nutzte er seine herausragende Rolle bei der Weitergabe der Marx’schen Hinterlassenschaft, um seine eigenen Theorien zu formulieren und popularisieren, die sich nicht immer mit den Ansichten von Marx deckten, wie Jean-Marie Vincent (2001: 82-88) festhält. Es kann etwa nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass Konzepte wie die Dialektik der Natur oder der Wissenschaftliche Sozialismus, die zu zentralen Glaubenssätzen des orthodoxen Marxismus geworden sind, der kritischen Reflexion von Marx stand gehalten hätten. Ich komme im vierten Kapitel dieser Arbeit auf Engels’ Vorworte zu sprechen, die Jahrzehnte lang wie ein Fluch auf der Lektüre des Kapitals lasteten. Die neue MEGA zeigt, dass wir das Kapital auch in theoretischer Hinsicht als unvollendetes und nicht immer eindeutiges Werk betrachten müssen. Nicht nur hat Marx die Zeit gefehlt, um gewisse Probleme abschließend zu bearbeiten, wie die Verwandlung der Werte in Preise oder die Fragen zur Grundrente – zwei Themen aus dem dritten Band des Kapitals, die ganze Generationen marxistischer Ökonomen beschäftigten. Der unvollendete Charakter ist auch nicht allein auf das Marx’sche Wissenschaftsverständnis zurückzuführen, das die permanente Weiterführung der Kritik an einem sich wandelnden Gegenstand gegenüber der Stabilisierung eines theoretischen Systems privilegiert. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass es Marx nicht immer gelungen ist, den Bruch mit der kritisierten Politischen Ökonomie stets aufrecht zu erhalten und voran zu treiben. Vielmehr lassen sich im Kapital auch Abschnitte finden, in denen die Argumentation in eine ökonomische Sichtweise zurückfällt und Karl Marx vom Kritiker der Politischen Ökonomie wieder zum Ökonomen wird, der sich an denselben Fragen die Zähne ausbeißt wie ein Smith, Ricardo oder Say. Wie Michael Heinrich (2009: 90) betont, kommt es in der Wissenschaftsgeschichte niemals zu Revolutionen, die von einer Person vollständig und fehlerlos durchgeführt werden. Diese Beobachtung gilt auch für den Verfasser des Kapitals, der sich ohne Zweifel eine wissenschaftliche Revolution zum Ziel gesetzt hatte. Seine Kritik der
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Politischen Ökonomie »zielt darauf ab, das theoretische Feld (d.h. die ganz selbstverständlichen Anschauungen und spontan sich ergebenden Vorstellungen) aufzulösen, dem die Kategorien der politischen Ökonomie ihre scheinbare Plausibilität verdanken« (Heinrich 2004: 32). Es ging für Marx darum, nicht nur einzelne Aspekte der ökonomischen Theorien zu kritisieren, sondern den gemeinsamen Nenner von deren elementaren Denkmustern in Frage zu stellen, diese »imaginäre Anthropologie«, von der Pierre Bourdieu (2002: 223-226) spricht. Für Heinrich (2009: 90) ziehen sich durch das Kapital denn auch zwei theoretische Diskurse, die oft nicht klar getrennt sind: eine substantialistische und naturalistische Werttheorie, die in Kategorien der ökonomischen Arbeitwertlehre denkt, auch wenn Marx dabei in verschiedenen Punkten über die Klassiker der Politischen Ökonomie hinaus geht; und eine gesellschaftliche und monetäre Werttheorie, die einen Bruch mit dem etablierten wissenschaftlichen Paradigma darstellt. Jean-Marie Vincent (2001: 95ff.) und Tran Hai Hac (2003) sehen ebenfalls beide Dimensionen: Marx war ein herausragender Kritiker des Ökonomismus der klassischen Volkswirtschaftslehre, blieb aber den ökonomistischen Verlockungen ausgesetzt und hat es nicht immer geschafft, diesen zu widerstehen. Über einzelne Abschnitte hinaus, in denen dieses Problem besonders deutlich erkennbar wird (so etwa beim berühmten tendenziellen Fall der Profitrate im dritten Band, oder bei den Reproduktionsschemata im zweiten Band des Kapitals), können wir auch die Frage stellen, ob nicht im ungeklärten erkenntnistheoretischen Status der im Kapital immer wiederkehrenden Rechenbeispiele dieselbe Ambivalenz steckt. Insofern der Eindruck entsteht, die Prozesse der kapitalistischen Produktionsweise ließen sich ausgehend von isolierten Waren- und Kapitalwerten mathematisch berechnen, tritt die für eine grundlegende Kritik der politischen Ökonomie entscheidende Erkenntnis in den Hintergrund, dass das Wertgesetz, von dem Marx spricht, ein gesellschaftlichen Gesetz ist. Entgegen den Verheißungen einer mathematischen Soziologie – die erst ein Jahrhundert nach Marx durch James S. Coleman (1964) in den Grundzügen entworfen wurde, das heißt durch einen der führenden Sozialkapitaltheoretiker der Gegenwart – lässt sich die Gesellschaft eben aus keiner mathematischen Formel erklären. Mathematische Modelle können nur empirische Daten modellisieren. Wer das Modell mit der Realität verwechselt, begeht denselben Fehler wie Hegel, dem Marx ([1843] 1976: 216) in der Kritik des Staatsrechts vorwarf, die »Sache der Logik« für die »Logik der Sache« zu halten. Die Mathematik, so lässt sich in Abwandlung der Marx’schen Hegelkritik sagen, dient dann nur scheinbar zur Erklärung der Gesellschaft; eher muss die Gesellschaft als Beweis für eine mathematische Formel herhalten.
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Der unvollendete Charakter des Marx’schen Hauptwerks und die theoretischen Ambivalenzen im Kapital stellen für den Versuch, die soziologische Theoriebildung anzuregen und eine der heutigen Zeit angemessene Ökonomiekritik und Kapitaltheorie zu formulieren, kein Unglück dar. Wir können die Texte von Marx als eine Baustelle betrachten, an der weiter gearbeitet werden kann. Dabei müssen wir uns der Frage vergewissern, was sich am Gegenstand der Kritik seither verändert hat und was grundsätzlich gleich geblieben ist. Wenn wir aus dem Kapital das Beste herausholen wollen, was es der Soziologie darbietet, ist es gerechtfertigt, das Augenmerk vor allem auf den Bruch mit dem theoretischen Feld der Ökonomie zu legen, sowie auf die gesellschaftstheoretischen Erkenntnisse und Begriffe, die daraus entstanden sind. Der gelegentliche Rückfall von Marx in ökonomische Sichtweisen sollte dennoch nicht einfach ignoriert werden, weil er Schwierigkeiten zum Ausdruck bringt, mit denen zweifellos auch wir heute konfrontiert sind, wenn es darum geht, die kapitalistische Gesellschaft soziologisch zu untersuchen. Teilweise kann Marx dann mit Marx kritisiert werden (wie oben mit Bezug auf die Hegelkritik angedeutet), aber in anderen Punkten führt kein Weg daran vorbei, »über Marx hinaus« zu denken – so der Titel eines aktuellen Sammelbands (van der Linden et al. 2009), der sich aber mehr mit der Arbeit als mit dem Kapital beschäftigt und in der vorliegenden Arbeit deshalb nicht weiter zur Sprache kommt. Wir können uns jedenfalls Pierre Bourdieus (2000: 120) Credo zum Umgang mit den Theorien und Begriffen der soziologischen Klassiker zum Programm machen: »Natürlich muss man mit diesen Dingen behutsam umgehen, aber ohne eine respektvolle Freiheit gegenüber solchen Konzepten bewegt sich nichts.«
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SOZIOLOGISCHEN
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Was kann die Soziologie aus der Kritik der Marx’schen politischen Ökonomie aufgreifen und für die soziologische Kapitaltheorie nutzbar machen? Ich spreche folgende Aspekte an, bevor ich den Marx’schen Kapitalbegriff genauer zu bestimmen versuche: (1) die Entnaturalisierung der Ökonomie, die es als historisches und gesellschaftliches Phänomen zu erfassen gilt; (2) die Theorie der gesellschaftlichen Wertformen, die einen grundlegenden Bruch mit jeder ökonomischen Arbeitswertlehre markiert; (3) das Verhältnis zwischen dem inneren (oder esoterischen) und dem erscheinenden (exoterischen) Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise, das bei Marx im Übergang von der Ideologiekritik zum Fetischtheorem problematisiert ist; (4) die kritische Reflexion des Verhält-
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nisses zwischen Alltagswissen und wissenschaftlicher Theorie, die für die Soziologie ebenso relevant ist wie für die Ökonomie, da beide Wissenschaften sich ja mit Phänomenen beschäftigen, über die alle Mitglieder der Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad Bescheid zu wissen glauben. Diese vier Aspekte sollte eine soziologische Kapital-Lektüre ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen. Kritik der Naturalisierung Von Anbeginn seiner Auseinandersetzung mit den Klassikern der ökonomischen Theorie hat Marx gegen die Haltung polemisiert, die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus und die damit einhergehenden Kategorien als gegeben und natürlich zu betrachten. In dieser Hinsicht lässt sich sein Werk als Pionierleistung der Kritik an Diskursen der Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse betrachten. Bereits in der gegen Pierre-Joseph Proudhon gerichteten Schrift über das Elend der Philosophie von 1847 ist etwa die folgende Passage zu finden, welche die Bedeutung der Geschichte für die Analyse der Ökonomie hervorhebt: »Die Ökonomen verfahren auf eine sonderbare Art. Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche und natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die der Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von Religionen unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung der Menschen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist. Wenn die Ökonomen sagen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse – die Verhältnisse der bürgerlichen Produktion – natürliche sind, so geben sie damit zu verstehen, dass es Verhältnisse sind, in denen die Erzeugung des Reichtums und die Entwicklung der Produktivkräfte sich gemäß den Naturgesetzen vollziehen. Somit sind diese Verhältnisse selbst von dem Einfluss der Zeit unabhängige Naturgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben. Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr; es hat eine Geschichte gegeben, weil feudale Einrichtungen bestanden haben und weil man in diesen feudalen Einrichtungen Produktionsverhältnisse findet, vollständig verschieden von denen der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Ökonomen als natürliche und demgemäß ewige angesehen wissen wollen.« (Marx [1847] 1972: 139-140)
Marx hält gegen die Klassiker der Ökonomie fest, dass die kapitalistische Produktion nicht auf natürlichen, sondern auf historisch spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen beruht. Von Interesse ist darüber hinaus die Art und Weise, wie er gegen die Ökonomen polemisiert. Wir werden sehen, dass die Analogie zwischen der Religions- und Ökonomiekritik bis ins Marx’sche Hauptwerk trägt
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und im dritten Band des Kapitals kulminiert. Die kanonischen Rezeptionsweisen haben diesen wichtigen Gedanken weitgehend ignoriert, obwohl er durch Marx immer wieder ausgesprochen wird, zum Beispiel im Kapitel über die »so genannte ursprüngliche Akkumulation« im ersten Band des Kapitals, in dem der historische Prozess der Entstehung kapitalistischer Klassenverhältnisse am Beispiel Englands beschrieben wird. Die Herausbildung der der kapitalistischen Produktion zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die Genese der zwei sozialen Klassen von »freien Arbeitern« und »Kapitalisten« und der diese beiden – sowie alle anderen – Klassen erfassenden Produktionsund Herrschaftsverhältnisse, beschreibt Marx als Ergebnis politischer Kämpfe, in denen der Staat eine zentrale Rolle spielt (etwa durch Erlass von Gesetzen zur Kommerzialisierung des Gemeindelands (enclosures), die unzähligen Menschen die Existenzgrundlage raubten und die Konzentration des Reichtums von Grundeigentümern und Unternehmern förderten), wogegen die Ökonomen eine der Legende vom theologischen Sündenfall ähnliche Erklärung anbieten: »In einer längst verflossnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden sei, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, dass die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten.« (Marx [1873] 1962: 741-742)
In der Marx’schen Entnaturalisierung der Ökonomie erscheint eine bestimmte, historische Gesellschaftsformation als Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise, als dynamische Totalität, in der diese erst entstehen und sich ausbreiten kann, bis das Kapital selbst zur bestimmenden Kraft der Gesellschaft wird. Die Kreisläufe und Metamorphosen des Kapitals, dessen erweiterte Reproduktion setzt die Dominanz besonderer gesellschaftlicher Formen und Verhältnisse voraus, das heißt besondere Weisen, wie einzelne Menschen, soziale Klassen, Geschlechtergruppen etc. zueinander stehen und sich zueinander verhalten. Die Verwandlung von Geld in Kapital durch Zusatz eines Mehrwerts könnte nicht auf breiter Basis stattfinden, wenn der »Geldbesitzer« nicht so »glücklich« wäre, auf dem Markt eine besondere Ware zu finden, das Arbeitsvermögen lohnabhängiger Menschen, »deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständli-
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chung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung« (Marx [1873] 1962: 181). Marx fügt an: »Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebenso wenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.« (Ebd. S. 183)
Wenn Marx hier von gesellschaftlicher Produktion spricht, können wir dies zweifach deuten: Zum einen ist die wirtschaftliche Produktion durch und durch gesellschaftlich geprägt; zum anderen steht nicht nur die Produktion von Waren und Profit auf dem Spiel, sondern auch die (Re)Produktion der Gesellschaft, dieser gesellschaftlichen Formen und Verhältnisse, auf denen die Akkumulation des Kapitals beruht. Denn was Marx unter dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation beschreibt, ist nicht ein für allemal abgeschlossen: Die sozialen Klassen und entsprechenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sind selbst im reifen Kapitalismus nicht einfach gegeben, sie werden stets von neuem reproduziert. Marx’ Kritik der politischen Ökonomie beschränkt sich also nicht darauf, den historischen Charakter der kapitalistischen Ökonomie herauszustellen. Darüber hinaus geht es ihm darum zu erklären, dass die Dynamik und die Macht des Kapitals aus bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgehen. Wenn die Grundrente nicht »aus der Erde« wächst, sondern »aus der Gesellschaft« (Marx [1873] 1962: 97), so gilt dasselbe für das Kapital. Oder anders und genauer gesagt, wenn wir den Hinweis von Henri Lefèbvre (1972) zur Bedeutung der Praxis berücksichtigen: Das Kapital bezieht seine ganze Kraft und Wirkung aus dem Alltagshandeln unzähliger Menschen, die in besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen stehen und durch diese in ihrem Wahrnehmen, Denken und praktischen Handeln geprägt sind. Weil die klassische Ökonomie eben diese Verhältnisse als natürliche Begebenheiten betrachtet, das heißt als unabänderliche Zustände, mit denen sich die Menschen wohl oder übel abfinden müssen, zieht Marx eine Parallele zwischen der Religions- und Ökonomiekritik. In seinen Frühschriften hat der Verfasser des Kapitals die Religion als Heiligenschein des menschlichen Jammertals beschrieben (Marx [1844] 1976: 379). Seine Kritik der politischen Ökonomie deutet an, wie eine Wissenschaft zum säkularisierten Heiligenschein einer Produktionsweise wird, deren grundlegende Prinzipien und
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Funktionsweisen sie als so natürlich betrachtet, dass sie den Normalsterblichen als gottgewollt erscheinen müssen. Nichts, wenn nicht die kanonische Gegenüberstellung zweier Klassiker, verbietet es, diesen wichtigen Gedanken von Marx auf Max Webers Theodizee des Glücks (sowie des Unglücks, des Leidens) zu beziehen und darüber nachzudenken, wie die beiden Ansätze fruchtbar in Verbindung gebracht werden könnten: »Der Glückliche begnügt sich selten mit der Tatsache des Besitzes seines Glücks. Er hat darüber hinaus das Bedürfnis: auch noch ein Recht darauf zu haben. Er will überzeugt sein, dass er es auch ›verdiene‹, vor allem: im Vergleich mit anderen verdiene. Und er will also auch glauben dürfen, dass dem minder Glücklichen durch den Nichtbesitz des gleichen Glücks ebenfalls nur geschehe, was ihm zukommt. Das Glück will ›legitim‹ sein. Wenn man unter dem allgemeinen Ausdruck: ›Glück‹ alle Güter der Ehre, der Macht, des Besitzes und Genusses begreift, so ist dies die allgemeinste Formel für jenen Dienst der Legitimierung, welchen die Religion dem äußeren und inneren Interesse aller Herrschenden, Besitzenden, Siegenden, Gesunden, kurz: Glücklichen, zu leisten hatte: die Theodizee des Glückes.« (Weber 1992: 403)
Wer das Kapital durch diese Brille von Max Weber liest, wird darin Tausend Stellen finden, an denen Marx solche Glücksdienste mehr oder weniger im Detail und mit polemischer Feder beschreibt: Nur sind hier nicht Priester und Theologen am Werk, sondern Ökonomen und andere Experten. Theorie der Wertformen Die größte Herausforderung für eine soziologische Lektüre des Kapitals liegt vielleicht in der Schwierigkeit, in der Marx’schen Werttheorie etwas grundsätzlich anderes zu erkennen als eine ökonomische Arbeitswertlehre. Wenn Marx versuchte, das theoretische Feld aufzulösen, auf dem die Ökonomie sich bewegt (Heinrich 2004: 32), so führte dies zu einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses und der Problemstellung im Vergleich zum ökonomischen Denken, die in der Rezeption des Werks kaum oder nur oberflächlich verstanden wurde. Dies hat sich beim Studium der soziologischen Wörter- und Handbücher gezeigt, die sich meist auf eine klassische Arbeitswertlehre beziehen oder aber die Werttheorie von Marx bei Seite lassen. Jean-Marie Vincent (2001: 237-238) ebnet den Weg für eine ganz andere Lesart, indem er diese Verschiebung anspricht: »Marx a placé son immense effort intellectuel sous l’égide de la critique de l’économie politique. Si l’on veut bien y réfléchir, cela veut dire qu’il ne peut y être question pour lui
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de reprendre les catégories de l’économie telles quelles, sans les déplacer vers un autre champ théorique et sémantique que celui de l’économie classique. Le concept central de la critique marxienne de l’économie politique, la valeur, ne se situe pas dans le prolongement (amélioration) de la théorie ricardienne de la valeur, il en est plutôt l’opposé ou le contraire. Alors que Ricardo fait une théorie de la valeur-travail comme théorie de la mesure de la valeur par le temps de travail, Marx dit que la valeur est une forme sociale complexe, la forme valeur des produits du travail. La substance valeur et sa mesure en temps de travail sont en fait conditionnées par la production et la reproduction sociales de la forme valeur grâce à un certain nombre d’opérations socialement déterminées. Les activités de production sont formalisées comme absorption de la force de travail (détachée des travailleurs) par la puissance abstraite du capital. Ce dernier s’incorpore les travaux concrets des salariés pour faire du travail abstrait une sorte de matière première sociale qui lui permet de se reproduire de façon élargie.« 2
Wenn wir im Kapital nicht nach einer ökonomischen Arbeitswertlehre suchen, sondern wie von Vincent vorgeschlagen eine Theorie der gesellschaftlichen Wertformen am Werk sehen, eröffnet sich eine Reihe soziologisch relevanter Fragen, während die in der kanonischen Rezeption endlos diskutierten Probleme – etwa das berühmte »Transformationsproblem« oder das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – deutlich in den Hintergrund treten. Mit Marx können wir zuvorderst der Frage nachgehen, was das überhaupt für eine besondere ge-
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»Marx hat seine enorme intellektuelle Anstrengung dem Ziel einer Kritik der politischen Ökonomie gewidmet. Wenn wir uns das richtig überlegen, bedeutet es, dass es für ihn nicht in Frage kam, die ökonomischen Kategorien als solche zu übernehmen, ohne sie in einem anderen theoretischen und semantischen Feld zu verorten als die klassische Ökonomie. Der Wert steht als zentrales Konzept der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie nicht für eine Weiterführung (Verbesserung) von Ricardos Werttheorie, sondern markiert einen Widerspruch dagegen oder stellt deren Gegenteil dar. Während Ricardo eine Arbeitswerttheorie entfaltet, der zu Folge sich der Wert durch die Arbeitszeit messen lässt, handelt es sich beim Wert laut Marx um eine komplexe gesellschaftliche Form, die Wertform der Arbeitsprodukte. Die Wertsubstanz und deren MaȕGXUFK$UEHLWV]HLWVLQGDXI*UXQGHLQHUJHZLVVHQ$Q]DKOJHVHOlschaftlich bestimmter Vorgänge abhängig von der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion der Wertform. Die Tätigkeiten der Produktion werden zum Aufsaugen der (von den Arbeitenden getrennten) Arbeitskraft durch die abstrakte Macht des Kapitals geformt. Das Kapital verleibt sich die konkreten Tätigkeiten der Lohnabhängigen ein und nutzt auf diese Weise die abstrakte Arbeit als eine Art gesellschaftlichen Rohstoff, der seine erweiterte Reproduktion ermöglicht.«
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sellschaftliche Form ist, der Wert; wie diese Form zustande kommt; und vor allem, was deren zunehmende Verbreitung und Dominanz nicht nur für wirtschaftliche Prozesse, sondern für das soziale Leben im Allgemeinen bedeutet. Das im Alltagsbewusstsein weit verbreitete Gefühl, alles werde in dieser Gesellschaft auf Geld reduziert, obwohl es doch Dinge gibt, die man nicht kaufen kann, lässt sich so gesellschaftstheoretisch reflektieren. Dasselbe gilt für die in der heutigen sozialwissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutierte Beobachtung, viele Erwerbstätige sähen sich als Unternehmer ihrer selbst oder als »Arbeitskraftunternehmer« (Voß und Pongratz 1998): Immerhin hat Marx ja beschrieben, dass sie ihr Arbeitsvermögen in Wertform bringen und auf dem Arbeitsmarkt verkaufen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aber die Soziologie hat sich im Anschluss an Marx bisher zu wenig mit der Frage beschäftigt, wie sich dies auf die desellschaftlichen Formen der Subjektivierung und die Herausbildung entsprechender Lebensentwürfe auswirken kann. Wie oben angedeutet hat Marx selbst den Bruch mit der ökonomischen Arbeitswertlehre nicht immer konsequent vollziehen und hochhalten können. Die Stoßrichtung seines Denkens ist aber so eindeutig erkennbar, dass die hier vorgeschlagene Interpretation keineswegs an den Haaren herbei gezogen ist. Im so genannten Fetischkapitel des ersten Bandes des Kapitals ist eine Passage zu finden, in der Marx die angesprochene Verschiebung der Fragestellung selbst thematisiert: »Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt? Formeln, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewusstsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst. Vorbürgerliche Formen des gesellschaftlichen Produktionsorganismus werden daher von ihr behandelt wie etwa von den Kirchenvätern vorchristliche Religionen.« (Marx [1873] 1962, 94-96)
In diesem Abschnitt, der mit langen Fussnoten durchsetzt ist, taucht auch die Analogie von Religions- und Ökonomiekritik wieder auf. Die Entnaturalisierung der Ökonomie ist eine Voraussetzung dafür, um mit der ökonomischen Arbeitswertlehre zu brechen und stattdessen eine Theorie gesellschaftlicher Wertformen zu entwickeln.
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Was ist der zentrale Gedanke der Marx’schen Werttheorie, wenn wir sie auf diese Weise lesen? Marx stellt vor allem heraus, dass die kapitalistische Produktion gesellschaftlichen Reichtums auf Prozessen beruht, die nicht nur die Arbeitsprodukte, sondern die Arbeitstätigkeiten selbst und damit auch die Fähigkeiten und Kenntnisse der Arbeitenden in eine bestimmte Form bringen, damit das Kapital seine Metamorphosen durchlaufen und sich verwerten kann. Oder um den Begriff von Jean-Marie Vincent aufzugreifen: Die Rohstoffe (matières premières) der Kapitalakkumulation, die durch verschiedene ineinander greifende Kreisläufe vor sich geht, sind nicht die natürlichen und menschlichen Ressourcen an sich, sondern solche Ressourcen in Wertform, zugerichtet, das heißt in geeignete Form gebracht, um in der kapitalistischen Produktion verbraucht zu werden. Durch diese Zurichtung, diese Reduktion auf einen Wert, werden alle qualitativ noch so unterschiedlichen Dinge vergleichbar gemacht und bewertet, auf eine einzige Wertskala gesetzt, deren innere Logik allerdings nirgendwo geschrieben steht, sondern aus den sich wandelnden Funktionsweisen der kapitalistischen Produktion hervorgeht. Es handelt sich um eine blinde Logik, die hinter dem Rücken der Akteure und doch allein durch deren Praxis wirkt. Wir haben es nicht mit einer gedanklichen Abstraktion zu tun, sondern – um den Begriff von Alfred Sohn-Rethel (1978) zu verwenden – mit einer in der sozialen Wirklichkeit vor sich gehenden »Realabstraktion«. Das Geld ist das unumgängliche Medium dieser Realabstraktion, in ihm hat der Wert seinen verallgemeinerten und ubiquitären gesellschaftlichen Körper gefunden. Menschliche Arbeit ist die Quelle des Werts, aber eben nur als abstrakte Arbeit, als für den kapitalistischen Produktionsprozess zugerichtete Tätigkeit, die Wert schafft – ganz egal, um welche konkrete Tätigkeit es sich handelt. Wenn die Menschen systematisch darüber nachdenken würden, was da laufend hinter ihrem Rücken vor sich geht, würden sie es wohl seltsam oder zumindest erstaunlich finden. »Wenn ich sage, Rock, Stiefel usw. beziehen sich auf Leinwand als die allgemeine Verkörperung abstrakter menschlicher Arbeit, so springt die Verrücktheit dieses Ausdrucks ins Auge«, hält Marx ([1873] 1962: 90) fest. Im Alltagshandeln sind sie aber an ganz anderen Fragen »praktisch interessiert« (ebd.: 89) und finden nichts Besonderes daran, Waren zu kaufen und verkaufen (darunter ihr eigenes Arbeitsvermögen). Sie tun weitaus mehr, als in ihr Bewusstsein tritt, sie beteiligen sich an den Prozessen der Bewertung und Realabstraktion, ohne es zu bemerken. »Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenen Produkte einander im Austausch als Werte gleichset-
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In diesen Zeilen spricht Marx explizit das eigentümliche Zusammenspiel von Alltagspraxis und scheinbar natürlicher Vorherrschaft der Wertformen an. Inwiefern steht die Marx’sche Theorie der Wertformen damit einer klassischen ökonomischen Arbeitswertlehre gegenüber, wie Jean-Marie Vincent behauptet? Der Verfasser des Kapitals hat zweifellos den insbesondere bei David Ricardo formulierten Gedanken übernommen, die Verausgabung menschlicher Arbeit sei die einzige Quelle gesellschaftlichen Reichtums. Er hat aber nicht nur eine immanente Kritik der klassischen Arbeitswertlehre vorgetragen, zum Beispiel in dem er präzisierte, es werde nicht die Arbeit, sondern das Arbeitsvermögen auf dem Arbeitsmarkt verkauft – eine wichtige Präzisierung, um zu verstehen, wie Mehrwert für die Kapitalakkumulation angeeignet werden kann, auch wenn stets gleiche Werte getauscht werden. Darüber hinaus beschreibt Marx ein gesellschaftliches Wertgesetz, dessen blinder Funktionsweise weder Zeit noch Arbeit als natürliche oder gegebene Größen gelten, sondern nur als gesellschaftlich zugerichtete, für und durch das Kapital vermessene und bewertete Ressourcen von Bedeutung sind. Es gilt deshalb die Vergesellschaftung von Zeit und Arbeit durch das Kapital zum zentralen Forschungsgegenstand zu machen, statt Arbeitswerte durch einfache Multiplikation von Zeit und Arbeit zu erklären. Eine solche Analyse führt hin zur Beobachtung, dass Zeit und Arbeit in besondere gesellschaftliche Formen gebracht werden müssen, damit die kapitalistische Produktionsweise funktioniert. Marx’ ([1873] 1962: 53-61; 200-213) Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bringt den Versuch zum Ausdruck, diese Vielzahl gesellschaftlicher Determinationen von Arbeit und Zeit zusammenzufassen. Der Verfasser des Kapitals hält zum Beispiel lapidar fest, ein Produkt sei nicht doppelt so viel wert, wenn seine Herstellung doppelt so lange dauert als üblich. Als gesellschaftlich gültige Arbeitszeit gilt nur diejenige Zeit, die unter den aktuell vorherrschenden Produktivitätsstandards verausgabt wird. Doch diese Standards sind laufend im Fluss, so dass wir es mit einem Zeitmaßstab zu tun haben, den niemand beherrscht. Der Marx’sche Begriff bietet einen Ansatzpunkt um zu verstehen, warum nicht jede menschliche Arbeit gleich viel Wert schafft – ganz unabhängig davon, wie wertvoll sie aus unserer Sicht sein mag – oder wie einzelne Arbeitstätigkeiten und Wirtschaftszweige unter veränderten Bedingungen aufoder entwertet werden. Darüber hinaus können wir die Werttheorie von Marx als Ausgangspunkt nehmen um zu untersuchen, welche Tätigkeiten überhaupt als Arbeit anerkannt werden – da sie als wertschöpfend gelten – und welche nicht.
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Ohne Zweifel ist aber die Analyse des Kapitalismus als gesellschaftliches System der Strukturierung, Bewertung und Verteilung von Arbeit und Zeit im Marx’schen Hauptwerk nicht zu Ende gedacht. So meint Michael Heinrich (2009: 90-92), Marx hätte nicht nur von abstrakter Arbeit, sondern auch von abstrakter Arbeitszeit sprechen sollen, um die substantialistische Unterscheidung zwischen einfacher und komplizierter Arbeit zu vermeiden, mit der er erklären wollte, warum gewisse Tätigkeiten mehr Wert schaffen als andere. Auf diese Fragen der Formbestimmung von Arbeit und Zeit komme ich im abschließenden Kapitel dieser Arbeit zurück. Esoterik und Exoterik (Fetischtheorem) Der dritte Band des Kapitals ist für einige Abschnitte bekannt, welche in den kanonischen Rezeptionsweisen von überragender Bedeutung waren. Das gilt etwa für das so genannte Transformationsproblem – die Verwandlung von Produktionskosten und Warenwerten in Marktpreise – oder für das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Doch gerade hier kann eine soziologische Lektüre ganz andere Akzente setzen und sich auf Wege begeben, die noch wenig erkundet wurden. Wir können uns auf den folgenden Hinweis von Marx stützen, der am Beginn des Bandes steht: »Worum es sich in diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine Reflexionen über diese Einheit [von Produktions- und Zirkulationsprozess] anzustellen. Es gilt vielmehr, die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsprozess des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die Gestalt des Kapitals im unmittelbaren Produktionsprozess, wie seine Gestalt im Zirkulationsprozess, nur als besondere Momente erscheinen. Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, und im gewöhnlichen Bewusstsein der Produktionsagenten selbst auftreten.« (Marx [1894] 1964: 33)
Was Marx hier ankündigt, ist im Grunde eine Phänomenologie des Kapitals oder, wenn man so will, eine Untersuchung der kapitalistischen Alltagskulturen. Es geht dabei um die Frage, in welcher Form die kapitalistischen Zusammenhänge an der Oberfläche der Gesellschaft auftreten, wie sie durch die alltagspraktisch handelnden Menschen wahrgenommen werden. Natürlich wollte der Verfasser des Kapitals diese Phänomenologie nicht losgelöst von den verborge-
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nen Mechanismen der Kapitalakkumulation betrachten, die er durch seine Kritik der politischen Ökonomie ans Licht zu bringen trachtete. Vielmehr setzte er zu einem Versuch an, etwas über den Zusammenhang zwischen den verborgenen Mechanismen der Ökonomie und deren Alltagskulturen auszusagen. Wir müssen in Erinnerung halten, dass der dritte Band des Kapitals von Marx am wenigsten systematisch bearbeitet wurde. Die Veröffentlichung durch Engels beruhte auf Manuskripten, die noch vor der Publikation der ersten Auflage des ersten Bandes (1867) verfasst worden sind (Heinrich 2009: 89). Daher ist es nicht erstaunlich, dass diese Phänomenologie des Kapitals nur in fragmentarischen Beobachtungen und Hinweisen vorgetragen wird. Wir sollten diese phänomenologischen Betrachtungen dennoch nicht als eine nebensächliche Randnotiz im Kapital betrachten. Zum einen hat Marx, wie oben zitiert, ja selbst den Hinweis gegeben, dass sie im Aufbau der drei Bände eine wichtige Funktion einnehmen. Er hat den ersten Band des Kapitals mit dem scheinbar konkretesten Alltagsgegenstand begonnen, den alle zu kennen glauben: mit der Ware. In der Folge ging es darum, den verborgenen Prozessen und Zusammenhängen der Produktion (Band I) und der Zirkulation des Kapitals (Band II) auf die Spur zu kommen, die sich sozusagen hinter der Fassade der Warenwelt verstecken. Auf dieser Grundlage sollte es im dritten Band möglich sein, diese Fassade nicht mehr einfach nur als Erkenntnishindernis zu beschreiben, sondern mit Bezug auf die Entdeckungen der anderen beiden Bände zu erklären, wie sie entsteht und funktioniert, warum sie eben gerade so und nicht anders aussieht. Zum anderen können wir uns auf ein Begriffspaar von Marx beziehen, das zwar im Kapital nicht genannt wird, seine Kritik der politischen Ökonomie aber dennoch angeleitet hat, wie die Lektüre der Theorien über den Mehrwert zeigt. Bei der Würdigung von Adam Smith und David Ricardo unterscheidet Marx zwischen einem inneren (esoterischen) und einem erscheinenden (exoterischen) Zusammenhang der kapitalistischen Produktion, die die politische Ökonomie – Ricardo weniger als alle anderen – fast immer verwechselt oder durcheinander geworfen habe (Marx [1863] 1967: 161-166). Die begriffliche Unterscheidung der Esoterik und Exoterik des Kapitals lässt sich als roter Faden einer soziologischen Lektüre des Kapitals einsetzen. Nachdem die ersten zwei Bände des Kapitals den Fokus auf die Esoterik der kapitalistischen Produktionsweise gelegt hatten (insbesondere der zweite Band, der die Kapitalkreisläufe in den Blick nimmt), sollte im dritten Band nun deren Exoterik bzw. das Verhältnis von Esoterik und Exoterik zur Sprache kommen. Nun wird deutlich, wie weit das Marx’sche Hauptwerk mit der Entfaltung des Fetischtheorems über die vor allem in der Deutschen Ideologie formulierte Idealismus- oder Ideologiekritik hinaus geht, die nicht selten als das letzte Wort von
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Marx zu solchen Fragen betrachtet wird – so etwa in den kanonischen Formeln des historischen oder dialektischen Materialismus. Die im Kapitalismus vorherrschenden Ideen und Kategorien, ob sie nun als Alltagskulturen oder in wissenschaftlicher Formulierung auftreten, sind gemessen an der Marx’schen Analyse verkehrt oder verrückt. Aber es handelt sich um »gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise« (Marx [1973] 1962: 90), die durchaus als konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft betrachtet werden müssen. Die Kritik der politischen Ökonomie kann sich angesichts dieser Erkenntnis nicht damit zufrieden geben, Ideologiekritik zu betreiben und gegen den falschen Schein der Dinge zu polemisieren. Sie muss auch den erscheinenden Zusammenhang untersuchen und dessen Entstehungsbedingungen und Funktionsweisen zu verstehen versuchen. Das Fetischtheorem leitet im Kapital die Überlegungen von Marx zu diesem Problem an. Wie Tran Hai Hac (2003: 169-191 Tome I) erläutert, führt es die zentralen Aussagen über das kapitalistische Produktionsverhältnis und die diesem entsprechenden Formen von Objektivität und Subjektivität zusammen. Der Fetischcharakter der Ware, des Geldes und des Kapitals ist in den Augen von Marx alles andere als eine subjektive Illusion. Er entsteht dadurch, dass in einer Gesellschaft, welche die Menschen als Individuen atomisiert und deren Zusammenhang durch den blinden Mechanismus kapitalistischer Realabstraktionen herstellt, die Wirkungen der gesellschaftlichen Prozesse als Eigenschaften von Dingen erscheinen. Die durch das Handeln unzähliger Menschen erzeugte soziale Energie und der gesellschaftlich produzierte Reichtum stellen sich an den in Wertform gebrachten Arbeitsprodukten dinglich dar, in einer Wertgegenständlichkeit, welche die kapitalistische Ökonomie und Kultur auszeichnet. Mit dem Fetischismusbegriff bezeichnet Marx eine besondere Existenzweise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die in der gesellschaftlichen Realität tatsächlich nur versteckt oder verschleiert vorzufinden sind. Ohne diese »Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse« (Marx [1894] 1964: 838) können Produktion und Akkumulation des Kapitals nicht vor sich gehen. Insofern kann von einer notwendigen oder objektiven Illusion (Hai Hac 2003: 173 Tome I) gesprochen werden. Dieses Problem der versteckten Existenzweise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, das heißt wie der erscheinende den inneren Zusammenhang, aus dem er erst hervorgeht, unkenntlich macht beziehungsweise versachlicht und verkehrt darstellt, packt Marx im dritten Band des Kapitals immer wieder an. So in den ersten zwei Abschnitten über die Verwandlung des Mehrwerts in Profit und des Profits in Durchschnittsprofit. In diesen Textstellen scheint, wie Hein-
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rich (2009: 92) festhält, eine naturalistische oder substantialistische Werttheorie zu dominieren. Gleichzeitig ist der Verfasser des Kapitals aber bemüht herauszustellen, wie die an der Oberfläche erscheinenden Formen sich aus dem inneren Zusammenhang ableiten lassen und zugleich den Blick auf diesen systematisch verstellen. Er betrachtet den Profit als mystifizierte Form des Mehrwerts: Anders gesagt existiert der Mehrwert in der unmittelbaren gesellschaftlichen Realität nur als Profit, das heißt in einer Form, in der er und die Quelle, aus der er kommt, unkenntlich sind (Bihr 2010: 77-81). Marx ([1894] 1964: 46) schreibt: »Der Profit, wie wir ihn hier zunächst vor uns haben, ist also dasselbe, was der Mehrwert ist, nur in einer mystifizierten Form, die jedoch mit Notwendigkeit aus der kapitalistischen Produktionsweise hinauswächst. Weil in der scheinbaren Bildung des Kostpreises kein Unterschied zwischen konstantem und variablem Kapital zu erkennen ist, muss der Ursprung der Wertveränderung, der während des Produktionsprozesses sich ereignet, von dem variablen Kapitalteil in das Gesamtkapital verlegt werden. Weil auf dem einen Pol der Preis der Arbeitskraft in der verwandelten Form von Arbeitslohn, erscheint auf dem Gegenpol der Mehrwert in der verwandelten Form von Profit.«
Den fünften Abschnitt des dritten Kapital-Bandes, der sich mit der Teilung des Profits in Zins und Unternehmergewinn und dem zinstragenden Kapital beschäftigt, hat Marx in besonders unvollendeter Fassung hinterlassen. Engels ist es nicht gelungen, diese Fragmente zu einem sinnvollen Ganzen zu formen, deshalb hat er diesen Abschnitt in zwei Teilen veröffentlicht. Doch gerade diese Textstellen sind reich an interessanten Beobachtungen und Überlegungen zur Exoterik der kapitalistischen Produktionsweise. So führt Marx etwa aus, warum der Unternehmer als fungierender Kapitalist dazu tendiert, sich im Gegensatz zu den Besitzern des zinstragenden Kapitals, das er für unternehmerische Zwecke ausleiht, als Arbeiter zu sehen. »Es entwickelt sich daher notwendig in seinem Hirnkasten die Vorstellung, dass sein Unternehmergewinn – weit entfernt, irgendeinen Gegensatz zur Lohnarbeit zu bilden und nur unbezahlte fremde Arbeit zu sein – vielmehr selbst Arbeitslohn ist, Aufsichtslohn, wages of superintendance of labour, höherer Lohn als der des gewöhnlichen Lohnarbeiters, 1. weil sie kompliziertere Arbeit, 2. weil er sich selbst den Arbeitslohn auszahlt. Dass seine Funktion als Kapitalist darin besteht, Mehrwert, d.h. unbezahlte Arbeit zu produzieren, und zwar unter den ökonomischsten Bedingungen, wird vollständig vergessen über dem Gegensatz, dass der Zins dem Kapitalisten zufällt, auch wenn er keine Funktion als Kapitalist ausübt, sondern bloßer Eigentümer des Kapitals ist; und dass dagegen der Unter-
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nehmergewinn dem fungierenden Kapitalisten zufällt, auch wenn er Nichteigentümer des Kapitals ist, womit er fungiert.« (Marx [1894] 1964: 393)
Die notwendige Illusion des Unternehmers, ein Arbeiter zu sein, hat als Pendant den Glauben an die Fähigkeit des Kapitals, ohne jede produktive Verwendung (und erst recht: Nutzung von Arbeitskraft) einen Gewinn in der Form des Zinses abzuwerfen. Wie Marx ([1894] 1964: 390) festhält, ist diese Sicht der Dinge »für den einzelnen Kapitalisten praktisch richtig. Er hat die Wahl, ob er sein Kapital, sei es, dass es im Ausgangspunkt schon als Geldkapital existiert oder dass es erst in Geldkapital zu verwandeln ist, als zinstragendes Kapital verleihen oder als produktives Kapital selbst verwerten will.« Aber auf die gesamte kapitalistische Ökonomie angewendet ist diese Sichtweise »natürlich verrückt« (ebd.: 391), weil der Zins nur die in bestimmter gesellschaftlicher Form objektivierte Existenzweise eines Teils des Mehrwerts ist, der durch den Einsatz menschlicher Arbeit im Produktionsprozess entsteht. Die »praktisch richtigen« Ansichten der im Wirtschaftsprozess engagierten Personen werden also »verrückt«, wenn sie als Grundlage einer allgemeinen Theorie von Ökonomie und Gesellschaft betrachtet werden. Im Kapitel über Bankkapital und fiktives Kapital streicht Marx sodann heraus: »Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, dass jede bestimmte und regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht.« (Ebd. S. 482) Hat er damit nicht in wenigen Worten den modus operandi einer inzwischen hegemonial gewordenen Sichtweise beschreibt, auf der die heutigen Bindestrich-Kapitaltheorien der Soziologie beruhen? Jedenfalls ist es aufschlussreich zu lesen, dass Marx im Anschluss an diese Beobachtung die für die moderne Humankapitaltheorie konstitutive Vorstellung kritisch ins Visier nimmt, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Erwerbstätigen als Kapital zu betrachten: »Die Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise erreicht hier ihre Spitze, indem statt die Verwertung des Kapitals aus der Exploitation der Arbeitskraft zu erklären, umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt wird, dass Arbeitskraft selbst dies mystische Ding, zinstragendes Kapital ist.« (Ebd.: 483)
Ich werde zu Beginn des fünften Kapitels der vorliegenden Arbeit, in dem ich mich mit der Humankapitaltheorie beschäftige, diese Weg weisende Textstelle wieder aufgreifen. Die Beobachtungen und Reflexionen zur Phänomenologie des Kapitals kulminieren am Ende des dritten Bandes im Kapitel über die Trinitarische Formel. Marx beschreibt hier, wie die im Wirtschaftsprozess verteilten Einkommen den
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Menschen als das natürliche Ergebnis ihrer Teilnahme an diesem Prozess gelten, ohne dass die verborgenen Mechanismen der Produktion und Akkumulation des Kapitals jemals in den Blick geraten. Der Zins (und Profit) entspringt aus dem Kapital, die Grundrente aus dem Boden und der Lohn aus der Arbeit – so einfach scheint die Welt der kapitalistischen Ökonomie zu sein. Die Einkommen »erscheinen als jährlich zu verzehrende Früchte eines perennierenden Baums oder vielmehr dreier Bäume, sie bilden das jährliche Einkommen dreier Klassen, des Kapitalisten, des Grundeigentümers und des Arbeiters« (Marx [1894] 1964: 830). Und Marx präzisiert, inwiefern diese Vorstellung sowohl – für die einzelnen Wirtschaftsakteure – praktisch richtig als auch – für die Kritik der politischen Ökonomie – verkehrt ist: »Grundeigentum, Kapital und Lohnarbeit verwandeln sich daher aus Quellen der Revenue in dem Sinn, dass das Kapital dem Kapitalisten einen Teil des Mehrwerts, den er aus der Arbeit extrahiert, in der Form des Profits, das Monopol an der Erde dem Grundeigentümer einen andren Teil in der Form der Rente attrahiert und die Arbeit dem Arbeiter den letzten noch disponiblen Wertteil in der Form des Arbeitslohns zuschlägt, aus Quellen, vermittelst deren ein Teil des Werts in die Form des Profits, ein zweiter in die Form der Rente und ein dritter in die Form des Arbeitslohns sich verwandelt – in wirkliche Quellen, aus denen diese Wertteile und die bezüglichen Teile des Produkts, worin sie existieren oder wogegen sie umsetzbar sind, selbst entspringen und aus denen als letzter Quelle daher der Wert des Produkts selbst entspringt.« (Ebd.: 834)
In dieser Trinitarischen Formel, die den alltagspraktisch handelnden Menschen, die auf ein ihrer Stellung im Wirtschaftsprozess entsprechendes Einkommen bedacht bzw. angewiesen sind, eine in sich stimmige Weltsicht anbietet, findet die »Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise« für den Verfasser des Kapitals ihren Höhepunkt. Er spricht hier von einer »Religion des Alltagslebens« und von einer »verzauberten, verkehrten und auf den Kopf gestellten Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben« (Marx [1894] 1964: 838). Erneut springt die Analogie von Religions- und Ökonomiekritik ins Auge, und so setzt Marx am Ende des Hauptwerks einen ganz anderen Akzent als in früheren Schriften. Herrschte etwa im Manifest der Kommunistischen Partei die Auffassung vor, die Bourgeoisie habe »an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt« (Marx/Engels [1848] 2005: 22), zeigt nun die Kritik der politischen Ökonomie, wie die kapitalistische Gesellschaft Illusionen produziert, objektive Gedankenformen, die kritisiert werden können, indem die Religions-
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kritik aufgegriffen und zur Ökonomiekritik entwickelt wird. Anders gesagt gibt uns Marx im Kapital unzählige Hinweise, warum es unwahrscheinlich ist, dass der Klassenkampf sich so entwickelt, wie es im Manifest angekündigt wurde. Die Marx’sche Untersuchung kapitalistischer Alltagskulturen gelangt auch zu anderen Schlüssen als Max Webers These von der Entzauberung der Welt durch den Kapitalismus. Der Verfasser des Kapitals deutet vielmehr an, dass wir es mit einer neuen Form der Verzauberung zu tun haben, die in säkularisiertem Gewand auftritt, durchaus auch im Anzug des Wissenschaftlers – genauer gesagt: des Ökonomen. Vulgärökonomie Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie hat wissenschaftstheoretische Einsichten zu Tage gefördert, die für jede gesellschaftskritische Sozialwissenschaft bedeutsam sind. Bereits in den Frühschriften, etwa in der Deutschen Ideologie, hat Marx kritisch über die begrenzten Möglichkeiten der Intellektuellen nachgedacht, die Welt theoretisch zu erfassen und praktisch zu verändern. Im Zentrum dieser Reflexion stand das Beharren darauf, das Denken als gesellschaftliche Praxis zu reflektieren, die sich in historisch besonderen Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (als Wissenschaft, Philosophie, Kunst) gewissermaßen verselbständigt und die Illusion eines reinen oder freien Denkens befördert, das über der Welt steht und diese zu beherrschen und verändern vermag. Die berühmte elfte Feuerbach-These ([1845] 1978: 7) wurde in der kanonischen Rezeption darauf verkürzt, es komme nicht darauf an, die Welt verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Doch die intellektuelle Anstrengung, die der Verfasser des Kapitals geleistet hat, um die kapitalistische Ökonomie zu untersuchen, deutet vielmehr darauf hin, dass für ihn die verschiedene Interpretation eben eine Voraussetzung war, um die Welt verändern zu können. Im Kapital geht die Marx’sche Ökonomiekritik über eine klassische Ideologiekritik hinaus und gelangt an einen Punkt, an dem das Verhältnis zwischen der wissenschaftlichen Theorie und dem alltagspraktischen Bewusstsein der Menschen thematisiert wird. Mehr und mehr begreift Marx die theoretischen Unzulänglichkeiten und Irrtümer der klassischen Ökonomen nicht nur als individuelle oder subjektive Denkfehler, sondern als Ausdruck der Wirkungsmächtigkeit einer kapitalistischen Alltagskultur, mit der sie immer schon vertraut sind und die im Handeln der unzähligen Wirtschaftssubjekte stets aufs Neue belebt und reproduziert wird. Wenn er im Fetischkapitel des ersten Bandes des Kapitals mit Blick auf die verrückte Art und Weise, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus den Menschen erscheinen, festhält, »derartige Formen bilden
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eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie«, ist auch schon angedeutet, dass diese »gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen« (Marx ([1873] 1962: 90) sowohl in den Alltagsvorstellungen der Akteure als auch in ökonomischen Theorien zu Hause sind. Und der Verfasser des Kapitals misst die wissenschaftlichen Qualität der ökonomischen Theorie gerade an deren Fähigkeit, einen Bruch mit dieser kapitalistischen »Religion des Alltagslebens« (Marx [1894] 1964: 838) zu vollziehen, von der im Kapitel über die Trinitarische Formel die Rede ist. So unterscheidet Marx immer wieder zwischen der klassischen politischen Ökonomie, für die er einen gewissen Respekt aufbringt, und der Vulgärökonomie, der er kein wissenschaftliches Niveau zubilligt. So führt etwa im Fetischkapitel des erstens Bandes eine Fussnote diesen Punkt aus: »Um es ein für allemal zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den innern Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht, im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt, für eine plausible Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren.« (Marx [1873] 1962: 95)
Die oben thematisierte Unterscheidung zwischen esoterischem und exoterischem Zusammenhang der kapitalistischen Produktion dient dem Verfasser des Kapitals als zentrales Kriterium, um die wissenschaftliche Qualität der ökonomischen Theorien zu beurteilen. In Marx’ Augen hat kein klassischer Ökonom theoretisch so viel geleistet wie David Ricardo, dessen Arbeitswertlehre und Klassentheorie dem Verfasser des Kapitals als wissenschaftliche Fortschritte von einiger Bedeutung galten. Er sei der erste (und einzige) gewesen, der deutlich den inneren vom erscheinenden Zusammenhang der Ökonomie unterschieden habe und die Ökonomen gezwungen habe, den »bisherigen Schlendrian«, in dem sie Esoterik und Exoterik meist verwechselten, hinter sich zu lassen. »Ricardo aber tritt endlich dazwischen und ruft der Wissenschaft: Halt! zu. Die Grundlage, der Ausgangspunkt der Physiologie des bürgerlichen Systems – des Begreifens seines innren organischen Zusammenhangs und Lebensprozesses – ist die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit«, hält Marx ([1863] 1967: 163) in den Theorien über den Mehrwert fest. Die weitere kritische Auseinandersetzung mit Ricardo zeigt dann aber, dass
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ihm das Interesse an einer kritischen Untersuchung der gesellschaftlichen Wertformen fehlt, um wirklich mit den kapitalistischen Alltagsvorstellungen systematisch brechen zu können. Die Naturalisierung der gesellschaftlichen Formen und Verhältnisse setzt seinem theoretischen Werk letztlich enge Grenzen, die Marx überschreiten will. Immer wieder gelangt Marx bei seinen ökonomischen Studien zum Schluss, auch die bester Vertreter der politischen Ökonomie blieben im Schein der kapitalistischen Exoterik gefangen und bewegten sich zu guten Teilen auf demselben theoretischen Feld wie die alltagspraktisch handelnden Wirtschaftsakteure; die Unterscheidung zwischen politischen Ökonomie und Vulgärökonomie markiert in dem Sinne eher Übergänge als eine klare Trennlinie. Vermutlich hätte der Verfasser des Kapitals zum Beispiel die heutige neoklassische Ökonomie, die sich längst von der Arbeitswertlehre verabschiedet hat, weitaus näher am Pol der Vulgärökonomie angesiedelt als David Ricardo oder Adam Smith. Gerade diesen Begriff der Vulgärökonomie kann eine soziologische Lektüre des Kapitals mit Gewinn aufgreifen. Die Marx’schen Überlegungen erinnern an den Aufruf Emile Durkheims ([1895] 1999: 115ff.), die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten und die immer schon vorhandenen Vorbegriffe in Frage zu stellen. Diese »Produkte der Vulgärerfahrung« seien »von der Praxis und für die Praxis geschaffen« (ebd.: 116), das heißt keineswegs von der Wissenschaft für wissenschaftliche Zwecke entwickelt. Gerade in der Soziologie seien die praenotiones oftmals imstande, »die Geister zu beherrschen und sich an die Stelle der Dinge zu setzen« (ebd.: 117). Die Wirkungskraft der Vorbegriffe ist für Durkheim darin begründet, dass sie sich im Alltagsleben als nützlich erweisen. Doch der französische Soziologe betont: »Nun kann eine Vorstellung praktisch ganz wohl eine nützliche Rolle spielen und dennoch falsch sein.« (Ebd.: 116) In ihrem Lehrbuch über die Soziologie als Beruf haben auch Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron (1991, 15ff.) dieses Problem der Vertrautheit mit der sozialen Welt und ihren Alltagstheorien thematisiert im Begriff der Spontansoziologie gefasst. Sie vertreten die Ansicht, dass sämtliche Techniken des Bruchs mit den Vorbegriffen wirkungslos bleiben, so lange »die Spontansoziologie nicht in ihrem eigentlichen Kern getroffen wird, d.h. in der sie tragenden Philosophie der Erkenntnis des Sozialen und des menschlichen Handelns. Als vom common sense klar geschiedene Wissenschaft kann sich die Soziologie nur konstituieren, wenn sie den systematischen Ansprüchen der Spontansoziologie den organisierten Widerstand einer Theorie der Erkenntnis des Sozialen entgegenstellt, deren Prinzipien
72 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE Punkt für Punkt den Vorannahmen der Primärphilosophie des Sozialen widersprechen.« (Ebd.: 17)
Wir können Marx durchaus zugestehen, insbesondere durch das Fetischtheorem und seine Überlegungen zum Zusammenhang von Esoterik und Exoterik der kapitalistischen Ökonomie eine solche Theorie der Erkenntnis des Sozialen (oder vielmehr der Verklärung des Sozialen), die der Spontansoziologie Widerstand zu leisten vermag, zumindest in Ansätzen entwickelt zu haben. Wie deutlich er sich der Tatsache bewusst war, dass wissenschaftliche Erkenntnis vom Bruch mit den Alltagstheorien der praktisch handelnden Menschen abhängt, zeigt vor allem diese Stelle aus dem Kapitel über die Trinitarische Formel: »Es ist das große Verdienst der klassischen Ökonomie, diesen falschen Schein und Trug, diese Verselbständigung und Verknöcherung der verschiednen gesellschaftlichen Elemente des Reichtums gegeneinander, diese Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse, diese Religion des Alltagslebens aufgelöst zu haben, indem sie den Zins auf einen Teil des Profits und die Rente auf den Überschuss über den Durchschnittsprofit reduziert, so dass beide im Mehrwert zusammenfallen; indem sie den Zirkulationsprozess als bloße Metamorphose der Formen darstellt und endlich im unmittelbaren Produktionsprozess Wert und Mehrwert der Waren auf die Arbeit reduziert. Dennoch bleiben selbst die besten ihrer Wortführer, wie es vom bürgerlichen Standpunkt nicht anders möglich ist, mehr oder weniger in der von ihnen kritisch aufgelösten Welt des Scheins befangen und fallen dadurch alle mehr oder weniger in Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelöste Widersprüche. Es ist dagegen andrerseits ebenso natürlich, dass die wirklichen Produktionsagenten in diesen entfremdeten und irrationellen Formen von Kapital – Zins, Boden – Rente, Arbeit – Arbeitslohn sich völlig zu Hause fühlen, denn es sind eben die Gestaltungen des Scheins, in welchem sie sich bewegen und womit sie täglich zu tun haben. Es ist daher ebenso natürlich, dass die Vulgärökonomie, die nichts als eine didaktische, mehr oder minder doktrinäre Übersetzung der Alltagsvorstellungen der wirklichen Produktionsagenten ist und eine gewisse verständige Ordnung unter sie bringt, gerade in dieser Trinität, worin der ganze innere Zusammenhang ausgelöscht ist, die naturgemäße und über alle Zweifel erhabene Basis ihrer seichten Wichtigtuerei findet. Diese Formel entspricht zugleich dem Interesse der herrschenden Klassen, indem sie die Naturnotwendigkeit und ewige Berechtigung ihrer Einnahmequellen proklamiert und zu einem Dogma erhebt.« (Marx [1894] 1964: 838-839)
Marx deutet in diesen Zeilen an, dass die Alltagsvorstellungen der Akteure an ganz konkrete praktische Interessen gebunden sind. Die wissenschaftliche Ökonomie kann nicht wirklich damit brechen, so lange sie im »bürgerlichen Stand-
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punkt« gefangen bleibt, das heißt ganz selbstverständlich die übliche Weltsicht des Bürgertums übernimmt. Aus dieser Erkenntnis folgt keineswegs, dass eine kritische Ökonomie oder Ökonomiekritik nun den Standpunkt des Proletariats einnehmen muss, wie es in aller Regel dem marxistischen Selbstverständnis – dieser klassenpolitisch gedachten und doch in vielerlei Hinsicht klassenblinden Illusion – als selbstverständlich gilt. Vielmehr erfordert die wissenschaftliche Erforschung der Ökonomie und des Sozialen eine politische wie intellektuelle Unabhängigkeit gegenüber spezifischen Interessen sozialer Klassen sowie eine Selbstreflexion eigener Klasseninteressen, denn nicht selten bewegen sich die Sichtweisen der unterschiedlichsten sozialen Klassen auf demselben theoretischen Feld, auf dem sie für unterschiedliche Positionen zu- und gegeneinander stehen. Das Problem des Klassenstandpunkts in der wissenschaftlichen Arbeit greife ich im vierten Kapitel über das Erbe des Marxismus wieder auf. An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass Marx’ Begriff der Vulgärökononmie sich für eine kritische Auseinandersetzung mit soziologischer Kapitaltheorie als fruchtbar erweisen könnte, da er sich wie Durkheims praenotiones oder Bourdieus Spontansoziologie auf dieses Phänomen praktisch nützlicher, gesellschaftlich gültiger und wissenschaftlich falscher Vorstellungen bezieht.
D ER M ARX ’ SCHE K APITALBEGRIFF Vor dem Hintergrund dieser soziologischen Lektüre des Marx’schen Hauptwerks lässt sich der Begriff des Kapitals nun genauer bestimmen. Wie angedeutet finden wir in den Schriften von Marx kaum Definitionen. Dagegen arbeitet der Verfasser des Kapitals mit Bestimmungen, um sich einem Gegenstand mit Blick auf die dynamische Totalität, in der er zu finden ist, schrittweise anzunähern. Bei dieser Totalität handelt es sich im Falle der Kritik der politischen Ökonomie um die sich in steter Veränderung befindenden kapitalistischen Gesellschaftsformationen, in denen das Kapital zur vorherrschenden Kraft geworden ist. Offensichtlich ist das Kapital für Marx kein Ding, kein physisch greifbarer Gegenstand, und auch nicht einfach eine Wertsumme, die jemand gewinnbringend einsetzen kann. Vielmehr sind durch die hier skizzierte Lektüre drei Bestimmungen in den Blick geraten, die ich zum Schluss dieses Kapitels kurz erläutern möchte. Demnach ist das Kapital bei Marx erstens ein gesellschaftliches Verhältnis, das Gegenstände und Menschen erfasst und auf eigentümliche Weise prägt oder verwandelt; zweitens eine soziale Kraft, die aus dem Alltagshandeln der Menschen in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgeht und in den verschiedensten Dingen und Menschen haust; drittens eine besondere Art und
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Weise, in der die Gegenstände und Phänomene der sozialen Welt erscheinen und durch die Menschen wahrgenommen werden – in Marx’ Worten eine objektive Gedankenform. Gesellschaftliches Verhältnis Zu Beginn des Kapitels über die Trinitarische Formel im dritten Band des Kapitals findet sich diese beinahe definitorische Stelle: »Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen gesellschaftlichen Charakter gibt. Das Kapital ist nicht die Summe der materiellen und produzierten Produktionsmittel. Das Kapital, das sind die in Kapital verwandelten Produktionsmittel, die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold und Silber an sich Geld ist. Es sind die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft monopolisierten Produktionsmittel, die der lebendigen Arbeit gegenüber verselbständigten Produkte und Betätigungsbedingungen eben dieser Arbeitskraft, die durch diesen Gegensatz im Kapital personifiziert werden. Es sind nicht nur die, in selbständige Mächte verwandelten Produkte der Arbeiter, die Produkte als Beherrscher und Käufer ihrer Produzenten, sondern es sind auch die gesellschaftlichen Kräfte und die [unleserlich im Originalmanuskript; vermutlich: ›zusammenhängende Form‹; Anm. des Verfassers] Form dieser Arbeit, die als Eigenschaften ihres Produkts ihnen gegenübertreten. Also hier haben wir eine bestimmte, auf den ersten Blick sehr mystische, gesellschaftliche Form eines der Faktoren eines historisch fabrizierten gesellschaftlichen Produktionsprozesses.« (Marx [1894] 1964: 822-823)
Wie in diesem Zitat deutlich wird, stellt das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis sowohl Menschen als auch Menschen und Dinge (Gegenstände) in Beziehung zueinander. Die Beziehungen zwischen den Menschen, aufgrund derer – wie Marx schreibt – ein Teil der Gesellschaft die Produktionsmittel monopolisiert, erscheint als Beziehung zwischen Dingen und Menschen, wenn die Produkte ihre Produzenten beherrschen und kaufen. Produktions- und Herrschaftsverhältnis sind verwoben, wie etwa die Beschreibung der Fabrik im ersten Band des Kapitals unterstreicht: »Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt. Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des
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Kapitals über die Arbeit vollendet sich, wie bereits früher angedeutet, in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie. Das Detailgeschick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet wie ein winzig Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert sind und mit ihm die Macht des ›Meisters‹ (master) bilden.« (Marx [1873] 1962: 446)
Die private Aneignung der Produktionsmittel, weit fortgeschrittene gesellschaftliche Arbeitsteilung und Entwicklung der Wissenschaft sind gesellschaftliche Phänomene, die den Beschäftigten dinglich erscheinen und den Eindruck einer Diktatur der Sachen über die Menschen erzeugen, obschon es sich in Wirklichkeit um Auswirkungen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse handelt. Im Zentrum des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis stehen die Beziehungen zwischen der toten und lebendigen Arbeit und deren gesellschaftlichen Repräsentanten oder, wie Marx manchmal schreibt, Funktionären: Kapitalisten und Lohnabhängige. Obwohl das Kapital nicht nur als industrielles Kapital existiert, steht doch diese Kapitalform im Zentrum der Marx’schen Kapitalismusanalyse. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Kapital nicht nur die Finanz und den Handel, sondern auch die Produktion durchdrungen hat und bestimmt. Dies setzt zum einen voraus, dass Kapital ausreichend konzentriert ist, um eine große Zahl von Menschen für sich arbeiten lassen zu können, und zum andern »freie Arbeiter« auf dem Arbeitsmarkt, frei »in dem Doppelsinn, dass weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind« (Marx [1873] 1962: 742). Dieses kapitalistische Produktions- ist auch ein Klassenverhältnis, die unterschiedlichen Stellungen zum und Funktionen im Produktionsprozess geben die Konturen klassenspezifischer Existenz- und Handlungsweisen vor. So beschreibt Marx ([1873] 1962, 167-168) den Kapitalisten als personifiziertes Kapital (das »nur soweit« hält fest, dass es natürlich eine übersteigerte Beschreibung ist, wie der Idealtypus Max Webers): »Als bewusster Träger dieser Bewegung [der Verwandlung von Geld in Kapital] wird der Geldbesitzer Kapitalist. Seine Person, oder vielmehr seine Tasche, ist der Auskehrpunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. Der objektive Inhalt jener Zirkulation – die Verwertung des Werts – ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital.«
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Wenn wir solche Textstellen einbeziehen, wird klar, dass das Kapital nicht – wie nach Althussers und Balibars (1972) Lire le Capital oft geschehen – strukturalistisch gelesen werden muss, sondern auch eine praxeologische Lektüre befruchten kann. Im Vergleich zum soziologisch etablierten Begriff der Sozialstruktur weist das Konzept der gesellschaftlichen Verhältnisse einen weniger starren und objektivistischen Anklang auf. Es beschreibt gesellschaftlich bestimmte Verhaltensweisen, das heißt unterschiedliche Arten und Weisen, wie Menschen als Gesellschaftsmitglieder und als Angehörige sozialer Klassen, von Geschlechtergruppen oder unterschiedlicher Nationalitäten – sich zu andern, zu sich selbst und zu Gegenständen und des Alltagslebens verhalten. So ließe sich die Soziologie gesellschaftlicher Verhältnisse als eine Verhaltenswissenschaft betrachten, deren gesellschaftstheoretische Prämissen dem psychologischen Behaviorismus nicht weniger entgegenstehen als dem methodologischen Individualismus der neoklassischen Ökonomie. Ist es eine eigentümliche Ironie der Geschichte, dass dieses gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals gerade in der Zeit, in der es eine bisher nie erfahrene Verbreitung erfahren hat, in der sozialwissenschaftlichen Diskussion zunehmend übersehen wurde? Heute zeigt die offizielle Statistik, dass im westlichen Kapitalismus über 90 Prozent der Erwerbstätigen abhängig Beschäftigte sind – so viele wie niemals zuvor; in den Ländern des Südens dominiert das informelle Proletariat (Davis 2007). Als die Verallgemeinerung der Lohnarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Dynamik erlangte, begann in der Soziologie der immer wieder neu unternommene und von Jürgen Ritsert (1988) trefflich kritisierte Versuch, die sozialen Klassen zum Verschwinden zu bringen. Während für die Klassiker der Soziologie deren Existenz noch so selbstverständlich war, dass sie kaum diskutiert werden musste, entwickelte sich nun eine Soziologie ohne Klassen. Es wäre zu einfach, dies als rein ideologisches Phänomen abzutun. Wie Robert Castel (2000: 306ff.) festhält, löst sich die Arbeiterklasse in der société salariale, deren Leitfiguren bürgerliche Lohnabhängige wie leitende Angestellte, Manager, Experten und Wissenschaftler sind, in gewisser Weise tatsächlich auf. Nun, da das gesellschaftliche Verhältnis des Kapitals die grosse Bevölkerungsmehrheit in Lohnabhängige verwandelt hat und die Lebensentwürfe der Menschen von der Schule bis zum Ruhestand um die Lohnarbeit herum organisiert sind, wird dieses so selbstverständlich gewordene Verhältnis als solches unsichtbar und wirkungsvoll naturalisiert. Durch die Brille der Marx’schen Ökonomiekritik betrachtet vermag uns dies allerdings nicht zu überraschen: Vielmehr zeigt die Amnesie des Kapitalverhältnisses die soziologische Relevanz der Differenz zwischen der Esoterik und der Exoterik der kapitalistischen Verhältnisse an.
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Soziale Kraft Marx spricht oft von Verwandlungen: Der Begriff verweist auf gesellschaftliche Kräfte, die Dinge und Menschen zu etwas Anderem machen, als sie eigentlich sind. Es handelt sich um Prozesse, die in dem Sinne übersinnlich oder übermenschlich sind, als sie das Handlungs- und Wahrnehmungsvermögen der Menschen übersteigen. Das gilt etwa für die Verwandlung von Geld in Kapital, von der im ersten Band des Hauptwerks die Rede ist. Das Geld verwandelt sich in eine scheinbar magische Kraft, in Kapital, wenn es in bestimmte Bewegungen kommt und regelmäßig durch neuen Mehrwert genährt wird, der aus der kapitalistischen Produktion hervorgeht. Marx ([1873] 1962: 169) schreibt: »In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldene Eier.«
Das Kapital erscheint nun als »übergreifendes Subjekt« der gesellschaftlichen Produktion, als »automatisches Subjekt« oder als »prozessierender Wert«, der »in ein Privatverhältnis zu sich selbst« tritt und sich in seinen ebenso end- wie maßlosen Kreislaufbewegungen vermehrt (ebd.: 169-170). Die Verwandlung in Kapital macht aus dem Geld etwas ganz Anderes als ein einfaches Tauschmittel. Natürlich ist die okkulte Qualität, von der Marx hier spricht, das Ergebnis durch und durch weltlicher, das heißt gesellschaftlicher Begebenheiten und Prozesse: Sie beruht auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durch das Kapital. Wir können von einer sozialen Kraft oder Energie sprechen, die durch das gesellschaftlich bestimmte Handeln unzähliger Menschen erzeugt wird und den Dingen eingeschrieben ist bzw. an ihnen zum Ausdruck kommt und erfahren wird, in denen das Kapital – immer nur vorübergehend – haust. Pierre Bourdieus (1992: 49) Begriff der vis insita, einer der sozialen Welt eingeschriebenen Kraft, ist in diesem Sinne hilfreich, auch wenn sein Kapitalbegriff in anderer Hinsicht nicht ohne weiteres mit dem Marx’schen Konzept zusammengebracht werden kann; darauf komme ich im sechsten Kapitel dieser Arbeit zurück. Wenn Michael Vester (2002: 67) dagegen in einer Analogie von Kapital- und Relativitätstheorie die Arbeit mit der Energie und das Kapital mit der Masse gleichsetzt, fasst er nur einen Aspekt dessen, was den Marx’schen Kapitalbegriff ausmacht. Denn das Kapital ist für Marx zwar tote Arbeit und in diesem Sinne durchaus gespei-
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cherte Energie. Aber diese soziale Energie wirkt in potenzierter Kraft und verleiht dem Kapital die eigentümliche Fähigkeit, gesellschaftliches Subjekt zu werden und das Handeln und Denken der Menschen zu beherrschen. »Der Tote packt den Lebenden!« (Marx [1873] 1962: 15) – und die Masse ist Energie, deren Wirkung umso stärker ist, je mehr Wertmasse in den Kapitalkreisläufen bewegt wird. Es kommt ein weiterer soziologisch relevanter Aspekt hinzu: Das Kapital kann diese soziale Kraft nur entfalten, wenn natürliche und menschliche Ressourcen in Wertform gebracht sind, das heißt für die kapitalistische Produktion zugerichtet wurden. Die Kreisläufe des Kapitals sind regelrechte Metamorphosen, in denen der Wert immer wieder die Form wechseln muss, um sich zu erhalten und vermehren; er kann aber nicht alle möglichen Formen annehmen, nur Wertformen. Die Theorie der gesellschaftlichen Wertformen ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Kapitalbegriffs. Marx beschreibt die Metamorphosen des Kapitals im zweiten Band des Hauptwerks. Er unterscheidet zum Beispiel die drei Kreisläufe des Industriekapitals (Geldkapital, produktives Kapital und Warenkapital), die unterschiedliche Stadien und Tempi aufweisen, aber ineinander greifen müssen, damit die Produktion so reibungslos wie möglich abläuft. Marx ([1893] 1963, 109) betont: »Das Kapital als sich verwertender Wert umschließt nicht nur Klassenverhältnisse, einen bestimmten gesellschaftlichen Charakter, der auf dem Dasein der Arbeit als Lohnarbeit beruht. Es ist eine Bewegung, ein Kreislaufsprozess durch verschiedne Stadien, der selbst wieder drei verschiedne Formen des Kreislaufsprozesses einschließt. Es kann daher nur als Bewegung und nicht als ruhendes Ding begriffen werden. Diejenigen, die die Verselbständigung des Werts als bloße Abstraktion betrachten, vergessen, dass die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist. Der Wert durchläuft hier verschiedne Formen, verschiedne Bewegungen, in denen er sich erhält und zugleich verwertet, vergrößert.«
Ständige Bewegung und Metamorphose von einer Wertform in eine andere prägen das Wesen der Kapitalverwertung. Mit Alain Bihr (2010) können wir die relative Verselbständigung des Werts als roten Faden der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie betrachten. Von der Ware über das Geld bis zum Kapital gewinnt der Wert schrittweise an Autonomie und sozialer Kraft. Das Kapital ist das fungible Ding par excellence, genau das Gegenteil eines greifbaren Gegenstands. Seine Dynamik und Kraft, aber auch seine Krisenanfälligkeit, beruhen darauf, dass es stets in Bewegung ist und in verschiedene Gegenstände schlüpft, um sich zu verwerten. Es hat sich ei-
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gene gesellschaftlichen Formen und Institutionen geschaffen, bis zu seiner Wissenschaft, die es als Naturding mit magischen Fähigkeiten behandelt. Der Zusammenhang, in dem es den Menschen erscheint, ist getrennt vom Zusammenhang, aus dem es hervorgeht, so dass es als automatisches Subjekt auftritt und sich die Menschen Untertan macht. Für Marx ist die Veräußerlichung des Kapitals, seine Verwandlung in ein magisches Ding, im zinstragenden Kapital – heute würden wir von der Finanzwelt sprechen – am stärksten ausgeprägt: »Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltlose Form.« (Marx [1894] 1964: 405)
Marx fügt an: »Es wird ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnenbaums, Birnen zu tragen.« (Ebd.: 405) Damit kommen wir zur dritten Bestimmung des Marx’schen Kapitalbegriffs. Objektive Gedankenform Die kanonische Rezeption des Marx’schen Hauptwerks hat das Fetischtheorem in der Regel ignoriert oder nur als nebensächlichen Aspekt behandelt. Erst die Veröffentlichung von Georg Lukacs’ ([1923] 1983) Geschichte und Klassenbewusstsein zu Beginn der 1920er Jahre hat ein neues Licht darauf geworfen. Dieses Werk hat einer Marx-Lektüre den Weg geebnet, die auf Probleme der Entfremdung und Verdinglichung fokussierte und die Kritische Theorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung prägte. Doch erstaunlicherweise kommt die Kritische Theorie weitgehend ohne den Kapitalbegriff aus: Sie konzentriert sich auf den Tausch und die Ware, wie wenn die Marx’sche Fetischtheorie beim Warenfetischismus stehen geblieben wäre. Wer über das berühmte Fetischkapitelchen im ersten Band des Kapitals hinaus liest, stellt allerdings fest, dass für Marx der Fetischismus weder in der Ware noch im Geld, sondern im Kapital seinen höchsten Ausdruck findet: im zinstragenden Kapital. So schreibt er im 24. Kapitel des dritten Kapital-Bandes über die Veräußerlichung des Kapitalverhältnisses in der Form des zinstragenden Kapitals: »Hier ist die Fetischgestalt des Kapitals und die Vorstellung vom Kapitalfetisch fertig. In G – G’ haben wir die begriffslose Form des Kapitals, die Verkehrung und Versachlichung der Produktionsverhältnisse in der höchsten Potenz: zinstragende Gestalt, die einfache
80 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE Gestalt des Kapitals, worin es seinem eigenen Reproduktionsprozess vorausgesetzt ist; Fähigkeit des Geldes, resp. der Ware, ihren eignen Wert zu verwerten, unabhängig von der Reproduktion – die Kapitalmystifikation in der grellsten Form.« (Marx [1894] 1964: 405)
Das Kapital ist für Marx also nicht nur die treibende Kraft des inneren Zusammenhangs der kapitalistischen Ökonomie, sondern auch eine Schlüsselkategorie des erscheinenden (oder exoterischen) Zusammenhangs, der die Alltagswahrnehmungen der Akteure prägt. »Für die Vulgärökonomie, die das Kapital als selbständige Quelle des Werts, der Wertschöpfung darstellen will, ist natürlich diese Form [des zinstragenden Kapitals] ein gefundenes Fressen, eine Form, worin die Quelle des Profits nicht mehr erkenntlich und worin das Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses – getrennt vom Prozess selbst – ein selbständiges Dasein erhält.« (Marx [1894] 1964: 405-406)
Als verkehrte und verrückte Kategorie, zugleich objektive und »gesellschaftlich gültige Gedankenform« (Marx [1873] 1962, 90), prägt es die Weltsicht der Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft und wird Doxa, das heißt vorherrschendes, nicht hinterfragtes und kaum hinterfragbares Sicht- und Teilungsprinzip, durch das die alltagspraktisch handelnden Menschen die soziale Welt wahrnehmen. In dieser Perspektive lassen sich Marx’ Beobachtungen zum fiktiven Kapital, die in der Regel – wenn überhaupt – unter dem Aspekt des spekulativen Charakters der Finanzökonomie und der darin liegenden Wahrscheinlichkeit von Spekulationsblasen und Börsenkrachs aufgegriffen werden, einer neuen Lektüre unterziehen. Für Alain Bihr (2010, 102-105) sind die an den Finanzmärkten gehandelten Titel fiktives Kapital, weil sie nicht als Kapital produktiv investiert werden, mit keiner Wertschöpfung verbunden sind – sondern nur Werte abschöpfen – sowie Werte zum Ausdruck bringen, die auf spekulativen Annahmen über zukünftige Geschäfte – in der Real- und Finanzökonomie – beruhen: Die Kapitalisierung spiegelt den Kurs der Titel und zugleich Spekulationen über die zukünftigen Kursentwicklungen. Gleichzeitig hält er fest, das fiktive Kapital erscheine als höchste Form der kapitalistischen Ökonomie, weil dieses Kapital mobiler sei als alle anderen und sich den Unwägbarkeiten des Produktionsprozesses scheinbar entziehen könne. »Sa fiction est l’indice du degré d’abstraction concrète auquel est parvenu la valeur dans son mouvement d’autonomisation. En ce sens, qualifier de fictive l’économie financière
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fondée sur la circulation des titres et la spéculation sur leurs cours, c’est ne pas lui denier toute réalité, bien au contraire. En particulier, via le capital de prêt dont elle est une composante essentielle, cette économie fictive est en mesure de se saisir de l’économie réelle (le procès de reproduction du capital), de la plier à ses exigences spéculatives, de la vampiriser même.« 3 (Ebd.: 104)
Das Ausmaß, in dem das Kapital in fiktiver Form gewissermaßen zum Vampir wird, ist demnach Ausdruck dieser Veräußerlichung des Kapitalverhältnisses, durch die das Kapital magisches Ding wird, das Früchte trägt wie ein Baum. Doch das Kapital saugt nicht nur lebendige Arbeit ein, wie der Vampir menschliches Blut verschlingt, sondern bringt auch die Gedanken der Menschen in eine Form, die es am Leben erhält. Es stellt dem menschlichen Denken gesellschaftlich gültige objektive Gedankenformen bereit, in denen sich dieses bewegen soll: »Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich«, hält Marx ([1894] 1964: 482) fest, »dass jede bestimmte und regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht. Erst wird das Geldeinkommen in Zins verwandelt, und mit dem Zins findet sich dann auch das Kapital, aus dem er entspringt. Ebenso erscheint mit dem zinstragenden Kapital jede Wertsumme als Kapital, sobald sie nicht als Revenue verausgabt wird; nämlich als Hauptsumme (principal) im Gegensatz zum wirklichen oder möglichen Zins, den sie tragen kann.«
Marx beschreibt hier – vielleicht unbeabsichtigt – den modus operandi dieser Doxa, von der oben die Rede war. Wenn wir seinen Begriff des fiktiven Kapitals als vorgestelltes oder imaginiertes Kapital übersetzen, wird die Aufmerksamkeit auf spezifische Prozesse der Wahrnehmung und des Denkens gelegt, die alle möglichen Gegenstände als Kapital erscheinen lassen. Mit Marx ([1873] 1962: 88) müssen wir davon ausgehen, dass alltagspraktisch handelnde Menschen nicht absichtlich in ihren Gedanken fiktives Kapital produzieren: »Sie wissen
3 »Seine Fiktion zeigt den Grad der konkreten Abstraktion an, den der Wert in seinem Streben nach Verselbständigung erreicht hat. Die auf der Zirkulation der Finanztitel und der Spekulation über deren Kursentwicklung beruhende Finanzökonomie als fiktiv zu bezeichnen bedeutet deshalb nicht, deren Realitätsgehalt abzustreiten, ganz im Gegenteil. Diese fiktive Ökonomie vermag insbesondere durch das Leihkapital, von dem sie einen wesentlichen Teil umfasst, die reale Ökonomie (den Prozess der Reproduktion des Kapitals) zu erfassen, ihren spekulativen Forderungen zu unterwerfen und sogar wie ein Vampir auszusaugen.«
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das nicht, aber sie tun es.« Die Verklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ist umso wirksamer, je unbewusster die Herstellung und die Reproduktion der Sichtweisen vor sich gehen, die ihr zugrunde liegen. Die Verbreitung von Begriffen wie Human- oder Sozialkapital in der ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Theorie sowie in der Alltagssprache kann durchaus als Gradmesser gesehen werden, in welchem Ausmaß das Kapital nicht nur die gesellschaftliche Produktion, sondern auch das alltägliche und das wissenschaftliche Denken der heutigen Zeit durchdringt und entlang seiner verrückten Kategorien zu restrukturieren vermag.
K ONVERSION
DES
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Die Erkenntnisse aus der vorgeschlagenen Lektüre des Kapitals lassen sich nun vorläufig wie folgt zusammenfassen: Im Alltagsdenken wie in der vorherrschenden ökonomischen Theorie wird das Kapital als ein Ding betrachtet, als eine Ressource, welche die Akteure strategisch zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen können. Dies liegt an der besonderen Qualität dieses Dings, Gewinn abzuwerfen. Sie erlaubt es den Kapitalbesitzern gewissermaßen zu zaubern, das heißt Wirkungen zu erzielen, die ohne Einsatz von Kapital nicht erreicht werden könnten. Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie ermöglicht eine radikale Konversion des Blicks auf solche Phänomene und wirft Licht auf die dahinter wirkenden gesellschaftlichen Zusammenhänge. Nicht nur betont der Verfasser des Kapitals, wie sehr die kleinen Zauberer gefangen sind in einem großen Zauber, dem sie im Alltagshandeln erliegen, um ihn umso wirksamer am Leben zu erhalten. Das Kapital wird übergreifendes Subjekt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse, es hat die Akteure weitaus mehr, als diese es haben und für ihre Zwecke nutzen können. Darüber hinaus entzaubert Marx die magischen, Gewinn abwerfenden Dinge, wenn er unterstreicht, dass sich an ihnen nur die Wirkungskraft der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus dinglich darstellt. Die Verausgabung menschlichen Arbeitsvermögens in Wertform, nicht das Kapital, ist die Quelle des Reichtums und jeden ökonomischen Profits. Aber die Exoterik der gesellschaftlichen Wertformen macht diese Quelle systematisch unsichtbar. Damit ist schließlich angedeutet, warum den Akteuren bei alldem in der Regel überhaupt nichts zauberhaft oder geheimnisvoll zu sein scheint. Sie sehen es als die natürlichste Sache der Welt an, Kapital einzusetzen, um einen Gewinn zu machen. Der Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie existiert für sie überhaupt nicht. »Die Sichtweise erzeugt das Objekt«, hielt Ferdinand de Saussure fest (zit. in Bourdieu, Chamboredon, Passeron 1991: 37). Ohne die Perspek-
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tive der Kritik der politischen Ökonomie existiert das Kapital als sozialwissenschaftlicher Forschungsgegenstand nicht. So kommt die Marx’sche Kapitalanayse an dem Punkt zu einer theoretischen Sättigung, an dem sie verstehen lässt, warum die dem Kapital zugrunde liegende Problemstellung den alltagspraktisch handelnden Akteuren zwangsläufig fremd bleiben muss und auch den sozialwissenschaftlich forschenden Menschen nur um den Preis einer intellektuellen Anstrengung zugänglich ist, die darauf zielt, die immer schon vorhandenen und vertrauten Vorbegriffe über die kapitalistische Ökonomie systematisch in Frage zu stellen.
III. Spurensuche bei den Klassikern der Soziologie
Die Ergebnisse der ersten zwei Kapitel der vorliegenden Schrift lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Mit seiner Kritik der Politischen Ökonomie hat Karl Marx ein durchaus gesellschaftstheoretisch angeleitetes Forschungsprogramm entworfen und im Hauptwerk zumindest in Ansätzen verwirklicht, die insbesondere in der Theorie der gesellschaftlichen Wertformen und im Fetischtheorem zum Tragen kommen. Doch in der gegenwärtigen Soziologie sind von diesem Programm kaum Spuren zu erkennen – nicht einmal bei jenen Autorinnen und Autoren, die sich wohlwollend auf den Verfasser des Kapitals beziehen. Die Soziologie kennt ihre eigenen Kapitaltheorien, die auf der Verwendung einer Mehrzahl von Bindestrich-Kapitalbegriffen beruhen, ohne sich zu vergewissern, wie das Kapital an sich als soziologisches Konzept sinnvoll zu verstehen wäre, und ohne sich auf das Marx’sche Kapital zu beziehen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob der Soziologie diesbezüglich etwas verloren gegangen ist, oder ob sie dieses Programm von Marx historisch gesehen gar nie aufgegriffen hat. Um der Frage nachzugehen ist es angezeigt, einen Blick auf die soziologischen Klassiker zu werfen und deren Werk unter dem Aspekt zu besprechen, ob und wie sie auf Karl Marx und vor allem auf sein Kapital reagiert haben: Einer solchen Spurensuche ich dieses dritte Kapitel gewidmet. Natürlich vermag ich dieser Aufgabe im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur in begrenztem Ausmaß nachzukommen. Ich konzentriere mich mit Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel auf drei deutsche Klassiker, von denen nur der erstgenannte ausführlich und explizit zum Marx’schen Werk Stellung bezogen hat. Es war allerdings um die Jahrhundertwende in der akademischen Welt im Allgemeinen noch sehr außergewöhnlich, über Marx zu sprechen und sich ernsthaft mit seinen Schriften auseinanderzusetzen. Es wird sich zeigen, dass auch Max Weber und Georg Simmel zumindest in Teilen ihres Werks mit Sicherheit Antworten auf Fragen formulieren, die der Verfasser des Kapitals
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aufgeworfen hat, auch wenn dessen Name dabei nicht fallen muss. Über die Feststellung hinaus, dass Marx für alle drei Klassiker eine wichtige Rolle gespielt hat, interessiert vor allem die Frage, was sie von ihm aufgegriffen und was sie daraus gemacht haben – sowie natürlich: was sie eben nicht aufgegriffen haben. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die Fokussierung auf deutsche Klassiker die Gefahr eines »theoretischen Provinzialismus« (Hoff 2009: 14-16) birgt, wogegen das Marx’sche Werk in allen möglichen Sprachräumen rezipiert wurde. Über rein pragmatische Erwägungen hinaus, auf denen diese Wahl beruht, lässt sich allerdings festhalten, dass die internationale Wirkung des Marx’schen Werks in erster Linie von Deutschland ausging, obwohl er Das Kapital in London verfasste. Das gilt auch für die Entstehung des politischen Marxismus und die ersten Formen der kanonischen Rezeption (Friedrich Engels, Karl Kautsky). Sodann müssen wir uns vor Augen halten, dass die deutschen Klassiker einen großen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der Soziologie in anderen Sprachräumen hatten: Denken wir zum Beispiel an die zentrale Bedeutung der Rezeption des Werks von Max Weber für die amerikanische oder die französische Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die internationale Ausstrahlung der deutschen Klassiker scheint also in umgekehrtem Verhältnis zur relativ späten Etablierung der Soziologie als eigenständiger akademischer Disziplin zu stehen. Deshalb können wir durchaus davon ausgehen, dass die Reaktionen von Sombart, Weber oder Simmel auf Marx das Feld der wahrscheinlichen soziologischen Lesarten des Kapitals nicht nur im deutschsprachigen Raum nachhaltig geprägt haben.
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Werner Sombart ist der vergessene, wenn nicht sogar diskreditierte Klassiker der deutschen Soziologie. Das geringe Interesse und die fehlende Wertschätzung, die seinem Werk etwa im Vergleich zu den Schriften Max Webers seit dem Zweiten Weltkrieg entgegengebracht wurden, kontrastieren mit der Tatsache, dass er zur Jahrhundertwende als der führende und vielleicht einflussreichste deutsche Soziologe galt (Drechsler 2000). Ohne Zweifel muss diese unglückliche Rezeption des Werks im Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen gesehen werden und lässt sich nicht allein auf den wissenschaftlichen Gehalt seiner Arbeiten zurückführen. Im Gegensatz zu Weber oder Simmel hatte Sombart gewissermaßen das Pech, nicht vor dem Siegeszug des Nationalsozialismus zu sterben, und seine Haltung zum Hitler-Regime, die ihn im Nachkriegsdeutschland nachhaltig diskreditierte, war kein Ruhmesblatt (Reheis
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2000). Vielleicht sind aber auch seine offene Auseinandersetzung mit Marx und den sozialistischen Strömungen seiner Zeit sowie sein expliziter Antikapitalismus in der Zeit des Kalten Krieges zum Hindernis jeder seriösen Kenntnisnahme und Diskussion seiner Schriften geworden. Doch wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Spuren das Marx’sche Hauptwerk in der soziologischen Klassik hinterlassen hat, führt kein Weg an Werner Sombart vorbei. Wie kein anderer Klassiker der Soziologie hat er sich um eine wissenschaftliche Diskussion der Schriften von Marx bemüht und damit den Verfasser des Kapitals in akademischen Kreisen diskussionswürdig gemacht (Lenger 2000). Bereits zu Beginn der 1890er Jahre hielt Sombart an der Universität Breslau Lehrveranstaltungen über Marx, was für einige Aufregung sorgte. Friedrich Engels gestand ihm mit Bezug auf eine Besprechung des dritten Kapital-Bandes zu, es als erster »deutscher Universitätsprofessor« geschafft zu haben, »im großen und ganzen in Marx’ Schriften das zu sehn, was Marx wirklich gesagt hat« (zitiert in ebd.: 175). Der junge Sombart galt trotz der Kritik, die er gegen Marx richtete, nicht wenigen als Marxist, und er hat sich selbst gelegentlich als Neo-Marxist bezeichnet. Doch erweist sich die Etikettierung als irreführend. Sombart war einfach davon überzeugt, die moderne Sozialwissenschaft müsse die Schriften von Marx zur Kenntnis nehmen und sich mit den vorherrschenden Strömungen des Sozialismus ernsthaft auseinandersetzen, um ihre eigenen Entwicklungsmöglichkeiten nicht ohne Grund einzuschränken. Niemals ging es ihm hingegen darum, sich in den marxistischen Kosmos zu stellen, und seine Überlegungen zum Sozialismus sind bis zum Schluss heterodox und einsam geblieben. Der moderne Kapitalismus Mit Blick auf Umfang und wissenschaftliche Ambition lässt sich Sombarts 3'000 Seiten starke Studie Der Moderne Kapitalismus mit dem Marx’schen Kapital vergleichen. Diese 1916 bzw. 1927 in drei Bänden neu aufgelegte Untersuchung, die weit umfangreicher als eine erste Publikation mit demselben Titel aus dem Jahr 1902 ausfällt, befasst sich mit der Geschichte der europäischen Gesellschaften unter dem Aspekt der Genese der kapitalistischen Ökonomie und nimmt eine Zeitspanne von beinahe Tausend Jahren in den Blick. Damit liegt zwar der Schwerpunkt im Vergleich zum Marx’schen Hauptwerk stärker auf der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus als auf der Analyse der Gegenwartsgesellschaft. Doch der dritte Band über den Hochkapitalismus, den Sombart in der Zeitspanne zwischen 1760 und dem Ersten Weltkrieg ansiedelt, deckt sich wesentlich mit dem Gegenstand der Kritik der Politischen Ökonomie, soweit sie
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Gesellschaftsanalyse zu sein beansprucht. Im Geleitwort zu diesem Band nimmt er denn auch ausführlich Stellung zur Frage, in welchem Verhältnis zu Marx er seine Kapitalismusanalyse sieht. Dabei betont er die Bedeutung der zeitlichen Distanz, die seine Generation vom Verfasser des Kapitals trennt. Sombart ([1927] 1987: XIX) zeigt sich hier sehr beeindruckt durch Marx’ wissenschaftliche Pionierleistungen, insbesondere durch seine Fähigkeit, mit der Kapitalismusanalyse Neuland betreten und Fragen gestellt zu haben, die aktuell geblieben sind: »Von seinen Fragen leben wir heute noch. Mit seiner genialen Fragestellung hat er der ökonomischen Wissenschaft für ein Jahrhundert die Wege gewiesen. Alle Sozialökonomen, die sich diese Fragestellung nicht zu eigen machen wussten, waren zur Unfruchtbarkeit verdammt, wie wir heute schon mit Sicherheit feststellen können.«
So sieht er das Ziel seiner eigenen Untersuchungen darin, das Marx’sche Werk fortzusetzen und in einem gewissen Sinne zu vollenden. Das erfordere aber eine Entzauberung von Marx, weil es nicht mehr möglich sei, dieselbe Haltung einzunehmen wie Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals sei der Kapitalismus noch ein »wildes Durcheinander [gewesen], von dem sich noch nicht mit Gewissheit sagen ließ, was aus ihm werden würde« (ebd.: XIX). Umso mehr habe Marx seine persönlichen Wünsche in die Analyse einfließen lassen können, um die Gegenwart als die »notwendige Vorstufe einer besseren, einer idealen Gesellschaft zu betrachten« (ebd.: XX). Inzwischen sei jedoch »das Land des Kapitalismus erforscht, mit Wegen durchzogen, mit Ansiedlungen bedeckt: von einem Ende zum anderen in allen Teilen vermessen und mit trigonometrischen Punkten bezeichnet« (ebd.: XX). Es sei nicht mehr möglich, wie Marx an die schöpferische Kraft des Kapitalismus zu glauben: »Wir können nicht mehr in derselben Richtung weiterblicken, in der sich die Weltgeschichte bewegt, nicht mehr an das glauben, was sich zwangsläufig aus dem Kapitalismus ergibt; wir können das Heil nur noch in einer Umkehr und Abkehr von ihm erblicken.« (Ebd.: XXI) Sombart findet sehr einprägsame Formulierungen, um seine Studie in Beziehung zu Marx zu setzen: »So können wir zusammenfassend sagen: was Marx sprach, war das stolze erste Wort über den Kapitalismus, in diesem Werke wird das bescheidene letzte Wort über dieses Wirtschaftssystem, soweit es rein ökonomisch in Betracht kommt, gesprochen. Damals war es morgen und die Lerche sang, heute will es Abend werden und die Eule der Minerva beginnt ihren Flug. Will man aber ohne Bild das Verhältnis dieses Werks zu dem Marx’schen mit einem Wort bezeichnen, so kann man vielleicht sagen, dass in ihm Marx
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entzaubert wird. Entzauberung bedeutet aber dasselbe wie Verwissenschaftlichung in dem nüchternen Sinne, den ich diesem Worte beimesse.« (Ebd.: XXI-XXII)
Diese Zeilen lassen anklingen, welchen Sinn Werner Sombart einer kritischen Lektüre des Marx’schen Werks zuwies. Marx zu entzaubern bedeutete in seinen Augen vor allem, die für die Sozialwissenschaften reichhaltigen Anregungen aufzugreifen, sich aber zugleich von der Verschränkung eines optimistischen Geschichtsdeterminismus mit einem entsprechenden politischen Programm zu distanzieren. Im Vergleich zu Marx sah sich Sombart ([1927] 1987: XXI) gezwungen, mehr zurück zu schauen, als den Blick nach vorne zu richten. »Fragen, die den Zauber der Neuheit haben, können wir nicht mehr stellen. Wir müssen uns mit Antworten begnügen«, hält er etwa nüchtern fest (ebd.: XX). Er scheint Marxismus weitgehend mit Marx gleichzusetzen und vernachläßigt die Tatsache, dass sich das Marx’sche Werk nach den Frühschriften weiterentwickelt hat. Wenn er etwa schreibt, Marx habe seine Gedanken in den 1840er Jahren empfangen (ebd.: XIX), übersieht er, dass der Verfasser des Kapitals bis zu seinem Tod intensiv Kapitalismusanalyse betrieben und seine Begriffe und Theorien immer weiter entwickelt hat. Der folgende Satz lässt zumindest die Interpretation zu, Sombart habe das Marx’sche Hauptwerk nicht als Versuch erkannt (oder anerkannt), sich nach den teilweise stürmischeren Frühschriften der »mühseligen Aufgabe« einer Systemanalyse zu unterziehen: »Auch ein Marx vermöchte heute, wenn er sich überhaupt dieser mühseligen Aufgabe unterziehen und ein System der kapitalistischen Wirtschaft schreiben wollte, nichts anderes als ein in sich selbst ruhendes Erkenntnisgebilde zu schaffen.« (Ebd.: XXI) Es geht ihm an der Stelle um den Vergleich mit einem anderen Klassiker: »Dass auch das Werk eines genialen Menschen, der sich heute mit dem Wirtschaftsleben theoretisch und historisch befasst, jenes Zaubers der Älteren entbehrt, hat Max Weber uns gezeigt.« (Ebd.: XXI) Es ist müssig zu spekulieren, was Marx getan und geschrieben hätte, hätte er der Generation von Werner Sombart angehört. Doch können wir die Kapitalismusanalysen der beiden Autoren vergleichen. Im Zentrum von Sombarts Kapitalismustheorie stehen nicht das Kapital, sondern der kapitalistische Geist und dessen Träger, der Unternehmer. Das klingt in dieser Definition an: »Unter Kapitalismus verstehen wir ein bestimmtes Wirtschaftssystem, das folgendermaßen sich kennzeichnen lässt: es ist eine verkehrswirtschaftliche Organisation, bei der regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen: die Inhaber der Produktionsmittel, die gleichzeitig die Leitung haben, Wirtschaftssubjekte sind und besitzlose Nurarbeiter (als Wirtschaftsobjekte), durch den Markt verbunden, zusammenwirken, und die von dem Er-
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Sombarts Versuch, eine Entstehungsgeschichte des Kapitalismus zu schreiben, konzentriert sich konsequenterweise auf die Suche nach den ersten Formen und der weiteren Entwicklungsdynamik des kapitalistischen Geistes. Für Sombart ist der Kapitalismus »das Werk einzelner hervorragender Männer«; dessen Genese beschreibt er als eine »Geschichte von Persönlichkeiten« und streicht pathetisch heraus: »Am Anfang war die schöpferische Tat des einzelnen; eines wagenden, unternehmerischen Mannes, der beherzt den Entschluss fasst, aus den Geleisen der herkömmlichen Wirtschaftsführung herauszutreten und neue Wege einzuschlagen.« (Ebd.: 836) Nun interessiert sich aber die Soziologie weniger für individuelle Persönlichkeiten als für gesellschaftliche Phänomene. Sombart geht deshalb der Frage nach, wie aus den mutigen Taten dieser Männer Massenerscheinungen wurden. Er geht von der allgemeinen Regel aus, die große Masse werde stets von wenigen Individuen geführt: »Wir stoßen also auf einen, aber nur scheinbaren Widerspruch in der Mechanik des geschichtlichen Massengeschehens: dass dieses nämlich einerseits nur als Ausdruck eines Massenwillens zu verstehen ist und dass doch immer nur einzelne Hervorragende die Richtung weisen. Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir das geschichtliche Geschehen als die unausgesetzte Spannung zwischen dem kräftigen Einzelwillen und seiner Verallgemeinerung in einem Massenwillen begreifen, eine Spannung, die in den verschiedenen Zeitläufen verschiedene Formen und vor allem einen sehr verschiedenen Stärkegrad annehmen kann, die aber doch immer vorhanden ist.« (Sombart [1927] 1987: 10)
Sombart stellt schließlich die Bedeutung der Verbreitung eines kapitalistischen Geistes in der Arbeiterklasse als Voraussetzung für den lange hinausgezögerten Triumph des modernen Kapitalismus heraus (ebd.: 424ff.; Sombart [1916b] 1987: 815ff; 1111ff.). Diese in manchen Passagen beinahe unglaubliche Überbetonung des Gewichts individueller Handlungen in der Geschichte, die Verklärung des Unternehmers zum Helden des modernen Kapitalismus dient Sombart ([1927] 1987: 6) dem Ziel, jede »metaphysische Betrachtung« oder Berufung auf »überempirische Wesenheiten« auszuschließen. Geschichtliche Vorgänge und gesellschaftliche Phänomene dürfen in seinen Augen nicht durch Sinnzusammenhänge, etwa durch einen Geist oder besondere Kräfte, erklärt werden, auch nicht durch Zustände oder Naturgewalten, sondern nur durch die einzige Kraft, die historisch und gesellschaftlich wirksam ist: »[Das] ist der lebendige Mensch mit seinen
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Strebungen, seinen Zielsetzungen, seinen Willensregungen; der lebendige Mensch mit seinen Gedanken und Leidenschaften.« (Ebd.: 9) Das Argument richtet sich nicht zuletzt gegen marxistische Argumentationsweisen: »Obgleich Marx und seine Schule die treibenden Kräfte der Geschichte in der richtigen Ebene gesucht und größtenteils gefunden haben, nämlich in der Vitalsphäre, so begehen sie doch oft genug den Fehler der einseitigen Spiritualisten, dass sie Sinnzusammenhänge ohne weiteres als wirksame Kräfte ansprechen. Ein solcher Sinnzusammenhang und nicht mehr ist aber zweifellos das vielberufene ›Verwertungsstreben des Kapitals‹, das sich nämlich als der innerste Kern des kapitalistischen Wirtschaftssystems enthüllt. Als solcher aber – darin haben die Gegner des Marxismus zweifellos recht – kann er nicht treibende Kraft wirtschaftlichen Geschehens sein. Es ist schiere ›Mystik‹, ›das Kapital‹ irgendetwas bewirken lassen zu wollen, das heißt also, ein gesellschaftliches Beziehungsverhältnis zu einer treibenden Kraft im sozialen Leben zu erklären.« (Ebd.: 7)
Sombart verbaut sich mit diesen kategorischen Ausführungen die Möglichkeit, das Kapital als Kraft oder Macht zu betrachten, in der das durch gesellschaftliche Verhältnisse strukturierte Handeln unzähliger Menschen unabhängig von ihnen und in einem gewissen Sinn gegen sie wirkungsmächtig wird. Indem er die Verallgemeinerung des Geistes einzelner herausragender Persönlichkeiten im Massenwillen als einzigen Mechanismen setzt, über den der lebendige Mensch Geschichte und Gesellschaft macht, läuft er selbst wiederum Gefahr, mit dem Unternehmer eine überempirische, das heißt übermenschliche Figur ins Leben zu rufen. Doch zugleich entwickelt er – eher implizit – einen weiteren Erklärungsstrang, welcher mit der Verklärung des Unternehmers in ein Spannungsverhältnis tritt: die »Versachlichung des kapitalistischen Geistes« in der Form des Unternehmens, das heißt »die Verselbständigung des Geschäfts« als Unternehmen, das »gleichsam ein eigenes, das Leben der Individuen überdauerndes Leben führt« ([1927] 1987: 35). Sombart beschreibt es in eindrücklichen Zeilen als »sachliches Ungeheuer« (ebd.: 36) mit eigenem Zweck, Verstand und Tugenden. Es zwingt den einzelnen Unternehmer, seine verschiedenen persönlichen Interessen dem einzigen Ziel des Gewinns zu unterwerfen und erzeugt eine sich von den einzelnen Personen lösende »Objektivierung des Gewinnstrebens« (ebd.: 37). Mit der Analyse des kapitalistischen Unternehmens, in dem »der ökonomische Rationalismus ganz losgelöst von der Person des Inhabers und des Personals [haust]« (ebd.: 37), liefert Sombart einen originellen Beitrag zur Soziologie des modernen Kapitalismus.
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Sachliches Ungeheuer und Vergeistung Der kapitalistische Geist weist für Sombart ([1916b] 1987: 23ff.) zwei Seiten auf, er hat einen romantischen und einen bürgerlichen Zug. Auf der einen Seite ist er abenteuerlich oder auch kriegerisch gestimmte Eroberungslust, die weder moralische Bindungen noch geografische Grenzen respektiert; anderseits aber bürgerliche Tugend und Gewissenhaftigkeit, orientiert an der Vertragsidee und am abwägenden Kalkül. Es ist diese Seite, der sich im Unternehmen objektiviert und das »faustische« Element dominiert, so dass Sombart die Entwicklung zu einem gezähmten, durch normatives und organisatorisches Denken beherrschten Kapitalismus erwartet. Das sachliche Ungeheuer hat allerdings nicht erst im Hoch- oder Spätkapitalismus laufen gelernt, sondern bereits an der Genese der kapitalistischen Ökonomie entscheidend partizipiert, etwa durch die Einführung der systematischen Buchführung seit dem 15. und 16. Jahrhundert. »In der doppelten Buchhaltung gibt es nur noch einen einzigen Zweck: die Vermehrung eines rein quantitativ erfassten Wertbetrages. Wer sich in die doppelte Buchhaltung vertieft, vergisst alle organische Beschränktheit des Bedarfsdeckungsprinzips und erfüllt sich mit der einzigen Idee des Erwerbs: er kann nicht anders, wenn er sich in diesem Systeme zurechtfinden will: er darf nicht Stiefeln oder Schiffsladungen, nicht Mehl oder Baumwolle sehen, sondern ausschließlich Wertbeträge, die sich vermehren oder vermindern.« Sombart fügt an: »Mit dieser Betrachtungsweise wird der Begriff des Kapitals überhaupt erst geschaffen. Man kann also sagen, dass vor der doppelten Buchführung die Kategorie des Kapitals nicht in der Welt war, und dass sie ohne sie nicht da sein würde. Man kann Kapital geradezu definieren als das mit der doppelten Buchführung erfasste Erwerbsvermögen.« (Ebd.: 119-120)
So taucht das Kapital auf, als einfache ökonomische Kategorie und Produkt der betrieblichen Buchhaltung, und viel größere Bedeutung erhält es in der gesamten Kapitalismusanalyse von Sombart nicht. Im dritten Band des Modernen Kapitalismus definiert er das Kapital als die »einer kapitalistischen Unternehmung als sachliche Unterlage [dienende] Tauschwertsumme« (Sombart [1927] 1987: 129). Zwar stellt er heraus, Kapital sei kein »Dingbegriff«, sondern ein »Funktionsbegriff«: Geld, Produktionsmittel oder Waren seinen nur »Erscheinungsformen des Kapitals, Kleider, in die das Kapital sich hüllt, eingekleidet (investiert) wird«. Das Kapital sei außerdem eine historisch-ökonomische Kategorie, die nur mit Bezug auf ein ganz bestimmtes Wirtschaftssystem Sinn macht (ebd.). Scheinbar ähnlich wie Marx betont er, Schuldscheine, Aktien oder andere Finanztitel, die zum Bezug von Renten berechtigen, seien eigentlich kein Kapital;
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statt von fiktivem Kapital spricht Sombart von Rentenfonds, -stock oder -vermögen (ebd.: 136-138). Die beiläufige Aussage, die Auffassungen von Ricardo und Marx kämen seinem eigenen Verständnis des Kapitalbegriffs am nächsten (ebd.: 131), zeigt an, dass sich das Marx’sche Hauptwerk in Sombarts Augen auf derselben theoretischen Ebene bewegt wie die ökonomische Klassik. Das Kapital wird in der Studie über den Modernen Kapitalismus zwar nicht dinglich oder naturalistisch dargestellt, aber auch nicht relational, nicht als ein besonderes gesellschaftliches Verhältnis, nicht als soziale Kraft oder als Fetisch. Im Versuch, Marx zu entzaubern, verweigert sich Sombart der Wahrnehmung des Kapitalzaubers: Die im Kapital thematisierte kapitalistische »Religion des Alltagslebens« (Marx [1894] 1964: 838) ist bei ihm weder zu sehen noch zu denken. Sombart ([1927] 1987: 39-40) bemüht sich zudem, sein sachliches Ungeheuer zu zähmen, sobald es genannt ist. Er tritt entschieden dem möglichen Missverständnis entgegen, die Verselbständigung des Geschäfts im Unternehmen schmälere die Rolle des Unternehmers: »Zweifellos ist dieses: der wirtschaftliche Prozess ist übertragen auf einen selbsttätigen, höchstleistungsfähigen Organismus, der zeitlich-räumlich unbeschränkt – das heißt nicht beschränkt durch irgendwelche persönliche, das ist organische Begrenztheit im Wollen und Können – sich zu betätigen vermag. In ihn ist der einzelne – auch der einzelne Unternehmer – zwangsmäßig eingeordnet. Die ganze Erde ist bedeckt von unzähligen, nach dem gleichen System eingerichteten Fabriken mit subtilen Präzisionsmaschinen – zur Erzielung von Gewinn. Alle Zufälligkeit, alle individuelle, alle nationale Buntheit ist ausgeschaltet. Es herrschen in dieser Welt der Zahlen Notwendigkeit, Einförmigkeit, Einheitlichkeit. […] Und doch! Es wäre ein unverzeihlicher Irrtum, wollte man annehmen, dass in dieser mechanisierten Welt die Bedeutung der menschlichen Persönlichkeit herabgesetzt wäre. Das genaue Gegenteil ist der Fall: die Bedeutung der Einzelperson, freilich der überragenden, ist heute im Wirtschaftsleben größer denn je.«
Denn es muss jemand da sein, »der das Uhrwerk aufzieht« beziehungsweise die immer größere und immer kompliziertere Maschine bedient. Das ist der Unternehmer. Sombart sieht den »Kopf des leitenden Unternehmers« als »große Kraftzentrale«, die durch das Unternehmen, dieses sachliche Ungeheuer, wirkt und es eben doch beherrscht. Wenn der Verfasser des Modernen Kapitalismus auch an der herausragenden Bedeutung der individuellen Unternehmerpersönlichkeit festhielt, so war er zugleich überzeugt, dass dieses Wirtschaftssystem einer harmonischen Balance zwischen Seele und Geist abträglich war (Sombart 1938). Gerade die Entwick-
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lung des kapitalistischen Betriebs wird in seinen Augen zum Medium einer Vergeistung, der die Menschen – jedenfalls die nicht »überragenden« – kaum etwas entgegenzustellen vermögen. Im dritten Band der Kapitalismusstudie beschreibt Sombart ([1927] 1987: 884ff.) oftmals eindrücklich und scharfsinnig die Einführung der wissenschaftlichen Betriebsführung und die dadurch ausgelösten Veränderungen von Arbeit und Betriebsorganisation. Hier ist es wirklich angebracht, von einer industriesoziologischen Pionierleistung zu sprechen. Der moderne kapitalistische Betrieb ist für Sombart durch die Ausschließung der Seele geprägt: »Der Arbeiter, der eingestellt wird, muss gleichsam seine Seele in der Garderobe abgeben.« Er »hört auf, Person zu sein, und wird Nummer« (ebd.: 899- 900). Musste der Bauer oder Handwerker des beseelten Betriebs seine ganze Persönlichkeit einsetzen und immer wieder selbst Entscheidungen fällen, so bleibt den meisten modernen Fabrikarbeitern nur noch die »tote Schale der mechanischen Ausführung« (ebd.: 903) in einem Produktionszusammenhang, der jeglicher persönlicher Beziehungen zwischen den Beteiligten entledigt ist. Innerhalb dieses Betriebs wird die Persönlichkeit durch Organisation und Systembildung verdrängt. Sombart unterscheidet drei Dimensionen dieser Systembildung: das Verwaltungssystem (einschließlich der Zerlegung und Normierung der Arbeitstätigkeiten), das Rechnungssystem (hervorgegangen aus der doppelten Buchführung) und das Instrumentalsystem (technische Maschinerie). Sombarts Beschreibungen des kapitalistischen Betriebs lesen sich manchmal wie ein Echo der Marx’schen Fabrikanalyse im ersten Band des Kapitals: »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.« (Marx [1873] 1962: 445)
Für Sombart ([1927] 1987: 912) hat »die Gesamtheit der in einem Betriebe verwandten Maschinen und Apparate einen solchen Umfang angenommen, dass der Produktionsprozess auf dieses System von Arbeitsmitteln übergegangen zu sein scheint und der Mensch sich wiederum nur als ein seelenloser Funktionär innerhalb seines Wirkungskreises bewegt«.
Die Umsetzung der durch das moderne Verwaltungssystem geplanten Arbeit
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»geschieht durch Absendung einer Weisung aus dem Zentralbureau, wodurch der Arbeitsprozess seine zwangsläufige Bewegung automatisch beginnt. Der Vorgang entspricht durchaus dem Bilde eines Mechanismus, der fertig durchgebildet ist und in dem Augenblick sich in Bewegung setzt, wo er einen Anstoß erhält, wie etwa das Mühlenwerk im Schlossgarten zu Hellbrunn, in dem hundert Arbeiter zu schaffen beginnen, sobald der Wasserstrom an einer einzigen Stelle zu drücken beginnt.« (Ebd.: 909)
Sombart hat nicht mehr nur die Schriften eines Dr. Ure oder Babbage vor Augen, er setzt sich auch mit Taylor und Ford auseinander; hier kommt der Generationenunterschied gegenüber Marx zum Tragen. Die angestrebte Unabhängigkeit des Unternehmers von den einzelnen Arbeitern hat Taylor laut dem Verfasser des Modernen Kapitalismus vor allem durch das Verwaltungssystem, Ford aber durch weitere Entwicklung des Instrumentalsystems angestrebt. Taylor steht ihm für ein betriebliches »System der Vor-Schriften«, während Ford ein »System der Vor-Bauten« zur Vollendung gebracht habe. Auch wenn die folgenden Zeilen ohne Zweifel über tatsächliche betriebliche Realitäten hinaus schießen, können sie heute noch industriesoziologische Forschungen anregen: »Taylor, um die Einzelarbeit zu vergeisten, benutzte dazu ein System von Verhaltensmaßregeln, das dem einzelnen Arbeiter wie ein Netz übergeworfen wird. Ford braucht das nicht mehr: er kommt zu dem gleichen Ergebnis auf anderem Wege: durch Vervollkommnung des technischen, das heißt hier des maschinellen Verfahrens; er teilt die Arbeit noch weiter ein und stellt den Arbeiter in so fest gefügte, zwangsläufige Arbeitsverhältnisse, dass dieser rationell arbeiten muss, auch ohne irgendwelches Arbeitsschema.« (Ebd.: 915)
Und doch ist Sombarts Untersuchung des kapitalistischen Betriebs deutlich anders gefärbt und ausgerichtet als die Marx’sche Fabrikanalyse. Wenn bei Sombart von einer Versachlichung des kapitalistischen Geistes die Rede ist, so steht bei Marx ([1873] 1962: 446) in der Fabrik eben das Kapital den Arbeitern als eigentliches Subjekt der Produktion und als gesellschaftliches Verhältnis gegenüber: »Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt. Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich, wie bereits früher angedeutet, in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie. Das Detailgeschick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig Nebending vor der Wissen-
96 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE schaft, den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert sind und mit ihm die Macht des Meisters (master) bilden.«
Und Marx fügt an, im Hirn des Meisters, das heißt des Eigentümers und Unternehmers, seien »die Maschinerie und sein Monopol an derselben unzertrennlich verwachsen« (ebd.). Die in der kapitalistischen Fabrik dominierende Form der Arbeitsteilung muss dem master zwangsläufig als natürlich und notwendig erscheinen, während Marx in den Entwicklungstendenzen der Maschinerie neue Befreiungspotenziale zu erkennen glaubte, welche durch die kapitalistische Arbeitsorganisation systematisch unterdrückt werden. Für Marx ([1873] 1962: 445) wird die technische Maschinerie »missbraucht, um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen an in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln«. In seinen Grundrissen skizziert er in diesem Zusammenhang so kühne Gedanken über den Kapitalismus hinaus, dass sich beim Lesen wirklich der Eindruck aufdrängt, das Kapital arbeite hic et nunc »an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form« (Marx [1857-58] 1983: 596). Die Verwissenschaftlichung der Produktion und die Entwicklung der Maschinerie zum automatischen System verändern in seinen Augen die Beziehung der Menschen zur Arbeit so grundsätzlich, dass die kapitalistische Nutzung dieser technischen Neuerungen nur als ein armseliger Umgang mit ganz außergewöhnlichen Möglichkeiten erscheint. »Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozess, den er in einen industriellen verwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozess, statt sein Hauptagent zu sein.« Und Marx streicht heraus: »Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffene. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts.« (Ebd.: 601)
Marx versucht hier die wissenschaftlichen und technischen Innovationen als Teil jener materiellen Bedingungen zu fassen, die es dereinst ermöglichen, das Kapital »in die Luft zu sprengen« (ebd.: 602). Im Zentrum der Überlegungen, die in den Grundrissen nur skizziert und im Kapital kaum ausgeführt werden, steht die Möglichkeit, sich die durch das Kapital »malgré lui« realisierte »Schöpfung von viel disposable time« (ebd.: 603) kollektiv anzueignen, damit durch Produktivi-
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tätssteigerungen freie Zeit gewonnen und diese nicht stets wieder von neuem in Arbeitszeit verwandelt wird. Gerade an diesen Formulierungen der Grundrisse lässt sich die theoretische und politische Distanz messen, welche die Kapitalismusanalysen von Marx und Sombart trennt. Sombarts Vergeistung der Betriebe ist weniger eine Verkehrung von Objekt und Subjekt, wie bei Marx thematisiert, als eine Verschiebung oder Störung der Balance zwischen Seele und Geist. Sie erzeugt keine widersprüchliche Realität, die Konflikte hervorbringt und Möglichkeiten in sich trägt, die über sie hinausweisen, sondern eine vielleicht bedauerliche, aber doch notwendige Realität, mit der sich die Menschen abfinden müssen. Die Rationalisierung, von der Sombart spricht, droht auch nicht in ihr Gegenteil umzuschlagen, wie später in der Kritischen Theorie, insbesondere in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, behauptet wurde. Sie entleert und entseelt zwar, aber damit hat es sich. Sombart will diese Entwicklungen nicht kritisieren, sondern nur wissenschaftlich untersuchen. Er streicht heraus, welchen »Unsegen die wertende Betrachtungsweise für die wissenschaftliche Erkenntnis stiftet« (Sombart [1927] 1987: 895). Und wenn er am Schluss seiner Studie über den Modernen Kapitalismus in die Zukunft blickt, skizziert er nichts grundsätzlich Neues, eher ein Nebeneinander bekannter Wirtschaftsformen in der Gesamtwirtschaft. Er geht davon aus, dass der Kapitalismus die anderen Formen nicht verdrängen, aber lange weiter existieren wird, wenn auch gealtert, stärker normativ und organisatorisch geprägt als in jungen Jahren. Jedenfalls beschreibt er die Zukunft als organische Entwicklung ohne Katastrophen, jähe Unterbrüche oder dramatischen Wendungen. Dies sei eine langweiligere Auffassung, als Marx sie vertreten habe, aber »wir müssen nun einmal, wenn wir Wissenschaft treiben, uns resignieren. Das sagte ich am Anfang schon, das wiederhole ich am Schluss. Das Richtige ist meistens langweiliger als das Falsche.« (Ebd.: 1022) Sombart vermochte nicht zu erahnen, wie bald schon die Menschheit traumatische und dramatische Ereignisse von historisch ganz neuer Dimension erleben sollte: Faschismus und Zweiten Weltkrieg. Zwiespältiger Marx Sombarts oft markante Kommentare zu Marx können Verwirrung stiften. Ob jemand ihn als Marxisten oder als Antimarxisten beschreiben möchte – für beides lassen sich Zitate ins Feld führen. Allerdings ist oft in einem Satz beides zu finden, sowohl Bewunderung als auch klare Ablehnung, wie etwa in dieser Textstelle aus dem Vorwort zum dritten Band des Modernen Kapitalismus:
98 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »So schroff ich die Weltanschauung jenes Mannes ablehne und damit alles, was man jetzt zusammenfassend und wertbetonend als ›Marxismus‹ bezeichnet, so rückhaltlos bewundere ich ihn als Theoretiker und Historiker des Kapitalismus. (Eine Zwiespältigkeit der Beurteilung, die ich von meinen ersten Zeilen an, die ich über Marx geschrieben habe, als möglich anerkennen musste.) Und alles, was etwa Gutes in meinem Werke ist, verdankt es dem Geiste Marx. Was gewiss nicht ausschließt, dass ich nicht nur in Einzelheiten, ja in den meisten einzelnen Ansichten, sondern auch in wesentlichen Punkten der Gesamtauffassung von ihm abweiche.« (Sombart [1927] 1987: XIX)
Ein Vierteljahrhundert nach dem Tod von Karl Marx hat Sombart (1909) ein Büchlein über dessen Lebenswerk verfasst, in der diese Zwiespältigkeit der Beurteilung etwas genauer beschrieben ist. Es liest sich wie eine doppelte Stellungnahme: gegen den vorherrschenden Marxismus ebenso wie gegen die Haltung, Marx zu ignorieren oder jedenfalls nicht ernst zu nehmen. Sombart (1909: 8) unterstreicht, nach der Veröffentlichung des dritten Bandes des Kapitals im Jahre 1894 habe die wissenschaftliche Marx-Rezeption einen Höhepunkt erlangt. »Marx ist zum Mittelpunkt aller irgendwie ernst zu nehmenden Erörterungen sozialwissenschaftlichen Inhalts geworden. Fast möchte man sagen: er ist auf dem Wege, universitätsfähig zu werden. Kostete es einen akademischen Lehrer noch vor 15 Jahren wenn auch nicht die Stellung, so doch die Karriere: das bloße Bekenntnis, dass er Karl Marx für einen sehr großen Denker halte, und wurde der, der also bekannte, für einen Sonderling und Halbidioten gehalten: so pfeift es heute jeder belanglose Privatdozent vom Katheder: dass niemand, der sich mit Nationalökonomie, Wirtschaftsgeschichte, Sozialphilosophie befasst, an Karl Marx vorbei kann, ohne sich selbst zur Sterilität zu verdammen, dass alle, die nicht durch Marx hindurchgegangen und in irgendeiner Form mit ihm und seinen Lehren fertig geworden sind, als sozialwissenschaftliche Theoretiker einfach nicht mitzählen (wie ein Biologe, der an Darwin, ein Optiker, der an Helmholtz, ein Bakteriologe, der an Robert Koch vorbeigehen wollte).«
Sombart betonte die doppelte Notwendigkeit, sich mit Marx auseinanderzusetzen und »mit ihm fertig zu werden« – das heißt sich Klarheit zu verschaffen, welche Impulse für die Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften von ihm aufgegriffen und welche Teile seines Werks abgelehnt werden sollten. Er war überzeugt, der Einfluss des Marx’schen Werks habe seinen Zenit überschritten. Marx habe seine »geschichtliche Mission erfüllt« und es sei nun möglich, sein Werk abschließend zu beurteilen.
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»Wir aber, die wir ein gut Teil unseres Lebens hingegeben haben, um für Marx zu kämpfen, sind aus der Zeit des leidenschaftlichen Hassens und Liebens heraus und haben angefangen, Marx gegenüber Distanz zu gewinnen: sodass wir ihn selber jetzt als rein historische Erscheinung objektiv zu werten vermögen.« (Ebd.: 3)
Für Sombart (1909: 5-6) gehört Marx zu den Denkern, »die ihrer eigenen Meinung nach immer missverstanden wurden«, und in diesem Punkt gibt er ihm Recht: »Das Verständnis für die Wesenheit Marx’scher Lehren war äußerst gering: intra muros et extra.« Das intra muros kann sich nur auf den Marxismus beziehen und erinnert an den »Marxismus ohne Marx«, von dem bei Jean-Marie Vincent (2001: 8) die Rede ist. Sombart will davon wegkommen, das Marx’sche Werk ethisch und ökonomisch zugleich zu interpretieren, als ethisch orientierte Werttheorie, die politische Urteile beweisen will. Dies führt ihn dazu, sich vom Kapital abzuwenden und zu behaupten, »dass viel mehr Marx’scher Geist in den kleinen Schriften steckt als in dem Hauptwerk selbst« (Sombart 1909: 6). Er polemisiert gegen Engels’ Versuch, Marx in die Reihe der großen Naturwissenschaftler zu stellen und als den Lavoisier der Nationalökonomie zu betrachten (ebd.: 32ff.). Dagegen spricht für Sombart in erster Linie der Wesensunterschied zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. Wenn die Gesetze der Geisteswissenschaften nicht an sich schon wissenschaftliche Erkenntnis sind, sondern nur Instrumente, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, und damit im Gegensatz zu jenen der Naturwissenschaften vor allem heuristischen Wert haben, macht es keinen Sinn, die von Marx formulierten Theorien mit naturwissenschaftlichen Gesetzen zu vergleichen. Auch geht Sombart davon aus, dass die Geschichte der Geisteswissenschaften nicht kumulativ verläuft, sondern durch ein Neben- und Nacheinander von Werken, die persönliche Schöpfungen bleiben und kaum losgelöst von ihrem Autor weiter geführt werden können. In diesem Sinne ist die Geschichte der Geisteswissenschaften für Sombart wie jene des Kapitalismus eben eine Geschichte großer Männer. »Es sind dann die Kleinen, die sich dieser oder jener Manier eines Meisters bemächtigen und um sie streiten, als käme es darauf an, nach welcher ›Methode‹ geschaut wird, während es doch nur bedeutsam ist, dass Einer Augen zum Sehen, Ohren zum Hören und einen Mund zum guten Aussprechen hat.« (Ebd.: 46-47)
Solche Augen und Ohren und einen solchen Mund hatte Marx nach Sombarts Meinung: Sie machten den Marx’schen Geist aus, den er sehr bewunderte.
100 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Vom Menschenforscher erwarten wir keine ›Lösungen‹, man könnte vielmehr mit einiger Paradoxie sagen: wir verlangen von ihm Problemstellungen. Was ihn vor den andern groß macht, ist immer die neue Ansicht von der Welt und den Menschen. Auch er ist groß als Entdecker. Aber nicht als Entdecker (lies Formulierer) von Gesetzen, sondern als Entdecker von Menschen und menschlichem Wesen. Was wir an ihm schätzen, ist die Kraft, Menschen lebendig zu machen und sie uns in ihrem Denken und Fühlen und Tun leibhaftig vor Augen zu stellen.« (Sombart 1909: 49)
In diesem Sinn gehörte Marx für Sombart zu den ganz großen Menschenforschern. Er gesteht ihm zu, den Kapitalismus entdeckt und »als Erster das unsere Zeit beherrschende Wirtschaftssystem in seiner spezifischen Eigenart« erkannt zu haben (ebd.: 54). Entdeckt habe Marx nicht in erster Linie die Gesetze, sondern die »Subjekte des Kapitalismus« (ebd.: 55), die er in seinen Texten sichtbar und sogar lebendig mache: »Durch alle mystische Hegelei, durch alle verzopfte Systembildung, durch alle scholastische Dogmenregistrierung hindurch schaut uns immer wieder das feiste Gesicht des englischen Manufakturers an, werden wir die ausgemergelte Gestalt des englischen Proletariers der 1840er Jahre gewahr.« (Ebd.: 55-56) Zudem galt der Verfasser des Kapitals Sombart als »Sprachkünstler ersten Ranges« (ebd.: 57), dessen Werk er in künstlerischer Hinsicht auf eine Stufe mit Zolas Schriften stellte. Mit der Entdeckung des Kapitalismus hat Marx für Sombart (1909: 55) auch als Erster »den lebendigen Menschen als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung« entdeckt: »So seltsam es klingt, wenn man es ausspricht: es wird doch keinem Zweifel unterzogen werden können, dass Marx als Erster, statt von blutleeren Begriffen, von Menschen in seiner Nationalökonomie handelte; oder richtiger ausgedrückt: dass er bei seinen begrifflichen Erörterungen jederzeit die Vorstellung des Lebens in uns zu erzeugen wusste.«
Im Vergleich dazu ist es für Sombart von untergeordneter Bedeutung, dass der Verfasser des Kapitals die Nationalökonomie »aus den nebelhaften Regionen der Teleologie, in die sie sich verstiegen hatte, herunter [holte] und sie auf den sicheren Boden einer durchgängig kausalen, von allem ethischen oder utilitaristischen Beiwerk freien Betrachtungsweise [stellte]« (ebd.: 53), oder dass er »die Errungenschaften der klassischen Nationalökonomie mit den Ergebnissen der historischen Schule [vereinigte]« und damit die Ökonomie »ausdrücklich als eine soziale Wissenschaft [begründete], deren Objekte die historisch wandelbaren Beziehungen von Menschen unter einander sind (und nicht etwa irgend welche Naturzusammenhänge ewig gleichen Inhalts, wie man vor Marx so oft irrtümlich
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geglaubt hatte)« (ebd.: 54). Dass er die meisten Marx’schen Gesetze des Kapitalismus für falsch hielt und zum Schluss kam, Marx habe an einem »Mangel an Verstandesschärfe« (ebd.: 52) gelitten, was etwa die Unfähigkeit zeige, Begriffe klar zu definieren, hinderte Sombart nicht daran, dessen Pionierleistung für die Entstehung der modernen Sozialwissenschaften zu loben. So ist Werner Sombart eine kritische Würdigung des Marx’schen Werks gelungen, die vor allem deswegen bemerkenswert ist, weil sie weitgehend quer zu den kanonischen Lesarten des Marxismus wie des Antimarxismus steht. Er gesteht dem Verfasser des Kapitals zu, die in der Deutschen Ideologie und in den Thesen über Feuerbach zum Programm erklärte Suche nach dem »wirklichen Menschen« – im Gegensatz zu den Abstraktionen der idealistischen wie der materialistischen Philosophie – mit Erfolg praktiziert zu haben und zum Pionier der modernen Sozialwissenschaften geworden zu sein. Hingegen weiß Sombart nichts mit der Kritik der Politischen Ökonomie anzufangen. Obwohl er Marx zugesteht, die Ökonomie als soziale Wissenschaft begründet zu haben, scheint er nicht wahrzunehmen, dass damit eine radikale theoretische Verschiebung der Ebenen verbunden ist, aufgrund derer die Marx’schen Konzepte nicht mehr einfach mit denen der ökonomischen Klassiker vergleichbar sind. Er macht sich etwa über die »geheimnisvolle Wichtigtuerei« lustig, mit der Friedrich Engels das Marx’sche Wertgesetz behandelt, und hält dagegen fest: »Für uns ist die Mehrwertbildung kein Prozess, der einer so komplizierten Erklärung und einer fast mystischen Ableitung aus reinen Gedankengebilden (wie dem sog. ›Wertgesetz‹) bedarf, sondern der uns ohne weiteres als ein psychologisch und sozial begründeter Vorgang des täglichen Lebens verständlich erscheint.« (Sombart 1909: 35)
Indem Sombart bei der Entzauberung von Marx die Problemstellung des Fetischtheorems ignoriert, geht ihm vielleicht die am weitesten reichende Dimension der Marx’schen Entdeckung des Kapitalismus und seiner Subjekte durchs Netz. Ohne Zweifel wäre für sein Wissenschaftsverständnis eine soziologisch gelesene Theorie gesellschaftlicher Wertformen heuristisch weitaus wertvoller gewesen als eine zugleich ethisch und ökonomisch verstandene Arbeitswertlehre, worauf er – für einmal in Übereinstimmung mit kanonischen Lesarten – die Marx’sche Werttheorie reduzierte. So erfahren wir bei Sombart nichts über das Zusammenspiel von Seele, Geist und Wertform, oder von abstrakter Arbeit, Vergeistung und Rationalisierung, weil er Schlüsselbegriffe der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie für seine Kapitalismusanalyse nicht zu entdecken wusste. Das wären Problemstellungen einer zukünftigen Soziologie, die Marx und Sombart neu verbinden möchte.
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M AX W EBERS M ATERIALISMUS Wie kein anderer Klassiker der Soziologie wurde Max Weber in der Zeit des Kalten Kriegs zum großen Gegenspieler von Karl Marx gemacht. Sehr einflussreiche Autoren wie Talcott Parsons in den USA oder Raymond Aron in Frankreich, welche die internationale Rezeption des Werks beförderten, stellten den deutschen Soziologen als den Gründervater einer gegen jegliche Politisierung immunen Sozialwissenschaft dar, die sich am Postulat der Wertfreiheit – recht frei als axiological neutrality oder neutralité axiologique übersetzt – orientiert. Wie Pierre Bourdieu (2000: 111ff.) am französischen Beispiel beobachtet hat, spielte das marxistische Lager dieses Spiel meistens mit und ignorierte Webers Werk, weil er als Rechter galt. Es handelt sich um ein Paradebeispiel der Komplizenschaft zwischen intellektuellen und politischen Strömungen (Marxismus und Antimarxismus), die auf den ersten Blick alles zu trennen und feindlich gegenüberzustellen scheint. Doch wer die Schriften von Max Weber aufmerksam liest und sich über seine Biografie kundig macht, wird kaum an dem Bild des unpolitischen Soziologen festhalten können, der sein Leben einem heldenhaften Kampf gegen Materialismus, Sozialismus und Marxismus gewidmet hat. Es lassen sich reizvolle Parallelen zwischen Marx und Weber finden, wie der in den kanonischen Lesarten unterschlagene oder heruntergespielte unvollendete Charakter der Hauptwerke beider Autoren (in Wirtschaft und Gesellschaft ebenso wie im Kapital bricht zum Beispiel ein Kapitel über soziale Klassen nach wenigen Seiten ab), und es eröffnen sich durchaus Möglichkeiten, deren Texte gegenseitig zu befruchten. Wie Dirk Kaesler (2003: 252ff.) herausstreicht, blieb die Wirkung des Werks von Max Weber in der deutschen Soziologie lange Zeit begrenzt. Erst der Deutsche Soziologentag von 1964, der ihm anlässlich seines hundertsten Geburtstags gewidmet wurde, setzte den Startschuss für die Rezeption Webers als dem »eigentlichen Heros der modernen Soziologie«, um die Formulierung von Ralf Dahrendorf (2000: 71) in Erinnerung zu rufen. Es war auch eine Art Rückkehr nach Deutschland, denn gerade in der angelsächsischen Soziologie galt Weber bereits als großer Klassiker. 1956 war Wirtschaft und Gesellschaft auf deutsch in einer neuen, erstmals von dem durch Max Weber herausgegebenen und mit verfassten Grundriss der Sozialökonomik getrennten Ausgabe erschienen. Bis dahin hatte sich die Rezeption in erster Linie auf die Protestantismusthese und die beiden Vorträge Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf konzentriert (Käsler 2003: 253). Nun wurde Wirtschaft und Gesellschaft aber zum zentralen Bezugspunkt der kanonischen Rezeption in Deutschland, vor allem die berühmt gewordenen Definitionen im ersten Teil. Dass es sich um ein unvollendetes Werk han-
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delt, dessen Hauptteil vor dem Ersten Weltkrieg und die übrigen Teile – die Kategorienlehre mit den Definitionen – erst kurz vor Webers Tod verfasst wurden, fand kaum Berücksichtigung. Vielleicht fühlte sich Herausgeber Johannes Winckelmann bei der fünften Auflage im Jahre 1972 aus diesem Grund verpflichtet, deutlicher als bisher auf dieses Problem hinzuweisen; allerdings war er zugleich darum bemüht, die Bedeutung von Webers »großer Soziologie« in keiner Weise zu schmälern (Weber [1921] 1980: XI-XXIV). Weber im Kalten Krieg Die Lektüre des Kongressbands zum 15. Deutschen Soziologentag von 1964 (Stammer 1965) zeigt an, dass die Diskussion über Weber im Kalten Krieg ähnlich politisiert war wie die über Marx. Da standen sich zwei völlig verschiedene Weber gegenüber: jener einer liberalen und bürgerlichen Soziologie, wie sie durch Talcott Parsons und Raymond Aron vertreten war, und jener der Kritischen Theorie. Diese beiden Weber konnten so gut wie gar nichts miteinander anfangen. Das zeigen nicht zuletzt die leidenschaftlichen Entgegnungen auf die von Talcott Parsons, Raymond Aron und Herbert Marcuse gehaltenen Hauptreferate des Soziologentags. Parsons (ebd.: 39-64) stellte Max Weber als Denker dar, der am Übergang von den Ideologien des 19. Jahrhunderts zur modernen Wissenschaft stand und den Grundstein legte, damit die Soziologie als Wissenschaft diese Ideologien – der Sozialismus nur eine von ihnen – beerben konnte. Die Stilisierung der Wertfreiheit zum Grundgedanken von Webers Soziologie bildete den Ausgangspunkt des Referats. Raymond Aron (ebd.: 103-120) sprach über das für die liberale Soziologie etwas heikle Thema der Haltung Webers gegenüber der deutschen Machtpolitik im Kontext des Ersten Weltkriegs. Dabei bemüht er sich sehr, die politischen Stellungnahmen von den wissenschaftlichen Arbeiten des Soziologen zu trennen, die sich an neutralen Werten und objektiven Kriterien orientiert hätten. Der Vortrag von Herbert Marcuse als Vertreter der Kritischen Theorie (Stammer 1965: 161-180) schwankte zwischen einer vernichtenden Kritik am Prinzip der Wertfreiheit, welche die Soziologie in Wirklichkeit ganz in den Dienst der herrschenden Mächte stelle, und der Beobachtung, Max Weber sei durch seine systematische und konsequente Analyse zu einer Kritik am Kapitalismus gelangt, die er gar nicht habe formulieren wollen. Insbesondere deutete Marcuse an, Weber sei in Ansätzen zu der für die Kritische Theorie konstitutiven Einsicht gelangt, die kapitalistische Rationalität schlage in Irrationalität um, doch habe er sich gegen diese Erkenntnis gesträubt. Es sei denn, und diese Interpretationsmöglichkeit stellte Marcuse an den Schluss seines Vortrags, gewisse
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Passagen in Webers Schriften seien ironisch gemeint: »Oder steckt schon in Max Webers Vernunftbegriff die Ironie, die versteht und desavouiert? Will er vielleicht sagen: Und das nennt ihr Vernunft?« Auch Jürgen Habermas (ebd.: 74-81) kritisierte in seiner Antwort auf Parsons ein restriktives, an der Wertfreiheit orientiertes Wissenschaftsverständnis von Max Weber, das die Soziologie dazu verurteile, bloß technisch verwertbares Wissen zu erzeugen. Er deutete zweifellos inspiriert durch Mommsens (1959) Studie über die politischen Stellungnahmen des Soziologen an, Webers Neigung zu starken Führerpersönlichkeiten habe dazu beigetragen, dem Nationalsozialismus in Deutschland den Weg zu bereiten. Zugleich trug auch er die Einschätzung vor, Weber habe durch seine Analysen das wissenschaftstheoretische Korsett, das er sich auferlegte, gesprengt und wertvolle Erkenntnisse gewonnen, mit denen auch eine an kritischer Gesellschaftstheorie interessierte Soziologie etwas anfangen kann. Der Weber der Kritischen Theorie erweist sich als widersprüchlicher und zerrissener, als spannungsgeladener und intellektuell anregender als derjenige der liberalen Soziologie. Darin kommt vielleicht ein Bewusstsein über den durch so wichtige Autoren wie Georg Lukacs, Walter Benjamin oder Ernst Bloch, die Weber persönlich kannten und mit ihm im Gespräch gewesen waren, vermittelten Einfluss des Verfassers von Wirtschaft und Gesellschaft auf die Kritische Theorie zum Ausdruck. Zugleich reproduzierten Herbert Marcuse und Jürgen Habermas am 15. Soziologentag gewisse Sichtweisen der kanonischen Rezeption, was sich bei eingehender Betrachtung als problematisch und einer gesellschaftskritischen Lektüre hinderlich erweist. Dies gilt insbesondere für den Begriff der Wertfreiheit, den sich die Protagonisten der Kritischen Theorie von ihren Gegenspielern aufdrängen ließen und nur umdeuteten, statt sich zu vergewissern, wie er bei Weber gemeint war. Diesbezüglich führt der Kommentar von Isabelle Kalinowski (2005) zu Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf weiter. Sie hat diesen Vortrag um die Jahrtausendwende neu auf Französisch übersetzt, und diese Übersetzungsarbeit steht auch für eine neue Aneignung des Werks Max Webers, die mit der kanonischen Rezeption der Nachkriegszeit bricht. In Frankreich hatte Raymond Aron 1959 eine erste Übersetzung des Vortrags veröffentlichen lassen und setzte diese als Mittel ein, um Max Weber als Kronzeugen einer unpolitischen Soziologie gegen den damals starken Einfluss marxistischer Strömungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften anzurufen. Er deutete Webers Ausführungen auch als Kritik an der kurzlebigen Räterepublik in München von 1919, doch stellte sich später heraus, dass der Vortrag bereits im November 1917 gehalten worden war. Darüber hinaus hebt Kalinowski (2005: 65ff.; 222ff.) hervor, dass Weber in diesem Vortrag – anders als in Politik als Beruf) – seine Kritik an Gegenspieler im akademischen Feld richtete, bei de-
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nen es sich mehrheitlich um konservative, wenn nicht reaktionäre Historiker und Literaten handelte. Im damaligen Deutschland existierte nichts, was mit der Zielscheibe vergleichbar gewesen wäre, gegen die Raymond Aron seine liberale Soziologie im Frankreich der 1960er Jahre richtete: Es hatte keine DreyfusAffäre stattgefunden, und erst recht existierte die Figur des akademisch etablierten marxistischen Intellektuellen – die ja auch in Frankreich erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirkungsmächtig wurde – einfach nicht. Vielmehr haben Autoren wie Sombart und Weber die Diskussion über Marx und den Marxismus erst in die akademische Welt hinein getragen. Sie setzten marxistisch klingende Begriffe ein, ohne marxistische Standpunkte einzunehmen. Kalinowski (2005: 231) ist überzeugt, dass Weber sehr bewusst Anleihen aus dem Marxismus einsetzte und dazu beitrug, Marx an den Universitäten diskussionswürdig zu machen. Zugleich sorgte er sich um die politischen Auswirkungen davon und war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass viele der Pazifisten und Revolutionäre am Ende des Ersten Weltkriegs seine eigenen Studenten gewesen waren. Vor diesem Hintergrund deutet Isabelle Kalinowski (2005: 191ff.) Max Webers Anrufung der Verpflichtung zur Wertfreiheit als Ausdruck eines pädagogischen Konzepts, das weit weniger über Ausrichtung und Inhalt seiner Soziologie als über die Art der Beziehung aussagt, die er zu den Studierenden unterhalten wollte. Anders gesagt prangerte er in Wissenschaft als Beruf jene Professoren an, die ihre Position missbrauchten, um den Studierenden ihre persönlichen Werte und Ansichten aufzudrängen, die sie als wissenschaftliche Wahrheiten darstellten. Hingegen war es für Max Weber ganz legitim, als Wissenschaftler neben der akademischen Tätigkeit politisch aktiv zu sein: Das hat er selbst ja vorgelebt, als Kolumnist ebenso wie als Regierungsberater oder Mitbegründer einer politischen Partei. Sein Engagement im Verein für Socialpolitik zeigte überdies, dass er durchaus wissenschaftliche und politische Tätigkeit verbinden wollte, indem die Soziologie Erkenntnisse erzeugen sollte, die soziale Reformen anleiten können. Als Max Weber – zusammen mit Werner Sombart und Edgar Jaffé, der 1919 als Finanzminister der kurzlebigen Münchner Räterepublik amten sollte – 1904 das Archiv für Sozialwissenschaft und Socialpolitik übernahm, das bis dahin durch den Sozialdemokraten Heinrich Braun geleitet wurde, kam darin auch die Tatsache zum Ausdruck, dass er weniger Berührungsängste nach links hatte als die Vertreter der älteren Generation des Vereins (wie Schmoller, Wagner oder Brentano). Kalinowski (2005: 226ff.) hebt hervor, dass in wissenschaftlichen Texten von Weber oftmals eine Affinität zu marxistischen Konzepten zu finden ist, die mit einigen deutlichen politischen Stellungnahmen gegen den Marxismus kontrastiert. Selbst die berühmte Protestantismusthese, die in der kanonischen Re-
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zeption durchgängig als gegen Marx gerichtet interpretiert wurde, kann auch anders gelesen werden. Natürlich spottet Max Weber ([1920] 1986: 37-38) über den »naiven Geschichtsmaterialismus«, der Ideen nur als Spiegelung ökonomischer Tatsachen betrachte, während doch »ohne Zweifel im Geburtslande Benjamin Franklins (Massachusetts) der kapitalistische Geist vor der kapitalistischen Entwicklung da war«, und hält fest: »In diesem Falle liegt also das Kausalverhältnis jedenfalls umgekehrt als vom materialistischen Standpunkt aus zu postulieren wäre. Aber die Jugend solcher Ideen ist überhaupt dornenvoller, als die Theoretiker des Überbaues annehmen, und ihre Entwicklung vollzieht sich nicht wie die einer Blume. Der kapitalistische Geist in dem Sinne, den wir bisher für diesen Begriff gewonnen haben, hat sich in schwerem Kampf gegen eine Welt feindlicher Mächte durchzusetzen gehabt.«
Es bleibt allerdings offen, ob an dieser Stelle Marx oder der Marxismus gemeint ist. Und am Schluss der Studie schreibt Weber, es müssten nun auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Möglichkeitsbedingungen der protestantischen Askese analysiert werden, um seine Untersuchung zu ergänzen. Er betont jedenfalls, es gehe nicht darum, einer »einseitig materialistischen« eine »einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung« entgegenzustellen: »Beide sind gleich möglich, aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluss der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient.« (Ebd.: 205-206) Über einzelnen Formulierungen hinaus lässt allein schon die Selbstverständlichkeit, mit der Max Weber in dieser Schrift religiöse Gebilde und wirtschaftliche Entwicklungen zusammen denkt und ineinander greifen lässt, einen materialistischen Unterton anklingen, den alle hören können, die dies nicht zum Vornherein ausschließen. Im Gegensatz zu den materialistischen Religionskritikern des 19. Jahrhunderts (Ludwig Feuerbach und andere), die den jungen Marx begeistert haben, braucht er nicht mehr zu zeigen, dass Gott ein Produkt von Menschenhand ist und die Religion mit Herrschaftsbeziehungen durchsetzt ist und zur Reproduktion von Klassenverhältnissen beiträgt. Dies ist für ihn so selbstverständlich, dass er sich auf die Frage konzentriert, wie es denn vor sich geht. Der protestantische Puritanismus, so Weber ([1920] 1986: 198-199) in seinem unvergleichlichen Stil, habe den Unternehmern ein »pharisäisch gutes Gewissen beim Gelderwerb« geschenkt: »Mit dem Bewusstsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer, wenn er innerhalb der Schranken
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formaler Korrektheit blieb, sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum machte, kein anstößiger war, seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun. Die Macht der religiösen Askese stellte ihm überdies nüchterne, gewissenhafte, ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung. Sie gab ihm dazu die beruhigende Versicherung, dass die ungleiche Verteilung der Güter dieser Welt ganz spezielles Werk von Gottes Vorsehung sei, der mit diesen Unterschieden ebenso wie mit der nur partikulären Gnade seine geheimen und unbekannten Ziele verfolge.«
Dieser materialistische Unterton, die Analyse der Religion als gesellschaftliches Phänomen, das mit wirtschaftlichen und anderen Klasseninteressen verwoben ist, zieht sich durch die gesamte Protestantismusthese. Eine Lesart im Stil von Marcuse oder Habermas, nach der Weber eine formale und unkritische, aber auf Grund ihrer Systematik und entgegen seiner Absicht doch in Kapitalismuskritik mündende Analyse entwickle, greift zu kurz. Der düstere Ausblick, den die letzten Seiten der Protestantismusthese skizzieren, hat die Entstehung der Kritischen Theorie wohl stärker beeinflusst, als es sich deren führende Denker eingestehen konnten. Max Weber ([1920] 1986: 203-204) spricht hier vom »mächtigen Kosmos« eines nun »auf mechanischer Grundlage« beruhenden Kapitalismus, der das Leben aller Menschen, die in dieses »Triebwerk« hineingeboren werden, »mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist«. Der religiöse Geist sei längst aus dem »stahlharten Gehäuse« gewichen, und »die rosige Stimmung ihrer lachenden Erbin: der Aufklärung, scheint endgültig im Verbleichen«. Wie die Zukunft aussehen könnte, formuliert er in folgender Alternative: »Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beidem – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die letzten Menschen das Wort zur Wahrheit werden: Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie zuvor erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.«
Solche Zeilen können nur einem kritischen Geist entspringen. Und die Kritik ist nicht ironisch vorgetragen, sondern ernst formuliert. Daran ändert sich nichts, wenn Weber ([1920] 1986: 204) sogleich anfügt: »Doch wir geraten damit auf das Gebiet der Glaubens- und Werturteile, mit welchen diese rein historische Darstellung nicht belastet werden soll.« Jedenfalls muss dieser Satz keineswegs
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so interpretiert werden, dass der Verfasser plötzlich vor dem Ergebnis seiner Analysen erschrickt und zurückweicht. Vielmehr bringt er ein Urteil zum Ausdruck, was im Zentrum dieser Studie stehen sollte – und was nicht. Es ist dennoch bemerkenswert, dass Weber diesen berühmt gewordenen Ausblick in die Schrift integriert und in der Neuauflage von 1920 belassen hat. Die von den Vertretern der Kritischen Theorie nahe gelegte Interpretation weist jedenfalls das Problem auf, dass für ein gesellschaftskritisches Denken relevante Anregungen von Weber stets gegen dessen Absicht interpretiert werden müssen, wie wenn der Verfasser von Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich so gedacht hätte, wie Raymond Aron oder Talcott Parsons es behauptet haben. Politische Ökonomie der Religion Im Gegensatz dazu hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu (2000: 111129) ein Deutungsmuster vorgeschlagen, das insbesondere das Verhältnis zwischen Weber und Marx in anderem Lichte erscheinen lässt und den angesprochenen materialistischen Unterton ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Für den französischen Soziologen hat Max Weber den materialistischen Impuls von Marx aufgegriffen und versucht, diesen weiter zu entwickeln und auf Bereiche anzuwenden, mit denen sich der Verfasser des Kapitals nicht systematisch beschäftigt hatte: »Es liegt nicht an meiner Vorliebe für das Paradoxe, wenn ich sage, dass Weber die Marx’schen Absichten auf Gebieten verwirklicht hat, auf denen Marx sie nicht einlösen konnte. Das gilt insbesondere für die Religionssoziologie, die sicher nicht zu Marxens starken Seiten gehört. Weber entwirft da eine echte Politische Ökonomie der Religion, eine erstaunlich materialistische Sicht des Phänomens, ohne ihm seinen eigentümlich symbolischen Charakter zu nehmen. Wenn er etwa sagt, dass sich die Kirche wesentlich als Monopol auf die legitime Spendung von Heilsgütern darstelle, dann setzt er, jenseits einer platten ökonomistischen Metaphorik, außerordentliche Erkenntniswirkungen in Gang…« (Ebd.: 115)
Bourdieu erinnert sich, wie Raymond Aron ihm einst vorgeworfen habe, »aus Weber einen ›Linken‹ [zu] machen«, worauf er ihm geantwortet habe, »zwischen den Anführungszeichen ist alles Weber… Ich habe nur Dinge beim Namen genannt, die man nicht sehen wollte.« (Ebd.: 116) Isabelle Kalinowski (2005, 238-240) sieht in gewissen Textstellen, in denen Max Weber die Herrschenden scharf und polemisch angreift, sogar Spuren einen vulgären Marxismus. Sie streicht jedenfalls heraus, der Verfasser von Wirtschaft und Gesell-
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schaft habe sich nicht an das zu seiner Zeit herrschende ungeschriebene Gesetz der akademischen Welt gehalten, sich in ritueller Form immer wieder von jedem Materialismus zu distanzieren. Stephan Egger, Andreas Pfeuffer und Franz Schultheis (2000) haben Bourdieus Deutung zum Verhältnis zwischen Weber und Marx zu präzisieren versucht. Sie gelangen zum Ergebnis, dass insbesondere Webers Religionssoziologie Ausdruck eines Forschungsprogramms ist, das auf eine weiterführende oder rettende Kritik der Marx’schen Geschichtsauffassung zielte. Selbst den in der Protestantismusthese bisweilen anklingenden Spiritualismus sehen sie als Ergebnis einer »beispiellose[n] Anstrengung, nicht nur die Grundlagen des Marx’schen Entwurfes gegen all ihre mechanistischen Entstellungen zu verteidigen, sondern auch, und gegen jede idealistische Auffassung der Geschichte, die Möglichkeiten einer spiritualistischen Untermauerung diesem Materialismus dienstbar zu machen« (ebd.: 143).
Keine Spur von unreflektiertem Spiritualismus sei spätestens in Wirtschaft und Gesellschaft mehr zum finden, wo Max Weber diese »Politische Ökonomie der Religion«, von der Bourdieu spricht, in einer dichten und synthetischen Fassung vorträgt: »Webers durch und durch herrschaftssoziologisch geladene Typologie religiöser Berufe, die hier als Kampf um die Verfügung über die legitimen Mittel der Gnadenspendung, über die Heilsgüter entworfen ist, sieht hinter den einzelnen Heilsunternehmen nicht nur eine robust materielle Unterlage, sondern eine mit der darein geflochtenen sozialen Stellung einhergehende Einstellung, eine Attitüde und einen Gestus am Werke, dessen Arbeit an der Darreichungsform der Heilsgüter dann auf typische Weise dem Heilsbedürfnis unterschiedlicher sozialer Gruppen entspricht – ein sozial geprägter Charakter religiöser Folgsamkeit, den Weber in seiner Herrschaftslehre ideal zu ordnen versucht hatte.« (Ebd.: 160)
In der Tat beeindruckt die Lektüre der religionssoziologischen Abschnitte von Wirtschaft und Gesellschaft durch die schonungslose, aber zugleich selbstverständliche und unspektakuläre Art, in der Max Weber beschreibt, wie Propheten oder Priester ihre Götter fabrizieren, die beeinflusst oder verehrt werden sollen, und wie sie durch diese religiöse Arbeit um Einfluss unter den Gläubigen kämpfen, um sich Einkommen und Macht zu sichern. Es beginnt mit den trockenen Definitionen des hierokratischen Verbandes und der Kirche in der Kategorienlehre:
110 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Hierokratischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und insoweit heißen, als zur Garantie seiner Ordnungen psychischer Zwang durch Spendung oder Versagung von Heilsgütern (hierokratischer Zwang) verwendet wird. Kirche soll ein hierokratischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und soweit sein Verwaltungsstab das Monopol legitimen hierokratischen Zwangs in Anspruch nimmt.« (Weber [1921] 1980: 29)
Die Entwicklung und Durchsetzung einer religiösen Ethik, an der sich die Gläubigen in der alltäglichen Lebensführung orientieren sollen, entspringt genau so wie die Verfassung kanonischer Schriften und Dogmen dem Bestreben der Priesterverbände, ihre Herrschaft auf dauerhafte oder – wie Weber es oft nennt – auf betriebs- oder anstaltsmäßige Basis zu stellen und ihre Heilslehre von anderen abzugrenzen oder gegen prophetische Angriffe zu verteidigen (ebd.: 267; 279). Die Bündnisse zwischen religiöser und politischer Macht beruhen auf durchaus gegenseitigen Interessen der jenseitigen und diesseitigen Mächte: »Dass die politische Gewalt imstande ist, der Hierokratie das brachium saeculare in höchst schätzenswerter Art, zur Ausrottung der Ketzer und zur Betreibung der Steuern, zur Verfügung zu stellen, ist klar. Zwei Qualitäten der hierokratischen Macht empfehlen sie der politischen Gewalt zum Bündnis. Zunächst vor allem ist sie die legitimierende Macht, deren auch (und gerade) der cäsaropapistische und auch der persönlich charismatische (z.B. der plebiszitäre) Herrscher und all diejenigen Schichten, deren privilegierte Lage an der Legitimität der Herrschaft hängt, schwer entraten können. Und dann ist sie das unvergleichliche Mittel der Domestikation der Beherrschten. Im großen wie im Kleinen. Wie der kirchenfeindlichste radikale Parlamentarier Italiens der Klostererziehung der Frauen als Domestikationsmittel nicht entraten mag, so hat die hellenische Tyrannis den Dyionisoskult gefördert, und in größtem Maßstabe ist die Hierokratie zur Beherrschung unterworfener Völker verwendet worden.« (Ebd.: 701)
Jede religiöse Arbeit ist allerdings spezifischen gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen unterworfen. Insbesondere muss die Priesterschaft, um ihre Machtstellung zu behaupten, den Bedürfnissen der Laien Rechnung tragen. Im Abschnitt über Stände, Klassen und Religion entwirft Max Weber ([1921] 1980: 285-314) eine durch und durch materialistische Typologie religiöser Bedürfnisse der Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen. Er gelangt dabei zur Erkenntnis, dass die Religionen für die Gläubigen aus verschiedenen Klassen und Ständen Unterschiedliches leisten müssen. Während die benachteiligten Schichten ein Bedürfnis nach Erlösung von ihrem Leiden – nicht selten gepaart mit Vergeltungshoffnungen – religiös zum Ausdruck bringen, brauchen privilegierte Kreise eine Erklärung ihrer sozialen Stellung und Legitimierung ihrer alltägli-
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chen Lebensführung (ebd.: 299). Vor allem die monotheistischen Religionen müssen sich dem »Problem der Theodizee« stellen und systematische Antworten auf die Frage entwickeln, »wie die ungeheure Machtsteigerung eines solchen Gottes mit der Tatsache der Unvollkommenheit der Welt vereinbart werden könne« (ebd.: 315) – gerade soziale Ungleichheit oder Ungerechtigkeit können ja als Zeichen der Unvollkommenheit wahrgenommen werden. Während die messianischen Eschatologien auf einen künftigen sozialen Ausgleich im Diesseits oder auf das Kommen des Gottesreiches verweisen, deutet etwa die calvinistische Prädestinationslehre soziale Ungleichheit unmittelbar als Ergebnis des unerforschbaren, allmächtigen göttlichen Willens. »So gut wie die Verdammten über ihre durch Prädestination feststehende Sündhaftigkeit könnten die Tiere sich darüber beklagen, dass sie nicht als Menschen geschaffen sind (so ausdrücklich der Calvinismus).« (Ebd.: 317) Wie Weber ([1920] 1986: 199-200) betont, konnten protestantischen Sekten und puritanische Gemeinschaften vorbehaltlos an der »harten englischen Armengesetzgebung« mitarbeiten, weil sie »in ihrer eigenen Mitte den Bettel tatsächlich nicht kannten«. Einsatz marxistischer Terminologie Ebenso prägnant wie in seinen religionssoziologischen Untersuchungen kommt Max Webers Materialismus in der Staatssoziologie zum Tragen. Hier setzt er immer wieder Begriffe und Formulierungen ein, die in der damaligen akademischen Welt skandalös marxistisch klingen mussten. So am Beginn der Ausführungen zur Entstehung des rationalen Staats: »Der ständige friedliche und kriegerische Kampf konkurrierender Nationalstaaten um die Macht schuf dem neuzeitlich-abendländischen Kapitalismus die größten Chancen. Der einzelne Staat musste um das freizügige Kapital konkurrieren, das ihm die Bedingungen vorschrieb, unter denen es ihm zur Macht verhelfen wollte. Aus dem notgedrungenen Bündnis des nationalen Staates mit dem Kapital ging der nationale Bürgerstand hervor, die Bourgeoisie im modernen Sinne des Wortes.« (Weber [1921] 1980: 815)
Weber lässt keinen Zweifel aufkommen, dass modernes Fachbeamtentum und rationales Recht im Dienst am modernen Kapitalismus entstanden sind, der »ein Recht [braucht], das sich ähnlich berechnen lässt wie eine Maschine; rituellreligiöse und magische Gesichtspunkte dürfen keine Rolle spielen« (ebd.: 817). Dieses berechenbare Recht hat der Kapitalismus vor allem in zwei Formen gefunden: in der angelsächsischen Welt durch die Vormachtstellung der im Dienste kapitalistischer Interessen stehenden Anwälte auf der einen sowie im deut-
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schen bürokratischen Staat auf der anderen Seite, in dem der Richter »mehr oder minder ein Paragraphen-Automat ist« (ebd.: 826). Max Weber analysiert den modernen Staat als Betrieb, weil dessen Funktionsweise in seinen Augen auf Formen der Enteignung und Arbeitsteilung beruht, die er in offensichtlicher Analogie zur Marx’schen Analyse der Genesis des freien Arbeiters und des Kapitalisten im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation (Marx [1873] 1962: 741-791) beschreibt. Die Entstehung des modernen Staats geschieht in einem Prozess, der »eine vollständige Parallele zu der Entwicklung des kapitalistischen Betriebs durch allmähliche Enteignung der selbständigen Produzenten« darstellt; enteignet wurden hier alle selbständigen »Träger von Verwaltungsmacht« wie die »Eigenbesitzer von Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmitteln, Finanzbetriebsmitteln und politisch verwendbaren Gütern aller Art« (Weber [1921] 1980: 824). Für Weber ist der moderne Staat ein Betrieb wie eine Fabrik, und das macht seine historische Besonderheit aus. Er geht davon aus, dass die Herrschaft im Staatsapparat auf derselben Grundlage beruht wie im kapitalistischen Unternehmen: »Diese entscheidende ökonomische Grundlage, die Trennung des Arbeiters von den sachlichen Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen Verwaltung, den Forschungsmitteln im Universitätsinstitut und Laboratorium, den Geldmitteln bei ihnen allen, ist dem modernen macht- und kulturpolitischen und militärischen Staatsbetrieb und der kapitalistischen Privatwirtschaft als entscheidende Grundlage gemeinsam.« (Ebd.: 825826)
Und eben diese »Konzentration der sachlichen Betriebsmittel«, bei der es sich nicht weniger um eine »Sozialisierung« als um eine »Bürokratisierung« handelt (ebd.: 826), setzt der Mitwirkung des »Souveräns« in Wirtschaft und Politik entscheidende Schranken: Wie Weber betont, ist »die Aktionärsversammlung in der Betriebsführung ebenso einflusslos wie ein von Fachbeamten regiertes Volk« (ebd.: 833). Wie die Protestantismusthese führt deshalb auch die Staatssoziologie Max Weber zu düsteren Zukunftserwägungen. Er sieht den Staatsapparat als Maschine, die mit zunehmender Macht über das Alltagsleben jede Form von Demokratie und Individualismus bedroht. »Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur, dass sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene
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lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamten-Verwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll.« (Weber [1921] 1980: 835)
Die Unterscheidung zwischen lebender und toter Maschine ist hier mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit eine Referenz an Marx, wie sich Webers Sorge um die Demokratie nicht nur gegen die sozialistische Idee der »Ausschaltung der Privatwirtschaft« richtet, sondern auch gegen das konservative oder sogar reaktionäre Gedankengut derjenigen, die erneut nach »sozialer Ordnung« oder »organischer Gliederung« riefen. Beide politischen Lager trieben in seinen Augen die Menschheit »unter die Fittiche der einzigen ganz sicher unentfliehbaren Macht: der Bürokratie in Staat und Wirtschaft« (ebd.: 836). Wenn also in der Weber’schen Religions- und Staatssoziologie deutliche Spuren der Marx’schen materialistischen Sichtweise vorzufinden sind, scheint dagegen die Wirtschaftssoziologie von Max Weber kaum etwas von der Kritik der Politischen Ökonomie im eigentlichen Sinne des Wortes aufgegriffen zu haben. Der Verfasser von Wirtschaft und Gesellschaft, der sich ja im Ökonomenstreit zwischen der ›historischen‹ und der ›österreichischen Schule‹ auf keine Seite schlagen wollte, führt keine Grundsatzkritik ökonomischer Kategorien; eher versucht er solche Kategorien soziologisch zu füllen oder anzureichern. Dies zeigt sich etwa daran, wie er in der soziologischen Kategorienlehre den Kapitalbegriff im Kontext der Kapitalrechnung einführt: »Kapital heißt die zum Zweck der Bilanzierung bei Kapitalrechnung festgestellte Geldschätzungssumme der für die Zwecke des Unternehmens verfügbaren Erwerbsmittel.« (Weber [1921] 1980: 48). Ähnlich wie bei Sombart ([1927] 1987: 129) ist das Kapital bei Max Weber demnach ein »Funktionsbegriff«, der sich auf eine spezifische Wirtschaftsform bezieht. Kapitalistisch nennt er, was an Kapitalrechnung orientiert ist bzw. in dieser Optik eingesetzt wird. Er betont, sein Kapitalbegriff sei rein privatwirtschaftlich und »buchmäßig« gefasst und entspreche dem üblichen Sprachgebrauch (ebd.: 50); auf den »viel umstrittenen« Begriff des Werts verzichtet Weber vollständig (ebd.: 31). Doch wie die Religionssoziologie ganz selbstverständlich Bezug auf Herrschaftsphänomene oder ökonomische Interessen nimmt, tauchen in Webers Abhandlung zur Kapitalrechnung unvermittelt Sätze auf wie dieser: »Die Kapital-
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rechnung in ihrer formal rationalsten Gestalt setzt daher den Kampf des Menschen mit dem Menschen voraus.« (Weber [1921] 1980: 49) Denn durch die Orientierung an Marktchancen und Rentabilität befriedigt die kapitalistische Wirtschaft nur jene Bedürfnisse, die sich mit entsprechender Kaufkraft artikulieren und möglichst gewinnbringend decken lassen: Die Ökonomie ist ein Kampf, in dem Menschen auf der Strecke bleiben. Ebenso weist Weber darauf hin, dass der Begriff des Kapitalzinses schon die private Aneignung der Betriebsmittel und Machtbeziehungen voraussetzt, ohne die kein Unternehmer »durchschnittlich dauernd hoffen [darf], bei Zahlung dieses Entgelts an die Darleihenden dennoch Rentabilität zu erzielen«. Und wenn die ökonomische Theorie auf die Frage, »unter welchen allgemeinen Bedingungen es eben durchschnittlich zutrifft: dass der Eintausch von gegenwärtigen 100 gegen künftige 100 + x rational ist, mit der Grenznutzrelation künftiger im Verhältnis zu gegenwärtigen Gütern antworten [will]«, dann möchte der Soziologe wissen, »in welchem Handeln von Menschen diese angebliche Relation derart zum Ausdruck kommt: dass sie die Konsequenzen dieser Differenzialschätzung in der Form eines Zinses ihren Operationen zu Grunde legen können. Denn wann und wo dies der Fall ist, das wäre nichts weniger als selbstverständlich. Tatsächlich geschieht es bekanntlich in den Erwerbswirtschaften. Dafür aber ist primär die ökonomische Machtlage maßgebend zwischen einerseits den Erwerbsunternehmen und andrerseits den Haushaltungen, sowohl den die dargebotenen Güter konsumierenden, wie den gewisse Beschaffungsmittel (Arbeit vor allem) darbietenden. Nur dann werden Unternehmen begründet und dauernd (kapitalistisch) betrieben, wenn das Minimum des Kapitalzinses erhofft wird.« (Ebd.: 52)
Solche Textstellen verdeutlichen, dass Weber weit davon entfernt war, einer Naturalisierung der Ökonomie das Wort zu reden: Er betrachtete die untersuchten Wirtschaftsphänomene stets als historische und gesellschaftliche Erscheinungen, die ebenso herrschaftsdurchsetzt sind wie Religion und Staat. Zugleich schien er aber nicht die Notwendigkeit zu verspüren, für eine soziologische Betrachtung der Ökonomie das theoretische Feld als solches in Frage zu stellen, auf dem sich die Wirtschaftswissenschaften bewegen – vielleicht auch deshalb, weil zu seiner Zeit ein gewisser Pluralismus an ökonomischen Theorien existierte und er überdies selbst auch als Nationalökonom tätig war. Zudem musste die Marx’sche Entdeckung der Politischen Ökonomie als eine zumindest teilweise in der verrückten Exoterik des Kapitals gefangene wissenschaftliche Verklärung der kapitalistischen Alltagsreligion Max Weber zweifellos nur schon deshalb unplausibel erscheinen oder verborgen bleiben, weil er den Kapitalismus als große Entzauberung, nicht aber als erneute Verzauberung des sozialen Lebens betrachtete. Wie
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hätte er auf den Gedanken kommen können, dass die moderne Ökonomie in gewisser Hinsicht diesen religiösen Geist, der aus dem stählernen Gehäuse der Hörigkeit entwichen war, beerben könnte? Wie sehr Max Weber auch den materialistischen Impetus von Marx aufgriff: Die Problemstellung der Kritik der Politischen Ökonomie blieb ihm offensichtlich fremd. Es ist dennoch nicht angebracht, Max Weber als Wegbereiter einer positivistischen Soziologie im Dienste der Herrschenden zu betrachten, wie es in Zusammenhängen der Kritischen Theorie und des Marxismus getan wurde. Wir müssen uns zum einen bewusst machen, wie sehr die kanonische Rezeption des unpolitischen Webers durch ihren Fokus auf die berühmten Definitionen im ersten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft ein einseitiges Bild des Werks befördert hat, sowohl in stilistischer wie in inhaltlicher Hinsicht. Zweifellos war Max Weber ein großartiger Definitionskünstler, der in wenigen Worten die Ergebnisse umfangreicher Studien und Überlegungen verdichten konnte. Aber wer nur schon den zweiten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft liest, erst recht die Protestantismusthese oder die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, findet eine andere, weniger strenge Textart vor, die Raum für kunstvolle Formulierungen, weitläufige Ausschweifungen und kühne Gedankengänge bietet. Und wenn Weber ([1920] 1986: 30) den kapitalistischen Geist nicht vorweg definieren, sondern »aus seinen einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponieren [will]«, geht er auf eine Weise vor, die vielleicht gar nicht allzu weit von der Marx’schen Methode der sukzessiven Bestimmungen als Annäherung ans Objekt über mehrere Analyseebenen entfernt ist. Vor allem aber müssen wir uns vor Augen halten, dass sich die Herrschaftskritik wie ein roter Faden durch das Werk von Weber zieht und er die Augen vor der Rolle der Intellektuellen und Wissenschaftler nicht verschloss. Dafür hat zum Beispiel Pierre Bourdieu (2000: 126) Max Weber bewundert: für die »außerordentlichen Dinge von einer fast gewalttätigen Offenheit«, beziehungsweise für diese Wahrheiten, die er »seinem eigenen ›Stand‹ an den Kopf geworfen [hat]«. Der Verfasser von Wirtschaft und Gesellschaft hat eine nüchterne und distanzierte Sicht auf die Wissenschaft entwickelt, die gerade auch in dem vielfach kanonisierten Vortrag über die Wissenschaft als Beruf (Weber [1917] 1992) zum Tragen kommt. Wenn er diesen Vortrag mit den »äußeren Bedingungen des Berufs« (nicht mit der inneren Berufung) beginnt und hervor streicht, dass sich die Universitäten allmählich in »staatskapitalistische Unternehmungen« verwandeln, in denen Arbeitsteilung und Fachspezialisierung dominieren, dass aber die akademische Karriere von sozialer Herkunft und von Zufällen abhängig ist, stellt er das vorherrschende Selbstverständnis der Intellektuellen zweifach in Frage: Der Glaube an die akademische Freiheit wie an die Exzellenz als Grundlage des ei-
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genen Erfolgs erweist sich als Selbsttäuschung. Isabelle Kalinowski (2005: 258ff.) weist darauf hin, dass Max Weber im Gegensatz zu seinem Bruder Alfred die Intellektuellen nie als freie oder als frei schwebende interesselose Gruppe beschreibt. Stattdessen deutet er an, dass sie ihre soziale Ehre und Würde durch das Zurschaustellen von unökonomischem Verhalten und Interesselosigkeit zu erlangen suchen. In dieser Selbstdarstellung sehen sie sich über den ungebildeten Massen und gegen die Vertreter der politischen oder ökonomischen Macht positioniert. Sie ist zugleich Voraussetzung dafür, eben diesen Mächten besonders wirksam und weitgehend unbewusst zu dienen. Max Webers Vermächtnis für eine gesellschaftskritische Soziologie liegt gerade auch in dieser herrschaftskritischen Haltung zum eigenen Stand, die in der kanonischen Rezeption ebenso übersehen wurde wie in den Interpretationen der Kritischen Theorie.
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Wer in den Schriften von Georg Simmel nach Elementen sucht, die sich Gewinn bringend auf das Marx’sche Hauptwerk beziehen lassen, findet diese nicht in erster Linie an den wenigen Stellen, an denen von Marx die Rede ist. Überhaupt ist die Spurensuche bei einem Autor nicht einfach, der in umfangreichen Publikationen auf jeden Quellenverweis verzichtet – oft auch auf die Nennung der Autoren und Werke, auf die er sich stillschweigend bezieht. Sie lohnt sich aber dennoch. Gerade die 1900 erstmals erschienene Philosophie des Geldes kann als ein meistens impliziter, vielleicht auch gar nicht bewusst geführter Dialog Simmels mit Marx gelesen werden, wie Jean-Marie Vincent (2001: 11) hervorhebt. Wir können auch der Frage nachgehen, inwiefern sich Simmels Verständnis der Soziologie als Formenlehre mit dem Marx’schen Interesse für gesellschaftliche Wertformen vergleichen lässt. Der Grundgedanke einer formalen Soziologie ist bereits im Aufsatz zum Problem der Soziologie (Simmel [1894] 1992) formuliert, das heißt 14 Jahre bevor Georg Simmel ([1908] 1992) seine umfangreiche Soziologie veröffentlichte, die mit einer stark erweiterten Fassung dieses Aufsatzes beginnt. In den Problemen der Geschichtsphilosophie setzt sich Simmel ([1907] 1997: 401-417) mehr mit dem Marxismus als mit Marx auseinander. Er kritisiert den historischen Materialismus als Ökonomismus, ohne ein einziges Wort über die Marx’sche Ökonomiekritik zu verlieren. Die Neufassung dieses längeren Aufsatzes – eine erste Fassung stammt aus dem Jahr 1892 – steht für eine kantianische Wende, die Simmel von der Soziologie weg und zurück zur Philosophie führte (siehe die editorische Notiz in Simmel [1908] 1992: 877ff.).
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In den 700 Seiten der Philosophie des Geldes wird Marx nur an vier Stellen explizit erwähnt; öfter genannt sind jedoch einzig Kant und Plato. Im Vorwort deutet Simmel an, dass sich die Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus als roter Faden durch das ganze Buch zieht. Er beschreibt seine methodische Grundabsicht mit den folgenden Sätzen: »dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen, derart, dass der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden. Für die Praxis des Erkennens muss sich dies in endloser Gegenseitigkeit entwickeln: an jede Deutung eines ideellen Gebildes durch ein ökonomisches muss sich die Forderung schließen, dieses seinerseits aus ideelleren Tiefen zu erschließen, während für diese wiederum der allgemeine ökonomische Unterbau zu finden ist, und so fort ins Unbegrenzte. In solcher Alternierung und Verschlingung der begrifflich entgegengesetzten Erkenntnisprinzipien wird die Einheit der Dinge, unserem Erkennen ungreifbar scheinend und doch dessen Zusammenhang begründend, für uns praktisch und lebendig.« (Simmel [1907] 1989: 13)
Und in einer Selbstanzeige von 1901 zur Philosophie des Geldes heißt es: »Die Behauptung des historischen Materialismus, der alle Formen und Inhalte der Kultur aus den jeweiligen Verhältnissen der Wirtschaft aufwachsen lässt, ergänze ich durch den Nachweis, dass die ökonomischen Wertungen und Bewegungen ihrerseits der Ausdruck tiefergelegener Strömungen des individuellen und des gesellschaftlichen Geistes sind. Jeder Begründung des intellektuellen oder sittlichen, des religiösen oder des künstlerischen Daseins auf die Kräfte und Wandlungen des Materiellen steht die Möglichkeit gegenüber, für diese letzteren ein weiteres Fundament aufzugraben und den Verlauf der Geschichte als ein Wechselspiel zwischen den materiellen und den ideellen Faktoren zu begreifen, in dem keiner der erste und keiner der letzte ist.« (Ebd.: 719)
Diese Zitate scheinen mir in doppelter Hinsicht aufschlussreich zu sein. Zum einen macht hier Simmel deutlich, dass er den historischen Materialismus nicht einfach in Bausch und Bogen verwerfen, sondern ergänzen und aus dieser Theorieströmung etwas lernen will. Selbst in den Problemen der Geschichtsphilosophie, wo seine Materialismuskritik so deutlich formuliert ist wie sonst wohl nirgendwo, hält er fest:
118 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Worauf es hier ankommt, ist nicht die unfruchtbare Kritik, sondern der Ertrag, den diese ›realistische‹ Geschichtstheorie für die Überwindung des Realismus bringen kann: vielleicht zeigt sie durch die prinzipielle Konsequenz, die sie auszeichnet, nur besonders deutlich die Metaphysik, die auch jede andere durchfließt.« (Simmel [1907] 1997: 408)
Zum anderen ist zu vermuten, dass Simmel in der Philosophie des Geldes in erster Linie diese Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus, das heißt mit einem Theorem des zu seiner Zeit vorherrschenden Marxismus, bei dem es sich zugleich um ein Paradigma der kanonischen Rezeption handelt, das sich nicht von selbst aus den Marx’schen Texten ergibt, im Sinne hatte – nicht unbedingt die kritische Lektüre und Diskussion des Kapitals. Es ist umso erstaunlicher zu entdecken, wie sehr die Simmel‘schen Ausführungen über das Geld oftmals an Problemstellungen und Formulierungen im Marx’schen Hauptwerk erinnern, welche ich im vorhergehenden Kapitel für eine soziologische Lektüre aufgegriffen und zur Diskussion gestellt habe. Reale Abstraktion Wie Marx setzt sich Simmel in seiner Philosophie des Geldes mit dem Problem auseinander, wie der wirtschaftliche Wert eigenständige Gegenständlichkeit gewinnt und damit eine Form von gesellschaftlicher Objektivität entsteht, die sich weder auf das subjektive und individuelle Denken und Handeln noch auf natürliche Begebenheiten der wertvollen Dinge zurückführen lässt. Zwar entspringt jeder Wert für Simmel dem Bewerten und Begehren der Menschen und den Hindernissen, die dem Begehren in den Weg gestellt werden (um ein Ding zu erlangen). Doch jeder einzelne Mensch sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass der Wert der Dinge nicht allein von seinem Urteilen und Begehren abhängt, sondern eine Objektivität besitzt, die den Dingen anhaftet. Sie entsteht durch die Wechselwirkungen zwischen den Begehren der unzähligen Menschen und durch den Tausch, in dem solche Begehren befriedigt werden. Für Helmut Reichelt (2008: 42; 126-142) hat Simmel ([1907] 1989: 57) als Erster den Begriff der »realen Abstraktion« geprägt, der später durch Alfred Sohn-Rethel (1978) und die Kritische Theorie entfaltet wurde. Die gedankliche oder psychische Abstraktion der Eigenschaften der Dinge auf Werte, die durch Tausch in tausendfacher Wechselwirkung als gesellschaftliches Verhältnis konstituiert wird, erlangt eine eigentümliche gesellschaftliche Gegenständlichkeit. Der Wert stellt für Simmel eine dritte Kategorie zwischen Subjektivität und Objektivität dar, er ist »gleichsam etwas zwischen uns und den Dingen« (Simmel [1907] 1989: 37). Für ihn kommt im Wert eine »fundamentale Fähigkeit des Geistes« zur Geltung: »sich
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den Inhalten, die er sich vorstellt, zugleich gegenüberzustellen, sie vorzustellen, als wären sie von diesem Vorgestelltwerden unabhängig« (ebd.: 36). Simmels Ausführungen erinnern deutlich an die Marx’sche Charakterisierung der Kategorien der bürgerlichen Ökonomie als »gesellschaftlich gültige, objektive Gedankenformen« (Marx [1873] 1962: 90). Der ökonomische Wert erscheint ihm als etwas Ideelles, »das zwar in jene Zweiheit [der Subjektivität und Objektivität] eingeht, aber nicht in ihr aufgeht« (Simmel [1907] 1989: 36). Im Geld findet der Wert seinen reinsten Ausdruck, eine universelle Form, in der er sich von den einzelnen Dingen losgelöst darstellt. Das Geld ist »der Körper, mit dem der von den wertvollen Gegenständen selbst abstrahierte Wert sich bekleidet hat« und »der zur Selbständigkeit gelangte Ausdruck« des Verhältnisses, das die tauschbaren Dinge eingehen (ebd.: 122). Für Simmel ist Geld das Geltende schlechthin: »Alle anderen Dinge haben einen bestimmten Inhalt und gelten deshalb; das Geld umgekehrt hat seinen Inhalt davon, dass es gilt, es ist das zur Substanz erstarrte Gelten, das Gelten der Dinge ohne die Dinge selbst.« (Ebd.: 124) Indem das Geld die Relativität aller wertvollen Dinge verkörpert, das heißt den stets relativen Wert der tauschbaren Dinge im Vergleich zueinander, wird es zu einem Ding, das selbst nicht nur Relation hat (das heißt: in Beziehungen zu anderen Dingen steht), sondern Relation ist: Beziehungen zwischen Dingen verkörpert (ebd.: 131). An keinem Ding wird der Gebrauchswert im selben Maße zu Gunsten des Tauschwerts ausgelöscht wie beim Geld, hält Simmel fest (ebd.: 138). Ähnlich wie Marx, der beobachtet, wie gesellschaftliche Verhältnisse des Kapitalismus sich dinglich darstellen, streicht Simmel demnach heraus, dass das Geld selbst ein solches gesellschaftliches Verhältnis ist. Doch für den Verfasser des Kapitals entsteht der Wert durch die Verausgabung menschlicher Arbeit, wogegen das subjektive Werten und Begehren als Ausgangspunkt der Simmel‘schen Werttheorie dient. In der Philosophie des Geldes setzt sich Simmel ([1907] 1989: 563-590) durchaus ernsthaft mit einer »Arbeitstheorie des Wertes« auseinander (ebd.: 565). Nur ist es nicht diejenige von Marx, jedenfalls nicht die im Kapital entfaltete Werttheorie. Vermutlich war sich Simmel dessen nicht bewusst. Er beschäftigt sich mit einer politischen Theorie, die den Sozialismus durch die Einführung eines Arbeitsgeldes herbeiführen möchte, durch das der jeweilige Beitrag der Arbeitenden gerecht entlohnt würde. Diese Vorstellung hat Marx ([1857-58] 1983: 49ff.) selbst bereits in den Grundrissen kritisiert. Da Simmel Marx’sche Schlüsselbegriffe wie abstrakte Arbeit und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nicht aufgreift, setzt er sich mit einer – in der marxistischen Orthodoxie durchaus dominanten – naturalistischen Arbeitswerttheorie auseinander, welche »einen Arbeitsbegriff [sucht], der für Muskelarbeit und geistige Arbeit gleichmäßig gilt, und dabei tatsächlich auf der
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Muskelarbeit [mündet], als dem primären Werte oder Wertproduzenten, der als Maß jeglicher Arbeit überhaupt zu gelten habe« (Simmel [1907] 1989: 565). Er hält es zwar für möglich, dass die Wissenschaft eines Tages das mechanische Äquivalent psychischer Tätigkeiten findet, doch scheint es ihm sinnvoller, den gemeinsamen Nenner aller Arbeitstätigkeiten im erforderlichen Aufwand an psychischer Energie zu sehen (ebd.: 582ff.). Doch auch damit lässt sich die Frage nicht beantworten, warum es auch sinn- und wertlose Arbeit gibt und die Nützlichkeit jeder Arbeit nicht gegeben ist. Pointiert hält er fest, es sei ein Trugschluss, »wenn das ethisch vielleicht begründbare Postulat: aller Wert ist Arbeit – in den Satz umgekehrt wird: alle Arbeit ist Wert, d.h. gleicher Wert« (ebd.: 587). Simmel spricht in dem Satz eine Erkenntnis der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie aus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Geld als soziale Kraft Die Unkenntnis der Marx’schen Kritik der klassischen Arbeitswertlehre hindert Simmel jedoch nicht daran, über die Beobachtung der gegenständlichen Objektivität des Werts hinaus das Geld in Formulierungen zu beschreiben, die nicht selten an das Marx’sche Kapital erinnern. Je dichter die gesellschaftlichen Wechselwirkungen sind, desto mächtiger die Wirkungen, »die das Geld durch bloße Hoffnung und Furcht, die Begierde und Besorgnis, die sich mit ihm verbinden, übt; es strahlt diese auch ökonomisch so bedeutsamen Affekte aus, wie Himmel und Hölle sie ausstrahlen: als bloße Idee. Die reine Vorstellung des Vorhandenseins oder des Mangels von Geld an einer bestimmten Stelle wirkt anspannend oder lähmend, und die Goldreserven in den Kellern der Banken, die deren Noten decken, beweisen handgreiflich, wie das Geld in seiner rein psychologischen Vertretung volle Wirkungen zustande bringt; hier ist es wirklich als der ›unbewegte Beweger‹ zu bezeichnen.« (Simmel [1907] 1989: 204)
Das Geld bewegt demnach die Menschen im doppelten Sinne: es verursacht nicht nur Begierde und Besorgnis, sondern treibt auch zum Handeln. Gerade weil es für alle möglichen Zwecke eingesetzt werden kann und in diesem Sinne die Möglichkeit unbegrenzter Verwendung nicht nur hat, sondern ist, »[mag] es nicht ruhen, sondern [drängt] wie von sich aus fortwährend zum Verwendetwerden« (ebd.: 267) Das Geld will eben nicht nur Beweger sein, sondern auch bewegt werden, und dazu treibt es die Menschen an. Indem das Geld die Relativität aller Werte verkörpert, setzt es sich selbst absolut und wird, wie Simmel ([1907] 1989: 298) herausstreicht, vom absoluten
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Mittel zum absoluten Zweck menschlichen Handelns. Eigentlich nur ein Werkzeug, von Menschenhand gemacht, wird es für die Menschen so wertvoll, weil sie es zu allen möglichen Zwecken einsetzen können. Sie tun dies in einer modernen Gesellschaft in langen Zweckreihen des Handelns, die sie nicht überblicken können, so dass sie dazu tendieren, das Geld nicht mehr als Mittel, sondern als Endzweck ihres Handelns zu betrachten. Diese Wertübertragung vom Zweck auf die Mittel nennt Simmel »psychologische Expansion der Qualitäten« (ebd.: 292); das Geld ist ihm »das größte und vollendetste Beispiel für die psychologische Steigerung der Mittel zu Zwecken« (ebd.: 302). Die Empfindungen, welche die Menschen mit dem Geld verbinden, vergleicht er mit der Gottesvorstellung: »Der Gottesgedanke hat sein tieferes Wesen darin, dass alle Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt in ihm zur Einheit gelangen, dass er nach dem schönen Worte des Nikolaus von Kusa die Coincidentia oppositorum ist.« (Ebd.: 305) Simmel zitiert den großen Dichter des Mittelalters Hans Sachs: »Gelt ist auff erden der irdisch got.« (Ebd.: 307) Das Geld stellt für Simmel demnach nicht nur ein Ding dar, das zugleich gesellschaftliches Verhältnis ist und sich durch eine gegenständliche Objektivität auszeichnet, die zwischen uns und den Dingen existiert. Er beschreibt es auch als Gelenksystem und Blut einer Totalität, die sich den Menschen gegenüberstellt, indem das Geld die Verselbständigung und Schließung der Ökonomie als sozialem Prozess realisiert. »Die Produktion, mit ihrer Technik und ihren Ergebnissen, erscheint wie ein Kosmos mit festen, sozusagen logischen Bestimmtheiten und Entwicklungen, der dem Individuum gegenübersteht, wie das Schicksal es der Unstätheit und Unregelmäßigkeit unseres Willens tut. Dieses formale Sich-selbst-gehören, dieser innere Zwang, der die Kulturinhalte zu einem Gegenbild des Naturzusammenhanges einigt, wird erst durch das Geld wirklich.« (Simmel [1907] 1989: 651-652)
So kommt es zum Übergewicht einer Kultur der Dinge über die Kultur der Menschen, welche den alltäglichen Lebensstil der Menschen in der modernen Gesellschaft prägt (ebd.: 617ff.). Das Geld ist für Simmel eine soziale Kraft, Bündelung sozialer Energie, die aus dem Begehren der unzähligen Menschen entsteht. Gegen Ende seiner Philosophie des Geldes spricht er vom »warmen Strom des Lebens, der sich in die Schemata der Dingbegriffe ergießt, der sie gleichsam aufblühen und ihr Wesen entfalten lässt«, und hält fest: »Dieser Kraft des Seins nähert sich von allem Äußerlich-Praktischen – für das jede Analogie mit dem Absoluten immer nur unvollständig gelten kann – das Geld am meisten.
122 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE Wie jene steht es seinem Begriffe nach ganz außerhalb der Dinge und deshalb gegen ihre Unterschiede völlig gleichgültig, so dass jedes einzelne es ganz in sich aufnehmen und mit ihm gerade sein spezifisches Wesen zur vollkommensten Darstellung und Wirklichkeit bringen kann.« (Ebd.: 695-696)
Während das Kapital für Marx eine soziale Kraft ist, welche sich die Dinge und Menschen unterwirft, sie einseitig zurichtet und ausnutzt, sieht Simmel das Geld als eine Macht, die den unterschiedlichsten Zwecken dienen und alle möglichen Dinge aufblühen lassen kann. In der Philosophie des Geldes verwandelt sich das Geld eben nicht in Kapital. Wie mächtig die Wirkungen des Geldes in Simmels Augen auch sind, so ist er stets bemüht zu betonen, es könne gerade auch umgekehrt wirken. Zum Beispiel betont er, das Geld könne nicht nur das Übergewicht der objektiven Kultur der Dinge über die subjektive Kultur der Menschen fördern, sondern zugleich die menschliche Persönlichkeit in bisher nicht bekanntem Ausmaß verfeinern helfen (Simmel [1907] 1989: 652-654). Er beschreibt die Menschen in der Geldwirtschaft als »Sklaven des Produktionsprozesses« und »Sklaven der Produkte« (ebd.: 674), hält aber an anderer Stelle fest, es existiere keine andere Form des Besitzes, die dem Willen der Menschen so wenig Widerstand leiste wie das Geld, das »uns ohne Reserve gehorcht« (ebd.: 437), so dass wir mit ihm machen können, was wir wollen. Wir können uns dagegen zweifellos nicht vorstellen, einen Satz von Marx zu lesen, der besagt, das Kapital gehorche den Menschen. Simmels Philosophie des Geldes enthält trotz der Verwendung von religiösen Metaphern im Gegensatz zum Marx’schen Hauptwerk auch keine Fetischismustheorie. Wo er die Beziehung zwischen Menschen und Dingen unter dem Übergewicht der objektiven Kultur beschreibt, sind nicht die Dinge verzaubert, sondern die Menschen entseelt. »Wenn der moderne Mensch frei ist – frei, weil er alles verkaufen, und frei, weil er alles kaufen kann – so sucht er nun, oft in problematischen Velleitäten, an den Objekten selber diejenige Kraft, Festigkeit, seelische Einheit, die er selbst durch das vermöge des Geldes veränderte Verhältnis zu ihnen verloren hat.« (Simmel [1907] 1989: 555-556)
Das Geld erlangt für Simmel keine Macht über die Menschen, nur weil es ein gesellschaftliches Verhältnis dinglich darstellt. Vielmehr zählt er es »zu den Grundtatsachen der seelischen Welt, dass wir Verhältnisse zwischen mehreren Elementen des Daseins in besonderen Gebilden verkörpern« (ebd.: 136), und betrachtet die »Projizierung bloßer Verhältnisse auf Sondergebilde [als] eine der großen Leistungen des Geistes, indem in ihr der Geist zwar verkörpert wird, aber
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nur um das Körperhafte zum Gefäß des Geistigen zu machen und diesem damit eine vollere und lebendigere Wirksamkeit zu gewähren« (ebd.: 137). Der Geist behält die Oberhand. Die »psychologische Expansion der Qualitäten«, die das Geld vom Mittel zum Zweck des Handelns macht, beschreibt er als Notwendigkeit, sobald Menschen in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen leben, das heißt als das Ergebnis einer praktischen Zweckmäßigkeit, welche die Orientierung des Handelns an den Mitteln und die Verdrängung der letzten Zwecke aus dem Bewusstsein erfordert (ebd.: 292-295). Die Geldwirtschaft befördert für Simmel eine Kulturtendenz, die »uns auf dem Gebiete des Erkennens immer mehr von Symbolen befreit, sie uns aber auf praktischen Gebieten immer notwendiger macht«; so tritt an die Stelle der »Symbolistik mythologischer Weltanschauungen« zusehends eine praktische »symbolische Behandlung der Dinge«, deren Instrument das Geld ist (ebd.: 167; 169). Auch die Kapitalakkumulation ist für Simmel nur ein Sonderfall eines allgemeinen Gesetzes: »Kurz, Überlegenheitsverhältnisse pflegen sich in wachsenden Proportionen zu entwickeln, und die ›Akkumulation des Kapitals‹ als eines Machtmittels ist nur ein einzelner Fall einer sehr umfassenden Norm, die auch auf allen möglichen, nicht-ökonomischen Machtgebieten gilt.« (Ebd.: 522-523) Da scheint nichts Rätselhaftes dran zu sein, schon gar nichts Verrücktes, und die verwunderte Empörung (oder empörte Verwunderung), welche die Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie antreibt, geht der Philosophie des Geldes ab. Ambivalente Kultur des Kapitalismus Wenn Simmel an solchen Stellen zur Verklärung oder sogar Naturalisierung gesellschaftlicher Phänomene Hand bietet oder allzu einfache Erklärungen liefert, so gelingt ihm zugleich eine eindrückliche Beschreibung ambivalenter Züge der Kultur des modernen Kapitalismus. Der alltägliche Stil des Lebens hängt für ihn vom Verhältnis zwischen der objektiven Kultur der Dinge und der subjektiven Kultur der Menschen ab. »Gerade die allgemeine Art, wie das Leben sich abspielt, der Rahmen, den die soziale Kultur den Impulsen des Individuums darbietet, wird durch Fragen wie diese umschrieben: ob der Einzelne sein Innenleben in Nähe oder in Fremdheit zu der objektiven Kulturbewegung seiner Zeit weiß, ob er diese als eine überlegene, von der er gleichsam nur den Saum des Gewandes berühren kann, empfindet, oder seinen personalen Wert allem verdinglichten Geiste überlegen; ob innerhalb seines eigenen Geisteslebens die objektiven, historisch gegebenen Elemente eine Macht eigener Gesetzmäßigkeit sind, so dass diese und der eigentliche Kern seiner Persönlichkeit sich wie unabhängig voneinander entwi-
124 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE ckeln, oder ob die Seele sozusagen Herr im eigenen Hause ist oder wenigstens zwischen ihrem innersten Leben und dem, was sie als impersonale Inhalte in dasselbe aufnehmen muss, eine Harmonie in bezug auf Höhe, Sinn und Rhythmus herstellt.« (Simmel [1907] 1989: 649-650)
Die durch das Geld geförderte, gewaltige Entwicklung des »objektiven Geistes« eröffnet den Menschen neue Möglichkeiten, sie »schenkt [ihnen] eine Welt« (ebd.: 627); zugleich stellt sie ihnen eine gesellschaftliche Arbeitsteilung und Totalität gegenüber, die es der Seele schwierig macht, diese Harmonie zu erreichen oder sogar Herr im Hause zu bleiben. »Je vollständiger ein Ganzes aus subjektiven Beiträgen den Teil in sich einsaugt, je mehr es der Charakter jedes Teiles ist, wirklich nur als Teil dieses Ganzen zu gelten und zu wirken, desto objektiver ist das Ganze, desto mehr lebt es ein Leben jenseits aller Subjekte, die es produzieren.« (Ebd.: 630) Die Kultur der Geldwirtschaft zeichnet sich für Simmel deshalb nicht nur durch eine gewisse Charakterlosigkeit aus, durch eine Abflachung des Gefühlslebens, die zugleich den Vorteil einer leichteren intellektuellen Verständigung bietet (Simmel [1907] 1989: 595-596). Es prägt sie auch eine außergewöhnliche »Tempo-Beschleunigung des sozialen Lebens« (ebd.: 698), eine Steigerung der »Buntheit und Fülle des Lebens« (ebd.: 707), welche die Menschen ohne Zweifel auch überfordern kann. Simmel beschreibt die Börse als denjenigen Ort, an dem diese Beschleunigungstendenz kulminiert. »[Sie ist] der Punkt der größten konstitutionellen Aufgeregtheit des Wirtschaftslebens: ihr sanguinisch-cholerisches Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus, ihre nervöse Reaktion auf Ponderabilien und Imponderabilien, die Schnelligkeit, mit der jedes den Stand verändernde Moment ergriffen, aber auch wieder vor dem nächsten vergessen wird – alles dies stellt eine extreme Steigerung des Lebenstempos dar, eine fieberhafte Bewegtheit und Zusammendrängung seiner Modifikationen, in der der spezifische Einfluss des Geldes auf den Ablauf des psychischen Lebens seine auffälligste Sichtbarkeit gewinnt.« (Ebd.: 707-708)
Im Zusammenspiel mit dem Übergewicht der Kultur der Dinge verbreitet die Beschleunigung »ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst noch kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der Dinge« (ebd.: 669-670). Der »Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele« treibt die Menschen zu steter Hast und verursacht
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»ein Gefühl, als läge der ganze Sinn unserer Existenz in einer so weiten Ferne, dass wir ihn gar nicht lokalisieren können und so immer in Gefahr sind, uns von ihm fort, statt auf ihn hin zu bewegen – und dann wieder, als läge er vor unseren Augen, mit einem Ausstrecken der Hand würden wir ihn greifen, wenn nicht immer gerade ein Geringes von Mut, von Kraft oder innerer Sicherheit uns fehlte« (ebd.: 675).
Die Ambivalenz dieser Kulturformen, die fehlende Harmonie des Seelenlebens, sieht Simmel im Zusammenhang mit den Formen, welche die individuelle Freiheit unter dem Einfluss der Geldwirtschaft annimmt. Wie Marx ([1857-58] 1983: 90ff.) in den Grundrissen betont er den Übergang von den früheren persönlichen zu versachlichten und durch Geld vermittelten Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den Menschen (Simmel [1907] 1989: 392ff.). So hat das Geld die Tendenz, individuelle Freiheit zu steigern, aber es handelt sich bloß um eine formelle Freiheit, eine »Freiheit von etwas« (ebd.: 550), die den Menschen nicht unbedingt Handlungsmacht gibt, sondern auch in andere Richtungen wirken kann. Am Beispiel des ehemaligen Fronbauern, dem der Feudalherr das Land abgekauft hat, verdeutlicht Simmel die Ambivalenz dieser Freiheit: Der Bauer hat seinen bisherigen Lebensinhalt gegen Geld getauscht und dadurch weder Macht noch ein neues Betätigungsfeld gewonnen. Zwar ist er von der Scholle befreit, doch vermutlich wird er Proletarier. »Weil die Freiheit, die das Geld gibt, nur eine potenzielle, formelle, negative ist, so bedeutet sein Eintausch gegen positive Lebensinhalte – wenn sich nicht sogleich andere von anderen Seiten her an die leergewordene Stelle schieben – den Verkauf von Persönlichkeitswerten.« (Ebd.: 553) Wenn Simmel versucht, die Auswirkungen dieser durch das Geld geförderten Freiheit auf die Psyche und Persönlichkeit der Menschen zu fassen, betritt er einen theoretischen Raum, der durch Marx weitgehend unerforscht geblieben ist. Der freie Arbeiter, über den der Verfasser des Kapitals schreibt, ist nicht nur feudaler Zwänge und seiner Produktionsmittel entledigt, sondern auch in seinen »Persönlichkeitswerten« bedroht, und er kann auch aus diesem Grund seiner individuellen Freiheit nicht nur Positives abgewinnen. Für Simmel ([1907] 1989: 555) geht die Zunahme der bloß formellen Freiheit einher mit einer Orientierungslosigkeit und Unbefriedigung unter den Menschen. »So erklärt es sich, dass unsere Zeit, die, als ganze betrachtet, sicher mehr Freiheit besitzt als irgend eine frühere, dieser Freiheit doch so wenig froh wird.« Unter diesen Bedingungen »[wächst] die Hoffnung der Befriedigung, die sich an ein Erlangtes knüpft, im nächsten Augenblick schon darüber hinaus«, und »der Kern und Sinn des Lebens [gleitet] uns immer von neuem aus der Hand«; zugleich breitet sich »eine tiefe Sehnsucht [aus], den Dingen eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn,
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einen Eigenwert zu verleihen« (ebd.). Simmel beschreibt in diesen eindrücklichen Passagen sozusagen eine Art Disposition der Menschen im Kapitalismus, sich den Kräften des Waren- und Kapitalfetisches hinzugeben, der Dinge mit übersinnlichen Eigenschaften ausstattet. Für Marx ([1857-58] 1983: 90) trägt das Individuum im Geld »seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich«. Dies befördert eine Vorstellung von Handlungsmacht und Freiheit, die in anderen Gesellschaftsformationen kaum zu finden ist. Zugleich erscheinen die sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Vergleich zu den persönlichen so, »dass die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind.« (Ebd.: 97) Wie Simmel hält er fest, dass die Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse nicht verschwinden, sondern eine sachliche, abstrakte Form annehmen, eine Gegenständlichkeit, die ihnen eine gesellschaftliche Objektivität verleiht. Doch geht Marx weiter, wenn er festhält: »Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; das Kapital ist frei gesetzt.« (Ebd.: 550) »Es ist eben nur die freie Entwicklung auf einer bornierten Grundlage – der Grundlage der Herrschaft des Kapitals. Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen.« (Ebd.: 551)
Sachliche Mächte und übermächtige Sachen werden auch in der Philosophie des Geldes an vielen Stellen beschrieben. Die Macht des Geldes, dieser Sache gewordenen Relation, und das Übergewicht der objektiven über die subjektive Kultur sind Kategorien, in denen Simmel die Sachenmacht fasst, ohne sie der individuellen Freiheit so kategorisch gegenüberzustellen wie Marx. Die Trennung des Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln sieht er als schlagendes Beispiel für die Verselbständigung der Kultur der Dinge. Die Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware bedeutet für Simmel ([1907] 1989: 632), »dass sie dem Arbeiter selbst gegenüber etwas Objektives geworden ist, etwas, das er nicht nur nicht mehr ist, sondern eigentlich auch nicht mehr hat«. In der Fabrik tritt der »objektive Geist« dem Arbeiter als Maschine, als ein übermächtiger Zusammenhang von Sachen gegenüber:
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»Indem die Maschine aber zur Totalität wird, einen immer größeren Teil der Arbeit auf sich nimmt, steht sie ebenso dem Arbeiter als eine autonome Macht gegenüber, wie er ihr gegenüber nicht als individualisierte Persönlichkeit, sondern nur als Ausführer einer sachlich vorgeschrieben Leistung wirkt.« (Ebd.: 637)
Und diese Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung machen auch nicht vor der Wissenschaft Halt: »Den jetzigen Zustand in der Wissenschaft kann man als eine Trennung des Arbeiters von seinen Arbeitsmitteln im weiteren Sinne bezeichnen, und jedenfalls in dem hier fraglichen.« (Ebd.: 632-633) Wenn Simmel ([1907] 1989, 591ff.) unterstreicht, mit der Geldwirtschaft gehe eine steigende Vormacht der Intellektualität gegenüber den Gefühlen und dem Gemüt einher, vermeidet er es deshalb, in eine Verklärung der Intellektuellen zu verfallen. Er hält vielmehr fest, dass »auch die kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen [operieren], deren genauen Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig kennen. Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissenschaftsstoffes gestattet, ja erzwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefäße von Hand zu Hand gehen, ohne dass der tatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete.« (Ebd.: 621)
Und er betont, wie die neuartige Verbindung formaler Gleichheit mit Bildung soziale Ungleichheit in bisher nicht bekannte Formen steigert. »Die scheinbare Gleichheit, mit der sich der Bildungsstoff jedem bietet, der ihn ergreifen will, ist in der Wirklichkeit ein blutiger Hohn, gerade wie andere Freiheiten liberalistischer Doktrinen, die den Einzelnen freilich an dem Gewinn von Gütern jeder Art nicht hindern, aber übersehen, dass nur der durch irgend welche Umstände schon Begünstigte die Möglichkeit hat, sie sich anzueignen. Da nun die Inhalte der Bildung – trotz oder wegen ihres allgemeinen Sich-Darbietens – schließlich nur durch individuelle Aktivität angeeignet werden, so erzeugen sie die unangreifbarste, weil ungreifbarste Aristokratie, einen Unterschied zwischen Hoch und Niedrig, der nicht wie ein ökonomisch-sozialer durch ein Dekret oder eine Revolution auszulöschen ist, und auch nicht durch den guten Willen der Betreffenden; Jesus konnte dem reichen Jüngling wohl sagen: Schenke deinen Besitz den Armen, aber nicht: Gib deine Bildung den Niederen. Es gibt keinen Vorzug, der dem Tieferstehenden so unheimlich erschiene, dem gegenüber er sich so innerlich zurückgesetzt und wehrlos fühlte, wie der Vorzug der Bildung.« (Ebd.: 606-607)
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Der Verfasser der Philosophie des Geldes zeigt in diesen Passagen nicht nur ein für seine Zeit zweifellos außergewöhnliches Bewusstsein um die Bedeutung von Bildung als Medium der Reproduktion von Herrschafts- und Klassenverhältnissen. Er deutet darüber hinaus an, in welchem Zusammenhang die realen Abstraktionen der Ökonomie zur sozialen Ungleichheit stehen: Sie stellen eine Objektivität in der Form allgemeiner Vergleichbarkeit her, an der sich Rangunterschiede orientieren und in neuartige Dimensionen gesteigert werden können. Und wenn Simmel ([1907] 1989, 610-611) die »Aufhäufung intellektueller Errungenschaften« mit den »Akkumulierungen des Geldkapitals« vergleicht, schneidet er eine Problemstellung an, mit der sich heute die Theorien des Human- und Kulturkapitals befassen: »Die Struktur der geldwirtschaftlichen Verhältnisse, die Art, wie das Geld Renten und Gewinn erzielt, bringt es mit sich, dass es von einer gewissen Höhe ab sich wie von selbst vermehrt, ohne durch verhältnismäßige Arbeit des Besitzers befruchtet zu werden. Dies entspricht der Struktur der Erkenntnisse in der Kulturwelt, die von einem bestimmten Punkte an einen immer geringeren Selbsterwerb des Einzelnen fordern, weil sich die Wissensinhalte in verdichteter und mit ihrer größeren Höhe immer konzentrierterer Form darbieten. Auf den Höhen der Bildung fordert jeder weitere Schritt im Verhältnis zu dem Tempo der Erwerbungen niederer Stufen ebenso viel weniger Mühe, wie er einen höheren Erkenntnisertrag liefert. Wie die Objektivität des Geldes ihm schließlich ein von personalen Energien relativ unabhängiges ›Arbeiten‹ gestattet, dessen sich aufhäufende Erträge wie automatisch zu weiteren Aufhäufungen in steigenden Proportionen führen – so bewirkt das Objektivwerden der Erkenntnisse, die Lösung der Resultate der Intelligenz von dem Prozesse der letzteren selbst, dass diese Resultate sich zu verdichteten Abstraktionen aufhäufen, und dass man sie, wenn man nur schon hoch genug steht, wie Früchte pflücken kann, die ihren Reifeprozess ohne unser Zutun vollzogen haben.«
Das Kapital, schreibt Marx ([1894] 1964: 830), trägt Früchte wie ein Baum. Zumindest scheint es so. Ähnliches hat Simmel nicht nur beim Geld, sondern auch bei der Bildung entdeckt. Während der Verfasser des Kapitals hinter der Trinitarischen Formel einen versteckten inneren Zusammenhang der gesellschaftlichen Prozesse sucht, deuten in der Stelle aus der Philosophie des Geldes das »wie von selbst« und »wie automatisch« sowie die Anführungszeichen, in die das »Arbeiten« gesetzt ist, zumindest an, dass diese eindrückliche Beschreibung nicht die ganze Wahrheit über die scheinbar natürliche Fruchtbarkeit dieser Dinge – Geld und Bildung – enthält.
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Über die formale Soziologie hinaus Die Simmel‘schen Untersuchungen des Geldes weisen nicht nur eine erstaunliche Resonanz zu Problemstellungen und Konzepten des Marx’schen Hauptwerks auf, sie sind auch von großer soziologischer Relevanz und Aktualität. Doch von Soziologie will Simmel in der Philosophie des Geldes nicht sprechen. Wenn er im Vorwort schreibt, »keine Zeile dieser Untersuchungen ist nationalökonomisch gemeint« (Simmel [1907] 1989: 11), will er einem nahe liegenden Missverständnis vorbeugen. Aber es scheint so, dass diese umfangreiche Schrift, die Simmel in ersten Entwürfen mit der Überschrift Psychologie des Geldes versehen hatte, auch nicht soziologisch gemeint war. Das mag uns heute überraschen, erklärt sich aber aus Simmels Verständnis der Soziologie, die er als Formenlehre definierte, ähnlich wie die Geometrie: »Sowohl Geometrie wie Soziologie überlassen die Erforschung der Inhalte, die sich in ihren Formen darstellen, oder der Totalerscheinungen, deren bloße Form sie betrachten, anderen Wissenschaften.« (Simmel [1908] 1992, 25) Durch die Brille einer rein formalen Soziologie betrachtet liegt das in der Philosophie des Geldes zum Tragen kommende Erkenntnisinteresse gerade ebenso diesseits und jenseits der Soziologie wie der »ökonomischen Wissenschaft vom Gelde« (Simmel [1907] 1989: 10). Simmel interessiert sich mehr für die Voraussetzungen der modernen Wirtschaft sowie für deren Auswirkungen auf das Lebensgefühl der Menschen als nur für die Formen der Vergesellschaftung an sich. Er hält sich nicht an die Einschränkung auf eine reine Formenlehre, die er der Soziologie auferlegen wollte. Allerdings kommen in seiner Untersuchung die gesellschaftlichen Formen des Geldes durchaus zur Sprache. So hält er etwa fest, der Tausch sei »ein soziologisches Gebilde sui generis, eine originäre Form und Funktion des interindividuellen Lebens« (ebd.: 89), und der Mensch sei als »tauschendes Tier« zu charakterisieren (ebd.: 385) – eine Formulierung, die wie oft bei Simmel aber auch die Gefahr der Naturalisierung mit sich bringt. Vielleicht können wir in Abwandlung des Satzes von Henri Lefèbvre (1972: 22) über Marx sagen, die Philosophie des Geldes sei keine Soziologie, aber sie »enthalte eine Soziologie« – selbst wenn wir uns an Simmels Definition der formalen Soziologie halten. Es bleibt die Frage, warum Simmel aus seinen Untersuchungen der Geldwirtschaft nichts in seine Soziologie aufgenommen hat, das heißt in jenes Buch, in dem er seine soziologischen Grundgedanken ausformuliert und zusammenfasst (Simmel [1908] 1922). Vielleicht hat dies die soziologische Rezeption der Philosophie des Geldes, das heißt einer der gehaltvollsten Schriften der soziologischen Klassiker über ökonomische Phänomene, behindert. Zudem hat sich für mich der Eindruck erhärtet, die programmatische Selbstbeschränkung der Sozio-
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logie auf eine reine Formlehre, die Simmel einforderte, könne zum unnötigen Erkenntnishindernis werden. Wenn Soziologinnen und Soziologen sich nicht den »Komplex vergesellschafteter Individuen, das gesellschaftlich geformte Menschenmaterial, wie es die ganze historische Wirklichkeit ausmacht« zu ihrem Gegenstand machen sollen, sondern nur »die Summe jener Beziehungsformen, vermöge deren aus den Individuen eben die Gesellschaft im ersten [weiteren] Sinne wird« (ebd.: 23), fällt eine Studie wie die Philosophie des Geldes aus dem soziologischen Fachgebiet heraus, und das ist sehr bedauerlich. Die außerordentliche Qualität der Simmel’schen Untersuchungen des Geldes lebt von der Analyse der Wechselwirkungen zwischen Inhalt und Form, zwischen Begehren und Tausch, Lebensstil und gesellschaftlicher Objektivität. Gerade darin können wir eine Analogie zur Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie sehen, aus der sich wertvolle Anregungen für eine Soziologie des gegenwärtigen Kapitalismus ziehen lassen.
D ER D ONNERSCHLAG ,
DER NICHT GEHÖRT WURDE
Gérard Granel (zit. in Bensaïd 1995a: 9) beschrieb im Vorwort zur französischen Ausgabe von Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften die Publikation des Kapitals von Karl Marx als coup de tonnerre inaudible – als Donnerschlag, der nicht gehört werden konnte. Auf der Grundlage der nun bei Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel durchgeführten Spurensuche lässt sich diese Beobachtung präzisieren. Es ist offensichtlich, dass die Klassiker der Soziologie stark auf Marx reagiert haben. Sie haben ihn wahrgenommen und für wichtig gehalten: Sie haben ihn durchaus gehört. Aber was sie nicht zu hören vermochten – es gibt keinen Grund zu denken, dass sie es nicht hören wollten – ist das spezifische Programm der Kritik der Politischen Ökonomie, das im Marx’schen Hauptwerk entfaltet und in Ansätzen umgesetzt ist. Am ehesten finden wir eine theoretische oder konzeptuelle Affinität dazu in Simmels Philosophie des Geldes, das heißt ironischerweise bei demjenigen der drei Autoren, der viel weniger von Kapital und Kapitalismus schreibt als die zwei anderen. Das liegt daran, dass sich Georg Simmel systematisch mit der Entstehung und Geltung der wirtschaftlichen Werte auseinandersetzte und entdeckte, dass die Geldwirtschaft realer Abstraktion beruht. Doch wenn er das Geld mit dem Gottesgedanken in Verbindung setzt, trägt er noch lange nicht so etwas wie ein Fetischtheorem vor. Wie Sombart und Weber sieht Simmel in der Moderne eine Entzauberung der sozialen Welt heraufziehen. In dieser Sichtweise ist kein Platz für die Marx’sche
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Entdeckung einer neuartigen Verzauberung des Alltagslebens durch die verrückten Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Die soziologischen Klassiker haben auf ein Bild von Marx reagiert, das bereits stark durch den aufkommenden Marxismus und erste Formen der Kanonisierung des Werks geprägt war. Das ist auch nicht überraschend, wenn wir uns vor Augen halten, wie sehr die Herrschenden in Deutschland zur Jahrhundertwende mit Massenorganisationen der Arbeiterbewegung und Diskussionen über soziale Reformen und Revolutionsgefahr konfrontiert waren. Bereits 1878 wurden die Sozialistengesetze verabschiedet und 1883 – im Todesjahr von Marx – folgte die gesetzliche Krankenversicherung im Geiste eines konservativen Staatssozialismus (Bismarck selbst hat diesen Ausdruck verwendet). Gerade Werner Sombart und Max Weber haben sich – etwa im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Verein für Socialpolitik – intensiv mit solchen politischen Auseinandersetzungen beschäftigt. Die Kritik der soziologischen Klassiker am historischen Materialismus trifft eher den bereits langen Schatten von Marx als den Verfasser des Kapitals selbst. Die selbstkritische Abrechnung von Karl Marx und Friedrich Engels »mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen« in der Deutschen Ideologie (Marx [1859] 1961: 10), kannten sie nicht, weil diese Schrift erst 1932 publiziert wurde. Die in der kanonischen Rezeption auf eine klassische Arbeitswertlehre verkürzte Werttheorie sowie der mit einer Wiederauferstehung jenes philosophischen Gewissens einhergehende historische Determinismus in den Rängen der Sozialdemokratie boten den soziologischen Klassikern Zielscheiben an, auf die zu schießen nicht schwierig war. Wenn Werner Sombart an Marx vor allem die Entdeckung der kapitalistischen Subjekte und den Schreibstil würdigte, Max Weber den materialistischen Impuls aufgriff und in rettender Kritik weiter führte und Georg Simmel einen als solchen vielleicht gar nicht beabsichtigten anspruchsvollen theoretischen Dialog mit dem Marx’schen Kapital vorträgt, so vereint die Analysen der drei soziologischen Klassiker vielleicht vor allem das Thema der Rationalität und Rationalisierung in der kapitalistischen Moderne. Mit dem Marx der Grundrisse könnten wir hervorheben, alle drei seien in ihren ambivalenten (Simmel), wenn nicht sogar düsteren Gedanken (Sombart und Weber) über die kapitalistische Rationalisierung im Schema eines Gegensatzes zwischen bürgerlicher und romantischer Weltsicht gefangen geblieben: »Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube,
132 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE bei jener vollen Entleerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen, und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten.« (Marx [1957-58] 1983: 95-96)
Dieses »selige Ende« ist jedoch bis heute nicht eingetreten, und die Beobachtungen der deutschen Klassiker zur Ambivalenz moderner Kultur und scheinbaren Schicksalhaftigkeit kapitalistischer Rationalisierung sind zur wichtigen Inspirationsquellen für die im deutschsprachigen Raum wohl einflussreichste sozialwissenschaftliche Strömung des 20. Jahrhunderts geworden, die sich wohlwollend auf Marx bezieht: Die Kritische Theorie konnte allerdings nur durch einen Bruch gegenüber dem orthodoxen Marxismus entstehen, der der Soziologie meistens misstrauisch gegenüber stand oder sogar feindlich gesinnt war. Darauf komme ich im folgenden Kapitel zu sprechen.
IV. Das Erbe des Marxismus
Die Spuren, die Marx in den Schriften der deutschen Klassiker der Soziologie hinterließ, sind wesentlich durch die folgende historische Tatsache geprägt: Als theoretische und politische Strömung, die sich bei weitem nicht mehr auf das Werk einer einzelnen Person reduzieren lässt, hat sich der Marxismus – damals oft historischer Materialismus genannt – gebildet und gefestigt, bevor die Soziologie als akademische Disziplin etabliert war. Wenn es in diesem Kapital nun darum geht, die Reflexion über das Verhältnis zwischen Marx, dem Marxismus und der Soziologie zu vertiefen, muss dies stets in Erinnerung gehalten werden: Es gibt zumindest im deutschsprachigen Raum keine Soziologie vor dem Marxismus. Vielmehr ist die mehr oder weniger ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Marxismus als konstitutiv für die Entstehung der soziologischen Wissenschaft zu betrachten. Leszek Kolakowski (1978: 11ff.) hat einmal die Zeit der Zweiten Internationale (1889-1914) als goldenes Zeitalter des Marxismus bezeichnet. In diesem Zeitraum ist die Soziologie als akademische Disziplin erst zögerlich entstanden, während der Marxismus bereits die Entfaltung heftiger interner Kämpfe erlebte, die sich etwa in der Debatte über den Revisionismus und in Kontroversen über die Haltung zum Ersten Weltkrieg niederschlugen, an denen die Internationale letztlich scheiterte und zerbrach. So waren bereits die ersten soziologischen Lesarten des Marx’schen Werk eher indirekter Art, das heißt wesentlich vermittelt über kanonische Interpretationen, an denen sich die Marxisten wie ihre Gegner Jahrzehnte lang abarbeiten sollten. Zwar waren um die Jahrhundertwende durchaus bestimmte Texte von Marx selbst zugänglich: Abgesehen von den drei Bänden des Kapitals handelte es sich vor allem um zerstreute, oft kürzere politische oder journalistische Texte. Doch wie Marx und insbesondere das Hauptwerk gelesen werden sollte, hatte in erster Linie Friedrich Engels in einer Reihe von Kommentaren und eigenen Schriften auf eine Weise vorgegeben, die einer soziologischen Lektüre nicht zuträglich war. Zu nennen ist neben den Vor- und Nachworten zum zweiten und
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dritten Band des Kapitals vor allem der so genannte Anti-Dühring (Engels [1878] 1962), den einflussreiche Marxisten wie Karl Kautsky, Eduard Bernstein oder Wladimir Lenin als Gründungsdokument des Marxismus, verstanden als eine eigenständige Wissenschaft und Weltanschauung, betrachtet haben. Vielleicht geht Ingo Elbe (2008: 14) einen Schritt zu weit, wenn er schreibt, der traditionelle Marxismus sei im Kern eigentlich ein »Engelsismus« gewesen. Einen für die Rezeptionsgeschichte entscheidenden und oftmals unterschätzten Aspekt, der heute dank den Arbeiten an der neuen MEGA sehr gut dokumentiert ist, hat er damit aber auf jeden Fall benannt. In diesem Kapitel möchte ich einige Probleme des marxistischen Einflusses auf die Rezeption von Marx und seines Hauptwerks in der Soziologie thematisieren. Im ersten Abschnitt gehe ich der Frage nach, inwiefern Karl Marx selbst und vor allem Friedrich Engels durch ihre Kommentare zum Kapital bestimmte Lesarten begünstigt haben, die sich als Hindernisse für eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Marx’schen Hauptwerk erwiesen haben. In diesem Zusammenhang muss auch die Editionsgeschichte kurz thematisiert werden, die bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf der unerschütterlichen, aber falschen Annahme beruhte, dass es sich bei den Schriften der beiden Autoren um ein einziges und einheitliches Werk handle. Daraufhin werde ich mit Bezug auf Lenin und Lukacs den zentralen Leitgedanken des Marxismus als einer Wissenschaft für sich, die die Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt und ihrem bürgerlichen Gegenüber wesensmäßig überlegen ist, kritisch hinterfragen: Der Glaube an diese marxistische Überlegenheit hat produktive Interaktionen mit anderen theoretischen Strömungen sehr unwahrscheinlich gemacht. In der Folge möchte ich an zwei Beispielen – Ernest Mandel und Louis Althusser – diskutieren, wie die Ökonomie und die Philosophie als Königsdisziplinen des Marxismus funktionierten, während die Soziologie im marxistischen Lager nicht selten als die bürgerliche Wissenschaft par excellence abgetan und selten für wichtig gehalten wurde. Zum Schluss sollen Ansätze einer produktiven Verbindung von Soziologie und Marxismus zur Sprache kommen, die es natürlich auch gegeben hat: Ich gehe kurz auf die Kritische Theorie sowie auf marxistische Einflüsse in der Arbeitssoziologie ein. Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist eine Beobachtung relevant, die sich – zwischen den Zeilen – durch das gesamte Kapitel zieht: Wie in der soziologischen Rezeption von Marx ist das Kapital auch in der marxistischen Tradition nicht unbedingt ein Schlüsselbegriff, obschon es im Titel des Marx’schen Hauptwerks steht.
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V ORWORTE
Wie ich im zweiten Kapitel ausgeführt habe, ist Das Kapital offensichtlich ein unvollendetes Werk geblieben, das ungelöste Widersprüche und offene Fragen in sich trägt. Der orthodoxe Marxismus hat daraus aber ein vollendetes Werk gemacht, eine »Bibel der Arbeiterklasse«, wie bereits Friedrich Engels im Vorwort zur englischen Ausgabe des ersten Kapital-Bandes geschrieben hat (in: Marx [1873] 1962: 39), und auch viele heterodoxe Marxismen sind ihm diesbezüglich gefolgt. Die Kanonisierung setzt nicht erst nach dem Tod von Karl Marx oder Friedrich Engels ein. Der Verfasser des Kapitals soll in den letzten Lebensjahren kategorisch erklärt haben, er sei kein Marxist; aber natürlich war er an der Entstehung des Marxismus nicht unbeteiligt. Die von Marx und Engels verfassten Vor- und Nachworte zu den ersten Auflagen der Kapital-Bände enthalten bereits mehr als nur einige Anhaltspunkte für die Herausbildung der kanonischen Lesarten. Einige der berühmtesten Sätze und Glaubenssätze des Marxismus stehen in diesen auf den ersten Blick angesichts der illustren Autorenschaft unverdächtigen Kommentaren zum Marx’schen Hauptwerk. Sie lasten teilweise bis heute wie ein Fluch auf der Rezeptionsgeschichte. Zweifellos zählt Marx’ Vorwort des Hefts Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 zu seinen eindrücklichsten Texten. Auf eineinhalb Seiten beschreibt er »das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente«: »In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwi-
136 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE schen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.« (Marx [1859] 1961: 8-9)
Schlag auf Schlag folgen in diesen Zeilen die Formulierungen, welche unendliche Male zitiert wurden und in der marxistischen Tradition eine überragende Bedeutung erlangt haben: die Metapher von Basis und Überbau; das Verhältnis von Sein und Bewusstsein; die Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse; die Unumgänglichkeit der sozialen Revolution; die Geschichtstheorie mit der bekannten Abfolge von Gesellschaftsformationen. Je nachdem, ob diese Zeilen als Inspiration oder als Ansammlung von Gewissheiten interpretiert werden, ob sie fragend gelesen oder aber affirmativ verstanden werden, lassen sich unterschiedliche Zugänge zum Marx’schen Werk finden. Marx selbst, ganz offensichtlich darauf bedacht zu betonen, seine Ansichten seien das Ergebnis langer gewissenhafter Arbeit, lädt nicht gerade zum Fragen ein, auch wenn er das präsentierte Ergebnis nur als Leitfaden für weitere Studien bezeichnet. Das ist aber gerade der springende Punkt: In diesem Vorwort verschwindet der Forschungsgegenstand des Hauptwerks, die Analyse der kapitalistischen Produkti-
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onsweise, hinter einer großen Erzählung, die auf Ideologiekritik und Geschichtstheorie verweist. Die Schlüsselkonzepte der Marx’schen Kapitalismusanalyse – Wertform, Kapital, Fetischismus – bleiben ungenannt. Das überrascht auch nicht, wenn wir den Zeitpunkt der Veröffentlichung bedenken: 1859 stand Marx noch ziemlich am Anfang seiner Kritik der Politischen Ökonomie und hatte verschiedene wichtige konzeptuelle Schritte noch nicht erarbeitet. Das Kapital durch die Brille dieses berühmten Voworts zu lesen ist ein Paradebeispiel für die gerade in den soziologischen Hand- und Wörterbüchern zum Ausdruck kommende Haltung, Problemstellungen und Formulierungen aus früheren Schriften von Marx in sein Hauptwerk zu projizieren und das Neue daran nicht zu erfassen. Es lässt sich darüber hinaus fragen, ob dieses Vorwort nicht eine idealtypische Vorlage für die im Marxismus so übliche und von den Marxismuskritikern bereitwillig übernommene Unterordnung der Marx’schen Ökonomiekritik und Kapitalismusanalyse unter die Logik einer übergeordneten historischen und politischen Erzählung abgibt: Wer sich an diesem ebenso beeindruckenden wie erschlagenden, weil in außerordentlicher Weise totalisierenden Vorwort messen will, kann kaum noch einen Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft untersuchen, ohne zugleich sagen können zu müssen, was dies nun im Hinblick auf die Überwindung des Kapitalismus bedeutet. Marx erläutert in diesem Vorwort auch nicht, was er mit dem Titel »Kritik der politischen Ökonomie« aussagen will: Wenn er schreibt, »die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft [sei] in der politischen Ökonomie zu suchen« (Marx [1859] 1961: 8), lässt dies unterschiedliche Lesarten zu und enthält keinen Hinweis darauf, ob es ihm um einen fundamentalen Bruch mit den Prämissen der ökonomischen Wissenschaft geht oder nicht. Naturgesetz und Hegel Auch im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals von 1867 geizt Karl Marx keineswegs mit eindrücklichen Formulierungen. Hier greift er zu Analogien mit den Naturwissenschaften, um die Wissenschaftlichkeit seiner Untersuchungen herauszustreichen. So ist die Rede von den »Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion«, die Marx ([1873] 1962: 12) als Tendenzen bezeichnet, die »mit eherner Notwendigkeit« wirken. Dabei versäumt er zu präzisieren, dass es sich um eine gesellschaftliche Natur handelt und auch nicht um Gesetze, die zeitlos in jeder Gesellschaftsformation am Werk sind. In diesem Vorwort greift Marx einen Schlüsselbegriff seiner Kapitalismusanalyse auf, begnügt sich allerdings mit einer naturwissenschaftlichen Analogie an Stelle einer Erläuterung von dessen analytischer Tragweite und Bedeutung:
138 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Die Wertform […] ist sehr inhaltslos und einfach. Dennoch hat der Menschengeist sie seit mehr als 200 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht, während andrerseits die Analyse viel inhaltsvollerer und komplizierterer Formen wenigstens annähernd gelang. Warum? Weil der ausgebildete Körper leichter zu studieren ist als eine Körperzelle. Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muss beide ersetzen. Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform.« (Ebd.: 11-12)
Ganz zu Beginn des ersten Bandes bezeichnet Marx die Ware dann aber nicht mehr als Zellenform, sondern als die »Elementarform« des Reichtums derjenigen »Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht« (ebd.: 49). Während er im Vorwort von 1867 demnach das Risiko eingeht, naturalistisch gelesen zu werden – wie wenn es sich bei Ware um eine Zelle handelte, aus der die bürgerliche Gesellschaft ganz von selbst entstehen muss –, verweisen seine Ausführungen im ersten Kapitel des Kapital-Bandes geradezu umgekehrt auf die Frage, was an Gesellschaft in jeder Ware steckt und inwiefern die Wertoder Warenform eben erst in einer historisch besonderen Gesellschaft zur Entfaltung kommt und gesellschaftliche Geltung erlangt: Damit sind zwei mögliche Lesarten angedeutet, die sich in vielerlei Hinsicht diametral gegenüberstehen: eine quasi naturwissenschaftlich-deterministische und eine soziologische Lektüre des Kapitals. Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Kapital-Bandes von 1873 sind vor allem Marx’ wissenschaftstheoretische Ausführungen von Interesse. So trägt er hier einige Gedanken zum Einfluss gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Entwicklung auf die ökonomische Wissenschaft vor, an welche die späteren marxistischen Theorien über die Opposition von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft anknüpfen konnten. Die bürgerliche Ökonomie habe in England ihre Hochblüte erlebt, weil dieses Land die fortgeschrittenste kapitalistische Entwicklung aufweise, aber nur so lange es nicht zum offenen Ausbruch des Klassenkampfs gekommen sei: Von dem Moment an musste sie laut Marx zwangsläufig zu Vulgärökonomie und reiner Apologetik verkommen. Ganz anders in Deutschland: Hier »kam die kapitalistische Produktionsweise zur Reife, nachdem ihr antagonistischer Charakter sich in Frankreich und England schon durch geschichtliche Kämpfe geräuschvoll offenbart hatte, während das deutsche Proletariat bereits ein viel entschiedeneres theoretisches Klassenbewusstsein besaß als die deutsche Bourgeoisie. Sobald eine bürgerliche
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Wissenschaft der politischen Ökonomie hier möglich zu werden schien, war sie daher wieder unmöglich geworden.« (Ebd.: 21)
Wohl aber sei in Deutschland eine Kritik der politischen Ökonomie möglich gewesen, und »soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat« (ebd.: 22). Das sind natürlich Anknüpfungspunkte für eine Theorie des Klassencharakters von Wissenschaft, die allerdings auch die Möglichkeit offen lassen, die bürgerliche Ökonomie als angemessene Wissenschaft für die historische Phase der bürgerlichen Gesellschaft zu betrachten – eine Auffassung, die der kategorialen Ökonomiekritik von Marx widerspricht, aber in zahlreichen marxistischen Lesarten übernommen zu finden ist. Zwei weitere Aspekte dieses Nachworts sind von Interesse. Zum einen der mit Spott bedachte implizite erste und wohl einzige Auftritt der Soziologie im Marx’schen Kapital, wo Marx ([1873] 1962: 25) den an ihn gerichteten Metaphysik-Vorwurf aus der Revue Positiviste um Auguste Comte polemisch abtut. Auf diese Passage konnten sich später all jene, die den bürgerlichen Klassencharakter der Soziologie beweisen wollten, genüsslich beziehen. Zum anderen kommt Marx auf seine dialektische Methode zu sprechen: ein Begriff, der in verschiedenen Spielarten des Marxismus zum Zauberwort stilisiert wurde, das es erlaubt, zwischen richtigem und falschem Marxismus zu unterscheiden und Feinde des Marxismus abzufertigen – gerade weil unter den Marxisten keine Einigkeit darüber besteht, was die Methode von Marx genau auszeichnet. Bezeichnenderweise erläutert Marx seine Methode nicht selbst, sondern lässt ein langes Zitat aus einer seines Erachtens guten Besprechung des Kapitals in der russischen Zeitschrift Europäischer Bote sprechen. Im Anschluss daran geht er nur auf sein Verhältnis zu Hegel ein, als dessen Schüler er sich offen bekennt. Die Hegelsche Dialektik müsse man aber »umstülpen«, weil sie »auf dem Kopf [stehe]« (Marx [1873] 1962: 27). Diese Formulierung ist zum Glaubenssatz des marxistischen Materialismus geworden. Es handelt sich aber wie bei den naturwissenschaftlichen Analogien im Vorwort von 1867 nur um eine Metapher, deren konzeptuelle Tragweite und Bedeutung der Verfasser des Kapitals nicht selbst erläutert hat. Im Vorwort zum zweiten Band des Kapitals greift Friedrich Engels diese berühmte Formulierung über Hegel auf, um Marx’ wissenschaftshistorische Bedeutung herauszustellen, indem er einen Vergleich mit der Revolutionierung der Chemie durch die Entdeckung des Sauerstoffs zieht. Die chemische Wissenschaft habe »auf dem Kopf gestanden«, bevor Lavoisier seine Entdeckung mach-
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te und sie dadurch »erst auf die Füße [stellte]« (in: Marx [1893] 1963: 22). Durch diese Analogie positioniert Engels das Marx’sche Hauptwerk zur Politischen Ökonomie und skizziert Grundzüge einer wissenschaftlichen Revolution, die seiner Meinung nach auf der Entdeckung des Mehrwerts beruhte: »Da trat Marx auf. Und zwar in direktem Gegensatz zu allen seinen Vorgängern. Wo diese eine Lösung gesehen hatten, sah er nur ein Problem. Er sah, dass hier weder dephlogisierte Luft vorlag noch Feuerluft, sondern Sauerstoff – dass es sich hier nicht handelte, sei es um die bloße Konstatierung einer ökonomischen Tatsache, sei es um den Konflikt dieser Tatsache mit der ewigen Gerechtigkeit und der wahren Moral, sondern um eine Tatsache, die berufen war, die ganze Ökonomie umzuwälzen, und die für das Verständnis der gesamten kapitalistischen Produktion den Schlüssel bot – für den, der ihn zu gebrauchen wusste.« (Ebd.: 23)
Wenn wir Engels in diesem Punkt folgen, zielt die Marx’sche Formulierung zu Hegels Dialektik nicht auf ein einfaches Umkehren – Materialismus statt Idealismus – ab, sondern auf die Entdeckung einer neuen wissenschaftlichen Problemstellung. Doch schränkt Engels die Tragweite der theoretischen Revolution ein, wenn er abschließend die beiden Punkte benennt, an denen die bürgerliche Ökonomie gescheitert sei: Erstens habe sie nicht verstanden, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht Arbeit, sondern Arbeitskraft verkauft werde; zweitens sei sie unfähig, die Herausbildung der Durchschnittsprofitrate unter Bedingungen kapitalistischer Produktion zu erklären (ebd: 25-26). Für Engels hat Marx’ eine wissenschaftliche Revolution der Ökonomie vollbracht, nicht aber einen Bruch mit ökonomischer Wissenschaft als solcher vollzogen. Eine soziologische Lektüre des Kapitals drängt sich durch diese Brille nicht auf. Logische und historische Entwicklung Zum dritten Band des Kapitals hat Friedrich Engels nicht nur ein Vorwort verfasst, sondern auch einen unvollendet gebliebenen Nachtrag. In beiden Texten kritisiert er eine Reihe von Autoren, die versucht haben, das im Vorwort zum zweiten Band aufgeworfene Problem der Durchschnittsprofitrate zu lösen. Recht gut kommt dabei Werner Sombart weg, dem Engels bescheinigt, als erster deutscher Universitätsprofessor »im ganzen und großen in Marx’ Schriften das zu sehn, was Marx wirklich gesagt hat« (in: Marx [1894] 1964: 903). Mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte aber ist entscheidend, dass der Herausgeber des zweiten und dritten Kapital-Bandes hier die Gelegenheit nutzt, seine eigene Interpretation der Marx’schen Lösung des Problems vorzutragen, und einen Gedanken
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formuliert, der zu einem Grundpfeiler einflussreicher marxistischer MarxLektüren werden sollte: die Koinzidenz von logischer und historischer Entwicklung. Im offensichtlichen Bruch mit der von Marx ([1857-58] 1983: 34-42) in der Einleitung zu den Grundrissen skizzierten methodischen Haltung behauptet Engels, die Bildung der Durchschnittsprofitrate sei ein begrifflicher und historischer Prozess in einem, dessen einzelne Etappen er benennt (Marx [1894] 1964: 906-917). Ihm zufolge beschreibt Marx zu Beginn des ersten Kapital-Bandes das Modell der einfachen Warenproduktion, in der das Wertgesetz gilt und die Waren zu ihrem Wert ausgetauscht werden; erst im dritten Band dagegen analysiere Marx die kapitalistische Produktion, unter deren Bedingungen eben dieses Wertgesetz modifiziert sei, weil die Werte in Produktionspreise verwandelt werden und eine Durchschnittsprofitrate entsteht. Engels schreibt dem Wertgesetz eine historische Gültigkeit von fünf bis sieben Jahrtausenden zu (ebd.: 909), von den Anfängen der Warenproduktion bis zum Triumph der kapitalistischen Produktionsweise. Dies steht im Kontrast zur Marx’schen Intention, die aus der Kapitalismusanalyse gewonnenen Erkenntnisse nicht als über mehrere Gesellschaftsformationen hinweg gültige Gesetze zu begreifen, sondern gegen die Sichtweise der politischen Ökonomie deren historische Besonderheit herauszustellen. Folgender Auszug aus der Einleitung zu den Grundrissen verdeutlicht die Kluft zwischen der Marx’schen Absicht und der Engels’schen Interpretation. Nachdem Marx (1857-58] 1983: 41) betont hat, »das Kapital [sei] die alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft« und müsse deshalb »den Ausgangspunkt wie Endpunkt« der Analyse bilden, führt er aus: »Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben und die gerade das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht. Es handelt sich nicht um das Verhältnis, das die ökonomischen Verhältnisse in der Aufeinanderfolge verschiedener Gesellschaftsformen historisch einnehmen. Noch weniger um ihre Reihenfolge ›in der Idee‹ (Proudhon), (einer verschimmelten Vorstellung der historischen Bewegung). Sondern um ihre Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft.«
Dagegen schreibt Engels, es handle sich bei der Bildung der Durchschnittsprofitrate »nicht nur um einen rein logischen Prozess, sondern um einen historischen Prozess und dessen erklärende Rückspiegelung in Gedanken, die logische Verfolgung seiner inneren Zusammenhänge« (in: Marx [1894] 1964: 905).
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Engels’ Historizismus und sein Empirismus sind teilweise in der marxistischen Tradition kritisiert worden, zum Beispiel durch Louis Althusser (Althusser und Balibar 1972: 118-157; 193-210; vgl. auch Skredov 1997). Ich will hier nur die soziologische Relevanz des Problems umreißen. Karl Marx hat in seinem Hauptwerk die Grundzüge einer auch für die heutige Zeit noch fruchtbaren Analyse einer historischen Gesellschaftsformation entworfen, welche er als bürgerliche Gesellschaft bezeichnete. Ich habe im zweiten Kapitel dieser Schrift deren für eine soziologische Lektüre zentrale Gedanken und Konzepte kommentiert und insbesondere die Kritik der Naturalisierung, die Entdeckung der gesellschaftlichen Wertformen und das Fetischtheorem ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Nun werden diese Erkenntnisse und Konzepte aber durch die Engels’sche Lektüre wenn nicht ignoriert, dann zumindest in den Hintergrund gerückt – zu Gunsten einer historisch-empiristischen Interpretation, welche die Marx’sche Analyse der bürgerlichen Gesellschaft einer historischen – und nicht selten auch politischen – Erzählung unterordnet und zugleich historisch spezifischen gesellschaftlichen Gesetzen eine überhistorische Geltung zuspricht. Während Marx im Kapital von Beginn an eine Analyse vorträgt, die sich mit einer spezifischen Gesellschaftsformation befasst – dem Kapitalismus oder seiner bürgerlichen Gesellschaft – und etwa danach fragt, was an derartiger Gesellschaft in allen Manifestationen des Wirtschaftslebens steckt, liest Engels die Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie als Abfolge historischer Etappen, die zugleich den Schritten der logischen Begriffsbildung entsprechen, und fällt in eine telelogische Erzählung zurück, die sich nicht allzu lange mit den Besonderheiten der spezifischen Gesellschaft aufhält, die den Gegenstand des Marx’schen Hauptwerks darstellt. Einen analogen Effekt erzeugt die durch Engels’ Kapital-Interpretation ebenfalls legitimierte Reduktion der Marx’schen Ökonomiekritik auf eine marxistische Ökonomie. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Es gehört zu den Gemeinplätzen des Marxismus zu betonen, wie wichtig Marx’ Entdeckung der Arbeitskraft als einzigartiger Ware ist, deren Verbrauch einen Wert zu erzeugen vermag, der ihren eigenen Wert übersteigt. Auf dieser Entdeckung baut die marxistische Ausbeutungs- und letztlich auch Revolutionstheorie auf. Ausgehend von dem, was Marx ([1873] 1962: 161-191) im entsprechenden Abschnitt über die Verwandlung von Geld in Kapital schreibt, könnte allerdings gesellschaftstheoretisch in eine Richtung weitergedacht werden, welche durch die marxistische Ökonomie oftmals nicht nur vernachläßigt, sondern geradezu verbaut wurde. Marx’ Beobachtung, wie Ausbeutung und gleicher Tausch ineinander greifen, lässt sich als Ausgangspunkt einer Formtheorie des Sozialen begreifen, sofern das spezifische Zusammenspiel von Ungleichheit und Gleichheit als
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eine für diese besondere historische Gesellschaftsformation, den Kapitalismus, typische Form der Vergesellschaftung betrachtet wird. Der marxistische Ökonom Ernest Mandel (1994: 15) zum Beispiel verbaut sich den Zugang zu dieser Erkenntnis, wenn er die aus der Kapitalismusanalyse gewonnenen Konzepte der ganzen menschlichen Geschichte überstülpt: »Soziale Ungleichheit vergleichbar der in der kapitalistischen Welt hat es auch in allen vergangenen Gesellschaften gegeben, die sich im Laufe der Geschichte abgelöst haben (d.h. während jener Zeitspanne der Menschheitsgeschichte, von der wir schriftliche Zeugnisse besitzen).« Doch in diesen vorkapitalistischen Gesellschaften war nie die Rede von sozialer Ungleichheit, weil sie auch nicht durch das moderne Verständnis einer universalen Gleichheit aller Menschen geprägt und nicht von den für das Kapital charakteristischen Formen der Realabstraktion durchzogen waren, die Menschen erst systematisch vergleichbar und ungleich machen. Marx ist nicht gleich Engels Die in der vorliegenden Schrift artikulierte Marx-Lektüre stellt sich auf den Standpunkt, dass es nicht nur legitim, sondern notwendig ist, die Marx’schen Schriften ausgehend von unseren eigenen Erkenntnisinteressen zu lesen. Damit geht immer auch eine Fokussierung einzelner Aspekte zu Lasten anderer einher. Wenn der große Marx-Spezialist Iring Fetscher (1989: 44) betont, man versperre sich den Zugang dazu, »worauf es Marx (und den meisten Marxisten) ankam«, wenn man einzelne Teile unabhängig vom gesamten Werk betrachtet, beispielsweise die Marx’sche Ökonomiekritik ohne systematischen Bezug auf Marx’ Anthropologie oder seine Geschichtskonzeption, kann dieser Einwand auch gegen meinen Versuch vorgebracht werden, sich auf die soziologisch relevanten Aspekte des Kapitals zu konzentrieren und anderes bei Seite zu lassen. Natürlich ist es wichtig sich Klarheit zu verschaffen, worauf es Marx ankam; aber mir geht es nicht um eine wie auch immer vorgestellte Wahrheit über Marx, sondern um die Kritik soziologischer Kapitaltheorie. Und die heutige Marx-Forschung zeigt außerdem, dass sich Marx selbst nicht immer darüber im Klaren war, was er mit seiner Ökonomiekritik wollte und tat: Er schwankte zwischen unterschiedlichen Konzeptionen der Kritik der Politischen Ökonomie und es fiel ihm offensichtlich schwer, die Besonderheit seiner Forschungs- und Darstellungsweise und die Bedeutung der Erkenntnisse zu erläutern. Das ist auch in keiner Weise überraschend, wenn wir davon ausgehen, dass der Verfasser des Kapitals an einer regelrechten theoretischen Revolution arbeitete und sich nicht auf sicherem Boden bewegen konnte.
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Der heutige Stand der Forschung dokumentiert zudem bestens, dass die wissenschaftlichen Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels in einer Reihe wichtiger Punkte keineswegs deckungsgleich waren; einige Divergenzen kamen bei der Besprechung der Kapital-Vorworte bereits in den Blick. Alle Hauptströmungen des Marxismus sind aber davon ausgegangen, dass es sich nicht um zwei verschiedene Werke, sondern um ein einziges handelt. Es ist sehr wichtig, die politische und die wissenschaftliche Bedeutung dieses unhinterfragten Konsenses zu verstehen. Da Marx nur den ersten Band seines Hauptwerks noch selbst veröffentlichte, war es kaum möglich, das Bild eines abgeschlossenen Werks zu zeichnen, ohne davon auszugehen, dass Friedrich Engels dieses Werk ganz im Geiste des Verfassers vollendet habe. Dies konnte umso mehr plausibel scheinen, als der Herausgeber des zweiten und dritten Kapital-Bandes seine Rolle genau so umschrieben und die Bedeutung der durch ihn an den Originalmanuskripten vorgenommenen Änderungen systematisch herunterspielte. Die in der kanonischen Rezeption nie hinterfragte Gleichsetzung von Marx und Engels ist ein geradezu konstitutiver Bestandtteil des Marxismus. Es ist aufschlussreich, in dieser Hinsicht zwei der einflussreichsten Verwalter des Marx’schen Erbes am Beginn des 20. Jahrhunderts zu zitieren: Karl Kautsky und Franz Mehring. In seinem Nachruf auf den eben verstorbenen Friedrich Engels schrieb Karl Kautsky (1895) zum Beispiel folgende Zeilen: »Ja, man kann sagen, dass wir seinen Hinschied noch weit schmerzlicher empfinden werden als den von Karl Marx, denn erst mit Engels ist uns Marx völlig gestorben. Solange Engels noch lebte, dessen Geistesleben mit dem von Marx so innig verwachsen war, lebte auch noch dieser unter uns, standen wir unter dem lebendigen Einfluss beider. Nun sind beide dahin.«
In einer früher verfassten umfangreichen Würdigung des Lebens und Werks von Friedrich Engels, die mir nur in englischer Übersetzung vorliegt, beschreibt Kautsky (1877/1899) die Arbeitsteilung zwischen Marx und Engels sowie die Vollendung des Marx’schen Werks durch Engels ausführlich. Im Anhang dieser Schrift wird ein gewisser Dr. Adler aus der Wiener Arbeiterzeitung zitiert, der betont, niemand anders als Engels wäre fähig gewesen, die Herausgabe des Kapitals zu vollenden: »Engels was the only one capable of this, for no other living person was so in accord with the author in the method of reasoning and the views, to the smallest details, of the relations in the economic development of capitalism. In the last two volumes of Capital Engels erected to the memory of Marx a more enduring monument than any cast on bronze,
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and, without so intending, carved upon it in imperishable letters his own name as well. Just as in life Marx and Engels were inseparable, so Capital cannot bear the name of either alone, but must always be known in the history of political economy as the Capital of Marx and Engels. And although Engels has marked with brackets and the letters ›F.E.‹ to places where he has taken the actual material left by Marx and developed it to the necessary conclusion in as much as possible the ›Marxian spirit‹, yet no man can ever say which came from the spirit of Marx and which from the spirit of Engels.« (Ebd.: 26)
Ähnlich wie Kautsky und Adler äußert sich Franz Mehring in seiner in sozialdemokratischen Kreisen der Zeit einflussreichen Marx-Biographie, deren achtes Kapitel eine bemerkenswerte Überschrift trägt: »Marx=Engels«. »Es hat niemals an historischen Freundespaaren gefehlt, auch in der deutschen Geschichte nicht, deren Lebenswerk so eng verschmolzen ist, dass es sich nicht in ein Mein und Dein scheiden lässt, aber immer blieb ein spröder Rest des Eigenwillens oder des Eigensinns oder selbst nur ein geheimes Widerstreben, die eigene Persönlichkeit aufzugeben, die nach dem Worte des Dichters ›das höchste Glück der Erdenkinder‹ ist. Luther sah in Melanchthon schließlich nur den schwachherzigen Gelehrten und Melanchthon in Luther schließlich nur den rohen Bauer, und man muss schon an stumpfen Sinnen leiden, um in dem Briefwechsel Goethes und Schillers nicht den geheimen Misston zwischen dem großen Geheimderat und dem kleinen Hofrat zu hören. Der Freundschaft, die Marx und Engels verband, fehlte diese letzte Spur menschlicher Bedürftigkeit; je mehr sich ihr Denken und Schaffen verwob, um so mehr blieb doch jeder von ihnen ein ganzer Mann. […] Indem jeder der beiden Männer völlig in der gemeinsamen Sache aufging und jeder von ihnen ihr nicht dasselbe, aber ein gleich großes Opfer brachte, ohne jeden peinlichen Rest des Murrens oder des Prahlens, wurde ihre Freundschaft ein Bund, der in aller Geschichte seinesgleichen nicht gehabt hat.« (Mehring 1919: 237; 242)
Solange niemand sagen konnte, was von Marx und was von Engels kam beziehungsweise wie sich das Mein und Dein scheiden lässt, stand der marxistische Glaube an Marx auf sicherem Fundament. Die Gleichsetzung von Marx und Engels war nicht nur marxistischer Glaubenssatz, sondern zugleich Leitprinzip der wissenschaftlichen Herausgabe der Schriften (Sperl 2005; Hubmann 2007). Als in den 1920er Jahren am Moskauer Marx-Engels-Institut die erste Gesamtausgabe (MEGA) in Angriff genommen wurde, war es eine Selbstverständlichkeit, die Schriften beider Autoren in einer Ausgabe zu veröffentlichen. Im Vorwort zu dieser ersten MEGA war es dem Institutsleiter Rjasanow ([1927] 2007: 1107) ein Anliegen genau zu bestimmen, ab welchem Zeitpunkt Marx und Engels nicht mehr unabhängig voneinander
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schrieben, sondern an einem gemeinsamen Werk arbeiteten. Keinerlei Erwähnung findet dagegen die Tatsache, dass die Beiden nach der Revolution von 1848 keine größeren Schriften mehr zusammen verfassten und Marx weitgehend allein an seiner Kritik der Politischen Ökonomie arbeitete. Nachdem die erste MEGA durch das Sowjetregime rasch gestoppt worden war, basierten auch die ab 1956 veröffentlichten und mit regimetreuen Vorworten geschmückten MarxEngels-Werke (MEW) selbstverständlich auf der Grundlage des Gedankens, dass es sich um ein einziges und in sich geschlossenes Werk handle. Dasselbe gilt auch für die Wiederaufnahme des MEGA-Projekts in neuer Form zu Beginn der 1970er Jahre. Erst nach dem Zusammenbruch des so genannten real existierenden Sozialismus, als die Fortführung der MEGA eine Zeit lang auf der Kippe stand, wurde erstmals überhaupt in der Editionsgeschichte die Frage diskutiert, ob es nicht angebracht wäre, die Schriften von Marx und Engels in zwei getrennten Ausgaben zu veröffentlichen (Marxhausen 2006: 602-603). Diese Option setzte sich aber teilweise auch aus pragmatischen Gründen – angesichts der beträchtlichen Zahl bereits veröffentlichter MEGA-Bände – nicht durch. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass in Begleitung der Editionsarbeit nun eine ernsthafte Forschung sich unter anderem damit auseinandersetzt, in welchen Fragen Karl Marx und Friedrich Engels übereinstimmten oder Divergenzen hatten.
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Über einzelne, aus soziologischer Sicht problematische oder unglückliche Kapital-Lektüren hinaus gilt es das Selbstverständnis des Marxismus als eigenständige Wissenschaft, die der so genannten bürgerlichen Wissenschaft grundsätzlich überlegen sei, zu hinterfragen, um die Schwierigkeiten einer soziologischen Rezeption des Marx’schen Hauptwerks besser zu verstehen. Denn in diesem Verständnis ist ja auch der marxistische Anspruch enthalten, Marx oder zumindest die Wahrheit über ihn gewissermaßen allein zu besitzen – ein Spiegelbild der Fremdheit, die Marx in der soziologischen Diskussion immer noch anhaftet: Der Soziologie gehört er offensichtlich nicht. Während in Marx’ Schriften der Begriff der Kritik dominiert, die, »soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt« (Marx [1873] 1962: 22), wie er relativiert, das Proletariat vertrete, sieht sich der orthodoxe Marxismus als vollendete Wissenschaft und Weltanschauung, die das Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus führt. Die abstrakte Gegenüberstellung bürgerlicher und proletarischer – oder sozialistischer beziehungsweise revolutionärer – Wissenschaft zählt zu den Fundamenten der marxistischen Tradition. Sie hat Generationen von Marxisten angehalten, sich für
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die unterschiedlichen Positionen und Kämpfe im wissenschaftlichen Feld nicht zu interessieren, sondern dieses en bloc als Sphäre der bürgerlichen Ideologie zu betrachten. So klinkte sich der Marxismus aus vorherrschenden akademischen Diskussionen aus und war kaum in der Lage, neue Gedanken und Anregungen aufzunehmen, die nicht das marxistische Emblem trugen. Zweifellos passt das Zitat von Pierre Bourdieu (1993: 25), um typische Kommunikationshindernisse zwischen marxistischen und nicht marxistischen Denkern und Denkerinnen zu fassen: »Meistens ist das Hindernis, das die Kommunikation der Begriffe, Methoden oder Techniken unterbindet, nicht logischer, sondern soziologischer Natur. Diejenigen, die sich mit Marx (oder Weber) identifiziert haben, können sich das, was in ihren Augen dessen Negation darstellt, nicht aneignen, ohne das Gefühl zu haben, sich selbst zu negieren, zu verleugnen (man darf nicht vergessen, dass für viele die Selbstdefinition als Marxisten nichts anderes als ein Glaubensbekenntnis ist – oder ein totemistisches Emblem).«
Um die soziologische Natur dieses gegenseitigen Ignorierens oder Geringschätzens, das in der Sache oft nicht gerechtfertigt war, zu erfassen, muss allerdings auch daran erinnert werden, auf welchen epistemischen Terrains sich der Marxismus jeweils bewegte (Demirovic 2010: 156). Marx leistete seine Kapitalismus- und Ökonomiekritik noch außerhalb der etablierten Wissenschaft, zu der er aufgrund seiner politischen Aktivitäten keinen Zugang hatte. In Engels’ triumphierender marxistischer Haltung, die etwa in den Vorworten zum zweiten und dritten Band des Kapitals zum Tragen kommt, in denen er die Überlegenheit der »Marx’schen Schule« (Marx [1894] 1964: 30) beweisen will, kommt auch das Erstarken einer deutschen Arbeiterbewegung zum Ausdruck, die er hinter sich zu wissen glaubt. Die Herausbildung des klassischen orthodoxen Marxismus zur vollendeten Weltanschauung ist daraufhin das Werk von einigen Männern, die wie Kautsky oder Lenin Anführer einflussreich gewordener politischer Parteien waren. Nach der Russischen Revolution erlangte die Kanonisierung des Marxismus in der Formel des dialektischen Materialismus (DIAMAT) als Staatsdoktrin, die sämtliche Attribute eines funktionalen Äquivalents theologischer Lehren enthält – deshalb wäre es reizvoll, sie durch die Brille von Max Webers Religionssoziologie zu untersuchen – ihren Höhepunkt. Dagegen zeichnete sich das Terrain des westlichen Marxismus (Anderson 1978) meistens durch eine doppelte Randständigkeit aus: Diese eher unorthodoxen Marxisten waren politische Dissidenten gegenüber dem orthodoxen Marxismus und den großen Parteien der Arbeiterbewegung sowie Außenseiter im akademischen Feld.
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Wie Iring Fetscher (1989: 181) festhält, war Engels weitaus mehr als Marx der Klassiker marxistischer Staatsdoktrin: »Bei Marx fanden sich so wenig geeignete Zitate zur Fundierung des ›Diamat‹, dass sich Stalin nicht scheute, eine Beschreibung des Hobbesschen Materialismus durch Marx als Äußerung von Marx selbst auszugeben und in den ›Katechismus‹ (Über dialektischen und historischen Materialismus, 1938) aufzunehmen.«
Dagegen lieferte Friedrich Engels in seinem Anti-Dühring (Engels [1878] 1962) sowie in der Dialektik der Natur (Engels [1886] 1962) und in seiner Schrift über Feuerbach (Engels [1888] 1962) die Stichworte, auf die der orthodoxe Marxismus seine Wissenschaftstheorie aufbaute. Eine Kurzfassung der Schrift gegen Dühring wurde 1880 zuerst auf Französisch veröffentlicht und fand rasch eine beträchtliche Verbreitung in mehreren Sprachen. Dieser Text trägt den programmatischen Titel Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft und endet mit den folgenden Sätzen: »Diese weltbefreiende Tat [die proletarische Revolution] durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewusstsein zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.« (Engels [1880] 1962: 228)
Marx hatte für die französische Ausgabe ein Vorwort verfasst, in dem er Engels’ Laufbahn würdigte und den Text als »Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus« bezeichnete (ebd.: 185), aber zu deren Inhalt nicht Stellung bezog. Wissenschaftlicher Sozialismus und materialistische Philosophie Wissenschaftlicher Sozialismus: In diesem zweifelhaften Begriff hat sich die marxistische Vorstellung verdichtet, der zu Folge die wissenschaftliche Arbeit unmittelbar im Dienst der politischen Praxis steht und stehen soll, wenn nicht beide auf wundersame Weise wie von selbst zusammenfallen. Kaum einer hat sie so eindrücklich und naiv zugleich erläutert wie Nikolaj Bucharin. In der Einleitung seines eine gewisse Zeit lang durch die Sowjetregierung propagierten Lehrbuchs streicht er die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaften für die Kampfbedürfnisse des Proletariats hinaus: »Die praktische Aufgabe der Umge-
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staltung der Gesellschaft kann nur richtig gelöst werden bei einer wissenschaftlichen Politik der Arbeiterklasse, d.h. bei einer Politik, die sich auf die Theorie stützt, die das Proletariat in Gestalt der von Marx begründeten Theorie besitzt.« (Bucharin 1922: 2) Er erinnert daran, dass die ersten bürgerlichen Ökonomen Bankiers oder Kaufleute waren, und betont daraufhin, jede Wissenschaft weise einen Klassencharakter auf. Die proletarische Wissenschaft aber sei der bürgerlichen überlegen, weil die bürgerlichen Theoretiker aus Sorge um das Weiterbestehen der bürgerlichen Gesellschaft Scheuklappen hätten, wogegen die proletarischen Denker tief und weit zu blicken in der Lage seien (ebd.: 1-8). Unorthodox ist das Lehrbuch nur insofern, als Bucharin der Soziologie den Platz als Königsdisziplin des Marxismus zuweist, während diese Rolle in der marxistischen Tradition sonst meistens der Ökonomie oder der Philosophie zuerkannt wurde: auf diese Konstellation der wissenschaftlichen Disziplinen im Marxismus komme ich im folgenden Unterabschnitt zurück. Vorerst aber zu Lenin: Sein Materialismus und Empiriokritizismus (Lenin [1909] 1962) steht beispielhaft für einen Text, in dem unter dem Vorwand philosophischer Auseinandersetzung ein unerbittlicher politischer Kampf gegen unliebsame Genossen geführt wird. Alexander Bogdanow, einer der in dieser Schrift am meisten verunglimpften Autoren, wurde 1909 aus der bolschewistischen Partei ausgeschlossen. Der Verfasser beruft sich auf Engels’ Schrift über Ludwig Feuerbach, um ein einfaches, auf binären Kategorien beruhendes Weltbild zu zeichnen, dem gemäß sich die gesamte Geschichte und Gegenwart der Philosophie in zwei Lager teilt: den Idealismus und den Materialismus. Die Kampfschrift richtet sich gegen die inneren Feinde, das heißt gegen diejenigen Autoren, die sich – wie die russischen Anhänger von Ernst Mach oder Richard Avenarius – fälschlicherweise als Marxisten ausgeben, obwohl sie gerade daran sind, ins idealistische Lager zu wechseln (sofern dies nicht bereits geschehen ist). Die höchste philosophische Sünde besteht in Lenins Augen offensichtlich darin, an den Grundprinzipien dieser binären Weltsicht zu rütteln, um die beiden Standpunkte zu vermitteln oder neu zu artikulieren. Jeder solche Versuch erscheint ihm als Ausdruck einer bürgerlichen Illusion unparteilicher Wissenschaft: »Oh, diese Herren rühmen sich ihrer Unparteilichkeit, und wenn sie überhaupt einen Antipoden haben, so nur einen einzigen und nur… den Materialisten. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Schriften sämtlicher Machisten die stumpfsinnige Anmaßung, über Materialismus und Idealismus ›erhaben zu sein‹, diese ›veraltete‹ Gegenüberstellung zu überwinden, während in Wirklichkeit diese ganze Kumpanei alle Augenblicke in den Idea-
150 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE lismus hineingerät und einen unaufhörlichen und unentwegten Kampf gegen den Materialismus führt.« (Ebd.: 345)
Hat aber nicht Karl Marx ([1845] 1978) selbst in seinen Thesen über Feuerbach diese Art der abstrakten Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus zu überwinden versucht? Es versteht sich von selbst, dass eine solche Frage in der Lenin’schen Kampfschrift gar nicht erst zur Sprache kommen darf. Der Verfasser sieht bei Marx stets nur das eine »unveränderliche Grundmotiv: Verteidigung des Materialismus und verächtlichen Spott über jede Vertuschung, jede Konfusion, alle Abweichungen zum Idealismus hin. Um diese beiden grundlegenden Gegensätze drehen sich sämtliche philosophischen Bemerkungen von Marx; vom Standpunkt der Professorenphilosophie liegt in dieser ›Enge‹ und ›Einseitigkeit‹ eben ihr Mangel. In Wirklichkeit ist gerade dieses bewusste Ignorieren der zwitterhaften Projekte zur Versöhnung von Materialismus und Idealismus das größte Verdienst von Marx, der auf einem exakt bestimmten philosophischen Weg voranschritt.« (Lenin [1909] 1962: 341-342).
Und über den mit Verachtung bedachten Professorenstandpunkt lesen wir einige Seiten weiter die folgenden Zeilen: »Im großen und ganzen sind die Professoren der politischen Ökonomie nichts anderes als die gelehrten Kommis der Kapitalistenklasse und die Philosophieprofessoren die gelehrten Kommis der Theologen.« (Ebd.: 347) Der Klassencharakter bürgerlicher Wissenschaft ist für Lenin so offensichtlich, dass er keiner weiteren Erklärung bedarf. Es gibt für ihn nur eine Person (außer ihm selbst), die Marx’ philosophisches Grundmotiv fehlerlos zur Anwendung gebracht hat: Es ist Friedrich Engels. »Ganz im Geiste der Zusammenarbeit mit ihm [Marx] stellt Engels in all seinen philosophischen Arbeiten kurz und bündig in allen Fragen die materialistische und die idealistische Linie einander gegenüber, wobei er weder im Jahre 1878 noch 1888, noch 1892 die endlosen krampfhaften Bemühungen ernst nahm, die ›Einseitigkeit‹ von Materialismus und Idealismus zu ›überwinden‹, eine neue Linie, irgendeinen ›Positivismus‹, ›Realismus‹ oder einen anderen Professorenscharlatanismus zu verkünden.« (Ebd.: 342)
Und Lenin führt sein Loblied auf Marx’ Weggefährten so weiter: »Ohne sich auf die Betrachtung der Unmenge von Nuancen des Neukantianismus und des Humeismus in England einzulassen, verwirft Engels von vornherein ihre grundsätzliche
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Abweichung vom Materialismus. Engels erklärt, dass die gesamte Richtung beider Schulen einen ›wissenschaftlichen Rückschritt‹ bedeutet.« (Ebd.: 343)
Das umfangreiche Personenverzeichnis zur leninschen Kampfschrift stellt eine eindrückliche Auflistung begangener Abweichungen, Verfehlungen, Eklektizismen oder weiterer Sünden sowie von Gefahren für die einzige richtige philosophische Linie dar. Hier wird im Einzelnen beschrieben, wer zu den Feinden und den Verbündeten zählt und was die Stärken und Schwächen der verschiedenen zitierten Autoren ausmacht: »W. I. Lenin entlarvte die Verfälschung der marxistischen Philosophie durch Basarow und sagte von ihm, er sei ›halb Berkeleyaner und halb Humeist der Machistensekte‹ (siehe den vorliegenden Band, S. 105).« (Lenin [1909] 1962: 445) »Als begabter Publizist und ausgezeichneter Redner hatte Bebel bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der deutschen und der europäischen Arbeiterbewegung. Aber er erkannte nicht die große historische Aufgabe, die für die Arbeiterbewegung mit dem Eintritt in das Stadium des Imperialismus heranreifte, die Aufgabe, die Partei neuen Typus zu schaffen.« (Ebd.: 446-447)
»In der Philosophie versuchte er [Bogdanov] ein eigenes System zu schaffen, den ›Empiriomonismus‹ (eine durch pseudomarxistische Terminologie getarnte Spielart der subjektiv-idealistischen machistischen Philosophie).« (Ebd.: 449) »Die philosophischen Anschauungen Dührings sind ein eklektisches Gemisch von Positivismus, metaphysischem Materialismus und Idealismus.« (Ebd.: 458) »In der Einschätzung der gesellschaftlichen Erscheinungen blieb Feuerbach Idealist. Das von ihm verkündete anthropologische Prinzip in der Philosophie nannte W. I. Lenin eine ›nur ungenaue, schwache Umschreibung des Materialismus‹ (Werke, 4. Ausgabe, Bd. 38, S. 72).« (Ebd.: 459) »Charakteristisch für die Philosophie Hegels ist der tiefe Widerspruch zwischen der dialektischen Methode und dem konservativen, metaphysischen System, das im Grunde genommen die Beendigung der Entwicklung erheischte. In seinen sozialen und politischen Anschauungen war Hegel Anhänger einer konstitutionellen Monarchie. Karl Marx und Friedrich Engels verarbeiteten die idealistische Dialektik Hegels kritisch und schufen die materialistische Dialektik, die die allgemeinsten Entwicklungsgesetze der objektiven Welt und des menschlichen Denkens wiederspiegelt.« (Ebd.: 464)
»›Der Grundzug der kantschen Philosophie‹, schrieb W. I. Lenin, ›ist die Aussöhnung des Materialismus mit dem Idealismus, ein Kompromiss zwischen bei-
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den, eine Verknüpfung verschiedenartiger, einander widersprechender philosophischer Richtungen zu einem System.‹« (Ebd.: 470) Damit sind wir bei Kant angelangt: Die Kritik am Neukantianismus der Jahrhundertwende, der unter den Klassikern der deutschen Soziologie einflussreich war und selbst in den Rängen des Marxismus ein gewisses Echo gefunden hatte, stellt die zentrale Zielscheibe von Lenins Polemik dar. Materialismus und Empiriokritizismus zeichnet sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht durch einen platten Realismus oder Empirismus aus, der aus soziologischer Sicht nicht schwer zu kritisieren war und ist. Zwei weitere Zitate machen dies deutlich greifbar. »Der ›naive Realismus‹ eines jeden gesunden Menschen, der nicht im Irrenhaus oder bei den idealistischen Philosophen in der Lehre war, besteht in der Annahme, dass die Dinge, die Umgebung, die Welt unabhängig von unserer Empfindung, von unserem Bewusstsein, von unserem Ich und dem Menschen überhaupt existieren. […] Unsere Empfindungen, unser Bewusstsein sind nur das Abbild der Außenwelt, und es ist selbstverständlich, dass ein Abbild nicht ohne das Abgebildete existieren kann, das Abgebildete aber unabhängig von dem Abbildenden existiert. Die ›naive‹ Überzeugung der Menschheit wird vom Materialismus bewusst zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht.« (Lenin [1909] 1962: 61-62) »Ob man als das Primäre die Natur, die Materie, das Physische, die Außenwelt ansieht und Bewusstsein, Geist, Empfindung (nach der heutzutage verbreiteten Terminologie: Erfahrung), Psychisches u. dgl. als das Sekundäre betrachtet – das ist die Grundfrage, die in der Tat nach wie vor die Philosophen in zwei große Lager trennt.« (Ebd.: 340)
Ganz im Gegensatz zu Lenin haben die Begründer der deutschen Soziologie weder die »naive Überzeugung der Menschheit« zum Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftsanalyse gemacht noch »das Sekundäre« mit einem saloppen »u. dgl.« bedacht. Es liegt auf der Hand, dass zwischen dieser Art von Marxismus und der sich als akademische Disziplin etablierenden Soziologie die Geringschätzung gegenseitig sein musste. Dies gilt aber natürlich nicht für die Schriften eines Georg Lukacs oder Karl Korsch, die in der Zwischenkriegszeit einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung des Marxismus geleistet haben. Die Beiden stehen am Übergang vom klassischen zum westlichen Marxismus (Anderson 1978), der in mehrfacher Hinsicht mit den früheren Orthodoxien gebrochen hat. Doch wenn Lukacs und Korsch in der Geschichte des Marxismus meistens unter dem Aspekt dieser Brüche gewürdigt werden (etwa die Kritik an marxistischem Naturalismus und Geschichtsdeterminismus; die Wiederentdeckung Hegels, des jungen Marx
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und vergessener Marx’scher Problemstellungen wie Warenfetischismus und Verdinglichung; die Distanzierungen gegenüber dem Sowjetregime), so ist es wichtig, auch nach den Kontinuitäten zu fragen. Solche sind nicht zuletzt betreffend die Konzeption des Marxismus als eigenständiger und überlegener Wissenschaft auszumachen. Während Korsch mit großer Selbstverständlichkeit von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft schreibt, hat Lukacs wohl den anspruchsvollsten Versuch überhaupt geleistet, die Überlegenheit des proletarischen Standpunkts theoretisch zu begründen. Proletarischer Standpunkt und Wissenschaft In einer umfassenden Würdigung des Marx’schen Werks, die zuerst in englischer Sprache erschien, stellt Karl Korsch ([1938] 1967: 7) den Marxismus der Soziologie als Vertreterin bürgerlicher Wissenschaft feindlich gegenüber und hält fest: »Die Marx’sche Theorie erkennt den Klassenkampf der in der gegenwärtigen Gesellschaft unterdrückten und ausgebeuteten Lohnarbeiter als einen Kampf um die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist als materialistische Wissenschaft von der gegenwärtigen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zugleich eine praktische Anweisung für den Kampf des Proletariats um die Verwirklichung der proletarischen Gesellschaft.«
Weiter führt er bemerkenswert direkt und offen aus: »Die herrschenden Klassen bestreiten dem Marxismus die Wissenschaftlichkeit wegen seines Klassencharakters. Der Marxismus gründet die umfassendere und tiefere Wahrheit seiner Sätze auf seinen proletarischen Klassencharakter.« (Ebd.: 56) Wie könnte deutlicher gesagt werden, dass diese geradezu spiegelbildliche Sicht der Dinge es beiden Seiten, den Marxisten wie ihren Gegnern, erlaubt, die wissenschaftliche durch eine politische Auseinandersetzung zu ersetzen? Um diese Gegenüberstellung nicht einfach als Pattsituation zu akzeptieren, gibt es nur zwei mögliche Auswege: Von bürgerlicher Seite her kann die Überlegenheit freier, nicht interessegebundener Wissenschaft argumentiert werden, und von marxistischer Seite her die Überlegenheit des proletarischen Standpunkts, wie es Georg Lukacs in Geschichte und Klassenbewusstsein versuchte. Beide Sichtweisen verkennen den tatsächlichen Klassencharakter wissenschaftlicher Tätigkeit, der mehr an die soziale Position der Intellektuellen als an deren politische Orientierung gebunden ist. Der Kern von Lukacs’ ([1923] 1983: 170-355) Argument wird im berühmten Aufsatz über »Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats« vorgetra-
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gen, der die Kritische Theorie stark beeinflussen sollte. Der Autor führt zuerst aus, die unmittelbare Alltagserfahrung aller in kapitalistischer Gesellschaft lebender Menschen sei durch das Phänomen der Verdinglichung geprägt. Dann setzt er sich mit den »Antinomien des bürgerlichen Denkens« – etwa die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Freiheit und Notwendigkeit; Kontemplation und Praxis oder Einzelwissenschaften und Philosophie – auseinander, die er als gedanklichen Ausdruck bürgerlicher Lebensverhältnisse betrachtet. Schließlich führt er aus, einzig im Standpunkt des Proletariats sei deren Überwindung der Möglichkeit nach angelegt. Anders gesagt hält laut Lukacs die bürgerliche Klassenlage das Subjekt in solchen Antinomien gefangen, wogegen die proletarische Klassenlage es zu deren Überwindung drängt oder zumindest befähigt. Entsprechend erklärt er sich den Übergang von der Hegel’schen zur Marx’schen Dialektik und den damit verbundenen qualitativen Sprung dadurch, dass sich nun erstmals ein proletarischer Denker die dialektische Methode aneignete: »Die Fortsetzung jener Wendung ihres Weges, die wenigstens methodisch über diese Schranken [Antinomien des bürgerlichen Denkens] hinauszuweisen begann, die dialektische Methode als Methode der Geschichte ist jener Klasse vorbehalten geblieben, die das identische Subjekt-Objekt, das Subjekt der Tathandlung, das ›Wir‹ der Genesis von ihrem Lebensgrund aus in sich selbst zu entdecken befähigt war: dem Proletariate.« (Ebd.: 267)
Wir sehen hier die Verwechslung von sozialer Position und politischer Orientierung, die es Lukacs’ ganz selbstverständlich erlaubt, Marx als proletarischen Denker darzustellen. Nun behauptet Lukacs aber nicht, die Entwicklung eines Klassenbewusstseins, das sich von den Antinomien des bürgerlichen Denkens befreit, sei dem Proletariat natürlich gegeben oder entwickle sich automatisch aus einer spezifischen Klassenlage heraus. Vielmehr sieht er diese Entwicklung als mögliches und anzustrebendes Ergebnis des Klassenkampfs an. Die Aufgabe des Marxismus besteht für ihn gerade darin, diesen Prozess der Bewusstseinsentwicklung zu unterstützen. Zugleich glaubt er behaupten zu können, der historische Materialismus sei »aus dem ›unmittelbaren‹, ›natürlichen‹ Lebensprinzip des Proletariats« herausgewachsen, das heißt er sei ein »Sichergeben der totalen Wirklichkeitserkennung von seinem Klassenstandpunkt aus« (Lukacs [1923] 1983: 89). Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei erst in der bürgerlichen Gesellschaft möglich geworden, nicht aber für die Bourgeoisie, sondern nur für das Proletariat:
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»Erst mit dem Auftreten des Proletariats vollendet sich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sie vollendet sich eben, indem im Klassenstandpunkt des Proletariats der Punkt gefunden ist, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird. Nur weil es für das Proletariat ein Lebensbedürfnis, eine Existenzfrage ist, die vollste Klarheit über seine Klassenlage zu erlangen; weil seine Klassenlage nur in der Erkenntnis der ganzen Gesellschaft begreifbar wird; weil seine Handlungen diese Erkenntnis zur unumgänglichen Voraussetzung haben, ist im historischen Materialismus zugleich die Lehre ›von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats‹ und die Lehre von der Wirklichkeit des Gesamtprozesses der gesellschaftlichen Entwicklung entstanden. Die Einheit von Theorie und Praxis ist also nur die andere Seite der geschichtlich gesellschaftlichen Lage des Proletariats, dass von seinem Standpunkt Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammenfallen, dass es zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis ist.« (Ebd.: 87)
»Der Punkt, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird«: Welche Soziologin und welcher Soziologe hat nicht schon davon geträumt? Bis heute wurde dieser Punkt allerdings nicht gefunden, und nichts spricht dafür, dass es ihn gibt. Das Zitat stammt aus dem Aufsatz »Was ist orthodoxer Marxismus?« (Lukacs [1923] 1983: 58-93), der nicht nur mit Blick auf die Frage des Klassenbewusstseins aufschlussreich ist. Im Gegensatz zu Bucharin oder Lenin betrachtet Lukacs den orthodoxen Marxismus, zu dem er sich ohne zu Zögern bekennt, als Frage der Methode, nicht als ein geschlossenes theoretisches System: »Denn angenommen – wenn auch nicht zugegeben – , die neuere Forschung hätte die sachliche Unrichtigkeit sämtlicher einzelner Aussagen von Marx einwandfrei nachgewiesen, so könnte jeder ernsthafte ›orthodoxe‹ Marxist alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen, sämtliche einzelnen Thesen von Marx verwerfen – ohne für eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu müssen. Orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen ›Glauben‹ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines ›heiligen‹ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugung, dass im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, dass diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann. Dass aber alle Versuche, sie zu überwinden oder zu ›verbessern‹ nur zur Verflachung, zur Trivialität, zum Eklektizismus geführt haben und dazu führen mussten.« (Ebd.: 58-59)
Wenn Lukacs ([1923] 1983: 64-71) in diesem Aufsatz den Empirismus der bürgerlichen Wissenschaft kritisiert, die sich den konkreten Einzeltatsachen hingibt
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ohne zu erkennen, dass deren »Gegenständlichkeitsform« und »Gegenstandsstruktur« das Produkt von Verdinglichung und Fetischismus sind, wird deutlich, wie weit sein Argument vom platten Realismus Lenins entfernt ist. Wenn er betont, es gehe nicht nur darum, die »Ewigkeitshülle« der Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft zu zerreißen, sondern auch deren »Dinglichkeitshülle« (ebd.: 79), so dürfen wir uns dies als Soziologinnen und Soziologen auch heute noch zu Herzen nehmen. Lukacs schreckt auch nicht davor zurück, einen im orthodoxen Marxismus so hoch verehrten Mann wie Friedrich Engels zu kritisieren – etwa für dessen ungerechtfertigte Anwendung der Dialektik auf die Natur (ebd.: 63). Und er zerstört den Glauben an ein für alle Mal gefundene Wahrheiten, wenn er schreibt: »Darum ist die Funktion des orthodoxen Marxismus, seine Überwindung von Revisionismus und Utopismus kein einmaliges Erledigen falscher Tendenzen, sondern ein sich immer erneuernder Kampf gegen die verführende Wirkung bürgerlicher Auffassungsformen auf das Denken des Proletariats. Diese Orthodoxie ist keine Hüterin von Traditionen, sondern die immer wache Verkünderin der Beziehung des gegenwärtigen Augenblicks und seiner Aufgaben zur Totalität des Geschichtsprozesses.« (Ebd.: 93)
Und dennoch dürfen die Kontinuitäten in Lukacs’ orthodoxem Marxismus nicht übersehen werden. Wie die marxistische Tradition insgesamt behauptet er einen Klassencharakter von Wissenschaft (bürgerlich oder proletarisch), ohne die tatsächliche wissenschaftliche Praxis zu analysieren. Die Rückführung aller theoretischen und wissenschaftlichen Kämpfe auf ein Zweiklassenschema erweist sich als Hypothek, die sehr schwer auf dem marxistischen Wissenschaftsverständnis lastet. Bereits die Wortführer der klassischen politischen Ökonomie waren nicht Unternehmer oder Bankiers, die nebenher ein bisschen Ökonomie betrieben: Adam Smith war nicht (wie sein Vater) Unternehmer, sondern arbeitete als Universitätsdozent und Privatgelehrter; David Ricardo war in jungen Jahren zu Reichtum gekommen und zog sich aus dem Geschäftsleben zurück, um sich wissenschaftlichen Studien zu widmen. Erst recht als Anachronismus erweist sich die Opposition von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft im 20. Jahrhundert, das durch eine zunehmende institutionelle Autonomie des akademischen Feldes geprägt ist. Auf diesem Feld – wie in Kunst, Literatur und Medien – agieren sowohl Marxisten als auch erklärte Gegner des Marxismus, und es muss auch danach gefragt werden, was ihnen trotz aller politischen Feindschaft gemeinsam ist.
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Die Klassenillusion der marxistischen Intellektuellen »Die Intellektuellen sind sich immer darin einig«, hat Pierre Bourdieu (1993: 61) geschrieben, »ihr eigenes Spiel und das, worum es ihnen dabei geht, aus dem Spiel zu lassen.« In der Tat lässt sich die marxistische Theorie proletarischer Wissenschaft durchaus als ein funktionales Äquivalent der traditionell bürgerlichen Vorstellung einer reinen, nicht interessegebundenen Wissenschaft betrachten. Beide erlauben es den Intellektuellen, sich der Illusion hinzugeben, ihre Tätigkeit im Dienste höherer Werte auszuüben und die eigenen Wünsche und Interessen diesen unterzuordnen. Im Falle des Marxismus handelt es sich bei diesen höheren Werten um die Interessen des Proletariats und die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung des Kapitalismus, die der intellektuellen Tätigkeit als Ziel und Horizont dienen. Überzeugt davon, dass es keine reine Wissenschaft gibt, die sich politischer Parteilichkeit wirklich enthalten kann, hat der engagierte marxistische Intellektuelle nicht nur ein gutes Gewissen, sondern kann sich auch moralisch überlegen fühlen, weil er ehrlicher ist als seine Gegner, die den Klassencharakter ihrer Tätigkeit zu vertuschen suchen. Wie seine bürgerlichen Antipoden glaubt er daran, seine Wissenschaft als noble und über eigene Sonderinteressen erhabene Tätigkeit zu betreiben. Die Komplizenschaft der nur scheinbar vollständig gegensätzlichen Wissenschaftsverständnisse liegt in der theoretischen wie praktischen Konsequenz, die eigene Praxis als Tätigkeit, die an eine besondere soziale Position und gesellschaftliche Funktion gebunden ist, welche sich in keiner Weise auf die Zugehörigkeit zur Bourgeoisie oder zum Proletariat reduzieren lässt, nicht zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen und sich selbst aus dem Spiel zu lassen. Im Zeitalter des klassischen Marxismus zum Beispiel beruhte die Fähigkeit von Kautsky, Lenin, Luxemburg oder Lukacs, theoretische Arbeit zu leisten und damit Gehör zu finden, auf ihrer Funktion in Parteien der Arbeiterbewegung. Natürlich war ihre theoretische Praxis aufs engste mit der politischen Praxis verbunden und durch diese im Guten wie im Schlechten geprägt. Wie Alex Demirovic (2010: 156) betont, »schränkte [dies] zwangsläufig auch die theoretische Diskussion ein. Eine theoretische Kritik an vorherrschenden Positionen in der Partei konnte für die Intellektuellen unmittelbare Folgen haben. Dies galt erst recht, wo der Marxismus zur offiziellen Staatsideologie wurde und Lehrmeinungen mit staatlicher Gewaltausübung verbunden waren. Für jede weitere Entwicklung des Marx’schen Projekts ist dies eine Schlüsselerfahrung: wie die Macht, die im Namen wissenschaftlicher Wahrheit ausgeübt wird, sich mit Zensur, Marginalisierung, Vertreibung oder Mord gegen die Theorie und ihre natürlichen Subjekte
158 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE wenden kann. Die Frage, die sich stellt ist, wie die Theorie angelegt sein muss, dass sie sich durch ihre Praxis der Dynamik einer solchen polizeilichen Logik entgegenstellt.«
Auf diese Frage gibt es keine einfache und endgültige Antwort. Aber an der soziologischen Selbstreflexion der Intellektuellen führt kein Weg vorbei, soll etwas aus dem Scheitern des Marxismus gelernt werden. Während der Klassencharakter von Wissenschaft laut und abstrakt proklamiert wurde, ist die Einwirkung spezifischer epistemischer Terrains auf die eigene theoretische Praxis in der marxistischen Tradition wenig reflektiert worden. Stattdessen dominierte die Neigung, sich bequemen Glaubenssätzen über die Beziehung zwischen Proletariat und Partei oder zwischen Arbeiterklasse und Avantgarde hinzugeben. Marx selbst erlag offenbar bisweilen der Illusion, er schreibe als Arbeiter ein Werk – Das Kapital – für ein Publikum aus der Arbeiterklasse, so etwa in diesen Zeilen des Nachworts zur zweiten Auflage des ersten Bandes: »Das Verständnis, welches ›Das Kapital‹ rasch in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bourgeoisstandpunkt, Herr Mayer, Wiener Fabrikant, tat in einer während des deutschfranzösischen Kriegs veröffentlichten Broschüre treffend dar, dass der große theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut galt, den sog. gebildeten Klassen Deutschlands durchaus abhanden gekommen ist, dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt.« (Marx [1983] 1962: 19)
Die Systematisierung solcher Klassenillusionen zu einer Theorie der Gegenüberstellung von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft war aber nicht sein Werk, sondern erfolgte nach seinem Tod. Die Geschichte des Marxismus und des so genannten real existierenden Sozialismus zeigt so deutlich wie tragisch auf, dass eine solche Sicht der Dinge nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht konservativ wirkt. Nicht in der Proklamation eines Klassencharakters wissenschaftlicher Tätigkeit irrt sich der Marxismus, sondern in der platten Gleichsetzung der Kämpfe im wissenschaftlichen Feld mit dem Kampf zwischen Arbeit und Kapital, die dazu führt, die spezifische Klassendimension der eigenen intellektuellen Praxis auszublenden. Diesbezüglich hätten die marxistischen Klassiker einiges von der bürgerlichen Soziologie eines Max Weber lernen können, wie Pierre Bourdieu (2000: 126-127) in einem Interview über sein Verhältnis zu dessen Werk andeutet. Er verleiht seiner Bewunderung Ausdruck, wie der deutsche Soziologe »Sätze von einer solch schonungslosen, gewalttätigen Offenheit« über seine eigene
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Berufsgruppe – die Angehörigen der »gelehrten Welt« – gesagt und geschrieben hat, und spricht Aspekte an, die sich auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus beziehen lassen: »In der gelehrten Welt gibt es viele Leute, die sich ziemlich revolutionär gebärden, wenn es um Dinge geht, die sie nicht selbst betreffen, und konservativ, wenn man zum Eingemachten kommt… […] [M]an wird oft als Rechter beschimpft, wenn man die Wahrheit über die ›Linken‹ sagt.« Und Pierre Bourdieu deutet an, Max Webers Ruf als rechter Denker könnte damit etwas zu tun (gehabt) haben: »Vielleicht auch deshalb des Etikett des ›Rechten‹, Weber sagt Dinge über die Intellektuellen… denn in seinen Schriften, was ist da ›konservativ‹?« (Ebd.) Die Lektüre von Webers Wissenschaft als Beruf und anderer Schriften lässt keinen Zweifel daran, dass er in Bezug auf die kritische Selbstreflexion als Intellektueller den führenden Vertretern des Marxismus seiner Zeit weit voraus war.
Z WEI K ÖNIGSDISZIPLINEN Wenn das marxistische Selbstverständnis als revolutionäre Klassenwissenschaft jedem nicht kanonischen Bezug auf Marx zum Hindernis wurde, stand der Marxismus vielleicht besonders stark soziologischen Lektüren im Weg. In der marxistischen Tradition wurde der Soziologie im Gegensatz zur Ökonomie und Philosophie wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies mag auf den ersten Blick als gut nachvollziehbar erscheinen, weil Marx selbst sich ja am meisten mit Vertretern dieser zwei Disziplinen auseinandergesetzt hatte. Allerdings hat der Verfasser des Kapitals wiederholt den Anspruch formuliert, die erkenntnistheoretischen Grenzen von Philosophie und Ökonomie zu sprengen und die soziale Welt auf andere Weise zu erforschen. Während in marxistischen Kreisen jedenfalls Einigkeit herrschte, dass die Philosophie und die Ökonomie ernst genommen werden müssen, gehörte es nicht selten zum guten Ton, sich mit Bezug auf die eine oder andere Randbemerkung von Marx oder Engels zu Auguste Comte oder Herbert Spencer über die Soziologie lustig zu machen und das Fach en bloc im Reich der bürgerlichen Wissenschaft zu verorten. Im Personenverzeichnis zu Lenins Materialismus und Empiriokritizismus stehen zum Beispiel folgende Zeilen: »[August Comte] war ein Gegner der Revolution und des Sozialismus und sah das soziale Ideal in der Harmonie der Klasseninteressen von Kapitalisten und Arbeitern. Karl Marx und Friedrich Engels unterwarfen die reaktionären philosophischen Anschauungen Comtes, die einen bedeutenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der bürgerlichen Philoso-
160 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE phie ausübten, einer scharfen Kritik.« Und weiter: »Die reaktionären philosophischen und soziologischen Anschauungen Spencers machten ihn zu einem der populärsten Ideologen der englischen Bourgeoisie.« (Lenin [1909] 1962: 453; 493)
Für einige Vertreter des westlichen Marxismus wiederum wurde Nikolaj Bucharins (1922) Lehrbuch der marxistischen Soziologie zur Zielscheibe einer Kritik, welche die Infragestellung sowjetmarxistischer Orthodoxie mit einer Bekräftigung von Vorurteilen gegenüber der Soziologie verband. Die Soziologie als bürgerliche Wissenschaft Selbst bei Autoren, die zweifellos gewisse Brüche mit der marxistischen Orthodoxie ihrer Generation vollzogen haben, lässt sich diese charakteristische Konstellation der Disziplinen im Marxismus beobachten. So stellt etwa das Werk Karl Korschs ein typisches Beispiel für die Geringschätzung der Soziologie im Vergleich zu den marxistischen Königsdisziplinen dar. Während Korsch ([1923] 1975) mit Marxismus und Philosophie die Notwendigkeit einer (selbst)kritischen philosophischen Reflexion des Marxismus herausstrich und den Zorn der kommunistischen wie der sozialdemokratischen Orthodoxie auf sich zog, machte er in seiner Würdigung des Marx’schen Werks (Korsch [1938] 1967) die Ökonomie gegen die Soziologie stark. In diesem Text beschreibt er die Soziologie als Inbegriff bürgerlicher Wissenschaft, die zum Marxismus in einer Beziehung von »Fremdheit« und »Gegensatz« stehe: »Die Marx’sche Theorie hat mit dieser von Comte begründeten, von Mill und Spencer ausgebreiteten ›Soziologie‹ des 19. und 20. Jahrhunderts nichts zu tun. Richtiger kann man umgekehrt die ›Soziologie‹ als eine Opposition gegen den modernen Sozialismus auffassen. Nur von hier aus dürfte es möglich sein, die mannigfaltigen theoretischen und praktischen Tendenzen, die in den letzten Hundert Jahren ihren Niederschlag in dieser Wissenschaft gefunden haben, trotz all ihrer sonstigen Unterschiede als eine einheitliche Erscheinung zu begreifen.« (Ebd.: 3)
Was für eine abenteuerliche Behauptung: Die Einheit der Soziologie soll in ihrer Feindschaft gegenüber dem Marxismus begründet sein. Für Karl Korsch ([1938] 1967: 7) ist Ende der 1930er Jahre nicht die Soziologie, sondern die »neue, proletarische und sozialistische Wissenschaft von Marx« die »echte gesellschaftliche Wissenschaft unserer Zeit«, als deren Vorläufer er Hegels Philosophie und die klassische politische Ökonomie würdigt. Dagegen versieht er die Soziologie mit Verachtung:
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»Jene späte künstliche Abkapselung einer besonderen Fachdisziplin, die ihren wissenschaftlichen Ursprung von Comte datiert und die großen ursprünglichen Denker, welche in einer früheren Periode die eigentliche produktive Arbeit auf diesem Gebiet geleistet haben, allenfalls als ›Vorläufer‹ gelten lässt, ist nur eine Flucht vor den praktischen und damit auch theoretischen Aufgaben der geschichtlichen Epoche.« (Ebd.)
Korsch macht kein Geheimnis daraus, dass die Entstehung der Soziologie für ihn nicht nur im Vergleich zu Marx ein Rückschritt sei, sondern auch gemessen an der bürgerlichen Ökonomie. So betont er etwa, Marx habe nicht »die Ökonomie in Geschichte, Soziologie und Utopie verflüchtigt« und mit Engels habe er sich gegenüber »solchen soziologischen Verächtern der Ökonomie [gemeint sind die Vertreter soziologischer Gewalttheorien] immer zu der tieferen und gehaltvolleren geschichtlichen und gesellschaftlichen Erkenntnis der bürgerlichen Gesellschaft bekannt, die in dem ökonomischen Wertbegriff und den darauf gegründeten Analysen der bürgerlichen Klassiker enthalten ist« (ebd.: 118; 120).
Schließlich hält Korsch unmissverständlich fest: »Jenes Ganze der gesellschaftlichen Beziehungen, welches von den bürgerlichen Soziologen als das Gebiet einer allgemeinen gesellschaftlichen Wissenschaft behandelt wird, bildet für Marx nur noch insoweit ein Gebiet objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis, als es durch die geschichtliche und gesellschaftliche Wissenschaft der Ökonomie erforscht und dargestellt wird. Wir können in diesem Sinne unsere früheren Erörterungen über das Verhältnis zwischen dem Marxismus und der modernen ›Soziologie‹ ergänzen durch die scheinbar paradoxe, aber für die letzte und ausgereifteste Form der Marx’schen Wissenschaft sachlich zutreffende Feststellung: Die materialistische Gesellschaftswissenschaft von Marx ist nicht Soziologie, sondern Ökonomie.« (Ebd.: 207)
Bei der Lektüre dieses Buchs mag zunächst der Eindruck entstehen, Korsch habe die neuere soziologische Literatur seiner Zeit – etwa im Gegensatz zu Lukacs, der offensichtlich durch Max Webers Analysen kapitalistischer Rationalität und Bürokratie beeinflusst war – gar nicht zur Kenntnis genommen und setze die Soziologie einfach den Schriften Comtes und Spencers aus dem 19. Jahrhundert gleich. Dies ist allerdings nicht der Fall, und in den Lesarten dieses Buchs über Marx ist ein aufschlussreicher Abschnitt zu finden, in dem unter anderen Tönnies, Weber, Mannheim und Sombart genannt werden. Da beschäftigt sich
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Korsch ([1938] 1967: 242) mit der Frage, worauf »der rein theoretische Unterschied des neuen Forschungsprinzips von Marx von der gewöhnlichen Denkweise der bürgerlichen Gesellschaftsforschung« beruht. Er räumt ein, die Beantwortung dieser Frage sei nicht ganz so einfach, weil die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft einen weniger einheitlichen Charakter als die marxistische aufweise und es sich zudem nicht immer eindeutig sagen lasse, inwiefern die Entwicklungen der bürgerlichen Soziologie »bereits als eine Reaktion auf den Angriff der proletarischen Klasse aufzufassen sind« (ebd.: 243). Doch gelangt Korsch zu diesem Schluss: »Wir können daher aus der Tatsache, dass sich in der heutigen bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft neben der vorherrschenden Tendenz einer bedingungslosen Hinnahme und mehr oder weniger bewussten Verherrlichung der bürgerlichen Zustände sporadisch auch kritische Ansätze zeigen, in keiner Weise schließen, dass die bürgerliche Wissenschaft auf ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe imstande wäre, sich selbst und ihren Gegenstand geschichtlich aufzufassen und zu kritisieren. Man darf vor allem nicht gleich jede pessimistische oder ironische oder skeptische Weltverneinung eines bürgerlichen Literaten oder Philosophen als Ausdruck einer solchen Selbstkritik der bürgerlichen Klasse betrachten.« (Ebd.: 244)
Das schreibt mit Karl Korsch ein Mann, der bereits seit zwei Jahrzehnten die Unfähigkeit der führenden Vertreter des eigenen politischen Lagers zur Selbstkritik erfahren und kritisiert hatte und schließlich – erst nach dem Zweiten Weltkrieg – die Konsequenz daraus ziehen sollte, sich nicht mehr als Marxist zu betrachten (Korsch 1950). Leider begrenzt Korschs energisches Bemühen, die Ökonomie gegenüber der Soziologie stark zu machen, auch das innovative Potenzial seiner in vielen Punkten unorthodoxen Lektüre des Marx’schen Kapitals. Als einer von ganz wenigen bekannten marxistischen Autoren stellt er das Fetischtheorem ins Zentrum und hebt die Bedeutung der kapitalistischen Wertformen hervor. Als den Kern der Theorie des Kapitals bezeichnet er die »kritische Aufhebung der Ökonomie in einer direkt geschichtlichen und gesellschaftlichen Wissenschaft von der Entwicklung der materiellen Produktion und des Klassenkampfs« (Korsch [1938] 1967: 87-88). Allerdings relativiert er diese Dimension des Bruchs mit der Ökonomie wieder, indem er festhält, Marx sprenge nur an wenigen Punkten den Rahmen der ökonomischen Theorie – vor allem dort, wo er geschichtliche Entwicklungen oder politische Kämpfe beschreibt – und habe die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie als für die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft angemessen betrachtet. Die Überwindung dieser fetischistischen Kategorien könne nur
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durch die proletarische Revolution zu Ende geführt werden, nicht durch eine Kritik der politischen Ökonomie allein (ebd.: 117-124). Damit führt Korschs Lektüre wieder zu einem klassischen Muster der marxistischen Marx-Interpretation zurück: die Unterordnung der Ökonomiekritik unter die Kategorien der Geschichts- und Revolutionstheorie. Wir können an der Stelle auch einen Nachklang des Marx’schen Nachworts zur zweiten Auflage des ersten KapitalBandes hören, das die Interpretationsmöglichkeit offen ließ, die bürgerliche Ökonomie als durchaus angemessene Wissenschaft für die Analyse des Kapitalismus zu betrachten. Wer das so sieht, hat in der Tat keinen Anlass, Marx und Das Kapital im Besonderen soziologisch zu lesen. Marxistische Ökonomie Ernest Mandel zählt wohl zu den interessantesten Marxisten, die den Weg der ökonomischen Königsdisziplin gegangen sind. Im Kontext der weit reichenden gesellschaftlichen Umbrüche der Nachkriegszeit hat der Vordenker der trotzkistischen Vierten Internationale wie kaum ein anderer marxistischer Ökonom die Notwendigkeit verstanden, ausgehend von Marx weiter zu denken, statt nur ewige Wahrheiten des Marxismus zu wiederholen. Seine Marxistische Wirtschaftstheorie ist ein umfangreicher und eindrücklicher Versuch dies zu tun. Mit diesem Buch hat Mandel (1968a) das von Lukacs herausgestrichene, sich auf das Verständnis der Methode konzentrierende marxistische Selbstverständnis zur höchsten Darstellung und Anwendung gebracht: Auf über 700 Seiten verzichtet er weitgehend darauf, Marx und marxistische Literatur zu zitieren, weil er offensichtlich davon überzeugt ist, in personam das Beste der marxistischen Tradition zu verkörpern. In diesem Geiste verarbeitet er sodann alle ihm interessant erscheinenden Erkenntnisse der modernen Wissenschaften, um sie in seine marxistische Wirtschaftstheorie zu integrieren. Das Ziel dieser Arbeit wird in folgenden Worten umschrieben: »Was wir zu zeigen versuchen, ist, dass man aus den empirischen Daten der heutigen Wissenschaft das gesamte ökonomische System von Karl Marx rekonstruieren kann. Mehr noch: wir werden uns um den Nachweis bemühen, dass allein die Marx’sche Wirtschaftslehre diese Synthese aller menschlichen Wissenschaften erlaubt – vor allem aber die Verschmelzung von Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie – und dass sie allein eine harmonische Verschmelzung zwischen der mikro-ökonomischen und der makroökonomischen Analyse herstellen kann.« (Ebd.: 16)
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Bescheidenheit war Ernest Mandels Sache nicht, und dessen war er sich durchaus bewusst: »Gewiss, unser Bemühen, den Stoff – mit Ausnahme dessen, was sich auf den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts bezieht – über den Rahmen der europäischen Zivilisation hinaus auf die ganze Welt auszudehnen, d.h. die gemeinsamen Züge der vorkapitalistischen ökonomischen Kategorien aller Zivilisationen, die heute im Stadium des entwickelten internationalen Handels stehen, zu ermitteln, mag kühn erscheinen. Wir haben weder die sprachlichen Fähigkeiten noch die nötigen historischen Kenntnisse, um ein solches Unterfangen erfolgreich beenden zu können. Aber es ist deswegen nicht weniger dringend.« (Ebd: 19)
Weil es dringend ist, muss es getan werden, auch wenn daraus etwas Problematisches resultiert. Es mag auf der einen Seite Respekt hervorrufen, wie Mandel sich an diese Aufgabe herangewagt hat. Dennoch darf nicht über das wissenschaftstheoretische Problem hinweggesehen werden, dass Ernest Mandel in diesem Buch versucht, Marx’ Thesen ausgehend von empirischen Befunden zu beweisen, die auf der Grundlage anderer Problemstellungen erarbeitet wurden und deshalb kaum zu diesem Zweck geeignet sind. Indem er zugleich darauf verzichtet, seine Lektüre der Marx’schen Schriften zu begründen und belegen, bewegt sich dieser kühne Versuch zweifach im Dunkeln: Weder die wissenschaftlichen Produktionsbedingungen der Daten, auf die er sich bezieht, noch die Prämissen seiner eigenen Marx-Lektüre werden offengelegt und diskutiert. Für seine Konstruktion der »Synthese aller menschlichen Wissenschaften« (sic!) hat sich Ernest Mandel dadurch maximale Freiheit und minimale Rechenschaftspflicht herausgenommen. Die Lektüre seines umfangreichen Werks vermag nur jene zu überzeugen, die ihm zugestehen, die marxistische Methode zu verkörpern und einen Gesamtüberblick aller relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse mit Bezug auf wirtschaftliche Fragen zu besitzen. Wer nicht geneigt ist, den Glauben an die Überlegenheit des marxistischen Denkens sowie an dessen Inkarnation in einer Person wie Ernest Mandel zu teilen, wird dagegen dieses Buch als Ausdruck intellektueller Anmaßung empfinden müssen. Ausführlich über das Marx’sche Hauptwerk hat sich Ernest Mandel in Vorworten zur ersten Taschenbuchausgabe des Kapitals in englischer Sprache (Pelican Marx Library) geäußert, die über ein Jahrzehnt später auch als eigenständiges Buch auf Deutsch veröffentlicht wurden (Mandel 1991). In diesen Vorworten dominiert eine ökonomische Interpretation des Werks verbunden mit marxistischer Revolutionstheorie: Das Kapital muss die Unausweichlichkeit der sozialistischen Revolution beweisen. Für Ernest Mandel bleibt die Marx’sche Werttheorie eine Arbeitswertlehre, die eine Antwort auf die Frage gibt, wie in einem
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Wirtschaftssystem ohne Planung die gesellschaftlich notwendige Arbeit verteilt wird und die menschlichen Bedürfnisse (nicht) befriedigt werden. Das Wertgesetz beschreibt in seiner Wirtschaftstheorie, wie im Kapitalismus die Austauschrelationen zwischen den Waren zustande kommen, wie die Gesamtarbeit der Lohnabhängigen auf verschiedene Wirtschaftsbereiche verteilt wird und wie die kapitalistischen Investitionen der Tendenz zum Ausgleich der Profitrate folgen (ebd.: 42-53). Die Bedeutung der gesellschaftlichen Wertformen bleibt genau so ausgeblendet wie das Fetischtheorem. Ernest Mandel (ebd.: 19-20) hält zwar fest, für die materialistische Dialektik von Marx seien die Erscheinungen nicht weniger real als das Wesen der Dinge; aber an keiner Stelle seiner Vorworte geht er wirklich auf Passagen ein, in denen der Verfasser des Kapitals über Fetischismus, Alltagsreligion des Kapitalismus oder verzauberte Welt der bürgerlichen Gesellschaft schreibt. Die Kapital-Lektüre dieses marxistischen Ökonomen folgt in vielerlei Hinsicht den durch Friedrich Engels formulierten historizistischen Vorgaben. So betont Ernest Mandel (1991: 9-11) zwar, dass es keine universellen oder ewigen ökonomischen Gesetze gibt, sondern nur solche, die an eine jeweils besondere gesellschaftliche Struktur gebunden sind. Zugleich folgt er allerdings Friedrich Engels’ Theorie der Einheit logischer und historischer Enzwicklung. Wenn er die kapitalistische Produktion als eine verallgemeinerte Warenproduktion beschreibt, greift er die Metapher der Ware als »elementarer Zelle« des Kapitals auf, die »alle inneren Qualitäten und Widersprüche dieser sozialen Kategorie bereits im embryonalen Zustand enthält«, und streicht heraus: »Diese historische Dimension der Marx’schen Analyse zu bestreiten bedeutet, den Ursprung des Kapitalismus in ein unlösbares Mysterium zu verwandeln.« (Ebd.: 14) Vielleicht ist ein Mysterium manchmal allerdings besser als eine zu einfache Antwort, denn die marxistische Wirtschaftstheorie Mandels übersieht dafür den grundlegenden Unterschied der gesellschaftlichen Formen des Kapitalismus im Vergleich zur so genannten einfachen Warenproduktion. Ernest Mandel kommt immerhin das wohl nicht angestrebte Verdienst zu, den politischen Nutzen der von Engels übernommenen Behauptung, das Wertgesetz habe nicht erst unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion gewirkt, offen zu legen: »Wenn wir feststellen, dass die Analyse der Bewegungsgesetze, welche die kapitalistische Produktionsweise beherrschen, notwendigerweise auch einige wesentliche Elemente der Analyse ökonomischer Erscheinungen einschließt, die für die ganze historische Epoche mit ökonomischer Organisation gültig sind, in der Warenproduktion existierte, dann erweitern wir die Gültigkeit von Teilen des Marx’schen ›Kapitals‹ nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Zukunft. Denn Erscheinungen der Warenproduktion
166 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE werden offensichtlich auch in solchen Gesellschaften überleben, wenigstens teilweise, in denen die Herrschaft des Kapitals bereits überwunden ist, die aber noch nicht völlig klassenlos, also sozialistische Gesellschaften sind: in der UdSSR, in den Volksrepubliken Osteuropas, in China, Nordvietnam, Nordkorea und Kuba.« (Ebd.: 14-15)
Der persönliche Profit, den Ernest Mandel aus der Aneignung der Engels’schen Kapital-Lektüre zieht, ist eine Ausweitung des Geltungsanspruchs seiner eigenen Theorie – nicht zuletzt auf Gesellschaften, die »noch nicht völlig klassenlos« (sic!) sind. In zwei weiteren Fragen ist Ernest Mandel der Marx-Lektüre von Engels gefolgt. Da ist zum einen die empiristische Neigung, welche etwa in folgender Passage zum Ausdruck kommt, in der Mandel davon ausgeht, empirische Daten müssten nicht erst Theorie geleitet hergestellt, sondern könnten einfach eingesammelt werden: »Die Forschungsmethode muss sich von der Methode der Darstellung unterscheiden. Zuerst müssen die empirischen Tatsachen gesammelt und der vorhandene Wissensstand in vollem Umfang angeeignet werden. Erst wenn das erreicht ist, kann die dialektische Reorganisation des Materials vorgenommen werden, um die gegebene Totalität zu verstehen. Gelingt dies erfolgreich, dann ist das Ergebnis eine ›Reproduktion‹ der materiellen Totalität im Denken des Menschen: in diesem Falle der Totalität der kapitalistischen Produktionsweise.« (Mandel 1991: 19)
Zum anderen spielt Mandel die Bedeutung der Unvollendetheit des Werks ebenso unbeirrt herunter wie der Herausgeber des zweiten und dritten KapitalBandes. Über den unabgeschlossenen Charakter der Marx’schen Manuskripte für den zweiten Band verliert er kein Wort. Mit Blick auf den dritten Band erwähnt er das Problem immerhin, bemüht sich aber sogleich zu betonen, die Kontroversen um diese Schrift hätten damit nichts zu tun, sondern seien vor allem auf deren politische Sprengkraft zurückzuführen: Erst im dritten Band des Kapitals habe Marx eine Gesamtanalyse des Kapitalismus präsentiert und bewiesen, dass dessen Schicksal eigentlich bereits besiegelt sei: »Er versucht zu zeigen, dass inhärente Mechanismen, die nicht überwunden werden können, ohne das Privateigentum, die Konkurrenz, den Profit und die Warenproduktion (die Marktwirtschaft) zu beseitigen, zu einem schließlichen Zusammenbruch führen müssen.« (Ebd.: 200-201) Ernest Mandel (1991: 282-296) greift diese politische Sprengkraft auf und fühlt sich deshalb verpflichtet und berufen, seine Vorworte zum Marx’schen Kapital auf die Formulierung einer Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus
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zuzuspitzen, die er in einem Schema darstellt, das auf die alt bekannte Formel »Sozialismus oder Verfall der Zivilisation« hinausläuft (ebd.: 298-299). An die Stelle des naiven Fortschrittsglaubens, der in der Geschichtsphilosophie des klassischen Marxismus verbreitet war, tritt bei ihm nun ein unerschütterlicher Glaube an das revolutionäre Potenzial des Proletariats, dessen politische Aktion die Menschheit vor dem Untergang bewahren muss und wird – natürlich mit der Unterstützung marxistischer Avantgarden: »Aber ob dieses Potenzial aktuell realisiert werden wird, hängt letzten Endes von den bewussten Anstrengungen der organisierten Marxisten ab, die sich mit den periodischen spontanen Kämpfen des Proletariats verbinden müssen, um die Gesellschaft sozialistisch zu gestalten auf der Grundlage von Kooperation, Solidarität und wachsender Gleichheit. Ich sehe keinen Grund, im Hinblick auf das Ergebnis dieses Anliegens pessimistischer zu sein, als es Marx zu der Zeit war, da er das ›Kapital‹ schrieb.« (Ebd.: 296)
Mit diesen Worten schließt Ernest Mandel seine Kapital-Vorworte ab, und nicht nur an der Stelle ist er Wissenschaftler und Revolutionär in Personalunion – eine fast übermenschliche Figur, die der Marxismus seinem Namensgeber zugeschrieben hat und mit deren Problematik alle typischen marxistischen Ilusionen verbunden sind. Ernest Mandel hat es verstanden, nach dem Vorbild des Marx’schen Vorworts von 1859 Zur Kritik der Politischen Ökonomie beeindruckende ökonomische und historische Synthesen zu formulieren, in denen er die stets vorhandene Gefahr des ökonomischen Determinismus durch die Betonung der politischen Kämpfe immer wieder abgewendet hat, etwa in seinem vielleicht besten Werk über den Spätkapitalismus (Mandel 1972). Wie ein roter Faden zieht sich aber dieses Spannungsverhältnis zwischen marxistischer Ökonomie und Revolutionstheorie durch seine Schriften, und es gibt einige gute Gründe zu denken, dass es auf eine Leerstelle verweist, zu deren Bearbeitung eine soziologische Lektüre des Kapitals hilfreich sein kann. So hat zum Beispiel Jean-Marie Vincent (2001: 207-220) treffend beschrieben, wie die Auslassung des Fetischtheorems Ernest Mandel zu einer einseitigen Sicht des Politischen geführt hat, die als Bedingung sine qua non seines revolutionären Glaubens begriffen werden muss, der ihn unter anderem 1967 dazu führte, aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums des Marx’schen Kapitals zu behaupten, es sei nicht wahrscheinlich, dass der Kapitalismus das 20. Jahrhundert überleben werde (Mandel 1968b). Mandel starb 1995 und konnte diese Hoffnung mitnehmen. Doch auf welchen Glaubenssätzen seine Erwartung beruhte, sei zum Schluss mit diesem Zitat dokumentiert:
168 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Trotz aller inneren Segmentierungen der Arbeiterklasse – all der ständig wiederkehrenden Erscheinungen der Spaltung nach Beruf, Nationalität, Rasse, Geschlecht, Generationen usw. – gibt es keine inneren strukturellen Hindernisse für eine umfassende Klassensolidarität der Arbeiter im Kapitalismus. […] Das gleiche gilt aber nicht für die bürgerliche Klassensolidarität. […] Privateigentum und Konkurrenz sind in der Natur der Kapitalistenklasse selbst enthalten. Die Konkurrenz unter Lohnabhängigen ist dagegen von außen auferlegt, aber in der Natur dieser Klasse strukturell nicht enthalten. Im Gegenteil, Lohnempfänger drängen normalerweise und instinktiv zur kollektiven Zusammenarbeit und Solidarität. Wie stark auch die Konkurrenz zwischen ihnen, speziell in Zeiten der ökonomischen Krise oder nach großen sozialen und politischen Siegen, periodisch reproduziert wird, sie kann immer durch die darauf folgenden Anstrengungen, das Klassenbewusstsein zu heben, überwunden werden, was durch die Fortschritte der Kapitalakkumulation unterstützt wird.« (Mandel 1991: 278-280)
In diesen Zeilen versöhnt Mandel auf für ihn charakteristische Weise die Wirtschafts- mit der Revolutionstheorie, ohne das eigentliche Bindeglied dieser Operation – das so genannte revolutionäre Subjekt – jemals zum Gegenstand der Analyse zu machen. Marxistische Philosophie Soziologisch weitaus anregender als die meisten Varianten marxistischer Ökonomie ist ohne Zweifel Louis Althussers Lektüre des Kapitals. Der französische marxistische Philosoph scheute nicht davor zurück, klassische Topoi des Marxismus – etwa zur Geschichtstheorie oder zum Verhältnis von Theorie und Praxis – grundsätzlich zu hinterfragen und führende Vertreter des klassischen Marxismus zu kritisieren. So trägt Althusser etwa in Lire le Capital eine unmissverständliche Kritik am Empirismus und Historizismus der Engels’schen KapitalLektüre vor (Althusser und Balibar 1972: 118-157; 193-210). Vor allem aber hat er wie kein anderer vorgeführt, dass Marx vom marxistisch geweihten Podest des vollendeten Denkers heruntergeholt werden muss, damit sich die Lektüre seiner Texte weiterhin lohnt. Der Marx in Louis Althussers Schriften ist einer, der Bahn brechende Überlegungen angestellt, aber nicht zu Ende geführt hat; der sich nicht immer bewusst war, was er mit seiner Ökonomiekritik tat und welche wissenschaftstheoretische Bedeutung dies hatte; der an verschiedenen Problemen, mit denen er sich immer wieder beschäftigte, zumindest teilweise gescheitert ist. Aufs engste verbunden mit diesem entzauberten Bild von Marx ist eine methodische Errungenschaft von Althusser: die symptomale (oder symptomatische) Lektüre.
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In der Einleitung zu Lire le Capital schreibt Louis Althusser, Marx habe die Klassiker der politischen Ökonomie selbst nach den Regeln der symptomalen Lektüre gelesen, allerdings ohne dies zu theoretisieren – vielleicht ohne es zu wissen (Althusser und Balibar 1972: 15-35). Eine solche Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass ein Text über Punkte zum Sprechen gebracht wird, zu denen er offensichtlich schweigt. Sie sucht zum Beispiel nach Fragen, auf die der Autor Antworten gibt, ohne sie formuliert zu haben. Im Zentrum von Louis Althussers Lektüre des Kapitals steht der Gedanke der strukturalen Kausalität: Er ist überzeugt, dass das Problem der »Einwirkung einer Struktur auf ihre Elemente« im Zentrum des Marx’schen Hauptwerks liegt, Marx aber nicht in der Lage gewesen ist, sich dessen vollständig bewusst zu werden und dafür einen adäquaten Begriff zu entwickeln. Es handle sich deshalb um eine zugleich unsichtbare und sichtbare, eine sowohl abwesende als auch präsente Stütze des ganzen Werks. »Vielleicht ist es nun erlaubt zu denken«, fährt er fort, »dass, wenn Marx an bestimmten Stellen seines Werkes so gekonnt mit hegelschen Formen ›spielt‹, dieses Spiel nicht einfach eine Mode oder ein sich-lustig-Machen ist, sondern – im vollen Sinne des Wortes – das Spiel eines realen Dramas, in dem alte Begriffe verzweifelt die Rolle eines abwesenden Begriffs übernommen haben und nun vergeblich versuchen, diesen namenlosen Begriff auf die Bühne zu rufen; dass sie dessen Anwesenheit also nur durch ihre Verlegenheit ›produzieren‹, durch die Diskrepanz zwischen Person und Rolle.« (Ebd.: 34-35)
Für Louis Althusser besteht kein Zweifel daran, dass das Marx’sche Hauptwerk nicht einfach nur ökonomische Theorien verbessert, sondern den Gegenstand der Ökonomie von Grund auf neu bestimmt hat. Was er als »Marx’ große theoretische Umwälzung« bezeichnet (Althusser und Balibar 1972: 244-261), besteht im Kern aus zwei Errungenschaften. Einerseits habe der Verfasser des Kapitals die Vorstellung jeder gegebenen Anthropologie des Subjekts, auf deren Grundlage die Ökonomie als natürlicher Gegenstand gedacht werden kann, verworfen. Anderseits habe er das Bild der Ökonomie als flacher Raum, in dem einfache transitive bzw. mechanische Kausalität herrscht, zerstört und durch analytische Beschreibungen eines tiefen und komplexen Raums, in dem regionale Strukturen wirksam sind, die wiederum durch eine übergeordnete ökonomische Struktur determiniert werden, ersetzt (ebd.: 245). Damit hat Marx für Althusser die Konturen einer neuen Art von Kausalität gezeichnet, die sich nicht auf die bei Leibniz und Hegel formulierte Vorstellung der expressiven Kausalität als Wirkungsmodus eines Ganzen auf seine Elemente reduzieren lasse. Während das Modell der expressiven Kausalität vom »inneren Wesen« des Ganzen ausgehe und die Elemente einer Totalität als dessen »phänomenale Ausdrucksformen« betrachte
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(ebd.: 251), sei die strukturale Kausalität eher nach einem Modell Spinozas zu denken: »Die Struktur ist ihren Wirkungen immanent, sie ist eine ihren Wirkungen immanente Ursache im Sinne Spinozas; ihre ganze Existenz besteht in ihren Wirkungen, und außerhalb ihrer Wirkungen ist sie als spezifische Verbindung ihrer Elemente ein Nichts.« (Ebd.: 254) Louis Althusser verwendet den psychoanalytischen Begriff der Überdeterminierung zur Konzeptualisierung jenes Problems, das Karl Marx produziert und bearbeitet habe, ohne es als solches zu formulieren. Er zitiert eine Stelle aus den Grundrissen um zu belegen, dass der Verfasser des Kapitals nach einem Begriff für diese strukturale Kausalität suchte: »In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluss anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und welche sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.« (Marx zit. in Althusser und Balibar 1972: 253)
Da Marx diese Begriffsarbeit nicht gelungen sei, habe er sich unklarer Begriffe bedient, etwa indem er von Wesen und Erscheinung oder innerem Zusammenhang und äußeren Kontingenzen der kapitalistischen Produktion schrieb; dies sind Begriffe, die Althusser dem Register der expressiven Kausalität zuordnet. Damit habe Marx eben doch »die wissenschaftstheoretische Differenzierung zwischen der Erkenntnis einer Realität und der Realität selbst auf die Wirklichkeit übertragen« (ebd.: 257), obwohl er in den Grundrissen genau dies nicht zu tun sich vorgenommen habe. Diese Unklarheit wirkt sich für Althusser insbesondere auf die Fetischistheorie aus, bei der Marx manchmal an falsches Bewusstsein der Menschen denken lasse, dann jedoch wiederum an objektive Erscheinungsformen des Kapitalismus (ebd.: 257-258). Dem Problem der strukturalen Kausalität wird Marx in Althussers Augen vor allem an den Stellen gerecht, in denen er den Kapitalismus als Mechanismus, als Triebwerk oder als Zusammenhang gesellschaftlichen Stoffwechsels beschreibt. Für besonders aufschlussreich hält er den Marx’schen Begriff der Darstellung: »Wenn wir diesen Begriff im Zusammenhang mit dem genannten ›Mechanismus‹ sehen, können wir ihn als die Existenzform dieses Mechanismus in seinen Wirkungen begreifen: als Existenzweise einer Inszenierung, eines Theaters, das zugleich Text, Bühne und Schauspieler repräsentiert und dessen Zuschauer nur gelegentlich Zuschauer sein können, weil sie zunächst gezwungenermaßen Schauspieler sind, Gefangene von Texten und Rol-
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len, deren Autoren sie nicht sein können. Denn dieses Theater ist seinem Wesen nach ein Theater ohne Autor.« (Ebd.: 260-261)
Die symptomale Lektüre dient Louis Althusser zu Folge nicht nur dazu, Texte zu lesen, sondern auch historische Prozesse und gesellschaftliche Realitäten zu untersuchen. Wie bei der Lektüre sind in der Erforschung der Realität Sehen und Versehen (oder Übersehen) immer miteinander verbunden. Deshalb gilt es stets zu fragen, wozu der Text beziehungsweise die praktizierte Sichtweise schweigt. In seinen ersten Schriften glaubte Marx laut Althusser an die Transparenz der Realität: »Für den jungen Marx ist die Erkenntnis des Wesens der Dinge, des Wesens der menschlichen Geschichte, ihrer ökonomischen, politischen, ästhetischen und religiösen Produkte gleichbedeutend mit dem Herauslesen (im wahrsten Sinne des Wortes) eines ›abstrakten‹ Wesens aus der Transparenz seiner ›konkreten‹ Erscheinung.« (Althusser und Balibar 1972: 16)
Von dieser naiven Lektüre habe sich Marx im Verlauf seiner Nachforschungen getrennt, und das Kapital »gibt genau die Distanz an, den Abstand, der dem Realen immanent, seiner Struktur gleichsam eingeprägt ist; der selbst deren Auswirkungen unlesbar macht und die Illusion einer unmittelbaren Lektüre der Realität zu ihrer letzten und umfassendsten Auswirkung werden lässt: dem Fetischismus« (ebd.: 17). Wie weit sich Louis Althusser damit vom Realismus des orthodoxen Marxismus – den ich mit Bezug auf Bucharin und Lenin angesprochen habe – entfernt, zeigt auch folgendes Zitat: »Der entscheidende Schritt, den man tun muss, wenn man den Grund des auf das Sehen bezogenen Versehens erkennen will, ist dieser: man muss die Vorstellung, die man sich gewöhnlich von der Erkenntnis macht, überprüfen, den Mythos von der Erkenntnis als einer Widerspiegelung und einer unmittelbaren Vision und Lektüre aufgeben, und die Erkenntnis als eine Produktion begreifen.« (Ebd.:26)
Das ist eine wichtige Aussage, aber Althusser macht nicht den Schritt zur emprisischen oder soziologischen Erforschung dieser Erkenntnisproduktion, weil er im philosophischen Denken verhaftet bleibt. Ohne Zweifel stellt Lire le Capital für jede soziologische Lektüre des Marx’schen Hauptwerks eine wertvolle Inspirationsquelle dar. So könnte der Begriff des »Gesellschaftseffekts« vertieft werden, den Althusser in folgenden Worten umschreibt: »Marx untersucht im ›Kapital‹ den Mechanismus, der be-
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wirkt, dass das Resultat einer historischen Produktion als Gesellschaft existiert.« Es geht also darum zu erforschen, warum das Ergebnis kapitalistischer Produktion »als Gesellschaft existiert und nicht als Sandhaufen, Ameisenhaufen, Werkzeuglager oder bloße Ansammlung von Menschen« (Althusser und Balibar 1972: 87; 88). Doch der zweite, durch Etienne Balibar verfasste Teil von Lire le Capital konzentriert sich leider nicht auf die Marx’sche Kapitalismusanalyse, sondern trägt allgemein die »Grundbegriffe des historischen Materialismus« vor – obwohl Althusser im ersten Teil ausführt, Das Kapital befasse sich mit der bürgerlichen Gesellschaft allein, betrachtet wie ein »als Gesellschaft funktionierende[r] Körper, indem [es] völlig von der Gesellschaft als Resultat einer Entwicklung abstrahiert« (ebd.: 87). Wenn Lire le Capital deshalb eine sehr anregende erkenntnistheoretische sowie lektüremethodische Reflexion vorträgt, bietet es nicht viel zur Kapitalismusanalyse von Marx: Die Analyse der gesellschaftlichen Formen des Kapitals verschwindet im zweiten Teil hinter der Erörterung überhistorischer Begriffe wie Produktionsweise, Produktivkräfte und gesellschaftlicher Reproduktion, und damit ist die für den Marxismus so charakteristische Unterordnung der Gesellschaftsanalyse unter die Geschichts- und Revolutionstheorie doch bis zu einem gewissen Grad wieder hergestellt. Es gibt aber mit Sicherheit ein grundlegenderes Hindernis für eine soziologische Aneignung der durch Louis Althusser geleisteten Kapital-Lektüre: Der französische Philosoph teilte die verbreitete marxistische Geringschätzung der Soziologie gegenüber, wobei diese Haltung bei ihm teilweise aus einer innermarxistischen Auseinandersetzung resultierte. Seine unerbittliche Kritik am marxistischen Humanismus ging mit einem wissenschaftlichen Selbstverständnis einher, auf Grund dessen er sich nie ernsthaft mit den Problemstellungen und Ergebnissen empirischer Sozialforschung auseinandersetzte, sondern diese en bloc als empiristisches Tun verurteilte (Vincent 2001: 125-132). Der französische Philosoph stellte sich gegen die Lesarten der Begründer des westlichen Marxismus wie Lukacs, Korsch oder Gramsci, welche den Bezug auf Frühschriften von Marx ins Zentrum stellten, um die Orthodoxie anzugreifen. Althusser hat ihnen vorgeworfen zu übersehen, dass Marx einen erkenntnistheoretischen Bruch vollzogen habe, der ihn von einer humanistischen und ideologischen Haltung in den Frühschriften zur wissenschaftlichen Untersuchung des Kapitalismus im Kapital führte. Gegen die durch Lukacs und Korsch formulierte Theorie der proletarischen Wissenschaft als Ausdruck der proletarischen Klassenlage und Praxis, die er für eine »idealistische und voluntaristische Marxismus-Interpretation« hielt, führte Louis Althusser die These von Lenin und Kautsky ins Feld, die den Marxismus als eine außerhalb des Proletariats entstandene
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und daraufhin in die Arbeiterklasse importierte beziehungsweise zu importierende Wissenschaft betrachteten (Althusser und Balibar 1972: 188-189). Louis Althusser (1964-65) hat seine Kritik am humanistischen Marxismus so weit zugespitzt, dass er den Begriff des Menschen als wissenschaftliches Konzept verwarf und menschliche Gesellschaften als einzige Subjekte der Geschichte betrachtete; in späteren Schriften sprach er von einer Geschichte ohne Subjekte. Marx habe seine Frühschriften noch auf den Glauben an eine gegebene menschliche Natur gestützt. Doch bereits in den Thesen über Feuerbach schrieb er: »[Das] menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Marx [1845] 1978: 6) Althusser interpretiert diese These als Aufforderung, die Erforschung des »konkreten, wirklichen Menschen«, wie es in der Deutschen Ideologie heißt, aufzugeben und stattdessen die Gesellschaft zu erforschen: »But it is then that the shocking paradox appears: once this displacement has really been put into effect, once the scientific analysis of this real object has been undertaken, we discover that a knowledge of concrete (real) men, that is, a knowledge of the ensemble of the social relations is only possible on condition that we do completely without the theoretical services of the concept of man (in the sense in which it existed in its theoretical claims even before the displacement). In fact, this concept seems to me useless from a scientific viewpoint, not because it is abstract! – but because it is not scientific. […] The concepts whereby Marx thought reality, which real-humanism pointed out, never ever again introduce as theoretical concepts the concept of man or humanism; but other, quite new concepts, the concepts of mode of production, forces of production, relations of production, superstructure, ideology, etc.« (Althusser 1964-65: 19)
Dieses Argument ist auf den ersten Blick soziologisch nachvollziehbar. Doch stellt sich die Frage, ob Louis Althusser nicht damit, dass er den erkenntnistheoretischen Bruch so absolut setzt, durch den Marx den Schritt von der Ideologie zur Wissenschaft vollzogen habe, ganz nebenbei seinen eigenen Verzicht auf die empirische Erforschung des »konkreten Menschen« rechtfertigt, der seine Schriften ebenso prägt wie die meisten einflussreichen Marxismen. Der Fokus auf Gesellschaft, Ökonomie und Geschichte zu Lasten des Erkenntnisinteresses an den Menschen, wie sie als historische und gesellschaftliche Wesen konkret leben und handeln, ist ein Hindernis für jede soziologische Aneignung von Louis Althussers Lektüre des Marx’schen Hauptwerks. Sie lässt zudem die verstreuten Überlegungen von Marx zur gesellschaftlichen Form der Individualität – in den Grundrissen – oder zu spezifischen Wahrnehmungsformen gesellschaftlicher
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Realität und deren praktischer Wirkungsmächtigkeit – etwa im dritten Band des Kapitals – unbeachtet. Wie Jean-Marie Vincent (2001: 125-132) schreibt, thematisieren verschiedene soziologische Ansätze den Zusammenhang sozialer Phänomene mit Formen der Intersubjektivität, ohne in Psychologisierung oder Behaviourismus zu verfallen; und bereits die soziologischen Klassiker haben diesbezüglich komplexe Problemstellungen formuliert, die nicht zuletzt den Finger auf Schwachstellen des Marxismus legten. Doch Louis Althusser hat es vorgezogen, eine große Theorie des historischen Materialismus zu entwickeln, statt sich sozusagen im Kleinen auf die Auseinandersetzung mit den interessantesten Vertreterinnen und Vertretern der empirischen Sozialwissenschaften einzulassen. Es ist gerade der dieses Überlegenheitsgefühl zur Schau tragende philosophische Diskurs an sich, den Pierre Bourdieu (1990: 146-168) aufs Korn nimmt, wenn er einen Aufsatz des Althusser-Schülers Etienne Balibars zu Lire le Capital humorvoll und polemisch kommentiert. Der französische Soziologe sieht in diesem Text, in dem Balibar über Balibar schreibt, einen »Wichtigkeitsdiskurs« am Werk, der »einen Diskurs über den Diskurs enthält, der keine andere Funktion hat, als die intellektuelle und politische Bedeutung des Diskurses und seines Autors zu unterstreichen« (ebd.: 148). Bourdieu lässt hier Marx mit Zitaten aus der Deutschen Ideologie über den französischen Marxisten spotten, dessen Ausführungen er mit der von Marx kritisierten »erzpriesterlichen« Sprache Stirners vergleicht. Bourdieu (ebd.: 115) sieht Marx neben Pascal und Nietzsche als Vorläufer der soziologischen Diskursanalyse, die mit den Merkmalen des rhetorischen Stils zugleich die sozialen Merkmale des Autors zu erfassen versucht: »Hinter einem bestimmten Stilelement steht für Marx die ganze philosophische Schule, die mit der Position und den Dispositionen des Autors auch dieses Stilelement hervorgebracht hat; in einem anderen entdecken Nietzsche wie Marx die immer gleichen erzpriesterlichen Strategien: Da gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben, ist es nicht verwunderlich, dass sich in Marx’ Polemik gegen Stirner Analysen finden, die wortwörtlich auch auf die französischen Marx-Lektüren zutreffen; oder dass besonders typische Stilmittel des Wichtigkeitsdiskurses bei theoretisch so weit auseinanderliegenden Philosophen wie Althusser und Heidegger anzutreffen sind, die ja auch den für den Status des Philosophen grundlegenden Sinn für hohe Theorie gemeinsam haben.«
Dies passt zu den Zeilen am Beginn von Lire le Capital, in denen Louis Althusser betont, wie wichtig es sei, das Kapital nicht als Ökonom, Historiker oder Logiker, sondern als Philosoph zu lesen, da nur die philosophische Lektüre nicht von einem gegebenen Gegenstand ausgehe, sondern die »spezifische Beziehung
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zwischen Gegenstand und Darstellungsweise« in Frage zu stellen vermöge (Althusser und Balibar 1972: 13). Es versteht sich von selbst, dass Althusser die Soziologie – hätte er sie der Erwähnung für wichtig genug befunden – auch in diese Reihe der im Vergleich zur Philosophie minderwertigen Wissenschaften gestellt hätte.
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Empirische Sozialforschung stellt für jede Theorie, die zum geschlossenen System geworden ist, eine Bedrohung dar. Es liegt ja im Begriff der Forschung selbst, dass deren Ergebnisse von den Erwartungen abweichen und sich ursprüngliche Erkenntnisinteressen ändern können: Solches ist als Gütekriterium eines guten Forschungsprozesses zu werten, keineswegs als Schwachpunkt oder als Folge von Fehlern der Forschenden. Dem orthodoxen Marxismus musste die Soziologie als empirische Wissenschaft stets als nutzlos, wenn nicht gefährlich erscheinen, da die so genannte sozialistische Wissenschaft die Wahrheit über die Gesellschaft bereits zutage gefördert habe und keinerlei empirischer Überprüfung bedürfe. Sogar in der so ausgefeilten Form, in welcher der Marxismus bei Louis Althusser auftritt, bleibt der Grat schmal zwischen fundierter Kritik am positivistischen Empirismus und dem Vorwand, mit dem die marxistische Philosophie vor den Unwägbarkeiten der Konfrontation mit empirischer Forschung bewahrt wird. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass es zwischen der Marginalisierung der Soziologie durch den Marxismus im Westen und deren vorübergehender Ausschaltung in der Sowjetunion zumindest einen gemeinsamen Nenner gibt: Die Angst vor der Erschütterung marxistischer Glaubenssätze durch empirische Forschung. Anderseits zeigt ein Blick auf die Geschichte des Verhältnisses zwischen Marxismus und Soziologie, dass für eine gegenseitige Befruchtung stets eine Infragestellung nicht nur antimarxistischer, sondern auch marxistischer Orthodoxie erforderlich war. In Russland hatte die Soziologie vor der Oktoberrevolution durchaus Fuß gefasst, etwa an der Universität von St. Petersburg, an welcher der bekannte Staatswissenschaftler und Soziologe Kovalevski wirkte. Nach der Revolution wurde zwar die nicht-marxistische Soziologie rasch eliminiert, aber marxistisch inspirierte Sozialforschung lässt sich noch bis Mitte der 1930er Jahre beobachten (Ahlberg 1969: 14). Wie erwähnt hatte Nikolaj Bucharin (1922) mit seinem Lehrbuch der marxistischen Soziologie das Fach vorübergehend sogar in den Rang der sowjetischen Königsdisziplin zu stellen vermocht. Bald schon unterlagen seine Anhänger allerdings in einer pseudo-wissenschaftlichen Auseinander-
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setzung, welche die sowjetische Philosophie der 1920er Jahre prägte, den Vertretern der durch Abram M. Deborin angeführten so genannten dialektischen Schule (Kolakowski 1979: 77-90). Der Ausgang des Kampfs zwischen ›Mechanisten‹ und ›Dialektikern‹ wurde 1929 auf der II. Allunionskonferenz der marxistisch-leninistischen Forschungsanstalten sanktioniert, als die Vertreter des »mechanizistischen Materialismus« für eine »Abweichung von der marxistischleninistischen Philosophie« verurteilt wurden. In der Folge wurde auch die marxistische Sozialforschung eingestellt, und die Soziologie stand als Inbegriff »bourgeoiser Pseudowissenschaft« da (Ahlberg 1969: 15-16). Stalins Kodifizierung des Marxismus (Kolakowski 1979: 106-121) sorgte dafür, dass drei Jahrzehnte lang in der sowjetischen Wissenschaft nicht von Soziologie die Rede sein durfte: Die Disziplin war faktisch verboten. Es ist natürlich kein Zufall, dass die sowjetische Soziologie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre rehabilitiert wurde, als sich die politische Führung ein gewisses Krisenbewusstsein und die Notwendigkeit von Reformen eingestand. Im Zeichen der durch Nikita S. Chruschtschow formulierten Maxime der friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Sozialismus nahmen 1956 erstmals sowjetische Wissenschaftler am III. Weltkongress für Soziologie in Amsterdam teil (Ahlberg 1969: 24), und nur zwei Jahre später wurde die Sowjetische Gesellschaft für Soziologie gegründet (Beliaev/Butorin 1982: 421). Die einzige soziologische Zeitschrift der Sowjetunion – Soziologische Forschung genannt – erschien ab 1974. Wie Liah Greenfeld (1988) betont, entwickelte sich die Soziologie nun als akademische Disziplin und empirische Forschung ganz im Dienst der sowjetischen (Reform-)Politik und genoss nur sehr begrenzte Freiheiten. In den 1980er Jahren wurde die bekannte Soziologin Tatiana Zaslavskaia zur Vordenkerin der Perestroika und persönlichen Beraterin Michael Gorbatschows (Gray 1994). Diese Einbindung der Soziologie in die Programme der sowjetischen Regierungspolitik hat wohl auch nicht dazu beigetragen, die im westlichen Marxismus verbreiteten Vorurteile dem Fach gegenüber in Frage zu stellen. Doch wenn die Soziologie im Westen nie marxistische Königsdisziplin war, so haben sich doch einige interessante marxistische Ansätze in dem Fach entwickelt. Auf zwei Beispiele möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels kurz eingehen: auf die kritische Theorie und die Arbeitssoziologie. Kritische Theorie Als das Institut für Sozialforschung 1924 an der Universität Frankfurt gegründet wurde, stand es explizit unter dem Banner des wissenschaftlichen Marxismus. Der erste Leiter war mit Carl Grünberg ein Vertreter des Austromarxismus. Der
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bis dahin an der Universität Wien tätige Staatswissenschaftler brachte auch sein Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung in das neue Institut ein. An der marxistischen Arbeitswoche von 1923, die der Institutsgründung vorausgegangen war, hatten sich auch Georg Lukacs und Karl Korsch beteiligt. Ihr Einfluss auf die Grundlegung der kritischen Theorie in den 1930er Jahren ist unübersehbar (Schmidt 1970). Doch die programmatischen Texte Max Horkheimers, der die Institutsleitung 1931 übernommen hatte, markieren zugleich eine gewisse Distanz zu deren Ansichten. Als parteipolitisch ungebundener Denker zeigte er sich skeptisch gegenüber dem totalisierenden Erkenntnisanspruch der marxistischen Philosophie und betonte zugleich die Notwendigkeit der empirischen Sozialforschung – zwei Brüche mit dem orthodoxen wie mit dem sich herausbildenden westlichen Marxismus (Anderson 1978), welche die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung geprägt haben. Die von Erich Fromm geleitete Untersuchung über das Bewusstsein der Arbeiter und Angestellten (Bonss 1980) war diesbezüglich ohne Zweifel eine Pionierleistung, die aus politischen Gründen – dem Siegeszug des Faschismus – leider nicht zu Ende geführt werden konnte: An die Stelle marxistischer Glaubenssätze über das revolutionäre Subjekt trat eine empirische Untersuchung, und die Ergebnisse waren nicht geeignet, revolutionäre Gewissheiten zu verkünden. In Max Horkheimers Essays der 1930er Jahre ist der Bezug auf Marx nur selten explizit, und doch scheint der Versuch allgegenwärtig, die Grundlegungen der kritischen Theorie auf die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie zu beziehen. Dies gilt etwa für den Aufsatz zum Problem der Wahrheit (Horkheimer 1935), in dem die Idealvorstellung einer offenen und unabgeschlossenen Dialektik nicht nur gegen die Metaphysik des Absoluten des deutschen Idealismus gestellt wird, sondern auch gegen Relativismus, Pragmatismus und marxistische Praxisphilosophie. Das Konzept des nie abschließbaren kritischen Denkens wurde später von Theodor W. Adorno (1966) zur Leitlinie seiner Negativen Dialektik gemacht. Horkheimers (1937) programmatischer Essay über Traditionelle und kritische Theorie enthält einen Abschnitt, in dem sich die Differenz zwischen dem Selbstverständnis eines als proletarische Wissenschaft verstandenen Marxismus und demjenigen der kritischen Theorie geradezu mit Händen greifen lässt: »Aber auch die Situation des Proletariats bildet in dieser Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis. Wie sehr es die Sinnlosigkeit als Fortbestehen und Vergrößerung der Not und des Unrechts an sich selbst erfährt, so verhindert doch die von oben noch geförderte Differenzierung seiner sozialen Struktur und die nur in ausgezeichneten Augenblicken durchbrochene Gegensätzlichkeit von persönlichem und klassenmäßigem Interesse,
178 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE dass dieses Bewusstsein sich unmittelbar Geltung verschaffe. An der Oberfläche sieht vielmehr die Welt auch für das Proletariat anders aus. Eine Haltung, welche seine wahren Interessen und damit auch die der Gesellschaft im ganzen nicht auch ihm selbst entgegenzusetzen imstande wäre, sondern ihre Richtschnur von Gedanken und Stimmungen der Massen hernähme, geriete selbst in sklavische Abhängigkeit vom Bestehenden. Der Intellektuelle, der bloß in aufblickender Verehrung die Schöpferkraft des Proletariats verkündet und seine Genugtuung darin findet, sich ihm anzupassen und es zu verklären, übersieht, dass jedes Ausweichen vor theoretischer Anstrengung, die er in der passiven Einstellung seines Denkens sich erspart, sowie vor einem zeitweiligen Gegensatz zu den Massen, in den eigenes Denken ihn bringen könnte, diese Massen blinder und schwächer macht, als sie sein müssen. Sein eigenes Denken gehört als kritisches, vorwärtstreibendes Element zu ihrer Entwicklung mit hinzu. Dass sie sich völlig unter die jeweilige psychologische Verfassung der Klasse unterordnen, die an sich die Kraft zur Veränderung darstellt, führt jene Intellektuellen zum beglückenden Gefühl, mit einer ungeheuren Macht verbunden zu sein, und in einen professionellen Optimismus. Wird dieser in Perioden schwerster Niederlagen erschüttert, so gerät mancher Intellektuelle in Gefahr, in ebenso bodenlosen sozialen Pessimismus und in Nihilismus zu verfallen, wie sein Optimismus übertrieben war. Sie ertragen es nicht, dass gerade das aktuellste, die geschichtliche Situation am tiefsten erfassende, zukunftsreichste Denken in bestimmten Perioden es mit sich bringt, seine Träger zu isolieren und auf sich selbst zu stellen. Sie haben die Beziehung von Revolution und Unabhängigkeit verlernt.« (Ebd.: 267-8)
Beide genannten Aufsätze enthalten Hinweise darauf, dass Max Horkheimer die Ware und den Tausch als die zwei Schlüsselkonzepte der Marx’schen Kapitalismusanalyse betrachtete. So schreibt er zum Beispiel Folgendes: »Die kritische Theorie der Gesellschaft beginnt also mit einer durch relativ allgemeine Begriffe bestimmten Idee des einfachen Warentausches; unter Voraussetzung des gesamten zur Verfügung stehenden Wissens, der Herbeiziehung aus fremden und eigenen Forschungen angeeigneten Stoffes wird dann gezeigt, wie die Tauschwirtschaft bei der gegebenen und sich freilich unter ihrem Einfluss verändernden Beschaffenheit von Menschen und Dingen, ohne dass ihre eigenen, von der fachlichen Nationalökonomie dargestellten Prinzipien durchbrochen würden, notwendig zur Verschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze führen muss, die in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation zu Kriegen und Revolutionen treibt.« (Horkheimer 1937: 278)
An anderer Stelle heißt es:
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»Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfasst. Aus dem allgemeinen Grundbegriff der Ware wird hier in rein gedanklicher Konstruktion derjenige des Wertes abgeleitet. Aus ihm entwickelt Marx die Kategorien von Geld und Kapital in einem geschlossenen Zusammenhang; alle historischen Tendenzen dieser Form der Wirtschaft, die Zusammenballung der Kapitalien, die sinkende Verwertungsmöglichkeit, Arbeitslosigkeit und Krisen sind mit diesem Begriff gesetzt, werden in strenger Folge abgeleitet. […] Gemäß der theoretischen Absicht, deren Gelingen hier nicht in Frage steht, soll die Erkenntnis aller gesellschaftlichen Prozesse auf ökonomischen, politischen und allen übrigen kulturellen Gebieten aus jener ursprünglichen Erkenntnis vermittelt werden.« (Horkheimer 1935: 351)
Vielleicht ist gerade in diesem Punkt von einem starken Einfluss Lukacs’ auf Horkheimer und auf die kritische Theorie allgemein auszugehen: Die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft geht in Geschichte und Klassenbewusstsein nicht vom Kapital als gesellschaftlicher Form und gesellschaftlichem Verhältnis aus, sondern von der Ware. Die ersten Zeilen des Aufsatzes über Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats sprechen es unmissverständlich aus: »Es ist keineswegs zufällig, dass beide großen und reifen Werke von Marx, die die Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen und ihren Grundcharakter aufzuzeigen unternehmen, mit der Analyse der Ware beginnen. Denn es gibt kein Problem dieser Entwicklungsstufe der Menschheit, das in letzter Analyse nicht auf diese Frage hinweisen würde, dessen Lösung nicht in der Lösung des Rätsels der Warenstruktur gesucht werden müsste. Freilich ist diese Allgemeinheit des Problems nur dann erreichbar, wenn die Problemstellung jene Weite und Tiefe erreicht, die sie in den Analysen von Marx selbst besitzt; wenn das Warenproblem nicht bloß als Einzelproblem, auch nicht bloß als Zentralproblem der einzelwissenschaftlich gefassten Ökonomie, sondern als zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Lebensäußerungen erscheint. Denn erst in diesem Falle kann in der Struktur des Warenverhältnisses das Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft aufgefunden werden.« (Lukacs [1922] 1983: 170)
Es wäre interessant der Frage nachzugehen, ob diese Kapitalismusanalyse auf Grundlage einer Verallgemeinerung des so genannten Warenproblems wiederum durch Friedrich Engels’ historizistische Lektüre des Kapitals beeinflusst war, der zu Folge Marx im ersten Abschnitt des ersten Bandes eine Analyse der einfachen Warenproduktion vorträgt, in deren Fortgang historische und begriffliche Entwicklung zusammenfallen. Jedenfalls lässt sich in dieser Fokussierung auf Warenförmigkeit der gemeinsame Nenner zahlreicher mehr oder weniger im
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Geiste der kritischen Theorie verfasster Studien erkennen, welche die Verdinglichung als zentrale Form kapitalistischer Entfremdung beschrieben haben. Deren kulturpessimistische Grundstimmung ließ sich hervorragend mit Max Webers Überlegungen zur Ambivalenz kapitalistischer Bürokratisierung und Rationalisierung verbinden, so dass Heinz Bude (2008: 24) sicherlich nicht zu Unrecht von einem durch Weber erweiterten Marx spricht, dem die »Basis in der Ökonomie« und die »Hoffnung auf die Geschichte« genommen worden sei. Typisch für solche Kapitalismusanalysen ist wie schon ansatzweise in Lukacs’ ([1922] 1983: 170-209) Geschichte und Klassenbewusstsein die Beschreibung passiver, kontemplativer und pathologischer Formen von Subjektivität, welche Menschen dazu führen, auf eine autonome Persönlichkeit zu verzichten. Eine Rückbesinnung auf den Kapitalbegriff vermöchte hingegen jene Selbstverhältnisse in den Blick zu nehmen, in denen Menschen sich aktiv zu sich selbst verhalten, weil sie sich als Unternehmer ihrer selbst begreifen und in ihr Humankapital zu investieren versuchen: Das sind Problemstellungen der soziologischen Kapitaltheorien, auf die ich in den folgenden zwei Kapiteln eingehen werde. Neben den Arbeiten von Karl Korsch und Georg Lukacs müssen diejenigen der in den 1920er und 1930er Jahren am Institut für Sozialforschung tätigen Ökonomen als Vermittlungen verstanden werden, auf die sich das MarxVerständnis der führenden Vertreter der kritischen Theorie stützte. Mehr noch als für Karl August Wittfogel (1931; 1962), der die durch Marx und Weber geleisteten Untersuchungen asiatischer Wirtschaftsformen aufgriff und für seine Analyse Chinas, des Faschismus und der Sowjetunion einsetzte, und für Henryk Großmann (1929), dessen Buch über marxistische Krisen- und Zusammenbruchstheorie als erster Band der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung erschien, gilt dies wohl für Friedrich Pollock, dessen Arbeiten an die Diskussionen zum Übergang von einem liberalen Kapitalismus zu einer durch Finanzkapital und Monopole geprägten Wirtschaft anknüpften. Nach einer umfangreichen Studie über die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion (Pollock 1929) publizierte er in der Zeitschrift des Frankfurter Instituts einen Aufsatz, der sich mit Möglichkeiten planwirtschaftlicher Neuordnung des Kapitalismus vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise auseinandersetzte. Pollock (1932: 27) gelangte darin zu dem Schluss, es seien »alle ökonomischen Voraussetzungen« für die Verwirklichung einer Planwirtschaft vorhanden, doch müsse mit dem Widerstand der Kapitaleigentümer gerechnet werden, die nicht zu »bloßen Rentenbezügern degradiert« werden möchten. Während dem Krieg veröffentlichte er zwei weitere wichtige Aufsätze, einen über den Staatskapitalismus (Pollock 1941a) und einen zum Nationalsozialismus (Pollock 1941b).
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Laut Helmut Dubiel hat insbesondere der zweite Aufsatz, in dem Pollock behauptete, dass es sich beim Nationalsozialismus um eine neue gesellschaftliche Ordnung handle, einen großen Einfluss auf die Entwicklung der kritischen Theorie gehabt. Während andere Protagonisten des Instituts für Sozialforschung – wie Franz Neumann oder Herbert Marcuse – die Ansicht vertraten, der faschistische Staat sei nichts weiter als die dem neuen Monopolkapitalismus angemessene politische Form, überzeugte Friedrich Pollock Max Horkheimer von seiner These, im Modell des faschistischen Staatskapitalismus sei die im Marxismus stets behauptete Herrschaft der Ökonomie über die Politik überwunden: »Die Faschisten hätten in Perversion sozialistischer Ziele das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie errichtet.« (Dubiel in Pollock 1975: S. 17) Die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Abwendung der kritischen Theorie von der Ökonomiekritik zu Gunsten der Kultur- und Wissenschaftskritik stützte sich auf Pollocks Staatskapitalismustheorie. Laut Dubiel (ebd.: 18-19) hat die Tatsache, dass Max Horkheimer und Theodor W Adorno (1947) ihre Schrift zur Dialektik der Aufklärung mit der Widmung »Zu Friedrich Pollocks 50. Geburtstag« versahen, durchaus eine tiefere inhaltliche Bedeutung: »Pollocks These einer wieder rein politischen und nicht mehr indirekt ökonomisch vermittelten Herrschaft bot nun Horkheimer und auch Adorno die politisch-ökonomische Rechtfertigung dafür, die Beschäftigung mit politischer Ökonomie nicht mehr für vordringlich zu halten.« Seit diesem Buch habe Max Horkheimer nicht mehr die Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, sondern »die im Zuge der Geschichte selbst sich durchsetzende instrumentell-technologische Vernunft in Gestalt irrationaler, anonymer bürokratischer Superstrukturen« als die treibende Kraft des historischen Prozesses betrachtet (ebd.: 18). Erst im Kontext von 1968 haben Autoren aus der Welt der Kritischen Theorie – wie Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt – sich wieder für die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie interessiert; sie zählen zu den Initiatoren der Neuen Marx-Lektüre in der Bundesrepublik Deutschland (Elbe 2008). Vielleicht hat es der erst spät zur Marx-Lektüre gekommene Walter Benjamin besser als andere Vertreter der Kritischen Theorie verstanden, eine Brücke zwischen Kulturtheorie und Ökonomiekritik zu schlagen. Sein etwas enigmatisches Fragment über den Kapitalismus als Religion (Baecker 2003) ist noch stärker durch Weber als Marx geprägt. Michael Löwy (2006: 216) ordnet es in eine Reihe antikapitalistischer Weber-Lektüren ein, zu der er auch Texte von Ernst Bloch, Erich Fromm oder Georg Lukacs zählt. Soziologisch sehr anregend ist die These, der Kapitalismus erzeuge unter den Menschen ein permanentes Schuldgefühl, aus dem sie nie ausbrechen können, auch wenn sie unaufhörlich seiner Religion dienen. Eindeutig durch die Marx’sche Fetischismustheorie in-
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spiriert ist aber die letzte und unabgeschlossene Schrift des eigenwilligen Denkers: Es handelt sich um das erst spät vollständig veröffentlichte PassagenWerk, in dem sich Walter Benjamin (1982) mit dem Pariser Stadtleben des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Wenn er die Passagen der französischen Hauptstadt als Tempel des Kapitals beschreibt, in denen der fetischistische Warenkult zelebriert wird, kommt nicht nur eine kapitalismuskritische Absicht zur Geltung (McCole 1985; Cohen 1989; Markus 2001). Im Kontrast zu der in der Kritischen Theorie vorherrschenden Sichtweise will Benjamin nicht die Kultur der einfachen Leute an einem noblen Bild von Kultur messen. Vielmehr geht es ihm darum zu verstehen, wie kapitalistische Alltagskultur als Verarbeitungsform konkreter Lebensbedingungen und Alltagserfahrungen funktioniert – dadurch erklärt sich der Bezug auf psychoanalytische Konzepte wie den Traum und das Aufwachen. Außerdem fragt er, ob in diesen »phantasmagorischen« Sichtweisen des Alltagslebens Ansätze für eine die Gesellschaft zum Positiven verändernde revolutionäre Praxis gefunden werden können. Wo Georg Lukacs falsches Klassenbewusstsein sieht, sucht Benjamin nach »dialektischen Bildern« oder Momenten des »Aufwachens«; wo die kritische Theorie die Verdummung der Menschen durch die Kulturindustrie diagnostiziert, ortet er ein widersprüchliches Spannungsverhältnis in den Massenmedien zwischen Unterwerfung und möglichen Ansätzen für Widerstand. Diese Idee einer »Dialektik der Mehrdeutigkeit« (Markus 2001), das heißt einer Dialektik, die durch Momente des Stockens oder des Stillstands geprägt ist, die sich in Bildern, Dokumenten und Dingen verkörpern, nach denen es in unterschiedliche Richtungen weitergehen kann, stellt eine theoretische Innovation dar, die nicht nur für die Literatur- und Kulturwissenschaften von Interesse ist, in denen das Passagen-Werk vor allem zur Kenntnis genommen wurde, sondern auch für die Soziologie. Arbeitssoziologie Ich komme zum zweiten Beispiel. Vermutlich war Marx in keiner anderen soziologischen Teildisziplin jemals so präsent wie in der Arbeitssoziologie, als sie in den großen westlichen Ländern den Status einer heimlichen Königsdisziplin genoss, das heißt in den 1970er und 1980er Jahren. Diese Beobachtung scheint der Behauptung von Karl Korsch ([1938] 1967: 94) Recht zu geben, im Zentrum des Marx’schen Hauptwerks stehe – anders, als dessen Titel suggeriert – nicht die Analyse des Kapitals, sondern jene der Arbeit, genauer gesagt des Arbeitsprozesses und der kapitalistischen Produktionsweise. Tatsächlich bezieht sich die arbeitssoziologische Literatur, wenn sie auf Marx zurückgreift, wohl meistens auf das Kapital und nur selten oder in Ergänzung dazu auf frühere
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Marx’sche Schriften. Es sind insbesondere zwei umfangreiche Abschnitte des ersten Bandes, welche das arbeitssoziologische Interesse auf sich gezogen haben: der dritte Abschnitt über die Produktion des absoluten Mehrwerts – darin insbesondere das achte Kapitel über den Kampf um die Dauer des Arbeitstages – sowie der vierte Abschnitt über die Produktion des relativen Mehrwerts, in dem die Entwicklung von der Manufaktur zur modernen Industrie mit ihrer Tendenz zur Bildung zunehmend komplexer und automatisch funktionierender Maschinensysteme beschrieben wird. Auch die kühnen Passagen der Grundrisse, die Marx der technologischen Entwicklung im Kapitalismus gewidmet hat, sind teilweise zur Kenntnis genommen worden. Die Begeisterung für diese in der Tat faszinierenden Abschnitte des Marx’schen Hauptwerks geht jedoch oft mit der Neigung einher, sie aus dem konzeptuellen Gesamtzusammenhang zu reißen und für sich allein zu lesen. Nur schon die Überschriften, die Marx dem dritten und vierten Abschnitt des ersten Kapital-Bandes setzte – Produktion des absoluten Merhwerts; Produktion des relativen Mehrwerts – erinnern daran, dass seine Analyse von Arbeitsprozess, Maschinerie und Produktionsweise theoretische Schritte voraussetzt – die Entdeckung der gesellschaftlichen Wertform, die Verwandlung von Geld in Kapital oder die Unterscheidung zwischen stofflicher und gesellschaftlicher Seite aller Prozesse – und sich in weitere solche einfügt – vor allem die Untersuchung der ineinander greifenden Kapitalkreisläufe und der in diesen Prozessen generierten Fetische – und erst dadurch ihre volle Erkenntnis generierende Kraft erlangt. Marx’ arbeitssoziologische Studien waren nicht als Selbszweck gedacht, sie dienen der Analyse des Kapitals als gesellschaftlicher Kraft und Form. Das Studium der arbeitssoziologischen Literatur zeigt, dass die Bezüge auf das Marx’sche Hauptwerk diesen konzeptuellen Gesamtzusammenhang meistens vernachläßigen. So haben viele Autorinnen und Autoren Das Kapital rezipiert, ohne auf die Kapitaltheorie einzugehen. Dennoch bietet die Arbeitssoziologie interessante Beispiele eines fruchtbaren Dialogs zwischen Marxismus und Soziologie, von denen ich an dieser Stelle nur einige kurz ansprechen kann. Die einflussreichsten Strömungen der deutschen Arbeitssoziologie der Nachkriegszeit sind alle stark durch je spezifische Bezüge auf Marx geprägt. Die Arbeiten des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Universität Göttingen zeichnen sich durch einen Fokus auf Zusammenhänge zwischen der technischen Prägung des Arbeitsplatzes und der Qualifikation und dem Klassenbewusstsein der Beschäftigten aus. Prägend für diese Forschungstradition waren drei Folgeuntersuchungen in denselben drei Industriezweigen (Automobil, Chemie, Werkzeugmaschinen), verteilt über einen Zeitraum von 25 Jahren (Kern und Schumann 1970; 1984; Schumann et al. 1994). Während die erste Studie zur
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Formulierung einer so genannten Polarisierungsthese führte, versuchten die Verfasser in den folgenden Untersuchungen eine zunehmende Verbreitung neuer Produktionskonzepte zu dokumentieren. Charakteristisch für die Studien am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München war der so genannte Betriebsansatz (Altmann, Bechtle und Lutz 1978), der sich auf die durch Burkart Lutz (1969) formulierte Differenzierung von Technisierung und Organisierung stützte. Dieser Ansatz fokussiert den einzelnen Betrieb als adäquate Untersuchungseinheit und betrachtet die Ausprägungen von Produktionstechnik und Arbeitsorganisation in erster Linie als Ergebnisse betrieblicher Strategien zur Sicherung von Herrschaft im Innern und von Handlungsfähigkeit gegen Außen. Die am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) verankerte Arbeitsund Industriesoziologie (Brandt 1990) war natürlich stark durch die Kritische Theorie beeinflusst. Prägend für diesen Ansatz war das so genannte Subsumptionstheorem, welches sich auf die Marx’sche Unterscheidung zwischen formeller und reeller Unterwerfung der Arbeit unter das Kapital bezieht. Sicherlich steht gerade dieser Ansatz der Marx’schen Kapitaltheorie näher als die beiden anderen, doch hat die Frankfurter Industriesoziologie die bei Marx so zentrale begriffliche Differenzierung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit ebenso wenig für ihre Untersuchungen fruchtbar gemacht wie dessen Theorie der Wertform von Arbeitsvermögen und Maschinerie und der mit diesen gesellschaftlichen Formen verbundenen fetischartigen Erscheinungs- und Wahrnehmungsformen. Während sich die deutsche Arbeits- und Industriesoziologie nach dem Zweiten Weltkrieg von Anfang an mit starkem Bezug auf Marx – wie auch auf Max Weber – entwickelt hat, setzte sich im angelsächsischen Raum der marxistische Einfluss erst in den 1970er Jahren durch. Die Veröffentlichung einer Studie von Harry Braverman (1974) eröffnete eine über einen längeren Zeitraum unter dem Stichwort der Labor Process Debate sehr engagiert geführte arbeitssoziologische Auseinandersetzung (Grint 2005: 176-188; Marrs 2010). Mit Bezug auf die Marx’sche Beschreibung des Arbeitsprozesses im ersten Band des Kapitals stand die Frage im Zentrum, ob und wie der Einsatz immer wieder neuer Produktionstechnologien die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit festigt. Während Braverman diesbezüglich ziemlich einseitig und technikdeterministisch argumentierte, betonten andere wichtige Beiträge die Art und Weise, wie im Betrieb erst einmal Konsens hergestellt werden muss (Burawoy 1979), oder dass die Anwendung neuer Produktionstechnologie stets ein umkämpftes Feld eröffnet (Edwards 1979), auf dem unterschiedliche Konfliktverläufe möglich sind. Diese Diskussion hat in der deutschen Industriesoziologie ein gewisses Echo gefunden. So wurden etwa die Thesen Bravermans durch die Projektgruppe Auto-
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mation und Qualifikation (1987) kritisiert, welche die Bedeutung der Technik als isoliertem Einzelfaktor relativierte und das Augenmerk auf die widersprüchlichen Arbeitsanforderungen legte, denen die Beschäftigten in den hoch automatisierten Betrieben ausgesetzt sind. In Frankreich wurde die Arbeitssoziologie nach dem Zweiten Weltkrieg durch zwei Autoren mit marxistischem Hintergrund begründet: Georges Friedmann und Pierre Naville. Die gemeinsame Veröffentlichung eines ersten Handbuchs der Arbeitssoziologie (Friedmann/Naville 1961-62) zu Beginn der 1960er Jahre bringt die zentrale Stellung der beiden klar zum Ausdruck. Die folgende Generation von Arbeitssoziologen – Autoren wie Alain Touraine, Pierre Rolle oder Michel Crozier – war stark durch deren Arbeiten und Konzepte geprägt. Während Georges Friedmann eine humanistisch orientierte Arbeitssoziologie betrieb, strebte Pierre Naville in seinen Untersuchungen nach einem sehr hohen Grad quantifizierbarer Empirie wie gesellschaftstheoretischer Konzeptualisierung. Friedmanns Arbeiten wurden in der deutschen Arbeitssoziologie durchaus zur Kenntnis genommen, jene von Naville hingegen kaum. Das ist ein Grund, warum es mir sinnvoll erscheint, auf das Werk des zweit genannten etwas ausführlicher einzugehen. Pierre Naville ist dem Marxismus treu geblieben, während Friedmann sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasch davon distanzierte. Navilles Biografie bietet ein interessantes Lehrstück zum Verhältnis von Marxismus und Soziologie. Zwischen Stuhl und Bank: Pierre Naville Nach der Zeit seines politischen Engagements – zunächst in der surrealistischen Bewegung, danach an der Seite von Leon Trotzki – begann Pierre Naville erst als gut 40jähriger eine akademische Laufbahn. Erste wissenschaftliche Arbeiten führte er nicht in der Soziologie durch, sondern im Feld der angewandten Psychologie. Während dem Krieg hatte Naville vorübergehend ein Berufsberatungszentrum geleitet und sich an einer großen Erhebung zum intellektuellen Niveau von Schulkindern beteiligt. Seine kritischen Publikationen über die Berufsberatung und das Verhältnis zwischen Schule, Berufsberatung und Berufsbildung (Henry 2007) stellten die naturalistischen Prämissen der angewandten Psychologie in Frage und waren im Kern bereits soziologisch ausgerichtet. François Vatin (2007: 251) betont, dass Pierre Naville gewissermaßen Grundzüge der später durch Pierre Bourdieu und sein Team entwickelten Theorie der sozialen Reproduktion vorweggenommen habe, indem er aufzeigte, dass die psychologische Messung der Fähigkeiten von einer unreflektierten Logik der sozialen Hierarchisierung durchdrungen ist. In der Psychologie wegen seinen kritischen Publikati-
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onen nicht mehr erwünscht, wechselte Naville zu Beginn der 1950er Jahre in die noch kleine soziologische Abteilung des Centre National de la Recherche Scientifique. Er verfasste eine umfangreiche Dissertation über die Entstehung der Arbeitssoziologie bei Marx und Engels (Naville 1957) und begann eine Reihe von Untersuchungen über die Formen und Auswirkungen der Automatisierung (Naville 1961; 1963). Bis zum Eintritt in den Ruhestand und darüber hinaus publizierte er weiter zu arbeitssoziologischen Fragen, wandte sich aber mehr und mehr auch der soziologischen Theorie im Allgemeinen zu. François Vatin (2007) betont, dass sich Navilles Leidenschaft für Zahlen und Rechnen seit der Zeit in der surrealistischen Bewegung wie ein roter Faden durch seine Schriften zieht. Wenn er auch die naturalistischen Grundlagen der angewandten Psychologie ablehnte, so blieb er doch stets dem Versuch treu, soziale Phänomene möglichst umfassend und genau quantitativ zu messen. Seine Lektüre des Marx’schen Hauptwerks fokussiert wohl nicht zuletzt aus diesem Grund so stark den Begriff der abstrakten Arbeit, weil Naville darin das Schlüsselkonzept für eine quantitative Untersuchung menschlicher Arbeitstätigkeiten erblickte. Dies hat ihn dazu geführt, qualitativen Aspekten der Marx’schen Kapitalismusanalyse wenig Aufmerksamkeit zu schenken, insbesondere den formtheoretischen Ausführungen oder dem Fetischtheorem. Doch mit der Zeit hat sich Navilles Erkenntnisinteresse von der Sozialstatistik in Richtung sozialer Logiken verschoben. Die letzten Schriften sind durch den Versuch geprägt, eine allgemeine Soziologie als Theorie sozialer Beziehungen zu schreiben. In den Automatisierungsstudien lässt sich diese Verschiebung ebenfalls beobachten: Während das Augenmerk zunächst auf quantitativen Daten liegt, wird daraufhin eine futurologisch anmutende Skizze präsentiert, mit der Naville (1963) eine industrielle Semiotik des Verhältnisses zwischen Menschen und Maschinen zu schreiben und Möglichkeiten einer parallelen und harmonischen Entwicklung von technischer und menschlicher Gesellschaft auszuloten versucht. Die Analyse der Lohnarbeit als gesellschaftliches Verhältnis ist in Navilles soziologischen Schriften von zentraler Bedeutung. Pierre Rolle (1988) hat diese Dimension des Werks und deren arbeitssoziologische wie gesellschaftstheoretische Tragweite herausgestellt. In diesem Sinne hat Pierre Naville die Schriften von Marx soziologisch gelesen. In der Einleitung seiner Dissertation hielt er etwa fest, der Verfasser des Kapitals sei nicht von einer Analyse der Arbeit ausgelangen, sondern erst die Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse habe ihn an diesen Punkt geführt. Genau so müsse die Arbeitssoziologie vorgehen: Wenn sie ihre Nase in den Forschungsgegenstand stecke, ohne sich über die sozialen Beziehungen Klarheit zu verschaffen, die diesen konstituieren, sei sie dazu verurteilt, an der Oberfläche stehen zu bleiben (Naville 1957: 3). An anderer
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Stelle hinterfragt er den Begriff der marxistischen Ökonomie und unterstreicht, Marx habe sich von einer rein ökonomischen oder technischen Analyse der Arbeit und des Produktionsprozesses verabschiedet, um diese als soziologische Tatbestände in den Blick zu nehmen (ebd.: 363). Pierre Navilles Arbeitssoziologie löst sich vom Fokus auf den konkreten Arbeitsplatz oder Betrieb und interessiert sich dafür, in welche Richtung die durch das Lohnarbeitsverhältnis geprägte Gesellschaft treibt. Im Gegensatz zur dominanten arbeitssoziologischen Diskussion beschäftigte ihn kaum die Kritik tayloristischer Zerstückelung der Arbeitstätigkeiten und deren allfällige Überwindung durch neue Formen der Arbeitsorganisation, viel mehr aber die Frage, inwiefern die dauerhafte Bindung einzelner Menschen an spezifische Tätigkeiten im Zuge technischer Veränderungen aufgelöst wird und welche emanzipatorischen Potenziale damit verbunden sind. In diesem Punkt sah sich Naville im Gegensatz zu Georges Friedmann, dessen Arbeitssoziologie ihm weiterhin durch eine von Proudhon stammende Orientierung am Ideal der Wiederherstellung ganzheitlicher Tätigkeit, wie sie für das mittelalterliche Handwerk charakteristisch war, geprägt schien. Für Naville war dies eine ebenso illusorische wie rückwartsgewandte Hoffnung. Kaum ein anderer Autor hat so systematisch wie Pierre Naville versucht, das Marx’sche Werk soziologisch zu lesen und für diese Disziplin fruchtbar zu machen. Die Originalität seiner Studien und Konzeptualisierungen steht außer Frage. Dennoch ist sein Werk auch in der französischen Soziologie – abgesehen von seiner Kritik an der Berufsberatung und einzelnen Ergebnissen der Automationsforschung – weitgehend in Vergessenheit geraten (Vatin 2007: 247-248). Vielleicht waren die Bedingungen der Originalität zugleich die Bedingungen der relativen Wirkungslosigkeit des Werks. Pierre Naville ist spät in die Soziologie eingestiegen und hat nie seine ganze intellektuelle Energie auf dieses Fach gerichtet, sondern weiterhin auch an philosophischen, politischen und künstlerischen Themen gearbeitet. Vor allem aber hat er stets politische und theoretische Positionen eingenommen, die ihn nicht nur in einer Minderheit verorteten, sondern in dieser Minderheit auch wiederum als heterodox erscheinen ließen. Diese Position der Minderheit in der Minderheit ist gerade für seine marxistischen Ideen (Alaluf 2007; Vincent 2001: 195-220) kennzeichnend: Pierre Naville war nicht nur Trotzkist – zumindest eine gewisse Zeit lang – und als solcher unorthodoxer Marxist; er befand sich oft auch in der trotzkistischen Bewegung in der Minderheit, zum Beispiel wenn er das sowjetische Regime als Staatssozialismus analysierte und im Osten gewisse Parallelen mit Entwicklungsdynamiken des westlichen Kapitalismus entdeckte, so etwa die Tendenz zur gegenseitigen Ausbeutung der Lohnabhängigen (exploitation mutuelle): Seine Forschungen ließen sich nicht mit der trotzkistischen These vom degenerierten Arbeiterstaat verein-
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baren. Navilles Marxismus war ebenso mehrfach heterodox geprägt wie seine Soziologie, und so konnten seine Schriften von der Aura, die der Marxismus in Frankreich während der Zeit von Sartre und danach genoss, nie erfasst werden. Für die Auseinandersetzung mit soziologischer Kapitaltheorie sind sie insofern von Interesse, als sie eine soziologische Lektüre des Kapitals enthalten, die den Begriff der abstrakten Arbeit ins Zentrum stellt, dieses Andere des Kapitals beziehungsweise diese für das Kapital in Form gebrachte Arbeit.
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Die im vorhergehenden Abschnitt kurz besprochenen Ansätze marxistischer Soziologie sind Beispiele dafür, dass es im 20. Jahrhundert durchaus möglich war, sozialwissenschaftliche Theorie und Forschung marxistisch zu befruchten und dadurch Aspekte des Marx’schen Werks für die Soziologie zu gewinnen. Allerdings stand der Kapitalbegriff kaum jemals im Zentrum solcher Verbindungen von Marxismus und Soziologie: Es handelt sich offensichtlich um eine Gemeinsamkeit des üblichen marxistischen wie soziologischen Bezugs auf Marx, andere Konzepte ins Zentrum zu rücken. Jedenfalls haben über Hundert Jahre Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Soziologie nicht zur Herausbildung einer soziologischen Kapitaltheorie auf Grundlage der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie geführt. Die heute etablierten soziologischen Konzepte sind auf anderen Wegen entstanden, und der Marxismus hat dabei kaum eine Rolle gespielt – allenfalls als Zielscheibe der Kritik oder als theoretische Gegenposition, die es zu bekämpfen galt. In den beiden folgenden Kapiteln werde ich die zwei Theorieysteme, die hinter den heute bekannten Kapitalbegriffen stehen, zum Gegenstand der Diskussion machen: die angelsächsische Humankapitaltheorie (Kapitel V) sowie die Soziologie Pierre Bourdieus (Kapitel VI). Für Michel Foucault (1978) war die Befreiung vom Marxismus aus politischen Gründen notwendig, weil dieser in seinen Augen dafür verantwortlich war, dass das 20. Jahrhundert im Vergleich zu früheren Epochen so arm an politischer Phantasie (imagination politique) sei, an menschlicher Fähigkeit, sich alternative Formen des Zusammenlebens und der politischen Organisation vorzustellen. Er sah den Marxismus als Gesamtheit der an die Schriften von Marx gebundenen Machtformen, die ihre Wirkungen als Partei- und Staatsphilosophien entfalten. Eine Rückbesinnung auf den wahren Marx oder auf Marx vor dem Marxismus erschien Foucault sinnlos – zum einen wohl, weil er die Aussagekraft des Marx’schen Werks auf Realitäten des 19. Jahrhunderts begrenzt sah, zum anderen aber sicher auch, weil er der Meinung war, dass eine solche Wahrheit gar
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nicht existiert. Zugleich stellt Foucaults Werk ein eindrückliches Beispiel dafür dar, wie Anregungen von Marx aufgegriffen und über Marx hinaus geforscht werden kann – nicht zuletzt, um den Marxismus zu kritisieren (Demirovic 2008). In diesem Geiste ist auch die soziologische Lektüre des Kapitals gedacht, die ich in der vorliegenden Arbeit skizziert habe. Das Kapitel zum Erbe des Marxismus hat an einigen Beispielen gezeigt, wie die Macht des Marxismus im 20. Jahrhundert die intellektuelle Phantasie im Umgang mit Marx ebenso beeinträchtigt hat wie das politische Vorstellungsvermögen, um das es Michel Foucault in erster Linie ging. Ohne Zweifel muss sich die soziologische Kapitaltheorie deshalb heute vom Marxismus befreien, wenn sie etwas Sinnvolles mit Marx anfangen will.
V. Humankapital und ökonomischer Imperialismus
Ausgehend von der Universität Chicago hat die Theorie des Humankapitals seit den 1960er Jahren weite Teile der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erobert und ist zur dominanten Sichtweise in unterschiedlichen Politikfeldern geworden. Doch die Wurzeln des Paradigmas reichen zurück bis zu den Klassikern der modernen Ökonomie, und es lässt sich bei Karl Marx eine Stelle finden, in der er sich zu der seines Erachtens »gedankenlosen Vorstellung« äußert, Arbeitskraft als Kapital zu betrachten. Ich greife im ersten Teil dieses Kapitels diese selten zitierten Zeilen aus dem dritten Band des Kapitals auf, bevor ich mit Bezug auf Texte der Gründerväter der modernen Humankapitaltheorie deren Prämissen und Hauptaussagen diskutiere. Genau der Gedankengang, über den sich Marx lustig machte, dient dem neuen ökonomischen Paradigma als Leitfaden. Für Michel Foucault war die Humankapitaltheorie ein wichtiger Pfeiler des amerikanischen Neoliberalismus. Sie wurde zugleich Trägerin einer veränderten Beziehung zwischen der Ökonomie und anderen Sozialwissenschaften: Immer mehr gelangte das ökonomische Raster auf Untersuchungsfeldern zur Anwendung, die dem Fach früher fremd waren. Mit Bezug auf die einflussreichen Sozialkapitaltheoretiker James S. Coleman und Robert D. Putnam diskutiere ich, wie die Sichtweise der Humankapitaltheorie Eingang in Soziologie und Politikwissenschaften gefunden hat und heute zum Beispiel die Entwicklungs- und Bildungspolitik prägt. Es hat sich sogar eine Strömung des Marxismus herausgebildet, die auf der ökonomischen Theorie menschlichen Handelns (Rational Choice) beruht: der analytische Marxismus. Wenn ich in diesem Kapitel die These verfolge, Kerngedanken der Humankapitaltheorie seien zur Doxa des Alltagsdenkens wie der sozialwissenschaftlichen Diskussion geworden, möchte ich nicht den falschen Eindruck erwecken, der ökonomische Imperialismus treffe auf keine Widersprüche oder habe kein einziges Gallisches Dorf übrig gelassen, in dem noch anders gedacht wird. Jede
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vertiefte Untersuchung einzelner Bereiche würde aufzeigen, dass die Ausbreitung des ökonomischen Denkens nicht wie auf einer Autobahn vorankommt, sondern sich auf umkämpften Feldern bewegt und auf verschiedene Hindernisse stößt. Mir geht es hier darum, auf allgemeiner Ebene über Erfolgsbedingungen des ökonomischen Paradigmas nachzudenken und an einigen Beispielen dessen Diffusion in der sozialwissenschaftichen Welt zu dokumentieren. Am Schluss dieses Kapitels greife ich das Marx’sche Konzept der Vulgärökonomie nochmals auf, welches sich meines Erachtens sehr gut auf das Phänomen der Humankapitaltheorie anwenden lässt. Dies zeugt von der Tiefe des theoretischen Bruchs, den Marx zumindest in Ansätzen gegenüber der Ökonomie an sich, das heißt nicht nur gegenüber einzelnen Theorien vollzogen hat. Die Humankapitaltheorie hat sich erst Jahrzehnte nach der marginalistischen oder neoklassischen Revolution in der Ökonomie entwickelt, die in den Jahren nach dem Tod von Marx einsetzte. Nicht wenige der Theorien und Konzepte, die der Verfasser des Kapitals kritisiert hat, sind heute in den Wirtschaftswissenschaften höchstens noch von marginaler Bedeutung. Aber seine Kritik trifft eben auch ein Selbstverständnis der Ökonomie, das in der Humankapitaltheorie noch blinder triumphiert als in den Schriften der Klassiker. Das ist der Grund, warum ich dieses Kapitel mit Marx beginne und auch mit Marx beende, was auf den ersten Blick überraschen mag.
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Der fünfte Abschnitt des dritten Kapital-Bandes, in dem sich Marx mit dem zinstragenden Kapital beschäftigt, hat Friedrich Engels bei der Bearbeitung besonders Kopfzerbrechen bereitet. Schließlich verzichtete er darauf, die vorliegenden Textteile vollständig zu integrieren, und veröffentlichte diesen Abschnitt in zwei Teilen. Beide sind überschrieben mit Spaltung des Profits in Zins und Unternehmergewinn. Verschiedene Passagen wurden unter dem Begriff des fiktiven Kapitals diskutiert, den Marx allerdings nirgendwo umfassend ausgeführt oder bestimmt hat. In der marxistischen Tradition bezieht sich das Konzept auf die Analyse ökonomischer Reproduktions- und Krisenprozesse des Kapitalismus. Das fiktive Kapital markiert dann einen Gegensatz zur und gleichzeitig ein Spannungsverhältnis gegenüber der Welt der realen Produktion und Kapitalakkumulation: Als oberster Parasit oder Blutsauger steht es über dem eigentlichen Produktionsprozess, eignet sich produzierten Reichtum an und diktiert dessen Produktionsbedingungen – je nach wechselnden Kräfteverhältnissen zwischen sozialen Klassen und Kapitalfraktionen. Diese Art marxistischer Kapitalis-
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musanalyse hat im Zusammenhang mit den Diskussionen über ein finanzgetriebenes Akkumulationsregime (Chesnais 1994; Zeller 2004) und den Druck, den die internationalen Finanzmärkte auf nationale Volkswirtschaften und Regierungen ausüben, an Einfluss gewonnen. Der Begriff des fiktiven Kapitals lässt sich meines Erachtens aber auch anders lesen und für eine soziologische Analyse kapitalistischer Alltagskulturen fruchtbar machen. Marx ([1894] 1964: 482) schreibt: »Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, dass jede bestimmte und regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht. Erst wird das Geldeinkommen in Zins verwandelt, und mit dem Zins findet sich dann auch das Kapital, woraus es entspringt. Ebenso erscheint mit dem zinstragenden Kapital jede Wertsumme als Kapital, sobald sie nicht als Revenue verausgabt wird; nämlich als Hauptsumme (principal) im Gegensatz zum möglichen oder wirklichen Zins, den sie tragen kann. Die Sache ist einfach: Gesetzt, der Durchschnittszinsfuss sei 5% jährlich. Eine Summe von 500 Pfd.St. würde also jährlich, wenn in zinstragendes Kapital verwandelt, 25 Pfd.St. einbringen. Jede feste jährliche Einnahme von 25 Pfd.St. wird daher als Zins eines Kapitals von 500 Pfd.St. betrachtet. Dies ist und bleibt jedoch eine rein illusorische Vorstellung, außer in dem Fall, dass die Quelle der 25 Pfd.St., sei diese nun ein bloßer Eigentumstitel resp. Schuldforderung oder sei sie ein wirkliches Produktionselement, wie etwa ein Grundstück, direkt übertragbar ist oder eine Form erhält, worin sie übertragbar wird.«
Wenn Marx schreibt, Geldeinkommen werde in Zins verwandelt, und mit dem Zins lasse sich das Kapital finden, aus dem es entspringt usw., handelt es sich um eine Beschreibung gedanklicher Vorgänge. Es geht allerdings nicht um vereinzelte individuelle Denkakte, sondern um weit verbreitete Formen des Wahrnehmens, die eine Wirkungsmacht über die denkenden Menschen und die Gegenstände ihres Denkens erlangen, so dass wir es – wie Marx ([1873] 1962: 90) an anderer Stelle schreibt – mit im Kapitalismus »gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen« zu tun haben. Wenn wir das fiktive Kapital unter diesem Gesichtspunkt betrachten, liegt das Augenmerk weniger auf den Gegensatz zum wirklichen Kapital als auf der Ausbreitung der gedanklichen Vorgänge, auf Grund derer alles Mögliche als Kapital betrachtet und behandelt wird. Marx ([1894] 1964: 484) weist zum Beispiel an der folgenden Stelle darauf hin, welche Wirkungen solche Gedankenformen auszuüben vermögen:
194 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren. Man kapitalisiert jede regelmäßig sich wiederholende Einnahme, indem man sie nach dem Durchschnittszinsfuß berechnet, als Ertrag, den ein Kapital, zu diesem Zinsfuß ausgeliehen, abwerfen würde; z.B. wenn die jährliche Einnahme = 100 Pfd.St. und der Zinsfuß = 5%, so wären die 100 Pfd.St. der jährliche Zins von 2000 Pfd.St., und diese 2000 Pfd.St. gelten nun als der Kapitalwert des juristischen Eigentumstitels auf die 100 Pfd.St. jährlich. Für den, der diesen Eigentumstitel kauft, stellen die 100 Pfd.St. jährliche Einnahme dann in der Tat die Verzinsung seines angelegten Kapitals zu 5% vor. Aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals geht so bis auf die letzte Spur verloren, und die Vorstellung vom Kapital als einem sich selbst verwertenden Automaten befestigt sich.«
Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen die Einkommensquelle die Form eines an der Börse oder auf anderen Finanzmärkten handelbaren Titels aufweist: »Die selbständige Bewegung des Werts dieser Eigentumstitel, nicht nur der Staatseffekten, sondern auch der Aktien, bestätigt den Schein, als bildeten sie wirkliches Kapital neben dem Kapital oder dem Anspruch, worauf sie möglicherweise Titel sind. Sie werden nämlich zu Waren, deren Preis eine eigentümliche Bewegung und Festsetzung hat. Ihr Marktwert erhält eine von ihrem Nominalwert verschiedne Bestimmung, ohne dass sich der Wert (wenn auch die Verwertung) des wirklichen Kapitals änderte.« (Ebd.: 485)
Das zinstragende Kapital erscheint Marx ([1894] 1964: 483) als »die Mutter aller verrückten Formen«, das heißt dieser eigentümlichen Gedankenformen, die das Leben im Kapitalismus prägen. Es ist bemerkenswert, dass er nicht nur die Staatsschuld, bei der sogar »ein Minus als Kapital erscheint« (ebd.), als Beispiel fiktiven Kapitals anführt, sondern auch die Arbeitskraft: »Der Arbeitslohn wird hier als Zins aufgefasst und daher die Arbeitskraft als das Kapital, das diesen Zins abwirft. Ist z.B. der Arbeitslohn eines Jahrs = 50 Pfd.St. und steht der Zinsfuß auf 5%, so gilt die jährliche Arbeitskraft als gleich einem Kapital von 1000 Pfd.St. Die Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise erreicht hier ihre Spitze, indem statt die Verwertung des Kapitals aus der Exploitation der Arbeitskraft zu erklären, umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt wird, dass Arbeitskraft selbst dies mystische Ding, zinstragendes Kapital ist. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (z.B. bei Petty) war dies eine Lieblingsvorstellung, die aber heutzutage in allem Ernst teils von Vulgärökonomen, teils und hauptsächlich von deutschen Statistikern gebraucht wird. Es treten hier leider zwei, diese gedankenlose Vorstellung unangenehm durchkreuzende Umstände ein, erstens, dass der Arbeiter arbeiten muss, um diesen Zins zu erhalten, und
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zweitens, dass er den Kapitalwert seiner Arbeitskraft nicht durch Übertragung versilbern kann.« (Ebd.: 483-484)
Wir werden im folgenden Abschnitt sehen, wie die Humankapitaltheoretiker des 20. Jahrhunderts mit diesen beiden Problemen umgegangen sind: Sie haben einerseits das Arbeiten als Investieren, das heißt als Abfolge rationaler Investitionsentscheide neu konzipiert, und anderseits den Begriff des Kapitals vom traditionellen Kriterium der Übertragbarkeit gelöst.
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Obschon die Humankapitaltheorie einige historische Vorläufer hat, wie etwa den von Marx genannten William Petty (1623-1687), ist es nicht schwierig, den Ort und Zeitpunkt ihrer Herausbildung als kohärentes theoretisches System zu bestimmen. Einige wenige Aufsätze, die um 1960 im amerikanischen Journal of Political Economy erschienen sind und durch Autoren verfasst wurden, von denen die meisten an der Universität Chicago unterrichteten und forschten, lassen sich als Geburtsurkunden des neuen ökonomischen Paradigmas nennen. Im Zentrum dieser Texte stehen zwei Problemstellungen, auf die mit der neuen Theorie eine Antwort gesucht wurde: die Erklärung ungleicher Einkommensverteilungen auf der einen und des starken Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit auf der anderen Seite. Mit dem ersten Problem befasst sich ein Aufsatz von Jacob Mincer (1958), der die bisherigen Versuche der Ökonomen, ungleiche Einkommensverteilungen zu erklären, rekonstruiert und kritisiert. Ein erster Ansatz ging davon aus, die Verteilung der Einkommen folge einer Gauss’schen Kurve der Normalverteilung, weil dies auch für die Fähigkeiten der Menschen gelte: So ließe sich das eine (Einkommen) aus dem anderen (Fähigkeiten) erklären. Doch Pareto zeigte auf, dass die Einkommensverteilung keineswegs einer Normalverteilung folgt, sondern eine verzogene Kurve spiegelt – mit relativ wenigen hohen bis sehr hohen Einkommen. In der Folge wurden verschiedene Erklärungsansätze formuliert, die den Einfluss dritter Faktoren betonten – etwa des Eigentums (Pigou) oder des Glücks (Gibrat). In den Augen des Verfassers haben diese Ansätze einen großen Nachteil: Sie beruhen auf nicht-ökonomischen Faktoren. Dagegen hält Mincer (ebd.: 283) fest: »Non-economic factors undoubtedly play an important role in the distribution of incomes. Yet, unless one denies the relevance of rational optimizing behaviour to economic activity in general, it is difficult to see how the factor of individual choice can be disregarded in
196 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE analyzing personal income distribution, which can scarcely be independent of economic activity. The starting point of an economic analysis of personal income distribution must be an exploration of the implications of the theory of rational choice.«
In diesen Zeilen springt der tautologische Charakter des Arguments ins Auge: Die Theorie der Einkommensverteilung muss von der Theorie rationaler Entscheide ausgehen, weil solche Entscheide im Zentrum der ökonomischen Aktivitäten stehen und Einkommen das Ergebnis ökonomischer Aktivitäten sind. So wird bereits an dieser Stelle die enge Verwandtschaft der Humankapitaltheorie mit dem Rational Choice Paradigma deutlich. Angeregt durch einen der führenden Ökonomen von Chicago, Milton Friedman, entwickelt Jacob Mincer in der Folge ein theoretisches Modell, das sich am Grundsatz der Kompensation (compensation principle) orientiert: Wenn Personen sich dafür entscheiden, in Bildung zu investieren, verzichten sie eine Zeit lang auf ein Einkommen, haben Kosten aufzuwenden usw.; dieser Entscheid ist aber rational, sofern er später in der Form von höheren Einkommen kompensiert wird. Mincer unterscheidet Ausbildungen verschiedener Dauer und berücksichtigt auch das Lernen bei der Arbeit (training on the job). Die verfügbaren statistischen Daten lassen Korrelation zwischen Ausbildungsformen und Einkommensniveaus berechnen, die unabhängig vom Einfluss dritter Faktoren existieren. Der Verfasser hält am Schluss fest, die Wahl des Kompensationsprinzips als Grundlage des Modells sei theoretisch interessant, weil es erkläre, dass sich selbst bei ganz gleicher Verteilung von Fähigkeiten und Chancen keine gleiche oder auch nur symmetrische Einkommensverteilung ergeben muss (Mincer 1958: 302). Ein zwei Jahre später erschienener Aufsatz von Theodore W. Schultz (1960) beschäftigt sich mit dem Problem des Wirtschaftswachstums. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich ein beträchtlicher Teil des Wachstums zwischen 1900 und 1956 in den USA nicht durch die herkömmlichen ökonomischen Theorien erklären lässt. Schultz versucht zu zeigen, dass der unerklärte Teil des Wirtschaftswachstums – oder zumindest ein ansehnlicher Teil davon – das Resultat von Investitionen in Humankapital ist. Zu diesem Zweck nimmt er Schätzungen vor, wie viele Ressourcen in dieser Zeitspanne in Bildung investiert wurden. Es handelt sich zum einen um Einkommen, auf die Personen vorübergehend verzichtet haben, um sich zu bilden. Zum anderen werden die Ausgaben der Bildungseinrichtungen erfasst. Der Verfasser kommt zu Ergebnissen, die ganz im Sinne seiner Hypothese sind: Zwischen 1900 und 1956 sind die in Humankapital investierten Ressourcen stärker angestiegen als andere Kapitalinvestitionen. So machten Bildungsausgaben zur Jahrhundertwende nur neun Prozent der Investitionen in physisches Kapital aus, gut 50 Jahre später aber bereits über 30 Pro-
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zent. Um den tatsächlichen Beitrag der Humankapitalinvestitionen an das Wirtschaftswachstum zu messen, müssen aber noch gewisse Aspekte genauer bestimmt werden, hält Schultz (ebd.: 583) abschließend fest: die jeweiligen Anteile von Konsum und Investition an den Bildungskosten, der Umfang des entstandenen Humankapitalstocks sowie die Höhe der Bildungsrenditen. Dieser Aufsatz enthält weitere, in konzeptueller Hinsicht interessante Ausführungen. Schultz (1960: 572) hält es für einen gravierenden Mangel der klassischen wie der neoklassischen Kapitaltheorie, das Humankapital ganz vergessen zu haben. Als positive Ausnahme unter den Neoklassikern nennt er Irving Fisher (1906), dem leider nur wenige Ökonomen gefolgt seien. Er lässt den Einwand nicht gelten, menschliche Fähigkeiten seien kein Kapital, da sie an die Person gebunden und nicht verkauft, geschweige denn als Eigentum institutionalisiert werden können: »Nevertheless, it is a form of capital if it renders a productive service of value to the economy.« (Ebd.: 571) Dieses enorm weite Verständnis von Kapital – alles, was einer Person oder der Wirtschaft etwas bringt – ist charakteristisch für die Humankapitaltheorie. Auch geht Schultz (ebd.: 572) auf die moralische Kritik ein, die der Ökonomie vorwirft, Kulturgüter als ökonomische Objekte zu betrachten: Die ökonomische Theorie stelle keineswegs in Frage, dass Bildung kulturelle Ziele verfolge, interessiere sich aber einfach für den ökonomischen Nutzen, die sie ebenfalls erzeugt. Schießlich präzisiert der Autor die Erklärungsansprüche der Humankapitaltheorie: Falls der beobachtete Anstieg der privaten sowie der öffentlichen Bildungsausgaben politisch oder kulturell motiviert war, sei die ökonomische Theorie dazu berufen nachzuweisen, wie dieser Prozess sich auf die Bildungsrenditen auswirke. Falls aber Konsum- und Investitionsverhalten die entscheidenden Triebkräfte hinter dem Anstieg der Bildungsausgaben seien, könne dieser Anstieg selbst wiederum ökonomisch erklärt werden (ebd.: 580-581). Nochmals zwei Jahre später gab das Journal of Political Economy ein Schwerpunktheft zum Humankapital heraus, in dem die Beiträge einer Konferenz zum Thema veröffentlicht wurden. Im einleitenden Aufsatz beschäftigt sich Schultz (1962) erneut mit dem unerklärten Teil des Wirtschaftswachstums und kritisiert den einflussreichen Wachstumsforscher Simon Kuznets dafür, die Bedeutung des Humankapitals nicht zu berücksichtigen. Der wichtigste Beitrag des Hefts stammt allerdings von Gary S. Becker, der in der Folge wie kein anderer als Vater der Humankapitaltheorie anerkannt werden sollte. Sein Aufsatz sticht durch die Ambition heraus, eine allgemeine Humankapitaltheorie zu formulieren, die sich nicht auf Bildungsinvestitionen beschränkt, sondern alle Tätigkeiten in den Blick nimmt, die sich auf zukünftiges Einkommen auswirken. So hält er zu Beginn fest:
198 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »This paper is concerned with activities that influence future real income through the imbedding of resources in people. This is called investing in human capital. The many ways to invest include schooling, on-the-job training, medical care, vitamin consumption, and acquiring information about the economic system. They differ in the relative effects on earnings and consumption, in the amount of resources typically invested, in the size of returns, and in the extent to which the connection between investment and return is perceived. But all improve the physical and mental abilities of people and thereby raise real income prospects.« (Becker 1962: 9)
Wer die folgenden Zeilen am Ende von Beckers (1962: 49) Aufsatz liest, kann sich vielleicht an den Marx’schen Spott über die illusorische Vorstellung erinnern, auf der das fiktive Kapital beruht: »We argue that a relevant concept should cover all activities with identical effects and show that the total amount invested in a generalized concept of human capital and its rate of return can be estimated from information on earnings alone.« (Ebd.: 49) Die Aufgabe ist aber doch nicht ganz so einfach, wie der Verfasser des Kapitals noch behauptete, wenn sie mit wissenschaftlichem Anspruch verfolgt wird: Wenn das Einkommen als Zins aufgefasst wird, lässt sich zwar ohne weiteres ein Kapital finden, aus dem es entspringt. Nur kann die Humankapitaltheorie nicht einfach von gegebenen Zinssätzen ausgehen, sondern muss Kapitalrenditen schätzen, um Rückschlüsse auf den Umfang des investierten Kapitals ziehen zu können. Dafür braucht es eine auf statistische Daten gestützte allgemeine Theorie, mit der verschiedene typische Fälle der Investition und Kapitalbildung berücksichtigt werden können. Zu deren Prämisse allerdings ist in der Tat genau der Gedankengang geworden, auf den der Marx’sche Spott zielte. Dass Erwerbseinkommen einem aus menschlichen Fähigkeiten bestehenden Kapital entspringen, wird als absolute Selbstverständlichkeit betrachtet, und braucht nicht weiter begründet zu werden: Es geht nur noch darum, diese unterstellte Kausalität zu messen und zu quantifizieren. Beckers allgemeine Formulierung der Humankapitaltheorie war der entscheidende Schritt hin zu deren Anwendung in allen möglichen Untersuchungsfeldern, weit über das Bildungssystem hinaus. In späteren Texten hat er das Konzept zudem vom alleinigen Fokus auf Tätigkeiten, die das zukünftige Einkommen erhöhen, gelöst und nicht monetäre Gewinne – wie eine bessere Gesundheit, oder Genuss und Erkenntnis durch erhöhte kulturelle Fähigkeiten – als Ergebnisse von Humankapitalinvestitionen miteinbezogen. »Schooling, a computer training course, expenditures on medical care, and lectures on the virtue of punctuality and honesty are capital too in the sense that they improve health, rai-
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se earnings, or add to a person’s appreciation of literature over much of his or her lifetime.« (Becker 1993a: 15-16) In der Verbindung von Humankapitaltheorie und Rational Choice Paradigma ist die ökonomische Theorie von Gary S. Becker und seinen Mitstreitern zu einer Sichtweise geworden, mit der die gesamte soziale Welt untersucht und erklärt werden kann. Für diese Leistung hat er 1992 den Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften erhalten. In seiner Rede zur Preisverleihung führt Becker die Grundideen dessen aus, was er als Economic Way of Looking at Behavior bezeichnet, und behandelt dabei Themen wie die Diskriminierung ethnischer Minderheiten, Verbrechen und Strafe, Bildungspolitik und Familienbeziehungen. Das Konzept des Gewinns, der durch rationale Entscheide und Investitionen angestrebt wird, ist sehr weit gefasst und lässt sich in etwa auf die Formel des to be better of reduzieren. Dasselbe gilt für den Begriff von Rationalität, wie die folgenden Zeilen verdeutlichen, in denen Karl Marx als einfach zu erledigender Pappkamerad kurz auftaucht: »Unlike Marxian analysis, the economic approach I refer to does not assume that individuals are motivated solely by selfishness or material gain. It is a method of analysis, not an assumption about particular motivations. Along with others, I have tried to pry economists away from narrow assumptions about self-interest. Behavior is driven by a much richer set of values and preferences. The analysis assumes that individuals maximize welfare as they conceive it, whether they be selfish, altruistic, loyal, spiteful or masochistic.« (Becker 1993b: 385-386)
Die ökonomische Theorie von Gary S. Becker zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine kleine Zahl relativ einfacher Konzepte und Postulate – wie Nutzen maximierendes Verhalten, stabile Präferenzen, Gleichgewicht der Märkte – zur Analyse aller Bereiche des privaten und sozialen Lebens einsetzt. Durch diese Brille lassen sich Haushalte ebenso als Kleinbetriebe betrachten wie Kinder als Konsumgüter und Konsumtätigkeiten als Humankapitalinvestitionen (Febrero/Schwartz 1995: xv-li). Gerade die Analyse der Familienbeziehungen ist zu einem zentralen Anwendungsfeld dieser Theorie geworden. Becker (1993b: 397) streicht nicht nur heraus, dass bereits kleine biologische Differenzen zwischen den Geschlechtern und eine schwache Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt ausreichen, damit Paare von einer strikten Rollentrennung traditioneller Art stark profitieren. Er argumentiert auch, dass ein liebevolles Verhalten von Eltern ihren Kindern gegenüber an die Erwartung gebunden ist, durch das Erzeugen von Gefühlen der Verpflichtung und Schuld dafür zu sorgen, dass die Kinder sich um die Eltern kümmern werden, wenn diese im Alter Unterstützung
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benötigen. Wenn aber der Staat eingreift und eine gute Altersvorsorge zusichert, geht die Rationalität dieses Verhaltens verloren. »Consider, for example, a program that transfers resources to the elderly, perhaps especially to poorer families who do not leave bequests, that reduces the elderly’s dependence on children. According to the earlier analysis I gave, parents who do not need support when they become old do not try as hard to make children more loyal or guiltier or otherwise feel as well disposed toward their parents. This means that programs such as social security that significantly help the elderly would encourage family members to drift apart emotionally, not by accident bus as maximizing responses to those policies.« (Ebd.: 401)
Indem Becker das Gefühlsleben einer Familie nur unter dem Aspekt von Schuldund Pflichtgefühlen in den Blick zu nehmen vermag, muss ihm der Sozialstaat zwangsläufig als Instanz erscheinen, die das Familienleben bedroht. Es springt ins Auge, wie oft diese ökonomischen Analysen der Geschlechterverhältnisse und Familienbeziehungen traditionelle Rollenmuster als Ergebnisse rationaler Entscheidungen erklären und verklären. Gary S. Beckers revolutionäre ökonomische Theorie verträgt sich bestens mit konservativen gesellschaftspolitischen Ideen. Vermutlich hat dies etwas mit dem Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Theorie und Alltagsvorstellungen der Menschen zu tun. In der Nobel Lecture betont Becker, er betrachte solche Vorstellungen als Ausgangspunkt seiner theoretischen Modelle (was ein bisschen an Lenins ([1909] 1962: 61) Ausführungen erinnert, welche den »naiven Realismus jedes gesunden Menschen« zur Grundlage der materialistischen Erkenntnistheorie stilisieren). Becker (1993b: 395-396) schreibt: »The point of departure of my work on the family is the assumption that when men and women decide to marry, or have children, or divorce, they attempt to raise their welfare by comparing benefits and costs. So they marry when they expect to be better off than if they remained single, and they divorce if that is expected to increase their welfare. People who are not intellectuals are often surprised when told that this approach is controversial since it seems obvious to them that individuals try to improve their welfare by marriage and divorce. The rational choice approach to marriage and other behaviour is in fact often consistent with the instinctive economics ›of the common person‹. Still, intuitive assumptions about behavior are only the starting point of systematic analysis, for alone they do not yield many interesting implications.«
Der für die Soziologie zentrale Gedanke eines erkenntnistheoretischen Bruchs mit den Alltagsvorstellungen ist der Humankapitaltheorie fremd, und die Kom-
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plizenschaft zwischen Wissenschaft und gesundem Menschenverstand hat nicht nur bei Lenin, sondern auch bei Becker problematische politische Auswirkungen. Auf diese politischen Bedeutungen der Humankapitaltheorie gehe ich im folgenden Abschnitt ein.
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Die Humankapitaltheorie hat seit ihrer Erfindung große Erfolge gefeiert. Sie ist nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in verschiedenen Politikfeldern zum einflussreichen theoretischen Bezugspunkt geworden. Gary S. Becker (1993a: 16) blickt mit den folgenden Worten auf diese Erfolgsgeschichte zurück: »It may seem odd now, but I hesitated a while before deciding to call my book Human Capital – and even hedged the risk by using a long subtitle. In the early years, many people were criticizing this term and the underlying analysis because they believed it treated people like slaves or machines. My, how the world has changed! The name and analysis are now readily accepted by most people not only in all the social sciences, but even in the media. I was surprised when a few months ago Business Week magazine had a cover story titled ›Human Capital‹. And more amazing still, this has been their most popular cover story in several decades.«
Das Prestige der Ökonomen von Chicago dokumentiert sich in sechs Nobelpreisen zwischen 1976 und 1995. Unter den Preisträgern sind Milton Friedman, Theodore W. Schultz und Gary S. Becker zu finden. Dies allein deutet an, in welchem Ausmaß die Humankapitaltheorie auch politisch zu einem bedeutsamen Phänomen geworden ist. Michel Foucault (2004) hat das Ineinandergreifen von ökonomischer Theorie und Regierungsprogrammatik ins Zentrum seiner gouvernementalitätstheoretischen Vorlesungen am Ende der 1970er Jahre gestellt und dabei die Humankapitaltheorie als einen wichtigen Pfeiler des amerikanischen Neoliberalismus untersucht. Foucaults Lektüre Wenn wir der Lektüre des französischen Philosophen folgen, stellt die Humankapitaltheorie in doppelter Hinsicht eine grundlegende Weiterentwicklung früherer liberaler Theorien der Ökonomie dar: Sie leistet sozusagen einen Vorstoß ins Innere der Ökonomie, indem die Arbeit als Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften völlig neu konzipiert wird, sowie einen Vorstoß gegen außen, indem sie
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die Ökonomen – wie wir bereits gesehen haben – anleitet, Phänomene zu untersuchen, die bisher als anderen wissenschaftlichen Disziplinen zugehörig erschienen, insbesondere den Sozial- und Geisteswissenschaften (Foucault 2004: 305). Der Vorstoß gegen Innen beruht auf einer Kritik daran, wie die klassische und auch die bisherige neoklassische Ökonomie über Arbeit nachgedacht hat. Als Produktionsfaktor betrachtet blieb die Arbeit ein abstraktes Phänomen, das auf Quantität und Zeit reduziert wurde. Ihre innere Rationalität blieb unerforscht, sie war »gewissermaßen das weiße Blatt, das die Ökonomen nicht beschrieben haben« (ebd.: 306). Mit dieser reduktionistischen Sichtweise brechen die Theoretiker des Humankapitals. Sie nehmen qualitative Ausprägungen der Arbeit – vor allem jene, die mit Bildung verbunden sind – in den Blick und untersuchen deren wirtschaftliche Auswirkungen. Im Zentrum der ökonomischen Analyse sollen nicht mehr Zusammenhänge zwischen Dingen und Prozessen (Investitionen, Produktion, Märkte usw.) stehen, sondern die Rationalität des menschlichen Verhaltens, insbesondere das Verhalten der arbeitenden Menschen, die erstmals in der Geschichte der ökonomischen Theorie als aktive Wirtschaftssubjekte betrachtet werden (ebd.: 311). In einer der Vorlesungen trägt Michel Foucault ein bemerkenswertes Gedankenexperiment vor: Er fragt sich, was die amerikanischen Neoliberalen zur Kapitalismusanalyse von Marx sagen würden, wenn sie dessen Werk gelesen hätten. Diese hypothetische Kritik würde den Verfasser des Kapitals mit der klassischen ökonomischen Theorie treffen und politische Konsequenzen verschiedener Konzeptualisierungen von Arbeit herausstellen. Laut Foucault (2004: 307-308) würden die Humankapitaltheoretiker Marx etwa so kommentieren: »Es ist richtig, dass Marx die Arbeit zum Angelpunkt, zu einem der wesentlichen Angelpunkte seiner Analyse macht. Was tut Marx aber, wenn er die Arbeit analysiert? Was aber verkauft nach Marx der Arbeiter? Nicht seine Arbeit, sondern seine Arbeitskraft. Er verkauft seine Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit, und zwar gegen einen Lohn, der auf Grundlage einer bestimmten Marktsituation festgesetzt wird, die dem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage in bezug auf die Arbeitskraft entspricht. Und die Arbeit, die der Arbeiter leistet, schöpft einen Wert, von dem ihm ein Teil entrissen wird. In diesem Prozess sieht Marx natürlich die Mechanik oder die Logik des Kapitalismus. Worin besteht diese Logik? Nun, in Folgendem: Die Arbeit ist durch dies alles ›abstrakt‹, d.h., dass die in Arbeitskraft verwandelte konkrete Arbeit, die zeitlich gemessen, auf den Markt gebracht und durch einen Lohn vergütet wird, nicht die konkrete Arbeit ist. Es handelt sich vielmehr um eine Arbeit, die ihrer ganzen menschlichen Wirklichkeit und all ihrer qualitativen Variablen entledigt ist, und die ökonomische Mechanik des Kapitalismus –
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genau das zeigt Marx –, die Logik des Kapitals behält von der Arbeit gerade nur die Kraft und die Zeit zurück.«
Diese Abstraktion der Arbeit betrachtet Marx als notwendige Auswirkung des Kapitalismus, als zentralen »Fehler des Kapitalismus selbst«. An diesem Punkt würden die amerikanischen Ökonomen laut Foucault (2004: 308-309) aber die Marx’sche Analyse kritisieren und sagen: »Diese Abstraktion der Arbeit, die eigentlich nur durch die Variable der Zeit erscheint, ist keine Tatsache des wirklichen Kapitalismus, sondern eine Tatsache der ökonomischen Theorie, die man über die kapitalistische Produktion aufgestellt hat. Die Abstraktion geht nicht aus der wirklichen Mechanik der Wirtschaftsprozesse hervor, sondern aus der Art und Weise, wie man über diese Prozesse in der klassischen Ökonomie nachgedacht hat. Und gerade weil die klassische Ökonomie nicht in der Lage war, diese Analyse der Arbeit in ihrer konkreten Ausgestaltung und in ihren qualitativen Modulationen zu berücksichtigen, weil sie dieses Blatt unbeschrieben gelassen, weil sie diese Lücke, diese Leerstelle in ihrer Theorie gelassen hat, baute man auf der Arbeit in überstürzter Weise eine ganze Philosophie, Anthropologie, Politik usw. auf, deren Vertreter eben Marx ist. Man muss folglich keineswegs die gewissermaßen realistische Kritik von Marx fortführen, die dem wirklichen Kapitalismus vorwirft, die Wirklichkeit von der Arbeit abstrahiert zu haben. Man muss vielmehr die theoretische Kritik über die Art und Weise führen, wie die Arbeit im ökonomischen Diskurs selbst abstrakt wurde.«
Die Theoretiker des Humankapitals stellen also ihr konkret oder qualitativ gedachtes Bild von Arbeit her, indem sie die Existenz gesellschaftlicher Prozesse der Realabstraktion negieren und die Produktion gedanklicher Abstraktionen in den Wirtschaftswissenschaften kritisieren. Wenn die Ökonomen aus Chicago, wie Michel Foucault (2004: 311) schreibt, sich »auf den Standpunkt des Arbeiters stellen« und diesen nicht mehr als Objekt, sondern als handelndes Subjekt untersuchen, legen sie das Augenmerk auf die Arbeit als »praktiziertes ökonomisches Verhalten, das vom Arbeiter eingesetzt, rationalisiert und berechnet wird«. Sie interessieren sich dafür, wie die Menschen sich zu ihrer Arbeit verhalten, insbesondere für die rationalen Entscheide, die sie mit dem Ziel der Nutzenmaximierung fällen, etwa betreffend Bildung und Berufswahl. Damit kommt eine neue Figur des Homo oeconomicus in den Blick, der nicht mehr – wie in der klassischen Nationalökonomie – ein tauschender Mensch ist, sondern ein Unternehmer seiner selbst; ein Mensch, »der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle« (ebd.: 314). Diese innere Verschiebung des Gegenstands der ökonomischen Theorie im amerikani-
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schen Neoliberalismus lässt nun allerdings traditionelle Formen der Ökonomiekritik ins Leere laufen. Das gilt für den auf die makroökonomischen Zusammenhänge fokussierten Marxismus wie für die an Warenform und Tausch ausgerichtete kritische Theorie. Michel Foucault (2004: 315) spricht die Hilflosigkeit der Kritik angesichts der ökonomischen Theorie des amerikanischen Neoliberalismus in einem Punkt explizit an. Wenn der Konsum wie bei Gary S. Becker nicht mehr als Tauschprozess, sondern als Investition und Produktion betrachtet wird, das heißt als Prozess, in dem der Konsument seine eigene Befriedigung produziert, läuft eine Art der Kritik ins Leere, welche die klassische ökonomische Theorie noch zu treffen vermochte: »Und daher ist die klassische und hundertmal wiedergekäute Analyse und Theorie des Konsumenten, der auch Produzent ist und der, insofern er einerseits Produzent und andererseits Konsument ist, in sich selbst gespalten ist, alle soziologischen (denn sie waren nie ökonomisch) Analysen des Massenkonsums, der Konsumgesellschaft usw., das alles trifft die Sache nicht und ist wertlos geworden gegenüber einer Analyse des Konsums in den neoliberalen Begriffen der Produktionsaktivität.«
Um den Kern der Wirtschaftstheorie des amerikanischen Neoliberalismus zu treffen, so wäre über Foucalts Lektüre hinaus zu sagen, ist dagegen eine Ökonomiekritik gefragt, die dem Paradigma des Rational Choice eine alternative Handlungstheorie entgegen stellt sowie die Naturalisierung der Kapitalform, die im Bild des Selbstunternehmers zur Geltung kommt, zum Gegenstand der Analyse macht. So ließe sich zeigen, dass der Arbeiter, den die Humankapitaltheorie als aktives Wirtschaftssubjekt vorstellt, in Wirklichkeit gar kein Arbeiter ist, das heißt kein sinnlich und alltagspraktisch arbeitendes Wesen, sondern ein Investor, dessen Leben aus einer Abfolge von rationalen Entscheiden besteht, durch die er Gewinne erzielen will. Anders gesagt haben die Ökonomen aus Chicago eine gedankliche Abstraktion durch eine andere ersetzt und sind dem, was der junge Marx den wirklichen Menschen nannte, in keiner Weise näher gekommen. Den Vorstoß der Humankapitaltheorie gegen außen beschreibt Michel Foucault (2004: 332) als eine »Umkehrung des Verhältnisses des Sozialen zum Wirtschaftlichen«, auf Grund derer nicht mehr die Ökonomie als Teil der Gesellschaft erscheint, sondern alle gesellschaftlichen Phänomene als Manifestationen ökonomischer Gegebenheiten betrachtet werden. Anders gesagt wird das Ökonomische im amerikanischen Neoliberalismus zum allgemeinen »Prinzip der Verständlichkeit, [d.h. zum] Prinzip der Deutung sozialer Beziehungen und individueller Verhaltensweisen« gemacht (ebd.: 336). Selbstverständlich werden
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dadurch die Beziehungen zwischen Ökonomie und Soziologie nicht weniger stark tangiert als die Funktionsweisen von Politik und Regierungstätigkeit: »Die zweite interessante Verwendung dieser Analysen der Neoliberalen besteht darin, dass das ökonomische Raster die Prüfung des Regierungshandelns und die Bemessung seiner Gültigkeit ermöglichen kann und soll, dass es ermöglicht, den Handlungen der öffentlichen Macht ihren Missbrauch, ihre Überschreitungen, ihre übermäßigen Ausgaben vorzuhalten. Kurz, bei der Anwendung des ökonomischen Rasters geht es dieses Mal nicht mehr darum, soziale Prozesse zu verstehen und sie verständlich zu machen; es geht vielmehr darum, eine ständige Kritik des politischen Handelns und des Regierungshandelns zu verankern und rechtfertigen. Es geht darum, jede Handlung der öffentlichen Gewalt in Begriffen des Spiels von Angebot und Nachfrage, in Begriffen der Wirksamkeit bezüglich der Vorgaben dieses Spiels, in Begriffen der Kosten, die ein bestimmter Eingriff der öffentlichen Gewalt in das Gebiet des Markts impliziert, zu überprüfen.« (Ebd.: 340-341)
Vor diesem »ständige[n] ökonomische[n] Tribunal« (Foucault 2004: 342) müssen Politik wie Sozialwissenschaften bestehen, seit sie in den Gegenstandsbereich der ökonomischen Theorie geraten sind. Der mit dem Vorstoß der Humankapitaltheorie gegen außen verbundene Erkenntnisanspruch wird auch als ökonomischer Imperialismus bezeichnet. Es handelt sich keineswegs um einen kritischen oder polemischen Begriff, sondern um einen von Anhängern eben dieser Theorie formulierten Ausdruck, das heißt um eine Affirmation entgrenzter wirtschaftswissenschaftlicher Geltungsansprüche. Gary S. Becker hat sich als ökonomischer Imperialist bezeichnet, etwa in der Zeitschrift Religion & Liberty (Becker 1993c). Eine besonders explizite Affirmation von Geltungsansprüchen findet sich in einem Papier des amerikanischen National Bureau of Economic Research. Der Text beginnt mit folgenden Sätzen: »By almost any market test, economics is the premier social science. The field attracts the most students, enjoys the attention of policy makers and journalists, and gains notice, both positive and negative, from other scientists. In large part, the success of economics derives from its rigor and relevance as well as from its generality. The economic toolbox can be used to address a large variety of problems drawn from a wide range of topics.« (Lazear 1999: 1)
Etwas später führt der Verfasser aus:
206 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »At least during the last four decades, economics has expanded its scope of inquiry as well as its sphere of influence. Neither luck nor the inherent charm of economists is responsible for the change. Rather, the ascension of economics results from the fact that our discipline has a rigorous language that allows complicated concepts to be written in relatively simple, abstract terms. The language permits economists to strip away complexity. Complexity may add to the richness of description, but it also prevents the analyst from seeing what is essential.« (Ebd.: 1-2)
Und für Leserinnen und Leser, welche die Botschaft noch nicht verstanden haben sollten, fasst Lazear nochmals zusammen: »There are two claims made in this essay. The first is that economics has been imperialistic and the second is that economic imperialism has been successful.« (Ebd.: 6) Doch die Ausdehnung des Einflussbereichs der ökonomischen Theorie vollzieht sich nicht nur durch die Arbeiten der Ökonomen, sondern auch über Vertreterinnen und Vertreter anderer Disziplinen, die zentrale Prämissen und Konzepte der Humankapitaltheorie aufgreifen und – meistens in einer fachspezifisch angepassten Form – in ihr eigenes Feld einführen. Für die Soziologie ist diesbezüglich die angelsächsische Theorie des Sozialkapitals von zentraler Bedeutung. Der Begriff hat zwar eine lange Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert oder aber zumindest an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreicht (Farr 2004). Doch erst in den 1990er Jahren ist das Sozialkapital zu einem in der Soziologie weit verbreiteten, ja regelrecht modischen Begriff geworden. Von Humankapital zu sprechen ist unter Soziologinnen und Soziologen heute immer noch ein bisschen verdächtig, aber der Begriff des Sozialkapitals wird mit großer Selbstverständlichkeit verwendet. Ich möchte zwei Autoren hervorheben, die nicht nur sehr viel zur Herausbildung und zur Verbreitung der Sozialkapitaltheorie in den Sozialwissenschaften beigetragen, sondern damit zugleich zentrale Aspekte der beschriebenen ökonomischen Theorie des Sozialen in die Soziologie und die Politologie eingeführt haben: James S. Coleman und Robert D. Putnam. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion über Sozialkapital wird diesem ökonomischen Hintergrund der angelsächsischen Begriffstradition und den damit verbundenen Fragen zum Verhältnis von Soziologie und Ökonomie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Vom Humankapital zum Sozialkapital James S. Coleman wird oft neben dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu, auf dessen Kapitaltheorie ich im nächsten Kapitel eingehe, als wichtigster Begründer der soziologischen Theorie des Sozialkapitals betrachtet. Es ist inte-
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ressant festzuhalten, dass beide Soziologen ab den 1960er Jahren der Analyse des Bildungssystems große Aufmerksamkeit gewidmet und in diesem Kontext einige ihrer bekanntesten Konzepte und Thesen entwickelt haben. Geprägt durch die Lehre von Paul Lazarsfeld, Robert Merton und Seymour Martin Lipset an der New Yorker Columbia University, hat James S. Coleman in den bildungssoziologischen Studien die Leitlinien einer Sozialtheorie entwickelt, die im Hauptwerk Foundations of Social Theory (Coleman 1990) umfassend dargestellt sind. Während die Orientierung am Rational Choice Paradigma bereits in den Schriften der 1960er Jahre erkennbar ist, hat der amerikanische Soziologe 1987 in einer Studie (mit Hoffer) zum Vergleich privater und öffentlicher Schulen erstmals von Sozialkapital gesprochen. Er setzte den Begriff ein um zu beschreiben, wie das an katholischen Schulen existierende Umfeld eine funktionale Gemeinschaft bildet, die dem Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler förderlich ist (Marsden 2005: 8). Colemans Veröffentlichungen über das amerikanische Bildungssystem, etwa der so genannte Coleman Report von 1966 oder die Ausführungen zu White Flight – die Flucht weißer Familien aus Städten, in deren Schulen Maßnahmen gegen Rassensegregation umgesetzt wurden – haben die bildungspolitische Diskussion in den USA mit geprägt. Er befürwortete zum Beispiel mehr Freiheit der Familien bei der Schulwahl durch Bildungsgutscheine oder Steuerabzüge von Schulgeldern (ebd.: 4-9). Wie Peter V. Marsden (2005) betont, hat Coleman mit dem Sozialkapitalbegriff am meisten Einfluss gehabt, der für ihn aber nur einen Aspekt seines umfassenden theoretischen Projekts darstellte. James S. Coleman sah die Soziologie im Zustand der Anarchie und versuchte, durch die systematische Grundlegung einer an das Fach angepassten Rational Choice Theorie diese unbefriedigende Situation zu überwinden. »Indeed, Foundations of Social Theory is, among other things, an attempt to bring about the coherence, the consensus on problematics, that defines a discipline.« (Coleman 1992a: 278) Er war überzeugt davon, dass sich die Soziologie einer Herausforderung stellen müsse, mit der die Klassiker des Fachs noch kaum konfrontiert gewesen waren. Da die Menschen heute immer weniger in einem natürlichen, sondern in einem durch sie selbst mehr oder weniger bewusst gestalteten sozialen Umfeld lebten, dürften sich die Soziologinnen und Soziologen nicht darauf beschränken, die Funktionsweise sozialer Institutionen zu untersuchen, sondern müssten selbst zur Herstellung effizienter Institutionen beitragen. »It makes necessary a theory that does not merely describe the functioning of social institutions, but asks how they can be brought into being – or how they can be destroyed. It dictates the choice of a voluntaristic, purposive theory of action, for if one is engaged in
208 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE the design of social institutions, some assumption is necessary about the kind of persons who will inhabit the institutions.« (Ebd.: 279)
Colemans Begeisterung für das Rational Choice Paradigma war also mit der Absicht verknüpft, weniger das Verhalten von Individuen als die Funktionsweise von Institutionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Dabei passte er die ökonomische Theorie insofern an die Soziologie an, als er die Bedeutung sozialer Strukturen für rationales Handeln betonte. Ganz im Sinne des ökonomischen Imperialismus arbeitete James S. Coleman (1992b) an einer konsequenten Anwendung der ökonomischen Theorie in der Soziologie. Sehr deutlich hat er dies in einem Aufsatz über das Verhältnis von Human- und Sozialkapital ausgeführt, der mit der Gegenüberstellung der üblichen soziologischen und ökonomischen Analysen sozialen Handelns beginnt: Während in der Soziologie die Betonung darauf gelegt werde, dass Menschen vergesellschaftete Wesen seien, deren Handeln durch Normen, Rollen und Verpflichtungen geprägt sei, gingen Ökonomen von Menschen aus, die autonom handeln und eigene Interessen verfolgen (Coleman 1988: S95). Beide Herangehensweisen hätten ihre Vor- und Nachteile. Um eine systematische Theorie zu entwickeln, dürfe man aber nicht von einer Mischung ausgehen, sondern müsse sich für einen Ansatz entscheiden und in einem zweiten Schritt Elemente des anderen einfügen. Coleman (ebd.: S97) sieht hier den Unterschied seiner Herangehensweise zu Konzepten der institutionellen Ökonomie: »All this work, both by economists and by sociologists, has constituted a revisionist analysis of the functioning of economic systems. Broadly, it can be said to maintain the conception of rational action but to superimpose on it social and institutional organization – either endogenously generated, as in the functionalist explanations of some of the new institutional economists, or as exogenous factors, as in the more proximate-causally oriented work of some sociologists. My aim is somewhat different. It is to import the economist’s principle of rational action for use in the analysis of social systems proper, including but not limited to economic systems, and to do so without discarding social organization in the process. The concept of social capital is a tool to aid in this.«
Der amerikanische Soziologe entscheidet sich für den ökonomischen Ansatz und benutzt das Konzept des Sozialkapitals, um diesen an die Soziologie anzupassen. »The conception of social capital as a resource for action is one way of introducing social structure into the rational action paradigm.« (Coleman 1988: S95) Er definiert Sozialkapital durch die Funktion, den Menschen das Handeln in bestimmten sozialen Strukturen zu erleichtern (ebd.: S98). Er würdigt die Erfin-
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dung der Humankapitaltheorie als wichtigste und originellste Neuerung der Bildungsökonomie der vergangenen drei Jahrzehnte und vergleicht das Sozialkapital mit dem Humankapital und dem physischen Kapital unter dem Aspekt der Greifbarkeit: »If physical capital is wholly tangible, being embodied in observable material form, and human capital is less tangible, being embodied in the skills and knowledge acquired by an individual, social capital is less tangible yet, for it exists in the relations among persons. Just as physical capital und human capital facilitate productive activity, social capital does as well. For example, a group within which there is extensive trustworthiness and extensive trust is able to accomplish much more than a comparable group without that trustworthiness and trust.« (Ebd.: S100-101)
Dass es sich um eine Form von Kapital handelt, die nicht verkauft oder als Besitz angeeignet werden kann, braucht Coleman gar nicht mehr zu thematisieren, denn dieses Problem haben die Erfinder der Humankapitaltheorie bereits erledigt. Es ist der Glaube an die produktive Kraft des Kapitals, der den amerikanischen Soziologen einen gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen Kapitalformen sehen lässt: »Like other forms of capital, social capital is productive, making possible the achievement of certain ends that in its absence would not be possible.« (Ebd.: S98) In diesem Aufsatz beschreibt Coleman (1988) verschiedene Formen von Sozialkapital (etwa Verpflichtungen, Erwartungen und Vertrauenswürdigkeit; Informationskanäle; Normen und wirksame Sanktionen), Sozialkapital begünstigende soziale Strukturen (offene Netzwerke und Organisationsformen, welche sich die Menschen anzueignen vermögen) und die durch die Art der sozialen Beziehungen in der Familie sowie in deren Umfeld geförderte Weitergabe des Humankapitals von einer Generation zur nächsten. Er geht auch darauf ein, dass Sozialkapital Züge eines öffentlichen Guts aufweist und es deshalb meist nur als Nebeneffekt des Handelns und in zu geringem Ausmaß produziert werde: Auch diejenigen, die sich nicht an seiner Produktion beteiligen, vermögen davon zu profitieren. Da traditionelle soziale Strukturen (strong families, strong communities), welche die Bildung von Sozialkapital früher begünstigt haben, in den USA immer weniger verbreitet sind, erwartet Coleman (ebd.: S118) eine Tendenz zur Abnahme des Sozialkapitalbestandes. Er sieht es als Aufgabe der Soziologie an, dieser Entwicklung entgegenzuwirken und entsprechende Konzepte auszuarbeiten.
210 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »The obvious solution appears to be to attempt to find ways of overcoming the problem of supply of these public goods, that is, social capital employed for the benefit of children and youth. This very likely means the substitution of some kind of formal organization for the voluntary and spontaneous social organization that has in the past been the major source of social capital available to the young.« (Ebd.)
James S. Coleman spricht damit eine Problemstellung an, die im Zentrum der Schriften des amerikanischen Soziologen und Politologen Robert D. Putnam steht. Den Bezugsrahmen von dessen Sozialkapitaltheorie stellen nicht mehr einzelne soziale Institutionen, sondern ganze Nationen dar. So hat Putnam (1995; 2000) einen einflussreichen Beitrag zur Diskussion zwischen Liberalen und Kommunitaristen über die Revitalisierung des bürgerschaftlichen Engagements in den USA geleistet, dessen Rückgang er als Verschwinden einst vorhandenen Sozialkapitals beschrieb. Zum Klassiker der Sozialkapitaltheorie war er allerdings bereits mit einer Studie über politische Reformen in Italien (Putnam 1993) geworden, deren regional unterschiedliche Erfolge er zu erklären versuchte. Dabei führte er die in seinen Augen relativ guten Ergebnisse in Norditalien und die schlechten Ergebnisse in Süditalien nicht etwa – wie zahlreiche andere Beobachter – auf Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung zurück, sondern betonte die Bedeutung einer historischen Tradition bürgerschaftlichen Engagements im Norden, die im Süden leider nicht vorhanden sei. Diese Tradition beruhe auf Formen von Sozialkapital wie starke Normen der Reziprozität, soziale Netzwerke, Vereine usw. Damit die Demokratie auch in Süditalien funktioniere, so seine Schlussfolgerung, braucht es nicht in erster Linie mehr wirtschaftliche Ressourcen oder bessere politische Institutionen, sondern einen langfristigen Aufbau von Sozialkapital. Auch Putnams Italienstudie ist wesentlich durch ökonomische Theorie geprägt, doch steht er der institutionellen Ökonomie näher als Coleman. So bezieht er sich auf die Arbeiten von Oliver E. Williamson und Elinor Ostrom über Dilemmata kollektiver Aktion und wie diese durch Institutionsbildung gelöst oder entschärft werden können (Putnam 1993: 163-167). Er verbindet seine Analyse der Geschichte Italiens mit einer Gleichgewichtstheorie, der zu Folge einzelne Gesellschaften zu einem von zwei Gleichgewichtszuständen tendieren, zu einem kooperativen oder zu einem unterdrückerischen Zustand, deren Funktionsweisen eine starke Tendenz zur Selbsterhaltung des Zustands erzeugen. Gestützt auf spieltheoretische Konzepte wie das Gefangenendilemma führt Putnam aus, für Menschen im Zustand der Unterdrückung sei es rational, sich unkooperativ zu verhalten:
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»Once trapped in this situation, no matter how exploitative and backward, it is irrational for any individual to seek a more collaborative alternative, except perhaps within the immediate family. The ›amoral familism‹ that Banfield observed in the Mezzogiorno is, in fact, not irrational, but the only rational strategy for survival in this social context. Actors in this social equilibrium may well realize that they are worse off than they would be in a more cooperative equilibrium, but getting to that happier equilibrium is beyond the power of any individual.« (Ebd.: 177)
Es ist in seinen Augen schwierig, aber nicht unmöglich, den einen Zustand zu verlassen und mit der Zeit den anderen zu erreichen. Doch wenn einmal eine solche Entwicklung in Gang gesetzt sei, erzeuge sie wiederum selbst verstärkende Wirkungen (ebd.: 181-185). Auch wenn Putnams zentrale Problemstellungen anders gelagert sind als jene von Coleman, übernimmt er dessen Definition von Sozialkapital mit einem längeren Zitat aus Foundations of Social Theory (Putnam 1993: 167). Auch er spricht das Problem an, Sozialkapital weise Aspekte eines öffentlichen Guts auf und es sei deshalb nicht unbedingt im rationalen Interesse aller Menschen, sich an dessen Herstellung zu beteiligen. Mit Bezug auf Albert Hirschmanns Begriff der moralischen Ressourcen, deren Angebot durch den Verbrauch nicht ab- sondern zunimmt, kommt er jedoch zum Schluss, die Herstellung und der Verlust von Sozialkapital seien Ausdruck von tugendhaften Kreisen beziehungsweise von Teufelskreisen, die eben zu jeweils einem der beiden Gleichgewichtszustände hinführen. Putnam greift also nicht nur das Gleichgewichtsparadigma aus der Ökonomie auf, sondern beschreibt auch Kapitalkreisläufe am Beispiel Norditaliens: »In the civic regions of Italy, by contrast to Naples, social trust has long been a key ingredient in the ethos that has sustained economic dynamism and government performance. Cooperation is often required – between legislature and executive, between workers and managers, among political parties, between the government and private groups, among small firms, and so on. Yet explicit ›contracting‹ and ›monitoring‹ in such cases is often costly or impossible, and third-party enforcement is impractical. Trust lubricates cooperation. The greater the level of trust within a community, the greater the likelihood of cooperation. And cooperation itself breeds trust. The steady accumulation of social capital is a crucial part of the story behind the virtuous circles of civic Italy.« (Ebd.: 170-171)
James S. Coleman und Robert D. Putnam sind wohl die beiden einflussreichsten Autoren jener angelsächsischen Begriffslinie, entlang derer mit dem Sozialkapitalbegriff seit dem Ende der 1980er Jahre zentrale Problemstellungen ökonomi-
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scher Theorie Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden haben. Einige Kommentatoren haben festgehalten, dass mit dem neuen Kapitalbegriff gar keine neuen Phänomene beschrieben werden, sondern solche, die der Soziologie seit langer Zeit bekannt sind (Vertrauen, Kooperation, soziale Beziehungen usw.). Dies streicht zum Beispiel Alejandro Portes (1998: 21) heraus und meint, verschiedene Autoren würden den Begriff des Sozialkapitals eigentlich nur verwenden, weil er attraktiver klinge als ältere Konzepte. Jenseits theoretischer Modetrends ist allerdings festzuhalten, dass Begriffsverschiebungen mit Veränderungen entsprechender Problemstellungen einhergehen, und dass sie weder theoretisch noch politisch neutral sind. So vertreten Smith und Kulynych (2002) die These, die Verwendung des Sozialkapitalbegriffs zur Analyse bürgerschaftlichen Engagements sei aufgrund unkontrollierter Analogien mit ökonomischen Prozessen ein Rückschritt im Vergleich zu früheren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und habe ideologische Auswirkungen, die dem neoliberalen Zeitgeist entsprechen. Der Begriff sei Teil einer Sprachpolitik, deren Wirkungsmacht sich niemand, der diesen mit welchem Ziel auch immer einsetzt, entziehen kann. Sidney Tarrow (1996: 396) weist zum Beispiel darauf hin, dass die Sozialkapitaltheorie zu entwicklungspolitischen Empfehlungen führt, welche die Aufmerksamkeit weg von ökonomischen und strukturellen Problemen hin zu Kulturfragen und sozialen Netzwerken lenken. Entwicklungs- und Bildungspolitik In der Tat bietet die Entwicklungspolitik ein anschauliches Beispiel für den Siegeszug des ökonomischen Imperialismus dar. Als Vertreter der Ökonomen von Chicago hat zum Beispiel Theodore W. Schultz 1979 den Wirtschaftsnobelpreis für entwicklungsökonomische Arbeiten erhalten. Seine Rede zur Ökonomie des Armseins setzt einen Akzent, der sich klar von der entwicklungspolitischen Diskussion der 1960er und 1970er Jahre über Probleme struktureller Ungleichheiten und Möglichkeiten einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung absetzt: »The decisive factors of production in improving the welfare of poor people are not space, energy, and cropland: the decisive factor is the improvement in population quality.« (Schultz 1980: 640) Eine solche Verbesserung der Bevölkerungsqualität (sic!) ist für Schultz durch Humankapitalinvestitionen in Gesundheit und Bildung zu erreichen, während ihm Fragen der internationalen oder internen Ressourcenumverteilung – zum Beispiel durch Landreform – als zweitrangig erscheinen. Er kritisiert die Entwicklungsökonomen dafür, versucht zu haben, auf die armen Länder zugeschnittene, besondere ökonomischen Theorien oder sogar soziale und kulturelle Erklärungen verwendet zu haben, statt sich ein-
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fach auf die bewährten Standardtheorien der Wirtschaftswissenschaften zu stützen. Solche »intellectual curiosities« seien nicht notwendig, weil ja die klassische ökonomische Theorie in Westeuropa zu einer Zeit entstanden sei, als die meisten Menschen arm waren: »As a result, early economists dealt with conditions that were similar to those that prevail in low-income countries today.« (Ebd.: 640-641) An diesem Beispiel zeigt sich auch deutlich, wie ökonomischer Imperialismus und Eurozentrismus Hand in Hand gehen. Robert D. Puntams (1993) Italienstudie wiederum wurde zum Bezugspunkt einer politischen Konjunktur ab Mitte der 1990er Jahre, in der das Sozialkapital zu einem Schlüsselbegriff der Entwicklungspolitik wurde, was sich an dessen Stellenwert in den Dokumenten der Weltbank bestens erkennen lässt. Wie Daniela Winkler (2011: 29-35) herausstreicht, geschah dies, als der so genannte Washington Consensus, welcher in der Folge der Schuldenkrise vieler Länder der dritten Welt zur Rechtfertigung umfassender Strukturanpassungsprogramme entwickelt worden war, in eine Legitimitätskrise geriet und der Ruf lauter wurde, soziale und kulturelle Dimensionen von Entwicklung stärker zu berücksichtigen. Unter dem Präsidium von James Wolfensohn (1995-2005) beschäftigten sich in der Weltbank mehrere Arbeitsgruppen und Initiativen mit dem Sozialkapitalbegriff und dessen entwicklungspolitischer Anwendung. Die Verbreitung der Sozialkapitaltheorie erreichte ihren Höhepunkt um die Jahrtausendwende, als das Konzept recht prominent im World Development Report von 2000/2001 figurierte, der die Lancierung der Kampagne für die Milleniumsziele zur Armutsbekämpfung begleitete (ebd.: 67-70). Seither ist der Sozialkapitalbegriff in der Weltbank ein bisschen in den Hintergrund getreten, aber auch neue Leitkonzepte wie empowerment oder community-driven development beruhen auf ähnlichen theoretischen und politischen Prämissen. Diese Aufnahme, Anpassung und Propagierung der Sozialkapitaltheorie durch die Weltbank war innerhalb der Institution mit Kämpfen um Positionen und Einfluss zwischen Ökonomen und Sozialwissenschaftlern verbunden. Letztere versuchten damit mehr Einfluss zu erlangen, doch freundeten sich auch Anhänger der institutionellen Ökonomie mit dem Konzept an. Es war jedoch ein ungleicher Kampf, was nur schon daran erkennbar wird, dass zu der Zeit in der Weltbank ungefähr 800 Ökonomen, aber nur 50 bis 60 Sozialwissenschaftler (vor allem aus Anthropologie, Soziologie und Politikwissenschaften) tätig waren (Fine zit. in Winkler 2011: 28). Entsprechend setzte sich eine an Putnam angelehnte und durch einflussreiche Ökonomen propagierte Interpretation von Sozialkapital, welches mit lokalen Vereinen und Netzwerken gleichgesetzt wurde (Serageldin 1998; Grootaert/van Bastelaer 2002), gegen ein vor allem durch Michael Woolcock und Deepa Narayan (2000) formuliertes, deutlich weiter gefass-
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tes Verständnis durch, das Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft reflektiert. Daniela Winkler (2011: 91-93) kommt zum Schluss, der Sozialkapitaldiskurs habe die Grenzen des Sagbaren in der Weltbank durchaus verschoben und die Anerkennung sozialer Dimensionen von Entwicklung gefördert. Dies geschah allerdings um den Preis einer Ökonomisierung des Sozialen. So ermöglichte es die Sozialkapitaltheorie den Experten der Weltbank, soziale und kulturelle Phänomene in Begriffen ökonomischer Theorie zu denken und in das weiterhin ökonomisch dominierte Programm von Entwicklung aufzunehmen, das keine grundlegenden Veränderungen erfuhr. Die Bildungspolitik war historisch gesehen das erste einst fremde Feld, das der ökonomische Imperialismus gestützt auf die Humankapitaltheorie zu erobern wusste. In welchem Ausmaß die Bildungsökonomie zur vorherrschenden Sichtweise geworden ist, lässt sich beispielsweise am ersten offiziellen schweizerischen Bildungsbericht (SKBF 2010) erkennen. Der im Auftrag der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren sowie des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie erstellte Bericht ist das Werk eines Teams unter Leitung von Stefan C. Wolter, dem Leiter der Koordinationsstelle für Bildungsforschung in Aarau und Honorarprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Nach einem Studium der Volkswirtschaft und Arbeitspsychologie in Bern und einer Assistenz unter Professor Ernst Baltensperger, einem der führenden neoliberalen Ökonomen des Landes, hat er seine Karriere bei einer international tätigen Großbank begonnen, bevor er in die öffentliche Verwaltung wechselte und zum Leiter des Ressorts Arbeitsmarktpolitik im Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit avancierte. Der heute bekannteste Bildungsökonom der Schweiz hat das Land in Expertengremien internationaler Organisationen vertreten, zum Beispiel in der OECD, wo er als Präsident der Expertengruppe Berufsbildung amtet. Eine solche sich zwischen Universität, Privatwirtschaft, staatlicher Wirtschaftspolitik und Bildungsforschung bewegende Flugbahn verkörpert an sich schon eine Form der Verbreitung des hegemonial gewordenen Denkens der Humankapitaltheorie. Wird dieser Bildungsbericht mit Althussers Brille der symptomalen Lektüre gelesen, sticht gerade das ins Auge, was an keiner Stelle ausgesprochen wird: Ohne Begründung stützt sich die Darstellung auf Konzepte der Humankapitaltheorie, die als selbstverständliche Sichtweise auf das Bildungssystem zur Anwendung gelangt. Im Zentrum stehen die Begriffe Effektivität, Effizienz und Equity. Besonders deutlich zeigt sich die mit dem ökonomischen Imperialismus einher gehende Verschiebung von Problemstellungen am dritten Begriff: An die Stelle einer soziologischen Problemstellung, sie sich mit der Reproduktion sozialer Ungleichheit befasst, oder einer philosophischen und ethischen Reflexion
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über Chancengerechtigkeit tritt eine Konzeption, die das betreffende Phänomen auf eine mit dem Rational Choice Paradigma verbundene Diskriminierungstheorie zuschneidet: »Equity im Bildungswesen entspricht einer Lernumgebung, in der Individuen während ihres gesamten Lebens Optionen abwägen und Entscheidungen treffen können, die auf ihren Fähigkeiten und Talenten, nicht auf Stereotypen, verzerrten Erwartungen oder Diskriminierungen basieren.« (SKBF 2010: 32) Zwar wird die Verteilung verschiedener Gruppen auf unterschiedliche Ausbildungsgänge und Bildungsniveaus als zentraler Indikator von Chancengerechtigkeit genannt, doch präzisieren die Verfasser sogleich: »Ungleiche Verteilungen zwischen sozialen Gruppen müssen aber nicht in jedem Fall eine Verletzung des Equity-Prinzips darstellen, da sie grundsätzlich auch auf rational gefällten Entscheidungen gründen – und somit unabhängig von Stereotypen, verzerrten Erwartungen oder Diskriminierungen sein können.« (Ebd.: 33)
In diesem Bericht werden an unzähligen Stellen auf so unauffällige Weise die Theoreme der neoklassischen Ökonomie gestreut, dass es nur den Leserinnen und Lesern auffällt, die gezielt danach suchen. Ein Beispiel geben folgende Zeilen über die Effizienz der Bildungspolitik, in denen mehrere solche Schlüsselkonzepte – wie Ressourcenknappheit, Opportunitätskosten und positive Externalitäten – angesprochen sind: »Effizienz ist für das Bildungssystem in zweierlei Hinsicht von grundlegender Bedeutung: Einerseits muss man auch im Bildungswesen bedacht sein, Ziele mit möglichst geringen Inputs zu erreichen. Weil die Ressourcen knapp sind, muss überall haushälterisch mit ihnen umgegangen werden. Das kommt nicht daher, dass man im Bildungswesen wie in der Wirtschaft Gewinne erzielen will, sondern liegt vielmehr daran, dass die im Bildungssystem eingesetzten Ressourcen (Zeit und Geld) ja auch für andere soziale oder individuelle Bedürfnisse verwendet werden könnten. Erwerben bspw. Schüler(innen) die im Lehrplan vorgesehenen Kompetenzen in Mathematik oder Sprache mit weniger Lektionen, dann bleibt Zeit übrig, sie auch in musischen oder sportlichen Fächern zu unterrichten. Andererseits ist auch ein maximaler Ertrag (Output) pro Ressourceneinheit von Interesse, weil der Ertrag sich wiederum positiv auf andere gesellschaftliche und private Ziele (Outcomes) auswirkt.« (SKBF 2010: 27)
Vielleicht gerade um den möglichen Verdacht zu zerstreuen, hier werde eine enge ökonomische Sichtweise angewendet, wird explizit ein Unterschied zwischen dem Bildungswesen und der Wirtschaft betont und die Möglichkeit in Erwägung
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gezogen, Mathematik- oder Sprachunterricht zu Gunsten von Musik und Sport zu reduzieren. Wie an folgenden Zitaten gut sichtbar wird, stellt die theoretische Kohärenz der Analyse nicht unbedingt sicher, dass wirklich praktisch relevante Probleme ins Zentrum gerückt werden – doch dürften den Bericht lesende Lehrkräfte die mit dem Hinweis, dass sie nur einer von mehreren Bildungsinputs sind, verbundene Botschaft durchaus zu verstehen wissen: »Ein effizienter Mix von Inputs (bspw. Lehrpersonen und Lehrmittel), d.h. die allokative Effizienz, ist ebenso wichtig wie die einzelnen Inputs und deren Wirkung für sich allein genommen. Ein Beispiel dafür ist die hypothetische Situation, in der eine Schulbehörde vor der Wahl steht, zusätzliche Ressourcen für eine Verkleinerung der Klassen (und somit für eine Erhöhung des Lehrerbestandes) zu verwenden oder technische Hilfsmittel in Form einer neuen Lernsoftware anzuschaffen. Der zur Verfügung stehende Geldbetrag ist vielleicht effizienter eingesetzt, wenn damit die Lernsoftware angeschafft wird, obwohl beide Inputs (Lehrpersonen und Lernsoftware) gleich viel kosten. Somit ist die Kombination von Inputs entscheidend und nicht ihre Menge.« (Ebd.: 30) »Erzielt eine Schule mit doppelt so viel Mathematiklektionen wie der Durchschnitt der übrigen Schulen ein Kompetenzniveau ihrer Schüler, das mehr als doppelt so hoch liegt, und setzt somit das Mehr an Lektionen nicht nur effektiv ein, sondern sogar noch mit einer höheren Effizienz, so ist damit noch nicht gesagt, dass eine weitere Verdoppelung der Lektionen bei dieser effizienten Schule wieder einen ähnlichen Kompetenzzuwachs brächte. Beim Einsatz von Inputs muss man davon ausgehen, dass diese einen abnehmenden zusätzlichen Ertrag (Grenzertrag) generieren. Aus diesem Grund ist eine Ausweitung des Inputeinsatzes vielfach mit einem Verlust an durchschnittlicher Effizienz verbunden, auch wenn damit mehr schulischer Output produziert wurde.« (Ebd.: 31)
Theoretisch aufgeklärte Leserinnen und Leser erkennen in diesen Zeilen Bezüge auf die Theorie der Produktionsfunktion (Substituierbarkeit von Inputs) sowie auf das für die neoklassische Ökonomie konstitutive Grenznutzentheorem. Die Vorstellung vom einzelnen Menschen als Unternehmer seiner selbst und der Gesellschaft als Unternehmen kommt in jenem Kapitel des Berichts zur Geltung, in dem individuelle und soziale Bildungsrenditen behandelt werden (SKBF 2010: 271-293). Betreffend den Nutzen von Bildungsinvestitionen für die Individuen nennen die Verfasser die verminderte Wahrscheinlichkeit erwerbslos zu werden, höhere Einkommen, bessere Gesundheit und eine längere Lebenserwartung sowie Lebenszufriedenheit und Glück. Bei den sozialen Renditen, das heißt den Gewinnen, die der Staat und die Gesellschaft aus Bildungsinvestitionen zie-
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hen, werden auch die Auswirkungen von Bildung auf Kriminalitätsraten, ökologisches Denken und die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger beleuchtet. Der schweizerische Bildungsbericht spiegelt damit die für den ökonomischen Imperialismus charakteristische Tendenz, ein breites Spektrum unterschiedlichster Aspekte des sozialen Lebens durch die Brille der ökonomischen Theorie zu betrachten. Allerdings müssen die Verfasser immer wieder einräumen, dass die Erklärungskraft der beschriebenen Zusammenhänge begrenzt bleibt. So heißt es etwa im Abschnitt zu Bildung und politischer Partizipation: »Wie bei fast all diesen Zusammenhängen sind Korrelationen und Kausalitäten nicht immer auseinanderzuhalten. Besonders dann, wenn umgekehrte Beziehungen ebenso wahrscheinlich und nahe liegend sind. So bezweifeln bspw. Acemoglu, Johnson, Robinson et al. (2005) generell, dass die vorhandenen Studien empirisch genügend valide Evidenz für eine kausale Beziehung zwischen Bildungsstand und dem Demokratiegrad einer Bevölkerung liefern.« (Ebd.: 293)
Eingeständnisse oder Relativierungen dieser Art sind für die Verfasser des Berichts jedoch kein Grund, die theoretischen Prämissen der Darstellung und Interpretation in Frage oder zur Diskussion zu stellen. Analytischer Marxismus Die Ausstrahlung des theoretischen Systems des amerikanischen Neoliberalismus hat bis in die Ränge des Marxismus hinein gewirkt. Dies zeigt sich vor allem an der Entstehung des so genannten analytischen Marxismus, dessen bekannteste Vertreter Jon Elster (1985; 1986) und John Roemer (1982; 1986) sind. Diese Theorieschule ist das Ergebnis eines Versuchs, die Marx’sche Kapitalismusanalyse auf der Grundlage des Rational Choice Paradigmas neu zu formulieren und dadurch gewisse Schwächen der marxistischen Wert- und Klassentheorie zu überwinden. Für Ellen Meiksins Wood (1989: 44-45) muss der analytische Marxismus auch als Reaktion gegen die Ablehnung des Menschen als wissenschaftliches Konzept durch Louis Althusser und seine Anhänger sowie gegen die philosophischen Gerechtigkeitstheorien von John Rawls oder Robert Nozick betrachtet werden. Die führenden Vertreter dieses Rational Choice Marxism haben den Begriff der Ausbeutung ohne jeden Bezug auf die Marx’sche Werttheorie neu definiert oder betont, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse sei das Resultat rationaler Entscheide einzelner Menschen. Der Fokus auf Entscheidungsspielräume hat sie dazu geführt, der Sphäre des Konsums eine größere Bedeutung zuzumessen, als es im Marxismus üblich ist. Letztlich betrachten sie die
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Menschen als rational handelnde und mit gewissen Mitteln ausgestattete Individuen, deren Handlungen aggregiert den Kapitalismus produzieren. Für Ellen Meiksins Wood bleibt bei diesem Ansatz kaum noch etwas spezifisch Marxistisches übrig, es sei denn einfach die Auseinandersetzung mit klassischen Problemen des Marxismus. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die neoklassische ökonomische Theorie auf der Ebene der Handlungstheorie Eingang in den Marxismus gefunden hat, das heißt mit Bezug auf ein Problem, zu dem die marxistische Tradition wenig zu sagen hat. Gefangen in den klassischen Glaubenssätzen über das revolutionäre Subjekt hat sich der orthodoxe Marxismus kaum jemals ernsthaft mit charakteristischen Formen des Alltagshandeln in der kapitalistischen Gesellschaft auseinandergesetzt, während die kritische Theorie dazu neigte, die Menschen als passive Opfer, wenn nicht verdummte Komplizen eines auf der Warenform basierenden Systems zu betrachten. Ein Beispiel relativer Hilflosigkeit des Marxismus gegenüber der Rational Choice Theorie gibt Ernest Mandels (1991: 303308) Kommentar zum analytischen Marxismus ab. Er kritisiert zunächst, dass dessen Anhänger das Gewicht sozialer Strukturen unterschätzen und von Handlungsoptionen sprechen, die den meisten Menschen gar nicht offen stehen. Dann muss er aber eingestehen: »Der rationale Kern der Kritik von Römer und Elster an Marx, mit dem sich Marxisten bisher viel zu wenig beschäftigt haben, liegt darin: Wie kann man das praktische tägliche Verhalten der Lohnabhängigen im Lichte ihres Klasseninteresses erklären? Haben diese Lohnabhängigen nicht tatsächlich ein Interesse daran, ihr Einkommen zu maximieren und ihre Arbeitslast zu beschränken? Verhalten sie sich täglich entsprechend diesem Interesse?« (Ebd.: 307)
Für den marxistischen Ökonomen Ernest Mandel (1991: 307) lassen sich diese Fragen nicht ohne weiteres einfach mit Ja oder Nein beantworten: »Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Handlungsmotivierung breiter Massen meist (mit der Ausnahme revolutionärer Krisen) nur auf das Unmittelbare ausgerichtet ist, und dass die mittel- und langfristigen Folgen ihrer Handlungen ihnen unklar und unbekannt bleiben.« Dennoch betrachtet er es als Gewissheit, dass es nicht im langfristigen Interesse der lohnabhängigen Menschen in reichen Ländern liegt, protektionistische Maßnahmen zur Sicherung der Arbeitsplätze zu unterstützen, die internationale Einheit der Gewerkschaften im Kampf für Arbeitszeitverkürzung und höhere Löhne in den Niedriglohnländern zu befördern aber schon. Schließlich hält Mandel fest: »Welches die institutionellen, organisatorischen, Bewusstseinshindernisse auf dem Weg dieser Erkenntnis sind, das muss konkret
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von Fall zu Fall untersucht werden. Hier sind wir wieder beim ›Marxismus des subjektiven Faktors‹ angelangt.« (Ebd.: 308) In diesen Zeilen schimmert die klassische marxistische Unterscheidung zwischen einem falschen und richtigen Klassenbewusstsein in den Rängen des Proletariats durch. Nur implizit gesteht Ernest Mandel ein Scheitern der marxistischen Tradition ein, eine Theorie der Praxis zu entwickeln, die nicht nur in Zeiten revolutionärer Krisen hilft, das Handeln der Lohnabhängigen zu verstehen. Ohne ein solches Konzept steht der Marxismus dem Triumphzug der ökonomischen Theorie des rationalen Akteurs ziemlich hilflos gegenüber. Wenn Pierre Bourdieu im Gespräch mit Terry Eagleton erklärt, weshalb er es vorzieht von Doxa statt von Ideologie zu sprechen, nimmt er gerade die kartesianische Bewusstseinsphilosophie in den Blick, die der Marxismus nicht selten mit der orthodoxen Ökonomie teilt, und die ihn für ökonomische Kolonisierung anfällig macht (Bourdieu und Eagleton 1992).
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An dieser Stelle lässt sich die Brücke zurück zum Marx’schen Kapital schlagen, das weitaus mehr als der marxistische Durchschnitt interessante Ansätze für eine Theorie des praktischen (Un-)Bewusstseins enthält. Unter der Überschrift Die trinitarische Formel führt Marx ([1894] 1964: 822-839) im dritten Band wichtige Elemente seiner Kritik der Politischen Ökonomie in einer Reflexion über wirtschaftliche Einkommen und deren Quellen zusammen. Die Wahl der sich auf die christliche Dreifaltigkeit Gottes beziehenden Metapher zeigt an, dass es auch um Analogien zwischen Theologie und Ökonomie geht und die kapitalistischen Fetische zur Sprache kommen. In den Kategorien der bürgerlichen Ökonomie gedacht entspringen alle Einkommen aus einer von drei ihnen je entsprechenden Quellen: Der Zins aus dem Kapital, die Grundrente aus dem Boden und der Lohn aus der Arbeit. Nun hat Marx diese Sichtweise im Kapital kritisiert und fasst sein Argument nochmals zusammen. So hält er etwa fest, »die angeblichen Quellen des jährlich produzierten Reichtums gehören ganz disparaten Sphären an und haben nicht die geringste Analogie untereinander. Sie verhalten sich gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik« (ebd.: 822). Während das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis sei, handle es sich beim Boden um unorganische Natur und bei der Arbeit um menschliche Tätigkeit. Die trinitarische Formel der politischen Ökonomie verfehlt die gesellschaftliche Formbestimmtheit ökonomischer Phänomene und Prozesse und stellt diese als natürlichste Sache der Welt dar. Darüber hinaus macht sie gerade die den Kapitalismus besonders auszeichnende Form des Mehrwerts, den Profit, un-
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sichtbar: Dieser verschwindet hinter dem Zins des Finanzkapitals auf der einen und dem Lohn des Unternehmers für seine Arbeit auf der anderen Seite. Marx bleibt nicht bei der Ökonomiekritik stehen. Er führt einige interessante Überlegungen aus, wie es zu dieser so selbstverständlichen und doch verkehrten Sicht der Dinge kommt. Tatsächlich erhält ja der Kapitalbesitzer einen Zins, der Grundeigentümer eine Rente und der Arbeiter einen Lohn: Es ist für die im alltäglichen Wirtschaftsleben engagierten Menschen nahe liegend, die Quellen ihres Einkommens mit dem zu identifizieren, was ihnen gehört und ihre Einkommensansprüche begründet. Das erscheint so natürlich wie die Natur. »[Diese drei Einkommen] erscheinen als jährlich zu verzehrende Früchte eines perennierenden Baums oder vielmehr dreier Bäume, sie bilden das jährliche Einkommen dreier Klassen, des Kapitalisten, des Grundeigentümers und des Arbeiters […]. Dem Kapitalisten erscheint sein Kapital, dem Grundeigentümer sein Boden und dem Arbeiter seine Arbeitskraft oder vielmehr seine Arbeit selbst […] so als drei verschiedne Quellen ihrer spezifischen Revenuen […]. Sie sind es in der Tat in dem Sinne, dass das Kapital für den Kapitalisten eine perennierende Pumpmaschine von Mehrarbeit, der Boden für den Grundeigentümer ein perennierender Magnet zur Anziehung eines Teils des vom Kapital ausgepumpten Mehrwerts und endlich die Arbeit die beständig sich erneuernde Bedingung und das stets sich erneuernde Mittel ist, um einen Teil des vom Arbeiter geschaffnen Werts und daher einen durch diesen Wertteil gemessnen Teil des gesellschaftlichen Produkts, die notwendigen Lebensmittel, unter dem Titel des Arbeitslohns zu erwerben. […] Es ist jedoch nicht in dieser Form, dass sich die Sache den Produktionsagenten, den Trägern der verschiednen Funktionen des Produktionsprozesses darstellt, sondern vielmehr in einer verkehrten Form.« (Marx [1894] 1964: 830)
An anderer Stelle präzisiert Marx ([1894] 1964: 834) nochmals, wie sich diese ökonomischen Prozesse in den Alltagsvorstellungen verkehrt darstellen: »Grundeigentum, Kapital und Lohnarbeit verwandeln sich daher aus Quellen von Revenue in dem Sinn, dass das Kapital dem Kapitalisten einen Teil des Mehrwerts, den er aus der Arbeit extrahiert, in der Form des Profits, das Monpol an der Erde dem Grundeigentümer einen andern Teil in der Form der Rente attrahiert und die Arbeit dem Arbeiter den letzten noch disponiblen Wertteil in der Form des Arbeitslohns zuschlägt, aus Quellen, vermittelst deren ein Teil des Werts in die Form des Profits, in zweiter in die Form der Rente und ein dritter in die Form des Arbeitslohns sich verwandelt – in wirkliche Quellen, aus denen diese Wertteile und die bezüglichen Teile des Produkts, worin sie existieren und wogegen sie umsetzbar sind, selbst entspringen und aus denen als letzter Quelle daher der Wert des Produkts selbst entspringt.«
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Was zu erklären ist – zum Beispiel warum der Kapitalist einen Zins erhält – wird zum Prinzip der Erklärung gemacht: Es liegt in der Natur des Kapitals, Zins abzuwerfen. Die Produktion gesellschaftlichen Reichtums erscheint nicht als das Resultat menschlicher Tätigkeiten unter besonderen gesellschaftlichen Bedingungen, sondern als Ergebnis natürlicher Eigenschaften von Dingen, die als Produktionsfaktoren gelten. Diese trinitarische Formel steht in der Marx’schen Kapitalismusanalyse für die »Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise« und für die »Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse«. Sie zeichnet das Bild einer »verzauberte[n], verkehrte[n] und auf den Kopf gestellte[n] Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben« (Marx [1894] 1964: 838). Die im Wirtschaftsleben engagierten Menschen fühlen sich in dieser Formel »völlig zu Hause, denn es sind eben die Gestaltungen des Scheins, in welchen sie sich bewegen und womit sie täglich zu tun haben«. Nun wird diese »Religion des Alltagslebens« aber zugleich zur Grundlage der Herausbildung einer ökonomischen Theorie, die der Verfasser des Kapitals mit dem Begriff der Vulgärökonomie belegt, da sie nichts anderes sei als eine »didaktische, mehr oder minder doktrinäre Übersetzung der Alltagsvorstellungen der wirklichen Produktionsagenten«, unter die sie »eine gewisse verständige Ordnung« bringt. Laut Marx (ebd.: 839) findet diese ökonomische Theorie »grade in dieser Trinität [in der trinitarischen Formel], worin der ganze innere Zusammenhang ausgelöscht ist, die naturgemäße und über allen Zweifel erhabene Basis ihrer seichten Wichtigtuerei«. Wirtschaftliche Prozesse erscheinen der Vulgärökonomie umso selbstverständlicher, »je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist, sie aber der ordinären Vorstellung geläufig sind« (ebd.: 825). Wenn die ökonomische Theorie Dinge, die so inkommensurabel sind wie die angesprochenen Notariatsgebühren, roten Rüben und Musik, als Einkommensquellen auf dieselbe konzeptuelle Ebene stellt, ist dies für Marx verrückt, entbehrt aber nicht einer inneren Logik: »Sobald er bei diesem Inkommensurablen angelangt, wird dem Vulgärökonomen alles klar, und fühlt er nicht mehr das Bedürfnis, weiter nachzudenken. Denn er ist eben beim ›Rationale‹ der Bürgervorstellung angelangt.« (Ebd.: 826) Es fällt nicht schwer, Ähnlichkeiten zwischen Marx’ Beschreibung der Vulgärökonomie und der Kritik der Spontansoziologie durch Bourdieu, Chamboredon und Passeron (1991) zu sehen. Und die Marx’sche Ökonomiekritik lässt sich aktualisieren: Stärker als die klassische Ökonomie mit ihrer trinitarischen Formel betont die gegenwärtige Humankapitaltheorie den monotheistischen Kern der kapitalistischen Religion: Es gibt nur einen Gott – das Kapital – und die bei-
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den anderen Produktionsfaktoren sind in den Hintergrund getreten. Der KapitalGott ist überall am Werk, nicht nur in der Wirtschaftswelt; dessen Geist kann in allen Bereichen der sozialen Welt erfasst werden, wenn nur die richtige ökonomische Theorie als Leitbild der Untersuchung dient. Durch diese Brille lassen sich Tausend Korrelationen verschiedener Variablen in den Blick nehmen, die umso mehr als wirkliche Kausalitäten erscheinen, je weniger man von den hinter ihnen sich verbergenden menschlichen Tätigkeiten und sozialen Prozessen versteht und diese einfach ausblendet. Vielleicht ist es überdies kein Zufall, dass die Entstehung und Verbreitung der Humankapitaltheorie geografisch und zeitlich mit der Befreiung des Finanzkapitals von jenen politischen Regulierungen, die ihm nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg auferlegt wurden, zusammenfiel. Denn das zinstragende Kapital ist ja laut Marx ([1894: 1964: 483]) »die Mutter aller verrückten Formen« und befördert wie keine andere Kapitalform die Vorstellung, alles Mögliche sei Kapital und werfe Gewinn ab. So beteiligt sich die heutige Vulgärökonomie im Glauben an die wissenschaftliche Wahrheit an der Produktion und Verbreitung fiktiven Kapitals zweiter Ordnung: Sie trägt dazu bei, dass die Menschen Dinge – bis hin zu ihrer eigenen Person –, die nicht als Waren angeeignet werden können – im Gegensatz zu den Finanztiteln, die Marx als fiktives Kapital bezeichnete –, als Kapital sehen und sich entsprechend zu ihnen verhalten. Subjektivierung als Kapital-Mimesis oder Selbstunternehmertum ist eine Folge davon – darauf komme ich im letzten Kapitel dieser Arbeit zurück. Um den Erfolg der Humankapitaltheorie zu verstehen ist es wohl unerlässlich, über dieses Verhältnis zwischen ökonomischer Theorie und Alltagsvorstellungen nachzudenken. In seiner Besprechung von Irving Fishers Capital and Income, auf das sich Humankapitaltheoretiker wie Theodore W. Schultz gerne beziehen, beschreibt Thorstein Veblen (1908) die Ökonomie noch als Wissenschaft, die sich in praktisch wenig relevanten Konstrukten verliert und diese in einen imaginierten Zusammenhang menschlichen Wohlergehens stellt, wobei die Theorie nicht selten Probleme hervorbringt, die sich in der Wirtschaftspraxis gar nicht stellen: »What it lacks is the breath of Life.« Ohne Zweifel ist nun allerdings die Ökonomie durch die Humankapitaltheorie und die Handlungstheorie des Rational Choice weitaus näher an die Alltagsrealitäten der Menschen heran gerückt als die klassische Ökonomie. Dies wird zum Beispiel in der Nobelpreisrede von Gary S. Becker (1993b: 395-396; 399) so deutlich, wenn er die commonsense idea oder die instinctive economics normaler Menschen als den Ausgangspunkt der ökonomischen Theoriebildung nennt. Wer möchte denn ernsthaft daran zweifeln, dass Menschen heiraten oder sich scheiden lassen, weil sie erwarten, dass es ihnen danach besser geht? Dass man/frau heiraten und scheiden
H UMANKAPITAL
UND ÖKONOMISCHER I MPERIALISMUS
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kann, ist einfach so, und wie sich mit solchen Institutonen des sozialen Lebens verbundene Erwartungen bilden, braucht nicht wirklich untersucht zu werden: Es kommt nur darauf, dass sie als die Grundlage rationaler Entscheidungen betrachtet werden können. Von diesem ebenso magischen wie unreflektierten Verhältnis der ökonomischen Theorie zur Alltagspraxis geht ein Teil des Zaubers aus, der den ökonomischen Imperialismus trägt. Pierre Bourdieu (2002: 213) schreibt Folgendes: »Der homo oeconomicus, wie ihn die ökonomische Orthodoxie (stillschweigend oder ausdrücklich) auffasst, ist eine Art anthropologisches Monster. Dieser Praktiker mit Theoretikerkopf verkörpert die vorzüglichste Form der scholastic fallacy, des intellektualistischen oder intellektualozentristischen Irrtums, der in den Sozialwissenschaften (namentlich in Linguistik und Ethnologie) sehr üblich ist. Der Wissenschaftler setzt dabei den Agenten, die er untersucht – Hausfrauen oder Haushalte, Unternehmen oder Unternehmer usw. –, jene Erwägungen und theoretischen Konstruktionen in den Kopf, die er selbst erst auszuarbeiten hatte, um von ihren Praktiken Rechenschaft abzulegen.«
Doch was dem soziologischen Denken als Monster erscheint, nehmen die alltagspraktisch handelnden Menschen, die sich unter Umständen an lange schon einverleibte Ziele der Lebensführung und Haltungen zur Zukunft – ein ordentliches Leben führen, nicht von der Hand in den Mund leben usw. – erinnert fühlen, wenn die Rede vom homo oeconomicus ist, als etwas Natürliches oder zumindest Plausibles wahr. Erst recht kann von Seiten jener Ökonomen oder Sozialwissenschaftler, die sich ohne es zu merken eine gewisse Befriedigung dadurch verschaffen, dass sie ein Bild ihrer selbst oder das Gegenteil davon in ihren Untersuchungsgegenstand projizieren, keine Einsicht in diese scholastic fallacy erwartet werden. Die Soziologie Pierre Bourdieus, die sich so vorzüglich zur Kritik dieser der ökonomischen Orthodoxie zu Grunde liegenden Prämissen eignet, enthält jedoch auch eine einflussreich gewordene Kapitaltheorie, die es nun in den Blick zu nehmen gilt.
VI. Das Kapital bei Pierre Bourdieu
Neben der angelsächsischen Abstammungslinie, die der ökonomischen Humankapitaltheorie entspringt, existiert mit dem Werk Pierre Bourdieus eine zweite konzeptuelle Hauptquelle, aus der sich heutige soziologische Kapitaltheorien speisen. Insbesondere das symbolische und das kulturelle Kapital zählen zu den Schlüsselbegriffen, die der französische Soziologe in seinen Schriften entfaltet hat. Sie sind bei ihm offensichtlich Teil einer allgemeinen Strategie, die soziologische Analyse der sozialen Welt im Allgemeinen und der kulturellen Phänomene im Besonderen mit einer ökonomischen Terminologie zu versehen, um den Bruch mit üblichen Vorannahmen zu betonen und die angestrebten Erkenntniswirkungen zu verstärken (Lebaron 2003). Auf den ersten Blick entsteht durch diesen Einsatz ökonomisch klingender Konzepte der Eindruck einer unerwarteten Wahlverwandtschaft mit dem ökonomischen Imperialismus des amerikanischen Neoliberalismus. Doch in den letzten Jahren seines Lebens sich Bourdieu (1998b) als einer dessen bekanntesten Kritiker hervorgetan. Seine politische Kritik des Neoliberalismus stützt sich auf eine lange Reihe von Studien über ökonomische Phänomene, die bis an den Beginn des Werks zurück reicht: Bereits in seinen Untersuchungen der algerischen Gesellschaft thematisierte Bourdieu Zusammenhänge zwischen Ökonomie und symbolischer Ordnung der Gesellschaft. Offensichtlich war es für den französischen Soziologen kein Widerspruch, den Einsatz ökonomischer Terminologie mit Ökonomiekritik zu verbinden. Ich werde in diesem Kapitel zunächst rekonstruieren, wie die Kapitaltheorie zu einem zentralen Pfeiler der Soziologie Bourdieus geworden ist. Daraufhin diskutiere ich diese Theorie als Teil einer allgemeinen Strategie der soziologischen Kritik an Vorstellungen reiner Kultur ebenso wie reiner Ökonomie. Schließlich setze ich mich mit der Frage auseinander, in welchem Verhältnis die Kapitaltheorie des bekannten französischen Soziologen zum Werk von Marx steht.
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S YMBOLISCHES
UND KULTURELLES
K APITAL
Pierre Bourdieus frühe Studien über Algerien werden heute ebenso selbstverständlich mit dem Begriff des symbolischen Kapitals in Verbindung gebracht wie seine Untersuchungen über die soziale Reproduktion durch das Bildungssystem mit dem des kulturellen Kapitals. Wer aber die ersten Veröffentlichungen des jungen Soziologen – oder genauer gesagt: des von der Philosophie kommenden und sich über die Ethnologie zur Soziologie wendenden Forschers – zu diesen Themen liest, findet diese Begriffe noch gar nicht vor. Es hat einige Jahre gedauert, bis Pierre Bourdieu ausgehend von verschiedenen empirischen Studien seine Konzepte mehr und mehr zu einem theoretischen System geformt hat, das er zu guten Teilen in ökonomischer Terminologie (Markt, Kapital, Investition usw.) formulierte. Seine Kapitalbegriffe treten ab Beginn der 1970er Jahre auf. In den 1980er Jahren hat er die Kapitaltheorie daraufhin zum zentralen Pfeiler seiner Theorie des sozialen Raums entwickelt und in einigen wenigen Texten systematisch dargestellt. Im Gegensatz zu den Theoretikern des Humankapitals scheint ihm die Entwicklung eines kohärenten theoretischen Modells weniger ein programmatisches Ziel gewesen zu sein, das er proklamiert und angestrebt hätte, sondern ein inkrementeller Prozess, der sich aus konkreten Forschungsergebnisse speist. Frédéric Lebaron (2003) erinnert daran, dass Pierre Bourdieu als junger Sozialforscher eine enge Zusammenarbeit mit Statistikern und Ökonomen pflegte, die am Institut National de Statistique et d’Etudes Economiques (INSEE) tätig waren. Er hatte keine Berührungsängste den Einsatz statistischer und ökonomischer Modelle betreffend, deren Fruchtbarkeit für die empirische Sozialforschung er in eigenen Untersuchungen zu testen versuchte. Lebaron (ebd.: 553554) nennt für die Jahre 1958 bis 1966 sieben empirische Forschungsprojekte, an denen Bourdieu beteiligt war und die der Entwicklung seiner soziologischen Theorie als empirische Grundlage dienten, die er in einer Vielzahl von Publikationen über einen längeren Zeitraum hinweg verarbeitete: die Untersuchung des Übergangs von einer traditionellen zu einer kapitalistischen Ökonomie in Algerien; die Studie über die Krise der bäuerlichen Welt des Béarn, einer südfranzösischen Region, in der Pierre Bourdieu selbst aufgewachsen war; eine Forschungsarbeit zur Kreditvergabe durch eine Bank und die Art und Weise, wie in dieser scheinbar rein ökonomischen Tätigkeit die sozialen Merkmale der Kundschaft berücksichtigt werden; die erste Untersuchung der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des ungleichen Zugangs zur Hochschulbildung (Les Héritiers); die Analyse der sozialen Einflussfaktoren kultureller Praktiken am Beispiel der Photographie; die erste empirische Untersuchung über die Wahrschein-
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lichkeit des Museumsbesuchs in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft; die Teilnahme am Colloque D’Arras, einer durch das INSEE organisierten Konferenz, die sich mit den Ursachen und Auswirkungen des Wirtschaftswachstums beschäftigte. Von Algerien nach Frankreich Bereits in seinem Büchlein über Algerien, das er als nicht einmal 30jähriger veröffentlichte, skizziert Pierre Bourdieu ([1958] 2010) wichtige Elemente seiner späteren Analysen zum Verhältnis zwischen Ökonomie und Kultur. Er beschreibt eine Gesellschaft, in welcher alle ökonomischen Handlungen in soziale Beziehungen – insbesondere in die Familienstrukturen – eingebettet sind und als Ehrengeschäfte praktiziert werden, in denen nicht ein materielles Interesse oder gar ein ökonomischer Profit gesucht wird. Es ist, wie wenn diese Gesellschaft der wirtschaftlichen Realität nicht ins Auge sehen wollte, was dazu führt, dass alle Praktiken des Tauschs auf zwei verschiedenen Klaviaturen spielen: sie bewegen sich sowohl im Register der proklamierten Großzügigkeit als auch des verschleierten Interesses (ebd.: 106). Wenn Pierre Bourdieu festhält, in dieser Gesellschaft lasse sich kein rationales ökonomisches Kalkül beobachten, macht er andere Formen des Kalküls und der Investition sichtbar, die nicht auf eine abstrakte Zukunft gerichtet sind, sondern auf konkreten Erfahrungen beruhen (ebd.: 103-104). Die Beobachtung, die algerische Gesellschaft ignoriere das Kapital und die kapitalistischen Mechanismen praktisch vollständig (ebd.: 102), führt ihn noch nicht dazu, einen neuartigen Begriff wie das symbolisches Kapital zu prägen, um diese Verschleierung der Kapitalakkumulation zu erfassen. Der französische Soziologe hat seine Algerienstudien zum Ausgangspunkt der Entwicklung seiner allgemeinen Theorie der Praxis gemacht (Bourdieu 1979), die er gerne als Ökonomie der Praxis bezeichnet. In dem Zusammenhang hat er den Begriff des symbolischen Kapitals 15 bis 20 Jahre nach der ersten Veröffentlichung über Algerien systematisch entwickelt und für die Analyse empirischer Beobachtungen fruchtbar gemacht. Bourdieus Kritik richtet sich sowohl gegen den in der Ethnologie dominierenden Strukturalismus als auch gegen den im Blick auf außereuropäische Gesellschaften üblichen ethnozentristischen Ökonomismus: Beide verfehlen den praktischen Charakter der Alltagshandlungen sowie die ökonomisch-symbolische Doppeldimension der Tauschakte. Weil in der algerischen Gesellschaft das ökonomische Kapital praktisch vollständig in symbolisches konvertiert sein muss, um seine Wirkungen zu entfalten, wird es in der Regel auch durch den fremden Beobachter nicht als solches erkannt. Pierre Bourdieu (ebd.: 345) streicht nun ganz offen seine Strategie her-
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aus, gegen die Blindheit des auf eine sehr spezifische Form von Ökonomie – den westlichen Kapitalismus – fixierten Ökonomismus »bis zum bitteren Ende« genau das durchzuführen, »was jener nur halbherzig tut: das ökonomische Kalkül unterschiedslos auf alle, sowohl materielle wie symbolische Güter auszudehnen, die rar scheinen und wert, innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Formation untersucht zu werden – handele es sich um ›schöne Worte‹ oder ein Lächeln, um einen Händedruck oder ein Achselzucken, um Komplimente oder Aufmerksamkeiten, Herausforderungen oder Beleidigungen, um die Ehre oder um Ehrenämter, um Vollmachten oder Vergnügungen, um ›Klatsch‹ oder wissenschaftliche Informationen, um Distinktion oder um Auszeichnungen usw.«
Die kapitaltheoretische Neuformulierung seiner früheren Analyse des Ehrentausches erscheint als konsequente Umsetzung dieser Strategie, mit der Bourdieu (1979: 336) sichtbar machen will, dass es in vorkapitalistischen Gesellschaften durchaus eine Ökonomie gibt – wenn auch eine Ökonomie an sich, aber keine Ökonomie für sich, wie er die Marx’sche Klassentheorie paraphrasierend herausstellt. Darüber hinaus wird das symbolische Kapital zum Scharnier, das seine Theorie der Praxis mit seiner Theorie der Herrschaftsformen verbindet. Mehr als eine Theorie der Ökonomie als besonderem Feld beschäftigt den französischen Soziologen die Entwicklung einer praxeologisch fundierten Theorie der Reproduktion sozialer Ordnung und Ungleichheit. Algerien steht als Beispiel einer Gesellschaft, in der die Macht nur über persönliche Beziehungen ausgeübt und aufrechterhalten werden kann, weil sich kein System institutionalisierter und objektivierter gesellschaftlicher Mechanismen herausgebildet hat, welches die Reproduktion der sozialen Ungleichheit wie von selbst garantiert. Es reicht daher nicht aus, wenn die Herrschenden »das System, das sie beherrschen, um Herrschaft auszuüben, von alleine laufen lassen; vielmehr ist es unabdingbar, dass sie Tag für Tag, handgreiflich und in eigener Person arbeiten, um die stets gefährdeten Voraussetzungen ihrer Herrschaft zu produzieren und zu reproduzieren. Sie sind, da sie sich nicht damit zufrieden geben können, sich die Gewinne einer gesellschaftlichen Maschinerie anzueignen, die das Vermögen zu ihrem Fortbestehen noch nicht in sich selbst vorfindet, zu den elementarsten Formen der Herrschaft verurteilt, d.h. zur handgreiflichen Herrschaft einer Person über eine andere, deren Grenzfall die Appropriation, d.h. die Sklaverei, darstellt.« (Ebd.: 366-367)
Um so größer ist die praktische Bedeutung des symbolischen Kapitals, das heißt die Akkumulation von Ehre und Prestige, die es erlaubt, die persönlichen Bezie-
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hungen zu verzaubern und Herrschaft ebenso wirksam zu verschleiern wie die ökonomischen Grundlagen des Alltagslebens. An diesen Ausführungen lässt sich rekonstruieren, wie Pierre Bourdieu stets versucht hat, aus den Untersuchungen der algerischen Gesellschaft etwas über die Soziologie der französischen und allgemein der kapitalistischen Gesellschaft zu lernen. Denn er hat einen Großteil seines Werks der soziologischen Analyse eben dieser gesellschaftlichen Maschinerie gewidmet, welche etwa in Frankreich die Reproduktion der sozialen Ordnung gewährleistet, indem man sie einfach laufen lässt. Dabei steht die kapitalistische Ökonomie als Extremfall für eine offene und brutale Form gesellschaftlicher Gewalt, die sich kaum verschleiern muss, um ihre Wirkung zu entfalten, während das Bildungssystem neue Formen symbolischer Herrschaft hervorbringt, die Pierre Bourdieu mit dem Begriff des kulturellen Kapitals verbindet. Bei der Lektüre der ersten wichtigen Schrift zum Thema, die den Titel Les Héritiers trägt (Bourdieu und Passeron 1964), fällt allerdings ins Auge, dass der inzwischen so gut etablierte Begriff noch gar nicht vorkommt. Die Autoren bezeichnen die beobachteten Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, Studienwahl und Studienerfolg als Beispiele dafür, wie sich ein kulturelles Privileg in einen Verdienst verwandelt (ebd.: 112), sie kommen vollständig ohne kapitaltheoretische Konzeptualisierung aus. Dennoch schlägt die Strategie der soziologischen Analyse unter Einsatz ökonomischer Begriffe durch, indem die Analogie zwischen dem finanziellen Erbe, der Vererbung von Geldvermögen auf der einen, und der Weitergabe des kulturellen Privilegs von einer Generation zur nächsten auf der anderen Seite als roter Faden der Untersuchung dient. Einige Jahre später kommt der Begriff des kulturellen Kapitals in der zweiten einflussreichen Veröffentlichung von Bourdieu und Passeron (1970) über das Bildungssystem vor, steht aber keineswegs im Zentrum der Argumentation. Dieses Buch mit dem Titel La Reproduction beginnt mit einem ausführlichen theoretischen Teil, in dem eine Theorie der symbolischen Gewalt vorgetragen wird, die das öffentliche Bildungssystem durch die Institutionalisierung und Vermittlung einer besonderen Form von Kultur als einzige legitime Kulturform ausübt. Hinter dieser Legitimität verbirgt sich demnach eine kulturelle Willkür, deren systematischer Verkennung und Verschleierung große praktische Bedeutung für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung in der kapitalistischen Klassengesellschaft zukommt. Die Verfasser betonen insbesondere den Stellenwert der sprachlichen Fähigkeiten und Stile für den Schulerfolg und verwenden den Begriff des Sprachkapitals (capital linguistique) (ebd.: 90-99). In einem 1973 erstmals veröffentlichten Aufsatz (in: Bourdieu/Boltanski/de Saint Martin/Maldidier 1981: 23-87) ist dagegen von Bildungskapital die Rede. Der ausführliche und
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ambitionierte Text beschreibt, wie das Bildungssystem in den Reproduktionsstrategien der herrschenden Klasse, insbesondere des Unternehmertums, an Bedeutung gewonnen hat. Dies wird auf strukturelle Veränderungen im ökonomischen Feld zurückgeführt (Übergang vom Familienunternehmen zu bürokratisierten Großunternehmen; neue Verflechtungen zwischen Unternehmen; usw.), auf Grund derer traditionelle Formen personaler Herrschaft zu Gunsten von strukturellen Herrschaftsformen in den Hintergrund treten. Trotz des Titels – Kapital und Bildungskapital – fördert der Aufsatz keine expliziten kapitaltheoretischen Überlegungen zu Tage. Im Zentrum stehen dagegen die Reproduktionsstrategien unterschiedlicher Klassenfraktionen und deren Zusammenhänge mit veränderten Strukturen des ökonomischen Feldes. So richtig ins Zentrum von Bourdieus soziologischer Theorie rückt der Kapitalbegriff erst mit der Beschreibung des sozialen Raums als Raum von Positionen, welche durch die ungleichen Verteilungen verschiedener Kapitalsorten geprägt sind. Der französische Soziologe hat dabei die Beziehungen zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital als grundlegendes Prinzip der Analyse und der Darstellung bemüht. So etwa in der umfangreichen Studie über Die feinen Unterschiede, in der die Zusammenhänge zwischen sozialer Klasse, Geschmack und Kulturkonsum untersucht werden. Das berühmt gewordene Doppeldiagramm, in dem der Raum der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile in eine graphische Darstellung integriert – gleichsam übereinander gelegt – werden, hat sich zweifellos ganzen Generationen von Studierenden als der Inbegriff von Bourdieus Soziologie eingeprägt (Bourdieu 1982: 212-213). Auch die Analyse der herrschenden Klasse Frankreichs in Staatsadel (Bourdieu 2004) stellt die Klassenfraktionen im Feld der Macht an Hand des Verhältnisses von kulturellem und ökonomischem Kapital zu- und gegeneinander. In den Blick der soziologischen Untersuchung geraten dabei insbesondere die Eliteschulen (Grandes Ecoles), die ihrem Publikum einen regelrechten Korpsgeist zu vermitteln wissen und unterschiedliche Wege zu verschiedenen Positionen im Feld der Macht darbieten, die zu ergreifen letztlich aber nur in der Lage ist, wer über ein passendes kulturelles Kapital verfügt. Vis insita, lex insita An Hand dieser knappen Rekonstruktion lassen sich in der Entwicklung von Pierre Bourdieus Kapitaltheorie drei Phasen ausmachen. In den Untersuchungen der 1960er Jahre formt und festigt sich die sein gesamtes Werk prägende Haltung, ökonomische Modelle und Begriffe für die Analyse der sozialen Welt und kultureller Phänomene fruchtbar zu machen. In den 1970er Jahren entwirft und
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schärft der französische Soziologe in einzelnen Untersuchungsfeldern die einschlägigen Kapitalbegriffe, vor allem das symbolische und das kulturelle Kapital. Hinzu kommt ein oft zitiertes Editorial über Sozialkapital in einer dem Thema gewidmeten Nummer der Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales (Bourdieu 1980). In den 1980er Jahren bezieht er seine Kapitalbegriffe systematisch aufeinander und macht sie zu Pfeilern seiner Theorie des sozialen Raums und der Lebensstile. In diese dritte Phase fällt der einzige Text Pierre Bourdieus, der als eigentliche Abhandlung über seine Kapitaltheorie gelten kann. Es handelt sich um einen Aufsatz mit dem Titel Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital (Bourdieu 1992), der zuerst 1983 in einer Sondernummer der Zeitschrift Soziale Welt auf Deutsch erschienen ist und großen Einfluss auf die internationale Rezeption des gesamten Werks erlangt hat. In diesem Text macht Pierre Bourdieu deutlich, dass das Kapital in seiner Theorie weit mehr ist als nur eine produktive Ressource, derer sich die Menschen unter bestimmten Umständen bedienen können. Vielmehr handelt es sich um eine der sozialen Welt innewohnende Macht, eine Kraft, die deren Strukturen und Funktionsweisen prägt: »Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form. Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen privat und exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich. Als vis insita ist Kapital eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt; gleichzeitig ist das Kapital – als lex insita – auch grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt. […] Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, dass nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.« (Bourdieu 1992: 49-50)
Dieser Aufsatz führt demnach genauer aus, was Bourdieu meint, wenn er das Kapital als »Energie der sozialen Physik« bezeichnet (Bourdieu 1979: 357; Bourdieu/Wacquant 1996: 151). Bourdieu streicht nicht nur den Zusammenhang zwischen dem Kapital und der Reproduktion sozialer Ungleichheit heraus, er macht auch die hinter der Kraft des Kapitals verborgene Arbeit als menschliche Praxis wieder sichtbar, indem er das Kapital als akkumulierte Arbeit sieht. Zwar schreibt er: »Dem Kapi-
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tal wohnt eine Überlebenstendenz inne; es kann ebenso Profite produzieren wie sich selbst reproduzieren oder auch wachsen.« (Bourdieu 1992: 50) Das klingt nach Kapitalfetischismus, nach dem mystischen Ding, das Früchte trägt wie ein Baum (Marx). Doch der französische Soziologe hält zugleich fest, die Akkumulation von Kapital brauche Zeit, und bei dieser Zeit handelt es sich um Arbeitszeit. Bourdieu bezieht sich überraschend direkt auf eine im Kern klassische, wenn auch durch seine Pluralisierung des Kapitalbegriffs modifizierte Arbeitswertlehre: »Die universelle Wertgrundlage, das Maß aller Äquivalenzen, ist dabei nichts anderes als die Arbeitszeit im weitesten Sinne des Wortes. Das durch alle Kapitalumwandlungen hindurch wirkende Prinzip der Erhaltung sozialer Energie lässt sich verifizieren, wenn man für jeden gegebenen Fall sowohl die in Form von Kapital akkumulierte Arbeit als auch die Arbeit in Rechnung stellt, die für die Umwandlung von einer Kapitalart in eine andere notwendig ist.« (Ebd.: 71-72)
Das Zitat zeigt, wie der französische Soziologe marxistische Terminologie und naturwissenschaftliche Analogie nicht weniger strategisch einsetzt als ökonomische Modelle. Michael Vester (2002) hält diesen Aufsatz für einen Schlüsseltext in Pierre Bourdieus Werk, weil er wie kaum ein anderer die Grundlegungen des relationalen Paradigmas vorträgt, die dessen Soziologie auszeichnet. Die Analogie mit der Physik, die in den Begriffen des Raums, des Felds und des Kapitals zum Tragen kommt, geht einher mit Anleihen an die Marx’sche Theorie von Arbeit und Kapital. Bourdieus relationales Paradigma beruht laut Michael Vester (ebd.: 64-67) auf dem Zusammenspiel vier grundlegender Dimensionen des sozialen Lebens, von denen die ersten beiden (Arbeitsteilung; Herrschaft) in etwa dem entsprechen, was der Verfasser des Kapitals mit der Dialektik der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse erfasste. Die dritte Dimension ist jene der institutionellen Differenzierung und der Autonomie der Felder (insbesondere der kulturellen Produktion und der Politik), während sich die vierte Dimension auf die historische Zeit bezieht und die Soziologie zu genetischer Rekonstruktion ihrer Gegenstände verpflichtet. In diesem Aufsatz über die Kapitalarten sind für Vester (ebd.: 67) die Analogien zur Relativitätstheorie, als deren soziologisches Pendant er Bourdieus Theorie sieht, überdeutlich: »Im Zentrum steht die Relativität der Zeit, verbunden mit der Umwandlung von Arbeit (Energie) in Kapital (Masse). Das relationale Feldkonzept wird somit, erstmals und in extrem verdichteter Form, auch mit Marx zusammengebracht, der nun noch einmal neu ent-
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deckt werden könnte. Dabei geht es um zweierlei. Zum einen will Bourdieu den Kapitalund Arbeitsbegriff von seiner Einengung auf das Ökonomische wieder befreien und als Schlüssel der Praxis und der Strebungen der Akteure verstehen. Zum anderen steht, wie schon bei Marx, die Dimension der historischen Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie in der Relativitätstheorie ist die Zeit der Schlüssel, durch den erst das Zusammenwirken der Akteure in den anderen drei Raumdimensionen verstanden werden kann.«
Dies bedeutet, dass der soziale Raum nicht als Raum statischer Positionen verstanden werden sollte, sondern als ein »Raum der Wege«, auf denen die Akteure beziehungsweise die sozialen Gruppen sich in der zeitlichen Dimension durch die Gesellschaft bewegen. »Die Wege und Wanderungen sagen mehr über die Motive und Ziele (wenn man will: ›Strategien‹) und damit über die Milieu- und Klassenzugehörigkeit als die aus Positionsmerkmalen ableitbaren ›Interessen‹.« (Ebd.: 70) Für Michael Vester (2002: 69) handelt es sich beim Aufsatz über die Kapitalarten allerdings auch um einen weitgehend wirkungslosen Versuch Bourdieus, Fehlinterpretationen seiner Kapitaltheorie als ökonomischem Determinismus oder empiristischer Schichtungssoziologie vorzubeugen. In der Tat hat der Text als Ausgangspunkt einer kanonischen Rezeption gedient, welche den Glauben an eine Mehrzahl von Kapitalarten im soziologischen common sense verankert hat, ohne eine nahe liegende Frage aufzuwerfen: Wenn für Pierre Bourdieu (1992: 70-71) das ökonomische Kapital letztlich den anderen Kapitalarten zu Grunde liegt, auch wenn diese eine spezifische eigene Wirksamkeit aufweisen, warum macht er es dann nicht zum Gegenstand seiner Untersuchungen? Im Aufsatz über die Kapitalarten lässt er es bei einer knappen Definition dieser Kapitalart bewenden, während das kulturelle und das soziale Kapital ausführlich beschrieben werden: »Das ökonomische Kapital ist unmittelbar direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts.« (Ebd.: 52) Die fehlende Analyse des ökonomischen Kapitals zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Pierre Bourdieus. In einem Interview hat der französische Soziologe diese Auslassung so begründet: »Was das ökonomische Kapital angeht, verlasse ich mich auf andere, das ist nicht meine Arbeit; ich kümmere mich um das, was von den anderen beiseite gelassen wird, entweder aus Desinteresse oder wegen fehlenden theoretischen Rüstzeugs: das kulturelle und das soziale Kapital.« (Bourdieu 1993: 54) Wer aber sind die anderen, auf die Bourdieu sich da verlassen will? Geht er etwa davon aus, der Kapitalbegriff der ökonomischen Theorie könne als Grundlage soziologischer Kapitaltheorie dienen? Wohl kaum. Aber sein Schweigen zum ökonomischen Kapitel hinterlässt eine Leerstelle, die sich als zentraler Schwachpunkt seiner Kapital-
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theorie erweist, der auch ökonomistischen Lesarten den Weg bereiten kann. Darauf komme ich später in diesem Kapitel zurück.
K ULTUR , Ö KONOMIE
UND
P RAXIS
Um den Stellenwert der Kapitaltheorie in Pierre Bourdieus Soziologie zu verstehen, muss sie als Teil dessen betrachtet werden, was der französische Soziologe als allgemeine Theorie der Praxis (Bourdieu 1979) oder als »allgemeine Wissenschaft von der Ökonomie der Praxis« (Bourdieu 1992: 51) bezeichnet. Die Arbeit an einer praxeologischen Sozialtheorie, deren Schlüsselbegriff der Habitus ist, steht im Zentrum des gesamten Werks. Es handelt sich für ihn vor allem um eine »Kritik der theoretischen Vernunft« (Bourdieu 1987), das heißt jener Betrachtungsweisen der sozialen Welt, die deren praktischen Charakter verkennen und die theoretischen Prämissen der Betrachtung mit der tatsächlichen Funktionsweise des Sozialen verwechseln. Pierre Bourdieu hat immer wieder die Marx’sche Formulierung aus der Kritik des hegelschen Staatsrechts zitiert, mit der Marx ([1843] 1976: 216) dem Philosophen vorwarf, die »Logik der Sache« mit der »Sache der Logik« zu verwechseln. Die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu versteht sich demnach als Kritik an den Sichtweisen auf die soziale Welt, in denen »die Logik nicht zum Beweis der [Gesellschaft], sondern [diese] zum Beweis der Logik [dient]« (ebd.). Nur eine Theorie, welche die »Logik der Praxis« (Bourdieu 1987: 147-179) als praktische Logik zu fassen versteht, die sich aus keiner theoretischen Vernunft ableitet, kann die verborgenen Funktionsweisen des Sozialen sichtbar machen. Diese Kritik der theoretischen Vernunft richtet sich gegen zwei verschiedene Sichtweisen des Sozialen zugleich, wie Bourdieu (1992: 71) zur Erläuterung der Kapitaltheorie ausführt: »Es ist nur möglich, das Funktionieren des Kapitals in seiner Logik, die Kapitalumwandlungen und das sie bestimmende Gesetz der Kapitalerhaltung zu verstehen, wenn man zwei einseitige und einander entgegengesetzte Betrachtungsweisen bekämpft: Die eine ist der ›Ökonomismus‹, der alle Kapitalformen für letztlich auf ökonomisches Kapital reduzierbar hält und deshalb die spezifische Wirksamkeit der anderen Kapitalarten ignoriert; die andere ist der ›Semiologismus‹, der heute durch den Strukturalismus, den symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie vertreten wird. Er reduziert die sozialen Austauschbeziehungen auf Kommunikationsphänomene und ignoriert die brutale Tatsache der universellen Reduzierbarkeit auf die Ökonomie.« (Bourdieu 1992: 71)
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Doch wie sehr diese Sichtweisen einander widersprechen mögen, für den französischen Soziologen handelt es sich um komplementäre Blicke auf die Gesellschaft, die sich gegenseitig erzeugen und verstärken: »Denn wer den Begriff des Eigennutzes im engen wirtschaftswissenschaftlichen Sinne gebraucht, ist auch zur Verwendung des Komplementärbegriffs der Uneigennützigkeit gezwungen: Man kann nicht die Welt des ›Bourgeois‹ mit seiner doppelten Buchführung erfinden, ohne gleichzeitig die Vorstellung vom reinen und vollkommenen Universum des Künstlers und Intellektuellen mitzuschaffen, wo das ›L’art pour l’art‹ und die reine Theorie uneigennützig regieren. […] Es ist bemerkenswert, dass gerade diejenigen intellektuellen und künstlerischen Praktiken und Güter dem ›kalten Hauch‹ des egoistischen Kalküls (und der Wissenschaft) entzogen wurden, die ein Quasi-Monopol der herrschenden Klasse sind. Man könnte sagen, dass der Ökonomismus nur deshalb nicht alles auf die Ökonomie reduzieren konnte, weil dieser Wissenschaft selbst immer schon eine Reduktion zu Grunde liegt: Sie verschont alle die Bereiche, die als sakrosankt gelten sollen.« (Ebd.: 51)
Historisch gesehen geht die Entstehung der Ökonomie als soziales Feld, in dem sich ein spezifisch ökonomisches Interesse – im Gegensatz zum symbolisch verklärten Ehrentausch in den vorkapitalistischen Gesellschaften – offen artikulieren kann, einher mit der Entstehung zunehmend autonomer Felder kultureller Produktion und symbolischer Praxis, zu denen auch das wissenschaftliche Feld gerechnet werden muss. Pierre Bourdieus Strategie des Einsatzes ökonomischer Begriffe und Modelle für die soziologische Analyse des Sozialen zielt demnach darauf ab, eben diese Bereiche, die als sakrosankt gelten sollen, zu entzaubern und einer soziologischen Objektivierung zugänglich zu machen. Das gilt nicht zuletzt für die Praxis der Intellektuellen selbst, deren Hang zur Produktion reiner Theorien und objektiver Wahrheiten der französische Soziologe als Ausdruck von Strategien untersucht hat, mit denen sie in ihren eigenen Feldern um Macht und Ansehen kämpfen. Es überrascht nicht, dass Pierre Bourdieu sich damit immer wieder den Vorwurf des Anti-Intellektualismus eingehandelt hat. In seinen Augen ist diese soziologische Selbstreflexion aber gerade eine Voraussetzung der wirklichen Befreiung der »freien Intellektuellen« (Bourdieu 1993: 66-76). Und er sieht seine Arbeit an der soziologischen Objektivierung der kulturellen Praktiken als Weiterentwickelung von Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, die darauf abzielt, den materialistischen Blick auch auf die symbolischen Sphären zu richten (Bourdieu 2000: 111-129).
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Ökonomie der kulturellen Güter Die umfangreiche Studie über Die feinen Unterschiede beginnt mit folgendem Satz: »Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, doch verfügt diese über ihre eigene Logik.« (Bourdieu 1982: 17) Sie stellt den umfassendsten Versuch des französischen Soziologen dar, diese Ökonomie des kulturellen Geschmacks und kulturellen Konsums auf breiter empirischer Grundlage zu erfassen. In kritischer Auseinandersetzung mit der Ästhetik Kants stellt Pierre Bourdieu an unzähligen Beispielen heraus, wie kulturelle Vorlieben und Abneigungen mit sozialer Position und in aller Regel halb- oder unbewussten Positionskämpfen verwoben sind. Distinguierter und populärer Geschmack erscheinen als Phänomene, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden können, das heißt nicht ohne Bezug auf die Struktur einer Klassengesellschaft, in der sich der Raum der sozialen Positionen und der symbolische Raum der Lebensstile überlagern. Auf der Grundlage seiner Kapitaltheorie argumentiert Bourdieu (ebd.: 365-366), das Zusammenspiel der Produktion und des Konsums von Kulturgütern ergebe sich nur deshalb scheinbar spontan, weil Güterproduktion und Geschmacksproduktion strukturähnlich funktionieren: »Das Prinzip funktionaler und strukturaler Homologie, welches bewirkt, dass die Logik des Produktionsfelds und die des Konsumtionsfelds objektiv aufeinander abgestimmt sind, rührt daher, dass alle speziellen Felder (das der Haute-Couture wie das der Malerei, das des Theaters wie das der Literatur, usw.) sich tendenziell derselben Logik gemäß strukturieren, nämlich entsprechend dem Umfang des Besitzes an spezifischem Kapital (und dem Alter des Besitzes, das oft mit dem Umfang zu tun hat); es rührt ferner daher, dass die sich in jedem Einzelfall ergebenden Gegensätze zwischen den an einer Kapitalart Reicheren und Ärmeren, zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, den Arrivierten und ihren Herausforderern, den Alteingesessenen und den Neulingen, realem und angemaßtem Rang, Orthodoxie und Häresie, Arrieregarde und Avantgarde, etablierter Ordnung und Fortschritte, usw. – dass alle diese Gegensätze sowohl einander homolog sind (daher die Vielzahl an invarianten Faktoren) als auch homolog den Gegensätzen, die das Feld der gesellschaftlichen Klassen (nach Herrschenden und Beherrschten) und das Feld der herrschenden Klasse (nach dominanter und dominierter Fraktion) strukturieren.«
Beschreibt Pierre Bourdieu (1982) in Die feinen Unterschiede typische klassenspezifische Geschmacksrichtungen – den Sinn für Distinktion der herrschenden Klasse, die Entscheidung für das Notwendige der populären Klassen, die Bildungsbeflissenheit des Kleinbürgertums –, widmet er sich in den Regeln der Kunst (Bourdieu 1999) der Funktionsweise des literarischen Felds. Ausgehend
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von Flauberts Education sentimentale führt er aus, wie die Welt der Kunst auf dem Glauben an die Einzigartigkeit des Kunstwerks und die Genialität des Künstlers beruht. In den Augen der Gläubigen dürfen literarische Texte nur literarisch gelesen werden, alles andere stellt eine Transgression dar, ein Sakrileg im eigentlichen Sinne des Wortes (ebd.: 295). Diese Entweihung des Kunstwerks vollzieht der französische Soziologe, wenn er etwa schreibt: »Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerks als Fetisch schafft.« (Ebd.: 362) Die Soziologie des literarischen Feldes muss nicht nur die Produktion des Kunstwerks, sondern auch die Produktion des Glaubens an die Kunst und an einzelne Kunstwerke in den Blick nehmen und in Bezug zur Produktion der kulturellen Dispositionen des Publikums stellen. Wenn Bourdieu (ebd.: 362) diese »Produktion des Glaubens an den Wert der Kunst« beschreibt und dabei die verschiedenen Glaubensproduzenten nennt (»Kritiker, Kunsthistoriker, Verleger, Galeristen, Händler, Konservatoren, Mäzene, Sammler, Mitglieder von Konsekrationsinstanzen wie Akademien, Ausstellungsstätten, Kunstjurys usw., ferner die Gesamtheit der politischen und administrativen Stellen, die in Kunstfragen mitzureden haben«), erinnert dies an Max Webers Analyse der Produktion des Glaubens durch Kirchen und religiösen Einrichtungen: Indem der deutsche Soziologie diese Institutionen wie wirtschaftliche Betriebe untersuchte, brachte auch er eine spezifische Ökonomie des Symbolischen ans Tageslicht. Der Markt der symbolischen Güter weist laut Pierre Bourdieu stets zwei Pole auf, die nach je spezifischer Ökonomie funktionieren, wobei diese Differenz an die Unterscheidung zwischen einer Ökonomie an sich und einer Ökonomie für sich aus den Algerienstudien erinnert, der Markt als Ganzer im Vergleich zu anderen Märkten allerdings eindeutig auf der Seite der Ökonomie an sich steht. »An dem einen Pol finden wir die anti-›ökonomische‹ ›Ökonomie‹ der reinen Kunst, die, auf der obligaten Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit sowie der Verleugnung der ›Ökonomie‹ (des ›Kommerziellen‹) und des (kurzfristigen) ›ökonomischen‹ Profits basierend, die aus einer autonomen Geschichte erwachsene spezifische Produktion und deren eigentümliche Ansprüche privilegiert. Diese Produktion, die keine andere Nachfrage anerkennen kann als jene, die von ihr selbst – freilich nur langfristig – produziert werden kann, orientiert sich an der Akkumulation symbolischen Kapitals als eines zwar verleugneten, aber anerkannten, also legitimen ›ökonomischen‹ Kapitals, eines regelrechten Kredits, der in der Lage ist, unter bestimmten Voraussetzungen und langfristig ›ökonomische‹ Profite abzuwerfen. Am anderen Pol herrscht die ›ökonomische‹ Logik der literarisch-künstlerischen Industrien, die aus dem Handel mit Kulturgü-
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Der französische Soziologe war sich der Tatsache wohl bewusst, dass seine in ökonomischen Begriffen vorgetragene soziologische Objektivierung kultureller Felder und Phänomene unter den Kulturproduzenten kaum auf Gegenliebe stoßen würde. Er betonte, sein Ansatz enthalte weder »einen Umsturz der kulturellen Wertordnung« noch eine »Bekehrung zur Gegenkultur«, erst recht keinen »Kult der Unkultiviertheit« (Bourdieu 1999: 297). Im Postscriptum zu den Regeln der Kunst plädiert Pierre Bourdieu (ebd.: 530) dafür, die soziologische Analyse der intellektuellen und kulturellen Praxis als Instrument einer kollektiven politischen Arbeit zu nutzen, die das Ziel verfolgt, die bedrohte Autonomie der kulturellen und wissenschaftlichen Felder zu verteidigen. In offensichtlicher Anlehnung an Marx ruft er zur Gründung einer »Internationale der Intellektuellen [auf], denen die Autonomie der kulturellen Produktionswelten am Herzen liegt oder, um es mit heute altmodisch klingenden Worten zu sagen: die Verfügungsgewalt der Kulturproduzenten über ihre Produktions- und Distributionsmittel (und also auch über die Bewertungs- und Konsekrationsinstanzen)«.
Die Bedrohung der Autonomie der Intellektuellen geht für Pierre Bourdieu vom Einfluss der ökonomischen und der politischen Macht auf deren Arbeit aus und er erinnert daran, dass erst die relative Befreiung von diesen Mächten die Kunst und Wissenschaft als autonome soziale Felder hat entstehen lassen. Es ist nicht überraschend, dass sich Pierre Bourdieu trotz dieses politischen Bekenntnisses zur Autonomie kultureller Praxis immer wieder mit dem Vorwurf des Ökonomismus konfrontiert sah. So rücken etwa Smith und Kulynych (2002: 176-177) seinen Ansatz in die Nähe des ökonomischen Imperialismus der Humankapitaltheorie. Sie berufen sich auf Swartz (1997: 78): »Bourdieu does share with human capital theorists – and rational actor theory more generally – the fundamental assumption that all action is interest oriented. While he would emphasize that the content of action will likely vary by social group, society, and historical
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period, he nonetheless does posit this invariant of human conduct. Moreover, though the types of interests can vary considerably, conduct always appears to be oriented toward accruing wealth, as Caillé correctly points out. In this sense Bourdieu’s economy of practices indeed shares with human capital theory a key utilitarian dimension despite his disclaimers.«
Lebaron (2003: 551-552) unterscheidet drei Formen der an Bourdieu gerichteten Ökonomismus-Kritik: Während die erste eine Ökonomisierung der soziologischen Sprache kritisiert, sieht die zweite den starken Einfluss eines marxistischen Determinismus, wogegen die dritte – vertreten zum Beispiel durch JeanClaude Passeron, den ehemaligen engen Mitarbeiter von Pierre Bourdieu – nach Grenzen und unkontrollierten Nebenwirkungen der ökonomischen Analogien fragt, die der französische Soziologe einsetzt. Ich selbst halte die dritte Kritik bis zu einem gewissen Grad für gerechtfertigt, weil Pierre Bourdieu es versäumt hat, den Begriff des ökonomischen Kapitals näher zu bestimmen. Pierre Bourdieu hat den Ökonomismusvorwurf wiederholt zurückgewiesen. Im Gespräch mit Loïc D. Wacquant betont er, mit der ökonomischen Orthodoxie nicht mehr als ein paar Wörter zu teilen (Bourdieu/Wacquant 1996: 150). Am Beispiel seines von Max Weber inspirierten Begriffs des Interesses erläutert der französische Soziologe, dass er ökonomische Konzepte nur »im Dienste eines bewussten, vorläufigen Reduktionismus [einsetzt], der es mir gestattet, das materialistische Denken in die Sphäre der Kultur hineinzutragen, aus der es historisch gesehen ausgetrieben wurde, als der moderne Kunstbegriff erfunden wurde und das Feld der kulturellen Produktion seine Autonomie erlangte«.
Weiter unten führt er aus: »[Der] Begriff Interesse, wie ich ihn verstehe, [ist] etwas vollkommen anderes als das transhistorische, universale Interesse der utilitaristischen Theorie, also die unbewusste Verallgemeinerung jener Form von Interesse, die von der kapitalistischen Wirtschaftsform erzeugt und vorausgesetzt wird. Dieses Interesse ist alles andere als anthropologisch invariant; vielmehr ist es historisch willkürlich, eine historische Konstruktion, die nur ex post durch eine historische Analyse und durch die empirische Beobachtung erkannt und nicht a priori von einer fiktiven und ganz offensichtlich ethnozentrischen Auffassung vom ›Menschen‹ schlechthin abgeleitet werden kann.« (Ebd.: 148-149)
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Ökonomiekritik Es liegt auf der Hand, dass die Überzeugungskraft von Bourdieus Position in dieser Frage von der Qualität der Ökonomiekritik abhängt, die er selbst geleistet hat. Wie erwähnt zielt seine allgemeine Theorie der Praxis nicht nur gegen die Vorstellungen reiner Kultur, sie macht auch den Glauben an die reine Ökonomie zum Gegenstand kritischer Analyse. Dabei hat sich der französische Soziologe mehrfach en passant über die Protagonisten der Humankapitaltheorie geäußert. So behauptet er, dass »besonders hartnäckige Ökonomen wie Gary Becker« in ihren Arbeiten unbewusst den Bewegungen der kapitalistischen Ökonomie folgen, »deren uneingestandenes Produkt ihr Denken ist, wenn sie auf die Familie, die Ehe oder die Kunst nach dem Postulat der berechnenden Rationalität konstruierte Modelle anwenden« (Bourdieu 2002: 27). Auch der Aufsatz über die drei Kapitalarten enthält einen Abschnitt zur Humankapitaltheorie: »Den Ökonomen der Humankapital-Schule kommt das scheinbare Verdienst zu, explizit die Frage aufgeworfen zu haben, in welchem Verhältnis die durch Erziehungsinvestition und durch ökonomische Investition generierten Profitraten zueinander stehen und wie dieses Verhältnis sich entwickelt. Allerdings bezieht das von ihnen benutzte Maß für den Ertrag schulischer Investition nur solche Investitionen und Profite ein, die sich in Geld ausdrücken oder direkt konvertieren lassen, wie die Studienkosten oder das finanzielle Äquivalent für die zum Studium verwendete Zeit. Außerdem können sie die relative Bedeutung nicht verständlich machen, die die unterschiedlichen Aktoren und Klassen der ökonomischen und der kulturellen Investition jeweils beimessen; denn sie stellen die Struktur der unterschiedlichen Profitchancen nicht systematisch in Rechnung, die die verschiedenen Märkte aufgrund der Größe und Struktur ihres jeweiligen Einzugsbereichs zu bieten haben. Das weiteren stellen sie die schulischen Investitionsstrategien nicht in einen Gesamtzusammenhang mit den anderen Erziehungsstrategien und dem System der Reproduktionsstrategien. Daraus ergibt sich das unausweichliche Paradoxon, dass die HumankapitalTheoretiker sich selbst dazu verdammen, die am besten verborgene und sozial wirksamste Erziehungsinvestition unberücksichtigt zu lassen, nämlich die Transmission kulturellen Kapitals in der Familie. Ihre Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Bildungs›Fähigkeit‹ und Bildungsinvestition zeigen, dass sie die Tatsache übersehen, dass ›Fähigkeit‹ oder ›Begabung‹ auch das Produkt einer Investition von Zeit und kulturellem Kapital ist. Und da es darum geht, die Profite der schulischen Investition zu ermitteln, so versteht man, dass sie nur nach der Rentabilität der Erziehungsausgaben für die ›Gesellschaft‹ als Ganze oder dem Beitrag der Erziehung zur ›nationalen Produktivität‹ fragen können. Diese typisch funktionalistische Definition der Erziehungsfunktionen ignoriert den Beitrag, den das Erziehungssystem zur Reproduktion der Sozialstruktur leistet, indem es die Ver-
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erbung von kulturellem Kapital sanktioniert. Eine derartige Definition von ›Humankapital‹ kann, trotz ihrer ›humanistischen‹ Konnotationen, dem Ökonomismus nicht entkommen. Sie übersieht u.a., dass der schulische Ertrag schulischen Handelns vom kulturellem Kapital abhängt, das die Familie zuvor investiert hat, und dass der ökonomische und soziale Ertrag des schulischen Titels von dem ebenfalls ererbten sozialen Kapital abhängt, das zu seiner Unterstützung zum Einsatz gebracht werden kann.« (Bourdieu 1992: 54-55)
In diesen Zeilen kommt die für Pierre Bourdieu charakteristische Haltung zum Ausdruck, die Ökonomen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Er kritisiert sie nicht dafür, kulturelle Bereiche ökonomisch zu untersuchen, sondern hält ihnen vor, dass sie nur eine inkonsequente ökonomische Analyse leisten, da ihre Wissenschaft nicht über das hinaus denkt, was die kapitalistische Ökonomie über sich selbst sagt. Aber ist Pierre Bourdieus Ökonomie einfach nur konsequenter als diejenige der Ökonomen? Für Beate Krais (1983: 212-214) existieren folgende Gemeinsamkeiten zwischen seiner Kapitaltheorie und der Humankapitaltheorie: die »nahezu vollkommene Analogie zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital«; die Annahme materieller Erträge aus nicht materieller Investition; die Verkörperung von Kapital im Individuum als Voraussetzung der Nutzung seiner Erträge; der Fokus auf die herausragende Bedeutung der schulischen Investitionen. Sie betont aber auch die folgenden Unterschiede. Erstens verzichtet Pierre Bourdieu auf die Koppelung von Bildungsinvestition, Arbeitsproduktivität und Erwerbseinkommen und stellt stattdessen die Bedeutung des Titels ins Zentrum der Analyse, wobei der Bildungstitel dem Adelstitel näher als dem Besitztitel steht und auch beträchtliche symbolische Erträge abwirft. Zweitens fragt der Soziologe nach den Voraussetzungen der Bildungsinvestitionen, das heißt nach der Vererbung von Kapital in der Familie und der Genese entsprechender Neigungen und Investitionsinteressen. Drittens sieht Pierre Bourdieu schließlich das kulturelle Kapital im Zusammenhang aller Kapitalarten und der Reproduktionsstrategien der sozialen Klassen und Klassenfraktionen, für welche Bildung angesichts ihrer Position im sozialen Raum und ihrer kollektiven Geschichte von sehr unterschiedlicher Bedeutung ist. Pierre Bourdieus Randbemerkungen zur Humankapitaltheorie sind jedoch nur ein Teilaspekt einer Ökonomiekritik, die seit den Algerienstudien in seinem Werk präsent ist, wenn sie auch meistens im Schatten seiner Kultursoziologie stand. Bourdieus Programm der Ökonomiekritik umfasst zwei Richtungen: Zum einen nimmt der französische Soziologe die Weltsicht der ökonomischen Orthodoxie als wissenschaftlichen Artefakt ins Visier, als eine »imaginäre Anthropologie« (Bourdieu 2002: 223), die auf unkontrollierten und soziologisch unhaltbaren Abstraktionen beruht, durch welche die Ökonomen ihren Gegenstand der so-
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zialen Welt und der Geschichte entreißen, um ihn den Menschen als Naturgegebenheit aufzuzwingen. Zum andern versucht Pierre Bourdieu eine Rekonstruktion des Ökonomischen zu leisten, indem er eine Genese des ökonomischen Habitus sowie des ökonomischen Feldes schreibt und die Ökonomie zum Gegenstand einer allgemeinen Soziologie macht, die sich mit der Ökonomie der Praktiken in den verschiedenen Feldern des Sozialen befasst. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Pierre Bourdieus Ökonomiekritik einem ebenso grundsätzlichen Anspruch folgt wie die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie: Nicht nur »diese oder jene Seite der ökonomischen Theorie« gilt es zu kritisieren, sondern vielmehr »[die] Prinzipien der ökonomischen Konstruktion selbst wie [die] Vorstellung vom Agenten und der Aktion, der Präferenzen oder der Bedürfnisse, kurz, all dessen, was die anthropologische Sichtweise ausmacht, der die meisten Ökonomen in ihrer Praxis folgen, und zwar oft unwissentlich« (ebd.: 185-186). Dieses Zitat deutet an, dass der französische Soziologe die Rational Choice Theorie als den eigentlichen Kern der ökonomischen Orthodoxie ausmacht und ins Zentrum der Kritik rückt. Für Pierre Bourdieu (2002: 223) ist es eine »eher sozial als wissenschaftlich begründete eklektische Theoriekonstruktion«, welche »auf einer kartesianischen Philosophie der Wissenschaft« beruht und ihren Gegenstand nur um den Preis der Herauslösung »eine[r] besonderen Gruppe von Praktiken oder eine[r] besonderen Dimension jeder Praxis aus der Gesellschaftsordnung« (ebd.: 19) zu gewinnen vermag. Gegen die Überzeugung zahlreicher Ökonomen, »man könnte sich mit den allgemeinsten Konzepten eines von allen Verunreinigungen gesäuberten ökonomischen Denkens begnügen, um ohne jede Rücksicht auf die Arbeiten von Historikern oder Ethnologen so komplexe gesellschaftliche Realitäten wie die Familie, die Austauschbeziehungen zwischen den Generationen, die Ehe oder die Korruption zu analysieren«, stellt er das gegenteilige Postulat: »Weil die gesamte gesellschaftliche Welt in jeder ›ökonomischen‹ Handlung zugegen ist, muss man sich mit Erkenntnisinstrumenten ausrüsten, die eben nicht die Mehrdimensionalität und Mutifunktionalität der Praktiken ausklammern und es so erlauben, historische Modelle zu konstruieren, mit denen knapp und genau Rechenschaft von den ökonomischen Handlungen und Einrichtungen, wie sie sich der empirischen Beobachtung darbieten, gelegt werden kann.« (Ebd.: 2122)
Die soziologische Analyse der Ökonomie muss demnach »das gesamte verfügbare Wissen über die verschiedenen Dimensionen der Gesellschaftsordnung [mobilisieren], also ungeordnet: die Familie, den Staat, die Schule, die Gewerkschaften, die Vereinigungen usw. – und nicht nur die Bank, das Unternehmen
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und den Markt« (ebd.: 19). Sie zielt darauf ab, eine »alternative Theorie für das Begreifen des ökonomischen Handelns [zu] präsentieren« (ebd.: 20), die sich auf Begriffe wie Habitus und Feld bezieht. Die imaginäre Anthropologie der ökonomischen Theorie beruht für Pierre Bourdieu (2002: 223-225) auf drei Säulen. Sie stützt sich erstens auf eine »deduktivistische Epistemologie, die Strenge mit mathematischer Formalisierung gleichsetzt« und sich in Wirklichkeit über die »realen Funktionen der Ökonomie« ausschweigt. Sie bringt zweitens eine »intellektualistische Philosophie« zum Ausdruck, welche ein »geschichtsloses reines Bewusstsein« von Menschen voraussetzt, die ihre Ziele frei setzen und in voller Sachkenntnis handeln. Schließlich beruht sie auf einer »atomistischen und diskontinuierlichen Anschauung der sozialen Welt«, welche die Geschichte unsichtbar macht und Descartes’ physikalisches Universum evoziert. Der französische Soziologe zitiert Emile Durkheim, dem zu Folge die politische Ökonomie »sich nicht so sehr damit befasst, die Wirklichkeit zu beobachten, wie damit, ein mehr oder minder wünschenswertes Ideal zu konstruieren; denn der Mensch, von dem die Ökonomen reden, dieser systematische Egoist, ist nur ein künstlicher Vernunftmensch. Der Mensch, den wir kennen, der wirkliche Mensch, ist viel komplexer: Er gehört einer Zeit und einem Land an, er lebt irgendwo, er hat eine Familie, ein Land, einen religiösen Glauben und politische Ideen.«
Auch an Thorstein Veblens Ökonomiekritik erinnert Pierre Bourdieu, wenn er dessen Sätze wiedergibt: »Die hedonistische Konzeption [der Ökonomie] fasst den Menschen als blitzschnellen Berechner von Lust und Leid auf, der wie ein homogenes Klümpchen Glücksbegehren unter dem Implus von Stimuli oszilliert, die ihn durch die Gegend treiben, ihn aber unversehrt lassen. Er hat weder Vorgeschichte noch Folge. Er ist eine isolierte, definitive menschliche Gegebenheit in stabilem Gleichgewicht, abgesehen von den Püffen der Stoßkräfte, die ihn in diese oder jene Richtung verschieben.«
Habitus und Feld Diesem wissenschaftlich produzierten Artefakt einer reinen Ökonomie hat Pierre Bourdieu den Begriff des ökonomischen Habitus entgegen gestellt, der einen doppelten Bruch mit der ökonomischen Orthodoxie markiert, indem er daran erinnert, dass erstens das kapitalistische Interesse der Profitmaximierung ein soziales Konstrukt ist, sowie zweitens das Handeln der Wirtschaftsakteure nicht auf
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bewusstem rationalem Kalkül beruhen muss, um vernünftig und wirksam zu sein. In Algerien hatte der französische Soziologe die ganz konkrete Gelegenheit zu beobachten, dass die uns geläufigen ökonomischen Verhaltensweisen nichts Natürliches sind, sondern den Menschen einer vorkapitalistischen Gesellschaft als eigenartig erscheinen. Umgekehrt fiel es ihm selbst nicht selten schwer, das Wirtschaftsverhalten der Einheimischen zu verstehen. »Ich erinnere mich, stundenlang auf einen kabylischen Bauern eingefragt zu haben, der mir eine traditionelle Form des Verleihens von Vieh zu erklären versuchte, weil es mir nicht in den Kopf wollte, dass sich der Verleiher gegen alle ›ökonomische‹ Vernunft dem Entleiher gegenüber verpflichtet fühlte – aus dem Grund, dass dieser doch das Tier versorgen werde, das man sonst ohnehin hätte füttern müssen.« (Bourdieu 2002: 22)
Konfrontiert mit der Herrschaft des französischen Kolonialismus, war die algerische Bevölkerung zu einer regelrechten Bekehrungsarbeit gezwungen, um sich die kapitalistische Weltsicht anzueignen und die eigenen Verhaltensweisen anzupassen. Die Wirtschaftssoziologie kommt laut Pierre Bourdieu (2002: 25) nun nicht umhin, diese Bekehrungsarbeit als solche zu erkennen und wieder sichtbar zu machen, um die Fähigkeit zu erlangen, die scheinbar reine und natürlichen Gegebenheiten gehorchende Ökonomie als nicht zwangsläufiges Produkt menschlicher Geschichte zu begreifen. »Alles, was die ökonomische Wissenschaft als gegeben annimmt, d.h. die Gesamtheit der Dispositionen des ökonomischen Agenten, auf die sich die Illusion der ahistorischen Allgemeingültigkeit der von dieser Wissenschaft gebrauchten Kategorien und Begriffe gründet, ist nämlich das paradoxe Produkt einer langen kollektiven, unaufhörlich in den Individualgeschichten sich reproduzierenden Geschichte, von der nur die historische Analyse vollständig Rechenschaft ablegen kann: Gerade weil sie sie parallel in soziale Strukturen und in kognitive Strukturen, in praktische Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata eingeschrieben hat, gab die Geschichte denjenigen Institutionen, deren ahistorische Theorie die Ökonomie angeblich aufstellt, den Anschein einer natürlichen und universellen Selbstverständlichkeit; hier wie auf anderen Gebieten fördert namentlich die Amnesie der Genese, das Vergessen der Entstehung, den Eindruck einer unmittelbaren Übereinstimmung zwischen dem ›Subjektiven‹ und dem ›Objektiven‹, zwischen den Dispositionen und den Positionen, zwischen den Erwartungen (oder Hoffnungen) und den Chancen.«
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Die Herausbildung einer Ökonomie für sich, das heißt eines relativ autonomen Feldes der Wirtschaft, verschafft der Rational Choice Theorie eine spontane Plausibilität, führt aber nur scheinbar dazu, dass die Wirtschaftsakteure tatsächlich so handeln, wie deren Anhänger es behaupten. Vielmehr bringt die Vorherrschaft des ökonomischen Interesses im uns geläufigen Sinn nur die Tatsache zum Ausdruck, dass die Menschen Dispositionen verinnerlicht haben, die entsprechende Verhaltensweisen hervorbringen. »Die Ökonomie der ökonomischen Praktiken, diese den Praktiken innewohnende Vernunft, hat ihren Ursprung nicht in ›Entscheidungen‹ des rationalen Willens und Bewusstseins oder in von äußeren Mächten ausgehenden mechanischen Determinationen, sondern in den Dispositionen, die in Lernprozessen bei einer langwährenden Auseinandersetzung mit den Regelmäßigkeiten des Feldes erworben wurden; diese Dispositionen können selbst ohne jedes bewusste Kalkül Verhaltensweisen und sogar Antizipationen erzeugen, die eher vernünftig als rational zu nennen sind, auch wenn ihre Übereinstimmung mit den Einschätzungen des Kalküls dazu verleitet, sie als Produkte der kalkulierenden Vernunft aufzufassen und zu behandeln. Wie die Beobachtung zeigt, orientieren sich die Agenten selbst in diesem Universum, wo die Mittel und Zwecke der Handlung und ihr Verhältnis zueinander höchst explizit angegeben werden, an Hand von Intuitionen und Antizipationen des praktischen Sinns, der recht oft das Wesentliche implizit bleiben lässt und von in der Praxis erworbener Erfahrung ausgehend sich in Strategien realisiert, die in doppeltem Sinne ›praktisch‹ sind – als implizit, nicht theoretisch, und als angemessen, den Erfordernissen und Dringlichkeiten des Handelns entsprechend.« (Bourdieu 2002: 29-30)
Ist der Habitus angepasst an das soziale Feld, in dem die durch ihn erzeugten Handlungen stattfinden, stellt er ein »sehr ökonomisches Aktionsprinzip [dar], das eine enorme Ersparnis an Rechenaufwand (namentlich beim Berechnen der Forschungs- und Bemessungskosten) und an der beim Handeln besonders knappen Ressource Zeit sichert« (Bourdieu 2002: 218). Doch sind für den französischen Soziologen die Bedingungen der praktischen Wirksamkeit des Habitus zugleich die Bedingungen der Unsichtbarkeit der verinnerlichten Dispositionen, auf denen das Handeln beruht. Diese Dispositionen werden nur in Situationen überhaupt als solche wahrgenommen, in denen sie zum Hindernis eines an die Erfordernisse des Feldes angepassten Handelns werden, das heißt wenn der Habitus »nicht Produkt der Bedingungen seiner Aktualisierung ist« (ebd.: 219) und ein Handeln anleitet, das früher wohl angemessen war, jetzt aber nicht mehr. Als Beispiele für solche Hysteresiseffekte nennt Pierre Bourdieu die Verhaltensweisen vorkapitalistisch sozialisierter Menschen, die in die Fänge der kapitalistischen Ökonomie geraten, ebenso wie diejenigen älterer Menschen, die sich den
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Zeichen der Zeit nicht anpassen, oder von denen, die abrupten sozialen Auf- oder Abstieg erlebt haben. Jedenfalls kann die soziologische Analyse der Handlungsdispositionen auf die Analyse der Handlungsfelder nicht verzichten, weil die Ökonomie der Praxis eben auf dem Zusammentreffen dieser beiden sozialen Konstruktionen beruht. Pierre Bourdieu (2002: 37-184) hat die doppelte Genese von Habitus und Feld zusammen mit mehreren Forscherinnen am Beispiel des französischen Häusermarkts untersucht. Die Studien gehen der Frage nach, wie es zur Herausbildung eines Eigentumssinns kommt, der die Wahl für das Eigenheim gegenüber dem Wohnen in Miete bevorzugt, und wie diese Dispositionen auf eine Struktur des Feldes treffen, die sowohl ein Angebot an als auch eine Nachfrage nach Häusern erzeugt. Dabei spielen neben den Bauunternehmen und Immobilienfirmen auch die Werbebranche und der Staat eine wichtige Rolle – letzterer zum Beispiel durch Gesetze zur Förderung des Eigenheimbesitzes. Der französische Soziologe hat die Untersuchung des Häusermarkts als Schlüssel zum Verständnis des »kleinbürgerlichen Elends« betrachtet, zur objektivierenden Analyse »all der kleinen Nöte, all dessen, was die Freiheit, die Hoffnungen und die Wünsche beeinträchtigt und dazu führt, dass das Dasein von Sorgen und Enttäuschungen, von Einschränkungen und Fehlschlägen und nahezu unvermeidlich von Melancholie und Ressentiment erfüllt ist«. Anders als die proletarische oder subproletarische Lage ruft dieses Elend nicht spontan Mitleid hervor, weil der Kleinbürger immer ein wenig selbst an seiner Situation schuld zu sein scheint. »Dadurch, dass er sich häufig auf für ihn zu groß angelegte, weil eher auf seine Ansprüche als auf seine Möglichkeiten zugeschnittene Projekte einlässt, bringt er sich selbst in eine von übermächtigen Zwängen beherrschte Lage. In dieser bleibt ihm als Ausweg nur, sich um den Preis einer enormen Anspannung den Folgen seiner Entscheidung zu stellen und sich zugleich darum zu bemühen, sich mit dem, womit die Realität seine Erwartungen sanktioniert hat, zufriedenzugeben, wie man so sagt, indem er alle Anstrengungen macht, die Fehlkäufe, die erfolglosen Unternehmungen, die leoninischen Verträge in seinen eigenen wie in den Augen seiner Angehörigen zu rechtfertigen.« (Ebd.: 40)
Erst wenige Jahre vor seinem Tod hat Pierre Bourdieu einen Aufsatz über das ökonomische Feld verfasst, wenn auch der Begriff bereits in zahlreichen früheren Texten eingesetzt wurde (erstmals ausführlich in Bourdieu/Boltanski/de Saint Martin/Maldidier 1981: 23-87). Im Vergleich zu anderen sozialen Feldern zeichnet sich die Ökonomie demnach dadurch aus, »dass hier die Sanktionen besonders brutal sind und das unverhohlene Streben nach der Maximierung des individuellen materiellen Profits öffentlich zur Zielvorgabe des Verhaltens ge-
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macht werden kann« (Bourdieu 2002: 190). Allerdings betont der französische Soziologe, dass selbst im ökonomischen Feld die nichtökonomischen Faktoren die Produktion und den Konsum beeinflussen, was sich zum Beispiel an der symbolischen Dimension der Ökonomie des Hauses sehr deutlich zeigt. Die Struktur des Feldes ist durch die ungleiche Verteilung der Kapitalarten geprägt, wobei Bourdieu die großen Unternehmen als die einzigen dominanten Agenten im Feld beschreibt. Als Trümpfe, die sie ausspielen können, nennt er eine Vielzahl von unterschiedlichen Kapitalarten: finanzielles, kulturelles, technologisches, juristisches, kommerzielles, symbolisches und Organisationskapital (ebd.: 192). Das ökonomische Kapital scheint in dieser Aufzählung auf mehrere Unterarten aufgeteilt zu sein. Pierre Bourdieu (ebd.: 194) betont die strukturale Determination durch Feldwirkungen, um mit den Abstraktionen der ökonomischen Theorie zu brechen, die von einem allgemeinen Gleichgewicht auf der einen und rationalen Akteuren auf der anderen Seite spricht. »Die typisch scholastische Kategorie Gleichgewicht (des Marktes, des Spiels) zugunsten der Kategorie Feld fallenzulassen, bedeutet, die abstrakte Logik des price taking, d.h. der automatischen, mechanischen und augenblicklichen Bestimmung des Preises auf Märkten mit uneingeschränkter Konkurrenz, fallenzulassen und den Standpunkt des price making zu beziehen, d.h. der (differentiellen) Macht, die Einkaufspreise (für Material, für Arbeit usw.) und die Verkaufspreise (also die Profite) zu bestimmen, einer Macht, die in bestimmten sehr großen Unternehmen speziell zu diesem Zweck ausgebildeten Fachleuten übertragen wird, den price setters.« (Ebd.: 197)
Mit dem Feldbegriff will der französische Soziologe der Alternative zwischen atomistischer und interaktionistischer Sichtweise entgehen, in der seines Erachtens auch die Vertreter der neuen institutionellen Ökonomie wie Mark Granovetter verhaftet bleiben (Bourdieu 2002: 199). Er fordert die Wirtschaftssoziologie auf, die Fiktion des Unternehmens als einheitlichem Akteur aufzugeben: »Wenn man die ›schwarze Kiste‹ Unternehmen öffnet und hineinblickt, findet man darin nicht Individuen, sondern abermals eine Struktur, jene des Feldes des Unternehmens, das relative Autonomie gegenüber den aus der Position im Feld der Unternehmen herrührenden Zwängen besitzt.« (Ebd.: 209) Die Unternehmensstrategien lassen sich demnach nicht direkt aus der Position der Unternehmen im ökonomischen Feld ableiten, sondern beruhen auch auf inneren Beziehungen und Kräfteverhältnissen. Es reicht für Pierre Bourdieu auch nicht aus, wie Max Weber die Konkurrenz zwischen den Unternehmen als Ergebnis von Entscheidungen zu betrachten, bei denen jeder Akteur die Strategien aller anderen antizipiert. Darüber hinaus ist die Struktur der objektiven Beziehungen zu rekonstruie-
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ren, auf deren Grundlage die Konkurrenz sich abspielt, und die Pierre Bourdieu als Homologie der Räume von Produktion und Konsum zu fassen versucht. In diesem Sinne ist der ökonomische Wettkampf stets – wie es bei Simmel heißt – ein indirekter Konflikt, der über Feldwirkungen vermittelt ist: »Im ökonomischen Feld wie anderswo auch braucht der Kampf nicht von der Absicht, andere zu vernichten, inspiriert zu sein, um verheerende Wirkungen zu produzieren.« (Ebd.: 213) Wenn der französische Soziologe das ökonomische Feld als ein durch Kräfteverhältnisse bestimmtes Kampffeld beschreibt, hebt er die Bedeutung der über das Feld hinausreichenden Außenbeziehungen vor, insbesondere zwischen Ökonomie und Staat: »Der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nimmt oft die Form eines Wettkampfs um die Macht über die Staatsmacht an – namentlich über die Regelungsbefugnis und die Eigentumsrechte – und um die Vorteile, die verschiedene staatliche Interventionen wie Vorzugstarife, Genehmigungen, Regelungen, Forschungs- und Entwicklungskredite, öffentliche Bauaufträge, Fördermittel für Beschäftigung, Innovation, Modernisierung, Export, Wohnungswesen usw. verschaffen.« (Bourdieu 2002: 207)
Jedenfalls ist der Staat, den er als »Endpunkt und Ergebnis eines langen Akkumulations- und Konzentrationsprozesses« verschiedener Kapitalarten beschreibt, laut Pierre Bourdieu in der Lage, das ökonomische Feld wesentlich zu beeinflussen. Wie eine genetische Rekonstruktion des Ökonomischen zeigt, handelt es sich bei der Vereinheitlichung des Markts der ökonomischen Güter und der Konzentration der Staatsmacht um zwei sich bedingende sowie begleitende Prozesse. »[Mehr] als alle anderen Felder ist das ökonomische Feld die Heimstatt des Staates, der jeden Augenblick zu seinem Dasein und Dableiben beiträgt, aber auch zur Struktur der Kräfteverhältnisse, die es kennzeichnen.« (Ebd.: 34-35) Die Vorstellungen einer reinen Ökonomie beruhen auf dem Vergessen dieser gemeinsamen Geschichte von Wirtschaft und Staat. Wohlbegründete Illusion Mit den Begriffen Habitus und Feld erhebt Pierre Bourdieu (2002: 221) auch einen Anspruch zu erklären, warum die vorherrschende ökonomische Theorie als »wohlbegründete Illusion« so plausibel zu erscheinen vermag. Die Ökonomiekritik des französischen Soziologen zielt ähnlich wie das Marx’sche Konzept der Vulgärökonomie darauf,
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»die scheinbare Wahrheit der von ihr widerlegten Theorie zu erklären. Wenn eine so irreale Annahme, wie sie der Theorie der Aktion oder der rationalen Antizipation zugrunde liegt, scheinbar durch die Tatsachen bestätigt wird, liegt das daran, dass die Agenten wegen der Entsprechung zwischen den Dispositionen und den Positionen in der großen Mehrzahl der Fälle (die auffallendsten Ausnahmen – Subproletarier, Deklassierte und Überläufer – lassen sich auch mit diesem Modell erklären) vernünftige Erwartungen ausbilden, d.h. solche, die zu den objektiven Chancen passen – und fast immer durch den direkten Effekt der kollektiven Steuerungen, namentlich seitens der Familie, kontrolliert und bestärkt werden.« (Ebd.: 221)
Die Menschen handeln im Wirtschaftsleben so, wie wenn sie rational kalkulierende Wesen wären, und die ökonomische Theorie kann sich auf ihren »gesunden ökonomischen Menschverstand« (ebd.: 32) berufen, den sie in »mathematische Formeln und Formen« (ebd.: 22) übersetzt, um ihre Plausibilität und scheinbare Erklärungskraft zu begründen. Wenn wir uns nun den umfassenden Ansatz von Pierre Bourdieus Ökonomiekritik vor Augen halten, kann es keinen Zweifel geben, dass der an ihn gerichtete Vorwurf des ökonomischen Imperialismus unhaltbar ist. Zu grundsätzlich hat der französische Soziologe die Prämissen der vorherrschenden ökonomischen Theorie in Frage gestellt, als dass seine Sicht auf die soziale Welt in die Nähe der ökonomischen Orthodoxie gerückt werden könnte. Natürlich sind ökonomistische Lesarten seiner Soziologie möglich, weil ja niemand zu kontrollieren vermag, was mit dem geschieht, was sie oder er schrieb (Smith/Kulynych 2002: 176). Eine Verantwortung für derartige unerwünschte Auswirkungen seiner Strategie, ökonomische Begriffe und Modelle zur Analyse der sozialen Welt zu nutzen, kann dem französischen Soziologen aber nur zugeschrieben werden, sofern er es unterlassen hat, eben diese Begriffe und Modelle, die er als Instrumente des Bruchs mit Vorstellungen der reinen Kultur eingesetzt hat, wiederum einer soziologischen Kritik zu unterwerfen. Nun hat Pierre Bourdieu aber Konzepte wie Markt, Konkurrenz, Interesse oder Strategie wiederholt zum Gegenstand der Kritik gemacht und ihnen seine eigenen Begriffe – wie Feld, oder Habitus – entgegen gestellt. Allerdings schweigt sich Pierre Bourdieu über das ökonomische Kapital aus. Selbst in seinem Aufsatz über das ökonomische Feld führt er nicht aus, wie es zur Bildung und Akkumulation von ökonomischem Kapital kommt, wie dessen Produktion und Aneignung vor sich geht. Da er zugleich immer wieder das ökonomische Kapital als diejenige Kapitalart bezeichnet hat, die allen anderen zu Grunde liegt (im Modus der Konvertierung und/oder Verleugnung), stellt dieser Begriff in der Tat eine Art trojanisches Pferd dar, mit dem die Logik der ökono-
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mischen Orthodoxie sich in den Kern seines theoretischen Systems einschleichen kann. In diesem Punkt trifft der Vorwurf zu, ökonomistischen Lektüren seiner Arbeiten wenig in den Weg gestellt zu haben. Wie überzeugend Pierre Bourdieus Ökonomiekritik das Rational Choice Paradigma auch trifft, so undurchsichtig bleibt das Fundament seiner Kapitaltheorie. Und wer den französischen Soziologen als Denker kennt, der ein feines Gespür für die theoretische wie politische Bedeutung von Begriffsarbeit aufweist, staunt über die bereits zitierte Aussage, er verlasse sich bei der Analyse des ökonomischen Kapitals auf andere (Bourdieu 1993: 54). Wenn diese anderen nicht die ökonomischen Kapitaltheoretiker sind, sind es die Marxisten oder ist Marx selbst gemeint? Oder ist Bourdieus Schweigen zum ökonomischen Kapital auch ein Schweigen zum Marx’schen Kapital?
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Pierre Bourdieu liebte es, seine Gegenspieler im wissenschaftlichen Feld mit deren eigenen Waffen zu schlagen. Wenn er die Prämissen der ökonomischen Orthodoxie angreift, beruft er sich nicht auf kulturelle Werte oder soziale Phänomene jenseits des Ökonomischen, sondern führt den Ökonomen vor, dass sie eine inkonsequente und einseitige ökonomische Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft vornehmen, weil sie eine bestimmte Form von Ökonomie als naturgegeben betrachten und nicht fähig sind, die Ökonomie der Alltagspraktiken zu erfassen. Die Gegenspieler mit ihren Waffen schlagen heißt auch, aus üblichen Gegenüberstellungen – wie Ökonomie und Kultur, Struktur und Subjekt oder Marxismus und bürgerliche Wissenschaft – auszubrechen, in denen diese sich wiederum im Gegensatz zu ihren erklärten Gegenspielern denken. Eine solche Argumentationsstrategie hat der französische Soziologe auch in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus eingeschlagen. Es kam für ihn nicht in Frage, sich in dem eine Zeit lang das intellektuelle Feld Frankreichs strukturierenden Kampf zwischen Anhängern und Gegnern des Marxismus auf eine Seite zu schlagen. Vielmehr sah Pierre Bourdieu führende Vertreter des marxistischen Lagers, allen voran Jean-Paul Sartre und Louis Althusser, als Protagonisten einer sich als reine Theorie denkenden Philosophie, die es als solche zu kritisieren gilt, sowie als Vertreter eines subjektivistischen (Sartre) und eines objektivistischen (Althusser) Pols der Erkenntnistheorie, deren Gegenüberstellung er zum Gegenstand der Kritik machte. Relevant erschien ihm nicht die jeweils proklamierte Zugehörigkeit oder Gegnerschaft zum Marxismus, sondern die tatsächliche wissenschaftliche Praxis, und so versuchte er darauf hinzuweisen, was die erklärten
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Gegenspieler im wissenschaftlichen Feld verbindet, so etwa der Glaube an den Sinn des Spiels oder der Sinn für große Theorie, der einem Heidegger ebenso eigen war wie einem Sartre oder Althusser, auch wenn sie auf der Ebene der politischen Positionsbezüge als Gegenspieler auftraten. »In der gelehrten Welt gibt es viele Leute, die sich ziemlich revolutionär gebärden, wenn es um Dinge geht, die sie nicht selbst betreffen, und konservativ, wenn man zum Eingemachten kommt…«: Dieser Satz aus einem Interview über Max Weber, den Pierre Bourdieu (2000: 126) als Vordenker kritischer Herrschaftssoziologie würdigte, was im marxistischen Lager, das ihn als Rechten betrachtete, systematisch ignoriert wurde, ist ein deutlicher Fingerzeig auf die Weigerung, die Kategorien der politischen Auseinandersetzung direkt und unreflektiert in die wissenschaftliche Diskussion hineinzutragen. Mit Marx gegen den Marxismus Diese Argumentationsstrategie des französischen Soziologen lässt sich beispielhaft an seiner Klassentheorie nachvollziehen, die in verdichteter Form im Vortrag Wie eine soziale Klasse entsteht vorgetragen ist. Anstatt die Frage, ob es soziale Klassen gibt, in der üblichen Weise zu beantworten, formuliert Pierre Bourdieu (1997) diese um. In seinen Augen stützen sich diejenigen, welche die Frage bejahen, genau wie ihre Gegenspieler auf eine unangemessene Konzeption der sozialen Welt, die hinterfragt werden muss. »Es ist derselbe Substantialismus, auf den sowohl das Behaupten wie das Bestreiten der Existenz von Klassen sich stützen. Was, von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, existiert, sind nicht soziale Klassen, wie die von beiden Positionen adaptierte realistische, substantialistische und empiristische Denkweise sie versteht, sondern ist ein sozialer Raum in der genauen Bedeutung des Begriffs, wenn wir, mit Strawson, die grundlegende Eigenschaft eines Raumes in der reziproken Äußerlichkeit der Gegenstände, die er umschließt, sehen.« (Ebd.: 106)
Demnach kommt einer Soziologie der sozialen Klassen die Aufgabe zu, nicht nur diese theoretischen Klassen zu rekonstruieren, das heißt ein Abbild sozialräumlich nahe beieinander liegender Positionen zu erstellen, sondern danach zu fragen, was in der gelebten sozialen Wirklichkeit aus dieser Nähe wird. Damit aus theoretischen Klassen reale Klassen entstehen, ist eine Arbeit der Klassenherstellung erforderlich, das heißt eine genuin politische Arbeit, welche verschiedene Formen der Klassenrepräsentation produziert (ebd.: 117-129).
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Die zentrale Bedeutung der Klassenproblematik im Werk Pierre Bourdieus ist ein Grund, weshalb er von rechts bisweilen als Neomarxist bezeichnet wurde. In der Auseinandersetzung mit dem Marxismus geht es dem französischen Soziologen aber darum zu klären, was mit dem Klassenbegriff genau gemeint ist und welchen Blick die linken Intellektuellen auf die Arbeiterklasse werfen. Wenn er die marxistische Illusion des Klassenrealismus kritisiert, führt er nicht nur Marx gegen den Marxismus ins Feld, sondern auch Marx gegen sich selbst: »[Man] kann […] aus demselben objektivistischen Verständnis der sozialen Welt postulieren, wie Marx es tat, dass die theoretischen Klassen wirkliche Klassen sind, wirkliche Gruppen von Individuen, die durch das Bewusstsein der Identität ihrer Lage und ihrer Interessen, ein Bewusstsein, das sie zugleich eint und anderen Klassen entgegensetzt, in Bewegung gesetzt werden. Tatsächlich begeht die marxistische Tradition den gleichen theoretischen Irrtum, dessen Marx selbst Hegel geziehen hat: Indem sie konstruierte Klassen, die als solche nur auf dem Papier existieren, gleichsetzt mit wirklichen Klassen in Gestalt mobilisierter, absolutes und relationales Selbstbewusstsein besitzender Gruppen, verwechselt die marxistische Tradition die Sache der Logik mit der Logik der Sache.« (Bourdieu 1997: 112)
Nur weil es aus der Beobachterperspektive nahe liegend erscheint, dass Menschen in ähnlicher Lage sich zu kollektivem Handeln zusammenfinden, gibt es keinerlei Gewähr, dass dies in der sozialen Realität tatsächlich geschieht. Der französische Soziologe geht in der Kritik der marxistischen Klassentheorie analog zu seiner Kritik der ökonomischen Orthodoxie vor. Er wechselt nicht das Register, weigert sich aber zugleich, eine der zwei legitimen Positionen in der Auseinandersetzung über die Existenz sozialer Klassen einzunehmen. Stattdessen führt er Marx gegen den Marxismus ins Feld und hält den marxistischen Klassentheoretikern eine verkürzte Konzeption des Klassenkampfs vor, welche die Bedeutung symbolischer Klassifizierungskämpfe um die vorherrschende Sichtweise auf die soziale Welt verkennt. Dieser Reduktionismus hat die marxistische Theorie in Bourdieus Augen dazu geführt, den Klassenkampf von der tatsächlichen Alltagspraxis und den damit verbundenen symbolischen und kulturellen Phänomenen (Lebensstil, Geschmack usw.) zu trennen und ausschließlich im politischen Feld zu verorten. Paradoxerweise liegt die Kehrseite dieser Verengung darin, die politische Arbeit der Klassenherstellung (Bourdieu 1997: 117) und dabei die eigene Rolle als marxistische Intellektuelle (Wissenschaftler, Medienschaffende, Politiker usw.) nicht zu reflektieren und soziologisch zu analysieren, weil die Entwicklung eines dem Klassenkampf angemessenen Klassenbewusstseins als natürlicher oder automatischer Prozess postuliert wird. Zweifel-
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los ist hier ein Punkt angesprochen, an dem man für marxistische Intellektuelle »zum Eingemachten kommt« (Bourdieu 2000: 126), und dies mag erklären, warum die Klassentheorie des französischen Soziologen im Lager des orthodoxen Marxismus nicht auf Gegenliebe gestoßen ist, während sie durchaus Affinitäten zu heterodoxen marxistischen Ansätzen aufweist, wie etwa Edward P. Thompsons (1963) The Making of the English Working Class. Pierre Bourdieus (1990: 146-168) polemischer Text, in dem er mit Zitaten des jungen Marx den »Wichtigkeitsdiskurs« des marxistischen Philosophen Etienne Balibar parodiert, muss im Kontext einer allgemeineren Auseinandersetzung gelesen werden: Der Schüler von Louis Althusser gerät stellvertretend für eine marxistische Orthodoxie in die Kritik, gegen die der französische Soziologe seine Ökonomie der Praxis und des Symbolischen konstruiert. Für David Swartz (1997: 65-94) beruht Bourdieus »Politische Ökonomie der symbolischen Macht« auf einem dreifachen Bruch mit dem strukturalen Marxismus der AlthusserSchule. Erstens wendet der Soziologe den Begriff des ökonomischen Interesses auf Felder außerhalb der Ökonomie an und versucht damit, die auch in der marxistischen Tradition dominierenden Gegenüberstellungen von Subjektivismus und Objektivismus (Kultur vs. Ökonomie; Überbau vs. Unterbau; usw.) zu durchbrechen. Es geht ihm nicht darum zu argumentieren, dass auch kulturelle Phänomene »in letzter Instanz« ökonomisch determiniert sind (Althusser/Balibar 1972: 289); vielmehr will er die spezifische Ökonomie der Kultur erforschen. Zweitens geht die Ausweitung des Kapitalbegriffs mit dem an den Marxismus gerichteten Vorwurf einher, dessen Fokussierung auf eine einzige Kapitalart – das ökonomische Kapital – lasse einen Großteil der gesellschaftlichen Machtverhältnisse außer acht. Schließlich zielt Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt über den marxistischen Ideologiebegriff hinaus, weil das Augenmerk auf die Verinnerlichung der Herrschaftsverhältnisse durch die Beherrschten, die aus der Not eine Tugend machen, ebenso wie auf die Praxis der Intellektuellen als beherrschte Fraktion der herrschenden Klasse gelenkt wird, deren Funktion gerade in der Herstellung und Verbreitung legitimer Weltsichten liegt, die den herrscheden Zuständen einen Anschein von Natürlichkeit und Gerechtigkeit verleihen. Wie überzeugend Pierre Bourdieus Versuche, die marxistische Orthodoxie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, oftmals sein mögen, so stellt sich doch die Frage, was der französische Soziologe denn nun von Marx aufgreift und was nicht. Vermutlich ist das Marx’sche Werk in dessen Schriften präsenter, als es die wenigen expliziten, teilweise aber wiederkehrenden Bezüge auf den ersten Blick vermuten lassen. Offensichtlich zählen die Feuerbachthesen zu den zentralen Inspirationsquellen von Bourdieus Theorie der Praxis: Im Entwurf einer
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Theorie der Praxis ist dem zweiten, theoretischen Teil des Buchs ein Zitat aus der ersten These von Marx vorangestellt (Bourdieu 1979: 137), und in Sozialer Sinn beginnt das dritte Kapitel über den Zusammenhang von Struktur, Habitus und Praxis mit einem Bezug auf dieselbe Quelle: »Die Theorie der Praxis als Praxis erinnert gegen den positivistischen Materialismus daran, dass Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden, und gegen den intellektualistischen Idealismus, dass diese Konstruktion auf dem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist. Man kann nämlich mit Marx (Thesen über Feuerbach) den souveränen Standpunkt aufgeben, von dem aus der objektivistische Idealismus die Welt ordnet, ohne diesem die ›tätige Seite‹ der Welterfassung überlassen zu müssen, indem man Erkenntnis auf Registrieren reduziert. Dazu braucht man sich nur in die ›wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche‹, also in das praktische Verhältnis zur Welt hineinzuversetzen, in jene beschäftigte und geschäftige Gegenwärtigkeit auf der Welt, durch welche die Welt ihre Gegenwärtigkeit mit ihren Dringlichkeiten aufzwingt, mit den Dingen, die gesagt oder getan werden müssen, die dazu da sind, gesagt oder getan zu werden, und die die Worte und Gebärden unmittelbar beherrschen, ohne sich jemals wie ein Schauspiel zu entfalten.« (Bourdieu 1987: 97)
Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, das gesamte Werk Pierre Bourdieus auf Marx-Bezüge hin untersuchen zu wollen. Es scheint mir aber plausibel davon auszugehen, der französische Soziologe sei vor allem von der Marx’schen Philosophiekritik inspiriert gewesen und habe Teile seines eigenen Forschungs- und Theorieprogramms daraus entwickelt. So gibt es eine offensichtliche Affinität zwischen dem Marx’schen Versuch einer Überwindung der klassischen Gegenüberstellung von Materialismus und Idealismus mit dem Ziel, den »alten«, »anschauenden« durch einen »neuen«, am praktischen Leben orientierten »Materialismus« zu ersetzen (Marx [1845] 1978) und dem sich als roter Faden durch das Werk des französischen Soziologen ziehenden Bemühen, der Opposition von Objektivismus und Subjektivismus zu entkommen und seine Soziologie auf die von Max Weber übernommene »solide materialistische Grundregel« zu stellen, die besagt, »dass sich die sozialen Akteure nur in dem Maße an eine Regel halten, wie ihr Interesse, sich an sie zu halten, größer ist als ihr Interesse, sich nicht an sie zu halten.« Daraus folgt die Aufgabe, »dass wir, ehe wir daran gehen, die Regeln zu beschreiben, nach denen die Menschen handeln, erst einmal danach fragen sollten, was diese Regeln wirksam macht« (Bourdieu/Wacquant 1996: 147).
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Gegen die marxistische Orthodoxie führt Pierre Bourdieu also vor allem den jungen Marx ins Feld. Es stellt sich die Frage, was der französische Soziologe für seine Ökonomiekritik und Kapitaltheorie dadurch vergibt, dass er das Marx’sche Kapital kaum rezipiert. Die Folgen dieser Auslassung spiegeln sich etwa in der grundsätzlich wohlwollenden Kritik einiger Autoren und Autorinnen, die weder der Soziologie Bourdieus noch dem Marxismus abgeneigt sind. So kritisiert Craig Calhoun (1993) Bourdieus oberflächlichen Bezug auf eine universelle Arbeitswertlehre, den fehlenden Kapitalismusbegriff und die Unklarheit betreffend die Frage, ob die Kapitalarten und Konvertierungsmodalitäten nur in einer besonderen Gesellschaft zu beobachten sind oder überhistorische Kategorien darstellen. Er gelangt zum Schluss, das Kapital sei für den französischen Soziologen trotz einiger Passagen, die anderes suggerieren, eben doch vor allem eine Machtressource der Akteure, und so könne es als besondere Form gesellschaftlicher Vermittlung nicht gedacht werden (ebd.: 83-84). Auch für Beate Krais (1983: 219) erscheint das Kapital in den Schriften Bourdieus oft als Ressource oder stofflicher Gegenstand und kaum als objektiviertes gesellschaftliches Verhältnis. Sie hält dem französischen Soziologen vor, mit seiner Analyse nicht bis zum »Grundverhältnis der bürgerlichen Produktionsweise« vorzudringen. Da er sich nur auf der Ebene des Marktes bewege, bleibe letztlich auch die Grundlage der untersuchten Formen sozialer Ungleichheit und Herrschaft diffus. Krais (ebd.: 200; 215-217) gibt außerdem zu bedenken, Bourdieus Kapitaltheorie mache alle Menschen zu Kapitalbesitzern und werfe dadurch grundlegende gesellschaftstheoretische Fragen auf, die seine Theorie der Klassengesellschaft nicht oder nur ansatzweise zu beantworten vermag. Bourdieu mit Marx befragen Möglicherweise funktionieren Pierre Bourdieus ökonomische Analogien nur deshalb derart reibungslos und – zumindest auf den ersten Blick – überzeugend, weil er die Analyse des ökonomischen Kapitals auslässt und seine Kapitaltheorie damit auf eine black box stellt. Ein Vergleich mit der Marx’schen Kapitaltheorie vermag dies zu verdeutlichen. Bei Marx ist das Kapital der Inbegriff eines verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisses, einer in Wertform gebrachten akkumulierter Energie und Kraft, die sich aus menschlicher Arbeit speist und sich diese untertan wiederum macht. Hinter dem »mystische[n] Ding«, das Früchte zu tragen scheint wie ein Baum (Marx [1894] 1964: 483; 830), verbirgt sich menschliche Arbeit, die unter Bedingungen eines besonderen gesellschaftlichen Verhältnisses geleistet wird, das Produkte menschlicher Tätigkeit in Wertform bringt und dadurch sowohl handelbar als auch vergleichbar macht. Die
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Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie nimmt nicht nur den Kapitalfetisch auseinander, indem sie die für die Produktion des Kapitals verausgabte Arbeit sichtbar macht. Darüber hinaus entzaubert sie den Arbeitsfetisch, der auf dem Glauben beruht, Arbeit schaffe gesellschaftlichen Reichtum, egal unter welchen Bedingungen sie geleistet wird. Der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit dient bei Marx dagegen gerade zur Erklärung, warum gewisse Arbeiten weder als solche gesellschaftlich anerkannt sind noch einen gesellschaftich anerkannten Wert produzieren. Die Kritik der klassischen Arbeitswertlehren von Ricardo und Smith nimmt im Marx’schen Hauptwerk eine zentrale Stellung ein. Wenn Pierre Bourdieu (1992: 49; 71) das Kapital als »akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form« beschreibt und »die Arbeitszeit im weitesten Sinne des Wortes« als »die universelle Wertgrundlage« aller Tauschhandlungen und Konvertierungsprozesse nennt, bleibt er hinter dieser Kritik zurück. Bei Marx setzt die Produktion von Kapital voraus, dass menschliches Arbeitsvermögen zur Ware gemacht, verkauft und für die Zwecke der Kapitalakkumulation genutzt wird. Die Verdinglichung der Produkte menschlicher Tätigkeit in Wertform und die Verwandlung von lebendiger in tote Arbeit, die dazu führt, dass der Tote den Lebenden packt, geschieht über Prozesse der Zurichtung menschlicher Fähigkeiten, die diese erst in besondere gesellschaftliche Formen bringen. Realabstraktion bezeichnet solche Prozesse, durch die konkrete Arbeit zu abstrakter Arbeit wird und Arbeitskraft zu Ware, menschlicher Fähigkeit schlechthin, Mehrwert für die Kapitalakkumulation zu schaffen. Darüber hinaus ist die Produktion des Kapitals bei Marx ein Prozess der Enteignung und Aneignung, der sich in der Verteilung der Einkommen unter den verschiedenen Klassen, die am kapitalistischen Produktionsprozess beteiligt sind, niederschlägt, aber nicht in der Ausbeutung einer Klasse durch eine andere aufgeht, da das Kapital als verselbständigter und sich selbst vermehrender Wert niemanden wirklich gehört, sondern seine Bewegung auch noch den Kapitalbesitzern aufzwingt. Diese Theorie der Produktion von Kapital durch Zurichtung, Verausgabung und Ausbeutung menschlichen Arbeitsvermögens stellt die Marx’sche Kapitalismusanalyse gegen den Kern der Prämissen der ökonomischen Orthodoxie – sei es jene der klassischen Ökonomie oder der heutigen Humankapitaltheorie. Pierre Bourdieu positioniert sich an keiner Stelle wirklich zur Marx’schen Ökonomiekritik – es gibt nur Andeutungen, die sich unterschiedlich auslegen lassen. Im Aufsatz über die Kapitalarten lässt der Soziologe etwa eine Ausbeutungstheorie anklingen, wenn er schreibt: »Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen privat und exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die Aneignung
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sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich.« (Bourdieu 1992: 49) In einer Fußnote heißt es: »Einer der wertvollsten Vorteile aller Kapitalarten ist die Zunahme der Menge von nützlicher Zeit, die als Aneignung der Zeit anderer (in Form von Dienstleistungen) durch die verschiedensten Formen der Stellvertretung ermöglicht wird. Sie kann entweder die Form der Zunahme von freier Zeit annehmen, als Korrelat für die Beschränkung des Zeitaufwandes für Tätigkeiten, die direkt auf die Produktion von Mitteln zur Reproduktion der häuslichen Gruppenexistenz abzielen; oder sie führt zu einer Intensivierung der Nutzung der Arbeitszeit aufgrund der Nutzung von fremder Arbeit oder von Instrumenten und Methoden, die nur um den Preis der Ausbildung, also von Zeit zugänglich sind: Man ›gewinnt Zeit‹ (z.B. mit schnellen Transportmitteln, mit Wohnungen möglichst nahe am Arbeitsplatz usw.). Umgekehrt werden die Geldersparnisse des Armen mit Zeitverlust bezahlt – das Basteln, die Suche nach Sonderangeboten oder dem günstigen Preis lassen sich nur auf Kosten langer Wege, Wartezeiten usw. durchführen.« (Ebd.: 78-79)
Wenn Pierre Bourdieu in diesen Zeilen die »Aneignung der Zeit anderer« oder die »Nutzung von fremder Arbeit« anspricht, beschreibt er dies als Ausdruck von Macht einzelner Personen oder Gruppen über andere und bewegt sich damit auf derselben Ebene wie die marxistische Orthodoxie, wenn sie über Ausbeutung und Klassenkampf spricht. Die Marx’sche Theorie geht aber über eine Analyse des Kapitalismus als Klassengesellschaft hinaus und betont Prozesse der Realabstraktion, die das Kapital als sich selbst verwertender Wert hervorbringen, dessen Bewegung auch noch die Kapitalbesitzer in ihren Bann zieht. Mit Marx lassen sich Fragen wie die folgenden an Pierre Bourdieus Kapitaltheorie stellen: Unter welchen Bedingungen produziert Arbeit überhaupt ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital? Unterliegt die Produktion von kulturellem und sozialem Kapital ebenfalls Prozessen der Realabstraktion, so dass nur in Wertform gebrachte Tätigkeit Kapital erzeugt? Lässt sich die durch Marx beschriebene Tendenz zur Verselbständigung des Kapitals, dessen Vermehrung in einer selbstreferentiellen Bewegung geschieht, die sich auch den mächtigsten Akteuren aufzwingt, beim kulturellen oder sozialen Kapital ebenfalls erkennen? Inwiefern werden die verschiedenen Kapitalarten auf Kosten anderer Menschen akkumuliert, durch die Aneignung von deren Zeit und Arbeit, so dass von Ausbeutung – im Sinne der Nutzung fremder Arbeit für eigene Zwecke – gesprochen werden kann? Je mehr solche Fragen unbeantwortet bleiben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kapitaltheorie des französischen Soziologen nolens volens das Spiel der kapitalistischen Fetische nicht bricht, sondern mit-
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spielt, indem sie immer wieder neue Bilder des »mystischen Dings« zeichnet, das Früchte trägt wie ein Baum (Marx). Um die ökonomischen Analogien Pierre Bourdieus über ihre unmittelbare Plausibilität hinaus auf ihre Tragfähigkeit und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen hin zu befragen, reicht es deshalb nicht aus zu prüfen, inwiefern etwa die Beziehungen zwischen einem kapitalistischen Unternehmen, dessen Managern und Beschäftigten mit den Beziehungen zwischen einer Schule, den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern verglichen werden kann. Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob zum Beispiel in den Feldern der Kulturproduktion ein Trend zur Verselbständigung der Kapitalakkumulation als selbstreferentielle Bewegung beobachtet werden kann wie in der kapitalistischen Ökonomie, oder in Aristoteles’ Begriffen gefragt, ob der Übergang von einer Logik des Oikos zu einer chrematistischen Dynamik auch das Wesen des sozialen und kulturellen Kapitals auszeichnet. Die Marx’sche Kapitalismusanalyse lässt vermuten, dass selbstreferentielle Dynamik erweiterter Kapitalreproduktion die Zurichtung menschlicher Arbeit zu abstrakter Arbeit voraussetzt, das heißt jene Realabstraktion, die eine reelle Subsumption menschlicher Tätigkeit erzeugt und diese zum Rohstoff einer Maschinerie der Kapitalakkumulation als Selbstzweck macht. Wenn Pierre Bourdieu über die Arbeit zur Produktion von sozialem oder kulturellem Kapital schreibt, lässt er nichts anklingen, was damit vergleichbar wäre, und es handelt sich ja auch nicht um Tätigkeiten, die als Lohnarbeit erbracht und zu Markte getragen werden. Die Auslassung der Analyse des ökonomischen Kapitals führt Pierre Bourdieu dazu, auch die gesellschaftliche Form von Arbeit, die dieses Kapital produziert, kaum jemals zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen. Angesichts der Tatsache, dass in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung dauerhaft oder wiederkehrend einer lohnabhängigen Erwerbsarbeit nachgehen, auf deren Erfordernisse Erziehung und Bildung wesentlich ausgerichtet sind und auf deren Einkommen die Sicherung des Ruhestands beruht, erweist sich die geringe Aufmerksamkeit, die der französische Soziologe der Lohnarbeit widmet, als Schwachpunkt seiner Soziologie. Marx postulierte zu einer Zeit, als erst eine Bevölkerungsminderheit ihr Arbeitsvermögen verkaufte, eine gesellschaftliche Zentralität des Lohnarbeitsverhältnisses, von der Pierre Bourdieu ein gutes Jahrhundert später nichts wissen will. Falls bei Marx – wie bei Bourdieu – von einem relationalen Paradigma die Rede sein kann, ist es zweifellos an den Begriff des gesellschaftlichen Verhältnisses gebunden, im Falle des Kapitalismus an das Kapitalverhältnis, das die Ausbreitung der Lohnarbeit voraussetzt, reproduziert und erweitert. Es handelt sich um ein Produktions- und Herrschaftsverhältnis, anders gesagt um besondere Arten und
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Weisen, wie Menschen sich zu sich selbst verhalten, zu ihrem Leben ebenso wie zu anderen Menschen und zur Gesellschaft. Es ist ein Verhältnis Menschen, die gleich und ungleich zugleich sind, denn die gesellschaftliche Maschinerie der Kapitalakkumulation macht sie wirklich vergleichbar, indem sie menschliche Fähigkeiten in Wertform bringt und an ihrer eigenen Bewegung misst. Während das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis im Marx’schen Werk zentrale Kraft und Form der Vergesellschaftung ist, konstruiert Pierre Bourdieu seine relationale Soziologie auf der Grundlage des Raumkonzepts. Positionen im sozialen Raum prägen die Sozialisation und die Praxis der Akteure nur insofern, als sie in Beziehung zu anderen Positionen stehen und die positionierten Akteure wiederum gegenüber anderen positionieren. In diesem Modell sind die Kapitalarten Ressourcen, deren Verteilung der »immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt [entspricht], d.h. der Gesmtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird«. Zugleich ist das Kapital selbst »eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, dass nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist« (Bourdieu 1992: 50). Zwar bezeichnet der französische Soziologe das Kapital als der Gesellschaft und den Menschen eingeschriebene vis insita und lex insita (ebd.: 49) und anerkennt es damit als vergesellschaftende Kraft, doch fasst er es nicht als gesellschaftliches Verhältnis auf. Seine relationale Soziologie interessiert sich kaum für das Lohnarbeitsverhältnis, sondern fokussiert das Spannungsverhältnis zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital. Wie Beate Krais (1983: 220) herausstreicht, eignet sich dieser Fokus für eine Untersuchung der »Differenzierung und tieferen Gliederung« der Lohnabhängigen, weniger aber für die Analyse der Verhältnisse, in denen diese Klasse zu sich selbst und zu anderen Klassen steht. Vielleicht erklärt der Verzicht auf das Postulat eines im Zentrum stehenden gesellschaftlichen Verhältnisses auch, warum Pierre Bourdieu keinen Kapitalismusbegriff verwendet. Calhoun (1993) wirft ihm dies vor und kritisiert in diesem Zusammenhang die mangelnde historische Spezifizierung seiner Begriffe. Zum Beispiel habe der französische Soziologe nie präzisiert, ob sich seine Kapitaltheorie ebenso zur Analyse unterschiedlicher Gesellschaften eignet wie sein Habitusbegriff. Tatsächlich fällt insbesondere bei der Lektüre von Bourdieus Schriften über die soziale Reproduktion von Ungleichheiten auf, dass er Bezüge auf kapitalistische und feudale Verhältnisse vermischt, ohne sich über das historische Verhältnis von Feudalismus und Kapitalismus zu äußern. Wenn Pierre Bourdieu (2004) etwa die herrschende Klasse Frankreichs als »Staatsadel« beschreibt, ist der Vergleich mit der aristokratischen Vererbung von Privilegien
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wie der Einsatz ökonomischer Modelle zur Analyse kultureller Phänomene ein Teil seiner Strategie, einen Bruch mit den Alltagsvorstellungen zu erzielen. Zu diesem Zweck ist ihm auch politische Provokation recht, und es gibt keinen Zweifel daran, dass die angestrebte Verstärkung des Erkenntnisgewinns gelingt. Ungeklärt bleibt allerdings die Frage, ob die Felder der kulturellen und politischen Macht – wie es die Rede vom Adel suggeriert – nach dem Prinzip einer einfachen Reproduktion von Macht sowie Zurschaustellung derselben funktionieren oder vielmehr – wie es anderseits die Kapitaltheorie anklingen lässt – einer chrematistischen Logik der Kapitalakkumulation unterliegen.
A NALOGIE
UND
M IMESIS
Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron (1991: 59) haben das Denken in Analogien als wertvolles Instrument der soziologischen ars inveniendi genannt, die über den Bruch mit spontansoziologischen Vorstellungen zur Konstruktion soziologischer Hypothesen, Modelle und Theorien gelangt: »Will der Soziologe über die rein idiographische Betrachtung von Fällen hinauskommen, die sich nicht von selbst erklären, muss er die Hypothesen mit möglichen Analogien multiplizieren, bis er die Klasse der Fälle rekonstruiert hat, die den betreffenden Fall erklärt. Und zur Bildung dieser Analogien selbst darf er legitimerweise auf die Hypothese von Strukturanalogien zwischen den sozialen Phänomenen und solchen Phänomenen zurückgreifen, die bereits von anderen Wissenschaften, beginnend mit den nächststehenden wie Linguistik, Ethnologie, aber auch der Biologie, dargestellt worden sind.«
Die Autoren präzisieren jedoch, dass zwischen Analogie und oberflächlicher und rein äußerlicher Ähnlichkeit unterschieden werden muss: »Den mimetischen Modellen, die – mit der Verwechslung von bloßer Ähnlichkeit und Analogie spielend, jenem Verhältnis zwischen Verhältnissen, das gegen allen äußeren Schein errungen und durch regelrechte abstrahierende Arbeit und gewissenhaft durchgeführten Vergleich konstruiert werden muss – lediglich die äußeren Ähnlichkeiten erfassen, stehen die analogischen Modelle gegenüber, die zu den verborgenen Prinzipien der von ihnen interpretierten Realitäten vorzudringen suchen.« (Ebd.: 61)
Ohne jeden Zweifel war Pierre Bourdieu ein Meister des analogischen Denkens. Doch enthält seine Soziologie wohl auch das eine oder andere mimetische Mo-
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dell. Mit Blick auf seine Kapitaltheorie ist festzuhalten, dass ein gewissenhaft durchgeführter Vergleich zwischen den Kapitalarten ohne die vertiefte Untersuchung des ökonomischen Kapitals unmöglich ist. Mit dieser Auslassung schreibt sich der französische Soziologe, der gerne den jungen Marx zitiert, zugleich in den soziologischen Mainstream ein, der die Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie nicht zur Kenntnis nimmt. Und in dem Ausmaß, in dem seine Analogien sich als mimetische Modelle erweisen, drohen sie entgegen den Absichten des Urhebers zu befördern, was der Kapitalismus den Subjekten abverlangt: Kapital-Mimesis als Selbstunternehmertum. Je nachdem, wie er gelesen wird, kann Pierre Bourdieu als Kritiker der ökonomischen Orthodoxie oder als Träger des ökonomischen Imperialismus interpretiert werden. Das liegt daran, dass er zwar einen Grundpfeiler des amerikanischen Neoliberalismus – die Theorie des rationalen Agenten – getroffen, aber die Naturalisierung der Kapitalform nicht thematisiert hat. An diesem Punkt zeigt sich außerdem, dass der französische Soziologe die politische Bedeutung der Humankapitaltheorie im Gegensatz zu Michel Foucault (2004) unterschätzte, der in seinen Vorlesungen zu Gouvernementalität und Neoliberalismus den Vorstoß der Ökonomie auf die Felder der Sozialwissenschaften explizit zum Thema machte.
VII. Die gesellschaftlichen Formen des Kapitals
Ein Klassiker wie Karl Marx wird immer wieder neu gelesen. Dies ist kein kontinuierlicher Prozess, sondern geht in verschiedenen Phasen und mit Umbrüchen vor sich. Die Rezeption bringt unterschiedliche Konjunkturen hervor, die nicht selten in einzelne geografische Räume oder Fach- und Diskussionsfelder eingeschrieben sind und in solchen gefangen bleiben. Doch wie die Studie von Jan Hoff (2009) über die Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965 zeigt, lassen sich in der Marx-Forschung der letzten Jahrzehnte recht eindeutige Rezeptionstendenzen beschreiben, und zwar über Landesgrenzen und Sprachräume hinaus. Die Neue Marx-Lektüre ist demnach ein internationales Phänomen, trotz einer auch in diesem Forschungsfeld verbreiteten Haltung, die der Verfasser als »theoretischen Provinzialismus« beklagt (ebd.: 14-16). Meine eigene Arbeit hat ihren Anstoß nicht aus der Marx-Forschung erhalten, mit der ich zu Beginn wenig vertraut war. Aber im Zuge meiner Untersuchungen ist immer deutlicher geworden, dass ich Marx in einer Weise für die Soziologie neu gewinnen möchte, die in vielerlei Hinsicht in die Richtung weist, in der sich auch die neuere Marx-Forschung bewegt. Nichts garantiert allerdings die Zurkenntnisnahme und die Verarbeitung neuer Entdeckungen und Interpretationen: Bisher hat die soziologische Diskussion über Marx jedenfalls kaum etwas aus der Neuen Marx-Lektüre aufgenommen. Jan Hoff (2009: 296-297) fasst die Entwicklungslinien des internationalen Marx-Diskurses seit 1965 wie folgt zusammen: »Der Marx’sche Ansatz wurde stärker denn je als emphatische Kritik der politischen Ökonomie begriffen, d.h. nicht auf eine bloß ›alternative‹ politische Ökonomie reduziert. Auch die ganz grundsätzliche Absetzung von Marx gegenüber den ökonomischen Klassikern und insbesondere gegenüber Ricardo spielte eine Rolle, wobei bisweilen aber auch die Frage nach möglichen Ambivalenzen in der Marx’schen ›wissenschaftlichen Revolu-
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Diese nun in der internationalen Marx-Forschung dominierenden Rezeptionslinien lassen sich mit Gewinn als Inspirationsquellen für eine kritische Auseinandersetzung mit soziologischer Kapitaltheorie verwenden. Die Aufgabe einer an Marx interessierten Soziologie besteht nicht darin, in die spezialisierte MarxForschung einzusteigen und etwa die Wertformanalyse zu vertiefen oder die monetäre Werttheorie zu verfeinern. Vielmehr geht es darum, mit zentralen Befunden der Neuen Marx-Lektüre in der Soziologie etwas anzufangen, das heißt Konzepte wie die ökonomiekritische Haltung, die Formtheorie des Sozialen oder das Fetischtheorem über die bei Marx neu entdeckten und in der MarxForschung diskutierten Ansätze hinaus soziologisch fruchtbar zu machen:
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»Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist es nicht mehr ganz so neu, dass es neue Lesarten der Marx’schen Theorie gibt, in denen diese Theorie nicht allein auf die Untersuchung von Klassenverhältnissen und Ausbeutung reduziert wird, sondern die spezifischen Formbestimmungen kapitalistischer Reproduktion und der fetischistische Charakter dieser Vergesellschaftung ins Zentrum gerückt werden, wobei auch Inkonsistenzen und Schwächen der Marx’schen Analysen zur Kenntnis genommen werden. Das Neue der ›Neuen Marx-Lektüre‹ zu betonen, reicht nicht mehr aus, es kommt darauf an, mit diesem Neuen auch etwas anzufangen.« (Bonefeld/Heinrich 2011: 10)
Es geht nicht darum, nach traditionellem marxistischem Muster die Überlegenheit des Marx’schen Denkens zu demonstrieren und Gesellschaftstheorie auf der grünen Wiese neu zu entwerfen. Vielmehr muss mit Marx’schen Konzepten in bestehende soziologische Diskussionen, zum Beispiel über Kapitaltheorien, eingegriffen werden. »Mit dem Neuen etwas anfangen« – in der Soziologie: Diesem Ziel ist das letzte Kapitel der vorliegenden Arbeit gewidmet. Ich bespreche zuerst das Buch Capital as Power von Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler (2009) als Beispiel für eine innovative, durch Marx inspirierte, aber zugleich Marx-kritische Kapitaltheorie. Die Autoren brechen kapitaltheoretisch aus dem marxistischen Mainstream aus, verstehen es aber nicht, Marx neu zu lesen. Mit Bezug auf die Begriffe der abstrakten Arbeit und des fiktiven Kapitals deute ich in der Folge an, wie der Abschied vom marxistischen Marx neue gesellschaftstheoretische Felder öffnet, welche eine soziologische Lektüre bearbeiten kann. Daraufhin führe ich eigene Überlegungen aus, wie das Kapital gesellschaftlich durch Formbestimmungen wirkt. Es handelt sich um eine theoretische Skizze, die am Beispiel von Arbeit, Bildung, Entwicklung und Zeit drei verschiedene Ebenen der kapitalistischen Formbestimmung thematisiert: Prozesse der Realabstraktion, objektiv gültige Gedankenformen und den Fetischcharakter der wertvollen Dinge. Dies führt mich am Schluss zur Beobachtung, dass die Marx’sche Theorie der Wertformen als Bezugsrahmen dienen kann, um das Zusammenspiel von kultureller Differenz und sozialer Ungleichheit neu zu denken. Marx selbst hat dies nicht wirklich getan oder versucht. Aber mit Marx und über Marx hinaus lässt sich soziale Un/Gleichheit als historisch besondere gesellschaftliche Form des Kapitalismus verstehen, die nicht einfach als gegeben hingenommen werden darf, sondern soziologisch problematisiert werden muss.
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Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler (2009) beginnen ihre Studie mit der Beobachtung, dass seit den 1990er Jahren die politische und sozialwissenschaftliche Diskussion sich erneut – nach einer langen Phase des Verschweigens oder Vergessens – um den Kapitalismus dreht, es aber an einem adäquaten Verständnis dessen fehlt, was im Herzen dieser Gesellschaftsform steht und wirkt: Der neuen Kapitalismusdiskussion mangelt es an einer Kapitaltheorie, die den aufgeworfenen Problemstellungen gerecht werden könnte (ebd.: 1-2). Diese Lücke wollen Nitzan und Bichler schließen. Für sie ist das Kapital keine ökonomische Einheit, sondern eine Form von Macht. Dieses Argument tragen sie in systematischer Auseinandersetzung mit der neoklassischen und der marxistischen Kapitaltheorie vor. Trotz der offenen Feindschaft, die das Verhältnis zwischen neoklassischer Ökonomie und Marxismus auszeichnet, haben beide Ansätze in den Augen der Verfasser ähnliche, wenn nicht dieselben Schwachpunkte. Nitzan und Bichler kritisieren insbesondere die Trennung von Ökonomie und Politik, welche die Machtanalyse aus der ökonomischen Wissenschaft ausschließt, sowie die Opposition von realer und nominaler Ökonomie, welche die Welten der Produktion und des Konsums zum eigentlichen Gegenstand der Ökonomie macht und die Finanzwelt als Verzerrung oder Nebensächlichkeit vernachläßigt (ebd.: 2533). Im Gegensatz dazu gehen sie davon aus, dass das Kapital als Machtform über die Grenzen einzelner Felder wie Ökonomie oder Politik hinausgreift und die Kapitalanalyse in der Finanzwelt beginnen muss, mit der Untersuchung der Kapitalisierungsprozesse, welche die Logik des Kapitalismus prägen. Für Nitzan und Bichler (2009: 67-144) sind neoklassische und marxistische Kapitaltheorien auf Sand gebaut, weil beide von ökonomischen Grundeinheiten ausgehen, die es als solche gar nicht gibt: Die neoklassische Ökonomie stellt den Nutzen der ökonomischen Güter ins Zentrum, der Marxismus den durch Verausgabung menschlicher Arbeit geschaffenen Wert. Die ökonomische Quantifizierung von Nützlichkeit oder Arbeitswert dreht sich allerdings theoretisch im Kreis: Diese Grundeinheiten sollen die Produktion, den Konsum oder das Wachstum erklären, sie lassen sich aber nur mit Bezug auf Produktions-, Konsum- oder Wachstumsdaten quantifizieren (ebd.: 125). Aus solchen theoretischen Zirkelschlüssen wollen Nitzan und Bichler ausbrechen, indem sie das Postulat aufgeben, das Kapital weise nicht nur eine nominale (in Preisen ausgedrückte) Quantität auf, sondern auch eine reale oder materielle (auf Nützlichkeit oder Arbeitswerten beruhende) Quantität, die der nominalen zu Grunde liegt (ebd.: 32-33). Ins Zentrum ihrer Kapitaltheorie stellen sie den aristotelischen Begriff des Nomos: Die Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens sehen sie
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durch ein Zusammenspiel sozialer, gesetzlicher und historischer Institutionen der Gesellschaft bestimmt, nicht durch ökonomische Nützlichkeit oder Arbeitswerte (ebd.: 148-149). Als grundlegende Einheit der kapitalistischen Ordnung betrachten sie den in Zahlen ausgedrückten Preis der Dinge, als ordnendes Prinzip die Kapitalisierung: »Capitalization is the algorithm that generates and organizes prices. It is the central institution and key logic of the capitalist nomos. It is the ›generative order‹ […] through which the capitalist order, denominated in prices, is created and re-created, negotiated and imposed.« (Ebd.: 153) Damit haben Nitzan und Bichler einen konzeptuellen Rahmen skizziert, der es erlaubt darüber nachzudenken, wie das Kapital ohne Unterbruch gesellschaftliche Ordnungen herstellt und wieder verändert. Sie haben den Begriff creorder erfunden, eine Verkürzung aus creation of order, um die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Kapitalisierungsprozesse zu benennen (Nitzan/Bichler 2009: 18; 305). Im Grunde lässt die Kapitalisierung keinen Bereich des sozialen Lebens im Kapitalismus aus: Alles, was zukünftige Einkommensflüsse tangiert, kann kapitalisiert, das heißt auf den gegenwärtigen Wert zukünftiger Einkommen bezogen und auf diese Dimension reduziert werden. Die Autoren zitieren den Mathematiker Bernoulli, der in dieser Perspektive bereits im 18. Jahrhundert über den unterschiedlichen Wert von Menschen nachdachte (ebd.: 158-159). Die Kapitalisierung erfasst alle möglichen Organisationen – nicht nur börsenkotierte Unternehmen – sowie die Natur: Längst wird die Umweltverschmutzung in erster Linie unter dem Aspekt thematisiert, wie sie sich auf zukünftige Einkommensflüsse auswirkt. Für Nitzan und Bichler sind die meisten sozialen Prozesse direkt oder indirekt kapitalisiert (ebd.:166) – eine Unterscheidung, die sie allerdings nicht weiter präzisieren. Mit dem Kapitalisierungsbegriff rückt der Nexus zwischen Qualität und Quantität ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der den kapitalistischen Nomos prägt: Er lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Prozesse, die qualitativ Unvergleichliches quantitativ vergleichbar machen: »Capitalization, by its very nature, converts and reduces qualitatively different aspects of social life into universal quantities of money prices.« (Ebd.) Was hat das alles mit Macht zu tun? Nitzan und Bichler (2009: 215-302) stützen sich auf Texte von Thorstein Veblen und Lewis Mumford, um ihre Theorie des Capital as Power zu entwerfen. Veblen gilt ihnen als einer der ersten, der die zentrale Bedeutung des Kredits und der Finanzwelt im Kapitalismus erkannt und diese unter Aspekten gesellschaftlicher Macht thematisiert hat. Seine Unterscheidung zwischen »industry« und »business« führt die Autoren hin zur Beobachtung, dass Geschäftstätigkeit in erster Linie auf die Unterwerfung von Kreativität und die Kontrolle von Produktivität zielt, das heißt eine Form von Machtausübung darstellt: Das business unterwirft sich die industry. Nitzan und
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Bichler greifen Veblens Begriff der »strategic sabotage« (ebd.: 231-233) auf, um diesen Aspekt zu betonen: Ein erfolgreiches Geschäft beruht immer auf der Fähigkeit, menschliche Kreativität in Schranken zu halten. »[C]apitalization discounts the power of capitalists to strategically limit social creativity and wellbeing.« (Ebd.: 263) Durch Veblens Brille erscheint das Kapital als Macht der Finanz im Gegensatz zu Produktion und Industrie, das heißt als ökonomisch unproduktiv (ebd.: 262). Was es allerdings erzeugt, ist eine bestimmte Form von Macht, eine Kommodifizierung der Macht. Nitzan und Bichler sehen Macht nicht nur als Instrument, sondern auch als das grundlegende Ziel kapitalistischen Wirtschaftens an. Sie erinnern an die Studien von Lewis Mumford, der Macht als Technologie beschrieb und verschiedene Machtzivilisationen in der Geschichte der Menschheit analysierte (ebd. 264-269). Mumfords Begriff der »mega-machine« steht für eine bestimmte Ordnung beziehungsweise Anordnung von Menschen, auf der die Macht eines Herrschers beruht. Technologie und Maschine sind Konzepte, die Beziehungen zwischen Menschen beschreiben: Die megamachine ist kein technisches Gerät, sondern eine soziale Maschine oder eine aus Menschen gebildete Technologie der Macht. Für Nitzan und Bichler (2009: 270) lässt sich das Kapital als mega-machine im Sinne Mumfords beschreiben – ja sogar als die mächtigste aller Zeiten: »In our view, capital fulfills all the characteristics of a mega-machine. Based on the universal ritual of capitalization and a fundamental belief in the ›normal rate of return‹, capital is a symbolic crystallization of power exercised over large-scale human organizations, typically by a small group of large absentee owners intertwined with key government officials.«
Staat und Kapital sind für die Autoren keine getrennten Wirklichkeiten. Vielmehr ist das Kapital in ihren Augen zu einer Form von Staat geworden (ebd.: 278), zum dominierenden Modus der Macht in unserer Gesellschaft. Der Staat des Kapitals (»State of Capital«) zeichnet sich durch die Kapitalisierung des Staats aus, durch ein vielfältiges Hineinwachsen des Kapitals in den Staat: Dafür steht einerseits der Obligationenmarkt als heutiges Herzstück der internationalen Finanz, auf dem die staatlichen Schuldtitel gehandelt werden. Alle Regierungstätigkeiten, die Auswirkungen auf zukünftige Einkommensströme haben – und welche Regierungstätigkeiten haben das nicht? –, werden an den Finanzmärkten bewertet, das heißt kapitalisiert, und dies schlägt sich in der Entwicklung der Börsenkurse nieder: »In other words, a significant proportion of all private property is, in fact, capitalized government power.« (Ebd.: 297) State of Capital heißt für Nitzan und Bichler anderseits auch, dass die Regierungsorgane durch
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die Logik des Kapitals geprägt sind und sich daran gewöhnt haben, im Sinne der kapitalistischen Ordnung zu funktionieren. Eine Untersuchung von Wirtschaftspolitik und Akkumulationsdynamik in den USA im Verlauf des 20. Jahrhunderts führt sie zur Konklusion, die Autonomie der Politik gegenüber dem Kapital habe abgenommen (ebd.: 381-382). Capital as Power ist ein sehr anregendes Buch, das durch die Tragweite und Systematik eines originellen Arguments beeindruckt. Die Gleichsetzung von Kapital und Macht birgt allerdings Gefahren einer ökonomistischen oder klassentheoretischen Verkürzung der Staatsanalyse. Nitzan und Bichler (2009: 280282) betrachten den Staat nicht als politische Einheit, die über ein bestimmtes Gebiet Macht ausübt. Bei ihnen steht der Staat für einen Modus der Macht, für eine bestimmte Ordnung der Dinge in einem sozialen Raum, der die Grenzen von Ökonomie und Politik überschreitet. Unterbeleuchtet bleibt dabei aber die Analyse staatlichen Handelns und staatlicher Institutionen im engeren Sinne des Wortes. Das Ausmaß und vor allem die konkreten Formen der Kapitalisierung des Staates werden auf diese Weise kaum greifbar, die Staatsanalyse bleibt de facto eine unzureichend fundierte Extrapolation der Kapitalanalyse. Die Autoren sprechen von kommodifizierter Macht, aber wer dabei an die Entdeckung einer spezifischen gesellschaftlichen Machtform denkt, wird bei der Lektüre enttäuscht. Gemessen am Stand der soziologischen Diskussion über Macht und Herrschaft bleibt der Machtbegriff von Nitzan und Bichler außerdem unterkomplex. Hier wäre es interessant weiterzuforschen: Wie lässt sich Capital as Power mit Pierre Bourdieus Analyse des bürokratischen Feldes, mit Michel Foucaults Gouvernementalitätsstudien oder mit Max Webers Herrschaftstypologie in Verbindung bringen, um reduktionistische Aspekte des Arguments auszuleuchten und anders zu denken? Von diesen drei Autoren findet bei Nitzan und Bichler nur Weber (ebd.: 15; 280) kurz Erwähnung. In dessen abwertender Zuschreibung zum Institutionalismus sind sie für einmal traditionell marxistisch – und von der durch Talcott Parsons geprägten dominierenden Weber-Lektüre im angelsächsischen Raum beeinflusst. An verschiedenen Stellen ihres Buchs bricht die Tendenz durch, die Logik des Kapitals und die Sichtweise der herrschenden kapitalistischen Klasse gleichzusetzen. Natürlich ist es bis zu einem gewissen Grad für die Kapitalismusanalyse durchaus sinnvoll, die Kapitalisten als »personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital« zu betrachten, wie es bei Marx ([1873] 1962: 168) heißt. Doch es muss immer vor Augen gehalten werden, dass auch diese Menschen nie ausschließlich Kapitalisten in diesem engen Sinne des Begriffs sind: Sowohl ihr Lebensstil als auch ihre Machtinteressen gehen nur zum Teil in der Logik des Kapitals beziehungsweise im Nomos der Kapitalisierung auf. Ihre
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Praxen der kulturellen Distinktion und ihre Strategien der Machtreproduktion sind mit Kapitalisierungsprozessen verknüpft, lassen sich aber nicht darauf reduzieren. Paradoxerweise führt die Tendenz zur klassentheoretischen Verkürzung die Autoren anderseits dazu, das gesellschaftstheoretische Potenzial ihrer Studie einzuschränken: Sie wollen keine Gesellschaftstheorie formulieren, sondern nur etwas über die Sprache des Kapitals aussagen: »Capitalization is the language of dominant capital. It embodies the beliefs, desires and fears of the ruling capitalist class. It tells us how this group views the world, how it imposes its will on society, how it tries to mechanize human beings. It is the architecture of capitalist power.« (Nitzan/Bichler 2009:19-20) Während Capital as Power Licht in die Welt des Kapitals und der Kapitalisten bringt, lässt es die Gesellschaft und die dem Kapital unterworfenen Subjekte im Dunkeln. Dies ist das Ergebnis einer bewussten Entscheidung: Nitzan und Bichler (2009: 21) betrachten die Gesellschaft mit Cornelius Castoriadis als »magma«, das heißt als eine Oberfläche, unter der Prozesse vor sich gehen, die nicht systematisch erfasst werden können: »[Humane] society exists mostly as an unknown potential. Usually, it is dormant and therefore invisible. Occasionally, though, it erupts, often without warning, to challenge and sometimes threaten the institutions of capitalist power. These eruptions – and their consequences – do not follow a pre-set pattern. They cannot be systematically theorized.«
Die Zurückhaltung gegenüber der Versuchung, gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse vorherzusagen, ist sicherlich angebracht. Aber die Verklärung der menschlichen Gesellschaft zu einer rätselhaften, nicht erforschbaren Wirklichkeit ist aus soziologischer Sicht problematisch. Wenn das Kapital eine megamachine ist, wie Nitzan und Bichler behaupten, setzt das eine ganze Reihe von Fragen und Hypothesen zur Funktionsweise der Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens voraus, die nicht einfach im Dunkeln belassen werden können. Wenn das Kapital so etwas wie eine Religion hervorbringt, gibt es keinen Grund davon auszugehen, dass die Gläubigen nur in den Reihen der herrschenden Klasse sitzen. »Instead of the Holy Scriptures, we now have the universal language of business accounting and corporate finance. The power of God, once vested in priest and king, now reveals itself as the power of Capital vested in the ›investor‹.« (Ebd.) Wer derart eindrückliche Sätze schreibt, darf den gesellschaftstheoretischen Implikationen seines Arguments nicht aus dem Weg gehen. Nitzan und Bichler tun es aber und dies zeigt auch auf, dass ihre Untersuchung nicht wirklich soziologisch ausgerichtet ist. Ich möchte am Beispiel zweier Schlüsselbegriffe von Marx – abstrakte Arbeit und fiktives Kapital
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– die Kritik an Capital as Power vertiefen und meine eigenen Überlegungen zur soziologischen Lektüre des Kapitals wieder aufgreifen.
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VOM MARXISTISCHEN
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Ein eigentümlicher Widerspruch zieht sich wie ein roter Faden durch Capital as Power: Die Autoren brechen mit der marxistischen Sicht auf den Kapitalismus, lesen Marx aber dennoch marxistisch. Den Verfasser des Kapitals bezeichnen Nitzan und Bichler (2009: 14-15) als eine der zentralen Inspirationsquellen ihrer Studie, aber es kommt ihnen nicht in den Sinn, Marx’ Werk anders zu lesen, als es sich in der marxistischen Tradition gehört. Die in den meisten Punkten überzeugende Kritik an Verstrickungen und Unzulänglichkeiten der marxistischen Arbeitswerttheorie eröffnet deshalb keinen Blick auf vorhandene Potenziale im Werk von Marx, die für eine neue Kapitaltheorie fruchtbar gemacht werden könnten. Ich behaupte nicht, dass Nitzan und Bichler Marx falsch lesen. Ich stelle nur fest, dass sie nicht nach einem anderen als dem bekannten marxistischen Marx suchen. Anders gesagt entspricht ihr Bild von Marx in keiner Weise dem, was die eingangs erwähnten Neuen Marx-Lektüren ans Tageslicht gefördert haben. Von Marx greifen sie die Idee auf, den Kapitalismus als politisches Regime des Kapitals zu betrachten (ebd.). Hingegen ignorieren sie die form- und fetischtheoretischen Ansätze des Marx’schen Hauptwerks. Das zeigt sich deutlich an den Begriffen der abstrakten Arbeit und des fiktiven Kapitals. Abstrakte Arbeit Die Kritik der marxistischen Arbeitswertlehre tragen Nitzan und Bichler (2009: 84-109; 110-124; 138-144) in drei Schritten vor. Sie gehen zunächst auf das so genannte marxistische Transformationsproblem ein und zeichnen nach, wie ganze Generationen von Marxisten ohne duchschlagenden Erfolg versucht haben, das im dritten Band des Kapitals aufgeworfene Problem der Verwandlung von Arbeitswerten in Produktions- und Marktpreise zu lösen. Es gelang den Protagonisten der marxistischen Arbeitswertlehre nicht, konkrete Warenpreise auf entsprechende Quanta verausgabter Arbeit beziehungsweise gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit zurückzuführen. Daraufhin gehen Nitzan und Bichler einen Schritt weiter und stellen die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit in Frage, welche der marxistischen Arbeitswertlehre zu Grunde liegt. Von den unzähligen Versuchen, klare Grenzen zwischen wertschöpfender Produktion und anderen Tätigkeitsbereichen – etwa Handel, Finanz, Dienstleis-
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tungen, öffentlicher Sektor und unbezahlte Arbeit – zu ziehen, vermag keiner wirklich zu überzeugen. Schließlich setzen sich die Autoren mit dem Begriff der abstrakten Arbeit als Konzept zur Quantifizierung von Arbeitswerten auseinander. Auf diesen Aspekt will ich etwas ausführlicher eingehen, weil gerade daran gezeigt werden sollte, dass ausgehend von Marx auch anders weitergedacht werden kann. Nitzan und Bichler (2009: 138) beginnen mit der Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit und legen das Augenmerk auf konzeptuelle Schwierigkeiten von Marx mit diesem Begriffspaar. Zum einen gibt es Passagen, in denen Marx abstrakte Arbeit auf einen quasi physiologischen Nenner zu bringen versucht, als Verausgabung menschlicher Energie, als Aktivität von Hirn, Nerven und Muskeln unabhängig davon, um welche konkrete Tätigkeit es sich handelt. Zu Recht betonen die Autoren, dass eine solche naturalistische Konzeption im Widerspruch zur Marx’schen Grundhaltung steht, Arbeit als gesellschaftliche Kategorie zu verstehen. Zum andern vermischt Marx teilweise das Begriffspaar konkrete und abstrakte Arbeit mit der Unterscheidung zwischen einfacher und komplizierter Arbeit oder unskilled labour und skilled labour (ebd.: 139-144). Dies hat sich in der marxistischen Tradition in zwei Diskussionssträngen niedergeschlagen: Der eine setzt sich mit der Frage auseinander, ob der Kapitalismus letztlich alle Arbeit zu einfacher Tätigkeit macht, das heißt ansprechende Arbeit, die eine höhere Qualifikation erfordert, zum Verschwinden bringt; der andere versucht zu bestimmen, inwiefern komplizierte Arbeit gewissermaßen ein Mehrfaches von einfacher Arbeit ist und dementsprechend mehr Wert produziert. Wie Nitzan und Bichler zeigen, führen beide Diskussionsstränge in die Irre: Es handelt sich um substantialistische Ansätze, die der Komplexität der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht werden. Darüber hinaus – das übersehen leider auch die Verfasser von Capital as Power – hat sich mit dem Begriffspaar einfache/komplizierte Arbeit ein Konzept bei Marx eingeschlichen, das letztlich zur Naturalisierung oder Legitimierung von sozialer Ungleichheit zwischen qualifizierten und unqualifizierten Lohnabhängigen beitragen kann: Die Tatsache, dass die einen mehr Lohn als die anderen erhalten, wird darauf zurückgeführt, dass ihre Arbeit anspruchsvoller ist und dass sie mehr Wert produzieren, weil ihre Arbeitskraft mehr Wert ist, da zu deren Herstellung und Reproduktion mehr Zeit verausgabt wurde usw. usf. Bis hierhin scheint nichts dafür zu sprechen, den Begriff der abstrakten Arbeit beizubehalten. Doch nimmt dieser im Marx’schen Werk eine derart zentrale Stellung ein, dass es sich lohnt, nochmals darüber nachzudenken. Meines Erachtens kommt im Kapital noch ein ganz anderes Verständnis von abstrakter Arbeit zum Tragen, das im Gegensatz zu den zwei oben genannten soziologisch mit
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Gewinn aufgegriffen werden kann: Abstrakte Arbeit ist für Marx Arbeit in Wertform oder, anders gesagt, Arbeit die möglichst viel Wert für das Kapital schafft und schaffen muss. Von abstrakter Arbeit zu sprechen bedeutet, das Augenmerk darauf zu legen, dass es im Kapitalismus nicht in erster Linie auf die konkreten Eigenschaften der Arbeitenden und ihrer Tätigkeiten ankommt, sondern auf die Produktion von Wert und die Vertwertung von Kapital durch den Einsatz menschlicher Arbeit. Genauer gesagt ruft die Akkumulation des Kapitals danach, die konkreten Eigenschaften der Arbeitenden und ihrer Tätigkeiten dem abstrakten Ziel der optimalen Wertschöpfung und maximalen Rentabilität bedingungslos zu unterwerfen. Die Herrschaft des Kapitals über den Arbeitsprozess führt keineswegs dazu, dass Arbeit immer einfacher wird. Aber sie tendiert dazu, Arbeit in Wertform zu bringen und jeden Aspekt der Arbeitstätigkeit gemäß den Erfordernissen der Kapitalverwertung zu gestalten. Zugleich werden alle verschiedenen Arbeitstätigkeiten vergleichbar gemacht, unterschiedlich bewertet und entlohnt: Die kapitalistische Vergesellschaftung der Arbeit wirkt als zentraler Mechanismus der Produktion sozialer Ungleichheit. Eine solche Konzeption der abstrakten Arbeit führt zu einer grundlegenden Umformulierung der Problemstellung, die einer durch Marx inspirierten Werttheorie zu Grunde liegt. Die im engeren Sinn ökonomische Frage, ob und wie sich Arbeitswerte messen, quantifizieren oder berechnen lassen, tritt in den Hintergrund zu Gunsten der soziologischen Frage, wie es im Kapitalismus denn dazu kommt, dass alle möglichen Arbeitstätigkeiten – andere allerdings wiederum nicht – in Wertform gebracht und verwertet werden, und wie sich dies auf die Arbeitenden und ihre Tätigkeiten auswirkt. In der Tat ist die der klassischen Arbeitswertlehre zu Grunde liegende Problemstellung soziologisch unangemessen und nicht lösbar: Tatsächlich existierende Werte oder Preise zu berechnen ist beinahe so vermessen wie der Versuch, menschliche Lebewesen künstlich herzustellen. Es kann aus soziologischer Sicht nicht das Ziel sein, mit wissenschaftlichen Methoden dasselbe zu produzieren, was die Gesellschaft Tag für Tag durch ein komplexes Zusammenspiel unzähliger Faktoren hervorbringt. Es geht nicht darum, Arbeitswerte zu berechnen, sondern zu erforschen, wie das Kapital sich lebendige Arbeit einverleibt, indem es diese zurichtet und bewertet. Es geht nicht darum zu definieren, welche Arbeit produktiv ist und welche nicht, sondern zu analysieren, wie der Kapitalismus die Grenzen zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren, zwischen Markt und Staat oder zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit immer wieder neu zieht und verschiebt. Es geht nicht darum zu unterscheiden, ob Arbeitstätigkeiten einfach oder kompliziert sind, sondern heraus zu stellen, welche Tätigkeitsmuster die kapitalistische Produktion
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erzeugt, mit welchen Qualifikationsprofilen diese artikuliert werden und wie auf diese Weise die beobachteten Lohnunterschiede entstehen. Diese Umformulierung der Problemstellung entspricht nicht einfach dem Übergang von einer quantitativen zu einer qualitativen Werttheorie. Ganz richtig halten Nitzan und Bichler (2009: 124) fest, dass die angesichts der Probleme der marxistischen Arbeitswertlehre entworfenen Versuche, die Marx’sche Werttheorie als rein qualitative Theorie zu retten, nicht überzeugen: »According to Marx, and here he was right on the mark, capitalism, by its very nature, seeks to turn quality into quantity, to objectify and reify social relations as if they were natural and unassailable. In this sense, a qualitative theory of value necessarily implies a quantitative theory of value; it means a society not only obsessed with numbers, but actually shaped and organized by numbers. This organization is the architecture of capitalist power. To understand capitalism therefore is to decipher the link between quality and quantity, to reduce the multifaceted nature of social power to the universal appearance of capital accumulation.«
Für die Verfasser von Capital as Power ist Kapitalisierung der entscheidende Begriff, um Qualität und Quantität zusammen zu denken. Damit vermögen sie etwas über die Bewertung von Arbeitstätigkeiten und arbeitenden Menschen auszusagen, aber wenig über die tatsächliche Vergesellschaftung von Arbeit durch das Kapital; auch die bei ihnen so wichtige Kontrolle über die Arbeit bleibt ein leerer Begriff, solange die kapitalistischen Arbeitswelten nicht zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Zu diesem Zweck scheint mir der Begriff der abstrakten Arbeit unersetzlich zu sein: Er vermittelt zwischen qualitativer Formtheorie und quantitativer Ungleichheitsforschung und erinnert daran, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht – wie Nitzan und Bichler behaupten – durch Zahlen organisiert ist, sondern durch das Kapital, das die Menschen mit Zahlen vergesellschaftet. Abstrakte Arbeit ist deshalb kein Gegenstand der Mathematik, sondern der Soziologie. Fiktives Kapital Eine ähnliche Umformulierung der Problemstellung ist meines Erachtens beim Konzept des fiktiven Kapitals angebracht. Nitzan und Bichler (2009: 167-170) lesen die fragmentarischen Ausführungen von Marx zu diesem Begriff durch die Brille der von ihnen als Geburtsfehler der marxistischen Ökonomie kritisierten Opposition von Realwirtschaft und Finanzökonomie oder von realer und nominaler Wertgröße. Sie kritisieren Marx dafür, in den Prozessen der Kapitalisie-
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rung nur eine Fiktion zu sehen, welche die tatsächliche Realität der Ökonomie verzerrt oder unkenntlich macht. Doch wenn Marx ([1894] 1964: 483) das zinstragende Kapital als die »Mutter aller verrückten Formen« bezeichnet, müssen wir uns daran erinnern, dass er die Kategorien der kapitalistischen Ökonomie im Allgemeinen für verrückte Formen hielt, die gesellschaftliche Geltung erlangt haben: Es sind »objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise« (Marx [1873] 1962: 90). Vor diesem Hintergrund scheint mir die Lesart plausibel, dass Marx die Finanzwelt als einen Bereich der Ökonomie untersuchen wollte, der weniger die Realität verzerrt als gewisse Eigenschaften des Kapitalismus in zugespitzter Form zeigt und in dem der Fetischcharakter des Kapitals besonders deutlich hervortritt. Das zinstragende Kapital ist die Kapitalform, in der sich das Kapital wie von selbst vermehrt, ohne sich zwischenzeitlich in Warenform – als Rohstoff, Maschinerie oder Arbeitskraft – zu verwandeln, so dass »[a]ller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals bis auf die letzte Spur verloren [geht], und die Vorstellung vom Kapital als einem sich durch sich selbst verwertenden Automaten [sich] befestigt« (Marx [1894] 1964: 484). Darüber hinaus findet sich in den fragmentarischen Anschnitten des dritten KapitalBandes ein reichhaltiger Fundus an interessanten, aber nicht zu Ende gedachten Beobachtungen und Überlegungen, die wir aufgreifen können. Marx ([1894] 1964: 482) schreibt im 29. Kapitel über die Bestandteile des Bankkapitals: »Die Form des zinstragenden Kapitals bringt es mit sich, dass jede bestimmte und regelmäßige Geldrevenue als Zins eines Kapitals erscheint, sie mag aus einem Kapital entspringen oder nicht.« Ist es reiner Zufall, dass der Siegeszug der Humankapitaltheorie und die Verbreitung und Multiplikation der soziologischen Kapitalbegriffe sich in einer Zeit entfaltet haben, die in der jüngsten Wirtschaftsgeschichte als Herausbildung einer Hegemonie der Finanzwelt über das wirtschaftliche, politische und soziale Leben beschrieben wurde? Über diese Frage sollte die soziologische Kapitaltheorie zumindest selbstkritisch nachdenken. Man muss diesen Satz von Marx ja nicht unbedingt unter dem Aspekt der Gegenüberstellung von realer und Finanzökonomie lesen, sondern kann ihn auch durch die Brille einer Ökonomisierung oder Kapitalisierung aller Aspekte des menschlichen Lebens betrachten. Er zeigt eine Richtung an, in der die Vergesellschaftung der Menschen durch das Kapital auf andere Weise wirksam ist als im kapitalistischen Betrieb, wo sich das Kapital menschliche Arbeit direkt einverleibt und diese in Wertform bringt, das heißt zu abstrakter Arbeit macht. Das fiktive Kapital dagegen wirkt in der Form der Kapital-Mimesis: Es bringt Institutionen, die keine Unternehmen sind, dazu, bis zu einem gewissen Grad
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wie Unternehmen zu funktionieren, es bringt Menschen, die keine Unternehmer sind, dazu, sich wie Unternehmer zu verhalten usw. Allerdings müssen verschiedene Formen des fiktiven Kapitals unterschieden werden. Marx nennt drei Beispiele: Aktienkapital, Staatsschulden und Arbeitskraft. Beim Aktienkapital – Marx ([1894] 1964: 484) spricht von »assoziiertem Kapital« – legt er das Augenmerk auf zwei Aspekte. Zum einen scheint sich das Kapital zu verdoppeln in Aktien auf der einen und Unternehmenskapital auf der anderen Seite. Der Aktionär hat dem Unternehmen Geld gegeben, das als Kapital eingesetzt wird. Im selben Atemzug hat er Aktien erhalten, die er als sein Kapital betrachtet und behandelt, zum Beispiel wenn er sie mit Gewinn weiterverkauft. Für Marx sind diese Aktien aber kein Kapital, sondern Eigentumstitel, die Ansprüche auf Beteiligung am durch das Unternehmen realisierten Mehrwert darstellen: Die Verdoppelung des Kapitals ist nur ein Schein, eine Illusion. Zum andern deutet Marx aber an, worauf die Plausibilität und Wirkungsmächtigkeit dieses Scheins beruht: Diese Eigentumstitel zeichnen sich durch die »selbständige Bewegung [ihres] Werts« aus. »Sie werden nämlich zu Waren, deren Preis eine eigentümliche Bewegung und Festsetzung hat.« (Ebd.: 485) Obwohl die Aktien Unternehmenskapital repräsentieren, entwickelt sich ihr Kapitalwert nur teilweise gemäß der Verwertung dieses Kapitals. Mindestens so viel Einfluss auf Aktienkurse haben Spekulationen über die Zukunft des Unternehmens, Veränderungen des Zinsniveaus oder allgemeine Dynamiken der wirtschaftlichen Konjunktur. Beim Aktienkapital ist für Marx die Verdoppelung des Kapitals fiktiv: Die Wahrnehmung des Eigentumstitels als Kapital ist eine Illusion, wenn auch eine wirkungsmächtige und für den Eigentümer der Wertpapiere fast zwangsläufige oder praktisch notwendige Illusion. Es wäre vielleicht angebracht, mit Pierre Bourdieu (2002: 221) von einer »wohlbegründeten Illusion« zu sprechen, die auf handfesten gesellschaftlichen Verhältnissen und Institutionen beruht – vor allem auf der Funktionsweise der Börsenmärkte. Jedenfalls handelt es sich nicht um eine individuelle Illusion, sondern um eine kollektive, weit verbreitete und gesellschaftlich gültige Vorstellung. Bei der Staatsschuld als zweite Form von fiktivem Kapital kommt für Marx ein anderes Element hinzu. Auch in diesem Fall scheint sich das Kapital zu verdoppeln: Der Gläubiger gibt dem Staat Geld und erhält im selben Atemzug Staatsanleihen, die er wie sein eigenes Kapital betrachtet und weiter verkaufen kann. Doch im Gegensatz zum Aktienkapital stellen Staatseinleihen kein wirkliches Kapital dar, denn der Staat setzt das von den Gläubigern erhaltene Geld nicht als Kapital ein. Er gibt es aus, um bestimmte Staatsaufgaben zu erfüllen: »Das Kapital selbst ist aufgegessen, verausgabt vom Staat. Es existiert nicht mehr.« (Marx [1894] 1964: 482) Doch das nicht mehr
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existierende Kapital lebt in doppelter Weise weiter: Als Staatsanleihe in der Hand des Gläubigers sowie als an den Staat gerichtete Forderung, laufend finanzielle Überschüsse zu erwirtschaften, aus denen die Staatsanleihen verzinst werden können. Aus Sicht des Anlegers, der wahlweise Aktien oder Staatspapiere kaufen kann, macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob ihm ein Unternehmen oder eine Regierung sein Wertpapier verzinst. Er tendiert dazu den Staat wie ein Unternehmen zu betrachten, das Gewinn erwirtschaften muss, um sein Kapital zu vermehren. Wenn diese Sichtweise auch innerhalb der staatlichen Organe um sich greift, wird das fiktive Kapitel im Sinne der Kapital-Mimesis wirksam: Die Staatsverschuldung wird zur treibenden Kraft der Verwandlung des Staats in ein Unternehmen beziehungsweise dieses Hineinwachsens des Kapitals in den Staat, von dem bei Nitzan und Bichler die Rede ist. Die als Kapital betrachtete Arbeitskraft – oder das Humankapital in der Sprache der heutigen Ökonomie – stellt nochmals eine andere Form fiktiven Kapitals dar. Für Marx ([1894] 1964: 483) »[erreicht d]ie Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise hier ihre Spitze, indem statt die Verwertung des Kapitals aus der Exploitation der Arbeitskraft zu erklären, umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt wird, dass Arbeitskraft selbst dies mystische Ding, zinstragendes Kapital ist«.
Gegen diese »gedankenlose Vorstellung« (ebd.) führt er zwei Argumente ins Feld: Zum einen muss der Arbeiter – im Gegensatz etwa zum Aktionär und Gläubiger – arbeiten, um seinen Zins – den Lohn – zu erhalten. Genauer gesagt muss er seine Arbeitskraft dem Kapital zur Verfügung stellen und zur Anwendung bringen, damit sie ihm etwas einbringt. Zum anderen kann der Arbeiter »den Kapitalwert seiner Arbeitskraft nicht durch Übertragung versilbern« (ebd.: 484). Anders als das Aktienkapital und die Staatsschuld nimmt die Arbeitskraft keine Form an, in der sie von einer bestimmten Person entkoppelt wäre und auf dem Markt frei gekauft und weiter verkauft werden könnte. Für Marx wird die Arbeitskraft zwar im Kapitalismus zu einer käuflichen Ware, aber sie lässt sich immer nur für eine gewisse Zeit kaufen und bleibt Eigentum des Arbeiters. Deshalb wäre es angemessen, von Miete statt von Kauf zu sprechen. Es handelt sich beim Arbeitsvermögen jedenfalls um etwas, das durch Kauf und Verkauf nicht den Eigentümer im juristischen Sinne des Wortes wechselt. In allen drei Fällen – Aktienkapital, Staatsschuld, Arbeitskraft – erscheinen Dinge als Kapital, die kein Kapital sind: Im ersten Fall verwandeln sich Eigentumstitel in Kapital; im zweiten Fall verwandelt sich darüber hinaus der Staat in ein Unternehmen; im dritten Fall verwandelt sich der Arbeiter gewissermaßen in
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sein Gegenteil und wird selbst Kapital. Und könnte nicht auch mit bezug auf Arbeitskraft von einer Verdoppelung gesprochen werden? Aus Sicht des Unternehmers ist die Arbeitskraft variables Kapital (Marx [1873] 1962: 214-225): Er verausgabt einen Teil seines Kapitals als Lohnkosten, um Gewinn zu erwirtschaften. Dabei erhält der Arbeiter einen Lohn, den er für die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse einsetzt. Das Kapital ist – wie im Falle der Staatsschuld und erst noch teilweise im wortwörtlichen Sinne – aufgegessen, es existiert nicht mehr. Zugleich lebt es auf doppelte Weise weiter: Im Unternehmen als Verfügungsgewalt über menschliche Arbeitstätigkeit und im Arbeiter als Forderung, sein Leben so zu gestalten, dass seine Arbeitskraft für das Kapital möglichst viel wert ist. Oder aus der Perspektive des Arbeiters betrachtet: Er verkauft seine Arbeitskraft, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Diese verwandelt sich in variables Kapital und gehört faktisch zeitweilig dem Kapital, auch wenn er ihr juristischer Eigentümer bleibt. Er gibt sie weg und doch bleibt sie bei ihm, sie hat sich verdoppelt. Seine Arbeitskraft ist variables Kapital geworden und kann ihm zugleich als sein eigenes Kapital erscheinen, so wie die Aktie dem Aktionär und die Staatsanleihe dem Gläubiger. Die Formen des fiktiven Kapitals beruhen demnach nicht nur auf Kapitalisierung, sondern auch auf Verdoppelung von Kapital, und die gesellschaftliche Wirkungskraft des fiktiven Kapitals hängt davon ab, wie die beiden Seiten des verdoppelten Kapitals zueinander stehen. In der ersten Form (Aktienkapital) gewinnen Eigentumstitel eine eigenständige Dynamik, als ob sie selbst Kapital wären, und erzeugen Druck auf das Unternehmenskapital im Sinne einer Steigerung der Verwertungsrate des Kapitals – denken wir an Diskussionen über das Diktat der shareholder value. In der zweiten Form (Staatsschuld) erzeugt die Eigendynamik der Eigentumstitel einen Druck auf Regierungen, den Staat unternehmerisch zu führen – denken wir an New Public Management und Privatisierung. In der dritten Form (Arbeitskraft) wirkt sich die Einverleibung menschlicher Arbeit in den kapitalistischen Produktionsprozess auf die Lebensentwürfe und die Lebensführung der Lohnabhängigen aus – denken wir an aktuelle Diskussionen über das unternehmerische Selbst oder den Arbeitskraftunternehmer. Während das fiktive Kapital in der ersten Form die bestehende Vergesellschaftung menschlicher Arbeit durch das Kapital verstärkt, wirken die anderen beiden Formen wesentlich als Triebkräfte von Kapital-Mimesis und halten die Menschen dazu an so zu tun als ob sie Unternehmer oder Kapitalisten wären. Im Gegensatz zu den zwei anderen Formen des fiktiven Kapitals bleibt die Verdinglichung der Arbeitskraft begrenzt, so dass sie nicht frei auf dem Markt gehandelt werden kann. Dass Arbeitskraft untrennbar an eine Person gebunden ist, schmä-
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lert nicht die Wirkungsmacht des fiktiven Kapitals, sondern ermöglicht dem Kapital bis zu einem gewissen Grad, in Fleisch und Blut überzugehen. Der Blick auf das fiktive Kapital zeigt, dass Kapitalisierung und Verdoppelung zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Reduktion menschlicher Fähigkeiten oder sozialer Prozesse auf den Kapitalwert erwarteter zukünftiger Einkommen führt dazu, dass das Kapital nicht nur in diesem sich verselbständigenden Kapitalwert, sondern auch in den kapitalisierten Fähigkeiten und Prozessen lebt und diesen bis zu einem gewissen Grad seine Funktionslogik aufdrängt. Während das wirkliche Kapital im Feld der Wertschöpfung agiert, bewegt sich das fiktive Kapital im Bereich der Wertabschöpfung (Zinsen, Dividenden) und der Kapital-Mimesis. Die drei Aspekte hängen allerdings zusammen, und vielleicht leben wir in einer Zeit, in der die kapitalistische Wertschöpfung so sehr wie noch nie Kapital-Mimesis voraussetzt – Menschen als Unternehmer ihrer selbst und unternehmerische Organisationen. »Mit der Entwicklung des zinstragenden Kapitals und des Kreditsystems scheint sich alles Kapital zu verdoppeln und stellenweis zu verdreifachen durch die verschiedne Weise, worin dasselbe Kapital oder auch nur dieselbe Schuldforderung in verschiednen Händen unter verschiednen Formen erscheint«, schreibt Marx ([1894] 1964: 488), und »[so] [geht] aller Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozess des Kapitals bis auf die letzte Spur verloren.« (Ebd.: 484)
Für Marx hat die Verdoppelung des Kapitals auch etwas mit Vernebeln und Vergessen zun tun. Kapital-Mimesis beruht auf Kapitel-Amnesie: Wo das Kapital außerhalb des ökonomischen Feldes auch noch wirkt, ist es kaum erkennbar, denn es tarnt sich als natürliche Eigenschaft der Dinge und der Menschen. Kapital-Mimesis Auf diesem Feld der Verdoppelung und Verdreifachung – allgemeiner: der Vervielfältigung – der Kapitalformen und der Kapital-Mimesis bewegt sich die soziologische Kapitaltheorie. Nur scheint sie sich dessen nicht bewusst zu sein. »Die Bildung des fiktiven Kapitals nennt man kapitalisieren.« (Marx [1894] 1964: 484) Trägt nicht auch die Soziologie zur Kapitalisierung menschlicher Eigenschaften und sozialer Beziehungen bei, indem sie ihre Kapitalbegriffe auf alle möglichen Phänomene anwendet, ohne über das Kapital an sich nachzudenken und diesen Zusammenhang, der laut Marx bis auf die letzte Spur verloren geht, ins Zentrum der Analyse zu stellen? Ist es nicht dieselbe Formvergessenheit, das
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Übersehen der gesellschaftlichen Form, die der Verfasser des Kapitals den Ökonomen vorwarf? »Es ist einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie, dass es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum Tauschwert macht, herauszufinden. Grade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ricardo, behandelt sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches. Der Grund ist nicht allein, dass die Analyse der Wertgröße ihre Aufmerksamkeit ganz absorbiert. Er liegt tiefer. Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.« (Marx [1873] 1962: 95)
Diese Zeilen treffen für mich den Kern des Problems, das die soziologischen Kapitaltheorien unbeabsichtigt aufwerfen. Die Amnesie der gesellschaftlichen Form ist eben nicht nur ein politisches Problem, da sie gesellschaftliche Verhältnisse naturalisiert, sondern vor allem auch ein analytisches Defizit: Sie beraubt die Soziologinnen und Soziologen der Möglichkeit, die gesellschaftlichen Bedingungen der Diffusion ihrer eigenen Kapitalbegriffe zu verstehen. Es ist ihnen nicht bewusst, dass sie das Kapital auf ihrer Seite haben, wenn sie menschliche Fähigkeiten oder soziale Beziehungen als Kapital beschreiben – das Kapital und den common sense. Ihre Kapitaltheorien tragen vulgärökonomische Züge: »Die Vulgärökonomie tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologetisieren. Es darf uns also nicht wundernehmen, dass sie gerade in der entfremdeten Erscheinungsform der ökonomischen Verhältnisse, worin diese prima facie abgeschmackt und vollkommene Widersprüche sind – und alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen –, wenn gerade hier die Vulgärökonomie sich vollkommen bei sich fühlt und ihr diese Verhältnisse umso selbstverständlicher erscheinen, je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist, sie aber der ordinären Vorstellung geläufig sind.« (Marx [1894] 1964: 825)
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Auch in der Soziologie wirkt das zinstragende Kapital als Muster der Mimesis – eben diese Kapitalform, deren Wesen am meisten durch die Erscheinungsform unkenntlich gemacht wird.
F ORMBESTIMMUNGEN Capital as Power – das könnte auch so übersetzt werden: Das Kapital als Kraft, als gesellschaftliche Kraft und vergesellschaftende Kraft. Das scheint mir sinnvoller als die durch Jonathan Nitzan und Shimshon Bichler (2009) postulierte Gleichsetzung von Kapital und Macht. Ich greife damit auch den Gedanken von Pierre Bourdieu (1992: 49) wieder auf, der das Kapital als lex insita und vis insita bezeichnet hat, als den sozialen Beziehungen und der Alltagspraxis eingeschriebene Gesetzmäßigkeit und Kraft. Allerdings wirft der französische Soziologe wie die Verfasser von Capital as Power zwei gesellschaftliche Phänomeme in einen Topf, die meines Erachtens als eigenständige, aber miteinander verbundene Realitäten erforscht werden müssen: die Akkumulations- und Kapitalisierungsdynamiken des Kapitals und deren Auswirkungen auf der einen Seite sowie die gesellschaftlichen Prozesse, auf denen Macht und Herrschaft beruhen auf der anderen. In unserer Gesellschaft sind Macht und Herrschaft natürlich auf vielfältige Weise mit Kapital verbunden, aber sie gehen nicht in den Formen der Kapitalverwertung auf. Das Kapital ist kein Synonym für Kapitalisten: Einmal geht es um eine gesellschaftliche Kraft, das andere Mal um Angehörige einer sozialen Klasse und die Grundlagen ihrer Herrschaft. Wenn sich die soziologische Kapitaltheorie auf diesen Unterschied besinnt, wird sie nicht blind gegenüber Herrschaftsverhältnissen, sondern vermag etwas Spezifisches zu deren Analyse beizutragen. Als vergesellschaftende Kraft wirkt das Kapital wesentlich durch Formbestimmungen, das heißt indem es menschliches Handeln in eigentümliche Formen bringt, in gesellschaftliche Wertformen. Letztlich ist die Kapitalform – nicht die Warenform, wie die Kritische Theorie postuliert – die am höchsten entwickelte und wirkungsmächtigste Wertform. Aus der Lektüre des Kapitals lassen sich drei Ebenen der Formbestimmung gewinnen, die als Analyseraster für soziologische Untersuchungen gesellschaftlicher Phänomene eingesetzt werden können: Realabstraktion, objektive Gedankenform und Fetisch. In der Folge skizziere ich mit Bezug auf Arbeit, Bildung, Entwicklung und Zeit einige Aspekte solcher Formbestimmungen. Dabei steht Realabstraktion für Prozesse, die qualitativ Verschiedenes vergleichbar machen und ungleich bewerten, indem von konkreten Eigenschaften abstrahiert beziehungsweise deren relativer Wert am Maßstab
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der Kapitalverwertung gemessen wird. Solche Prozesse gehen in der gesellschaftlichen Realität vor sich, es handelt sich nicht um gedankliche Abstraktionen. Sie bringen aber entsprechende Gedankenformen hervor, die gesellschaftlich gültig sind – objektive Gedankenformen, die in unserer Gesellschaft auf vielfältige Weise institutionalisiert und festgeschrieben werden. Schließlich verleiht die Kapitalform ihrem je spezifischen Inhalt einen Fetischcharakter: Sie verwandelt von Menschenhand Gemachtes in Übermenschliches oder Übersinnliches, das den Menschen undurchsichtig bleibt oder geheimnisvoll erscheint und sie in ihren Bann zieht. Arbeit Realabstraktion. Im Bereich der Arbeitsforschung hat Marx hervorragende Untersuchungen vorgelegt, an die wir anknüpfen können. Die ausführlichen Darstellungen im dritten und vierten Abschnitt des ersten Kapital-Bandes sind arbeitssoziologische Goldminen und beeindrucken umso mehr als wir wissen, dass der Verfasser nie die Gelegenheit hatte, eine Fabrik von innen zu betrachten. Marx analysiert die Arbeit im kapitalistischen Betrieb unter dem Aspekt der Mehrwertproduktion: Im Abschnitt über den absoluten Mehrwert (Marx [1873] 1962: 192-330) steht der Kampf um die Arbeitszeit im Zentrum, während sich der Abschnitt über den relativen Mehrwert (ebd.: 331-530) mit der Arbeitsorganisation und dem Einsatz technischer Maschinerie in der industriellen Produktion beschäftigt. Marx’ Analyse beginnt mit dem Zusammenhang von Arbeitsund Verwertungsprozess: Was die Arbeit im kapitalistischen Unternehmen auszeichnet ist, dass sie in eine bestimmte gesellschaftliche Form gebracht wird: Sie muss für das Kapital wertschöpfend sein, und alles andere ist von zweitrangiger Bedeutung. »Der Gebrauchswert ist überhaupt nicht das Ding qu’on aime pour lui-même in der Warenproduktion. Gebrauchswerte werden hier überhaupt nur produziert, weil und sofern die materielles Substrat, Träger des Tauschwerts sind.« (Ebd.: 201) Diese Arbeit ist abstrakte Arbeit, von ihren besonderen Eigenschaften wird abstrahiert, oder genauer gesagt: Diese werden der Kapitalverwertung unterworfen. Marx hat analysiert, welche Dynamiken die Unterwerfung menschlicher Arbeit unter das Kapital freisetzt. Den Arbeitenden entgleitet die Kontrolle über ihre Tätigkeit, ihre Arbeit – nicht nur deren Produkt – gehört ihnen nicht und sie werden in einen Prozess eingegliedert, auf den sie keinen Einfluss haben: »Der Kapitalist hat durch den Kauf der Arbeitskraft die Arbeit selbst als lebendigen Gärungsstoff den toten ihm gleichfalls gehörigen Bildungselementen des Produkts einver-
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leibt. […] Der Arbeitsprozess ist ein Prozess zwischen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat, zwischen ihm gehörigen Dingen. Das Produkt dieses Prozesses gehört ihm daher ganz ebenso sehr als das Produkt des Gärungsprozesses in seinem Weinkeller.« (Marx [1873] 1962: 200)
Die Arbeitenden sind einem regelrechten »Heißhunger nach Mehrarbeit« (ebd.: 249) ausgesetzt, der politisch reguliert wird durch Arbeitszeitgesetze (ebd.: 245320). Das Kapital stellt Kooperation der Arbeitenden her (ebd.: 341-355) – ein strategischer Einsatz sozialer Beziehungen, an welche die Sozialkapitaltheorie nicht gedacht hat. Es verändert die Arbeitsorganisation und treibt die Entwicklung der Maschinerie in historischer neuer Qualität voran. Marx beschreibt die Fabrik als riesiges Ungeheuer, das als scheinbares Subjekt der Produktion agiert und die Arbeitenden als »lebendige Anhängsel« (ebd.: 445) sich einverleibt. Doch nicht die Maschine, sondern das in ihr wirkende Kapital beherrscht den Produktionsprozess: »Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt. Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich, wie bereits früher angedeutet, in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten große Industrie. Das Detailgeschick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als winzig Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert sind und mit ihm die Macht des ›Meisters‹ (master) bilden.« (Ebd.: 446)
Marx’ Beschreibungen sind so eindrücklich, dass die Gefahr einer faszinierten Lektüre, die sie unreflektiert verallgemeinert, groß ist. Genau dies ist in der Rezeptionsgeschichte denn auch geschehen, indem die Figur der Fabrikarbeit des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff für Ausbeutung und entfremdete Arbeit schlechthin wurde. Doch solche Fabrikarbeit ist nur eine spezifische konkrete Form der abstrakten Arbeit. In jedem kapitalistischen Unternehmen wird menschliche Arbeit in Wertform gebracht, das heißt auf die Funktion der Kapitalverwertung reduziert. Aus soziologischer Sicht verläuft die relevante Trennlinie deshalb nicht zwischen Wirtschaftssektoren (Industrie, Dienstleistungen, Finanz), sondern zwischen kapitalistischen Betrieben – das setzt eine gewisse Größe und einen gewissen Grad der Vergesellschaftung durch das Kapital voraus – und den Klein- und Kleinstunternehmen, die nur pro Forma und ansatz-
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weise wie kapitalistische Unternehmen funktionieren (das kleine Coiffeurgeschäft wie die selbständige Dolmetscherin werden durch die staatliche Steuerabteilung zu einer Form der Rechnungsführung gezwungen, die als KapitalMimesis betrachtet werden kann), sowie den staatlichen Betrieben und Verwaltungen, die anderen Funktionsweisen unterliegen (auch wenn die Regierungen angehalten sind, den Staat wie ein Unternehmen zu führen). In den führenden kapitalistischen Ländern hat die Lohnarbeit außergewöhnlich große Verbreitung erfahren. Aber Lohnarbeit und abstrakte Arbeit sind nicht dasselbe, und die soziologische Arbeitsforschung kann diese Differenz präzisieren, indem sie die Prozesse der Realabstraktion zum Gegenstand der Analyse macht. Eine Gefahr der faszinierten Marx-Lektüre liegt auch darin, das Andere der abstrakten Arbeit zu übersehen. Realabstraktion bedeutet immer auch Grenzziehungen zwischen der Arbeit, die als wertvoll – weil wertschöpfend – gilt und der Arbeit, der diese gesellschaftliche Bewertung nicht zuteil wird. Der Kapitalismus zeichnet sich durch eine klare Trennung zwischen dem, was gesellschaftlich als Arbeit anerkannt ist, und allen anderen Tätigkeitsbereichen aus – ein Phänomen, das in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften zuvor unbekannt war. Das Kapital abstrahiert dabei nicht nur von konkreten Eigenschaften der Tätigkeiten, sondern zugleich von deren gesellschaftlicher Funktion: So wird gesellschaftlich notwendige Arbeit wie Kinderbetreuung in der Familie überhaupt nicht als Arbeit anerkannt. Mit dem Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit hob Marx ([1873] 1962: 53-61; 200-213) hervor, dass eine Tätigkeit nur in dem Ausmaß als wertschöpfend gilt, als sie den jeweils geltenden Produktivitätsanforderungen entspricht. Vergesellschaftung menschlicher Arbeit durch das Kapital ist über Marx hinaus aber auch als ein permanenter Prozess der Bewertung und Entwertung zu denken, der den Unterschied zwischen der als gesellschaftlich notwendig anerkannten Arbeit und anderen Tätigkeiten erst herstellt und reproduziert. So gelesen erklärt die Marx’sche Werttheorie weniger, dass Arbeit allein Wert schafft, als warum nur bestimmte Arbeitstätigkeiten als gesellschaftlich notwendige und als wertschöpfende Arbeit anerkannt sind. Die nicht als Arbeit anerkannten Tätigkeiten sind gesellschaftlich entwertet, sie entgehen dem Diktat der Kapitalverwertung, sind allerdings auf vielfältige Weise von der abstrakten Arbeit abhängig und können zum Gegenstand von KapitalMimesis werden – etwa wenn es darum geht, den Familienhaushalt unternehmerisch zu führen. Objektive Gedankenform. Die Vergesellschaftung durch das Kapital bringt nicht nur Arbeit in Wertform, sondern schafft auch besondere Sichtweisen auf menschliche Tätigkeiten, die bei genauerer Betrachtung höchst erklärungsbedürftig sind, in unserer Gesellschaft aber als selbstverständlich gelten. Mit Pierre
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Bourdieu (1979: 318ff.) können wir von einer Doxa sprechen, von Prinzipien der Vision und Division, des Einteilens und Urteilens, die tief in den vorherrschenden gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen verankert sind. Meines Erachtens lässt sich der Marx’sche Begriff der objektiven Gedankenformen (Marx [1873] 1962: 90) durchaus ähnlich interpretieren: Der Kapitalismus bringt unsere Gedanken wie von selbst in bestimmte Formen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind und darüber nachdenken, ob es nicht auch andere Formen des Denkens geben könnte. Die Unterscheidung von Arbeit und Nicht-Arbeit oder von Arbeitszeit und Freizeit sind solche Prinzipien gesellschaftlich gültiger Vision und Division. Die Arbeitssoziologie sollte sie nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen: Es geht darum zu verstehen, wie sie zustande kommen, wie sie wirken und was sie bewirken. Aus gesellschaftskritischer Sicht handelt es sich – um mit Marx zu sprechen – in vielerlei Hinsicht um verrückte oder verkehrte Sichtweisen, die etwa dazu führen, dass Arbeit in der Waffenproduktion als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkannt und gut entlohnt wird, nicht aber das Kochen oder die Wäsche im privaten Haushalt. Eine besonders wirkungsmächtige objektive Gedankenform erzeugt die Vorstellung, dass gewisse Arbeitstätigkeiten schwieriger und wertvoller sind als andere und deshalb zu Recht besser entlöhnt werden. Es handelt sich um die gedanklich objektivierte oder fixierte Form der ungleichen Bewertung verschiedener konkreter Arbeiten durch das Kapital. Sie kommt in der Unterscheidung zwischen Hand- und Kopfarbeit zum Ausdruck. Die heute verbreitete Theorie der Wissensarbeit oder der Wissensgesellschaft – für eine kritische Diskussion siehe Gemperle/Streckeisen 2007 – stützt sich auf diese Unterscheidung. Hinter dem Bild von Hand- und Kopfarbeit verbergen sich Formen sozialer Ungleichheit und Macht. Die Doxa operiert relational: Handarbeit ist stets Arbeit von niedrigerem sozialem Rang als Kopfarbeit und/oder subalterne Arbeit im Gegensatz zu Tätigkeiten, die mit Verfügungsmacht über diese Arbeit verbunden sind. Marx ([1873] 1962) hat es versäumt, die von ihm im ersten Kapital-Band wie nebenbei eingesetzte Unterscheidung einfacher und komplizierter Arbeit zu problematisieren. Es gibt zwar eine Passage (mit Verweis auf Hegels Philosophie des Rechts), in der das Problem der sozialen Ungleichheit anklingt: »Wie nun in der bürgerlichen Gesellschaft ein General oder Bankier eine große, der Mensch schlechthin dagegen eine schäbige Rolle spielt, so steht es auch hier mit der menschlichen Arbeit. Sie ist Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt.« (Ebd.: 59)
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Doch Marx geht es um den Klassenunterschied zwischen den Tätigkeiten Angehöriger der herrschenden Klasse und der Arbeit des Proletariats. Die soziale Ungleichheit unter den Arbeitenden thematisiert er nicht und deutet sogar an, höher entlöhnte Arbeit sei kompliziertere Arbeit und erfordere den Einsatz einer höher gebildeten Arbeitskraft, die mehr wert ist und deren Einsatz mehr Wert schafft (ebd.: 211-212) – ein Komplex von Vorstellungen, auf denen die meritokratischen Sichtweisen des Bürgertums beruhen. Wenn wir heute über objektive Gedankenformen im Zusammenhang mit Arbeit nachdenken, müssen wir zudem Phänomene in den Blick nehmen, die erst nach dem Tod von Marx ihre überragende gesellschaftliche Bedeutung erlangt haben: Das gilt für die Entwicklung des öffentlichen Bildungssystems – darauf komme ich in der Folge zurück – ebenso wie für die so genannte wissenschaftliche Organisation der Arbeit. Letztere darf keineswegs auf das Werk von Frederick W. Taylor oder auf das, was gemeinhin als Taylorismus verstanden wird, reduziert werden: Heute ist die Betriebswirtschaftslehre ebenso dazu zu zählen wie die Managementwissenschaften, die Arbeitspsychologie und Systeme zur Arbeitsplatzbewertung. Es handelt sich um ein ganzes Bündel von Wissenschaften, die sich mit der Optimierung des Einsatzes menschlicher Arbeit in kapitalistischen Unternehmen sowie im öffentlichen Sektor beschäftigen. Dabei geht es nicht nur um die Organisation und Ausführung von Tätigkeiten, sondern auch um deren ungleiche Bewertung. Die Lohnsysteme größerer Betriebe beruhen allesamt auf umfangreichen und ausgeklügelten Systemen der Arbeitsplatzbewertung und der Leistungsbeurteilung, die mit dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit vielfältige Formen des Unterschieds zwischen Hand- und Kopfarbeit ausdifferenzieren und festschreiben: Ich habe das an anderer Stelle an Hand eines konkreten Beispiels diskutiert (Streckeisen 2008: 266-282). Auch die Entgeltregelungen in Tarifverträgen funktionieren als Institutionalisierungen von objektiven Gedankenformen des Kapitals, indem sie die ungleichen Bewertungen von Arbeitstätigkeiten festschreiben und legitimieren. Fetisch. Marx war ein großer Theoretiker des Kapitalfetisches, aber den Arbeitsfetisch hat er nicht zum Thema gemacht – im Gegensatz zu seinem Schwiegersohn Paul Lafargue ([1883] 2001), der den Arbeitsfleiß des Proletariats kritisierte. Im Kapitel über den »Fetischcharakter der Ware und sein Gehemnis« betont der Verfasser des Kapitals, dass die Warenform der Arbeitsprodukte gerade die gesellschaftlichen Prozesse und Verhältnisse verschleiert, die ihr zu Grunde liegen.
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»Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« (Marx [1873] 1962: 86)
Das berühmte »Sie wissen das nicht, aber sie tun es« (ebd.: 88) führt ihn zur Beobachtung, dass die Regulierung ihrer Arbeit durch den Maßstab der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit sich den Arbeitenden wie ein nicht beeinflussbares Naturgesetz aufzwingt – »wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt« (ebd.: 89). Viele marxistische Lesarten – sofern sie dem Thema überhaupt Beachtung schenken – haben die Marx’sche Fetischtheorie auf diesen Zusammenhang von Undurchsichtigkeit und scheinbarem Naturgesetz reduziert. Aber ein Fetisch ist etwas, das die Menschen in seinen Bann zieht; etwas, das sie verehren und dem sie Opfer bringen, weil sie an dessen übernatürliche Eigenschaften glauben. Hier können wir mit Marx über Marx hinaus denken und der Frage nachgehen, inwiefern die Arbeit selbst einen solchen Fetischcharakter annimmt, wenn sie in Wertform gebracht wird. Es gibt bei Marx selbst einen Ansatzpunkt in diese Richtung: Wenn er im dritten Band des Kapitals eine religiöse Metapher – die »trinitarischen Formel« – einsetzt um zu beschreiben, wie sich die verschiedenen Akteure des kapitalistischen Wirtschaftslebens die Herkunft ihrer jeweiligen Einkommensflüsse erklären, zeichnet er das Bild dreier Bäume, die ganz natürlich die jährlichen Einkommen dreier sozialer Klassen – Kapitalisten, Grundeigentümer, Arbeiter – hervorzubringen, das heißt wie Früchte zu tragen scheinen (Marx [1894] 1964: 830). Durch die Brille der marxistischen Arbeitswertlehre lautet die Interpretation dieser Zeilen, nur die Arbeit schaffe Wert, nicht aber das Kapital oder der Boden. Doch Marx stellt diese drei Produktionsfaktoren oder Einkommensquellen auf dieselbe Stufe und kritisiert damit auch die Vorstellung, Arbeit als natürliche Quelle von Reichtum zu betrachten. Der Arbeitsfetisch macht die gesellschaftlichen Bedingungen vergessen, die erfüllt sein müssen, damit Arbeit überhaupt wertschöpfend wird – insbesondere die Verbindungen von menschlicher Tätigkeit mit natürlichen Ressourcen und Kapital, das heißt die Vergesellschaftung der Arbeit durch das Kapital. In den Programmen der historischen Arbeiterbewegung ist der Arbeitsfetisch ebenso wirkungsmächtig geworden wie in den Theorien des traditionellen Marxismus: Wie Moishe Postone (1993: 8) festhält, dominierte meistens Kapitalismuskritik vom Standpunkt der Arbeit (from
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the standpoint of labor), nicht Kritik der kapitalistischen Arbeit. Die stalinistischen Helden der Arbeit – oder die schweizerische Partei der Arbeit – sind vor diesem Hintergrund betrachtet nur eine besondere Manifestation eines sehr verbreiteten Phänomens, das die Menschen im Kapitalismus und offensichtlich auch im so genannt real existierenden Sozialismus dazu anhält, ihre Arbeit als Baum zu betrachten, der von Natur aus Früchte trägt. Die Vorstellung eines gerechten Lohns oder von gleichem Lohn für gleiche Leistung, die das politische Spektrum von links bis rechts beherrscht, beruht auf eben dieser Illusion, in einer hochgradig arbeitsteiligen Ökonomie könne der je individuelle Beitrag gemessen und entlohnt werden (Schatz 2004) – eine Illusion, die stets wieder neu hergestellt und befestigt wird, nicht zuletzt durch eine Sozialpolitik, die sich heute am Prinzip orientiert, niemand dürfe etwas ohne Gegenleistung erhalten. Wenn wir uns von Marx als Theoretiker des Kapitalfetisches inspirieren lassen, sollten wir Max Weber als Theoretiker des Arbeitsfetisches nicht übergehen. Wie kein anderer Autor seiner Zeit hat er herausgestellt, dass die Erwerbsarbeit im Kapitalismus zum eigentlichen Sinn und Zweck des Lebens geworden ist. Wenn er von sinnloser Umkehrung schreibt, um die dem Kapitalistismus zu Grunde liegende Ethik der Lebensführung zu charakterisieren, darf dies durchaus mit den typischen Marx’schen Begriffen »verrückt« oder »verkehrt« in Verbindung gebracht werden: »[D]er Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, [ist] so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem ›Glück‹ oder dem ›Nutzen‹ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint. Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen. Diese für das unbefangene Empfinden schlechtin sinnlose Umkehrung des, wie wir sagen würden, ›natürlichen‹ Sachverhalts ist nun ganz offenbar ebenso ein Leitmotiv des Kapitalismus, wie sie dem von seinem Hauche nicht berührten Menschen fremd ist.« (Weber [1920] 1986: 35-36)
Und bei Weber erfasst der kapitalistische Geist nicht nur den Unternehmer, sondern gerade auch die Lohnabhängigen, die sie ihm als »ungemein arbeitsfähige und an der Arbeit als gottgewolltem Lebenszweck klebende Arbeiter zur Verfügung« stellt (ebd.: 198). Die durch den deutschen Soziologen so stark thematisierte religiöse Wurzel des kapitalistischen Arbeitsethos – oder Arbeitsfetischs – war zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits abgestorben. Sein düsterer Ausblick in die Zukunft eines säkularisierten Kapitalismus, welcher die Menschen mit
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»unentrinnbare[r] Macht« in sein »stahlhartes Gehäuse« zwingt (ebd.: 204; 203), hat nicht in Rechnung gestellt, dass die Vergesellschaftung durch das Kapital auch wiederum eine »verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt« hervorbringt, das heißt eine eigenständige »Religion des Alltagslebens« (Marx [1894] 1964: 838). Bildung Realabstraktion. Die Arbeitskraft – oder das Arbeitsvermögen: ein Begriff, der weniger Gefahr läuft, einseitig körperbetont interpretiert zu werden – ist ein Schlüsselkonzept der Marx’schen Kapitalismusanalyse. Für Marx ([1873] 1962: 741-791) ist die massenhafte Transformation menschlichen Arbeitsvermögens in Warenform ein entscheidendes Moment der so genannten ursprünglichen Akkumulation, das heißt jener historischen Prozesse, die den Kapitalismus als Produktions- und Herrschaftssystem erst hervorgebracht haben. Ohne die Entstehung einer Klasse von Menschen, die ihr Arbeitsvermögen verkaufen müssen um zu überleben, könnte die Verwandlung von Geld in Kapital nicht auf breiter und kontinuierlicher Basis vor sich gehen: »Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehn, müsste unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft.« (Ebd.: 181)
Doch Marx hat selbst die Herstellung menschlichen Arbeitsvermögens nicht untersucht: Die Vergesellschaftung der Arbeitskraft interessierte ihn letztlich nur so weit, als sie im kapitalistischen Betrieb vor sich geht, und deren Wert bestimmte er – in Abweichung von seinem sonstigen Verfahren – nicht durch die zur Produktion von Arbeitsvermögen erforderliche Arbeit, sondern durch den Wert der zu deren Reproduktion benötigten Lebensmittel (ebd.: 186-187). Wenn wir nun aber die Produktion von Arbeitskraft sowie die ungleiche gesellschaftliche Bewertung von verschiedenem Arbeitsvermögen zum Gegenstand der Untersuchung machen, dürfen wir nicht in das Denken einer traditionellen Arbeitswertlehre zurückfallen, das in der Humankapitaltheorie und der soziologischen Kapitaltheorie aufscheint: Der gesellschaftliche Wert eines spezifischen Arbeitsvermögens lässt sich nicht durch die einfache Formel Arbeit mal Zeit bestimmen, auch wenn er durchaus etwas mit der Zeit zu tun hat, während
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der am Arbeitsvermögen gearbeitet wird. Wie die Arbeit trennt der Kapitalismus auch die Bildung als eigenständige Sphäre von anderen Lebensbereichen ab und lässt nur Tätigkeiten, die in dieser Sphäre vor sich gehen, als Bildung gelten. Auch hier operiert die Realabstraktion durch Bewertung und Entwertung, das heißt durch Grenzziehungen zwischen gesellschaftlich anerkannter Bildung und anderen Tätigkeiten. In der Familie, beim Spielen und bei der Arbeit lernen die Menschen viel mehr als in der Schule, aber das zählt gesellschaftlich insofern nicht, als es dafür weder Noten noch Zertifikate gibt. Natürlich wirken sich solche nicht als Bildung geltende Tätigkeiten stark auf den Erwerb von Bildungstiteln und sozialen Positionen aus. Aber dies geschieht im Verborgenen und erscheint in der verdinglichten Form des Talents oder des Fleißes, die den individuellen Erfolg wie das individuelle Scheitern verklären. Auch innerhalb der Institutionen des Bildungssystems gilt die einfache Formel Arbeit mal Zeit gleich Bildung oder Wert der Bildung so nicht, denn die einzelnen Bildungseinrichtungen sind von unterschiedlichem gesellschaftlichem Wert, und dies schlägt sich im Wert der jeweils erworbenen Bildung nieder. Es ist die erste Aufgabe der Bildungssoziologie, solche Prozesse der Bewertung und Entwertung von Tätigkeiten, durch die Menschen etwas lernen, ins Zentrum der Analyse zu stellen. Marx vermochte nicht die zukünftige gesellschaftliche Bedeutung des Bildungswesens zu antizipieren. Er ging davon aus, dass der Kapitalismus traditionelle Bildungsunterschiede, die aus dem Zunft- und Handwerkswesen stammten, einebnen und vor allem Arbeitskräfte ohne spezifische Berufsbildung einsetzen werde. In einer Fußnote des ersten Kapital-Bandes hält er fest: »Der Unterschied zwischen höherer und einfacher Arbeit, ›skilled‹ und ›unskilled labour‹, beruht zum Teil auf bloßen Illusionen oder wenigstens Unterschieden, die längst aufgehört haben, reell zu sein, und nur noch in traditioneller Konvention fortleben; zum Teil auf der hilfloseren Lage gewisser Schichten der Arbeiterklasse, die ihnen minder als andren erlaubt, den Wert ihrer Arbeitskraft zu ertrotzen. […] Übrigens muss man sich nicht einbilden, dass die sogenannte ›skilled labour‹ einen quantitativ bedeutenden Umfang in der Nationalarbeit einnimmt. Laing rechnet, dass in England (und Wales) die Existenz von über 11 Millionen auf einfacher Arbeit beruht. Nach Abzug einer Million von Aristokraten und anderthalb Millionen Paupers, Vagabunden, Verbrecher, Prostituierte usw. von den 18 Millionen der Bevölkerungszahl, zur Zeit seiner Schrift, bleiben 4650000 Mittelklasse mit Einschluss kleinerer Rentner, Beamten, Schriftsteller, Künstler, Schulmeister usw.« (Marx [1873] 1962: 212)
Der Verfasser des Kapitals spottet hier darüber, dass Laing auch die besser bezahlten Fabrikarbeiter und die bricklayers zur Mittelklasse zählte. Soziale Un-
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gleichheiten innerhalb der Arbeiterklasse scheinen ihn nur wenig interessiert zu haben. Im Gegensatz dazu thematisiert die heutige Soziologie oft soziale Ungleichheiten so stark und detailliert, dass sie im Gegenzug die Klassen aus dem Blick verliert. Das Werk Pierre Bourdieus steht unter anderem für eine kritische Bildungssoziologie, welche Prozesse der Reproduktion sozialer Ungleichheit und der Legitimierung von Herrschaft durch das öffentliche Bildungssystem offen legt. Gegen die Gefahr substantialistischer Lektüren von Bourdieus Texten, die mehr kulturelles Kapital unreflektiert mit überlegenen kulturellen Fähigkeiten gleichsetzen (und umgekehrt), lässt sich das Konzept der Realabstraktion ins Feld führen um zu betonen, dass in unserer Gesellschaft nur spezifische Formen von Bildung als solche gelten und andere entwertet sind. Anders gesagt muss die Bildung – wie die Arbeit – in eine besondere gesellschaftliche Form gebracht werden, damit sie gesellschaftlich anerkannt ist: in eine Wertform. Das öffentliche Bildungssystem beruht auf der Gleichsetzung durchaus spezifischer kultureller Praxen mit Kultur überhaupt. Es produziert abstrakte Bildung, die sich in Noten messen und in Titeln zertifizieren lässt, wobei weder das eine noch das andere den tatsächlichen Kenntnissen, Fähigkeiten und Interessen der bewerteten Personen gerecht wird. Wenn jemand im Bildungssystem nicht reüssiert, darf dies nicht mit einem Mangel an Kultur im Allgemeinen verwechselt werden, sondern verweist auf ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Kulturformen und kulturellen Praxen: Schulerfolg wie Schulversagen sind stets das Ergebnis eines Aufeinandertreffens unterschiedlicher Kulturen – die Kultur der sozialen und familiären Herkunft auf der einen, die als legitime Kultur gesetzten Maßstäbe des Bildungssystems auf der anderen Seite – und die gesellschaftliche Funktion der Schule liegt nicht zuletzt darin, gewisse Kulturformen zu entwerten und unsichtbar zu machen, indem sie diese als Gegenteil von Kultur stigmatisiert. Karin Scherschel (2010) hat problematisiert, dass Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals die Bedeutung ethnischer Herkunftskulturen nicht ausreichend zur Kenntnis nimmt. An diesem Beispiel lässt sich die mit einer oberflächlichen Lektüre der Reproduktionstheorie verbundere Gefahr der Naturalisierung und Stigmatisierung besonders deutlich fassen. Die durch das Bildungssystem gesetzte legitime Kultur trägt stets nationale Züge, aber sie weist auch klassen- und geschlechtsspezifische Dimensionen auf. Die Sprache der rebellierenden Vorstadtjugendlichen in Frankreich ist nur ein Beispiel besonders drastisches Beispiel dafür, wie die drei Dimensionen – Ethnizität, Klasse und Geschlecht – ineinandergreifen und eine Kultur hervorbringen können, die einzigartig, aber gesellschaftlich entwertet ist: Niemand versteht es verlan zu sprechen wie sie, aber
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diese außergewöhnliche Kompetenz bringt ihnen nichts als Unverständnis und Verachtung. Objektive Gedankenform. Die heutige Bedeutung des öffentlichen Bildungswesens für die Produktion, Verbreitung und Legitimierung vorherrschender Sichtweisen auf die soziale Welt lässt sich kaum überschätzen. Die Bildungssoziologie darf sich nicht allein auf die Frage beschränken, welchen Anteil Bildung an der Reproduktion von Macht und Ungleichheit hat, sie muss vielmehr auch die Entstehungsprozesse und die Funktionsweisen dieser Sichtweisen zum Forschungsgegenstand machen. Es ist uns heute selbstverständlich geworden, Menschen nach ihren Bildungstiteln zu beurteilen – im Alltags- ebenso wie im Berufsleben. Und solche Titel stehen für weitaus mehr als nur Kenntnisse und berufliche Fähigkeiten im engeren Sinn: Sie evozieren einen bestimmten Typus von Mensch und einen entsprechenden sozialen Rang auf derart offensichtliche Weise, dass es nicht ausgesprochen zu werden braucht – ja es wäre ein Fauxpas, dies auszusprechen. Ganz treffend hält Matéo Alaluf (1986: 9) fest: »Un vrai maçon n’est pas quelqu’un qui construit de bons murs, c’est quelqu’un qui ne se donne pas pour autre chose que maçon.« 4 Dass Bildung sich in Noten messen und die Fähigkeiten und Eigenschaften von Menschen sich in Bildungstiteln darstellen lassen sind wirkungsmächtige objektive Gedankenformen, die »um so selbstverständlicher erscheinen, je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist, sie aber der ordinären Vorstellung geläufig sind« (Marx [1894] 1964: 825). In der schlagenden Evidenz dieser Gedankenformen finden die spontansoziologische ebenso wie die pseudowissenschaftliche Beurteilung anderer Menschen wie des Selbst nicht selten »die naturgemäße und über allen Zweifel erhabene Basis ihrer seichten Wichtigtuerei« (ebd.: 839). Die Homologie der objektiven Gedankenformen, die den gesellschaftlich dominanten Blick auf Arbeit einerseits und Bildung anderseits bestimmen, liegt auf der Hand. Im Kapitalismus fällt dem Bildungssystem die Aufgabe zu, die Unterscheidung und ungleiche Bewertung von Hand- und Kopfarbeit als natürliche und wohl begründete Realität darzustellen, indem der Zusammenhang von Arbeitstätigkeit und Arbeitsvermögen durch entsprechende Bildungstitel vermittelt wird: So wird mit aller Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass nicht nur die Tätigkeiten, sondern auch die Fähigkeiten der Arbeitenden und letztlich die Arbeitenden selbst mehr oder weniger wert sind – das eine gilt als Beweis des anderen (und umgekehrt). Wenn das Bildungssystem in der Tat wesentlich durch die Dynamik und Funktionslogiken der kapitalistischen Ökonomie geprägt
4 »Ein richtiger Maurer zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er gut mauert, sondern dass er nicht etwas Besseres als Maurer zu sein vorgibt.«
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ist, sollte umgekehrt nicht übersehen werden, in welchem Ausmaß es wiederum die Arbeitswelt prägt. Wie Michel Foucault (1994) zeigt, existiert eine sehr lange Geschichte der Wechselwirkungen zwischen Verfahren, die in so unterschiedlichen Institutionen wie dem Gefängnis, dem Irrenhaus, der Schule oder der Fabrik zur Herstellung nützlicher oder produktiver Menschen eingesetzt wurden. Wenn die Arbeitssoziologie zum Beispiel betriebliche Lohnsysteme untersucht, die scheinbar auf der Messung individueller Arbeitsleistungen beruhen, kann sie eine Menge von der Bildungssoziologie lernen. Nie ist mir das so unmittelbar ins Auge gesprungen wie im Gespräch mit einem Personalmanager, der zur Erläuterung der Notwendigkeit, im Rahmen der individuellen Leistungsbewertungen in jeder Einheit jeweils eine Normalverteilung zu erreichen, betonte, jeder Lehrer tue in der öffentlichen Schule ja nichts anderes, wenn er Noten setze und ein passendes Gesamtergebnis anstrebe (Streckeisen 2008: 287). Fetisch: Das öffentliche Bildungssystem ist kein Feld der Kapitalakkumulation, sondern der Kapital-Mimesis – seit dem Siegeszug von Neoliberalismus und New Public Management gilt dies mehr als je zuvor. Aber Schulen sind keine Unternehmen, auch wenn sie dazu angehalten werden, unternehmerisch zu funktionieren. Studierende sind keine Arbeitskräfte, die an der Vermehrung des Kapitals der Professorenschaft arbeiten, auch wenn der soziale Status der Professorinnen und Professoren unter anderem im Hörsaal zur Schau gestellt und reproduziert wird. Was Pierre Bourdieu (1992: 53-63) als kulturelles Kapital bezeichnet, unterscheidet sich vom ökonomischen Kapital dadurch, dass ihm die Dimension der von einzelnen Personen entkoppelten Dynamik einer prinzipiell schrankenlosen Vermehrung als Selbstzweck fehlt. Natürlich weist das Bildungswesen eine eigene Ökonomie auf, aber es handelt sich nicht um eine Chrematistik, auch nicht im einen Oikos, um die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zu bemühen. Vielmehr lässt sich im Bildungssystem eine Ökonomie der Subjektivierung und der Reproduktion beobachten: Es geht um die Herstellung nützlicher Subjekte für den Kapitalismus und um die Erhaltung gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Kapital-Mimesis bringt aber ähnliche gesellschaftliche Formen wie Kapitalakkumulation hervor, da sie auf Kapitalverdoppelung beruht – auf fiktivem Kapital. Der Fetischcharakter von Bildung steht denn auch nicht hinter dem von Arbeit zurück. Das Bildungssystem ist eine Institution, die Bildung systematisch verdinglicht: Noten und Bildungstitel sind Beispiele, wie gesellschaftliche Prozesse und Zusammenhänge gegenständliche Form annehmen und sich undurchsichtig darstellen. Es sind Dinge von einer ähnlichen »Wertgegenständlichkeit« wie die Waren, die Marx ([1873] 1962: 62) am Beginn des Kapitals analysiert.
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Die an Bildungstitel geknüpfte »kollektive Magie« (Bourdieu 1992: 62) entspringt genau wie der Kapitalfetisch der gesellschaftlichen Form, durch die menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten vergesellschaftet werden: »Man denke nur an die Prüfungsform des ›concours‹, die aus einem Kontinuum von minimalen Leistungsunterschieden dauerhafte, brutale Diskontinuitäten produziert. Nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip wird zwischen dem letzten erfolgreichen und dem ersten durchgefallenen Prüfling ein wesensmäßiger Unterschied institutionalisiert, der die offiziell anerkannte und garantierte Kompetenz vom einfachen Kulturkapital scheidet, das unter ständigem Beweiszwang steht. In diesem Fall sieht man deutlich, welche schöpferische Magie sich mit dieser institutionalisierten Macht verbindet, der Macht, Menschen zu veranlassen, etwas zu sehen und zu glauben oder mit einem Wort, etwas zu anerkennen.«
Hier können wir von einer ähnlichen Umkehrung sprechen wie Max Weber mit Blick auf den Geist des Kapitalismus: Wenn der Bildungstitel wichtiger wird als der Mensch beziehungsweise an dessen Stelle tritt, sind wir mit einer gesellschaftlichen Konstellation konfrontiert, in der Menschen zum Mittel von Bildung und der durch Bildung angestrebten Ziele werden, statt sich Bildung zum Mittel ihrer eigenen Zwecke zu machen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn der Zugang von Frauen oder zugewanderten Menschen zu Bildung und qualifizierter Erwerbstätigkeit als Instrument zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes politisch mehr gefordert als gefördert wird. Vielleicht war der Glaube an Bildung als soziales und ökonomisches Wundermittel noch nie so weit verbreitet und wirkungsmächtig wie heute, da die Vorstellung um sich greift, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Allerdings bringt jeder Glaube klassenspezifische Formen hervor, was bereits Max Weber in seiner Religionssoziologie so überzeugend herausgearbeitet hat. Was er am Beispiel des englischen Methodismus als das »Problem der säkularisierenden Wirkung des Besitzes« (Weber [1920] 1986: 196) diskutierte, lässt sich möglicherweise auch beim Bildungsglauben beobachten: Besonders ungebrochen ist er in den Kreisen, die konkrete wohl begründete soziale Aufstiegshoffnungen hegen und diese mit Bildung in Verbindung bringen, während in höheren Positionen des sozialen Raums eine pragmatische Haltung vorherrscht: Falls notwendig hilft man dem Glück mit anderen Mitteln nach. Es gibt auch soziale Gruppen, in denen das Bildungssystem Hoffnung und Hoffnungslosigkeit in einem produziert: Das gilt zum Beispiel für die migrantische Jugend der französischen Vorstädte, deren Zukunftsperspektiven subproletarische Züge aufweisen (Bourdieu et al. 1997: 211-214): Sie fühlen sich den Launen des Bildungsgottes ausgeliefert, haben ihm Opfer gebracht und wenden sich wieder von ihm ab,
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wenn er nicht ganz konkret hilft. Auch in der staatlichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist der Bildungsglaube heute ungebrochen: Soziale Probleme wie Erwerbslosigkeit und Armut werden als Resultat mangelhafter Bildung der Betroffenen angesehen. Allerdings hat der Staat den Erwerbslosen und Armen in der Regel nur Mini- oder Pseudo-Bildung anzubieten – zum Beispiel Bewerbungskurse – und stößt nicht selten auf fehlenden Glauben an die Sinnhaftigkeit der verordneten Bildungsmaßnahmen, die auch als Instrumente der staatlichen Kontrolle und sozialen Herabwürdigung erfahren werden können (Krenn 2012). So reproduziert sich die uralte Unterscheidung zwischen den würdigen und den unwürdigen Armen heute auch am Kriterium der Huldigung des Bildungsfetischs, nicht mehr nur des Arbeitsgotts. Entwicklung Realabstraktion. Der erste Band des Kapitals endet mit einem Kapitel über die moderne Kolonisationstheorie. Marx ([1894] 1964: 792) geht davon aus, dass der historische Prozess der ursprünglichen Akkumulation in Europa »mehr oder minder vollbracht« ist und der Kapitalismus darauf drängt, andere Weltregionen der kapitalistischen Produktionsweise zu unterwerfen. Dabei stoßen die europäischen Kolonisatoren auf Probleme, insbesondere auf das Fehlen der zur Entfaltung kapitalistischer Produktion erforderlichen gesellschaftlichen Klassenverhältnisse: »Das kapitalistische Regiment stößt [in den Kolonien] überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt den Kapitalisten.« (Ebd.) Marx trägt hier eine polemische Kritik der Theorie des britischen Kolonialpolitikers Edward Gibbon Wakefield vor, der durch »systematische Kolonisation« für die »Fabrikation von Lohnarbeitern in den Kolonien« sorgen will (ebd.: 793). Wakefields Ansatz steht ihm stellvertretend für die Sichtweise der britischen politischen Ökonomie im Allgemeinen, die ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass »die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit, Kooperation, Arbeitsteilung, Anwendung der Maschinerie im großen usw. unmöglich sind ohne die Expropriation der Arbeiter und die entsprechende Verwandlung ihrer Arbeitsmittel in Kapital. Im Interesse des sog. Nationalreichtums sucht [sie] nach Kunstmitteln zur Herstellung von Volksarmut. [Ihr] apologetischer Panzer zerbröckelt hier Stück für Stück wie mürber Zunder.« (Ebd.)
Das Kapitel schließt mit folgenden Zeilen:
296 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Jedoch beschäftigt uns hier nicht der Zustand der Kolonien. Was uns allein interessiert, ist das in der neuen Welt von der politischen Ökonomie der alten Welt entdeckte und laut proklamierte Geheimnis: kapitalistische Produktions- und Akkumulationsweise, also auch kapitalistisches Privateigentum, bedingen die Vernichtung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums, d.h. die Expropriation des Arbeiters.« (Ebd.: 802)
In der postkolonialen Diskussion wurde Marx des Eurozentrismus bezichtigt. Der Vorwurf bezieht sich in erster Linie auf seine Zeitungsartikel über Indien zu Beginn der 1850er Jahre, wogegen er – im Kontext der Auseinandersetzung mit Irland und Russland – im Spätwerk durchaus eine gewisse Distanz zu eurozentrischen Sichtweisen gewonnen hat (Lindner 2011). Das erwähnte Kapitel zur Kolonisationstheorie, in dem es um die Kolonien in Nordamerika und Australien geht, steht für den nicht mehr so eurozentristischen Marx: Nicht der Zustand der Kolonien an sich interessiert ihn – sie dienen nur der Veranschaulichung allgemeiner Tendenzen des Kapitalismus. Zugleich polemisiert Marx aber gegen die Gleichsetzung von Entwicklung mit der »Fabrikation von Lohnarbeitern in den Kolonien« – ein möglicher Ansatzpunkt für Kritik am Eurozentrismus der politischen Ökonomie, denn der klassenspezifische Standpunkt der britischen Kolonisatoren – das Interesse an der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft – fällt zusammen mit der Verklärung der europäischen Geschichte zu einer Universalgeschichte der Menschheit: Was in Europa geschah – die Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse – muss auch in den Kolonien geschehen, damit diese sich entwickeln können. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass kapitalistische Entwicklung die Vernichtung nicht nur des »auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums«, sondern der in außereuopäischen Gebieten vorherrschenden Sozialstrukturen und Kulturen im Allgemeinen voraussetzt – diesen Aspekt hat zum Beispiel Rosa Luxemburg ([1913] 1969) durchaus erkannt und thematisiert. Dennoch ist die klassische marxistische Imperialismustheorie kaum über den europäischen Klassenkampfstandpunkt hinaus gelangt, was aber notwendig gewesen wäre, um die in den Kolonien lebenden Menschen als eigenständige historische Subjekte zu begreifen. »Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.« Der Satz von Hegel (1986: 331) benennt treffend, was durch Realabstraktion vor sich gehende Entwicklung bedeutet. Im Zuge seiner internationalen Expansion bewertet und entwertet der Kapitalismus nicht nur menschliche Tätigkeiten und Fähigkeiten, sondern ganze Länder und Weltgegenden: Die Vergesellschaftung durch das Kapital macht sie erst vergleichbar und ungleich, gemessen an den dominanten Bedingungen und Modi der Kapitalverwertung. Und wie
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der Kapitalismus nur Tätigkeiten, die eine bestimmte gesellschaftliche Form annehmen, als Arbeit oder Bildung gesellschaftlich anerkennt, so betrachtet er fremde Formen der Ökonomie nur als Hindernisse seiner eigenen Entwicklung: Sie erscheinen nicht als andere gesellschaftliche Formen mit eigenständigem Entwicklungspotenzial, sondern als Rückständigkeit und Minderwertigkeit. So wie die unbezahlte Reproduktionsarbeit das Andere der abstrakten Arbeit darstellt, lässt sich die informelle Ökonomie der so genannten Entwicklungsländer als das Andere der formellen kapitalistischen Ökonomie begreifen: Beide sind gesellschaftlich notwendig, aber nicht als solches gesellschaftlich anerkannt; beide bleiben in den ökonomischen Statistiken unsichtbar; beide schaffen wichtige Bedingungen der Kapitalakkumulation, die als natürliche Gegebenheiten hingenommen und ausgenutzt werden. Im Begriffspaar formelle/informelle Ökonomie steckt das Wort Form drin: Kapitaltheoretisch markiert es die Differenz zwischen zwei gesellschaftlichen Formen der Ökonomie, zwischen Kapitalakkumulation und Kapital-Mimesis, denn längst hat sich das fiktive Kapital in der moralischen Ökonomie der einst kolonisierten Länder eingenistet und wirksam gemacht: Das Selbstunternehmertum kennt dort brutale und selbstzerstörerische Erscheinungsformen, die in den führenden kapitalistischen Ländern kaum denkbar sind. Objektive Gedankenform. Die Kritik am Entwicklungsdiskurs hat seit den 1990er Jahren an Einfluss gewonnen und sehr wichtige Diskussionen über das Selbstverständnis der Entwicklungssoziologie hervorgebracht. Leider werden dabei objektive Gedankenform und Realabstraktion nicht immer zusammen gedacht. Die wegweisende Studie von Arturo Escobar (1995: 3-4) beginnt zum Beispiel mit der Antrittsrede von US-Präsident Truman am 20. Januar 1949, in welcher der Begriff Unterentwicklung eine zentrale Stellung einnahm. »The Truman Doctrine initiated a new era in the understanding and management of world affairs, particularly those concerning the less economically accomplished countries of the world. The intent was quite ambitious: to bring about the conditions necessary to replicating the world over the features that characterized the ›advanced‹ societies of the time – high levels of industrialization and urbanization, technicalization of agriculture, rapid growth of material production and living standards, and the widespread adoption of modern education and cultural values.«
Die restliche Welt nach westlichem Vorbild reproduzieren oder den Westen gewissermaßen im Weltmaßstab vervielfältigen (to replicate) – das war in der Tat der zentrale Gedanke, der die Entwicklungspolitik in der Zeit des Kalten Kriegs prägte. Doch was hier als Erfindung des Entwicklungsdiskurses erscheint, ließe
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sich ebenso gut als alter Wein in neuen Schläuchen betrachten: Unter bestimmten sozioökonomischen und politischen Bedingungen wurde eine seit langer Zeit etablierte westliche Sichtweise auf die Welt zur Grundlage eines spezifischen politischen Programms. Dies beruhte auf Jahrhunderte alten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zwischen dem Westen und anderen Weltregionen, die im Verlauf der Zeit zunehmend kapitalistische Züge angenommen hatten. Vor dem Hintergrund drängte sich die Brille des Entwicklungsdiskurses den politischen Verantwortungsträgern, den Spezialisten und Wissenschaftlern fast zwangsläufig auf, wie Escobar (ebd.: 5) treffend festhält: »Indeed, it seemed impossible to conceptualize social reality in other terms.« Die objektiven Gedankenformen, auf denen die Wahrnehmung der Welt als eine in einen zivilisierten und einen rückständigen Teil gespaltene Wirklichkeit beruht, waren demnach im westlichen Kapitalismus wirkungsmächtig, lange bevor sich der Entwicklungsdiskurs im engeren Sinn durchsetzte. Wir können hier eine Analogie zur Realabstraktion von Arbeit und Bildung zeichnen: Die Vorstellung, dass gewisse Arbeitstätigkeiten mehr wert sind als andere, dass es Kopf- und Handarbeit gibt usw. ist nicht erst mit der wissenschaftlichen Organisation der Arbeit und dem öffentlichem Bildungswesen entstanden, sie ging diesen Phänomenen lange Zeit voraus. Dasselbe gilt für die eurozentristische Sicht, in der sich die kapitalistischen Be- und Entwertungsprozesse artikulierten, lange Zeit bevor spezialisierte wissenschaftliche Einrichtungen und politische Programme entstanden, die sich mit Entwicklung beschäftigen. Natürlich ist die Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung solcher Gedankenformen aber sehr von gesellschaftlicher und politischer Bedeutung: Erst die Entwicklungsökonomie, die Entwicklungspolitik und verwandte Disziplinen haben die so genannten unterentwickelten Länder systematisch vermessen und auf Entwicklung getrimmt. Sie bringen empirische Daten und spezialisierte Projekte hevor, in denen der Jahrhunderte alte Eurozentrismus modernisiert wird und ein wissenschaftliches Kleid erhält. Diese pseudowissenschaftliche Objektivierung lässt es zugleich möglich erscheinen, dass sich die Gedankenform des überlegenem Vorbilds und der Nachahmung des Erfolgsmodells von einzelnen Ländern und Regionen löst und auf andere überträgt: Heute gilt China als das Land, das dem Westen die Zukunft zeigen könnte – aber vorerst bleibt dies eine westliche Zukunftsmusik, in der sich auch die alte orientalistische Angst von der gelben Gefahr reaktualisiert. Beinahe ein Jahrhundert vor Trumans Antrittsrede hat Marx seine Zeitungsartikel über Indien verfasst. In einem eindrücklichen Abschnitt seines Orientalismus-Buchs geht Edward W. Said (2003: 153-156) der Frage nach, wie es dazu kommen konnte, dass der spätere Verfasser des Kapitals, der ein ausgeprägtes
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Gespür für die Unterdrückung von Menschen hatte und sein Leben dem politischen Kampf gegen den Kapitalismus verschrieb, den Orient durch dieselbe orientalistische Brille betrachtete wie die westlichen Kolonisatoren. Dass Marx die Gedichte im West-östlichen Divan von Goethe kannte, reicht als Erklärung nicht aus: »The idea of regenerating a fundamentally lifeless Asia is a piece of pure Romantic Orientalism, of course, but coming from the same writer who could not easily forget the human suffering involved, the statement is puzzling.« (Ebd.: 154) Marx war offensichtlich von objektiven Gedankformen ergriffen, die weit über die Schriften der deutschen Romantik hinausreichten, sich in diesen aber – wie in anderen Formen westlicher Kultur – ganz selbstverständlich manifestierten. Said verweist auf die Verfahrensweisen des Orientalismus, der die Menschen stets in abstrakten Kategorien anordnet und charakterisiert und nicht in der Lage ist, sie als Individuen zu betrachten. Dies erinnert mich an Marx’ Polemik gegen den abstrakten Menschen des deutschen Idealismus sowie des Materialismus von Feuerbach, dem er die Suche nach dem wirklichen Menschen entgegenstellte. Doch in seinen Indien-Artikeln folgte Marx selbst den abstrakten Menschenbildern, wenn auch eine Spur des Mitgefühls für das durch Kolonisation erzeugte menschliche Leid immer vorhanden blieb. »It is as if the individual mind (Marx’s, in this case) could find a precollective, preofficial individuality in India – find and give in to its pressures upon his emotions, feelings, senses – only to give it up when he confronted a more formidable censor in the very vocabulary he found himself forced to employ. What that censor did was to stop and then chase away the sympathy, and this was accompagnied by a lapidary definition: Those people, it said, don’t suffer – they are Orientals and hence have to be treated in other ways than the ones you’ve just been using.« (Ebd.: 155)
Natürlich handelt es sich um eine Form der innern, unreflektierten und unbemerkten Zensur, in der sich das Zusammenspiel von Realabstraktion und objektiver Gedankenform manifestiert. Saids Frage erinnert an Escobars Beobachtung zum Entwicklungsdiskurs, die ich oben zitiert habe: »What was this operation, by which whenever you discussed the Orient a formidable mechanism of omnicompetent definitions would present itself as the only one having suitable validity for your discussion?« (Ebd.: 156) Fetisch: Bei der Entwicklungspolitik handelt es sich um ein Feld der KapitalMimesis par excellence. Wie sich das Kapital in den Formen des fiktiven Kapitals verdoppelt und vervielfacht, soll sich der Westen auf der ganzen Welt vervielfältigen. Hinter dem Westen aber versteckt sich der Kapitalismus, der sich ausgehend von Europa entfaltet und Schritt für Schritt die ganze Welt erobert,
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indem er ihr seine gesellschaftlichen Wertformen aufzwingt. Mit der Institutionalisierung und der Verwissenschaftlichung des Entwicklungsdenkens im Kalten Krieg sind Einrichtungen wie die Weltbank entstanden, die nicht zuletzt mit der Aufgabe betraut sind, den Glauben an die Entwicklung herzustellen und zu verbreiten – in den westlichen Ländern ebenso wie auf der ganzen Welt, die seit dem Zusammenbruch des so genannten real existierenden Sozialismus die Bühne der Entwicklungspolitik absteckt. Und wie das Bildungsystem Noten und Titel produziert, bringen Einrichtungen wie die Weltbank Daten und Konzepte hervor, durch die das Entwicklungsdenken so weit verdinglicht wird, dass es fetischartige Züge aufzuweisen beginnt. Geboren in der Konstellation des Kalten Kriegs, hat der Entwicklungsdiskurs seit dem Ende des so genannten Sytemkonflikts mehr denn je quasi-religiöse Eigenschaften gewonnen, da Entwicklung nicht mehr als Gegenstand politischer Auseinandersetzungen erscheint, sondern als ein gegebenes Ziel, das wie ein Stern über den Niederungen des menschlichen Alltags leuchtet. Das außerordentliche Spektakel unter Einbezug von Popstars wie Bono oder Bob Geldof, das um die Proklamation und Umsetzung der Milleniumsziele der UNO veranstaltet wird, lässt sich als augenfälligste Inszenierung des Entwicklungsfetischs beschreiben. Der Glaube an beziehungsweise die Hoffnung auf Entwicklung macht vergessen, dass Kennziffern wie die absolute Armutsgrenze von einem oder zwei Dollar pro Tag wenig mit der tatsächlichen Lebensrealität der betroffenen Menschen zu tun haben und dass die von internationalen Institutionen wie dem IWF verordneten makroökonomischen Programme etwas ganz Anderes bewirken als das, was die Gutgläubigen unter Entwicklung verstehen. Insofern weisen die alljährlichen Daten der Weltbank über den Stand der Erreichung der Milleniumsziele alle Aspekte eines Fetischs im Sinne der Marx’schen Ökonomiekritik auf: Es handelt sich um Dinge, an denen sich gesellschaftliche Verhältnisse in gegenständlicher Form zeigen und zugleich undurchsichtig gemacht werden, und diese Dinge ziehen die Menschen in ihren Bann und machen sie an Entwicklung glauben. Zeit Ist die Zeit nicht ein vernachläßigter Forschungsgegenstand der Soziologie? Natürlich zeigt sich die Bedeutung der Vergesellschaftung von Zeit an allen Ecken und Enden soziologischer Untersuchungen verschiedenster Phänomene, aber kaum jemals rückt sie ins Zentrum des Forschungsinteresses. In historischen Studien – etwa Le Goff 1977 – wurde rekonstruiert, wie sich die gesellschaftlichen Formen der Zeit im Übergang vom Mittelalter in die kapitalistische Moderne verändert haben: Die zyklischen Zeitvorstellungen, die zum Beispiel das
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bäuerliche Leben Jahrhunderte lang geprägt hatten, wurden mehr und mehr durch das Bild einer linearen und gerichteten Zeit verdrängt, die sich wie ein formales Raster über die Menschen legt und ihre Lebensführung und Lebensentwürde bestimmt. Objektive Gedankenform, tendiert diese Form der Zeit zur minutiösen Durchdringung und Vermessung menschlichen Handelns. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Zeit in kapitalistische Wertform gebracht und zum Fetisch werden kann – eine Prozess der Realabstraktion, der sich etwa im geflügelten Wort ›Zeit ist Geld‹ äußert. Der Vergesellschaftung von Zeit durch das Kapital ist das formale Raster der linearen Zeit aber nur Ausgangspunkt oder Rohmaterial. Marx hat im Kapital interessante Beobachtungen zu Tage gefördert, was mit der Zeit – vor allem mit der Arbeitszeit – im Kapitalismus geschieht. Arbeitszeit. Im ersten Band des Kapitals wird die kapitalistische Produktion als ein Prozess der Durchdringung menschlicher Arbeit durch diese lineare und gerichtete Zeit beschrieben. Die Unterwerfung des Arbeitsprozesses unter das Primat der Kapitalverwertung löst zwei Tendenzen aus: Verlängerung und Verdichtung der Arbeitszeit. Die verlängerte Arbeitszeit steht bei Marx für die Produktion des absoluten Mehrwerts, die verdichtete Arbeitszeit für die Produktion des relativen Mehrwerts. Historisch gesehen stieß die erste Tendenz bereits zu Marx’ Zeiten an politische Schranken – siehe sein Kapitel über den Kampf um die Dauer des Arbeitstags in England (Marx [1873] 1962: 245-320) – und wurde daraufhin zurückgedrängt. Dagegen war die Verdichtung der Arbeitszeit in den führenden kapitalistischen Ländern zur vorherrschenden Form geworden. Allerdings lassen sich seit der Ära des Neoliberalismus auch wieder vermehrt Trends zur Arbeitszeitverlängerung ausmachen (Basso 2003). In der kapitalistischen Fabrik ist außerdem noch etwas Anderes zu beobachten: Die Arbeitenden verlieren die Kontrolle über ihre Arbeitszeit. Marx behandelt diesen Punkt nicht explizit, aber Passagen wie diese lassen anklingen, worum es geht: »In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.« (Ebd.: 445)
Die mehr oder weniger detaillierte Fremdbestimmung der Arbeitszeit, das heißt des Tempos und der Abfolge der verschiedenen Tätigkeiten, scheint in diesen Zeilen unmittelbar durch die Maschinentechnik bestimmt zu sein. In Wirklichkeit ist es eine Form sozialer Kontrolle, die nicht nur in der Fabrik zum Einsatz kommen kann, sondern auch in Büros oder auf Baustellen.
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So lange die lineare und gerichtete Zeit der Produktion zu herrschen scheint, leuchten die Gesetzmäßigkeiten der klassischen Arbeitswertlehre unmittelbar ein: Arbeit mal Zeit gleich das Produkt beziehungsweise der Wert des Produkts. Doch in Wirklichkeit ist die abstrakte Arbeit der kapitalistischen Produktion durch eine viel kompliziertere und unberechenbare Zeitform reguliert: durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. In dieser Form spiegelt sich ein gänzlich unüberschaubares Zusammenspiel gesellschaftlicher Prozesse. Es kommen Auswirkungen unzähliger gleich- und ungleichzeitiger Arbeitsprozesse in dieser besonderen Zeitform zusammen und werden zum Maßtab für jede konkrete Arbeitstätigkeit, die unter der Herrschaft des Kapitals vor sich geht. Die Veränderungen in der Arbeitsproduktivität eines Sektors wirken sich auch auf die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in anderen Sektoren und sowie auf zukünftige Arbeit aus. Die lineare Zeit bringt einen Glauben an Plan- und Berechenbarkeit mit sich, der immer wieder enttäuscht wird – in Krisensituationen; wenn es zu technischen Revolutionen kommt; anlässlich von betrieblichen Restrukturierungen usw.: Was eben noch als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit galt, ist plötzlich nichts mehr oder viel weniger wert, und eine sichere Zukunft entgleitet den Arbeitenden. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist wie die Zeitangabe eines Wegweisers, der wir Glauben schenken, doch verändert sich die Wegstrecke während dem Marsch, und es kann vorkommen, dass der ganz Weg abbricht und die Wandernden verloren dastehen. Dies liegt daran, dass die Zeit des Kapitals eigentlich nicht linear, sondern zyklisch ist. Sie entspringt dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Kreisläufen mit jeweils eigenen Zeiten. Dieser Dimension hat Marx den zweiten Band des Kapitals gewidmet. Was er die Metamorphosen des Kapitals nennt, sind Übergänge von einem Kreislauf in einen anderen, das heißt von einer Verkörperung des Kapitals in eine andere. So hält er beispielsweise fest: »Der wirkliche Kreislauf des industriellen Kapitals in seiner Kontinuität ist daher nicht nur Einheit von Zirkulations- und Produktionsprozess, sondern Einheit aller seiner drei Kreisläufe [Geldkapital, produktives Kapital, Warenkapital]. Solche Einheit kann aber nur sein, sofern jeder verschiedne Teil des Kapitals sukzessive die einander folgenden Phasen des Kreislaufs durchmessen, aus einer Phase, einer Funktionsform in die andre übergehn kann, das industrielle Kapital, als Ganzes dieser Teile, sich also gleichzeitig in den verschiednen Phasen und Funktionen befindet, und so alle drei Kreisläufe gleichzeitig beschreibt. Das Nacheinander jedes Teils ist hier bedingt durch das Nebeneinander der Teile, d.h. durch die Teilung des Kapitals. […] Jede Stockung des Nacheinander bringt das Nebeneinander in Unordnung, jede Stockung in einem Stadium bewirkt größre oder ge-
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ringre Stockung im gesamten Kreislauf nicht nur des stockenden Kapitalteils, sondern auch des gesamten individuellen Kapitals.« (Marx [1893] 1963: 107)
Diese Zeilen beziehen sich auf das zur erweiterten Reproduktion eines einzelnen industriellen Kapitals notwendige Nach- und Nebeneinander. Auf der Ebene der kapitalistischen Ökonomie insgesamt erreicht die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen den Kapitalkreisläufen eine unüberschaubare Dimension. Natürlich können zum Beispiel Handel, Kredit und Finanz als Vermittlungen eingesetzt werden, die das Zusammenspiel der Kreisläufe des industriellen Kapitals abstimmen und Stockungen vermeiden helfen. Aber es handelt sich dabei zugleich um eigenständige Felder der Kapitalverwertung, die dem industriellen Kapital wiederum ihre eigenen Zeiten aufzwingen – denken wir nur an das Diktat der Laufzeiten von Anleihen oder der Fristen von Termingeschäften, durch das die Finanzmärkte heute auf die gesamte Ökonomie einwirken. Wie Marx ([1893] 1963: 109) treffend festhält, kann das Kapital »nur als Bewegung und nicht als ruhendes Ding begriffen werden«. Dementsprechend ist auch die Zeit des Kapitals immer in Bewegung und bleibt der zeitliche Maßstab, an dem es die abstrakte Arbeit misst, nie für längere Zeit konstant. Die Verlängerung und die Verdichtung der Arbeitszeit, welche durch die kapitalistische Vergesellschaftung der Arbeit hervorgerufen werden, bewegen sich auf einer linearen Zeitachse. Doch diese Achse kann immer wieder verschoben werden oder ins Leere laufen – je nachdem, wie sich das Zusammenspiel der Kapitalkreisläufe auf einzelne Wirtschaftssektoren und Unternehmen auswirken. Mit Blick auf die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel sprach Marx ([1857-58] 1983: 430) von einer »Vernichtung des Raums durch die Zeit«. Genau so erweist sich das Kapital als gesellschaftliche Kraft, die Arbeit durch Zeit vernichtet – in doppelter Weise: Zum einen (auf der linearen Zeitachse) steigert es die Produktivität der Arbeit und macht immer mehr Arbeit relativ überflüssig; zum anderen verschieben die komplexen Wechselwirkungen der Kreislaufzeiten ohne Unterbruch die Grenze zwischen gesellschaftlich notwendiger Arbeit und solcher, die es nicht (mehr) ist. Dies geschieht bisweilen abrupt, denn das Zusammenspiel der Kapitalkreisläufe ist nicht so ökologisch abgestimmt wie jenes der natürlichen Kreisläufe, die das zyklische Zeitbild des Mittelalters prägten. Es ist eine »Discordance des Temps« (Bensaïd 1995b), die das kapitalistische Zeitregime auszeichnet. Das Kapital vernichtet Arbeit durch Zeit und schafft überschüssige Zeit, die es immer wieder in Arbeitszeit zu verwandeln sucht; es vernichtet Arbeit und schafft im selben Atmenzug wiederum andere Arbeit. Marx (1857-58: 603-604)
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hat sich in den Grundrissen mit dieser Dynamik auseinandergesetzt, in der Freizeit und Mehrarbeit zwei Seiten derselben Medaille sind: »Die Schöpfung von viel disposable time außer der notwendigen Arbeitszeit für die Gesellschaft überhaupt und jedes Glied derselben (d.h. Raum für die Entwicklung der vollen Produktivkräfte der einzelnen, daher auch der Gesellschaft), diese Schöpfung von NichtArbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals, wie aller früherer Stufen, als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige. Das Kapital fügt hinzu, dass es die Surplusarbeitszeit der Masse durch alle Mittel der Kunst und Wissenschaft vermehrt, weil sein Reichtum direkt in der Aneignung von Surplusarbeitszeit besteht; da sein Zweck direkt der Wert, nicht der Gebrauchswert. Es ist so, malgré lui, instrumental in creating the means of social disposable time, um die Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren und so die Zeit aller frei für ihre eigne Entwicklung zu machen. Seine Tendenz aber immer, einerseits disposable time zu schaffen, andrerseits to convert it into surplus labour. Gelingt ihm das erstre zu gut, so leidet es an Surplusproduktion, und dann wird die notwendige Arbeit unterbrochen, weil keine surplus labour vom Kapital verwertet werden kann. Je mehr dieser Widerspruch sich entwickelt, um so mehr stellt sich heraus, dass das Wachstum der Produktivkräfte nicht mehr gebannt sein kann an die Aneignung fremder surplus labour, sondern die Arbeitermasse selbst ihre Surplusarbeit sich aneignen muss. Hat sie das getan – und hört damit die disposable time auf, gegensätzliche Existenz zu haben –, so wird einerseits die notwendige Arbeitszeit ihr Maß an den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Individuums haben, andrerseits die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft so rasch wachsen, dass, obgleich nun auf den Reichtum aller die Produktion berechnet ist, die disposable time aller wächst. Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums. Die Arbeitszeit als Maß des Reichtums setzt den Reichtum selbst als auf der Armut begründet und die disposable time nur existierend im und durch den Gegensatz zur Surplusarbeitszeit oder Setzen der ganzen Zeit des Individuums als Arbeitszeit und Degradation desselben daher zum bloßen Arbeiter, Subsumtion unter die Arbeit. Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher, jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde tut oder er selbst mit den einfachsten Werkzeugen.«
Lebenszeit. Die Lebenszeit umfasst die Arbeitszeit und die »Nicht-Arbeitszeit« (Marx). Sie weist eine alltägliche und eine biografische Dimension auf. Bei Betrachtung des Alltags zeigt sich, dass auch außerhalb der Arbeitszeit gearbeitet wird – durch Frauen mehr als durch Männer. Die Bedeutung der so genannten Freizeit ist deshalb in unserer Gesellschaft stark geschlechterspezifisch geprägt. Die Zeit der gesellschaftlich notwendigen, aber unbezahlten Arbeit weist ein ei-
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genständiges Zeitregime auf. Es handelt sich um eine Mischung aus Zeitsouveränität – wann die Wäsche gewaschen oder der Einkauf gemacht wird, schreibt niemand vor – und Abhängigkeit von anderen Zeiten: Wann das Baby Hunger hat, das Kind in die Schule muss oder der Ehemann von der Arbeit nach Hause kommt, lässt sich nicht beeinflussen und durchbricht die Zeitsouveränität der unbezahlten Arbeit. Hier schlägt die Kraft der gesellschaftlichen Realabstraktion, das heißt der Be- und Entwertungsprozesse unterschiedlicher menschlicher Tätigkeiten durch: Es ist in der Regel die unbezahlte Arbeit, die ihre Zeit anpassen muss. Kapital-Mimesis bringt Menschen zudem auch außerhalb der Arbeitszeit dahin, den oben skizzierten Umgang des Kapitals mit der Zeit nachzuahmen: Oft streben sie danach, Zeit zu gewinnen, um diese wiederum in Arbeit zu verwandeln, das heißt um etwas Nützliches damit anzufangen. Rein quantitativ hat der Anteil der Arbeitszeit an der gesamten Lebenszeit zwar sehr deutlich abgenommen, seit Marx seine Grundrisse verfasste. Insofern lässt sich von einer Aneignung von »Surplusarbeit« durch die Arbeitenden sprechen. Die »Subsumption des Individuums unter die Arbeit« ist aber kaum weniger wirkungsmächtig geworden, und die »disposable time« hat weiterhin »gegensätzliche Existenz«. Darüber hinaus erweist sie sich selbst teilweise als gesellschaftlich notwendige, wenn auch nicht als solche anerkannte Arbeitszeit, und als Mimesis der Kapital-Zeit: zwei Aspekte, die Marx nicht zum Thema seiner Kapitalismusanalyse gemacht hat. Auch in der biografischen Dimension hat der Kapitalismus eine ganz eigenständige Zeitform hervorgebracht. Das einzelne Leben ist ihm nicht einfach ein existentielles Dasein, sondern ein gerichteter Prozess der Entwicklung und Entfaltung des Individuums, der sich auf eine Berufskarriere stützt und um diese herum artikuliert ist. So wie die lineare Zeit das Raster der Warenproduktion stellt, macht sie das Leben als die Produktion einer Biografie fassbar, die als Investition in sich selbst erscheint. Die Humankapitaltheorie stellt die vulgärökonomische Form dieses Selbstbildes dar, das die Menschen mehr und mehr erfasst hat. Schon die frühe Kindheit, auf jeden Fall aber die Schul- und Ausbildungszeit werden als Vorbereitung auf die Berufskarriere betrachtet. In deren Verlauf sollen die Erwerbstätigen sich weiter entwickeln, aufsteigen oder zumindest vorankommen, bis sie den verdienten Ruhestand erreichen und sich auf den Früchten ihres Erfolgs ausruhen dürfen (sofern sie erfolgreich waren). Doch wir dürfen nicht die gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen dieser Form von Lebenszeit vergessen: Sie setzt voraus, dass die Menschen nicht jeden Tag ums Überleben kämpfen und von der Hand in den Mund leben müssen, sondern eine soziale Sicherheit erfahren, die es erst ermöglicht, Zukunftspläne zu schmieden. Der Kapitalismus hat diese Bedingungen nicht wie von selbst geschaffen: Erst
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die politische Regulierung der Lohnarbeit und die Entwicklung des Sozialstaats – zwei Prozesse, die mindestens so sehr durch politische Kämpfe wie durch ökonomische Notwendigkeit vorangetrieben wurden – haben dazu geführt. Die »massenhafte Verwundbarkeit« (Castel 2000: 142-151), der das Leben der Bevölkerungsmehrheit mit dem Aufbruch in die liberale Moderne zunächst unterworfen wurde, taucht heute in Gestalt der »neuen sozialen Frage« (ebd.: 336400) wieder auf. Dass die Humankapitaltheorie ihren Siegeszug angetreten hat, als in den USA und Westeuropa prekäre Lebensverhältnisse nur am Rande der Gesellschaft zu existieren schienen, ist deshalb kein Zufall. Geschichte. Vor dem Hintergrund der Überlegungen über die gesellschaftlichen Formen des Kapitals ist es möglich, auf die im Zusammenhang mit Marx’ Werk Tausend Mal kontrovers diskutierte Geschichtstheorie zurückzukommen. Die lineare und gerichtete Geschichte, die in Stufen vor sich geht, ist eine objektive Gedankenform des Kapitals, ein Abbild seiner eigenen geschichtlichen Bewegung. Entwicklung oder historischer Fortschritt sind Begriffe, welche diese gesellschaftliche Form der Geschichte im Kapitalismus zum Ausdruck bringen. Und wie das allein durch Menschen erzeugte Kapital sich verselbständigt und den Menschen sein Gesetz diktiert, wird die so geformte Geschichte zur Schablone, in welche die menschlichen Gesellschaften ihre Entwicklung einfügen sollen. Eine so konzipierte Geschichte lässt sich als Prozess beschreiben, der wie ein technischer und vorhersehbarer Ablauf vor sich geht, als eigenständige und übermenschliche Kraft. So schreibt etwa Walt W. Rostow, der mit seiner Theorie der Wachstumsstadien zu den Gründervätern der Entwicklungsökonomie zählt: »Etwa 60 Jahre nach dem Beginn der Aufstiegsperiode (etwa 40 Jahre nach dem Abschluss dieser Periode) ist im Großen und Ganzen jenes Stadium erreicht, das man mit dem Wort Reife bezeichnen kann.« (zit. in Fischer, Hödl, Sievers 2008: 47) Und er führt aus: »Historisch gesehen scheinen etwa 60 Jahre nötig zu sein, um eine Gesellschaft vom Beginn des Aufstiegs bis zum Reifestadium zu führen. Analytisch mag die Erklärung für einen solchen Zeitraum in der machtvollen Arithmetik des Zinseszinses begründet liegen, wenn man sie auf den Kapitalstock anwendet. Dazu kommt, dass Gesellschaften drei aufeinander folgende Generationen benötigen, um die moderne Technologie zu absorbieren und wirtschaftliches Wachstum als Normalzustand zu akzeptieren. Aber dogmatische Feststellungen hinsichtlich der exakten Länge des Zeitraums vom Beginn der Aufstiegsperiode bis zum Reifestadium sind sicherlich nicht gerechtfertig.« (Ebd.: 48-49)
Kein Dogmatismus bei Rostow, aber die absolute Gewissheit, dass sich die Geschichte aller Länder der Welt in diesem Schema abspielen wird – oder zumin-
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dest abspielen sollte. Sowie das Eingeständnis, dass sich über die Zukunft nur insofern etwas aussagen lässt, als sie Vergangenheit reproduziert: Die Vorhersehbarkeit hört in der Gegenwart des Kapitalismus auf, das heißt exakt an dem Punkt, an dem die führenden kapitalistischen Gesellschaften stehen. Für Rostow stellten die USA der 1950er Jahre diesen Reflexionshorizont dar: »Es ist unmöglich, etwas über die Entwicklung nach dem Konsumzeitalter zu sagen«, hielt er fest (zit. in Fischer, Hödl, Sievers 2008: 50). Doch solange es nur darum geht to replicate the West (Escobar), dient die lineare und gerichtete Zeit als objektive Gedankenform, in der sich der Glaube an Entwicklung entfaltet, auch wenn er immer wieder enttäuscht wird und sich als Illusion erweist – erst recht in einer Zeit, in der die Entwicklungskennziffern in verschiedenen Regionen der Welt eher Rückschritte anzeigen, nicht zuletzt in den USA. Ausgerechnet im Land, das wie kein anderes die universellen Entwicklungsmaßstäbe produziert und weltweit zur Anwendung bringt, sind der Lebensstandard weiter Bevölkerungsteile seit Jahrzehnten rückläufig oder zumindest bedroht. Zweifellos erlag auch Marx teilweise der magischen Kraft dieser Geschichte in Großbuchstaben. Aber er hat eine solche Geschichtsvorstellung zugleich verschiedentlich aufs Korn genommen – zum Beispiel in der Heiligen Familie mit Friedrich Engels: »Die Geschichte tut nichts, sie ›besitzt keinen ungeheuren Reichtum‹, sie ›kämpft keine Kämpfe‹! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ›Geschichte‹, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.« (Marx und Engels [1845] 1972: 98)
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DER
U N /G LEICHHEIT
Als Kraft der Vergesellschaftung ist das Kapital wirksam, indem es menschliche Fähigkeiten und Tätigkeiten in spezifische gesellschaftliche Formen bringt – in Wertformen. Diese These habe ich mit Bezug auf Arbeit, Bildung, Entwicklung und Zeit zu erläutern versucht. Die Konzepte der Marx’schen Ökonomiekritik habe ich – im Einklang mit gegenwärtigen Trends der Marx-Forschung – im Sinne einer Formtheorie des Sozialen interpretiert und in soziologische Diskussions- und Forschungsfelder eingeführt, die gut etabliert sind (Arbeits-, Bildungs- und Entwicklungssoziologie) oder für die Zukunft des Fachs ein viel versprechendes Potenzial aufweisen (Soziologie der Zeit). Eine solche an der Wirkungsmacht gesellschaftlicher Formen orientierte Kapitaltheorie ist etwas Ande-
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res als Simmels formale Soziologie: Sie betrachtet diese Formen als historisch eigentümliche, verkehrte und verrückte Wirklichkeiten, die einen Fetischcharakter aufweisen. Und sie lässt nicht die Frage nach dem Inhalt bei Seite, sondern interessiert sich gerade dafür, wie die Form auf den Inhalt wirkt. Eine solche Lektüre des Kapitals zu soziologischen Zwecken unterscheidet sich auch von der Hauptstoßrichtung der Kritischen Theorie: Gegen die Idee vom Primat des Politischen rückt sie das Interesse an der Ökonomiekritik ins Zentrum. Ihr Schlüsselbegriff ist nicht die Ware oder der Tausch, sondern das Kapital. Sie zeichnet nicht das Bild einer verwalteten Welt oder einer Tauschgesellschaft, sondern des Kapitalismus: der Gesellschaft des Kapitals. Allerdings ist eine Einschränkung angebracht. Ich habe Nitzan und Bichler (2009) kritisiert, die gesellschaftstheoretischen Dimensionen der Kapitaltheorie nicht in den Blick zu nehmen. Was ich hier selbst skizziert habe, ist natürlich Kapitaltheorie als Gesellschaftstheorie: Es geht um Formen der Vergesellschaftung durch das Kapital, das heißt um die Frage, welche Formen menschlichen Denkens und Handelns in kapitalistischen Gesellschaften vorherrschen. Ich will aber nicht Gesellschaftstheorie auf Kapitaltheorie reduzieren: Falls bei der Lektüre der vorliegenden Arbeit sich der Eindruck aufgedrängt haben sollte, in meinen Augen lasse sich jeder Aspekt des sozialen Lebens durch Kapitaltheorie und nichts Anderes erklären, ist dies der Fokussierung auf eine bestimmte Problemstellung geschuldet, nicht aber dem Bild von Gesellschaft, das mir angemessen erscheint. An der außerordentlichen Kraft, mit der das Kapital auf unser Leben einwirkt, ist meines Erachtens nicht zu zweifeln. Aber natürlich sind in unserer Gesellschaft auch andere Kräfte wirksam – manchmal in verstärkendem Zusammenspiel mit dem Kapital, manchmal gegen die Vergesellschaftung durch das Kapital, manchmal mehr oder weniger unabhängig vom Kapital. Um nur zwei zu nennen: Geschlecht oder Macht stehen für eigenständige Modi der Vergesellschaftung, die sich auf keine Kapitallogik reduzieren lassen – auch wenn soziologische Kapitaltheorie dies heute glauben macht. In dem Sinne plädiere ich dafür, deren Geltungsanspruch nicht zu überdehnen, weil wir sonst das Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte und Modi der Vergesellschaftung aus dem Blick verlieren. Wenn meine kapitaltheoretische Skizze dieses Zusammenspiel nicht ins Zentrum gestellt, sondern höchstens angedeutet hat, ist dies eben der Problemstellung der vorliegenden Arbeit geschuldet. Ein zweites vademecum ist angebracht. Wenn ich oben mit einem Zitat aus der Heiligen Familie davor gewarnt habe, der magischen Kraft einer Geschichte in Großbuchstaben zu erliegen, muss dasselbe natürlich für die Kapitaltheorie gelten. Aufgabe der Soziologie ist es zu verstehen und erklären, wie das Kapital wirkungsmächtig wird. Dabei besteht beinahe zwangsläufig die Gefahr, selbst
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der Magie des Kapitals zu erliegen und dessen heimlicher Verehrer zu werden. Wie die Geschichte nichts tut, so tut auch das Kapital im eigentlichen Sinne des Wortes nichts. Es ist ganz und gar von Menschenhand fabriziert. Es entsteht und wirkt unter der Bedingung, dass das Denken und das Handeln unzähliger Menschen bestimmte Formen annehmen. Wirkungsmächtig geworden, hält es die Menschen an, weiterhin und noch mehr sich in diesen Formen zu bewegen. Die Genesis des Kapitals als vorherrschende Kraft der Vergesellschaftung lässt sich denn auch keineswegs aus sich selbst erklären: Sie setzt spezifische gesellschaftliche Möglichkeitsbedingungen voraus. Für Marx ([1873] 1962: 741-791) war es die Existenz bestimmter Klassenverhältnisse, deren Herausbildung er unter dem Stichwort der ursprünglichen Akkumulation beschrieb. Für Weber ([1920] 1986) war es der kapitalistische Geist, den er durch die protestantische Ethik wirkungsmächtig werden sah. Die beiden Ansätze müssen nicht als sich ausschließende Alternativen betrachtet werden, sondern lassen sich durchaus befruchten. Zum Beispiel zeigt Webers Schrift ein sicheres Gespür für den Zusammenhang des kapitalistischen Geistes mit Klasseninteressen – etwa wenn er die »harte englische Armengesetzgebung« erwähnt, die durch die Protestanten unterstützt wurde, oder wenn er schreibt, die protestantische Ethik habe die »Ausbeutung dieser spezifischen Arbeitswilligkeit [der religiös eingestellten Arbeiter] [legalisiert], indem sie auch den Gelderwerb des Unternehmers als ›Beruf‹ deutete« (ebd.: 199; 200). Was aber zeichnet diese Wertformen aus, durch die das Kapital menschliches Denken und Handeln vergesellschaftet? Es handelt sich offensichtlich nicht um konkret greifbare Formen, sondern um formlose, zumindest abstrakte Formen. Und es ist gerade die Unsichtbarkeit der Wertform, auf der die Wirkungsmacht des Kapitals beruht: Nur weil die Menschen die gesellschaftlichen Kräfte, die sich an einem Gegenstand äußern, mit der konkreten Form des Gegenstands verwechseln, entfaltet sich der Fetischcharakter der Dinge. Die kapitalistischen Wertformen vermögen soziale Energie umso mehr zu bündeln und zu vervielfachen, als sie nicht als besondere gesellschaftliche Formen wahrgenommen werden und durch den Zauber der Naturalisierung geweiht sind. Die erste Aufgabe der soziologischen Kapitaltheorie ist es, diese Formen sichtbar zu machen. Dabei kann sie sich nicht auf naturwissenschaftliche Instrumente wie das Mikroskop oder chemische Reagentien stützen, wie Marx ([1873] 1962: 12) festhielt: »Die Abstraktionskraft muss beide ersetzen.« Es ist wohl diese »Crux mit den Formen« (Steckner 2011: 21-22), an der die soziologische Lektüre des Kapitals oft scheitert und um den Preis eines Rückfalls in die ökonomische Arbeitswertlehre aufgegeben wird:
310 | S OZIOLOGISCHE K APITALTHEORIE »Zu begreifen, auf welche Weise Marx mit den unterschiedlichen Formbegriffen, die im Zuge der Darstellung eingeführt und miteinander in Bezug gebracht werden, die für das Verständnis wesentliche Unterscheidung von Sinnlich-Stofflichem und den spezifisch gesellschaftlichen Verhältnissen entfaltet, erfordert eine gedankliche Loslösung von spontan zugänglicher Empirie, in welcher der sinnlich wahrnehmbare Gegenstand und seine Form miteinander verwachsen scheinen.«
Gegenstand und Form scheinen nicht nur verwachsen zu sein, sie sind es in der Tat. Doch wenn wir der Marx’schen Ökonomiekritik folgen und über diese hinaus denken, können wir die Wertformen als gesellschaftliche Formen sichtbar machen, welche die konkrete Form der Dinge verzaubern und gleichzeitig von dieser abstrahieren, weil sie für die Akkumulation des Kapitals an sich bedeutungslos ist. Die Vergesellschaftung durch das Kapital verleiht den Dingen eine Form, in der sie wertvoll oder wertlos sind, mehr oder weniger wert, in erster Linie nicht unterschiedlich, sondern ungleich. Und weil das Kapital nicht nur Gegenstände, sondern auch menschliche Tätigkeiten und Fähigkeiten vergesellschaftet, werden Menschen ebenfalls vergleichbar und ungleich gemacht: Der universelle Maßstab dieser Ungleichheit liegt in der Skala der Erwerbseinkommen, die den einzelnen Menschen zufließen und als Ergebnis ihrer Arbeit verklärt werden. Diese soziale Ungleichheit gilt der Soziologie als etwas Selbstverständliches: Unzählige Studien wurden zu diesem Thema verfasst und eine endlose Reihe von Diskussionen über die Formen der Ungleichheit und deren Entwicklungen lassen sich verzeichnen. Doch gilt es nicht genau die Kritik zu formulieren, die Marx ([1873] 1962: 95) an die Ökonomen richtete: Haben die Soziologinnen und Soziologen jemals »auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt«? Hat die Ungleichheitsforschung erkannt, dass ihr Gegenstand eine historisch besondere Form des menschlichen Lebens ist, die nur in einer Gesellschaft zum Tragen kommt, in der soziale Beziehungen durch das Kapital vergesellschaftet sind? Soziale Ungleichheit beruht auf Realabstraktionen einer Art, die sich nicht in jeder Gesellschaft beobachten lässt. All jene Darstellungen, welche frühe Formen sozialer Ungleichheit bereits im Mittelalter, in der Antike oder in so genannten primitiven Gesellschaften entdecken, produzieren ähnliche Artefakte wie die ökonomischen Lehrbücher, in denen die Instrumente der Höhlenbewohner als Kapital dargestellt sind. Die soziologische Ungleichheitsforschung muss sich der besonderen gesellschaftlichen Form ihres Gegenstands bewusst werden, um dessen Analyse vertiefen zu können. Es macht keinen Sinn, von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft zu sprechen, in der nicht die Vorstellung dominiert, dass alle Menschen gleich sind oder sein sollten – eine sehr moderne Vorstellung, die in kapi-
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talistischen Gesellschaften auch juristisch festgeschrieben ist. Es handelt sich um eine objektive Gedankenform, die auf denselben Prozessen der Realabstraktion hervorgeht, auf denen die Macht des Kapitals beruht. Es macht auch keinen Sinn, von horizontalen und vertikalen Ungleichheiten zu sprechen, wenn die Form der sozialen Ungleichheit doch gerade bewirkt, dass Unterschiedliches mehr oder weniger wert ist, das heißt: dass Differenz aus einer horizontalen in eine vertikale Achse übersetzt wird. Es ist zwar zu begrüßen, dass die Ungleichheitsforschung eine Vielzahl an unterschiedlichen Dimensionen in den Blick nimmt: Geschlecht, Ethnizität, Alter, Bildung, Beruf, sexuelle Orientierung und vieles mehr. Aber sie muss den Nexus von Differenz und Ungleichheit theoretisch bestimmen können, und dafür scheint mir die Marx’sche Werttheorie einen wichtigen Ansatzpunkt zu enthalten. Durch das unüberschaubare Zusammenspiel ihrer alltäglichen Handlungen bringen die Menschen im Kapitalismus nicht nur die Produkte ihrer Arbeit auf einen universellen Wertmaßstab, sondern auch sich selbst: »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (Marx [1873] 1962: 88) Wenn soziologische Kapitaltheorie nicht nur eine qualitative, sondern auch eine quantitative Dimension aufweisen soll, liegt diese im Maß der sozialen Ungleichheit. Für Marx ([1873] 1962: 161-191) verwandelt sich Geld in Kapital, wenn es sich vermehrt und diese Vermehrung zum Selbstzweck wird. Dies muss auf dem Markt geschehen. Es kann aber nicht auf dem Markt geschehen, wenn Äquivalente getauscht werden. Um das »Geheimnis der Plusmacherei« zu enthüllen, müssen wir dem Kapitalisten und dem Arbeiter »in die verborgne Stätte der Produktion [folgen], an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business« (ebd.: 189). Am Beispiel der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft stellt Marx heraus, wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gleichheit und Ungleichheit, Freiheit und Zwang im Kapitalismus verbunden sind. Es handelt sich jeweils nicht nur um zwei Kräfte, die im Kampf stehen, sondern zugleich um die beiden Seiten derselben Medaille. Alles geht mit Rechten Dingen zu, niemand wurde geprellt: Der Kapitalist hat dem Arbeiter den Marktpreis für sein Arbeitsvermögen bezahlt und macht durch die Nutzung von dessen Gebrauchswert Gewinn. Er verwendet Menschen für seine eigenen Zwecke – das ist Ausbeutung. Vor dem Gesetz sind der Unternehmer und der Arbeiter gleich, in Wirklichkeit sind sie ungleich. Sie könnten nicht ungleich sein, wenn sie nicht gleich wären, denn Gleichheit und Ungleichheit setzen dieselbe Vergleichbarkeit voraus. Es ist eine Realabstraktion durch gesellschaftliche Wertformen, welche die Menschen vergleichbar macht, gleich und ungleich zugleich. Soziale Ungleichheit ist die gesellschaftliche Form, in die der Kapitalismus die Vielfalt der Menschen bringt – diese Melange, der Theodor W. Adorno in den Minima Moralia einige Zeilen
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widmete. Wenn sich die Kapitalismuskritik am Grundsatz der Gleichheit orientiert, bleibt sie in den objektiven Gedankenformen des Kapitals gefangen. »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen durch die Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressen deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« (Adorno 1980: 114)
Vielleicht kann die vorliegende Studie einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, nicht nur gesellschaftliche Funktionsweisen des Kapitalismus zu verstehen, sondern auch diesem besseren Zustand des menschlichen Zusammenlebens etwas näher zu kommen.
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